Dass Frauenkleidung überhaupt Taschen hat, in die Schlüssel und Smartphone passen, ist heute Grund für Freudentänze. Dabei war die Taschenlage für Frauen längst nicht immer so düster: Vor wenigen Jahrhunderten konnten Frauen in ihren Rockfalten und Gürteltaschen noch ganze Einkäufe verstauen. Vom Kampf um Taschen- und Geschlechtergerechtigkeit. Autorin: Vanessa Schneider
Credits
Autorin dieser Folge: Vanessa Schneider
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Berenike Beschle, Julia Fischer, Silke von Walkhoff, Peter Weiß
Technik: Laura Picerno
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Barbara Burman, Textilhistorikerin
Bernadette Banner, Youtuberin und Kostümhistorikerin
Hannah Carlson, Modehistorikerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
“ICONIC – Modegeschichte mit Aminata Belli” von ARD Kultur JETZT ENTDECKEN
Und: wir empfehlen den Hörspiel-Podcast "Die Grandauers und ihre Zeit". Eine bayerische Familiensaga von Willy Purucker, die zwischen 1893 bis 1945 spielt. HIER ENTDECKEN
Linktipps:
Alice Duer Miller: Why We Oppose Pockets for Women, 1914 HIER
Bernadette Banner: Women's Pockets Weren't Always a Complete Disgrace - A Brief History: England, 15th c - 21st c HIER ENTDECKEN
Ein historischer Überblick über die Umbindetasche vom Victoria and Albert Museum HIER
Janet C. Myers, “Picking the New Woman's Pockets”, in: 19th Century Gender Studies, 10.1, 2014. HIER
Rebecca Unsworth, “Hands Deep in History: Pockets in Men and Women's Dress in Western Europe, c. 1480–1630”, in: Costume, 51.2, 2017. HIER
Jutta Zander-Seidel, “Die Lesbarkeit frühneuzeitlicher Kleidung”, arthistoricum, 2018 HIER
Someone clever once said: Women were not allowed pockets – Datenanalyse zu Taschengrößen und Funktionalität in aktueller Frauen- und Männerbekleidung HIER
Die weltweite Nutzung von Taschen, New York Times, 1899 HIER
Literaturtipps:
Barbara Burman & Ariane Fennetaux, “The Pocket – A Hidden History of Women’s Lives”, 2019, das Standardwerk über die historische Bedeutung der Umbindetaschen für Frauenleben. Leider bisher nur auf Englisch erschienen.
Hannah Carlson, “Pockets – An Intimate History of How We Keep Things Close”, 2023, eine erhellende Kultur- und Geschlchtergeschichte der Taschen in Männer und Frauenbekleidung. Auf Englisch.
Claire Wilcox, “Handtaschen. Moden & Designs im 20. Jahrhundert”, 1998. Ein Bildband über die Entwicklung der Taschen und Handtaschen – von der Umbindetasche bis zur It-Bag.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Voice Over 01
Ich entschuldige mich im Voraus für das Maß an reiner, destillierter, passiver Wut in diesem Video. Aber eigentlich auch nicht, weil die schiere Ungerechtigkeit dieser Sache... (PIEP) Wir sind inzwischen allzu vertraut mit der blasphemischen Schmach der Taschen in Frauenkleidung...
ERZÄHLERIN
Bernadette Banner ist wütend. Die Kostümbildnerin und Historikerin filmt normalerweise launige Erklär-Videos bei Youtube – zum Beispiel über die desolate Lage von Taschen in Frauenkleidung. 1,7 Mio. Follower schauen ihr dabei zu. Und die sind diesmal genauso aufgebracht, wie Banner:
Musik: Source code 0‘27
ZITATORIN
Die Tatsache, dass Frauenoberbekleidung, Mäntel, Jacken usw. nie eine Innentasche haben, während Männerkleidung IMMER eine hat, macht mich so wütend, dass ein Vulkanausbruch daneben harmlos erscheint.
ZITATORIN 2
„Preach, Girl, Preach!“
ZITATORIN
Ich brauche Taschen, so tief wie meine Seele, dass meine Dolche hineinpassen. Ich meine, Stifte..
ZITATORIN 2
“Viva la pocket revolution!“
Musik: Nr.2 D-Dur Andante 0‘31
ERZÄHLERIN
Bernadette Banner schneidert und designt historisch korrekte Kostüme und Alltagskleidung und lebt zumindest modisch auch selbst im späten 19. Jahrhundert. Die langen braunen Haare locker, aber elegant hochgesteckt. Eine hochgeschlossene Bluse, dazu ein weiter, langer Rock, Schnürstiefel, Handschuhe. Gegenüber Jeans, Yoga-Leggings und schmalen Sommerkleidern hat ihr anachronistisches Outfit einen unsichtbaren – aber entscheidenden Vorteil:
[PAUSE/Musik weg]
Tiefe Taschen in den Rockfalten.
ZSP 02 Bernadette Banner Everything
Voice Over 02
Frauen trugen diese riesigen Kleider, es gab also viel Platz für Taschen. Ich habe viktorianische Taschen in meinen Rekonstruktionen eingenäht und nutze sie auch in meiner eigenen Kleidung, weil sie riesig sind. Ganze Bücher, Wasserflaschen, Snacks – eigentlich alles was man den Tag über braucht, passt in eine viktorianische Tasche.
ERZÄHLERIN
Kleidertaschen in denen ein ganzes Picknick Platz findet – das klingt wie eine Utopie. Und tatsächlich: Der Taschenreichtum im Viktorianischen Zeitalter Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Ausnahme von der Regel. Die längste Zeit über hatte Frauenkleidung nämlich gar keine eingenähten Taschen!
Musik: Servants and farmhands B 0‘52
ERZÄHLERIN:
Bis ins 16. Jahrhundert tragen Frauen und Männer in Europa ihre kleinen Besitztümer in Beuteln am Gürtel. Als sich die Schneidertechniken weiterentwickeln, entstehen aus Tunika und Beinlingen der Männer Hemden und Kniebundhosen. Und in die werden ab etwa 1550 die ledernen Beutel, die zuvor an ihren Gürteln über der Tunika baumelten, einfach als Taschen in den Hosenbund eingenäht. Das Gewand der Frauen verändert sich nicht so drastisch. Unabhängig vom gesellschaftlichen Stand und sich wandelnden Moden tragen sie Unterkleider, Röcke und ein Mieder. Und am Gürtel Beutel. Doch die verschwinden Mitte des 17. Jahrhunderts... (PAUSE)
… scheinbar.
Denn nun binden sie sich große, birnenförmige Taschen aus Leinen, Seide, Leder oder Baumwolle mit einem Band um die Hüfte – und unter die Röcke – statt darüber. Das liegt am besonderen Design der Röcke dieser Zeit, sagt Bernadette Banner:
ZSP 03 Bernadette Banner Umbindetaschen
Voice Over 03
Die Röcke sind zweigeteilt und werden wie zwei Schürzen vorn und hinten gebunden, so dass sie sich an den Seiten überlappen. Dadurch ist es einfacher sich anzuziehen, aber es hat auch den Vorteil, dass so ein Schlitz an der Seite entsteht, durch den man mit den Händen in die Tasche greifen kann. Ja, das ist super sicher! Und darum haben Frauen ihre Taschen lange Zeit unter den Kleidern getragen, weil das am sichersten war.
Musik: Old mill 0‘28
ERZÄHLERIN
Die Umbindetaschen sind geräumig – und praktisch: Die Hände frei, trotzdem jederzeit alles Nötige und Wichtige nah bei sich. Auf dem Feld und in der Werkstatt, genau wie auf dem Markt und im Haushalt.
