Walter Kempowski hat vom „gurgelnden Chaos“ des Jahres 1945 gesprochen. Deutschland wird zum heftig umkämpften Kriegsschauplatz, auf den Straßen die Kolonnen der geschlagenen Soldaten, der Flüchtenden und der Displaced Persons.
Während der Westen des Landes schon besetzt und in der Nachkriegszeit angekommen ist, wütet die SS andernorts noch gegen alle Regimegegner und Kapitulationswilligen. Auf den Todesmärschen sterben zahlreiche KZ-Häftlinge. Im Ort Gardelegen werden am 13. April noch Tausend dieser gestrandeten Elendsgestalten in eine Scheue gesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt:
Volkssturmführer Debrodt diskutiert das Vorhaben mit anderen Verantwortlichen: ‚Alle waren der Meinung, dass es nicht gut, aber notwendig sei.‘
Quelle: Volker Heise – 1945
Vollendeter Irrsinn des Dritten Reichs – nur einen Tag später treffen die Amerikaner ein. Der Horror von Gardelegen ist eine der vielen erschütternden Szenen in Volker Heises Chronik des Jahres 1945.
Konträre Erfahrungen
Wie in Kempowskis Geschichtsmonument „Echolot“ geht es Heise darum, durch eine kontrapunktische Komposition aus Zeitzeugenberichten die konträren Erfahrungen der Menschen zu vermitteln. Anders als Kempowski reichert er die vielfältigen O-Töne aber mit kommentierenden Passagen an, die allerdings immer dicht an die Erlebnisperspektive der Zeitzeugen gebunden bleiben.
Großen Teilen der deutschen Bevölkerung liegt eine regimekritische Haltung bis zuletzt fern. Dann aber kippt die Stimmung. Viele überschlagen sich vor Eifer, den neuen Herren gefällig zu sein, da kann Goebbels noch so martialisch den Untergrundkampf des „Werwolfs“ beschwören. Ein hoher Mitarbeiter des Auswärtigen Amts notiert:
Der deutsche Nationalcharakter eignet sich nicht für den Partisanenkrieg.
Quelle: Volker Heise – 1945
So zerfiel das Dritte Reich wie ein Spuk.
Erich Kästner, der sich selbst glücklich durch den Untergang laviert hat, stellt fest:
Die Unschuld grassiert wie die Pest. Sogar Hermann Göring hat sich angesteckt.
Quelle: Volker Heise – 1945
Und selbst der SS-Führer Heinrich Himmler geht am 6. Mai noch davon aus, dass er dank seiner organisatorischen Talente „eine wichtige Rolle in der Nachkriegsordnung einnehmen kann“.
Der Alltag läuft weiter
Reizvoll ist diese Jahreschronik, weil sie den Alltag über den Einschnitt des Kriegsendes weiterlaufen lässt. Ganz profan spiegelt sich das im Tagebuch einer Sekretärin, die vorher und nachher gleichermaßen Kino und Amüsement im Sinn hat – man könnte es als vitalen Trotz einer jungen Frau gegen die Verheerungen bezeichnen.
Die deutschen Frauen werden 1945 zu Hunderttausenden Opfer der Massenvergewaltigungen durch die Rotarmisten. Für viele beginnt ein paar Monate später die zweite Tortur, wenn es darum geht, die Genehmigung und einen Arzt für die Abtreibung zu bekommen.
Der Berliner Sommer 1945 riecht nach Schutt und Verwesung. Täglich ziehen die hoffnungslosen Trecks der Vertriebenen aus den Gebieten jenseits der Oder durch die Stadt. In Hitlers Neuer Reichskanzlei, vergleichsweise unbeschädigt, blüht die Prostitution im Tausch gegen Zigaretten.
Erster KZ-Prozess
Im September beginnt der erste KZ-Prozess in Lüneburg. Im Licht der Pressefotografen steht die junge KZ-Aufseherin Irma Grese, berüchtigt als „Hyäne von Ausschwitz“ und „Bestie von Belsen“. Die Verbrechen selbst aber werden schon zur Verhandlungsroutine. Der Korrespondent William Shirer schreibt:
All jene scheußlichen Grausamkeiten, denen gegenüber wir schon verhärtet scheinen, werden einzeln beschrieben und aufgezählt. Die Angeklagten langweilen sich, desgleichen alle anderen im Saal.
Quelle: Volker Heise – 1945
Angenehm ist der nüchterne Ton des Buches, das weder von oben herab doziert noch –
im Florian-Illies-Stil – die Einfühlung forciert, sondern ganz auf die starken Zeitzeugen-Zitate vertraut. Volker Heise ist ein fesselndes, aspektereiches Geschichtspanorama über jenes Jahr gelungen, über das man gar nicht genug wissen kann. Denn 1945 ist das Fundament der Bundesrepublik.