SWR Kultur lesenswert – Literatur
Beim Aufwachen heute Morgen, mit kleiner Stimme: ‚Ich habe Pipi ins Bett gemacht, ich konnte es nicht einhalten.‘ Dasselbe habe ich als Kind gesagt.Quelle: Annie Ernaux – Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus
Wieder festgeschnallt. Schafft es nicht, den Kuchen zu essen, ein Stück Aprikosentorte, ihre Hand findet den Mund nicht. Ich habe sie gefüttert, wie früher meine Kinder. Ich glaube, es war ihr bewusst. Sie begann, die Kuchenschachtel zu zerreißen, wollte sie essen. Ihr Kinn sinkt herab, ihr Mund steht offen. Noch nie war mein schlechtes Gewissen so groß, als wäre ich an ihrem Zustand schuld.Quelle: Annie Ernaux – Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus
Ich gebe ihr ein Milchbrötchen, sie findet den Mund nicht, behält es in der Hand, ihre Lippen schmatzen trotzdem. In dem Moment wünschte ich, sie wäre tot, müsste nicht mehr so leben, in diesem Verfall.Ernaux schreibt in einer kargen, präzisen Sprache, die sich jeder Sentimentalität verweigert. Da es sich um weitgehend unredigierte Notizen handelt, lesen sich manche Passagen fragmentarisch und gerade diese Schlichtheit macht die emotionale Wucht des Textes aus. Das zutiefst Private weitet sich bei Ernaux zu einer allgemeinen, gesellschaftlich relevanten Erfahrung. Die Frage, wie wir mit Alter, Krankheit, Pflege und Tod umgehen, schwingt immer mit.Quelle: Annie Ernaux – Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus
Vielleicht werde ich es eines Tages schaffen, mir die Notizen, die ich gemacht habe, noch einmal durchzulesen, werde sie als Teil einer Kontinuität begreifen können von Leben und Tod.Gut, dass Annie Ernaux genau das geschafft und ihre Notizen über das Sterben ihrer Mutter veröffentlicht hat. Denn „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ macht auf eine stille Weise auch Mut. Es zeigt: So viele Menschen erleben, was Annie Ernaux durchgemacht hat – und sie sind nicht allein. Und auch wenn dieses Buch bereits vor Jahrzehnten entstanden ist, wirkt es heute aktueller denn je. Die Zahl der Demenzerkrankten steigt stetig, und die Fragen, die Annie Ernaux hier stellt – nach Würde, Erinnerung und dem Abschiednehmen – betreffen uns alle. Für Leserinnen und Leser, die ihr autofiktionales Werk kennen, ist es zudem ein fehlendes Puzzlestück – eine eindringliche, intime Ergänzung ihres literarischen Lebensbilds.Quelle: Annie Ernaux – Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus