Ein Stein, schreibt er, der von einer äußeren Ursache angestoßen worden sei, wäre, wenn er ein Bewusstsein hätte, davon überzeugt, dass er ,nur darum in seiner Bewegung verharre, weil er es so wolle‘.Das Bild stammt vom Philosophen Baruch Spinoza, der bekanntlich von der Idee des freien Willens nicht viel hielt. Campbells Roman „Bei aller Liebe“ verbindet diesen Gedanken mit den undurchschaubaren Mechaniken unserer Seele, die besonders unrund laufen, wenn es um die Spielarten der Liebe geht, die „interpretations of love“, wie das Buch im Original heißt. Die Gegenwart der Handlung sind die Neunzigerjahre, Auslöser aber sind Dinge, die sich Jahrzehnte zuvor ereignet haben. Es geht um Erinnerungslücken, Reue und Vergebung und einige letzte Dinge. Neben Freud werden Joseph Conrad und C. G. Jung zitiert. „Bei aller Liebe“ ist also kein seichtes Lesefutter, vielmehr die Sorte gut gemachter, anspruchsvoller Unterhaltung, mit der etwa auch Campbells Landsleute Julian Barnes und Ian McEwan ihre Leserschaft fordern und erfreuen.Quelle: Jane Campbell – Bei aller Liebe
Ich denke, es ist alles ein Haufen Mumpitz [...]. Und dennoch ist die Arbeit jenes alten Wiener Magiers unschätzbar, unersetzlich. Sie hat uns allen ein höchst raffiniertes, elastisches Netz komplexer Semantik verfügbar gemacht, in dem wir herumhüpfen und die Bedeutungen des Lebens, denen wir jeweils anhängen, prüfen können.Natürlich hat der Analytiker Joe diese Prüfung regelmäßig vorgenommen – und sich, dem Stein Spinozas vergleichbar, erfolgreich eingeredet, er sei Herr seiner Entscheidungen. Dabei ist es der Prügel des Begehrens, der ihn ebenso regelmäßig in unabsehbare Richtungen, sprich, zu neuen Frauen geschleudert hat. Doch auch Agnes kennt sich wenig. Am Morgen des Hochzeitsempfangs ihrer Tochter trennt sie sich von ihrem verheirateten Liebhaber, küsst mittags kurzentschlossen einen Mann, der sie seit langem verehrt, und landet am Ende des Tages doch wieder mit dem bisherigen Geliebten im Bett.Quelle: Jane Campbell – Bei aller Liebe
Und so, wie zum Beweis, dass niemand von uns wissen kann, wie eine Geschichte enden wird, stellte sich heraus, dass ich letztlich doch an meiner eigenen Erlösung, wenn das das richtige Wort ist, mitgewirkt habe. Ausnahmsweise rückte ich einmal von den Rändern meines Lebens in dessen Zentrum, und Agnes, die schöne, kluge Agnes mit ihrer besonderen Bereitschaft, überschäumende Freude zu empfinden und zu schenken, hielt mich und tröstete mich und vergab mir, und ich spürte, wie mein Herz sich wieder bewegte.Der schonungslose Blick, der an Campbells Erzählungen gerühmt wurde, ist hier nicht selten tränenverschleiert. Zum Glück rumpeln die verschiedenen Beziehungsdreiecke so munter aneinander, dass sich über all den herzzerreißenden Wendungen eine milde Ironie ausbreitet. Es ist die Ironie des Lebens selbst, das ja immer auch ganz anders hätte verlaufen können. Ein paar kleinere doppelte Böden, die Campbell einbaut, lassen das wacklige Fundament aller menschlichen Erinnerung erkennen. Wer sich an ein paar Leerstellen und losen Enden der etwas zu ambitionierten Konstruktion nicht stört, wird einen Roman lesen, der zum Weinen und zum Lachen bringt – und vor allem dazu, sich nicht allzu sehr auf die Weisheit eigener Entscheidungen zu verlassen.Quelle: Jane Campbell – Bei aller Liebe