Barbara Burman ist Textilhistorikerin und hat der Umbindetasche ein ganzes Buch gewidmet: Die verborgene Geschichte vom Leben der Frauen. Denn die Umbindetasche verband Frauen über Standesgrenzen hinweg. Eine verblüffende Entdeckung:
ZSP 04 Barbara Burman Gemeinsamkeiten
Voice Over 04
Eine Herzogin machte dieselbe Erfahrung wie eine Prostituierte oder die Frau des Metzgers. Wir erkannten, dass die Umbindetasche eine gemeinsame materielle Kultur war, die alle Klassen und regionalen Unterschiede überwand. Es war eine Offenbarung, denn die Modegeschichte erzählt von all diesen Unterschieden, aber das stimmt eigentlich nicht.
ERZÄHLERIN
Ob reich bestickt und aus wertvollen Stoffen gefertigt oder aus ein paar alten Flicken recyclet: Frauen nutzten ihre Umbindetasche auf ähnliche Weise, mit den gleichen Gesten, lernten sie zu tragen und wie sie hergestellt wurden. Aber auch:
ZSP 05 Barbara Burman Gemeinsamkeiten 2
Voice Over 05
Unabhängig von Ihrem sozialen Rang hatten Sie diese gemeinsame Erfahrung und die gemeinsame Angst, dass Ihnen auf der Straße etwas weggenommen werden könnte.
Musik: At the crime scene 0‘58
EZÄHLERIN
Eine begründete Angst! Denn die Geschichte der Taschen ist auch ein Stück Kriminalgeschichte. In den deutschen Nachrichtenblättern und Zeitungen häufen sich ab dem 18. Jahrhundert die Anzeigen wegen Taschendiebstahls. Am 25. Juli 1774 meldet der Hamburger Relations Courier zum Beispiel einen Diebstahl in Preßburg:
ZITATOR Hamburger Relations Courier
Eine Galanteriehändlerin steckte hier dieser Tage auf offenem Markte etwa 50 Gulden wohl eingewickelt in ihre Tasche. Ein wohlgekleidetes Weibsbild sahe solche, und näherte sich sogleich dem Standort, um Perlen zu kaufen. Sie ließ sich solche um den Hals von der Händlerin anprobieren, und zog ihr indessen unvermerkt die 50 Gulden aus der Tasche und gieng davon.
ERZÄHLERIN
Arbeitende Frauen und Händlerinnen tragen ihre Taschen im 18. Jahrhundert nicht versteckt unter den Röcken, sondern sichtbar neben ihrer Schürze auf dem Kleid, ihre Waren und Geld schnell griffbereit. Darauf haben es Beutelschneider und Taschendiebe abgesehen. Tausende Verfahren befassen sich allein am Londoner Old Bailey Court zwischen 1674 und 1913 mit Taschenkriminalität
Musik: Z8046179105 Limitation of lifetime 0‘58
Die Gerichtsprotokolle lassen uns tief in die verlorenen und gestohlenen Taschen der Trägerinnen blicken. Wir sehen darin, was ihren Besitzerinnen vor hunderten Jahren so wichtig ist, dass sie es den ganzen Tag lang – auch bei der Arbeit nah bei sich tragen. Mit Kamm, Schleifenband und weiteren Kleidungsstücken bei sich, können Frauen ihr Aussehen schnell verändern – und rund um die Uhr angemessen gekleidet von der Waschküche zum Markt und auf Botengänge gehen.
Dazu Nähzeug, ein kleines Messer, Werkzeuge für die Arbeit, Schlüssel, Obst und Brot. Manche Frauen verstauen Andenken in ihren Taschen, Briefe, wertvolle Schmuckstücke oder Münzen, eingewickelt in Papier, Tücher oder in Tabakdosen.
