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In Ann Cottens Schuhen: Die Edition Paratexte, ein Magazin für Literaturdinge

8 min • 27 april 2025
Abgelatscht und durchgestiefelt – diese Boots haben definitiv etliche Meilen auf dem Buckel: ein Paar schwarze Halbstiefel, die gesamte Fußpartie von den Zehen bis zur Ferse mit silbernem Gaffa-Tape umwickelt. Beim Anblick ihrer Schuhe, „dieser guten Kerle“, schreibt die Schriftstellerin und Lyrikerin Ann Cotten: „Vielleicht waren es meine ersten Schlüpfstiefel, ich war lange ein Schnürsenkelfascho, Klettverschluss ging wegen Ironie, aber seitliche Zippverschlüsse gingen mir nicht ein, ein No-Go. Aber das unglaublich zarte, weiche Leder dieser Stiefel, in denen ich mir wie ein verkommener Prinz vorkam, war, als schlotterten mir Alienwangen an den Knöcheln. Umso härter wurden sie rangenommen. Schon längst kein schöner Anblick mehr, aber immer noch die guten alten Handschuhe für den Fuß, wurden sie auf Reisen ad hoc geflickt, als sie auseinanderzufallen drohten, und vergnüglich so belassen.“

Der Kochtopf von Clemens Setz

Jetzt liegen die Stiefel, die gut als Requisite für einen nächsten Blade-Runner-Film herhalten könnten, in einem Schuhkarton im Wohnzimmer von Richard Schumm. Der Literaturwissenschaftler hat ehemals am Deutschen Literaturarchiv in Marbach geforscht. Ebenso wie sein Kollege Martin Frank. Beide hatten immer schon viel Spaß an den Habseligkeiten berühmter Autorinnen und Autoren, die dort in so manchen grauen Archivboxen schlummern. Und dann stolperten sie plötzlich über einen Kochtopf auf dem damaligen Twitter-Account von Schriftsteller Clemens Setz, „der unterschiedlichste Dinge aus seinem Alltag fotografierte, die als Schreibanlässe gleich wirkten," erzählt Schumm. „Zum Beispiel sein Kochtopf, der auf dem Herd steht, und der auf ihn auf einmal wirkt wie ein Bär. Das notiert er im Jahr 2017. Er schreibt: mein Topf ist ein Bär – was schon wieder so klingt als hätte er das als Anfang genommen für eine Erzählung, die er schreiben könnte im Geiste Kafkas. Das haben wir gesehen und dachten: das ist eigentlich ein großer Kosmos, der gar nicht richtig bedient wird. Der findet nicht statt in der literarischen Öffentlichkeit.“

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„Edition Paratexte“ – ein Magazin für Literaturdinge

Ein Skandal! Um diese Lücke zu schließen, haben sich die beiden Literaturwissenschaftler auf ein mutiges Verlagsabenteuer eingelassen und die „Edition Paratexte“ gegründet: „Paratexte ist ein literaturwissenschaftlicher Begriff, den Gérard Genette in den 80ern geprägt hat. Eigentlich hat er damit gemeint: was um einen publizierten Text so herumsteht wie die Autorenbiographie auf der Umschlagseite, die Fotografie des Autors, der Autorin. Wir weiten den Begriff aus auf alle möglichen Dinge, die Autorinnen und Autoren rund um ihr Schreiben noch so benutzen. Der Kontext des Schreibens ist uns wichtig. Wir sind daran interessiert, die Werkstatt der Autorinnen und Autoren zu zeigen und einen Einblick zu kriegen in welchem materiellen Kontext entsteht ein Text.“

Flip Flops und getapte Boots – die „Schue“ von Ann Cotten

Richard Schumm sortiert den kleinen Stapel Schuhkartons auf seinem Wohnzimmertisch: Ein paar rote Flip Flops, getragen in Westafrika, wie die Autorin vermerkt, ein Paar hellbraune Sommerschuhe aus Neuss und ein Paar fremde Schuhe aus einer Tauschbox in Wien. Auf der Suche nach einem Literaturding für ihre erste Ausgabe der „Edition Paratexte“ haben die beiden Verleger bei Ann Cotten angeklopft, die für ihre Experimentierfreudigkeit bekannt ist. Und so kam zu einer fast schon konspirativen Übergabe: „An einem U-Bahnhof in Neukölln traf ich mich mit einem Mittelsmann. Der übergab mir dann einen Aldi-Tüte. In dieser Aldi-Tüte war eine zweite Aldi-Tüte. Und in dieser Aldi-Tüte befanden sich sieben Paar Schuhe und ein einzelner Schuh.“

