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SWR Kultur lesenswert – Literatur

Jiaming Tang – Cinema Love

6 min • 20 april 2025
Ein sehr spezielles Filmtheater im chinesischen Stadtbezirk Mawei, irgendwann in den Achtzigern. Das sogenannte „Arbeiterkino“ ist schmutzig und marode, das Programm beschränkt sich auf eine Handvoll Kriegsfilme. Aber ihretwegen kommt niemand hierher. Die nervösen Männer, die hier Abend für Abend auftauchen, sind keine Cineasten.
Das Kino ist ein Ort, an dem eine bestimmte Art von Realität aussetzt. Wenn ein Mann mit der Hand die Finger eines anderen streift, ist dessen erste Reaktion, sie zu packen. Fest. (…) Im Kino spielt es keine Rolle, was die Eltern von einem erwarten. Der Vater, der will, dass der Stammbaum weitergeführt wird (wozu?), die Mutter, die unbedingt Enkelkinder will.

Quelle: Jiaming Tang – Cinema Love

Safe Space für queere Männer

Die Männer sind „Tongzhis“, was so viel wie „Kameraden“ bedeutet, ein Mandarin-Slangwort für Schwule. Und das Arbeiterkino ist der einzige Ort, wo diese Männer ihre Gefühle ausleben und sich einander anvertrauen können. Das liegt auch an der Kassiererin mit dem kaputten Fuß, Bao Mei, die liebevoll „Schwester Bao“ genannt wird, weil sie für alle ein offenes Ohr hat. Und die gegebenenfalls allzu neugierige Ehefrauen oder Polizisten abwimmelt. Mit anderen Worten: Das Maweier Arbeiterkino ist ein Safe Space, eine Wirklichkeit gewordene Utopie in einer Gesellschaft, in der Homosexuelle aus Familien verstoßen werden. Oder sich in ihrer Einsamkeit und Scham in lieblose Alibi-Ehen flüchten müssen, die meist auch noch von den Eltern arrangiert wurden.
Sie alle (…) verlassen das Kino beschwingten Schrittes. Glücklich (…), wach und dem Leben zugewandt. Als hätte man ein Küchenfenster aufgedrückt, und die Kochdämpfe ziehen hinaus und eine frische Brise weht herein, süß wie Zuckerwasser. Und weil sie ihre Geschichten nicht in einer Sitzung loswerden, kommen die Männer wieder. Sie kommen wieder, um zu lieben und geliebt zu werden, um zuzuhören und gehört zu werden.

Quelle: Jiaming Tang – Cinema Love

Einer dieser Männer ist Old Second. Der 20-Jährige – noch immer verfolgt vom angewiderten Blick seiner Mutter – findet im Arbeiterkino seine große Liebe, Shun-Er. Dass ihr Glück nur von kurzer Dauer ist, liegt an Shun-Ers Ehefrau, Yan-Hua. Letztere ist – neben Old Second und der Kassiererin Bao Mei – die dritte Hauptfigur von Jiaming Tangs eindrucksvollem Debütroman. Misstrauisch schleicht Yan-Hua ihrem Mann eines Abends nach. Erst als ihr die ihr nachhumpelnde Kassiererin aufgeregt erklärt, sie habe hier nichts verloren, geht der jungen Frau ein Licht auf. Es ist der Anfang einer Katastrophe, die alle drei für den Rest ihres Lebens traumatisieren wird. Und die sie sogar über Kontinente hinweg verfolgen soll. Denn in ihrem Zorn denunziert Yan-Hua das Kino bei Regierungsbeamten. Die warten nur auf einen Vorwand für den Bau eines prunkvollen Neubaus. Bald schon warten bezahlte Schläger auf die Kinogänger, und Shun-Er begeht Suizid.

Als illegale Einwanderer in New York

Jiaming Tang erzählt diese Vorgeschichte in wechselnden Perspektiven, in Rückblenden und Erinnerungen. Mit einem allwissenden Erzähler, der immer wieder kommentierend eingreift oder neuen Figuren ihren Platz zuweist wie dem „hässlichen Mulan“, einer, Zitat, „Nebenfigur im großen Ganzen“. In der Gegenwart leben seine drei Protagonisten als Einwanderer in Chinatown, New York, zum Teil illegal und ohne voneinander zu wissen: Old Second und Bao Mei führen eine berührende kameradschaftliche Zweckehe; Yan-Hua hat einen „Greencard-Ehemann“ und wird von Schuldgefühlen und Albträumen gequält.
Ich weiß noch“, fing Yan Hua an, ihre Stimme klang auf einmal unerwartet weich. „Ich weiß noch, wie mein erster Mann über ihn sprechen wollte, über seinen Liebhaber. Ich konnte es ihm ansehen, da war so ein Strahlen …“ „Warum erzählst du mir das?“ „Weil mir klar geworden ist, wie einsam man sich fühlt, wenn man nicht über die Menschen sprechen kann, die man liebt.“ „Noch einsamer fühlt man sich, wenn man über die Menschen spricht, die einen nicht zurücklieben.“

Quelle: Jiaming Tang – Cinema Love

Jiaming Tang, der New Yorker Autor mit chinesischen Wurzeln, folgt den Lebensläufen seiner Protagonisten somit vom modernisierungswütigen China der Nach-Mao-Ära bis ins Amerika der Coronazeit – als asiatische Einwanderer auf offener Straße rassistisch angefeindet werden. Dabei beschreibt Tang die prekären Migrantenleben seiner Figuren als Küchenhilfen oder Lieferboten detailliert und mit viel Sinn für Komik. Tangs Prosa – Nicolai von Schweder-Schreiner hat sie einfühlsam übersetzt – beeindruckt vor allem durch ihre Sinnlichkeit. Gerüche spielen ebenso eine große Rolle wie prägnante Vergleiche:
Die beiden haben ein Date. Den ganzen Tag schon hängen sie aneinander wie Fliegen an rohem Fleisch, ziehen vorbei an Nudelläden und Grillbuden, an Trauben von Glücksspielern und einem Betrunkenen, der irgendwas von Gott brüllt. Aus einem Radio plärrt Musik aus Hongkong. Es riecht nach Hafen, Salzwasser gemischt mit Abwasser.

Quelle: Jiaming Tang – Cinema Love

Schmerz der ahnungslosen Ehefrauen

Vielleicht etwas überraschend bei einem Roman über queere Männer, erweisen sich am Ende die weiblichen Figuren als die interessanteren. Denn „Cinema Love“ handelt nicht nur von schwulem Leid, sondern auch vom Schmerz der ahnungslosen Ehefrauen: Auch und gerade sie sind Opfer einer repressiven Sexualmoral. Dass seine gebrochenen, gealterten Protagonisten schließlich erkennen, dass das verlorene Arbeiterkino nicht nur eine Utopie war, sondern auch ein Ort des Betrugs, lässt „Cinema Love“ zu etwas Bemerkenswertem werden: zu einem eindringlichen Roman über geteilte Vergangenheit und schmerzliche Erinnerungen. Aber am Ende auch über Erlösung.
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