Zwischen 1960 und 1992 wurde in Deutschland der Rhein-Main-Donau-Kanal gebaut, in den auch der Teil der Regnitz integriert wurde, in dem meine Mutter einst ihr Leben gelassen hat. In meiner Vorstellung fließen seitdem Tag für Tag ein paar Tropfen der fränkischen Regnitz ins Asowsche Meer. Ganz allmählich kehrt meine Mutter mit dem Wasser der Donau zurück in ihre alte Welt, die Tropfen der Regnitz erreichen über Ungarn, Bulgarien, Rumänien das Schwarze Meer, passieren die Meerenge von Kertsch und gehen ein ins Asowsche Meer, in dem meine Mutter vielleicht einmal gebadet hat und dessen Wellen immer noch ans Ufer von Mariupol schlagen.„Der Fluss und das Meer“- in ihrer Erzählung schnürt Natascha Wodin noch einmal die ganze Tragik, die das Leben ihrer Mutter bestimmt, in wenigen sehr dichten Momenten zusammen. Sie tut das in der für sie typisch lakonischen Art, beiläufig und zugleich voller Wucht. Dabei spannt sie den Bogen schmerzhaft bis in die Gegenwart.Quelle: Natascha Wodin – Der Fluss und das Meer
An Schlaflosigkeit leide ich bis heute, und in besonders unruhigen Nächten höre ich wieder Bellos Bellen. Ich bin wieder die junge Frau von damals, die glaubt, Ihre Mörderin zu sein, Frau Meisinger. Sie waren gestorben, weil ich es gewollt hatte. Ich hatte Ihren Tod nicht nur nicht verhindert, ich hatte ihn herbeigeführt – mit der Macht meines Wünschens, mit meinem unbändigen Willen, die Vergangenheit für immer aus meinem Leben zu verbannen. Ich hatte in Ihnen mich selbst umgebracht, diejenige, die ich nie wieder sein wollte.Ein schonungsloses Geständnis, mit dem sich die Ich-Erzählerin direkt an die vor ihrer Nase in Einsamkeit und Elend verstorbene Nachbarin wendet. Ein Eingeständnis aber auch der eigenen Verwundung: zu erkennen, wie unheilvoll das Kindheitstrauma - Ausgrenzung, Diffamierung, Tod der Mutter, Gewalt des Vaters – fortwirkt. Wieder ein Zeitsprung. In „Notturno“ umkreist Natascha Wodin eine lange, sehr intensive Brieffreundschaft, die die Ich-Erzählerin mit einem in der geschlossenen Psychiatrie untergebrachten Mann führt: Heiner Fuchs, der auch aus ihrer Heimat F. kommt, der wohl, in dieselbe Schule gegangen ist. Das „Desaster“ beider Leben verbindet, es entwickelt sich eine zarte Romanze, die durch die gemeinsame Leidenschaft für Musik, für Schuberts Notturno insbesondere, an Fahrt gewinnt. Aber auch diese Umarmung misslingt, scheitert an der Unfähigkeit, die eigenen inneren Ketten zu sprengen.Quelle: Natascha Wodin – Der Fluss und das Meer
Was konnte ich als Kind russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter gemeinsam haben mit den deutschen Studenten der 68er-Generation? Mein Deutschland war nie das ihre gewesen, sie rebellierten gegen Verhältnisse, die ich nicht kannte, gegen Täter-Eltern, die nicht die meinen waren, gegen Wohlstandseltern, die ich nie gehabt hatte. Ich wollte so sein wie sie, ich wollte dazugehören, aber ich konnte nicht zu etwas gehören, das ich in seinem Wesen weder kannte noch verstand. Ich gehörte zu gar nichts. Weder zu Deutschland noch zu Russland oder zur Ukraine und immer weniger auch zu mir selbst. Ich gehörte zu Sri Lanka. Hier war ich in meiner eigenen inneren Wildnis angekommen, in genau jener Fremde, in der ich immer schon war.„Der Fluss und das Meer“ – der neue Erzählband von Natascha Wodin schlägt inhaltlich zwar keine neuen Kapitel auf. Es ist die Suche nach dem inneren Grund, ein Ringen um Erkenntnis, eine Sehnsucht nach Heilung. Das ist schonungslos – für die Ich-Erzählerin, bisweilen auch für die Leserinnen und Leser. Doch es ist eine starke, nachhaltige Prosa: wortkarg und wortgewaltig zugleich.Quelle: Natascha Wodin – Der Fluss und das Meer