Eine Bilderbuchecke in der Züricher Altstadt. Einmal abbiegen: der Bellevueplatz. Blick auf den Zürichsee, das Opernhaus. Es ist ein warmer Frühlingstag und die Straße ist belebt.
Hier treffe ich Nora Osagiobare, vorm Kino Le Paris.
Und genau hier beginnt auch „Daily Soap“, Nora Osagiobares Debütroman – mit einer – ich sage mal - Liebesgeschichte.
Im Jahr 1998 kreuzen sich zwei verlorene Seelen an einer Zürcher Tramhaltestelle, um sich nach zwei Jahrzehnten wieder voneinander scheiden zu lassen.
Quelle: Nora Osagiobare – Daily Soap
Wie alles beginnt
Die zukünftigen Ex-Eheleute stellt die Autorin vor. Eine weiße Schweizerin: „Das ist die Anneli Killer Osayoghoghowemwen, die ist Impf- und Abtreibungsgegnerin und eher Verschwörungstheorien zugeneigt, hat aber schon auch einen sehr präzisen Blick für Missstände.“
Und ein Nigerianer: „Thor Obioye Osayoghoghowemwen ist ein Red Bull-süchtiger, emotionsgetriebener, eher einsamer und ruhiger Mensch.“
Nora und ich biegen um die Ecke, zum Mittagessen in einem Züricher Traditionshaus. Red Bull steht hier nicht auf der Karte. Anneli und Thor bestreiten im Roman hier das erste Date. Das Resultat daraus, Tochter Toni: „Das ist nämlich die Toni Osayoghoghowemwen und die verbringt den größten Teil ihrer Zeit vor dem Fernseher und schaut sich ihre Lieblings-Opera an.“
Und ihre Zwillingsschwester Wanda. Toni ist Schwarz. Wanda kreideweiß. Hautfarbe. Herkunft. Race. Rassismus. Medienmechanismen. Das sind die Themen in „Daily Soap“. Aber auch: Kunst, Milieu. Die Schweizer Schickeria.
Wiener Schnitzel im Zürcher Traditionshaus
Damit zurück an den Mittagstisch. Wir bestellen Wiener Schnitzel. Eine Portion kostet 59 Schweizer Franken. Jede Figur aus „Daily Soap“ verbindet etwas mit dem Restaurant, in dem wir sitzen. Im Roman stellt ein Künstler seine homoerotischen Aktbilder an den Wänden aus.
Akte junger Männer auf dem Hautfarbenspektrum zwischen Latte Macchiato, serviert in einem südafrikanischen Country Club im Jahr 1992 und Mokka eines dunklen Röstgrades, serviert auf einem Markt in Äquatorialguinea.
Quelle: Nora Osagiobare – Daily Soap
Heute hängen hier an den dunkel-holzgetäfelten Wänden Bilder von Miró, Picasso, Chagall. Unten liegen auf den Stühlen Handtaschen von Louis Vuitton. Und dazwischen bugsieren Restaurantgäste Einkaufstüten von Bottega Veneta durch die Gänge.
Früher speisten hier regelmäßig Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch. James Joyce hatte einen Lieblingstisch.
Mehr Konzept als Recherche
Viele Szenen von Nora Osagiobares Roman spielen zwar in diesem Restaurant, heute ist sie aber zum ersten Mal hier.
Sie meint: „Ich habe auch gar nicht unbedingt immer vorgehabt, die Orte aufzusuchen, von denen ich geschrieben habe, weil es mir eigentlich gar keine große Rolle gespielt hat, schon mal dort gewesen zu sein, weil es mehr um eine Idee ging als um eine Recherche.“
Das gilt auch für das Personal des Romans. „Also, ich denke auch, dass meine Figuren mehr Ideen verkörpern als Menschen. Und auch die Geschichte mehr eine Idee verkörpert als eine realistische Darstellung von einem Geschehen. Es ist irgendwie alles sehr konzeptuell gehalten im Roman, aber es hat mich dann trotzdem Wunder genommen, das mal aufeinanderprallen zu lassen, diese Idee und die - in Anführungszeichen - Realität.“
Das Besondere am Konzept von Nora Osagiobares Debüt, das steckt schon im Titel: „Daily Soap“.
Dramaturgie einer Vorabendserie
Die Handlung folgt der Logik einer Soap Opera, einer Vorabendsendung. Grob zusammengefasst: Sex, Affären, Beziehungen, Kunst, Affären und noch mehr Affären – und ein tragisches Ende. Dazwischen: ein medialer Rassismusskandal eines Modeunternehmens.
Die Firma „Banal und Bodeca“ möchte nach einer rassistischen Kampagne ihr Image mit einer medienwirksamen Idee aufpolieren. Die Idee, na klar: eine Soap in der sich die Familie besonders weltoffen präsentieren mag.
„Es ist dann so, dass die Firma eine Sendung produzieren möchte, in der sie den Sohn, also den Erben, Paul Banal, mit einem schwarzen Partner zeigen möchte und so darlegen möchte, wie ein Familienmitglied dieser Firma ja offensichtlich über alle Konventionen hinweg mit einer POC-Person in einer homosexuellen Beziehung steht.“
Eine Soap in einer Soap
Was die Familie nicht weiß: Sohn Paul führt wirklich eine On-Off-Beziehung mit einem Schwarzen Mann, nämlich Prince Okiti, Thors Bruder. Dazu spielt der Roman in einer dystopischen Schweiz. Da agiert zum Beispiel ein Bundesamt namens BARACK:
Verantwortlich für die Einteilung von Schweizer Bürgern mit Hautfarben außerhalb des eidgenössischen Hautfarbenspektrums ist das Bundesamt für die Rationalisierung Andersfarbiger anhand von Cappuccino beziehungsweise Kaffee.
Quelle: Nora Osagiobare – Daily Soap
Dazu meint die Autorin: „Ich habe schon auch einfach die Schweiz und so ihre Ordnungssucht ein bisschen zur Schau stellen wollen und habe dann einfach ein weiteres Ministerium erfunden, das diese Ordnungssucht ein bisschen auf die Spitze treibt und auch gleichzeitig ein bisschen diese Rückschrittlichkeit in politischen Themen, wie zum Beispiel Diskriminierungserfahrungen von POCs, thematisiert.“
Dystopie und Satire liegen nah beieinander
Nora Osagiobare lacht viel. Über Klischees, über die Schweizer Gesellschaft. Und über überteuerte Schnitzel. „Daily Soap“ laviert zwischen Satire und Soap, Dystopie und Gesellschaftsroman. Gewürzt mit scharfem Witz.
Bei ihr ist die Soap kein Gimmick, sondern literarisches Verfahren:
„Mich interessieren allgemein so popkulturelle Phänomene sehr stark. Also: was muss ein Kulturprodukt haben, dass es von einer so großen Menge an Menschen konsumiert wird. Ich habe auch so eine total perverse Lust an Reality-Formaten zum Beispiel. Andererseits hat mich auch mal interessiert, solche Formate zu gebrauchen, um politisch relevante Themen zu verhandeln.“
Der Roman ist temporeich und absurd, oft schrill, gespickt mit grotesken Handlungsverwicklungen, voll mit Fußnoten, Gegenwartsbeobachtungen und sprachlichen Doppeldeutigkeiten.
Frau Bodeca hat nicht damit gerechnet, selbst einmal in die Rassismusfalle zu tappen. Denn Frau Bodeca ist keine Rassistin. Sie sieht keine Farben, es sei denn, sie sind saisonal.
Quelle: Nora Osagiobare – Daily Soap
Über Rassismus lachen? Geht das überhaupt?
„Ich finde es inzwischen nur noch lächerlich, no pun intended, wenn man ernst über etwas schreibt, das man schon seit Jahrhunderten zu dekonstruieren versucht. Ich kann nicht ernst über Rassismus schreiben, weil es einfach auch extrem lächerlich ist und weil alles schon gesagt worden ist.
Es gibt nichts, was ich dem hinzufügen kann auf ernsthafter Ebene. Also ich kann nur mit der Form spielen, mit dem Ton, aber es ist alles schon gesagt worden.“
Tragik und Komik gehen bei ihr Hand in Hand:
„Das eine geht nicht ohne das andere. Also man kann wahrscheinlich eine Szene extrem tragisch formulieren über Seiten und irgendwann muss man beim Lesen oder auch beim Schreiben einfach lachen, weil es einfach so runterzieht.
Unfreiwillig, und man muss gar keinen komischen Effekt drüber legen. Man muss irgendwann wahrscheinlich lachen. Bin ich überzeugt davon. Es ist eine Frage der Zeit. Manche früher, manche später.“
Rückkehr für Schnitzel?
Ob die Autorin – wie ihre Romanfiguren – von nun an regelmäßig ins Restaurant kommen wird? „Nein, wahrscheinlich nicht. Also nicht mal, weil ich es nicht mag oder so. Es ist halt überhaupt nicht mein Milieu. Aber ich fand es schön, das mal zu penetrieren.“
Die Schnitzel jedenfalls sind aufgegessen. Lecker waren sie ja. Besonders, wenn wir uns vorstellen, dass sie schon Dürrenmatt, James Joyce, Max Frisch inspirierten. Und nun vielleicht auch Nora Osagiobare.