ZSP 07 Barbara Burman Gericht
VOICE OVER 07
Manchmal glaubten die Magistrate nicht, was die Frauen über den Diebstahl erzählten. Einer von ihnen sagte berüchtigterweise zu einer Frau im Gericht: „Es heißt, dass die Taschen der Frauen keinen Boden hätten.“ Oft nahmen sie auch an, dass es darin chaotisch zuging, ein gieriges Durcheinander, in das man so viel wie möglich stopfen konnte. Diese Vorstellung des Überkonsums und die sehr negativen Bilder weiblichen Verhaltens prägten die Wahrnehmung.
ERZÄHLERIN
Anders als in der Fantasie der Magistrate und Satiriker dieser Zeit, sind die Taschen alles andere als chaotisch –hat alles seinen Ort. Oft befinden sich innerhalb einer Tasche weitere Fächer und Ösen, um den Inhalt zu organisieren und bedeutsame Dinge zu schützen.
Musik: C1608590105 I can’t express my deep love 0‘25
ERZÄHLERIN
Weil die Taschen so nah am Körper getragen werden, geben sie den Frauen ein Gefühl von Eigentum und Privatsphäre – was ihnen, besonders in niedrigeren Ständen und nach der Heirat – die Gesellschaft rechtlich bis ins späte 19. Jahrhundert nicht zugesteht
ZSP 09 Barbara Burman Privat
VOICE OVER 09
Es gibt eine Vermischung von Geheimhaltung und Privatsphäre. Im Zeitraum, den wir untersuchen, beginnt sich die Idee der Privatsphäre auszubreiten – es wird langsam als legitim angesehen, dass eine Frau in ihrem eigenen Zuhause Privatsphäre hat. Das Konzept der Geheimhaltung bleibt jedoch bestehen, und die Tasche befindet sich gewissermaßen in einem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen.
ERZÄHLERIN
Frauen – besonders aus niedrigeren Ständen – werden häufig verdächtigt gegen Sitten und Gesetze zu verstoßen.
[Pause]
Und das tun sie tatsächlich auch oft. Mal mehr und mal weniger geschickt:
Musik: Z8038426125 Nasty Ambush 0‘39
ZSP 10 Barbara Burman Enten
VOICE OVER 10
Aber man konnte eine Menge transportieren. In Warwickshire, im ländlichen Raum zum Beispiel, hat eine Frau mit zwielichtigem Ruf zwei lebende Enten vom Bauern gestohlen. Sie steckte sie in ihre Tasche und rannte über die Felder...
[etwas hörspielig produzieren, mit Geräuschen]
… Der Bauer hinterher. Er wollte die Enten unbedingt zurück und verfolgte sie über die Felder, bis er sie einholte...
[Stille]
...Sie wurde wegen Diebstahls der Enten angeklagt.
[MUSIK WECHSEL/PAUSE]
ERZÄHLERIN
Die Umbindetasche ist so nützlich, dass sie auch nicht dauerhaft abgelegt wird, als sich nach der französischen Revolution die Frauenmode radikal verändert.
Musik: Champ de ble 0‘34
Modern sind nun feine, weiße Musselinstoffe, die sich an die Körper der Frau schmiegen, wie die Kleider antiker Statuen. Unter den oft durchscheinenden Kleidern trägt die Umbindetasche auf, darum haben viele Frauen in der Öffentlichkeit nun kleine Säckchen als Handtaschen bei sich – sogenannte Réticules (Aussprache: Französisch). Sie sind eher Schmuckstück, als Transportmittel.
Diese Empire-Mode vergeht schon um 1820 wieder und ausladende Röcke mit Crinolinen und Korsetts sorgen für die ideale Sanduhrsilhouette. In den üppigen Rockschichten ist jetzt auch wieder Platz für Taschen. Kurzzeitig werden diese sogar in die großen Röcke eingenäht. So, wie in die Hosen, Jacken und Mäntel der Männer, die von Taschen für alle möglichen Zwecke inzwischen regelrecht übersäht sind:
ZSP 11 Barbara Burman Herrentasche
VOICE OVER 11
Wenn man die Taschen an einem dreiteiligen Herrenanzug zählt und dazu die Manteltaschen, dann erreicht man schnell eine zweistellige Anzahl: verschiedene Taschen, Taschen für Tickets, größere Taschen (...) Tasche für Sandwiches, für Flaschen, für Geld...
Musik: Simple life 0‘29
ERZÄHLERIN
. Mit ihren vielen Taschen sind die Männer für jede Situation unterwegs ausgestattet. Das wünschen sich die höheren Damen für ihre Reisen mit Kutschen und der neuen Eisenbahn auch. Die eingenähten Kleidertaschen werden zum Ausdruck von Modernität und ab Mitte des 19. Jahrhunderts breiten sie sich auch auf der gesamten Frauenkleidung aus: Die große deutsche Modezeitung Bazar zeigt Ende der 1870er Jahre dekorative Taschen auf den Röcken und Jacken. Analog zu den vielen spezialisierten Taschen des Herrenanzugs hat die modische Frau nun Taschen für Fächer und sogar Schirme auf dem Rock – scheinbar. Denn die sind zwar hübsch verziert, aber leider ganz und gar nicht brauchbar.
ZSP 12 Hannah Carlson Handtasche
VOICE OVER 12
Dann kommt die Handtasche auf und es entsteht die Vorstellung, dass Frauen keine Taschen brauchen, weil sie ja eine Handtasche haben. Und warum sollten Frauen sich darüber überhaupt beschweren?
ERZÄHLERIN
In fast jeder Ausgabe des Bazars sind nun neue, modische Varianten des Arbeitsbeutels zu sehen – kleine Kästchen und Handtaschen, die ursprünglich für die Aufbewahrung von Nähutensilien gedacht waren.
Denn die Röcke sind jetzt so schmal geschnitten, dass eingenähte Taschen höchstens noch in der voluminös gebauschten Rocköffnung am Po versteckt werden können. Bernadette Banner:
ZSP 13 Bernadette Banner Rückentasche
VOICE OVER 13
Aber sie bestanden auf ihre Taschen! Dort, wo das Kleid sich öffnete, überlappt sich der Stoff. Und dort befand sich eine Tasche. Es ist so einfallsreich. (...) Und es ist auch unnatürlich und ein bisschen seltsam, aber zumindest hatten sie eine Tasche. Und das war besser als keine Tasche zu haben.
Musik: Hobbling down 0‘29
ERZÄHLERIN
Aber: Die Frauen müssen sich jetzt regelrecht verrenken, um an ihre Tasche zu kommen
Der Grund für die merkwürdige Positionierung: Sie soll die Silhouette der Frau – die durch strenge Röcke und steife Korsetts diszipliniert und in Form gebracht wird – nicht durch unansehnliche Beulen und Ausbuchtungen stören. Manche Schneiderinnen und Schneider verweigern ihren Kundinnen die Taschen sogar gänzlich:
ZSP 14 Hannah Carlson Suffragetten
VOICE OVER 14
Die Suffragette Elizabeth Cady Stanton berichtete in den 1890er Jahren amüsant über eine Diskussion mit ihrem Schneider. Sie bestand auf Taschen und der Schneider erwidert: Nein, Nein! Die würden sie ausbeulen. Einfach furchtbar! Wissen Sie was, ich werde ihnen keine Taschen einnähen.
ERZÄHLERIN
Das zeige sich bis heute in der Frauenmode und den mangelnden Taschen darin, sagt die Modehistorikerin Hannah Carlson. Sie hat eine Kulturgeschichte der Tasche verfasst:
ZSP 15 Hannah Carlson Problem
VOICE OVER 15
Die Vorstellung, dass Taschen nicht in Frauenbekleidung passen, beginnt genau in diesem Moment. Es ist der Übergang von viktorianischer Kleidung mit Korsetts und großen Röcken in die moderne Ära. Und das Problem, dass Frauenbekleidung keinen festen Platz für Taschen hat, ist geblieben und hat sich bis ins 20. und 21. Jahrhundert fortgesetzt.
