SWR Kultur lesenswert – Literatur
„Bis heute gilt ‚Alabama‘ als Referenzstück für politischen Jazz und als Beleg für Coltranes politische Gesinnung: Die Jazzforscherin Ingrid Monson beschreibt in ihrer profunden Studie Freedom Sounds – Civil Rights Call Out to Jazz and Africa, Coltranes ‚Alabama‘ als die ‚vielleicht bewegendste Komposition, die einem spezifischen Civil-Rights-Ereignis gewidmet ist.‘“Quelle: Peter Kemper
„Als primär afroamerikanisches Akkulturationsprodukt bewegt sich diese Musik immer schon im Konfliktfeld zwischen schwarzer und weißer Politik und Praxis. Es fand eine Verschmelzung unterschiedlicher Kulturen statt: der westafrikanischen und der nordamerikanischen.“Kemper interessiert sich auf der anderen Seite dafür, ob sich in den Sounds, im Klang, in der ins Offene weisenden Improvisation, im rauen, warmen, kreischenden Ton des Saxophons etwa, in radikalen Avantgardismen oder Rückbezügen auf den Blues jene behauptete politische Ebene auch musikalisch abbildet. Es gibt jene, die sagen, Musik sei eine Sprache für sich, sie könne gar nicht auf Politisches rekurrieren. „Alabama“ ließe sich so auch als trauriges Liebeslied hören, wisse man nichts von seinem Kontext.Quelle: Peter Kemper
„Für unsere Untersuchung des Sprachcharakters von Musik und Jazz im Besonderen ist hier die Kategorie des ‚Dazwischen‘ entscheidend: Der ‚Gestus‘ eines Musikers, wie er sich als Klanggeste manifestiert, charakterisiert seine ‚Haltung‘ im Sinne seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit. Deshalb lässt sich die Erfahrung des Gestischen als der bedeutungstragende Sinn von Musik verstehen. Adorno hat dies unnachahmlich prägnant formuliert, wenn er schreibt: ‚Der Ausdruck zieht die Musik zur Geste zusammen und staut sie im Ton.‘“Diese grundsätzlichen Reflexionen stehen ganz am Ende des 750-Seiten starken Buches – aber alles, was davor kommt, führt zu diesen Überlegungen hin: Kempers umfangreiche und zugleich dichte Emanzipationsgeschichte, die entlang des Jazz geschrieben wird, ist nämlich zunächst eine faszinierende Erzählung von musikalischen Wegmarken, symptomatischen Episoden und legendären Musikern, deren Schaffen stets in einem sozialen Rahmen stattfand, den sie mit ihrer Kunst zu sprengen suchten. Selbst bei einem bis heute als unpolitischer Entertainer geltenden Virtuosen wie Louis Armstrong entdeckt Kemper einschneidende Momente, an denen er sein Image als „Onkel Tom des Jazz“ aufbrach und konterkarierte.Quelle: Peter Kemper
„Ich habe 40 Jahre lang ein wundervolles Leben mit der Musik gehabt, aber ich spüre die Unterdrückungssituation so wie jeder andere Schwarze auch. […] So, wie sie meine Leute im Süden behandeln – die Regierung kann von mir aus zur Hölle fahren.“Zitiert Kemper Louis Armstrong. Jazz sei für Satchmo immer auch die klangliche Verkörperung schwarzer Erfahrung in den USA gewesen. Oder wie Armstrong es ausdrückte:Quelle: Louis Armstrong (zit. nach Kemper)
„Was wir spielen, ist unser Leben.“Glänzend erzählt Kemper von Billie Holiday, die als harmlose Sängerin vermarktet werden sollte, aber selbst in ihren Liebesliedern und dann erst recht mit dem Song „Strange Fruit“ auf unhintergehbare Weise gegen männliche und rassistische Unterdrückung ansang. Und Kemper erzählt, wie genau diese Formen von Repression sie am Ende – mit nur 44 Jahren – zu Tode bringen. Kemper schreibt über Miles Davis, der mit seiner coolen Arroganz den Spieß gesellschaftlicher Hierarchie umdrehen wollte; über den bilderstürmerischen Albert Ayler, über den wütenden Archie Shepp, der sein Saxophon in den 60ern als „Maschinengewehr des Vietkong“ verstand. Er sucht mit Sun Ra in den weiten des Weltalls nach afrofuturistischen Befreiungspotentialen, begleitet Roland Kirk bei einem subversiven Fernsehauftritt, bei dem er eine größere Präsenz ernstzunehmender schwarzer Künstler in den Medien forderte, untersucht das Scheitern der Musikerselbstorganisation Jazz Composers Guild; zeigt uns, wie das Art Ensemble of Chicago mit Rückgriffen auf afrikanische Traditionen eine „Great Black Music“ propagierte, offenbart auch im Spiritualismus eines Pharoah Sanders und dem revolutionären Experimentiergeist eines Cecil Taylor politisches Potential.Quelle: Louis Armstrong (zit. nach Kemper)
„… als ›Bausteine einer politischen Ästhetik des Jazz‹ verstanden werden.“Diese Sozialgeschichte des Jazz und der Musik ist nicht nur meisterlich erzählt, sondern auch von umfassenden Recherchen und großem Einfühlungsvermögen geprägt. Und sie ist theoretisch auf Höhe der verhandelten Themen. Weil Kemper tief in die Problematiken des Themas eingedrungen ist, versäumt er es nicht, auch seine eigene Rolle als Chronist und Interpret zu hinterfragen: In einem „Nachwort in eigener Sache“ setzt er sich gewissenhaft mit damit auseinander, ob er als „alter weißer Mann“ über die in der schwarzen Musik ausgefochtenen Emanzipationskämpfe schreiben darf, ob das nicht anmaßend sei. Seine Antworten wählt er sorgsam und abwägend; sie zeigen, dass er seinen Gegenstand ernst nimmt und ein Bewusstsein für mögliche Schieflagen hat, dass aber auch eine gewisse wissenschaftliche Distanz produktiv sein kann. Die beste Antwort gibt allerdings ein schwarzer Musiker selbst:Quelle: Peter Kemper
„Es ist ein Fehler zu glauben, dass nur Schwarze über Black Music schreiben können. Der Diskurs zu diesen Fragen sollte so vielfältig wie möglich sein.“Wer den Segen von Archie Shepp hat, muss keinen woken Vorwurf fürchten.Quelle: Archie Shepp (zit. nach Kemper)