Ich hatte schon immer sehr lebendige Träume gehabt, wie wohl die meisten Kinder, aber irgendwann geschahen Dinge, die eben nicht normal waren.Das ist schon lange her. Inzwischen ist Mara Lux eine bekannte Schlafforscherin und lebt in London. Obwohl sie auf neurowissenschaftlicher Ebene sehr viel über das Phänomen Schlaf weiß, schläft sie selbst schlecht.Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf
Vor dem Eingang flackert Blaulicht und jetzt sehe ich auch die Polizisten, die auf dem Gehweg stehen. Ich habe ein schlechtes Gefühl. Ein ganz, ganz schlechtes, dunkles, zähes, klebriges Gefühl. Die hübsche junge Frau aus dem ersten Stock wird auf mich aufmerksam und kommt zu mir. „Es ist Mrs. Jones“, sagt sie mit belegter Stimme. „Sie ist aus dem Fenster gesprungen, heute Nacht. Oder besser in den frühen Morgenstunden. Ist das nicht schrecklich?“Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf
Ich erinnere mich an das Gefühl des Laufens, so leicht, so frei. Ich erinnere mich, wie ich einen Blick über meine Schulter warf und sah, dass Kai mir dicht auf den Fersen war. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass ich nicht vergessen durfte, ihm zu sagen, dass er später beim Abendbrot auf keinen Fall erzählen sollte, dass wir im Wald gewesen waren, denn der Wald war verboten. Im Wald gab es einen alten Steinbruch und alte Schächte und all diese Dinge, vor denen Mama uns gewarnt hatte, seit wir klein waren. Ich erinnere mich, wie ich den Blick wieder nach vorne richtete, früh genug, um die morschen Planken vor mir zu sehen, nicht früh genug, um rechtzeitig innezuhalten. Und dann der Fall. Und dann die Hoffnung, Kai möge es geschafft haben, möge nicht ebenfalls in den alten Brunnen gestürzt sein. Und dann die Erkenntnis, dass wir beide hier gefangen waren.Chantal Busse gehört zu jenen Schauspielerinnen, die ihre junge Stimme problemlos einem zehnjährigen Mädchen geben können und natürlich dennoch über das ganze gestalterische Repertoire verfügen, um ihrer Lesung die nötige Tiefe zu geben, Emotionen zu transportieren und Atmosphäre zu erzeugen. Hier ist offenbar ein großes Unglück geschehen.Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf
Jetzt noch eine lange Dusche und ein ordentliches Frühstück und ich bin schon wieder ganz die Alte. Während ich noch das Badezimmer im Obergeschoss betrete, streife ich mir bereits das T-Shirt, in dem ich geschlafen habe, über den Kopf und… Mir entfährt ein kleiner, erstickter Schrei, als ich den Spiegel über dem Waschbecken sehe. Mein roter Lippenstift liegt im Waschbecken, die Verschlusskappe auf dem Boden. Jemand hat mir mit ihm eine Botschaft auf den Badezimmerspiegel geschrieben.„Ich sehe dich“, steht da. „Siehst du mich?“ Nicht gerade beruhigend. Autorin Melanie Raabe versteht ihr Handwerk. Nichts einfacher als einer jungen Frau nachts in einem leerstehenden Haus das Fürchten zu lehren, aber sie schafft es zudem, die Atmosphäre ganz langsam von bedrohlich in freundlich zu drehen, Verfolgte und Verfolger tauschen die Rollen. Schauspielerin Sithembile Menck vollzieht all das stimmlich mit. Gekonnt wechselt sie zwischen der selbstbewussten Forscherin zur verunsicherten jungen Frau und zurück, unterscheidet im Tonfall zwischen Traum und Wirklichkeit und hält die Spannung bis zuletzt. Einzig ein paar kleine grammatikalische Fehler im Text sind etwas ärgerlich, da hätten Lektorat oder Regie besser aufpassen müssen. Dennoch: „Der längste Schlaf“ ist ein gelungenes Hörbuch für alle, die es gerne mit dem Übersinnlichen aufnehmen – zum entspannten Hinübergleiten in die Nachtruhe ist es allerdings nicht zu empfehlen.Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf