Es ist einer der berühmtesten Sätze der Weltliteratur: „Ich möchte lieber nicht.“ In der Erzählung „Bartleby“ von
Herman Melville hält sich ein Büroangestellter gleichen Namens mit diesen Worten zunächst einzelne Tätigkeiten und schließlich die ganze Welt vom Leib. Der Totalverweigerer landet im sozialen Abseits und stirbt zuletzt.
Der Verzicht, den der Schriftsteller John von Düffel im Sinn hat, soll dagegen gerade nicht in die Isolation führen, sondern das Leben reicher machen. „Es geht darum zu erkennen, wie wenig man braucht“, schrieb der Autor in seinem Buch „Das Wenige und das Wesentliche“, an das er nun anknüpft.
Diese asketische Lebenshaltung begegnete John von Düffel erstmals während des Studiums in Schottland. Fiona, die nur auf einem Stein sitzen und denken wollte, wurde zu seinem Vorbild. „Ich möchte lieber nichts“ – „I dont’t feel like consuming“, so lautete ihre Standardantwort auf das Angebot, mit in die Mensa oder die Kneipe zu kommen. Nach 35 Jahren trifft er sie in Edinburgh wieder. Er will herausfinden, wie Fiona lebt.
Inwieweit gelingt es, so eine Lebenseinstellung auch in Alltag zu übersetzen? Man kann sich ja viele schöne Gedanken beim Kaminfeuer machen. Aber wenn dann der nächste Tag losgeht, wie viel davon kriegt man umgesetzt? Und deswegen war’s für mich wichtig zu gucken: Wie verzahnen sich diese Gedanken mit dem wirklichen Leben? Und wie ist das in Fionas Fall? Was für eine Geschichte hat sie?
Quelle: John von Düffel
Fragen nach dem richtigen Leben
Von der Begegnung erzählt das neue Buch. Zwei Tage bleibt der Ich-Erzähler, der von John von Düffel kaum zu unterscheiden ist, in Edinburgh. Gemeinsam mit Fiona spaziert er durch die Stadt. Den Lehrersohn aus der norddeutschen Provinz und die Tochter aus einer Glasgower Arbeiterfamilie trennen Welten.
Während er mit großen Fragen nach dem richtigen Leben angereist ist, hat Fiona wenig Interesse daran, die Diskussionen aus den Philosophieseminaren von einst fortzusetzen. Sie wird viel zu sehr von ihrem fordernden Alltag als Mutter und Streetworkerin vereinnahmt, von dem sie jedoch nur zögerlich berichtet. Umso entschiedener markiert sie die Unterschiede zu ihrem Gegenüber.
Deine Krisen und meine Krisen waren schon damals verschieden und sind es vermutlich nach wie vor. Insofern weiß ich nicht, ob ich dir so viel Kluges sagen kann. Anders als im Studium habe ich die letzten Jahrzehnte mehr gelebt als gelesen. Und du?
Quelle: John von Düffel – Ich möchte lieber nichts
Soziale Prägungen und Beschränkungen
Das nur mühsam in Gang kommende Gespräch der beiden ist trotzdem erhellend – und das ist Fionas schroffer Direktheit zu verdanken. Das Idealbild, das der Ich-Erzähler von ihr entworfen hat, ohne sie je wirklich zu sehen, korrigiert sie. Ihr Mut, anders zu sein als die anderen, war gar kein Mut, erklärt sie: „Ich musste von nichts abweichen, ich war nicht mal in Reichweite der Norm.“
Fiona fehlte es schlichtweg an Geld, um mit den anderen essen zu gehen. Die Unterhaltung führt weg vom Nachdenken über Konsumverzicht und Askese hin zu Fragen von Herkunft und Status, von sozialen Prägungen und Beschränkungen, wie sie zuletzt immer häufiger auch in der Literatur verhandelt werden.
Fiona ist auch ein Beispiel für ein Ausbrechen aus sozialen Gefängnissen oder Käfigen. Und gleichzeitig ist sie aber auch ein Beispiel dafür, wie soziale Benachteiligung auf eine Art immer weitergeht, auch wenn man es vordergründig auf ein anderes Level schafft.
Quelle: John von Düffel
Das Buch wirkt auf eigentümliche Weise disparat und unfertig. Verstärkt wird dieser Eindruck durch einen Mittelteil mit mal mehr, mal weniger überzeugenden philosophischen und kulturkritischen Betrachtungen. John von Düffel will davon erzählen, welcher Freiheitsgewinn in der Askese liegt. Doch dazu taugt die Begegnung in Edinburgh nur wenig.
Das Treffen macht vielmehr deutlich, in welchem Maß die freie Entscheidung zum Verzicht eine privilegierte Entscheidung ist. Fionas Geschichte, eine Geschichte versperrter Möglichkeiten, skizziert das Buch nur. Gerade über ihr ganz anderes, nicht privilegiertes Leben hätte man jedoch gern mehr gelesen.