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Clausewitz reloaded - Die Philosophie und der Krieg

24 min • 24 juni 2024

Was ist der Krieg? Und wieso tendiert er in der Moderne oft zur äußersten Gewalt? Antworten darauf gibt es bei einem Klassiker der Militärtheorie: Carl von Clausewitz. Ein Denker, der das Verhältnis von Krieg und Politik auslotet und dessen Theorie heute wieder erschreckend aktuell geworden ist. Von Jerzy Sobotta

Credits
Autor dieser Folge: Jerzy Sobota
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Thomas Loibl, Hemma Michel, Florian Schwarz
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Prof. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler, Berlin;
Prof. Gunnar Hindrichs, Philosoph, Basel

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ZUM PODCAST

Literaturtipps:

Carl von Clausewitz, „Vom Kriege“: Das Hauptwerk des Kriegstheoretikers, erstmals 1832 posthum veröffentlicht. Auch als günstige und gekürzte Reclam-Ausgabe erhältlich.

Dietmar Schlösser, „Carl von Clausewitz“: Eine kurze Einführung in sein Denken und Leben. Gibt einen guten Überblick zur Erstbeschäftigung.

Gunnar Hindrichs, „Abseits des Krieges“: Ein nachdenklicher philosophischer Essay, der die aktuelle Rückkehr des Krieges aus dem Blick bedeutender Philosophen – u.a. Clausewitz – verstehen und historisch fassen will.

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN:

Es gibt Stunden, in denen die Geschichte plötzlich über das Leben der Menschen hereinbricht und alles verändert. Einer dieser Momente war die Nacht zum 24. Februar 2022.

ATMO: Luftalarm-Kiew

01 OT: ARD-Nachrichtensprecher: Der russische Präsident Putin hat eine Militäroperation auf ukrainischem Gebiet angekündigt. Er habe die Entscheidung getroffen, sagte er in der Nacht in einer Fernseheransprache.

02 OT: Putin: … (russisch, 6 Sek. – Ohne OV)

Overvoice männlich:

Wir haben eine militärische Spezialoperation eingeleitet 

03 OT: Wolodimir Selenskyj: Russland hat unser Land am frühen morgen brutal angegriffen, so wie es Nazi-Deutschland während des zweiten Weltkriegs tat. (OT ist overvoiced)

SPRECHERIN

Für die Ukraine hat Russlands militärischer Großangriff unermessliches menschliches Leid gebracht. Für Europa hat er eine Idee zerstört: Die Idee einer Europäischen Friedensordnung. Der Krieg ist zurück und er scheint die Welt in sich hineinzuziehen …

Musik 2: The war rooms  - 29 Sek

SPRECHER

Doch was ist Krieg? Wie bricht er aus? Und wieso führt er immer wieder in die äußerste Gewalt? Das sind Fragen, die sich auch Carl von Clausewitz gestellt hat: Der wohl wichtigste moderne Theoretiker des Krieges. Ein preußischer Offizier, der viele Kriege gesehen und sein ganzes Leben über sie nachgedacht hat.

04 OT Münkler: Intellektueller der das Wesen…

„Also im Prinzip würde ich sagen: Clausewitz ist ein verkleideter Intellektueller, der versucht, ja im buchstäblichen Sinne das Wesen des Krieges – nicht seine Erscheinungen – sondern das Wesen des Krieges gedanklich zu erfassen.“

SPRECHER

Das sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Clausewitz. „Vom Kriege“ heißt das dicke Buch, in dem der Preuße posthum seine Gedanken über den Ursprung und die Natur des Krieges hinterlassen hat. Ein fast 200 Jahre alter Wälzer, den man heute wieder lesen muss, sagt Herfried Münkler.

05 OT Münkler: Clausewitz als politische Erkundungsfahrt

„Ein intellektuelles Abenteuer ist er in Zeiten, in denen allgemein Frieden herrscht. Eine politische Erkundungsfahrt ist es hingegen in Zeiten, in denen wir das Gefühl haben, der Krieg drängt von vielen Seiten auf uns herein. Und wir kommen nicht weiter, wenn wir sagen: Und du bleibst draußen.“

Musik 3: The war rooms – siehe oben – 58 Sek

06 OT Münkler: Gefährliche Welt mit Gedanken durchdringen

„Also Clausewitz gibt uns Kategorien in die Hand, mit denen wir auch in eine bedrohliche und gefährliche Welt hineinschauen können. Und sie überwältigt uns nicht, sondern wir durchdringen sie mit der Kraft des Gedankens.“

ATMO: Luftalarm: Ukraine

07 OT Von der Leyen: It is president Putin who is bringing war back to Europe.

08 OT Baerbock: Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.

09 OT Steinmeier: Ja dies ist eine Zäsur, eine tiefe Zäsur und wir spüren das bis ins Mark. Sie, Ihre Familien und auch ich selbst.

SPRECHERIN

Der Krieg als Zäsur. Er hat in ganz Europa den Glauben erschüttert, dass mit dem Fortschritt der Frieden kommt. Plötzlich ist sie zurück, die Angst vor einem Zustand der nackten Gewalt. Wie umgehen mit ihr? Was offenbart der Krieg über unsere Gesellschaft? 

(Musik aus) Um einige Antworten zu bekommen, können wir zurückgehen, zum Ursprung des modernen Krieges: Zurück in die Zeit von Carl von Clausewitz.

MUSIK 4 – Old and new – 59 Sek

SPRECHER

Auch er erlebt eine Welt im Aufruhr: Geboren 1780, zu Beginn der Französischen Revolution ist er 9 Jahre alt. Mit zwölf tritt Clausewitz in die preußische Armee ein, um Offizier zu werden. In diesem Jahr beginnt der Revolutionskrieg Frankreichs gegen die europäischen Königtümer – und mit ihm ein über zwei Jahrzehnte andauernder Europäischer Großkrieg um die Zukunft des Kontinents.

SPRECHERIN

Clausewitz sieht diesen Krieg schon mit Dreizehn in den Schützengräben von Mainz. Er sieht ihn als junger Offizier in der großen Schlacht vor Jena und Auerstedt, als Preußen verheerend geschlagen wird. Und er sieht ihn 1812, als er im Dienste Russlands gegen Napoleon kämpft. Er sieht, wie dessen 600.000 Mann starke Armee im russischen Winter von Hunger, Frost und Kanonen aufgerieben wird.

SPRECHER

Über zwanzig Jahre Krieg und die Umwälzung der politischen Ordnung in ganz Europa. Etwas an diesem Krieg hat sich fundamental verändert: Was genau es ist, darauf sucht Clausewitz sein Leben lang nach einer Antwort. Es hat etwas mit der Natur des Krieges in der Moderne zu tun.

SPRECHERIN

Auf dem Schlachtfeld beobachtet er bei den französischen Soldaten eine noch nie dagewesene Energie und Kampfbereitschaft. Es ist die Hingabe für die Sache der Revolution, die sie von einem Sieg zum nächsten eilen lässt. 

Musik 5: Lashed tot he Mast – 13 Sek

ZITATOR CLAUSEWITZ

Der Krieg war urplötzlich wieder eine Sache des Volkes geworden, und zwar eines Volkes von 30 Millionen, die sich alle als Staatsbürger betrachteten.

SPRECHERIN

Im Kampf ums Überleben erlässt die junge Republik 1793 eine Wehrpflicht – die Levée en masse. Es ist die erste Wehrpflicht in Europa, die hunderttausende begeisterte junge Männer zu Soldaten macht. Statt Diplomatie und den Kabinettstischen der Monarchen, ist es nun Propaganda für Millionen, die über Sieg und Niederlage entscheidet: Im entfesselten Krieg der politischen Ideologien kämpfen ganze politische Systeme ums Überleben, um Sein oder Nichtsein.

SPRECHER

Diese Erfahrungen lassen Clausewitz völlig neu über den Krieg nachdenken. Dabei leitet ihn eine wichtige Einsicht, sagt Herfried Münkler:

10 OT Münkler: Nicht Waffen sondern Ideen entscheiden Kriege

Nicht waffentechnische Innovation, nicht technologische Neuerungen sind entscheidend dafür, dass eine Seite überlegen und die andere Seite unterlegen. Sondern der politische Wille: Die Opferbereitschaft und Leidensbereitschaft einer Bevölkerung und letzten Endes die politischen Konstellationen, die Durchhaltefähigkeit, die Opferbereitschaft entscheidet einen Krieg. Das ist schon ein gewichtiger Punkt, den er damals gesehen hat und der im weiteren Sinne bis heute Gültigkeit hat.

