Carla Mittmann liegt im Bett, als das passiert, was ihr Leben für immer verändern wird. Ein Klirren, ein Poltern und dann liegt ein Stein auf dem Holzboden ihrer Zweizimmerwohnung. Jemand hat ihn durchs Fenster geworfen. Und als Carla die Tür öffnet, steht da ein Karton, randvoll mit Dollarnoten.
Auf dem Kartondeckel klebte ein Foto. Ein schlechter Computerausdruck, eine streifige Aufnahme von Pluto, dem umstrittenen Zwergplaneten. Ich erkannte ihn auf Anhieb, weil sein herzförmiger Krater deutlich zu erkennen war.
Quelle: Katja Kullmann – Stars
Ein Stein, ein Karton, zehn Riesen
Zehntausend US-Dollar zählt Carla in dem seltsamen Karton. Sie hat keine Ahnung, wer ihr Stein und Geld geschickt hat, aber eine Vermutung: Hängt die ganze Aktion irgendwie mit „Cosmic-Charly“ zusammen? Das ist die kleine Horoskop-Website, die sie seit einigen Jahren nebenberuflich betreibt.
War vielleicht einer ihrer Kunden mit dem Horoskop, das Carla verkauft hat, nicht zufrieden und hat ihr den Stein in die Wohnung geworfen? Aber warum dann der Karton mit den Dollars?
Carla wird nicht schlau aus der Sache, zumal „Cosmic-Charly“ für sie eher ein Hobby war, ihr Geld verdient sie im Kundenservice einer Möbelfirma, Spezialbereich Behördenausstattung, Abteilung Reklamation und Nachbestellung - ein unaufregendes Angestelltendasein.
Eine Übergangslösung hatte es einmal sein sollen, ein temporäres Notfallarrangement, und – nun ja: neun Jahre später hing ich immer noch dort, Frau Mittmann aus dem dritten Stock im Glasanbau, zweite Tür links vom Lift, Durchwahl 347.
Quelle: Katja Kullmann – Stars
Vom Mumpitz zur Berufung
Und dabei hatte Carla mal große Pläne gehabt. Als Philosophiestudentin träumte sie von der akademischen Laufbahn, machte dann einen blöden Fehler und flog von der Uni, und nun ist sie „mittelalt“, kinderlos und nicht unglücklich, aber auch nicht glücklich. Doch der Stein und besonders der Karton mit den Dollars holen Carla aus ihrer Lethargie.
Sie beschließt, ernsthaft ins Astrobusiness einzusteigen, nicht mehr als „Cosmic-Charly“, sondern als Carla Mittmann. Und das, obwohl sie gar nicht der spirituelle Typ ist. Astrologie hält sie eigentlich für Mumpitz, findet die Sterndeuterei nur aus soziologischen Gründen interessant.
Ich hing daran, weil ich gerade nicht daran glaubte. Wohl glaubte ich aber, dass der Mumpitz ein Indiz war, ein Beleg für etwas, das sich nur schwer in Worte fassen ließ: ein anschaulicher Gradmesser für den alarmierenden Gemütszustand der Welt.
Quelle: Katja Kullmann – Stars
Carla deutet den seltsamen Geldsegen als Zeichen – und legt richtig los. Kündigt ihren Langweilerjob, stellt einen Businessplan auf und wird Vollzeitastrologin, nennt sich: Astrophilosophin – Startkapital hat sie ja jetzt.
Und der Laden läuft bald hervorragend, denn Carla Mittmann ist gut in dem, was sie macht. Sie verkauft persönliche Beratungsgespräche und weil sie sich die Ängste und Hoffnungen ihrer Kundinnen und Kunden einfühlsam und mit echtem Interesse anhört, wird der Kundenstamm immer größer.
Eine präzise Portion Gesellschaftsanalyse
Es sind diese Stellen, an denen Katja Kullmanns in erster Linie unterhaltsamer Debütroman besonders stark ist. Katja Kullmanns Heldin hat ein feines Gespür dafür, wonach die Menschen sich sehnen in unserer chaotischen Zeit.
In der Erzählung schwingt also auch immer eine gute und präzise Portion Gesellschaftsanalyse mit – Carla hat ein offenes Ohr und astrologische Tipps für alle: Sie steht der reichen Gattin bei ihrer anstehenden Scheidung bei, berät rüstige Rentner bei der Urlaubsplanung und gibt Tipps in Liebesdingen.
„Sie sind dazu geschaffen, auch ohne festen Partner glücklich zu sein, liebe Linda“, sagte ich. „Wenn einer da ist, gut, wenn nicht, auch gut. „Schauen Sie“, ich zog den Ausdruck ihrer Radix aus der Tasche , „Ein prallvolles drittes Haus mit lauter schönen Platzierungen. Sie sind ganz schön beliebt, wette ich."
Linda blickte auf die Grafik, blinzelte konzentriert und knetete ihre Hände. „Ja, stimmt schon. Bei der Linda ist immer was los, mit der Linda ist es nie langweilig“, sagen sie.
„Und so soll es auch sein“, sagte ich.
Quelle: Katja Kullmann – Stars
Kosmisches Coaching und die Frage nach dem Sinn
Carla Mittmann wird zur gefragten Star-Astrologin, tritt in Radio und Fernsehen auf, und ruft für ihre Dienste immer höhere Preise auf, sogar die Regierung berät sie bald in Sternendingen. Und je erfolgreicher ihr Astrobusiness wird, desto mehr glaubt auch Carla an sich, daran, dass die Sterne günstig für sie stehen, dass das Schicksal Großes für sie bereithält.
Und sie nutzt ihre neuen Möglichkeiten sogar, um politisch Stellung zu nehmen, findet in ihrer Astrokolumne deutliche Worte zur Weltlage:
In der zweiten Folge widmete ich mich Pluto: nach zwölf Jahren im Steinbock bewegte er sich in den Wassermann. Ein neuer Machttypus breche sich Bahn, schrieb ich, konservative Herrschaftsmodelle würden durch unkonventionelle Muster ersetzt- „siehe Elon Musk“.
Quelle: Katja Kullmann – Stars
Katja Kullmann erzählt mit leichter Hand, ironischer Distanz und echtem Mitgefühl von einer Frau, die sich neu erfindet und dabei viel über sich und ihre Mitmenschen lernt. Und haben wir uns nicht alle schon mal gefragt, was wohl aus uns geworden wäre, wenn wir bestimmte Abbiegungen im Leben nicht genommen hätten?
Sprachlich punktet der Roman mit feinem Timing, präzisen Alltagsbeobachtung und einer Erzählerin, die gleichermaßen nüchtern wie nahbar wirkt.
Am Ende offenbart sich zwar keine kosmische Wahrheit, aber vielleicht so etwas wie ein versöhnlicher Blick auf die Umwege, die das Leben manchmal nimmt.