Profiling in der Schuhwerkstatt

Schreiben und gehen sind zwei Disziplinen, die traditionell eine enge Verbindung auszeichnet. Ann Cottens Beziehung zu ihren Tretern scheint unter die Rubrik „rau, aber herzlich“ zu fallen und weckt damit durchaus das Interesse des in Stuttgart fast schon legendären Schuhmachermeisters Jaekel. Nach einer sorgfältigen Untersuchung der Schuh-Collection kommt der Meister zu dem Schluss: „Ja, ich würde die gerne kennenlernen. Ich zeig ihr, wie man Schuhe putzt, wie man Schuhe pflegt, Schuhspanner benutzt. Damit sie ihre schönen Schuhe am Ende länger hat. Weil: sie liebt ihre Schuhe. Nur hat sie sie zusammengerissen. Ich würd mal sagen: Sie hat keine Zeit. Sie schiebts einfach raus. Sie weiß genau, dass es scheiße ist, was sie macht mit ihren Schuhen. Aber sie schiebts einfach raus und denkt, ja, irgendwann läuft mir ein richtiger Schuhmacher über den Weg. Und dann ist es ihr auch egal, ob sie 50 Euro mehr ausgibt für das ganze Reparaturgedöns. Sie will sie einfach wieder haben. Und das sind genau die Leute, die drei Prozent Menschen, die zum Schuhmacher gehen.“

Den Blick auf „das  Normale“  aufbrechen

Der Besuch in der Werkstatt, skizziert in Dialogform gepaart mit dem trockenen Humor der beiden Verleger, die, ob der fast schon hellseherischen Fähigkeiten des Schuhmachermeisters, in Gedanken schon an einer neuen Wetten-Dass-Ausgabe basteln, ist nur einer der Highlights in diesem ersten Heft der Edition Paratexte. Der Band entpuppt sich als kleine literarische Wundertüte mit originellen Texten - geistreich, freakig – mit Gedankensplittern, Wortcollagen, Interviews und Gedichten. Es geht um Schuhe als Fetischobjekt, als persönliche Erinnerungsstücke. Der Schriftsteller Eckhart Nickel zum Beispiel steuert ein gesellschaftspolitisches Statement zum Thema Schuhe bei, der Autor und Filmemacher Alexander Kluge ein grafisches Gedicht und einen Essay über den letzten Tag des Philosophen Theodor W. Adorno: „Er fühlte sich schwach, brach Spaziergänge ab. Die NEUEN STIEFEL schienen nicht bequem. Er konnte das für sich als Grund annehmen, den „Dienst“, das heißt den ertüchtigenden Marsch ins Gebirge, für den heutigen Nachmittag hintanzusetzen. Sie bettete ihn in seinem Bett. Den Kriminalroman nahm er an. Als sie eine Stunde später nach ihm sah, war er tot.“

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Pfiffige Idee mit viel Entwicklungspotential

Mit „Ann Cottens Schuhe“ hat die Edition Paratexte einen gelungenen Auftritt hingelegt und in der pfiffigen Idee steckt noch jede Menge spielerisches Entwicklungspotential. Verleger Richard Schumm inszeniert die Schuhe der Schriftstellerin für ein Porträtfoto, während der Parkettboden seiner Wohnung ächzt und knarrt, als wisse er um durchaus heftigen Wehen bei der Geburt der neuen Stuttgarter Edition. Denn in den Dingen, die die Autorinnen und Autoren aufgefordert sind, beizusteuern, liegt durchaus ein gewisser Sprengstoff. „Wir machen ja keine Vorgaben, was die Dinge angeht, nach denen wir fragen.  Wir sind auch darauf gefasst, irgendwann einmal alte Autoreifen zu bekommen. Die Schuhe haben uns natürlich überrascht. Der Gedanke, der uns kam, war: sind wir zu einer Art elaborierte Altkleidertonne oder ist das etwas, was man erst einmal durchdenken muss. Uns kam dann in den Sinn, dass der Schuh bei Heidegger zum Beispiel genau das Objekt ist, das an der Stelle steht zwischen Alltagsgegenstand und Kunstgegenstand. Vielleicht sind wir auch die Altkleidertonne. Das bleibt ein bisschen in der Schwebe. Aber in diesem Fall zeigt sich doch, wie das Material aus dem Schreibkontext noch einmal ganz neu einen Einblick gewährt in das Schreiben und in die Welt der Literatur.“
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