Musik 6: Penny taken to the hospital – 1 Min.

11 OT Selenskyj: Mut der Ukrainer 

Overvoice männlich

Die Ukrainer und ihr Mut haben die ganze Welt beseelt. Sie haben der Menschheit eine neue Hoffnung gegeben: Dass die Gerechtigkeit unsere zynische Welt nicht endgültig verlassen hat. Dass nicht die Gewalt siegt, sondern die Wahrheit, nicht das Geld, sondern die Werte, nicht Öl, sondern Menschen.

SPRECHER

Den Kampf um die Emotionen seines Volkes und die seiner Verbündeten, hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schon in den ersten Wochen des Krieges gewonnen. Ein wichtiger Sieg. Denn wenn Emotionen und Ideen das ganze Volk ergreifen, dann wirken sie wie „blinder Naturtrieb“ – schreibt Clausewitz. Sie setzen die Energie des Kampfes frei – und die Energie der Gewalt. Für ihn eine durch und durch ambivalente Größe: Unverzichtbar im Krieg aber mitunter auch unkontrollierbar und unsteuerbar, mit einem Hang zum Anarchischen.

MUSIK aus

SPRECHERIN:

Doch es ist nicht nur politische Propaganda, die in der Moderne ganze Nationen in einen Strudel der Gewalt hineinreißt. Es ist die Logik des Krieges selbst. Clausewitz versucht diese Dynamik der Enthemmung bereits in seiner Definition des Krieges zu erfassen. Dafür entwirft er folgendes Bild: Man stelle sich zwei Ringende vor, die sich im Zweikampf befinden.

ZITATOR CLAUSEWITZ

Jeder sucht den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen; sein nächster Zweck ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen. Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.

SPRECHERIN

Diese Definition ist das Herzstück der Theorie des Krieges von Clausewitz: Im Krieg geht es darum, dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen – mit nackter Gewalt. Weiter heißt es:

ZITATOR CLAUSEWITZ

Die physische Gewalt (..), ist also das Mittel, dem Feinde unseren Willen aufzudringen, der Zweck. Um diesen Zweck sicher zu erreichen, müssen wir den Feind wehrlos machen, und dies ist dem Begriff nach das eigentliche Ziel der kriegerischen Handlung.

ATMO: Explosionen von Bomben + Musik 7: 

Escape from the train – 48 Sek

SPRECHERIN

Vom Krieg erfasst, kann sich keiner der Gegner mehr aus ihm herausziehen – ohne den anderen zu unterwerfen. Hieraus ergibt sich eine eigentümliche Tendenz zur Eskalation der Gewalt, zur Verlängerung des Blutvergießens.

ATMO: Explosionen, Düsenflieger

ZITATOR CLAUSEWITZ

Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum äußersten führen muss.

ATMO: Bomben

SPRECHERIN

Es ist die berühmte Gewaltspirale: Das Wettrüsten, das schnelle Auflodern von bewaffneten Konflikten. Einmal in Gang gesetzt – ist sie nur noch schwer zu stoppen. (Musik aus) Clausewitz findet drei eskalierende Faktoren, die diese verhängnisvolle Wechselwirkung antreiben:

SPRECHER

Erstens: Wer mehr Gewalt anwendet, der ist im Vorteil – das gilt für beide. Zweitens: Man muss den Gegner wehrlos machen und ihn dauerhaft schwächen. Andernfalls schlägt er zurück. Damit zwingen sich beide gegenseitig aufs Ganze zu gehen. Das Maß der Enthemmung bestimmen nicht sie selbst, sondern jeweils der Gegner. Und Drittens: Die Feinde schätzen die Widerstandskraft des anderen ab. Und jeder will sie übertreffen.

SPRECHERIN

Diese Logik der Gewalteskalation kann bis zur völligen Vernichtung der Gegenseite führen. Clausewitz nennt das den „absoluten Krieg.“

12 OT Münkler: absoluter Krieg

Er führt den Begriff des ‚absoluten Krieges‘ ein, um die zumindest zunächst mal Denkmöglichkeit einer Steigerung bis zum Äußersten einzuführen. Und dann hinzuzufügen: Dass das auch Wirklichkeit wird – oder in die Wirklichkeit hereinspielt, davon müssen wir ausgehen.

SPRECHERIN

Erläutert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Aus Clausewitz Begriff heraus kennt der Krieg also keine Mäßigung. Doch der „absolute Krieg“ beschreibt mehr die logische Tendenz des Krieges – die Richtung, die er seinem Begriff nach nimmt. Tritt der Krieg aber in die Wirklichkeit, so wird er sogleich ausgebremst und abgeschwächt. Denn dort wirken drei moderierende Tendenzen:

SPRECHER

Erstens: Feinde kennen und beobachten sich. Sie wissen um die Schwächen und Ressourcen des Gegners und können abschätzen, wie weit er gehen kann. Das mäßigt auch die Gegenseite.

Zweitens: An die Stelle der Furcht vor einem Totalangriff tritt die Wahrscheinlichkeitsrechnung, was der Gegner wo und wie einsetzen wird. Und Drittens: Eskalationen können unterlassen werden, als politisches Zeichen an die Gegenseite, dass man nicht aufs Äußerste geht. 

MUSIK 8: Old and New – siehe oben – 41 Sek

SPRECHER

Trotz aller mäßigenden Tendenzen der Wirklichkeit – der fast zwanzigjährige Krieg Frankreichs gegen den Rest Europas ist für Clausewitz besonders: Hier hat sich der wirkliche Krieg dem absoluten Krieg in beunruhigender Weise angenähert. Es ist ein Krieg aufs Äußerste, in dem sich bereits düster das Millionensterben der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts ankündigt. In ihnen trifft die politische Massenmobilisierung dann auf industrielle Massenproduktion: Hinterlader, Maschinengewehre, Giftgas, Panzer, Bomber … und letztlich die Atombombe.

SPRECHERIN

Clausewitz hat diese verhängnisvolle Dialektik des Fortschritts bereits mitgedacht. Er schreibt:

ZITATOR CLAUSEWITZ

Da der Gebrauch der physischen Gewalt in ihrem ganzen Umfange die Mitwirkung der Intelligenz auf keine Weise ausschließt, so muß der, welcher sich dieser Gewalt rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes bedient, ein Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut.

SPRECHERIN

Der Fortschritt der Intelligenz und der Gebrauch der Gewalt stehen also nicht im Widerspruch zueinander. Das ist auch ein Urteil über die Aufklärung. Für Clausewitz wäre es falsch zu denken, dass der Prozess der Zivilisierung zu einer Abmilderung der Gewalt führt. Das nennt er sogar den „Irrtum der Gutmütigkeit“. Der Fortschritt geht vielmehr mit einer immer raffinierteren Entwicklung der Waffen einher. Damit setzt Clausewitz sich ab vom Philosophen Immanuel Kant, dessen eifriger Leser er ist. Gunnar Hindrichs, Philosophie-Professor an der Universität Basel, erläutert:

13 OT Hindrichs: Kant und der Friede

Die Kantische Geschichtsphilosophie ist unter der Idee des Friedens gefasst. Friede als letzter Gesichtspunkt, unter dem menschliche Geschichte begriffen werden kann - auf den hinzulaufend menschliche Geschichte gedeutet werden muss. Und das bedeutet für Kant die zunehmende Verrechtlichung menschlicher Verhältnisse.

SPRECHERIN

Über das Recht und den Frieden macht Clausewitz sich nur wenig Gedanken. Für den Theoretiker des Krieges wäre Frieden vermutlich nur eine zeitweise und brüchige Abwesenheit von Krieg. Krieg ist für ihn vielmehr ein menschliches Faktum, das es zu verstehen und zu meistern gilt.

14 HINDR Clausewitz kennt keinen Frieden

Und da könnte man sagen, dass Clausewitz diese Art von Versöhnung in der starken Emphase nicht kennt.

SPRECHERIN

Zwar ist Clausewitz ein Zeitgenosse Goethes und Hegels, doch sein Denken ist eigentlich bereits nach-klassisch, sagt Gunnar Hindrichs. Clausewitz ist ein politischer Realist: Die Gewalt des Faktischen hat alle geschichtsphilosophische Spekulation auf einen versöhnten Menschheitszustand verdrängt. Und trotzdem kann man bei Clausewitz erfahren, wie der Krieg eingehegt werden könnte. Der wichtige Begriff dabei ist aber nicht der Friede – sondern die Politik.

