Der Begriff Manufaktur steht heutzutage für Handwerk und Wertarbeit. Aber Manufakturen waren eine Randerscheinung in der Wirtschaftsgeschichte - man könnte in ihnen die Tech-Startups des 18. Jahrhundert sehen. Autor: Christian Sachsinger (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Christian Sachsinger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Irina Wanka, Stefan Wilkening, Florian Schwarz
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Reinhold Reith, Historiker;
Stefan Gorissen, Professor für Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Atmo Versailles
Sprecherin:
Das französische Schloss Versailles ist ein Touristenmagnet ohnegleichen. Wer es aber schafft, am Morgen als einer der ersten in der langen Schlange vor den goldenen Toren zu stehen und sich beeilt, schnell in den ersten Stock zu gelangen, bevor alle anderen dort sind, dem bietet sich ein besonderes Schauspiel: der Spiegelsaal präsentiert sein Farbenspiel – so wie es der Hausherr Ludwig der 14., besser bekannt als der Sonnenkönig, vor über 300 Jahren genießen konnte.
Musik 1: Sonata Nr. 1
von Marc-Antoine Charpentier – 1:13 Min.
Sprecher 2:
Der Spiegelsaal des Schlosses Versailles bei Paris ist noch heute ein beeindruckendes handwerkliches Meisterstück. Der Raum misst über 70 Meter in der Länge und gut 10 Meter in der Breite. Auf der einen Seite gewähren 17 Fenster einen einzigartigen Ausblick auf den prunkvollen Schloss-Park. Gegenüber an der Innenwand des Saals stehen 17 Spiegel – jeder zusammengesetzt aus über 350 Teilstücken. Die riesigen Spiegel holen den Park nun optisch in den Saal. Am Abend reflektierten die glatten Flächen den Schein von hunderten von Kerzen, die dort bei Bällen entzündet wurden.
Sprecherin:
Noch heute bringt der Spiegelsaal Besucher zum Staunen. Im ausgehenden 17. Jahrhundert führte er den Gästen des Sonnenkönigs beim Betreten dessen Reichtum und Macht schlagartig vor Augen. Es gab nichts Vergleichbares.
Musik aus.
Atmo Glaserei – Glas wird zerschnitten
Sprecher 1:
Spiegelglas war im 17. Jahrhundert ein teures Luxusprodukt. Es herzustellen war kompliziert und nur wenige Handwerker beherrschten die Technik. Diese Experten lebten fast alle in Venedig, die venezianische Republik hatte damals das Monopol für die Herstellung von Spiegeln. Versailles war jedoch das Zentrum Frankreichs und für die Dekoration des Schlosses kamen nur in Frankreich hergestellte Produkte in Frage. Also gründete Jean-Baptiste Colbert – der Finanzminister – eine eigene königliche Spiegel-Manufaktur und warb dafür in Venedig kurzerhand einige der Spezialisten ab. Es war ein Affront. Erzählungen zufolge sandte die Regierung der Venezianischen Republik Agenten nach Frankreich. Sie sollten jene Männer, die Colbert abgeworben hatte, vergiften, um das Spiegel-Monopol Venedigs zu verteidigen.
Sprecherin:
Der Plan misslang offenbar, denn sonst gäbe es den Spiegelsaal womöglich gar nicht. Und die Manufaktur arbeitete, lange nachdem der ursprüngliche Auftrag erledigt war, erfolgreich weiter. Das Unternehmen gibt es bis heute. Die damalige Compagnie des Grandes Glaces verlagerte die Produktion später in das nordfranzösische Dorf Saint-Gobain. Heute ist die Saint-Gobain-Gruppe ein internationaler Konzern mit zig Milliarden Euro Umsatz und weit über 100.000 Mitarbeitern – auch in Deutschland.
Musik 2: „La Dauphine für Cembalo G-Dur/g-Moll“ von Rameau - M0005340009 – Länge: 33 Sekunden
Sprecher 1:
Saint Gobain und der Spiegelsaal - ein Beispiel für Manufakturen, wie sie in Europa im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert immer häufiger vorkommen.
Sprecherin:
Doch was macht diese Betriebsform aus? Und warum entsteht sie überhaupt? Der Historiker Prof. Reinhold Reith versucht es anhand eine einfachen Beispiels zu erklären:
O-Ton 1 (10:20)
Wenn wir eine Kutsche produzieren, ist das möglich, indem mehrere Handwerker daran beteiligt sind und die Arbeit dazu in verschiedenen Werkstätten verrichtet wird. (…) Wenn wir jetzt diese Arbeitsprozesse in einem Raum oder in einem Gebäude zusammenfassen, dann spricht man von der kooperativen Arbeitsteilung und das Gebäude wird als Manufaktur bezeichnet.
Sprecherin:
Es ist produktiver, wenn sich etwa ein Radmacher, ein Schreiner und ein Sattler zusammentun und gemeinsam die Kutsche bauen, als wenn jeder für sich im eigenen Atelier vor sich hin werkelt und man am Ende feststellt, dass die Einzelteile nicht richtig zusammenpassen. Zumal die Karossen immer ausgefeiltere Konstruktionen werden.
Sprecher 1
Es braucht also Experten, Spezialisten, die zudem in der Lage sind, an einem Ort gemeinsam aufeinander abgestimmt zu arbeiten.
Manufakturen werden dabei zu Stätten, an denen High-Tech entsteht. Das gilt für die Herstellung riesiger Spiegel in Frankreich, das gilt aber auch für die Strumpfproduktion.
O-Ton 2
(17:30) Durch den sogenannten Strumpfwirkerstuhl gewinnt die Strumpfwirkerei einen hohen Produktivitätsfortschritt. 19:20 Das sind mehrere Nadeln, die da bewegt werden können. Durch den Strumpfwirkerstuhl steigt die Produktivität. Was gelingt ist, dass diese Strümpfe gleichförmig hergestellt werden können. Und die Hugenotten sind in dieser Technologie sehr versiert und sie bringen diese Technologie mit in die deutschen Territorien, wo sie sich niederlassen.
Sprecherin:
Und damit sind wir wieder bei Ludwig dem 14. Der Sonnenkönig von Versailles hatte die Hugenotten, wie Frankreichs Protestanten genannt wurden, wegen ihres Glaubens aus dem Land gejagt. Viele von ihnen gingen nach Deutschland und mit ihnen kam viel wertvolles Know-How, auch nach Bayern, etwa nach Erlangen.
O-Ton 3 Reith
Vor allem in Erlangen ist dann bekannt für die Strumpfproduktion im 18. Jahrhundert und ist eine der wichtigsten Standorte überhaupt.
ATMO Strumpfwirken / Handkulierstuhl
Sprecher 1
Das Strumpfwirken ist eine viel effizientere Technik, als das Stricken der Strümpfe. Man braucht dazu aber nicht nur einen Satz Nadeln, sondern den bereits erwähnten Strumpfwirkerstuhl, eine hochkomplexe Maschine, bestehend aus mehreren tausend Einzelteilen. Er sieht ein wenig aus wie ein übergroßes Klavier, in das oben unzählige Fäden hineinlaufen, die dann zu einem feinmaschigen Strumpf verwoben werden. Kein Vergleich mit rauhen, kratzigen Wollsocken.
Sprecherin:
In Erlangen wird diese Technik in den Manufakturen immer weiter verfeinert, die Stadt widmet sich völlig diesem Wirtschaftszweig. …
Zeitweise sind in Erlangen 3000 Menschen mit der Herstellung von Strümpfen beschäftigt, bei gerade einmal rund 9000 Einwohnern. Angeblich klappern in jeder Ecke der Stadt Strumpfwirkerstühle. Wie das damals geklungen haben muss, kann man heute noch im Esche-Museum im sächsischen Limbach-Oberfrohna hören.
Atmo aus.
