2024 ist Kafka-Jahr. Vor hundert Jahren starb er, kaum 41 Jahre alt. Seitdem ist Kafkas literarischer Ruhm nur gewachsen und mit den Ruhmeskränzen auch die Schwierigkeit, seinen Büchern unbefangen zu begegnen. Den Beweis dafür erhielt ich nicht nur in einer norwegischen Hafenstadt nahe dem Polarkreis, wo ich mich ins Café Kafka setzte und einsame Menschen bei der Lektüre von Büchern (Kafka?) beobachtete. Nein, der scheue, perfektionistische Prosakünstler, der nur einen Bruchteil seines Werks selbst veröffentlichte, ist längst als Popikone vereinnahmt worden, gilt als emblematischer Schrifsteller der Angst und Prophet totalitärer Überwachungswelten. Nicht ganz von ungefähr bringen Diktaturen, die lange nach seinem Tod entstanden, neue enthusiastische Kafka-Leser hervor. Mehr denn je scheint es, als hätte Kafka die Bürokratisierung der Macht im 20. Jahrhundert, die Kontrolle durch mächtige Institutionen und die Zerstörung der Intimität vorausgeahnt: In seinen Büchern ist sie so handgreiflich Wirklichkeit geworden wie bei keinem anderen Autor.
Im Bücher-Podcast erzählt Reiner Stach, Autor der gefeierten dreibändigen Kafka-Biographie, nicht nur vom Kafka-Bild der Gegenwart und der einen oder anderen Absurdität, ob in den Social Media oder auf einem anderen Kontinent; der Spezialist erläutert auch seine Neuausgabe des Romans „Der Process“ im Wallstein Verlag und erzählt, warum sich Deutschlehrer so schwer damit tun, Kafka vernünftig im Deutschunterricht zu behandeln. Weg von dem Terror der Interpretation, rät Stach, hin zur humanen Lesehilfe und der neugierigen Lektüre. Denn so hätte Kafka gelesen werden wollen.
Franz Kafkas Roman „Der Process“, herausgegeben und kommentiert von Reiner Stach, ist erschienen im Wallstein Verlag, hat 400 Seiten und kostet 34 Euro.