MUSIK 9: Old and New – s.o. – 35 Sek

ZITATOR CLAUSEWITZ

„Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln“.

SPRECHER

Das ist der zentrale Satz, der von Clausewitz bis heute in Erinnerung geblieben ist. Mit anderen Worten: Den Krieg versteht man nur, wenn man ihn von der Politik her denkt.

ZITATOR CLAUSEWITZ

Der Krieg (…) ganzer Völker (…) geht immer von einem politischen Zustande aus und wird nur durch ein politisches Motiv hervorgerufen. Er ist also ein politischer Akt.

SPRECHER

Krieg ist also kein ewiger Zustand des Seins, keine Naturgewalt, die plötzlich über den Menschen hereinbricht. Sondern: Er ist eine bewusst herbeigeführte politische Entscheidung. Gunnar Hindrichs greift diesen Gedanken auf. In seinem Buch „Abseits des Krieges“ schaut er aus der Perspektive der Philosophie auf die neue Aktualität des Kriegs in Europa. Und auch der berühmte Clausewitz-Satz taucht darin auf: Dass der Krieg eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei.

15 OT Hindrichs: Clausewitz-Satz erklärt

Das heißt: Fortsetzung heißt nicht „Absage von“, „brechen mit“, sondern heißt: Weiterführen. Und dieses Weiterführen erfolgt natürlich mit anderen Mitteln, das heißt: Es kommt etwas Neues hinzu. Da werden schon andere Mittel eingemischt. Aber gleichzeitig wird eben das Politische fortgesetzt. Das heißt, wir gehen nicht aus dem politischen Raum raus, sondern er bleibt der Horizont, in dem der Krieg zu verstehen ist und von daher begriffen werden muss.

SPRECHER

Die Politik setzt den Zweck des Krieges. Sie durchzieht ihn und übt fortwährend Einfluss auf ihn aus. Und der Krieg selbst ist bloß ein „politisches Instrument“. Für Gunnar Hindrichs steckt hier der Schlüssel für das moderne Verständnis des Militarismus und seiner Gefahren.

16 OT Hindrichs: Zwei Interpretationen

Das ist für mich das Interessante, dass wir tatsächlich die beiden gesellschafts-philosophischen Interpretationen unserer bürgerlichen Welt von diesem Satz her unterschiedlich lesen können. Also lesen wir ihn einmal von rechts nach links oder von links nach rechts.

SPRECHERIN:

Da wäre zum einen das Verständnis, das Liberale und Konservative miteinander teilen: Militarismus entsteht dann, wenn sich das Gewaltmittel des Krieges über das politische Denken ausbreitet und es erdrückt. Wenn Krieg zum Selbstzweck wird. „Totalen Krieg“ nannte das Erich Ludendorff, ein wichtiger General im Ersten Weltkrieg. Und wenige Jahre später Nazi-Propagandist Joseph Goebbels. Alle Teile der Gesellschaft werden hier in den Bann des Krieges hineingezogen: Landwirtschaft, Industrie, Finanzen, Wissenschaft, Kirche – und die Politik.

SPRECHER:

Die Lehre aus der Katastrophe der beiden Weltkriege heißt: Der Krieg ist ein Handwerk; er muss von der Staatskunst eingehegt und eingegrenzt werden. Deswegen hat die Bundesrepublik eine Parlaments-Armee und bezeichnet ihre Soldaten als „Bürger in Uniform“. Das nennt Gunnar Hindrichs die liberal-konservative Militarismus-Kritik. In ihr kommt Staatskunst prinzipiell auch ohne Krieg aus.

17 OT Hindrichs: Linke Militarismus-Kritik

Und die andere Seite würde sagen: Das ist genau die Illusion. Die bürgerliche Gesellschaft ist so verfasst, dass sie gar nicht ohne Krieg auskommen kann. Dass die bürgerliche Staatskunst immer schon an die Durchführung und Aufrechterhaltung jener sozio-ökonomischen Zusammenhänge gebunden ist, die gar nicht ohne Gewalt auskommen. Das heißt, sie birgt selbst bereits Gewalt und damit die Gefahr des Krieges in sich.

SPRECHERIN

Das nennt Hindrichs die „linke“ oder sozialistische Kritik am Militarismus. Diesem Verständnis nach ist Gewalt nicht ein Mittel, das zur Politik äußerlich hinzukommt. Sondern, die ökonomische Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft ist selbst latent gewaltförmig: durch wirtschaftliche Ausbeutung und die Unterdrückung von Klassen und Völkern zur Steigerung des Profits.

SPRECHER

In einer ähnlichen Weise hatte auch der französische Philosoph Michel Foucault den Satz von Clausewitz umgedreht: Die Politik sei die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Demnach ist es die latente Gewalt der Verhältnisse, die im Krieg augenscheinlich wird und den Schein der alltäglichen Zivilität zerreißt.

Musik 10: Lashed to the mast – siehe oben – 33 Sek

SPRECHERIN

Aus dieser Perspektive lässt sich auch die Theorie von Clausewitz verstehen. Sie führt Folgendes vor Augen: Menschliches Handeln, das auf Konflikt und Konfrontation ausgelegt ist, führt in letzter Konsequenz in den Krieg. – Bis zur totalen Unterwerfung und Vernichtung des Gegners. Doch damit birgt die Theorie auch ihr Gegenteil, sagt der Philosoph Gunnar Hindrichs. Die Möglichkeit des Friedens:

18 OT Hindrichs: Über Clausewitz hinaus

Durch die Betonung des Extremal-Prinzips Gegenhandeln ermöglicht Clausewitz uns zu verstehen, was die Überwindung des Krieges und der kriegerischen Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft darstellt. Nämlich: Menschliches Miteinander-Handeln und von diesem Miteinander-Handeln die Gesellschaft zu verstehen. Das steht zwar nicht in Clausewitz drin. Aber das ist dasjenige, was er uns ermöglicht zu begreifen.

SPRECHERIN

Derart gegen den Strich gebürstet, lässt sich also auch in Clausewitz ein utopischer Kern freilegen.

SPRECHER

Allerdings nur, wenn Clausewitz in seinem radikalen Realismus ernst genommen wird. Denn Miteinander-Handeln darf nicht in dem „Irrtum der Gutmütigkeit“ münden, warnt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Mit anderen Worten: Der Verzicht auf Gewalt ist historisch nicht verbürgt:

19 OT Münkler: Einziger genügt

Und selbst wenn alle darauf verzichten, dieses Mittel einzusetzen. Es genügt ein einziger unter ganz vielen, der es gebraucht, um die anderen zu zwingen es auch zu gebrauchen, wenn sie nicht von ihm unterworfen werden wollen.

ATMO: Luftalarm + 

Musik 11: Passing the point - 1:35 Min

20 OT Putin Abschreckungswaffen 

Overvoice männlich

Ich befehle dem Verteidigungsminister, die Abschreckungskräfte der russischen Armee in einen besonderen Kampfmodus zu versetzen.

SPRECHER

Der Russische Angriff auf die Ukraine hat zwei große Illusionen zerstört, sagt Herfried Münkler: Erstens, dass ein großer Krieg in Europa der Vergangenheit angehört. Dass der historische Fortschritt eine bleibende Friedensordnung auf dem Kontinent errichtet hat und der Krieg dem Handel gewichen ist. Und Zweitens: Dass im Zeitalter der Atombombe ein großer Landkrieg nicht mehr möglich ist. Damit hat dieser Krieg Grundsätzliches in Frage gestellt. Und Clausewitz kann dabei helfen, sich in dieser neuen – eigentlich ganz alten – Realität zu orientieren.

21 OT Münkler: Berlin und Kiew

Wenn die verantwortlichen Politiker in Berlin Clausewitz gelesen hätten. Dann hätten sie nicht so gezögert und herumlaviert, erstens: Der Ukraine Waffen zur Verfügung zu stellen, die sie braucht, um sich zu verteidigen. Und zweitens: Die Rüstungsproduktion hochzufahren. Weil relativ früh klar war, das ist kein Niederwerfungskrieg, das ist ein Abnutzungskrieg.


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