Musik 3: „1. Satz aus: L'Omphale. Suite für Orchester e-Moll“ von Telemann, (take 001 Ouvertüre) Länge: 1:01 Min.
Sprecher 1
Manufakturen entstehen meist da, wo es um hochwertige Waren geht, die kompliziert herzustellen sind. Häufig sind es Luxusprodukte, die sich nur die Fürsten und Könige leisten können und wollen. Das gilt in erster Linie für Porzellan, damals auch weißes Gold genannt.
Die hauchdünnen Teller, Tassen und Kannen waren aufwändig bemalt; sie sind der Stolz vieler Herrscherhäuser. Man kann damit bei Banketten Stil und Reichtum demonstrieren. Denn die Herstellung ist teuer, sie geschieht in eigenen Manufakturen, also staatlich geförderten Unternehmen.
So gründet 1710 August der Starke, Kurfürst von Sachsen, die erste europäische Porzellanmanufaktur. Ein Projekt, das dem Fürsten nur Verluste beschert. Ganz ähnlich die Ludwigsburg Porzellanmanufaktur, die ebenfalls ständig bezuschusst werden muss.
Sprecherin:
Andere Branchen sind dagegen deutlich rentabler, wie der Stoffdruck. Manche Betriebe schaffen hier einen steilen wirtschaftlichen Aufstieg. Der Historiker Reinhold Reith:
O-Ton 4 Reith
4:30 Diese bedruckten Baumwolltuche sind der meistgehandelte Gegenstand im 18 Jhd. Da geht´s um das Drucken, da geht´s um die Farben, da geht´s um das Design. Da geht´s auch um die Technik, wie wird gedruckt, wie werden die Farben aufgebracht. Da geht´s um großen zentralisierten Betrieben mit mehreren hundert Arbeitskräften.
Sprecher 1:
Bedruckte Baumwolle, man nennt das damals Kattun - vom Englischen Cotton - übt eine große Faszination auf die Menschen aus. Sie wird zur bevorzugten Oberbekleidung von Frauen der unteren und mittleren Schichten der Gesellschaft. Die Stoffe zeigen wiederholende Muster, die an Blumen oder Blätter erinnern und etwas Leichtes, Spielerisches haben. Kein Wunder, dass diese Stoffe bald die aus dicken Maschen gestrickten, einfarbigen Wollkleider verdrängen.
Angetrieben wird dieser Kattun-Boom von Unternehmerpersönlichkeiten, die mit ihren Manufakturen nun gute Geschäfte machen.
Sprecherin:
Einer von ihnen ist Johann Heinrich Schüle, ein ehrgeiziger Kaufmannsgehilfe, der das Potenzial des Baumwolldrucks früh erkennt. Er reist 1755 nach Hamburg, wo die Technik schon weiter fortgeschritten ist, und schaut sich alles genau an. Glanz und Raffinesse bekommen die Stoffe erst, wenn sie nach dem Druck noch per Hand an den richtigen Stellen nachkoloriert werden. Berichten zufolge sitzt Schüle mit seiner Frau und seiner Tochter oft bis in die Morgenstunden an den Stoffen, um sie „einzumalen“, wie diese Arbeit damals genannt wird. Aber die Mühe lohnt, Schüles Stoffe finden reißenden Absatz und bald kann er sich mehrere Einmalerinnen leisten, die ihm die mühselige Arbeit abnehmen. 1763 errichtet der findige Kattunexperte eine erste Fabrik. Seine Stoffe liefert er mittlerweile nach ganz Europa. Ein Augenzeuge, der Schüles Fabrik besichtigen durfte, schildert die Abläufe dort so:
Musik 4: Fantasia Nr. 1 F-Dur von Bach, Carl Philipp Emanuel, Länge: 36 Sekunden
Sprecher 2:
„Die einfarbigen Muster werden mit großen Kupferplatten abgedruckt, wozu zwey besondere Kupferstecher gehalten werden. Die vielfarbigen Muster aber hat man noch nicht in Platten versucht, sondern man besinet sich hölzerner Formen, wozu eine besondere Innung von Modelschneidern ist, die zum Theile recht gut arbeiten. Es war mit Vergnügen anzusehen, mit welcher Fertig- und Genauigkeit die Drucker bey den verschiedenen aufeinanderfolgenden Formen die rechte Stelle wieder trafen.“
Sprecherin:
Schüle engagiert in seiner Manufaktur viele Experten, er wirbt hochqualifizierte Drucker aus London ab und engagiert eine renommierte Zeichnerin aus Hamburg.
Mit Geschick und Durchsetzungsvermögen schafft er es, als einfacher Bürger ein Firmenimperium aufzubauen. Sein wirtschaftlicher Einfluss wird so groß, dass ihn der Kaiser 1772 in den Adelsstand erhebt. Doch zu diesem Zeitpunkt geht die Phase der Manufakturen in Europa schon fast zu Ende.
Musik 5: 5. Satz aus: Triosonate Nr. 3 a-Moll, BuxWV 254 von Buxtehude., take 109. Länge: 1:10 Minuten
Sprecher 1:
Drehen wir die Zeit noch einmal gut 100 Jahre zurück, um genauer zu beleuchten, warum Manufakturen als neue Betriebsform überhaupt aufkommen.
Ein wesentlicher Grund ist, dass der Staat interessiert ist an der Entstehung von Manufakturen – und zwar nicht nur an solchen, die Porzellan oder Spiegel produzieren. Denn Mitte des 17. Jahrhunderts muss die Wirtschaft unbedingt wieder in Schwung kommen. Nach dem 30-jährigen Krieg gilt es im deutschen Reich Aufbauarbeit zu leisten. Weite Landstriche sind von den langen Kämpfen verwüstet und entvölkert. Die Gesellschaft soll, nun da wieder Frieden herrscht, wachsen. Um die Menschen in Lohn und Brot zu bringen, fördert der Staat eben auch Manufakturen. Privates Unternehmertum ist dabei zunächst gar nicht vorgesehen. Manufakturen wie die von Johann Heinrich Schüle, entstehen erst später. Doch auch sie passen den Herrschern ins Konzept.
Denn der sogenannte „Kameralismus“ als Staatswirtschaftslehre dominiert das Denken und Planen deutscher Regierungen und vor allem ihrer Finanzminister.
O-Ton 5 Reith
(33:45) Man kann das mit dem Begriff aktive Handelsbilanz umreißen(…) 35:00 Dass man eben bestimmte Produkte nicht mehr einführen muss, sondern im eigenen Land produzieren kann, um möglicherweise sogar exportieren könne. Gedacht ist das Ganze von der Kamera, der fürstlichen Schatzkammer, die dann über die Steuern einen Überschuss erzielen kann.
Sprecher 1:
Wobei dieser Ehrgeiz, Export-Weltmeister zu werden, damals noch keine deutsche Eigenschaft ist, sondern eine zutiefst französische.
Musik 6: „Sonata Nr. 1“ (vgl. Musik Nr. 1) , Länge: 1:26 Min
Sprecherin:
Ludwig der 14. hat einen immensen Finanzbedarf. Um den Adel des Landes an sich zu binden, baut er das kleine Versailler Jagdschloss seines Vaters zum pompösen Machtzentrum aus. Der Glanz und die Anziehungskraft des Hofes sollen so groß werden, dass sich dem kein Fürst und kein Kardinal mehr entziehen kann. Es gibt viele Posten und Titel in Versailles, der Beamtenapparat wird dabei immer gewaltiger und teurer. Außerdem führt der Sonnenkönig eine Reihe von kostspieligen Kriegen, um die Grenzen zu festigen oder auszudehnen, die sogenannten Reunionskriege. Das alles muss finanziert werden. Finanzminister Colbert betreibt deshalb die Wirtschaftspolitik des Merkantilismus. Im Lateinischen ist der „mercator“ der Kaufmann oder Händler, also einer der etwas anzubieten und zu verkaufen hat.
Und so geht es Colbert darum, die produktiven Kräfte im Inland zu fördern. Staatliche Manufakturen sollen Porzellan, Spiegel, Seide oder feines Tuch herstellen und zwar mehr als im Inland gebraucht wird, um es möglichst in andere Länder verkaufen zu können. Die Gewinne und die Steuern sollen dem König wieder mehr Spielraum bei seinen Projekten verschaffen.
Musik aus
Sprecher 1:
Ob die neuen Produktionsbetriebe indes für die Menschen immer ein Segen sind, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Arbeitsbedingungen jedenfalls sind es oft genug nicht. Zwar werden die Spezialisten, von deren Wissen und Können die Produktion abhängt, meist sehr gut entlohnt. Doch in den Manufakturen arbeiten mit zunehmender Größe auch immer mehr einfache Arbeiter und Arbeiterinnen. Und die beziehen ein klägliches Gehalt für eine Kräfte zehrende Tätigkeit, wie zum Beispiel in der Schülschen Manufaktur in Augsburg.
Musik 7: „Unwucht für 4 Klarinetten“ – Länge: 20 Sek
Sprecher 2:
„Es arbeiteten damals daselbst ohngefähr 350 Personen, und unter denselben viel Weiber und Kinder. Die Arbeiter kommen im Sommer täglich früh um 6 Uhr und arbeiten bis abends um 8 Uhr, doch werden sie nicht nach der Zeit, sondern nach den Stücken bezahlt.“
Sprecherin:
Es sieht so aus, als würden solche Betriebe das Zeitalter der Industrialisierung einläuten. Ist die Manufaktur also eine Übergangserscheinung zwischen einer rein handwerklich geprägten Zeit und der kapitalistisch geprägten Wirtschaft des 19. Jahrhunderts … mit Fabriken, in denen Menschen nur noch einzelne stupide Handgriffe verrichten? Lange Zeit wurde das in der Wissenschaft so gesehen, gestützt auch von der Theorie Karl Marx. Im Band 1 des „Kapital“ heißt es:
Musik 8: „Unwucht für 4 Klarinetten“ – Länge: 23 Sek
Sprecher 2:
„Die auf Teilung der Arbeit beruhende Kooperation schafft sich ihre klassische Form in der Manufaktur. Als charakteristische Form des kapitalistischen Produktionsprozesses herrscht sie vor während der eigentlichen Manufakturperiode, die rau angeschlagen von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts währt.“
Sprecher 1:
Doch ganz so eindeutig ist die Entwicklung nicht. Die weit verbreitete Vorstellung, dass Manufakturen die Vorläufer der modernen Fabriken waren, wird von mehreren Historikern inzwischen bezweifelt, so etwa vom Historiker Prof. Stefan Gorissen. Er lehrt an der Universität Bielefeld.
O-Ton 6 Gorißen
(10:00) Von der Qualifikation her ist die Manufaktur. deutlich näher am Handwerk. Der Maschineneinsatz und das Vorgeben eines Arbeitsrhythmus durch Maschinen spielt in der Manufaktur keine Rolle. Das ist geradezu das Charakteristikum der Manufaktur im Unterschied zur Fabrik. Häufig gibt es qualifizierte Arbeitskräfte, die den Teilprozess selbständig durchführen müssen.
Sprecherin:
… wie eben jene Handwerker, die die Räder oder den Innenraum einer Kutsche herstellen – und zwar jeweils als Ganzes.
Es geht also häufig gerade nicht um Arbeitsteilung, wie später in den Fabriken, wo die Arbeitsprozesse so aufgeteilt werden, dass nur noch einzelne Handgriffe übrigbleiben, die man ohne große Kenntnisse ausführen kann. Auch wenn große Manufakturen, wie jene in Augsburg oder in Saint Gobain viele ungelernte Kräfte beschäftigen, stehen im Zentrum die Experten, ohne die die Baumwolldrucke nicht schön und die Spiegel nicht richtig glatt werden. Manufakturen drehten sich um Know-How, um Präzision und um Qualität.
