SWR Kultur lesenswert – Literatur
Und dann fühlte sie sich stark genug, den Schritt zu tun, der ihr in ihrem ganzen Leben nicht einmal im Traum eingefallen wäre, und sie tat ihn ungeniert: „Gehen wir hinauf?“. Er hatte nicht mehr das Heft in der Hand. „Ich wohne nicht hier“, sagte er. Sie fiel ihm ins Wort, sagte „Ich aber“ und stand auf, schüttelte gerade mal ihren Kopf, um ihn zurechtzurücken. „Zweiter Stock, Zimmer zweihundertdrei, rechts von der Treppe. Nicht klopfen, nur die Tür aufdrücken.Damit beginnt eine Liebesnacht, die Ana Magdalena bisheriges Leben einer angepassten Ehefrau und Mutter verändern wird. Fortan erwacht bei jeder ihrer Reisen auf die Insel eine unbezähmbare Lust auf außereheliche Affären. García Márquez, dem begnadeten Erzähler, gelingt es mühelos, dass wir uns Ana Magdalena vorstellen können: wie die reife, attraktive Frau in der Hitze der Insel aufblüht und erwartungsfroh die Lokale des Urlaubsorts aufsucht. Der Literatur-Nobelpreisträger beschreibt seine Romanfigur mit warmherzigem Blick. Gespannt und amüsiert begleiten wir sie bei ihrer verwegenen Suche nach sinnlichen Erlebnissen. Man könnte diese als erotische Phantasie eines alternden Autors abtun, das wäre aber zu kurz gegriffen. Es ist interessant, dass García Márquez versucht, sich in eine Frau einzufühlen, die eine Art Midlife Crisis durchlebt – und sich sexuell so ausleben will, wie es oft eher die Männer tun. Warum genau allerdings seine Heldin nach vielen Jahren ehelicher Treue plötzlich die Moral über den Haufen wirft, das überlässt García Márquez weitgehend der Interpretation der Lesenden. Dass wir über Anna Magdalenas Beweggründe und über ihre Ehe nicht mehr erfahren, ist eine Schwäche des Romans. Weniger schlimm ist hingegen, dass es ihren Liebhabern, die wie skizziert wirken, an Tiefenschärfe fehlt. Ob „Wir sehen uns im August“ veröffentlicht werden sollte, daran schieden sich schon vor dem Erscheinen die Geister. Der Vorwurf, hier solle mit einem minderwertigen, viel zu kleinen Text des großen Schriftstellers Geld gemacht werden, blieb nicht aus. García Márquez hatte die Geschichte ursprünglich als Teil eines größeren Werks geplant, das erklärt ihre Kürze. Natürlich reicht der Roman nicht an opulente Meisterwerke wie „Hundert Jahre Einsamkeit“ mit ihrer bildgewaltigen Sprache heran – der Vergleich macht auch nicht viel Sinn. Gabriel García Márquez schrieb an dem Text auch noch, als seine geistigen Kräfte bereits nachließen. Die Sprache ist schlichter, im Aufbau gibt es kleine Inkonsistenzen. Dennoch bietet das Buch eine kurzweilige Lektüre – und ist ein origineller Beweis dafür, dass es den Autor in fortgeschrittenem Alter umtrieb, über veränderte Geschlechterbeziehungen zu schreiben.Quelle: Gabriel Garcia Márquez – Wir sehen uns im August