Sadie Smith – allein schon der Name. In einem deutschen Roman würde diese Frau wahrscheinlich Karin Mustermann heißen. Die Ich-Erzählerin von Rachel Kushners neuem Roman ist eine große Leerstelle. Eine Person ohne Identität, die sich chamäleonähnlich ihrer Umwelt anpassen kann, ohne aufzufallen. Jedenfalls glaubt sie selbst das.
Sadie, 34 Jahre alt, ist die klassische amerikanische Schönheit mit, wie sie nicht oft genug betonen kann, sehr großen künstlichen Brüsten. Sadie ist ein destruktiver Charakter. Einen moralischen Kompass hat sie nicht; ihre Vergangenheit liegt im Dunkeln. Ihr Weltbild ist durch und durch nihilistisch:
Es gibt keine Gerechtigkeit. Schlechte Menschen werden geehrt, gute bestraft. Auch das Gegenteil stimmt. Gute Menschen werden geehrt, schlechte bestraft, und manche werden das Gnade nennen oder die Hand Gottes anstatt Glück. Aber im tiefsten Inneren, selbst wenn ihnen der Mut fehlt, es zuzugeben, wissen alle, dass die Welt gesetzlos ist, chaotisch und willkürlich.
Quelle: Rachel Kushner – See der Schöpfung
Sadie arbeitet, wenn es einen solchen Beruf überhaupt gibt, als freie Geheimagentin. Beim FBI ist sie nach einer misslungenen Operation in Ungnade gefallen, doch Aufträge hat sie genug. Ihr Spezialgebiet ist die Unterwanderung linker aktivistischer Gruppen mit dem Ziel, diese zu Gewalttaten anzustiften und auf diese Weise zu diskreditieren.
Eine Geheimagentin in unklarer Mission
Für einen anonymen Auftraggeber reist Sadie nun im Jahr 2013 nach Südfrankreich. Dort hat sich eine Kommune mit dem Namen „Le Moulin“ gebildet, die die ökologisch verheerende Landwirtschaftspolitik der französischen Regierung bekämpft.
Der intellektuelle Kopf der Moulinarden, wie sie sich nennen, ist ein Phantom: Der über 80-jährige Bruno Lacombe hat sich in eine unterirdische Höhle zurückgezogen, die er nur verlässt, um kryptische E-Mails an seine Community zu versenden.
Sadies Auftraggeber haben Brunos Mail-Account gehackt, so dass Sadie jederzeit Zugriff darauf hat. Seine umfassenden Weltbetrachtungen hat Rachel Kushner als Kontrapunkt zur zynischen Perspektive ihrer Ich-Erzählerin in den Roman integriert.
Wir sind uns alle einig, schrieb Bruno, dass es der Homo sapiens war, der die Menschheit mit dem Kopf voran in die Landwirtschaft, das Geldwesen und die Industrie trieb. Aber das Rätsel, was mit dem Neandertaler und seinem bescheideneren Leben passiert ist, bleibt ungelöst.
Quelle: Rachel Kushner – See der Schöpfung
Die Vision von einer gesellschaftlichen Veränderung
Eine Geheimagentin in unklarer Mission. Ein greiser Weltendeuter, der letzte Überlebende einer im Holocaust ermordeten Familie noch dazu. Und eine in ihrer Zusammensetzung heterogene Gruppe von linken Umweltaktivisten – das klingt so abstrus, wie es sich stellenweise auch liest.
Doch erstens ist Verunklarung eindeutig die Absicht der Autorin, zweitens steht dahinter die Vision von einer gesellschaftlichen Veränderung: Der Sündenfall der Menschheit, so Brunos These, war der Übergang vom sanften, kollaborativ agierenden Neandertaler hin zum eigennützigen und ausbeuterischen Homo sapiens.
Den Gedanken, den Kapitalismus besiegen zu können, hat Bruno aufgegeben, darum hat er sich von der Welt verabschiedet. Hinter den Kämpfen der Aktivisten gegen die Errichtung riesiger Wasserbassins, die einer monokulturell ausgerichteten Landwirtschaft Vorschub leisten, steht die große Idee einer ökologischen Gesundschrumpfung im großen Stil.
Abgesang auf die linken Heilsversprechen der 1960er-Jahre
Kein Wachstum mehr, auch kein so genannter Fortschritt, sondern eine Umkehr in Form einer Entmodernisierung. „See der Schöpfung“ ist unter anderem auch ein Abgesang auf die linken Heilsversprechen der 1960er-Jahre, denen die Wortführer der Moulinarden lange gefolgt sind.
Sadie hingegen, das macht sie zu einer so gegenwärtigen Figur, hat keinerlei Geschichte außerhalb ihrer früheren Operationen und auch keinen ideologischen Impetus. Sie besteht aus Decknamen, Verstellungen, Täuschungen und auch Selbsttäuschungen.
Sadie schleicht sich ein in die Kommune der Moulinarden, versucht dort, Verbündete für ihren Plan einer gewalttätigen Eskalation der Proteste zu gewinnen, fängt eine Affäre an, sondiert das Gelände.
Erzählerin mit Hardboiled-Tonfall
Kushner hat ihrer Erzählerin einen Hardboiled-Tonfall auf den Leib geschrieben, der manchmal nur gut klingende, aber leere Nullsätze produziert...
Der Škoda war ein ‚sauberer Diesel‘, ein Oxymoron, das als Metapher für irgendetwas stand, ich wusste nur nicht, wofür.
Quelle: Rachel Kushner – See der Schöpfung
... in Sadies arrogantem Blick auf die aus ihrer Sicht eher minderbemittelten Europäer aber auch durchaus komisch ist:
Die Franzosen mögen bessere Romane haben (Balzac, Zola und Flaubert) und sie haben besseren Käse (Comté, Roquefort, Cabécou). Aber im Großen und Ganzen betrachtet ist das praktisch nichts.
Quelle: Rachel Kushner – See der Schöpfung
Weit entfernt von 007
All diese sich widersprechenden Gedankenströme, soziologischen Überlegungen und ideologischen Clashs, eingebettet in eine rasante Story um eine Agent Provocateur, haben etwas intellektuell Produktives.
Ist „See der Schöpfung“ aber nicht nur ein flirrender, sondern auch ein gelungener Roman? Meistens schon. Man hätte sich gewünscht, Rachel Kushner hätte der Mitteilungsseligkeit ihrer Erzählerin hin und wieder Grenzen gesetzt.
Andererseits ist diese Ich-Erzählerin eine weitaus komplexere Figur als sie selbst es glaubt. Ihre Unerschütterlichkeit bekommt immer dann Risse, wenn jemand von außen auf sie blickt. „See der Schöpfung“ mündet in einen Showdown, der selbstverständlich nicht verraten wird.
Nur so viel: Von einer strahlenden Heldenfigur à la 007 ist Kushners Agentin am Ende weiter entfernt als je zuvor.