Musik: Think and follow 1 0‘22
ERZÄHLERIN
Statt eine Tasche zu konstruieren, mit der Form und Schnitt des Kleidungsstückes intakt bleiben, nehmen Schneider und öffentliche Kritiker an, dass Frauen diese Taschen ja eigentlich gar nicht benötigen. Diese Haltung wird im Laufe der Jahrhunderte auch in Karikaturen und Satiren deutlich.
ZSP 16 Barbara Burman Opfer
VOICE OVER 16
Die Frauen wurden Opfer der Idee, dass sie nicht zu viel besitzen sollten. Und wenn sie Schlüssel und Geld besaßen, dann war das ein wenig verwerflich – denn es bedeutete, dass die Frau mobil ist. Und das wiederum hieß, dass sie ein gewisses Maß an Unabhängigkeit besaß.
ERZÄHLERIN
Taschen gelten als Privatsache, als Teil der Unterbekleidung und haben lange Zeit etwas anrüchiges an sich. In Satiren und Parodien ziehen Männer über die chaotischen Taschen der Frauen her. In Deutschland entwickelte sich das Wort „Tasche“ zum Schimpfwort für die Frau. Und auch Réticules und Arbeitsbeutel ziehen die Häme zeitgenössischer Kritiker auf sich, die sich an den zur Schau gestellten Habseligkeiten der Frauen stören.
Musik: Organic technology 0‘31
Ende des 19. Jahrhunderts machen die Frauenrechtlerinnen die Tasche zum Politikum.
Die Feministin Alice Duer Miller bringt die ungerechte politische Situation der Frauen 1914 auf den Punkt – Frauen dürfen nicht wählen, zahlen aber Steuern. In ihrer Polemik „Warum wir gegen Taschen für Frauen sind“ münzt sie die absurden Argumente gegen das Frauenwahlrecht auf die desolate Taschenlage um. Darunter:
ZITATORIN Alice Duer Miller Pockets for Women (†1942)
Weil Taschen kein Naturrecht sind.
Weil die meisten Frauen keine Taschen wollen – wäre es anders, hätten sie sie.
Weil Männer Männer und Frauen Frauen sind. Wir dürfen uns nicht gegen die Natur stellen.
ERZÄHLERIN
und schließlich:
ZITATORIN Alice Duer Miller Pockets for Women (†1942)
Weil Männern in ihren Taschen Tabak, Pfeifen, Whiskyflaschen, Kaugummi und kompromittierende Briefe tragen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Frauen die Taschen klüger verwenden würden.
ERZÄHLERIN
Die britischen und US-amerikanischen Suffragetten machen aus den fehlenden Kleidertaschen ein Sinnbild für andere fehlende Rechte im Kampf um Gleichberechtigung, sagt Hannah Carlson.
ZSP 18 Hannah Carlson Karikaturen
VOICE OVER 18
Erstaunlicherweise thematisieren Suffragetten die Taschen ziemlich oft, und ihre Gegner verspotten sie deswegen. Die konservative Presse schreibt damals Dinge wie: „Warum geben wir Frauen nicht einfach Taschen statt des Wahlrechts? Dann sind sie glücklich und hören auf zu meckern.“
Hommage an Kurt Weill 2 0‘18
ERZÄHLERIN
Es kommt anders: Das Wahlrecht erstreiten sich Frauen in Europa und den USA Anfang des 20. Jahrhunderts. Doch Taschen in der Frauenkleidung bleiben weiterhin Mangelware.
Und vor einhundert Jahren macht die Modejournalistin Julie Elias 1924 im Karlsruher Tageblatt eine Beobachtung, die auch heute noch gilt:
ZITATORIN Julie Elias – Die Tasche, 1924
“ Was der Herrenschneider für natürlich und selbstverständlich hält, den Taschenreichtum, das ist für den Damenschneider im allgemeinen Luxus und Modesache.”
ERZÄHLERIN
Im 20. Jahrhundert kommt und geht die Tasche in der High Fashion, wie es dem Zeitgeist beliebt. Aber so große und nützliche Taschen wie in den beiden Jahrhunderten zuvor haben Frauen nie wieder in ihrer Kleidung. In der Fast Fashion von heute ist keine Zeit für das aufwendige Einsetzen und Gestalten von funktionalen und formwahrenden Taschen in die oft figurbetonte Frauenkleidung.
ZSP 19 Hannah Carlson Fast Fashion
VOICE OVER 19
Es ist leicht darauf zu verzichten in der Fast Fashion aber auch im mittleren Preissgegment. Eine Tasche einzufügen ist teuer und außerdem: Frauen haben Handtaschen. Ich glaube, dass ist der Hauptgrund, dass Taschen in der Frauenbekleidung fehlen.
Musik: Opportunity 0‘25
ERZÄHLERIN
Die Handtasche hat sich in den vergangenen hundert Jahren als weiblicher Transportgegenstand durchgesetzt – und zu einem wichtigen Umsatzfaktor in der Modeindustrie entwickelt.
1924 glaubt die Modejournalistin Julie Elias, den hartnäckigsten und langlebigsten Grund gegen die Kleidertaschen endlich überwunden zu haben:
ZITATORIN Karlsruher Tageblatt Julie Elias 1924
“Als die engen und engsten Röcke noch rigoros herrschten, wie oft mußte man da nicht bei schüchternen Anspielungen die Antwort hören:„Eine Tasche? Aber das trägt ja viel zu stark auf." Manchmal gab es zwar Taschen, aber man durfte um des Himmels willen nichts hineintun.(...) Heute hat man andere Sorgen, (...) u. die Männertasche erregt der Frau wirklich keine Bedenken mehr. Sie darf herzhaft auf ihre Tasche schlagen und mit jenem Philosophen sprechen: „Omnia mea mecum porto."
ERZÄHLERIN
„All meinen Besitz trage ich bei mir.“ Doch Ciceros Ausspruch bleibt bis heute eine Wunschvorstellung – zumindest für Frauen: Bei vergleichbaren Jeansmodellen sind die Taschen in Frauenhosen 48% kürzer als die der Männer und die Hand der Trägerin passt kaum hinein: nur in ein Zehntel der Taschen. Das hat eine Datenanalyse von The Pudding 2018 ergeben.
ZSP 20 Hannah Carlson Fazit
VOICE OVER 20
Die Kleidertasche zeigt, dass rückständige Vorstellungen von Geschlecht, von denen wir dachten, wir hätten sie überwunden, immer noch bei uns sind. Auf subtile Weise tauchen sie sogar in unserer Kleidung auf.
Musik: We will still be social o’27
ERZÄHLERIN
Das jahrhundertelange Ringen um Stauraum in der Kleidung der Frauen – ist auch ein Ringen um ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Um Privatsphäre, Eigentum und Mobilität - und damit um weibliche Selbstbestimmung. Bis heute.
Oder wie Youtuberin Bernadette Banner es in ihrem Video über Kleidertaschen ausdrückt:
ZSP 21 Bernadette Banner Youtube Ende
VOICE OVER 21
Ihr seht, liebes Publikum, all die Zeit haben wir schweigend hingenommen, dass die Gesellschaft uns einredet, wir hätten im 21. Jahrhundert endgültig den patriarchalen Einfluss auf die weibliche Freiheit besiegt, während uns in Wirklichkeit unsere materielle Freiheit schrittweise direkt vor unseren Augen geraubt wurde – in Form von teuren Jeans mit falschen Taschen, weswegen es teure Handtaschen braucht. Verwendet diese Information, wie ihr wollt.