O-Ton 7 Gorißen
(11:15) Ein entscheidender Grund, eine Manufaktur zu gründen, ist, dass man sehr genaue Kontrolle über den Arbeitsprozess und über die Arbeitskräfte haben möchte. Da wo es darauf ankommt, den Produktionsprozess genau zu steuern, da lohnt es sich eine Manufaktur zu gründen.
(11:45) Ein berühmtes Beispiel ist die Seidenproduktion, also das Abhaspeln der Seidenfäden aus diesem Kokon der Seidenraupe, ist ein Prozess, bei dem man festgestellt hat, dass die Qualität des gewonnenen Garns sehr stark davon abhängt wie genau im Detail dieser Prozess durchgeführt wird.
Sprecherin:
Womöglich spielt eine andere Betriebsform als Wegbereiter für arbeitsteilige Fabriken eine viel wichtigere Rolle: die Verlage. Was heute nur noch aus dem Buchgeschäft bekannt ist, war vor gut 200 Jahren eine weit verbreitete betriebliche Organisationsform. Stefan Gorißen:
O-Ton 8 Gorißen
(2:30) Das heißt, man hat einen Kaufmann – einen Verleger –, der die Arbeitsprozesse anleitet und eine Vielzahl von Gewerbetreibenden meist auf dem platten Lande anleitet, Produkte herzustellen. Oft arbeitsteilig und meist im Nebenerwerb. Die nutzen arbeitsarme Zeiten, z.B. den Winter, um Gewerbeprodukte herzustellen.
Musik 9: „Bachmachine für 4 Klarinetten“ – 48 Sek.
Sprecher 1:
So werden zu Hause Wollfäden gesponnen oder einfache Stoffe gewoben, die fertigen Waren dann eingesammelt, womöglich noch weiterverarbeitet, etwa zu Kleidung und dann als Massenware verkauft. Die Serienproduktion, wie sie später in den Fabriken läuft, hat ihren Vorläufer also eher in den Verlagen, als in den Manufakturen. Die Verleger sorgen dafür, dass die Teilarbeitsschritte am Ende zusammenlaufen, und sie übernehmen die Vermarktung im großen Stil.
Während die Manufaktur oft auf Qualität ausgerichtet ist, geht es bei den Verlagen dagegen oft um Quantität. Die Bedeutung der Verlage für die Wirtschaft ist dabei schon von den reinen Zahlen her viel größer, als die der Manufakturen:
O-Ton 9 Gorißen
Man kann schätzen so um 1800 in Deutschland. vor Beginn des Industriezeitalters gibt es im Handwerk 1,3 Mio. Beschäftigte, im Verlagswesen etwa 1 Mio. und in Manufakturen 100.000.
Sprecher 1:
Die Manufakturen sind also eher eine Randerscheinung in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands und Europas.
Musik 10: „Unwucht für 4 Klarinetten“ – Länge: 1:07 Min
Sprecherin:
Auch von Johann Heinrich Schüles riesigem Kattun-Betrieb ist nicht mehr viel übrig. Nur noch der historische Hauptbau, der ein wenig an ein kleines Barockschlösschen erinnert, steht noch. An den Seiten sind für die Hochschule Augsburg neue Seitenflügel aus Glas angebaut worden.
Aber obwohl die Manufakturen im Prinzip völlig verschwunden sind und als Betriebsform bald gar keine Rolle mehr spielen - als Begriff haben sie das 18. Jahrhundert überdauert. Sie gelten bis heute als Markenzeichen und das zu Recht, wie Reinhold Reith findet.
O-Ton 10 Reith:
39:45 Wir sehen häufig in der Werbung, dass da von Manufaktur gesprochen wird. (…) Es ist ein sehr positiv besetzter Begriff. Er steht für Qualitätsarbeit, für hohe Präzision, er steht für das Design der Produkte. Ich glaube es trifft diese Produktionsform schon.
Musik aus.