SWR Kultur lesenswert – Literatur
Im Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen: es wuchs, als ginge es gar nicht anders, wie um ein weiteres Mal zu zeigen, dass es an seiner Absicht festhielt, aus der Erde zu sprießen, ganz egal, wie viel auf deren Oberfläche gemordet wurde.Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung
Die Stadt im Ausland, wo M. jetzt wohnte, war voll mit Menschen, die aus beiden Ländern geflohen waren, und diejenigen, über die M.s Landsleute hergefallen waren, blickten mit Schrecken und Argwohn auf die einstigen Nachbarn, als hätte deren Leben vor dem Krieg, wie auch immer es ausgesehen hatte, keinerlei Bedeutung mehr, als diente es nur zur Tarnung ihrer Verwandtschaft mit diesem Untier, das immer weiter fraß.Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung
… und doch schien auch sie plötzlich von einer verdächtigen Schleimschicht bedeckt.Im Gegensatz zu M., die eine halbtote Maus im Mund zu verspüren meint, wenn sie nach Worten sucht, verfügt Stepanova über Sprache: Sie schickt ihre haltlose Heldin auf eine Reise. Eigentlich ist das Ziel ein Literaturfestival. Aber die Bahn macht ihr einen Strich durch die Rechnung, ein Anschluss wird verpasst; das Handy gibt den Geist auf, die Veranstalter versetzen sie; so werden die Pläne zugunsten eines ziellosen Treibens aufgegeben. Wir durchstreifen nicht nur M.s Gedanken, sondern mit ihr auch eine fremde Stadt, folgen mit ihr einem Mann, der sie fasziniert und den sie später kennenlernt. Es scheint, als würde der geplatzte Termin eine Last von ihr nehmen. Fast ist es, als würde sie sich für einen Moment ihrer Identität entledigen, sich häuten, den Absprung schaffen. Sie heuert als zersägte Jungfrau bei einem Wanderzirkus an, gerät immer weiter in eine märchenhaft anmutende Szenerie, und am Ende scheint sie im Zirkusdirektor Peter Cohn einen blinden Seher vor sich zu haben.Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung
Du bist keine Rumänin, sagte Cohn noch einmal; in seinen schwarzen Brillengläsern schaukelten zwei große Glühbirnen. Du bist eine von uns, Liebes, eine Jüdin, ja? Und M., die sich seit Monaten immer nur als Russin bezeichnet hatte, als russische Schriftstellerin, als russischsprachige Person, wiederholte beinahe verwundert: ja.Quelle: Maria Stepanova – Der Absprung