SWR Kultur lesenswert – Literatur
Die Feuerwehrleute konnten die Tür nicht aufbrechen: zu schwer, zu massiv. Sie hätten den Rahmen aus der Wand schlagen müssen. Daraufhin fuhren sie die Drehleiter an der Außenwand aus und verschafften sich Zugang zur Wohnung, indem sie die Scheibe der Balkontür einschlugen. Meine Mutter lag auf dem Boden. Sie war gestürzt und nicht wieder hochgekommen. […] Sie war nackt. Die eigene alte Mutter nackt auf dem Boden liegen zu sehen, mit verwirrtem Blick, als wäre sie nicht ganz da, war unerträglich.Der Umzug in ein Pflegeheim lässt sich nicht vermeiden, für die Mutter wie auch für den Sohn eine beklemmende, erschütternde Erfahrung. Eribon kritisiert das unmoralische Pflegesystem, das zur Überlastung des Personals und zur Vernachlässigung der Heimbewohner führe. Und sieht die Schuld bei den üblichen kapitalistischen Verdächtigen: „Kostensenkung“, „Profitmaximierung“ und „Neoliberalismus“. Stark sind seine Analysen der Gespräche zwischen pflegebedürftigen Alten und ihren Angehörigen. Beide Seiten wissen, dass es unweigerlich bergab geht, aber das wird überspielt mit einem Repertoire an aufmunternden, beschönigenden, zur sogenannten Vernunft mahnenden Floskeln. Alle tun so, als würden sie die Wahrheit nicht kennen. Eribon verurteilt das nicht, denn es ist eine ausweglose Situation, ohne die wechselseitige Täuschung kaum zu bewältigen.Quelle: Didier Eribon – Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben
Sie ist nicht mehr ganz richtig im Kopf‘, sagte einer meiner Brüder zu mir. E-Mails wurden verschickt, Anrufe getätigt, und der Tenor war immer der gleiche: ‚Sie hat was mit einem anderen Mann angefangen, dabei ist Papa erst drei Jahre tot.‘Eribon aber, der Praktiker und Theoretiker stigmatisierter Sexualität, entgegnet, die Mutter sei jetzt achtzig. Ob sie denn warten solle, bis sie neunzig sei?Quelle: Didier Eribon – Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben
Sie war ein ungewolltes, im Waisenhaus aufgewachsenes Kind und hatte mit vierzehn Jahren angefangen zu arbeiten, erst als Dienstmädchen, dann als Putzfrau, später als Fabrikarbeiterin. Sie hatte mit zwanzig geheiratet und fünfundfünfzig Jahre mit einem Mann zusammengelebt, den sie nicht liebte. Jetzt, mit über achtzig, entdeckte sie ihre Freiheit und war fest entschlossen, jeden Moment davon zu genießen.Auch wenn ihr Geliebter von Hitler schwärmt – Eribon gönnt der Mutter das späte Glück nach der Ehe mit seinem Vater, der mit wütender Eifersucht über sie wachte. Trennung war in jenen Zeiten und Verhältnissen noch keine wirkliche Option.Quelle: Didier Eribon – Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben
Seit meinem Studium hatte ich mir meinen Alltag so eingerichtet, dass ich solche Äußerungen, mit denen ich in meiner Kindheit und Jugend täglich konfrontiert gewesen bin, nicht mehr hören musste. Jetzt brachen sie wieder in mein Leben ein, noch brutaler als früher, und ich konnte mich ihnen nicht entziehen. Meine Mutter war eine alte Rassistin, aber ich musste sie so akzeptieren, wie sie war.Quelle: Didier Eribon – Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben