SWR Kultur lesenswert – Literatur
Niemand kennt den Ausgang. Der zu Recht so heißt. Alle müssen irgendwann hindurch. Und niemand kommt zurück. ‚Hier kommen wir nicht lebend raus‘, hatte Tig früher immer gewitzelt, obwohl es kein Witz war.Nell und Tig sind ein älteres, innig verbundenes Paar. In der ersten Geschichte erinnert sich Nell an einen Erste-Hilfe-Kurs, Vorbereitung auf eine Kreuzfahrt, bei der sie Vorträge über Naturthemen halten und sich im Notfall auch um ohnmächtig oder seekrank werdende Passagiere kümmern sollen, die meisten um einiges älter als sie selbst. Es sind die späten 80er Jahre, und die Erinnerung an den kauzigen, für alle Lebenslagen gerüsteten Rettungssanitäter Mr. Foote, der sie unterrichtet, hat etwas äußerst Erheiterndes. Der Kurs setzt zugleich Gedanken an „lebensbedrohliche Erlebnisse“ in Gang, eine ironische Bestandsaufnahme des gemeinsamen Lebens, das doch immerzu ziemlich glimpflich und glücklich verlaufen ist. Nell kommt dabei eben jener Satz in den Sinn: „Hier kommen wir nicht lebend raus“. Ja, ein Witz, aber einer der trifft und zugleich dabei hilft, mit der gar nicht so witzigen Unausweichlichkeit des Todes zurecht zu kommen.Quelle: Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus
Sie streicht den Zettel vorsichtig glatt und verstaut ihn in ihrem Koffer. Es ist eine Botschaft, die Tig für sie hinterlegt hat. Magisches Denken, das weiß Nell genau, aber sie gönnt es sich trotzdem, weil es tröstend ist. (…) Was macht man mit diesen kryptischen Botschaften der Toten?Mit den Toten ist es eine merkwürdige Sache: Obwohl verschwunden, beanspruchen sie Zeit und Raum. In einer Geschichte entdeckt Nell einen Brief im Nachlass von Tigs Vater, den alle den „Lustigen Alten Brigadegeneral" genannt haben, den L.A.B. Der Brief stammt von der berühmten Kriegsreporterin Martha Gellhorn, und dieser unerwartete Fund setzt nicht nur eine Recherche über das Leben des L.A.B. in Gang, ein Gedankenspiel über diese rätselhafte Episode mitten im Zweiten Weltkrieg, als Tigs Vater längst verheiratet war, aber möglicherweise eine romantische Begegnung mit Martha Gellhorn hatte. Sogar Gedichte hat der „Lustige Alte Brigadegeneral" geschrieben, auch die entdeckt Nell in einer Mappe mit der Aufschrift „Vaters Gedichte“.Quelle: Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus
Also hat Tig diese Gedichte gelesen, die sein Vater geschrieben hatte. Was hatte er gedacht? Als sie sie selbst liest, kann sich Nell kein rechtes Bild machen. Die Entdeckung eines vergrabenen Schatzes? Ein Eingriff in die Privatsphäre? Es hat immer etwas Heimtückisches, dieses Ausspionieren der Toten.Was weiß man über die Lebenden, und was können einem die Toten noch von sich verraten? Margaret Atwood hat ein genaues Gespür für die Fragen, Zweifel und Wunderlichkeiten; sie ist unsentimental und manchmal ironisch, aber das erzeugt eine noch größere Nähe zu den Trauernden, zu Nell, den anderen älteren Frauen und Witwen in diesen Texten. Ihr Buch ist unter anderem Graeme Gibson gewidmet, dem kanadischen Schriftsteller und Ornithologen, mit dem Atwood 45 Jahre lang verheiratet war und der vor fünf Jahren starb. Man darf vermuten, dass Tig und Nell viele autobiographische Züge tragen.Quelle: Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus
Aber kann denn Lynne ihr allen Ernstes so böse sein? Böse genug, um den Kontakt mit Csilla abzubrechen? Sie ist zu alt für finale Szenen und Türenknallen, sie schafft es nicht mehr, die angemessene Selbstgerechtigkeit und Empörung aufzubringen. Du bist für mich gestorben, das wär’s, was die jüngere Generation vielleicht sagen würde. Aber Csilla ist für sie alles andere als tot.Im Alter relativiert sich alles, und die Schrullen der anderen werden mit Wohlwollen übergangen. Alle Storys haben eine Klugheit und Raffinesse, Charme und Witz und einen besonderen erzählerischen Dreh, aber nicht alle sind so eindrücklich wie jene über „Nell und Tig“. Mehr literarische Neuerscheinungen:Quelle: Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus
Meine klitzekleine Schneckenseele, eine durchscheinende Spirale aus sanft phosphoreszierendem Licht, schoss in die Luft – in die Geisterwelt, wo etwas andere Regeln herrschen, müsst ihr verstehen – und bahnte sich ihren Weg durch irisierende Regenbogenwolken und klimpernde Glöckchen und das Theremin-Gejammer dieser Regionen, um geradewegs im Körper einer Angestellten (mittleres Management) im Kundendienst einer namhaften Bank zu landen.Eine Frau, die sich in die Schneckenhaut zurücksehnt, muss allerhand allzu Menschliches durchleiden – Kafkas „Verwandlung“ verkehrt herum, ein bisschen zu sehr auf Effekt geschrieben. Mäkeleien auf hohem Niveau: Weil Margaret Atwood selbst in ihren schwächeren Texten noch schillernde und erkenntnisstiftende Sätze gelingen, souverän übersetzt von Monika Baark, ist „Hier kommen wir nicht lebend raus“ eine große Leseempfehlung.Quelle: Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus