SWR Kultur lesenswert – Literatur
In den Monaten darauf hielten alle den Atem an. Die Verbindung in die Türkei war wie gekappt. Niemand aus der Familie traute sich, in die Türkei zu fliegen. Täglich hörte man von unzähligen Festnahmen. Es war ungewiss, in welche Richtung es ging. Alev beobachtete die Ereignisse aus der Ferne.Dass Alevs Vater ungern über die Familiengeschichte spricht, hat auch damit zu tun, dass er und seine Vorfahren einer religiösen Minderheit in der Türkei angehören: den Aleviten. Weil sie seit langer Zeit Verfolgung und Gewalt ausgesetzt sind, haben sich viele Aleviten angewöhnt, ihre Religion zu verstecken. Geschickt verschränkt Leyla Bektaş in ihrem Roman verschiedene Zeitebenen miteinander und wechselt vom Jahr 2017 in die Vergangenheit: Sie erzählt, wie Alevs Vater in den 70er Jahren nach Deutschland kommt, auch beeinflusst von den Pogromen gegen Aleviten.Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte
An den Barrikaden, die sich vor der jubelnden Menge auftürmen, entzünden sie das Feuer. Das Hotel, so hat Alev es woanders gelesen, war aus Holz gebaut. Darin befanden sich alle Teilnehmer des Festivals, denn die Menge hatte das Hotel eingekesselt, es gab keinen Hinterausgang. Die Barrikaden sind das letzte Zeichen von innen, das nach außen dringt.Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte
Etwas in Alev regte sich, aber sie traute sich nicht zu widersprechen. Sie wusste nicht, auf welche Beweise sie sich stützen sollte. Alles, was sie über Aleviten wusste, hatte sie in irgendwelchen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, war für sie mit Rätseln belegt. Nichts davon schien gesichert. Alev öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Was hätte sie sagen können? Das Alevitentum ist all das, was der Islam nicht ist.Das Sprechen-Lernen, das schon im Titel anklingt, vollzieht sich auf mehreren Ebenen: Auch mit Hilfe ihres Onkels, der aus dem Koma erwacht ist, versteht Alev, wie sehr Erfahrungen von Ausgrenzung und Gewalt die Familie geprägt haben. In dem sie sich diese Geschichten aneignet, trägt Alev auch dazu bei, sie zu bewahren. In Anbetracht der rasanten Geschwindigkeit, mit in der Türkei Geschichte über- und neu geschrieben wird, ist dieser präzise erzählte Familienroman auch politisch hochaktuell.Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte