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Augen zu

Ernst Ludwig Kirchner – vom Leben gezeichnet

54 min • 1 februari 2023

Ernst Ludwig Kirchner war kein jugendliches Genie, wie so viele große Figuren der Kunstgeschichte. Nein, Ernst Ludwig Kirchner begann sogar zunächst Architektur zu studieren, bevor er dann 1905 in Dresden mit anderen Studenten die Künstlergruppe Die Brücke gründete. Und damit jene heißblütige, grellfarbige Form des Expressionismus in Deutschland begründete, die das Ungestüme betonte – ganz anders als die Maler des Blauen Reiter um Wassily Kandinsky, August Macke und Franz Marc, deren elegische Erdverbundenheit gleichzeitig eine ganz andere expressionistische Spielart etablierte. Doch was macht Ernst Ludwig Kirchner zum wichtigsten deutschen Expressionisten? Diese Frage diskutieren Florian Illies und Giovanni di Lorenzo in der neuesten Folge von Augen zu, dem Kunstpodcast von ZEIT und ZEIT ONLINE.

Wie kaum ein anderer Künstler seiner Zeit war Kirchner durchlässig, saugte die Eindrücke seiner Umgebung in sich auf und setzte sie direkt in seinen Zeichnungen und Aquarellen um. Solange er in Dresden wirkte, in den Jahren von 1905 bis 1911, ist sein Stil weich, farbenfroh, geprägt von der barocken Sinnlichkeit der Stadt an der Elbe. Mit seinem Umzug nach Berlin wird Kirchner dann zu einem besessenen Erfasser der Beschleunigung in der explodierenden Metropole – seine Figuren werden kantiger, zackiger, sein Stil wirkt so hektisch wie der Verkehr auf dem Potsdamer Platz. Und genau wegen dieser Kongenialität sind seine Zeichnungen und Gemälde der Straßenszenen vom Potsdamer Platz, die in den Jahren 1913 und 1914 erscheinen, wohl die gültigsten Darstellungen der Moderne, die es in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland je gegeben hat. Anders als die italienischen Maler des Futurismus, die die rasende Zeit bejubelten, legt Kirchner in seinen Werken die Sollbruchstellen im Verhältnis der Menschen zur Stadt und innerhalb der Geschlechter offen. Die Künstlergruppe Brücke überlebt den Umzug nach Berlin nicht.

Der Erste Weltkrieg dann ist für den hypersensiblen Künstler ein traumatischer Schock – obwohl er nicht kämpfen muss. Allein die Ausbildungszeit im Militär stürzt ihn in tiefe Depressionen und Angstzustände, sein "Selbstbildnis als Soldat" von 1915 gibt davon Auskunft: Seine rechte Hand, mit der er malt und zeichnet, hat er verstümmelt dargestellt, bildhafter Ausdruck einer gefürchteten künstlerischen Impotenz durch die Schrecken des Krieges. Kirchner fällt in die Abhängigkeit von Drogen und Morphium, und es folgt eine lange Zeit in Sanatorien, die dann zu seinem finalen Umzug nach Davos führt. Hier, ganz oben in den Alpen, fühlt er sich den menschlichen Zumutungen so weit als möglich enthoben, nur Erna Schilling, seine Gefährtin seit Berliner Tagen, begleitet ihn.

In den Zwanziger- und Dreißigerjahren versucht Kirchner hier, sich zu beruhigen und einen neuen Stil zu finden – die Bilder wirken, als wolle er immer aufs Neue die Puzzlesteine, in die sein Leben zerfallen ist, zusammenzufügen. Weil er unzufrieden ist mit den Reaktionen auf sein Werk, erfindet er mit Louis de Marsalle einen fiktiven Kunstkritiker, unter dessen Pseudonym er überall Lobpreisungen auf seine eigene Kunst veröffentlicht – nur so hatte er das Gefühl, die Kontrolle über sein Werk zu behalten. 1938 dann, nach dem Anschluss Österreichs, angesichts der herannahenden deutschen Truppen, der völligen Vergessenheit seines Namens und der gerade erfolgten Aktion "Entartete Kunst" in den deutschen Museen, die zahllose seiner Werke abhängte, nahm er sich verzweifelt das Leben. Hätte er nur gewusst, dass wir heute in ihm genau jene singuläre Künstlerfigur des deutschen Expressionismus sehen, als die er sich selbst empfunden hat.

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