Doch er wird nicht verschwinden. Über kurz oder lang wird die durchsichtige kleine Wasserperle wieder zum Himmel aufsteigen und dort auf den rechten Augenblick zu warten, um erneut auf die Erde zu fallen ... und wieder und wieder.Derselbe Tropfen landet viele Jahrhunderte danach in London als Schneeflocke im Mund eines Neugeborenen. Die kleine Wasserperle wird im Irak die Lippen einer verdurstenden Jesidin netzen und später als Träne aus dem Auge einer jungen Wasserwissenschaftlerin rinnen.
Das Wasser erinnert sich.
Nur die Menschen vergessen.Quelle: Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse
Der die Tiefe sah ...Fasziniert von der Dichtung, deren Sintflut-Erzählung viel älter ist als die des Alten Testaments, setzt Arthur alles daran, zu den Ausgrabungen in Ninive zu reisen. Während seine Entdeckungen zu Hause in England als Sensation gefeiert werden, taucht er tief ein in die Rätsel Assyriens und die Geheimnisse der Jesiden, die dort seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden siedeln. Wo einst Bewässerungssysteme die Gärten Ninives speisten, findet Arthur um 1870 eine Wüste vor.
Einen weiten Weg legte er zurück, müde und erschöpft.
All seine Mühsal ist niedergeschrieben
auf einem Gedenkstein ...Quelle: Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse
Als sie erfuhr, dass die Leute dort ganze Wannen mit Wasser füllten und sich darin einseiften, machte sie das fassungslos und traurig. Sie konnte nicht glauben, dass man so töricht sein kann und sich in sauberes Wasser setzt, ohne sich zuvor gewaschen zu haben.Die Jesiden werden in der muslimischen Welt seit Jahrhunderten als „Teufelsanbeter“ verunglimpft und mit Pogromen überzogen. Den Hass bekommt auch Narin zu spüren. Am Berg Sindschar im Nordirak gerät sie in das genozidale Massaker des IS an tausenden jesidischer Frauen und Kinder, das die deutsch-jesidische Autorin Ronya Othmann kürzlich in ihrem Buch „Vierundsiebzig“ dokumentiert hat. Narin wird verschleppt, versklavt, vergewaltigt und nach Anatolien verkauft.Quelle: Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse
Sie liegen mit ineinander verschränkten Fingern in dem Einzelbett unter Deck und lauschen dem Wasser, das an den Bootsrumpf schlägt.Mit großer Freude am sinnlichen Detail schildert Elif Shafak London, den Moloch des 19. Jahrhunderts und bis heute die Stadt der Gegensätze zwischen Arm und Reich, ebenso das osmanische Konstantinopel, die unbekannte, oft verkannte Kultur der Jesiden und deren herzzerreißendes Geschick. Die „vergessenen Flüsse“, die Zaleekhah hört, werden zum Bild des bedrohten Gedächtnisses, der Auslöschung alten Wissens und überlieferter Erfahrung. Sei es durch Staudammprojekte, die steinerne Zeugen der mesopotamischen Vergangenheit verschwinden lassen, sei es durch deren lange Zeit unhinterfragte Entführung in westliche Sammlungen, sei es durch die Erinnerungspolitik der assyrischen Könige, die weibliche Urgottheiten durch männliche Götter ersetzten. Der spannend geschriebene Roman fesselt auch mit seiner aufwendig recherchierten Faktenfülle. Zwar knirscht die Konstruktion gegen Ende hin, Shafaks Stil ist zuweilen allzu blumig, zuweilen hölzern und ihr Erzählen nicht frei von Klischees. Dennoch überwiegt beim Lesen die Lust, in diese detailreichen Welten einzutauchen, immer wieder Überraschendes über die Figuren und ihren Platz in der Geschichte zu erfahren, mit ihnen zu hoffen und zu leiden und das Wasser auf diesem Planeten mit anderen Augen zu sehen.
,Ich höre vergessene Flüsse‘, sagt Zaleekhah.
,Ich höre dein Herz‘, sagt Nen.Quelle: Elif Shafak – Am Himmel die Flüsse