SWR Kultur lesenswert – Literatur
Wenn er im Auto sang, bewegte er die Arme dazu wie Windmühlenflügel, unterstrich einzelne Verse mit feierlichen Gesten und rief: »Verstehst du? ›Le grandi gelaterie di lampone che fumano lente‹ – die großen, qualmenden Himbeereisfabriken. Was für Poesie!« »Lass die Hände am Steuer! Wenn wir draufgehen, ist Schluss mit Poesie«, erwiderte ich trocken. Aber meistens sang ich mit, genauso falsch und mit beinahe genauso wilden Gesten.Es ist einer der wenigen unbeschwerten Momente an die sich Marta Barone in „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ erinnert. Die beiden teilen die Leidenschaft für die Literatur, die Poesie und das Meer. Und doch erlebte die Autorin ihren 1945 geborenen Vater Leonardo meist als distanzierten, oft rätselhaften Mann.Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand
Rasch blätterte ich [die Verteidigungsschrift] durch. Sechzehn Seiten, Fotokopien des maschinengeschriebenen, paginierten Originals. ‚In erster Instanz wurde der Berufungskläger der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung Prima Linea für schuldig befunden, da als erwiesen angesehen wurde, dass „der Barone“ […] der Organisation substanzielle Dienste geleistet hat, indem er die medizinische Versorgung eines ihrer Aktivisten übernahm […]‘Jedes Gespräch und jedes Dokument fördern neue Erkenntnisse zutage – und werfen zugleich neue Fragen auf, die Archivfotos und Akten nicht beantworten können: Warum kehrt der reflektierte junge Mann dem akademischen Leben den Rücken? Was führt dazu, dass der examinierte Arzt einer Parteiideologie folgend als Straßenbahnputzer arbeitet? Marta Barone weiß, dass diese Fragen nach dem Tod Leonardos für immer unbeantwortet bleiben. Und doch versucht sie, sich dem Unbekannten vorsichtig anzunähern. Ihre Gedankenspiele ermutigen auch Leserinnen und Leser dazu, Situationen wie etwa Leonardos Ausharren in der Untersuchungshaft nachzuempfinden.Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand
Was mag er da drin wohl empfunden haben, abends, wenn es nichts zu tun gab? Während er in der stickigen Zelle saß und das Tageslicht schräg durch das kleine Fenster fiel? Wenn er auf einen Stuhl stieg, so schreibt er in einem Brief, konnte er die umliegenden Dächer sehen. Fragte er sich, wann er wieder echtes Tageslicht zu sehen bekäme, außerhalb der Mauern?Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand
[…] Tonino Miccichè, ein fünfundzwanzigjähriger Sizilianer [...] war ein geschickter Organisator […] und hatte alles so hervorragend geregelt, dass man ihn scherzhaft den »Bürgermeister von Falchera« nannte. Dort, in Falchera, war einem der »offiziellen« Wachmänner versehentlich eine zweite Garage zugeteilt worden, und die Besetzer hatten ihn mehrfach gebeten, sie ihnen für ihre Treffen zu überlassen, damit sie abends nicht immer so viel Lärm auf der Straße veranstalten mussten. Doch der Wachmann blieb eisern. Eines Abends brachen sie deshalb kurzerhand die Garagentür auf und schoben das Auto davor. […] Ein paar Minuten später schnappte der Wachmann sich seine Pistole und kam […] herunter. Miccichè trat versöhnlich lächelnd auf [ihn][…] zu. Der Wachmann schoss ihm genau zwischen die Augen.Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand
Meine Vergangenheit erschien mir wie ein einziger, langer Tag […] Vage, aber deutlich wahrnehmbar, empfand ich völlige Kontinuität zwischen meinem Bewusstsein von mir selbst mit acht, zwölf oder zwanzig Jahren und dem von heute. Das meiste, was ich gesehen und erlebt hatte […], war mir so präsent wie meine gelbe Obstschale, wie die Grille, die den Sommer überlebt hatte und noch immer einsam vor meinem Fenster zirpte, wie das Glucksen des Neugeborenen von nebenan.Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand