SWR Kultur lesenswert – Literatur
Gudrun ist tot. Meine beste Freundin während der Kindheit und Jugend. Die Nachricht verkündet mir meine Schwester, die immer noch am Leben ist – ganz offensichtlich. Die Nachricht lässt mich ungefähr drei Sekunden lang zusammensacken und dann denke ich: „Und ich dachte, die sei schon vor Jahren gestorben.“ [...] Ich streiche Gudrun von der Liste der Leute, die mich noch etwas angehen.Der Buchtitel „Letzte zärtliche Augenblicke“ klingt ein bisschen kitschig – und lockt auf eine falsche Fährte. Diese Heldin ist keine selbstgenügsam über die Welt und die kleinen Freuden des Alters meditierende Seniorin. Im Gegenteil.Quelle: Kjersti Anfinnsen – Letzte zärtliche Augenblicke
Man sagt, das Leben verlaufe zyklisch, doch der Vergleich hinkt. Irgendetwas fehlt. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, fehlt etwas. Jedes Mal, wenn ich meine Hände betrachte, fehlt etwas. Ich weiß ganz genau, was da fehlt: Mir fehlt eine Zukunft.Doch Birgitte gibt die Hoffnung nicht auf. Zu Recht, wie sich zeigt. Javiér, ein Architekt, mit dem sie zunächst Chatnachrichten ausgetauscht hat, entpuppt sich von der ersten Begegnung an als ihre letzte große Liebe. Sie zieht zu ihm, auch wenn sie ihre eigene Wohnung in der idyllischen Rue des Thermopyles vorsichtshalber behält. Man hat Sex – einmal im Monat –, man trinkt Wein, man streitet ab und zu, man ist füreinander da. Aber wenn man erst über neunzig ist, kann es ganz schnell gehen. Gedächtnislücken und Demenz, Stürze und Brüche, Krankenhaus und Hospizbett, all das bleibt Birgitte und Javiér nicht erspart, und am Ende wartet unausweichlich – das Ende.Quelle: Kjersti Anfinnsen – Letzte zärtliche Augenblicke
Dann gibt er mir ein Glas St. Germain, legt mir eine Wolldecke über den Schoß und sagt mir, wie himmlisch ich dufte.Kjersti Anfinnsen, die Autorin von „Letzte zärtliche Augenblicke“, bleibt immer in der Perspektive ihrer Hauptfigur und hält Birgittes Ton: mal nüchtern, mal trauervoll, mal sarkastisch. Erzählt wird oft in inneren Monologen, aber auch Szenen und Dialogen. Die kurzen Kapitel fügen sich nicht nahtlos aneinander, sondern springen scheinbar spontan zwischen gerade Erlebtem und Erinnerungen hin und her. Vieles wird ausgelassen oder erst mehrere Seiten später wieder aufgegriffen. So stellt sich beim Lesen der Eindruck intensiver Intimität ein. Auch, weil diese nicht sonderlich sympathische Ich-Erzählerin mit Zweifeln, Selbstmitleid, Sehnsucht und Selbstsucht und der Beobachtung des eigenen Verfalls nicht hinterm Berg hält. Das gelebte Leben bleibt, und sei es in der Trauer um das Verlorene.Quelle: Kjersti Anfinnsen – Letzte zärtliche Augenblicke
Keine Küsse mehr. Keine Streitereien mehr. Keine Worte mehr [...], auch keine wie Schmetterlinge vor ihrem ersten Flug flatternden Blicke mehr. Keine Hände mehr auf der Haut. Keine Versöhnung andeutenden Füße unter der Bettdecke mehr, nachdem das Licht gelöscht ist. Lediglich eine winzige Hoffnung, ein kleiner Spatz, der sich erhebt und verrückt davonfliegt.Die Autorin, geboren 1975, hat sich mit Mitte vierzig an das Selbstporträt einer doppelt so alten Frau gewagt. Nicht immer entgeht sie dem Risiko, bei der Innensicht des sehr hohen Alters zu dick aufzutragen. Die leitmotivisch auftauchenden Perückenprobleme einer Pariserin zum Beispiel dürften die meisten deutschen Leserinnen befremden.Quelle: Kjersti Anfinnsen – Letzte zärtliche Augenblicke