Mit einem „Es war einmal“ beginnen die Märchen in diesem Band schon mal nicht. Nein, Angela Carter wirft uns mitten hinein in ihre dunklen, abgründigen Neuerzählungen.
Mein Vater hat mich beim Kartenspielen an Das Biest verloren. Von den Kerzen tropfte heißes, beißendes Wachs auf meine nackten Schultern. Ich beobachtete das Geschehen mit dem grimmigen Zynismus von Frauen, die durch die Umstände gezwungen sind, still mit anzusehen, wie große Dummheiten begangen werden, während mein Vater, in seiner Verzweiflung durch das Höllenwasser befeuert, das sie hier »Grappa« nennen, sich Spielzug um Spielzug der letzten Reste meines Erbes entledigte.
Quelle: Angela Carter – Die blutige Kammer
„Die Schöne und das Biest“ neu erzählt
„Die Schöne und das Biest“ – dieses Volksmärchen aus Frankreich erzählt die britische Autorin Angela Carter in zwei Versionen neu. In einer Variante verliert der Vater beim Kartenspiel nicht nur sein ganzes Geld an das Biest, sondern auch seine Tochter.
Anders als in der französischen Vorlage gibt sich die Schöne bei Angela Carter nur widerwillig ihrem Schicksal hin und widersetzt sich den Forderungen des Biestes, das hier ein Tiger in einer karnevalesken Verkleidung ist. Nur einen Wunsch hat das Biest: Es möchte die Schöne nackt sehen. Ein Wunsch, über den sie nur abfällig lachen kann.
„Sie geht halt genau dahin, wo es wehtut," sagt die Autorin und Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal.
„Also, es ist tatsächlich so, die Leute damals haben das gelesen und teilweise gedacht, das können wir jetzt nicht im Radio vorlesen. Das hat sie getroffen, dieses „darf man das schreiben, darf man das sagen?“ Und ich dachte, es ist so viel Zeit vergangen, das wird kein Problem mehr sein.
Und ich merke trotzdem, ich lese diese Märchen und denke, hui, das hätte ich mich jetzt nicht getraut, zu schreiben."
Sanyal hat das Nachwort zur Neuausgabe von Angela Carters Märchenband „Die blutige Kammer“ geschrieben. 1979 ist es in Großbritannien erschienen und machte Carter schlagartig bekannt.
Gewalt und Lust
Dahin gehen, wo es wehtut, bedeutet bei ihr nicht einfach die Gewalt offenzulegen, die in Märchen steckt. Sondern auch die unterdrückte Lust der Heldinnen zu erforschen. Bei ihrer Version von „Die Schöne und das Biest“ verwandelt sich die Schöne am Ende in eine Tigerbraut, die sich lustvoll dem Biest hingibt, und zwar auf ihren eigenen Wunsch hin.
Er hievte sich näher und näher an mich heran, bis ich den rauen Samt seines Hauptes an meiner Hand spürte, dann eine Zunge, spröde wie Sandpapier. Und jeder Strich seiner Zunge riss mir Hautschicht um Hautschicht ab, sämtliche Hautschichten eines irdischen Lebens, und übrig blieb eine wie neugeborene Patina glänzender Haare. Meine Ohrringe wurden wieder zu Wasser und rannen mir die Schultern hinab; ich schüttelte die Tropfen aus meinem schönen Fell.
Quelle: Angela Carter – Die blutige Kammer
Die Schöne entdeckt das Biest in sich
„Sie wird am Ende auch zu dem Biest. Das ist ja vorgelegt in der Geschichte und das ist, glaube ich, das erste Mal, dass ich das gelesen habe, dass die Schöne eben nicht ihren Märchenprinzen bekommt, sondern unter ihrer Haut, unter ihrer, wie so zivilisierten Schicht, liegt aber ihr eigenes Biest. Und das muss freigelegt werden," weiß Sanyal.
Die Schichten freilegen, das tut Angela Carter in „Die blutige Kammer“. Darin greift sie Motive aus klassischen europäischen Märchen auf und deutet sie neu – manche sogar mehrfach, wie etwa das „Rotkäppchen“.
„Es gibt eine Rotkäppchen-Variation, „Die Gemeinschaft der Wölfe“, wo in dem Moment, in dem das Rotkäppchen die Angst überwindet und sich mit ihrer eigenen auch animalischen Natur verbindet, gibt es eine Verbindung zu diesem Wolf und er wird sie nicht mehr auffressen, sondern sie werden Sex miteinander haben, sie werden sehr viel Spaß miteinander haben und sie werden auch ihre Wildheit gemeinsam ausleben können."
Sie wird sein banges Haupt auf ihren Schoß betten, ihm die Läuse aus dem Fell klauben, vielleicht wird sie sich die Läuse auch in den Mund schieben und sie verspeisen, wenn er sie lieb darum bittet, wie in einer wilden Hochzeitszeremonie.
Quelle: Angela Carter – Die blutige Kammer
Mehr Mithu Sanyal:
Erkunden von sexuellen Fantasien in der Literatur
Die Lust an der Sexualität, aber auch die Lust an der Gewalt und Brutalität – diese Schichten legt Angela Carter frei.
„Das sind eben nicht so klassische masochistische sexuelle Fantasien, sondern es ist ein sehr mutiges damit Spielen, bis wohin kann ich mit meinen sexuellen Fantasien gehen in der Literatur, bis wohin kann ich sie laut aussprechen."
Angela Carter ist ihrer Zeit voraus
Angela Carter sprengt damit die gesellschaftlichen und auch die literarischen Konventionen der 70er Jahre: Ästhetisch überladen, voll mit Adjektiven und durchzogen von großen Gefühlen sind ihre zehn Märchen. Diese hat Maren Kames in ihrer Neuübersetzung mitreißend ins Deutsche übertragen. Man kann die schneidende Winterkälte spüren und die Einsamkeit der Mädchen fühlen.
Ein schwerer, strenger Duft nach Tieren und welken Blumen zieht sich durch den Band.
Und mitten im Absatz wechselt auch mal die Erzählerstimme – aus einem „Ich“ wird ein „sie“ – aus der Verführten wird eine Täterin. Aus einem Ich, das sich rächt und befreit, wird eine Stellvertreterin für alle Frauen, die an den patriarchalen und sexistischen Verhältnissen leiden - ob im Märchen oder in der echten Welt.
Angela Carter holt so die Mädchen und Prinzessinnen aus ihrer passiven Rolle und macht etwa aus dem hundert Jahre lang schlafenden Dornröschen eine hungrige, männermordende Vampirin. Das kam 1979 nicht bei allen gut an, auch nicht bei Feministinnen.
Versteckt und verbannt
Mithu Sanyal meint dazu:
„Angela Carter macht nicht diesen Trick, Frauen mit Frauen in ein feministisches, lesbisches Paradies gehen zu lassen, sondern es geht immer um heterosexuellen Sex in allen Variationen, aber er bleibt heterosexuell. Nicht im Sinne von das ist die einzige Sexualität, sondern das ist die Sexualität, die sie in diesen vielen, vielen Märchen-Variationen erforschen möchte.
Und da haben viele Feministinnen dieses Buch entweder verbannt oder mit so Stickern „Das ist Sexismus“ versehen oder tatsächlich in so braune Umschläge gepackt und nur so dann verkauft, was ich auch interessant finde. Also dieses Buch wurde als sehr potent, aber auch sehr gefährlich wahrgenommen."
Feministinnen sind schockiert
Märchen über Frauen, die neugierig und auf gefährliche Weise ihre entfesselte Sexualität erkunden – und welche Rolle Pornografie darin spielen kann, darüber schrieb Angela Carter später auch in einem Essayband.
Mithu Sanyal erzählt:
„Und darüber haben sich nochmal viel, viel mehr Menschen aufgeregt. Und gerade in den modernen Feminismen ist das ja etwas, was aufgegriffen wird, wo Leute ja sagen, genau da war sie ihrer Zeit wahnsinnig voraus. Sie war auch nicht die einzige, aber gerade in der britischen Literaturszene war sie absolut ein Stern darin."
Ein Stern, der leider viel zu früh erlosch
Anfang der 90er starb Angela Carter mit nur 52 Jahren an Lungenkrebs. Ihre Märchen gerieten in Vergessenheit. Ein Glück, dass sie nun wiederentdeckt werden können.
Geht es heute um Märchen, so dominieren seit Jahrzehnten vor allem die Disney-Verfilmungen, erst als Zeichentrickfilme, nun in Realverfilmungen. In ihnen werden meist die klassischen Rollenverteilungen zwischen Frau und Mann zementiert, während die böse Stiefmutter in den Abgrund geschubst wird. Die schauerlichen Verhältnisse, die Angela Carter offenlegt, existieren also bis heute weiter.