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Bauernproteste, deftige Reden und die These, dass "die da oben" von der Praxis einfach keine Ahnung haben. In den 1890er Jahren hat sich deshalb sogar eine Partei gegründet, der "Bayerische Bauernbund". Von Hans Hinterberger (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Hans Hinterberger
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Christian Baumann, Berenike Beschle, Werner Härtl, Christian Schuler
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
PD Dr. Johann Kirchinger, Universität Regensburg, Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Erzähler:
Das ist jetzt ein Eklat! Da steht dieser Politiker mit dem Dialekt und dem bäuerlichen, unangepassten Auftreten, vor einer jubelnden Menge und sorgt für ein Spektakel.…
Erzählerin:
Und nein! Es geht hier um keinen Politiker unserer Zeit! Wir befinden uns in Ruhpolding, Oberbayern, im Jahr 1895. Georg Eisenberger, der Bauer von Hutzenau, wird in den kommenden Jahrzehnten einer der prägenden Köpfe einer völlig neuen Partei, des „Bayerischen Bauernbundes“, sein. Soeben hat er an den Grundfesten der Staatsordnung gerüttelt.
Zitator Eisenberger:
„In dem Saal, in dem die Versammlung stattfand, waren die Bilder des Kaisers und der Kaiserin aufgehängt. Diese Bilder nahm ich weg und hängte dafür zwei Bilder von Andreas Hofer und ein Bild des unglücklichen Bayernkönigs Ludwig II. auf. Gegen mich wurde ein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung eingeleitet. Das Verfahren verlief jedoch für mich günstig…“
Erzähler:
Protest gegen „die in Berlin“, gegen die Obrigkeit und die Eliten, gern auch gegen die Pfarrer und ihre katholische Zentrumspartei, das gehört beim Bayerischen Bauernbund dazu. Ludwig Thoma hat diese Bewegung mitunter wohlwollend als volkstümlich, sympathisch, urbayerisch beschrieben. Der Historiker Dr. Johann Kirchinger, ein ausgezeichneter Kenner bayerischer Landwirtschaftsgeschichte, ist weniger romantisch.
OT Kirchinger 1
Ja, wie landwirtschaftliche Wutbürger. Sehr gewalttätig! Verbal und physisch! Ich hab so einen Versammlungsbericht aus der Frühzeit, das Bezirksamtspersonal muss die ja überwachen. Also der flieht dann, der Bezirksamtmann, dem wird das zu gefährlich. Und er schreibt: Es wurde mit harten Gegenständen geworfen.“
Erzählerin:
Georg Eisenberger zählt da noch zu den Gemäßigteren. Er wird über die gesamte Geschichte der Partei über 40 Jahre lang mit dabei sein, wird Mandate in Landtag und Reichstag erobern, bis die Machtergreifung Hitlers dem Bayerischen Bauernbund 1933 ein Ende setzt.
Erzähler:
Aber von vorne.
Musik 2
"Am Wörthsee" - Album: Rare Schellacks - München - Szenen & Vorträge 1902-1939 - Trikont Verlag - Länge: 0'35
Eigentlich hatte das flache Land in Bayern, zumindest im katholischen Bayern, schon eine Partei: Das Zentrum, die „Schwarzen“, sozusagen den entfernten Vorgänger der heutigen CSU. Der politische Katholizismus dominiert, der Klerus, Adlige und hohe Beamte haben das Sagen. Doch im Jahr 1893 bewegt sich etwas.
Musik 3
"Patchouli Oil And Karate" - Album: Waltz With Bashir - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'38
Zitator Eisenberger
“Bauern hatten aufgerufen und Bauern sind aufgebrochen um in Traunstein, in dem damals das Zentrum auf hohem Rosse saß, den Willen zur Einheit kundzutun.”
Erzähler:
Erinnert sich Georg Eisenberger an eine seiner ersten Versammlungen 1893.
Erzählerin:
Die revolutionäre Botschaft: Man brauche die alten Eliten nicht mehr! Die Bauern könnten sich selbst am besten vertreten. Ein zuvor ungekanntes Selbstbewusstsein keimt auf. Aber warum ausgerecht 1893? Im Kern geht es um eine Richtungsentscheidung deutscher Politik:
OT Kirchinger 2
Weil sich Deutschland immer mehr industrialisiert, weil die staatlichen Interessen mit den landwirtschaftlichen immer weniger oder dann auch nicht mehr identifiziert werden können. Weil es konkurrierende, industrielle Interessen gibt, Interessen der Verbraucher, der Produzenten. Da ist einfach die Frage: Will man hohe Erzeugerpreise, dass es den Landwirten gut geht? Oder will man niedrige, dass es den Arbeitern und der Industrie gut geht?
Erzählerin:
Reichskanzler Leo von Caprivi weicht den Zollschutz für landwirtschaftliche Güter auf. Jetzt sollen billige Lebensmittel aus dem Weltmarkt nach Deutschland kommen. Das Zentrum hatte dem sogar zugestimmt. Sein Plan: Möglichst konstruktiv am neuen Reich, das doch “Global Player” werden will, mitarbeiten. Nur so würde der Katholizismus im protestantisch dominierten Deutschen Kaiserreich respektiert werden.
Doch was für die Zentrumselite nach einem vernünftigen Ziel klingt, ist für viele Bauern schlicht Verrat.
Musik 4
"Subliminal" - Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'30
Erzähler:
Eine These macht sich breit: Diese Politiker hätten keine Ahnung von der Landwirtschaft. Alles abgehobene Theoretiker!
Zitator:
“Wir wollen zur Vertretung der Bauernsache keine Adeligen, keine Geistlichen, keine Doktoren und keine Professoren, sondern nur Bauern!”
Erzähler:
So fasst es der niederbayerische Bauernbündler Franz Wieland zusammen. Die Wissenschaft hat für diesen auf die eigenen Interessen fixierten Politikstil einen Namen: „Kommunalismus“.
OT Kirchinger 3
Also wenn man den Bauernbund mit einem Wort beschreiben will, von der inneren Kommunikationsstruktur her, dann ist er „kommunalistisch“. Der Bauernbund funktioniert, wie eine Gemeinde funktioniert. Es sollen über ein politisches Problem nur die bestimmen, die von dem politischen Problem auch betroffen sind. Also Bauern Agrarpolitik. Pfarrer Kirchenpolitik. Aber nicht Pfarrer Agrarpolitik. Und das ist ja ein Punkt, den man bei den Bauern immer wieder hört.“
Erzählerin:
Reine Bauernpolitik, ohne Rücksicht auf Industrie, Kirche, Stadtbevölkerung oder Weltpolitik. Und im Übrigen auch ohne Rücksicht auf die Nöte der Dienstboten auf den Höfen. Was da ab 1893 angestoßen wird, ist die vielleicht kompromissloseste Klientelpartei der bayerischen Geschichte.
Wie erfolgreich sie wird? Der Bauernbund wird es weit bringen, irgendwann sogar Teil der Bayerischen Staatsregierung sein. Und schließlich wird er ein klägliches Ende nehmen.
Musik 5
"Cauchemar de Marx" - Länge: 0'35
Erzähler:
Dass es sich hier um eine unkonventionelle Bewegung handelt, das sagt den Zeitgenossen schon Georg Eisenbergers bloßer Anblick im Landtag:
Zitator Eisenberger
„Zu meiner Wahl schrieb die Gegnerpresse: „Eisenberger in seiner Gebirgstracht hat sich von Haus zu Haus die Stimmen zusammengebettelt.“ Aber trotzdem kaufte ich mir für den Landtag keinen Zylinder und keine Manschetten, sondern ging in meiner Bergkluft zu den Sitzungen.“
Erzähler:
Wo er durch seine deftigen Reden gleich das nächste Spektakel bietet. Zum alleinigen Anführer des Bauernbunds wird er aber nie, schon allein, weil Bauer nicht gleich Bauer ist. Eisenbergers Hof in den Bergen ist klein, kann nur durch die Zuarbeit im Forst überhaupt überleben.
Zitator Eisenberger:
„Die Bauern in Ruhpolding wie in anderen Gebirgsorten können ihre Existenz nur durch ernste Arbeitssamkeit und großen Fleiß erhalten“
Erzähler:
Als Knabe hätte der wissbegierige Eisenberger, den seine Gegner später als kirchenfeindlichen Antichristen beschimpfen, gern Pfarrer werden wollen – aber das Geld war zu knapp. Franz Wieland wiederum, prominenter Kopf der Gründungszeit, ist niederbayerischer Getreidebauer, sozusagen ein Großunternehmer, und denkt in ganz anderen Dimensionen.
Erzählerin:
Solche Unterschiede werden immer wieder zu Abspaltungen, Streit und Alleingängen führen. Der Bauernbund, das ist oft mehr Anarchie als eine straff geführte Partei. Einigender Kit bleibt die Abneigung gegen die politischen Eliten, die bisher die Landwirtschaftspolitik prägen. Und dabei gibt man sich äußerst respektlos:
OT Kirchinger 4
„Der Landwirtschaftliche Verein in München hält eine Generalversammlung. Da ist immerhin der Innenminister Vorsitzender, Prinz Ludwig, der spätere König Ludwig III., ist Schirmherr. Und da nimmt einfach dieser Wieland einen Zug voll Bauern, die fahren nach München und sprengen die Versammlung. Vom Innenminister und vom Prinz Ludwig. Die reden grad über Kalkdüngung, dann kommen die Bündler und sagen: Wir reden jetzt mal über den Getreidepreis. Und wenn wir fertig sind, dann könnt ihr wieder über Kalkdüngung reden!“
Erzähler:
Und doch werden sie diesen Anspruch der Politik von Bauern für Bauern ganz ohne Eliten nie erfüllen. Mit Georg Ratzinger, Theologe und Großonkel des späteren Papstes Benedikt, führt zunächst ein Akademiker die Fraktion im Landtag. Auch einige Lehrer und Journalisten werden ihren Platz finden. Bisweilen sind es unbequeme, auffällig antisemitische Geister, die in anderen Parteien keinen Erfolg hatten.
Erzählerin:
Noch einem Anspruch werden die Bündler nie gerecht: Dem Plan, dass sie die alleinige Vertretung der Bauernschaft werden könnten.
Musik 6
"Cauchemar de Marx" - Länge: 0'20
Zitator Eisenberger
„Wenn die Bauern und der Mittelstand einig werden, wird es eine Macht, dann ist es mit der Schwarzen Macht vorbei!“
Erzählerin:
So Georg Eisenbergers Kampfansage. Doch der politische Platzhirsch, das Zentrum, hatte dieser Konkurrenzgründung nicht tatenlos zugesehen. „Die Schwarzen“ rufen einen „Christlichen Bauernverein“ ins Leben. An dessen Spitze haben einfache Bauern zwar nach wie vor nichts zu melden, dafür aber gibt es dort den überaus talentierten Ökonomen Dr. Georg Heim, genannt „Der Bauerndoktor“.
OT Kirchinger 5
Georg Heim dann mit seinen Bauernvereinen, die eine völlig andere Art der Interessenvertretung sind wie der Bauernbund – eben keine Partei. Und die die Bauern wieder zurückholen wollen zum politischen Katholizismus, über die Vermittlung konkreter Vorteile für die Bauern in Form von betriebswirtschaftlicher Beratung, juristischer Beratung und von Lagerhäusern, also gemeinsamer Vermarktung. Und das ist ziemlich erfolgreich.“
Erzähler:
Der Bauernbund wird deshalb bei Wahlen nie an das Zentrum herankommen. Nur Protest funktioniert eben auch nicht, so die Einsicht vieler Wähler.
OT Kirchinger 6
Naja, die Bauernbündler haben das nicht eingesehen, dass das nicht funktioniert. (lacht) Der Heim hat das eingesehen, dass das nicht funktioniert…“
Erzählerin:
Der von den Pfarrern unterstützte Christliche Bauernverein und der Bayerische Bauernbund stehen sich über Jahrzehnte in herzlicher Abneigung gegenüber.
Musik 7
"Patchouli Oil And Karate" - Album: Waltz With Bashir - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'32
Erzählerin:
Beide buhlen um die Gunst auf dem Land. Die Bündler setzen auf das immer etwas lautere Auftreten. Gegen die Beamten, gegen die Großmachtpolitik Berlins, aber auch gegen die Pfarrer. Ihre Versammlungen sind Spektakel. Der politische Aschermittwoch in Niederbayern ist nicht umsonst keine Erfindung der CSU, sondern des Bayerischen Bauernbundes.
Erzähler:
Doch was tun diese Aufmüpfigen, wenn es zu einer Revolution kommt, wie 1918? Wo stehen sie, wenn es um die Frage von Monarchie, Demokratie oder auch Sozialistischer Räterepublik geht? Die kurze Antwort: Es ist ihnen völlig egal!
Erzählerin:
Am 29. Oktober 1918 sendet die Generalversammlung des Bauernbunds zwar noch ein Ergebenheitstelegramm an König Ludwig III. - Tage später aber wird sich der Bauernbund dem Revolutionär Kurt Eisner anschließen.…
OT Kirchinger 7 (1130)
„Also eine monarchistische Einstellung haben die nicht, das war zu fern, die hatten ja alle mit dem Überleben zu tun.“
Erzählerin:
Dass der Bauernbund in der Regierung Eisner dafür sorgt, dass die Bauerninteressen nicht untergehen, schien wichtiger als jede Frage der Staatsform.
Erzähler:
Insbesondere der niederbayerische Flügel unter dem Gutbesitzer Karl Gandorfer spielt hier eine Rolle. Ohne ihn hätte es die Revolution womöglich gar nicht gegeben. Kurt Eisner hatte Gandorfer nämlich am 6. November, kurz vor der Revolution, auf dessen Hof in Pfaffenberg besucht und eine elementar wichtige Zusicherung erhalten: München würde im Falle der Revolution weiter mit ausreichend Lebensmitteln versorgt.
Musik 8:
"Subliminal" - Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'16
Zitator:
„Mehr als vier Jahre hat man das Volk getäuscht, das Blut von Hunderttausenden sinnlos vergossen. Bauern, Bauernbündler! Eure Stunde ist gekommen! Erkennet die Zeichen der Zeit!“
Erzählerin:
So Gandorfer. Der Bauernbund also plötzlich auf Seiten des Sozialismus und der Räterepublik?
Erzähler:
Nun ja, nicht ganz. Wie so oft hat die Partei keine einheitliche Linie. Am selben Tag, an dem Eisner in Pfaffenberg war, lehnt Georg Eisenberger eine Revolution noch entschieden ab. Seine erste Begegnung mit dem Ministerpräsidenten Eisner beschreibt Eisenberger voller Abneigung:
Musik 9
"Subliminal" - Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'20
Zitator Eisenberger
„Als wir in den Sitzungssaal kamen, sahen wir zunächst den Juden Kurt Eisner mit seinem staubigen Vollbart auf dem Präsidentenstuhl sitzen. Das große Portrait von König Max II. dahinter war in einem roten Tuch verhüllt. Das war auch besser, sonst hätte er sich als Gemalener gespieen.“
Erzählerin:
Doch auch Karl Gandorfers Neigung zum Sozialismus entpuppt sich bei näherer Betrachtung als fragwürdig. Zwar fordert er die …
Zitator:
„Vermehrung der kleinbäuerlichen Betriebe durch Aufteilung großer Güter über 1000 Tagwerk.“
Erzählerin:
also die Zerschlagung des Großgrundbesitzes. Wie der Zufall es aber wollte, hatte Gandorfers eigenes Gut etwas UNTER 1000 Tagwerk. Er selbst wäre von dieser Maßnahme nicht betroffen gewesen und sogar in die Kaste der größten privaten Grundbesitzer Bayerns aufgestiegen. Eigennutz vor Ideologie!
Erzähler:
So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Bündler nach der linken Revolution ohne weiteres in die stark rechts orientierte „Ordnungszelle Bayern“ einfügen. Jetzt sogar als Regierungspartei, als Koalitionspartner des mittlerweile in „Bayerische Volkspartei“ umbenannten Zentrums.
Erzählerin:
Johannes Wutzlhofer, ein Genossenschaftsdirektor aus Straubing, wird 1920 Bayerischer Landwirtschaftsminister. Und Anton Fehr, ein Professor des milchwirtschaftlichen Instituts in Weihenstephan, wird 1922 sogar zum Reichslandwirtschaftsminister ernannt.
Erzähler:
Erneut gibt es also Widersprüchlichkeiten. Offenkundig sind die beiden keine Bauern, anders als der Gründungsgedanke des Bundes es verlangen würde. Außerdem hindert die Regierungsbeteiligung den Bauernbund keinen Moment lang, draußen auf dem Land weiter als populistische Opposition aufzutreten. So meldet die Regierung von Niederbayern 1925:
Zitator
„Die radikalen Bauernbundsführer nutzen die Lage zur skrupellosen Verhetzung der Bauern und leider mit bestem Erfolg.“
Erzähler:
Und 1927:
Zitator
„Die Tätigkeit der radikalen Bauernbundesführer und ihrer Presse besteht in einer systematischen Hetze schlimmster Art. Immer wieder wird den Bauern eingehämmert, dass die Staatsregierung für die notleidenen Bauern kein Verständnis habe.“
OT Kirchinger 8
„Der radikale Flügel um Gandorfer macht in der Wirtschaftskrise immer wieder Streikaufrufe. Jetzt hungern wir die Städter aus! Auf der einen Seite ist der Reichslandwirtschaftsminister ein Bauernbündler, auf der anderen Seite will er gegen den Reichslandwirtschaftsminister streiken.“
Erzähler:
Immer etwas lauter und schärfer als der Christliche Bauernverein! Der verstand es zwar auch, energisch bäuerliche Forderungen zu erheben, aber sein Vorsitzender Georg Heim war nun mal auch Begründer der Bayerischen Volkspartei. Und die BVP will nun einmal nicht nur Bauern, sondern auch städtische Wähler gewinnen, will Kontakte zu Industrie und Arbeiterschaft pflegen, will Deutschlandpolitik betreiben.
Erzählerin:
Für den Bauernbund aber gilt konsequent: Die bäuerlichen Interessen kommen zuerst! Während der Inflation zu Beginn der 1920er Jahre werden Lebensmittel immer knapper, auch weil die Bauern im Austausch für die wertlose Reichsmark immer weniger abgeben wollen. Den Städten drohen Hunger und Elend. Trotzdem nimmt der bauernbündlerische Landwirtschaftsminister konsequent die Bauern in Schutz, weigert sich im Kabinett bisweilen sogar, das Problem überhaupt anzuerkennen.
Erzähler:
Als die Regierung 1930 eine neue Schlachtsteuer anstrebt, lässt der Bauernbund aus Protest sogar seine Regierungsverantwortung fallen und geht in die Opposition.
Erzählerin:
Obwohl das Bayern in eine schwierige Lage bringt. Ministerpräsident Heinrich Held von der BVP regiert fortan nur mehr mit einem Minderheitskabinett. Er versucht den Freistaat vor einer Machtübernahme durch Hitlers Nationalsozialisten zu schützen. Doch 1933 ist dieser Versuch gescheitert. Das demokratische Bayern endet.
Erzähler:
Und wie verhalten sich die Bauernbündler?
OT Kirchinger 9
„So wurst ihnen der König war 1918, so wurst war ihnen die Demokratie 1933. (..) Ohne die weltanschauliche Bindung war der Bund mit die erste Organisation, die untergegangen ist unter dem Druck der Nazis. Viele, viele Bauernbündler und bauernbündlerische Abgeordnete machen dann im dritten Reich auch Karriere.“
Musik 10
"Maschine" - Komponist und Ausführender: Martin Todsharow - Album: Der Hauptmann (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'43
Erzählerin:
Die Presse des Bauernbundes hatte zwar bis 1933 offiziell gegen die
Zitator
„Nazi-Mordgesellen“
Erzählerin:
und den
Zitator
„braunen Sumpf“
Erzählerin:
angeschrieben, doch spätestens nach der Machtergreifung wird den Mitgliedern nahegelegt, die Bauernsache künftig in der NSDAP zu vertreten. Massenhaft treten Bauernbündler über. Das vormals bündlerische „Landauer Volksblatt“ schreibt im April 1933:
Zitator
„Die Leitidee Wielands, des alten Bauernführers, hat mit dem Steg Adolf Hitlers – des Schmiedes des neuen Reiches – ihre Verwirklichung gefunden. Und wenn Wieland heute noch lebte, würde er wohl segnend die Hände halten über das nun gelungene Werk.“
Erzähler:
Der bewusste Verzicht auf höhere Ideologie und höhere Grundsätze hat die Bauernbündler einst dazu bewogen in die Politik zu gehen, selbstbewusst gegenüber dem monarchischen Obrigkeitsstaat zu sein. Aber er hat nicht dabei geholfen, diese Demokratie auch zu verteidigen.
Erzählerin:
Auch der inzwischen über 70jährige Georg Eisenberger wird sich, nach Jahrzehnten im Landtag und Reichstag und nachdem er die Nazis lange politisch bekämpft hatte, als zurückgezogener Austragsbauer noch der NSDAP anschließen. Öffentlich aktiv wird er aber nicht mehr.
Erzähler:
Und nach dem Krieg? Eine direkte Nachfolgepartei des Bauernbundes gibt es nicht. Wer von den alten Mitgliedern noch aktiv wird, wird der CSU beitreten, nicht aber der kleineren Bayernpartei. Denn die stellt mit der „Unabhängigkeit Bayerns“ ja ein hohes politisches Ziel über bäuerliche Alltagssorgen – und so etwas ist einem Bauernbündler nun mal befremdlich.
Erzählerin:
Erst viel später, als der Bauernbund längst vergessen scheint, tritt eine politische Kraft auf die Bühne, die für Dr. Johann Kirchinger zumindest in Ansätzen dem Bauernbund ähnelt: Die Freien Wähler.
OT Kirchinger 10
Von dem Kommunalistischen her auf jeden Fall. Von der kommunalistischen Einstellung her, dass die wahre Politik in den Gemeinden stattfindet und Landespolitik eigentlich auch so funktionieren soll, wie in der Gemeinde. Dass die Sachpolitik im Vordergrund stehen soll und nicht die Ideologie, was ja auch eine Ideologie ist, sind das strukturelle Forderungen, kommunikative Forderungen, die dem Bayerischen Bauernbund und den Freien Wählern gemeinsam sind.
Erzählerin:
Zufall oder nicht: Bei der Landtagswahl 2023 decken sich die Hochburgen der Freien Wähler – meist sehr ländlich geprägte Wahlkreise - auffällig mit denen des Bauernbundes viele Jahrzehnte zuvor. Und seine Rede zum politischen Aschermittwoch 2024 eröffnet Hubert Aiwanger mit einem Verweis auf den Bauernbund.
OT Aiwanger 1
„Der erste politische Aschermittwoch hat 1919 stattgefunden in Vilshofen, organisiert vom Bauernbund damals, um nach dem ersten Weltkrieg sich wieder zu orientieren, wieder zu diskutieren, wohin sich das Land entwickeln soll.“
Kirchenglocken und Trauermarsch/geräusch
Erzähler:
Georg Eisenberger wird das alles natürlich nicht mehr erleben. Die schillernde Figur des Bauernbundes wird Anfang Mai 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, in Ruhpolding zu Grabe getragen. Das Donnern, das währenddessen zu hören ist, kommt nicht etwa von einer einfachen Salutkanone, sondern von der gleichzeitig auf Ruhpolding vorrückenden US-Army. „Er braucht halt immer ein besonderes Spektakel!“, so haben die Ruhpoldinger später gesagt.
Runzelig, schuppig oder glatt - die Borke verrät die Baumart!Sie schützt den Baum vor Hitze, Kälte und Fressfeinden, sie ernährt ihn mit Wasser und Nährstoffen und bietet Käfern und Vögeln einen Lebensraum. Künstler sind fasziniert von der Schönheit ihrer Struktur: Die Baumrinde ist mehr als die Haut der Bäume. Von Kirsten Zesewitz (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Kirsten Zesewitz
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Susanne Schroeder
Technik: Robin Auld
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Norbert Wimmer, LWF;
Birgitta Volz, Künstlerin;
Martin Gebhardt, Survival-Trainer
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO 1 WALD
Musik 1: Boundless beauty – C1549590104 – 1:10 Min
SPRECHERIN
Tiefe Risse ziehen sich den Baumstamm empor, mächtige Furchen – Furchen, wie ein Canyon, ein Gebirge, ein tief gepflügter Acker. Eine Landschaft in der Vertikalen, denn die Furchen gehören zu einer alten Pappel.
Ihre Borke ist ein Kunstwerk, sie zieht die Blicke auf sich. Vor allem im Winter: Es gibt nichts, was ablenkt. Im Frühling stehen die Knospen im Fokus, sie verheißen neues Leben, Wachstum. Im Sommer geht der Blick in die Baumkrone, zu den grünen, schattenspendenden Blättern – und im Herbst zu ihrem bunten Laub.
Erst, wenn aller Schmuck gefallen ist, kommt die große Zeit der Borke. Sie weiß natürlich das ganze Jahr über mit Strukturen, Farben und Schattierungen zu überzeugen – es sieht nur kaum einer. Außer: Menschen, deren Augen geschult sind. Förster (wie Norbert Wimmer), zum Beispiel.
OT 1 Norbert Wimmer
Das ist hier von der Rinde her mein Lieblingsbaum: ein älterer Bergahorn, der wirklich so eine schöne, fantastisch variationenreiche, plattige Rindenstruktur ausgebildet hat. Die wird auch im Alter immer noch ästhetischer und mit vielen abplattenden Teilen... Da ist sehr vieles verborgen. Sie sehen, es sind ganz feine enge Ritzen und das sind natürlich super Verstecke für Spinnen und Käfer und Raupen...
ATMO 3-4 Abknipsen Borke
SPRECHERIN
Norbert Wimmer puhlt ein Stück Rinde ab und zeigt auf die Wollreste an der Innenseite: Unter der Rinde des Ahorns war mal ein Spinnennest. Der Förster würde am liebsten sofort weitersuchen, denn hier, in den alten Bäumen unweit des oberfränkischen Klosters Banz gibt es unzählige Verstecke, Nester und Höhlen…
Aber der Reihe nach: Vor Schönheit und Artenvielfalt gilt es zunächst zu klären: Was ist das eigentlich, die Borke?
OT 2 Norbert Wimmer
Die Borke ist diese abgestorbene Substanz rund um den Baum, die also überhaupt keine lebenden Zellen mehr hat und eigentlich nur noch als Schutz dient. Wenn das verletzt wird, gibt es Eintrittspforten für Pilze. Und das ist natürlich ein Problem für den Baum. Also im Grunde dient die Borke dazu, diesen Baum, diesen Stamm, aber auch sämtliche Äste usw. vor mechanischen Schäden zu schützen.
ATMO Wald +
Musik 2: Crystal palace i – C1572130101 – 58 Sek
SPRECHERIN
Bäume trotzen mit ihrer dicken Borke täglich dem Wetter: Regen, Sonne, Wind und Hagel – sie ist der Schutzwall und, ja, sowas wie die äußere Haut des Baumes.
Nach innen schließt sich die wenige Millimeter dünne Bastschicht an – das Leitungsgewebe: Der Bast transportiert die für den Baum lebenswichtigen Zuckerlösungen durch den Stamm: Im Frühling von der Wurzel in die Krone, wo Energie für das Öffnen der Knospen gebraucht wird – im Sommer von der Krone in die Wurzel, wo die Produkte der Photosynthese gespeichert werden. Borke und Bast sind zusammen: die Rinde.
Musik 3: Crystal palace xxii - C1572130122 – 38 Sek
SPRECHERIN
Unter dem Bast liegt das Kambium, die aktive, lebendige Wachstumsschicht des Baumes. Das Kambium bildet permanent neue Holzzellen nach innen und Bastzellen nach außen – auf diese Weise wird der Baum dicker, er wächst in die Breite. Nach innen folgen Splintholz, Kernholz und Mark im Zentrum des Baumstammes; fernab der Rinde und: gut geschützt.
Mit zunehmendem Alter der Bäume werden die Schichten abgestorbener Zellen immer dicker und zerreißen zu Platten, Streifen oder tiefen Furchen – das typische Borkenmuster der Baumart entsteht. Es gibt ihr auch einen Charakter.
OT 3 Norbert Wimmer
Die Borke verändert sich sehr stark bei manchen Baumarten. Bei manchen Baumarten bleibt sie lange ähnlich, zum Beispiel bei der Rotbuche. Irgendwann so mit 150, 160 Jahren Alter kommt dann eben dieser Sprung, wo die Borke aufreißt. Beim Spitzahorn beginnt es viel eher und wird auch dann noch viel auffälliger.
SPRECHERIN
Die Borke verrät die Baumart. Also, fast. Denn manche Borken sind sich in bestimmten Lebensphasen so ähnlich, dass selbst ein Förster eine alte, tief gefurchte Linde kaum von einer Eiche unterscheiden kann. Jenseits von so unverwechselbaren Borken wie der schwarz-weiß gefärbten Birke, gibt es grobrissige Bäume wie die Douglasie, schuppenartige wie die Kiefer oder glatte wie die Hainbuche.
MUSIK 4: Two by two – Z8042455103 – 1:03 Min
SPRECHERIN
Der französische Fotograf und Landschaftsarchitekt Cedric Pollet hat daraus eine eigene Kunst gemacht – und die halbe Welt bereist, um auf allen Kontinenten die wundersamsten Rinden zu fotografieren. Kunstwerke der Natur. Verrücktheiten. Farb- und Formexplosionen. Entstanden sind mehrere Ausstellungen und ein dicker Fotoband nur über: „Rinden“.
Da wetteifern regenbogenfarbene Eukalyptusrinden mit leuchtend roten Erdbeerbäumen, die platten Schuppen französischer Platanen mit den adrett gekämmten Rillen englischer Edelkastanien. Archaisch mutet dagegen der Küstenmammutbaum an – ein wildes, tief gefaltetes Gebirge hölzerner Borkenstrukturen...
ATMO 5 Gang in Keller (Treppe) + ATMO 6
SPRECHERIN (Anm.: Volz sprich: „Folz“)
Mit solch tiefen Furchen kann Birgitta Volz allerdings wenig anfangen, auch trutzige Eichen sind ihr ein Graus. Die Künstlerin bestreicht die Stämme von Bäumen mit einer organischen Ölfarbe, drückt ein Vlies darauf und erhält so Abdrucke ihrer Borke. In teilweise meterhohen Dimensionen. Dafür steigt die 60-Jährige auch mal auf eine Leiter. Allerdings: Für ihre kunstvollen Rindendrucke braucht Birgitta Volz Bäume mit einer vergleichsweise glatten Rinde: Buchen, Linden oder Kastanien.
OT 4 Birgitta Volz
Wenn die Borke sehr expressiv ist, hat die ja oft sehr, sehr hohe Niveauunterschiede, und das druckt extrem schlecht. Das heißt, je schicker die Borke aussieht, desto schwieriger ist, die zu drucken. Und es kommen oft vollkommen andere Sachen raus. Also eigentlich ist es vollkommen unvorhersehbar, was da passiert und für mich reine Magie.
ATMO 7 Schubladen öffnen, kramen in Drucken
SPRECHERIN
Im Keller des elterlichen Hauses in Nürnberg ist ihr Depot: Hier lagern Rindendrucke aus 30 Jahren künstlerischen Schaffens. Birgitta Volz zieht eine Schublade nach der anderen heraus:
ATMO 7 kurz hoch Schubladen öffnen, kramen in Drucken
SPRECHERIN
Die Drucke lagern in speziellen Schränken, einige hängen über Verstrebungen an der Decke, wieder andere stehen in meterhohen Rollen in der Ecke des Kellers.
OT 6 (ATMO-OT FREI STEHEND - mit ATMO vorne dran)
Hier ist zum Beispiel Holzwurmfraß, da sieht man was für schöne Strukturen die machen…
ATMO 7 Schubladen öffnen, kramen in Drucken
SPRECHERIN
Birgitta Volz hat ein Jahr lang an den Bäumen im alten Hainpark der Stadt Bamberg gearbeitet, ihre Rindenmuster in Drucken verewigt. Eine Ausstellung ist daraus entstanden: „Lineamenta arborum – Die Gesichtszüge der Bäume.“
OT 8 Birgitta Volz
Die Birke macht oft sehr schöne dekorative Schwarz-Weiß-Muster. Und die Kirschen, die machen fast Musik. Die haben diese wunderbaren Linien und Punkte. Das ist wirklich wie so ein Rhythmus, wie eine Komposition. Buchen haben sehr gegenständlichen Ausdruck und auch sehr viel Schnitzereien drinnen. Fichten sind unwahrscheinlich kleinteilig, die haben lauter Punkte. Da kann man dann so einen richtigen Impressionismus draus machen…
Musik 5: Across the aisle – Z8042455104 – 31 Sek
SPRECHERIN
Viele der Muster haben etwas Grafisches, es sind Wellenbewegungen, Dreiecksformen, Trapeze… Bei längerem Hinschauen werden jedoch auch Figuren sichtbar: Gesichter, Körper, mythische Gestalten. Eine alte Salweide im Alpenvorland hat es Birgitta Volz besonders angetan, ihre Rinde hat die Künstlerin schon mehrmals gedruckt…
OT 9 Birgitta Volz
Ich zeige Ihnen mal die schönen Hexen, die sind auch von meiner Salweide. Das Bild ist 1,20 Meter. Und es ist genauso von der Rinde gekommen, wie es hier ist. Hier haben wir mehrere Hexen drauf. Also hier ist nun eine schöne junge mit wehenden Haaren. Da ist eine, die ist richtig unheimlich, die ist fast wie so ein Zombie-Schädel. Und wenn man länger schaut, findet man überall noch kleinere Gesichter drauf. Ich bin immer wieder fassungslos, wenn das ohne mein Zutun von der Rinde kommt.
ATMO 8 rascheln (kurz) und ATMO 7 (Schubladen)
SPRECHERIN
Birgitta Volz legt die Blätter vorsichtig in ihre Mappen zurück, zu den anderen mythischen Gestalten in ihrem Archiv.
Die Künstlerin glaubt, dass Bäume ein Gedächtnis haben. Sie können mehrere hundert Jahre alt werden – und während dieser langen Lebenszeit sind sie Zeugen unzähliger historischer Ereignisse oder lokaler Begebenheiten…
OT 10 Birgitta Volz
Ich bin mittlerweile nach 30 Jahren Arbeit in dem Bereich davon überzeugt, dass unsere Umgebung wie eine Speicherkarte funktioniert. Nicht nur Bäume, sondern auch Steine oder sogar alte Mauern, die von Menschen gemacht wurden – die gesamte Umgebung kann ein Speicher der Ereignisse oder des kulturellen Gedächtnisses sein.
MUSIK 6: Crystal palace i – siehe vorn – 19 Sek
SPRECHERIN
Gedächtnis, Haut oder gar Gesicht des Baumes: Botanisch gesehen, ist die Borke zuallererst ein Schutz. Was (passiert) aber, wenn diese trutzige, robuste Schutzschicht verletzt wird?
ATMO Wald
SPRECHERIN
Zurück in den Wald nahe des oberfränkischen Klosters Banz und zu Norbert Wimmer. Der Förster hat eine Lärche entdeckt, die bei Holzarbeiten einige Blessuren davongetragen hat. Eine große Wunde klafft in ihrer Rinde – dort, wo der gefällte Nachbarbaum sie wohl gestreift haben könnte.
OT 11 Norbert Wimmer
Schmerzen im menschlichen Sinne haben Bäume nicht, da sie einfach neurologisch überhaupt nicht dazu ausgestattet sind. Dem Baum tut es nicht weh. Aber es bringt ihm Nachteile, eben, dass zum Beispiel Pilze eintreten können, weil Pilze warten nur darauf, an dieses Holz, an diesen irrsinnigen Energiespeicher, der da über Jahrzehnte aufgebaut wurde, ranzukommen, dort ihr Myzel reinwachsen zu lassen und diese Sonnenenergie - gebunden in Holz – für sich zu nutzen.
ATMO Wald
SPRECHERIN
Es gibt nur einen Ausweg: der Baum muss die Wunde so schnell wie möglich schließen. Und das tut er mit Hilfe seines Kambiums, der Wachstumsschicht. Das Kambium bildet neue Holzzellen, die sich von außen nach innen über die Wunde schieben. Wie ein Wulst. Jeder hat wohl schon einmal eingewachsene Wanderschilder oder Nägel gesehen – Ergebnisse der baumeigenen Hautheilung.
Der Heilungsprozess dauert oft Jahre oder Jahrzehnte und manchmal schafft es der Baum auch gar nicht – entweder, weil die Wunde zu groß ist oder: weil sie immer wieder aufgerissen wird…
ATMO knisternde Schritte
SPRECHERIN
Norbert Wimmer stapft zu einer alten Buche und schaut durch sein Fernglas nach oben. In gut 15 Metern Höhe sind zwei große Höhleneingänge im Stamm.
OT 12 Norbert Wimmer
Die hat der Schwarzspecht gebaut und hat sie auch jahrelang als Nisthöhle benutzt. Dann ist die Hohltaube eingezogen... Jetzt ist es aber so, wie Sie sehen, sind diese Höhlen in einer vitalen Rotbuche. Das heißt, jedes Jahr wird ein neuer Jahrring gebildet und unmerklich wird dieser Baum dicker. Würde niemand was da oben machen, (an diesen zwei Höhleneingängen) würden die in 20 Jahren komplett zuwachsen. Jetzt kommt aber der Schwarzspecht jedes Jahr mal vorbei und erweitert diese Höhleneingänge wieder. Manche Höhlen nutzt er tatsächlich nicht mehr, die überwallen dann. Und das ist die Stunde zum Beispiel für Fledermäuse! Oder für seltene Käferarten wie den Eremiten, der in solchen riesigen Höhlen lebt. Deswegen ist es oft so, dass in scheinbar gesunden Bäumen (durch dieses Überwallen) riesige Höhlen sich im Innern befinden, von denen wir gar nichts ahnen.
ATMO Wald
ATMO knisternde Schritte/ Schritte auf Laub
SPRECHERIN
(Man merkt,) Norbert Wimmer ist kein Förster, der Stammlängen vermisst und die Holzpreise auswendig kennt: Der dunkelhaarige Mann in T-Shirt und Stoffhose ist an der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft für den Naturschutz zuständig. Ein Fernglas baumelt um seinen Hals.
ATMO Wald, knisternde Schritte
SPRECHERIN
Hier, im ehemaligen Klosterwald der Zisterzienser gibt es noch viele alte Bäume – und Strukturen, die ganz verschiedenen Tier- und Pflanzenarten einen Lebensraum bieten.
Es sind tatsächlich die rissigen, löchrigen, unperfekten Bäume, unter deren Rinde das Leben tobt.
OT 13.2 Norbert Wimmer
Je grobborkiger, desto mehr! Desto mehr Möglichkeiten bieten sie für verschiedene Bewohner.
Musik 7: Across the aisle – siehe vorn – 37 Sek
SPRECHERIN
Unzählige Käfer, Wanzen, Spinnen und Fledermäuse leben unter der Borke, vom menschlichen Auge unbemerkt, in winzigen Ritzen, Spalten und Löchern. Laut Bund Naturschutz sind rund ein Viertel aller in Deutschland vorkommenden Käferarten auf diesen Lebensraum angewiesen. Hinzu kommen hunderte Pilze, Moose und Flechten, die vor allem ältere Borken besiedeln und so weitere Biotope für Spring-schwänze, Moostiere und mikroskopisch kleine Würmchen schaffen.
OT 14 Norbert Wimmer
An einer alten 300-jährigen Eiche, da ist eigentlich immer irgendwas zu beobachten. Da kommt zum Beispiel der Mittelspecht vorbei. Dann kommt vielleicht auch in so Uraltbäumen eine Nymphenfledermaus, die wirklich so klein ist, dass sie in so eine Rindenritze passt…
ATMO Wald + Musik 8: Crystal palace xxii – siehe vorn – 53 Sek
SPRECHERIN
Jeder Waldbesitzer, der in den letzten Jahren mitansehen musste, wie seine Fichten (durch Schädlingsbefall) starben, wird an dieser Stelle einen Bewohner der Baumrinde vermissen: den Borkenkäfer. Gehasst und bekämpft – aber im Grunde genommen auch nur: ein Insekt, das sich von Rinde ernährt.
Der Borkenkäfer bohrt sich vor allem in Fichten ein und legt unter der Rinde sein sehr beeindruckendes System von Fraß- und Geburtsgängen an. Das Problem: Er zerstört den Bast, die lebenswichtige Leitungsbahn, in der die Nährstoffe zwischen Wurzel und Krone transportiert werden. Der Baum stirbt.
Norbert Wimmer möchte lieber über einen anderen Rindenfresser sprechen: den Biber.
OT 15 Norbert Wimmer
Viele glauben, der Biber frisst Holz, nein, er frisst tatsächlich die Rinde. Also nicht diese Borke, sondern dieses Bastgewebe, das sehr zellulosehaltig ist, das leichter verdaulich ist wie Holz. Und das auch nur als Winternahrung. Letztendlich gibt es nur ganz wenige Organismen, die Holz verdauen können. Das sind Pilze, und das sind wirklich nur ganz wenige Käfer, die entsprechende Zellulasen im Darm haben. Und erst wenn dieses Holz mal vorverdaut ist, dann können andere Insekten die Pilzkörper besiedeln. Aber Holz zu zersetzen ist eine ganz andere Nummer als diese zellulosehaltige Bastschicht zu verdauen.
MUSIK 9: long forgotten future – Z8018372104 – 23 Sek
ATMO Wald_5 (Wuhlheide)
SPRECHERIN
Von Oberfranken nach Berlin. Martin Gebhardt hatte die Wuhlheide im Südosten Berlins als Treffpunkt vorgeschlagen. Hier macht der Survival-Trainer auch einige seiner Kurse: bringt Leuten bei, wie sie in einer echten Wildnis überleben können. Zum Beispiel, mit Hilfe von Baumrinde.
OT 16 Martin Gebhardt
Ich würde als Allererstes, wenn ich nach Rinde zum Essen suche, erst mal alle Bäume aussortieren, die giftig sind, wie zum Beispiel die Eibe oder die Robinie, da würde ich die Finger davonlassen und dann schauen nach Bäumen wie Weide, Linde oder Birke. Das sind so die Bäume, wo es erstens nicht unangenehm schmeckt, zum Beispiel nach zu viel Gerbsäure wie bei der Eiche, und wo es sicher ist, das zu essen.
ATMO 10 (kurz) + ATMO Schälen (Archiv)
SPRECHERIN
Martin Gebhardt kramt ein Taschenmesser aus seiner Gürteltasche. Er hat einen gut 5 Zentimeter dicken Ahornast vom Waldboden aufgelesen und fängt an, die äußere Rinde abzuschälen. Für seine Kurse würde der 42-Jährige niemals einen Baum verletzen: Um zu lernen, wie man aus Rinde Mehl gewinnt oder Spaghetti kocht, reicht ein Ast, sagt Gebhardt. Vorsichtig säbelt er die äußere Rindenschicht ab…
OT 17 Martin Gebhardt
Und dann kommt hier untendrunter der Bast zum Vorschein. Der ist auch sehr dünn. Den sieht man hier fast nicht. Und – jetzt haben wir so eine grüne Schicht und idealerweise zieht man, wenn es geht, die Rinde ab mit der Hand, weil, dann kommt das Kambium an der Holzschicht zum Vorschein.
SPRECHERIN
Anders als Hirsch und Borkenkäfer kann der menschliche Magen den Bast, also das zellulosehaltige Leitungsgewebe nicht gut verdauen, die Holzfasern erst recht nicht – was geht, ist das Kambium, die Wachstumsschicht des Baumes.
Martin Gebhard steckt sich eine fingerhutgroße Portion Kambium-Raspel in den Mund.
ATMO 11 FREI „hm…“
OT 18 Martin Gebhardt
Es schmeckt manchmal nach Baum, so ein bisschen erdig. Wenn man jetzt zum Beispiel Kiefern nutzt, dann schmeckt das Kambium auch manchmal ein bisschen harzig, ist nicht jedermanns Sache. Aber wenn man zum Beispiel das Kambium nutzt von der Linde, der Weide oder der Birke, dann schmeckt das recht neutral – wie man ein Birkenblatt essen würde, ein frisches. Und wenn man merkt, das ist jetzt total zäh und man kriegt es mit seinen Zähnen überhaupt nicht klein, dann hat man sehr wahrscheinlich den Bast mit erwischt, oder Holzfasern. Das ist nicht schlimm, da werden wir nicht von umkommen, aber es muss einem klar sein, dass wir es nicht verdauen können.
SPRECHERIN
Das Kambium dagegen schon – und es bringt sogar einiges an Energie: 80-100 Kilokarien pro 100 Gramm, um einige Tage zu überleben, könnte es helfen. Kambium enthält Stärke, also Zucker, Vitamine, Mineralien und Ballaststoffe.
Mit einer Feuerstelle eröffnen sich allerdings noch einmal ganz andere Möglichkeiten: In Streifen geschnitten, lässt sich Kambium nämlich auch als Spaghetti kochen oder wie Schinken anbraten.
ATMO Schälen + Wald kurz hoch
SPRECHERIN
Martin Gebhardt steckt sich eine lange Haarsträhne hinter die Ohren: Der stämmige Mann mit grauem Vollbart, Pferdeschwanz und Brille kommt ursprünglich aus der IT-Branche; inzwischen lebt der Familienvater von seinen Bushcraft-Seminaren. Der Begriff „Bushcraft“ bedeutet frei übersetzt, die Fähigkeit, das Handwerk, mit nur wenig Ausrüstung in der Wildnis zu überleben. Feuermachen ohne Streichhölzer beispielsweise, eine regendichte Schlafstätte bauen – oder ein nahrhaftes Essen zubereiten. Und für all das kann man Baumrinde gebrauchen.
OT 20 Martin Gebhardt
Rinde ist ein ganz wunderbarer Werkstoff. Zum Beispiel können wir aus Birkenrinde Behälter bauen, zum Sammeln von Früchten (weiteren Nahrungsmitteln sozusagen). Ich brauch dazu nur ein Messer, um die Rinde abzubekommen, kann dann mit kleinen Stöckchen die Ecken formen und so meine Himbeeren transportieren. Ich kann mir aus Birkenrinde eine Schöpfkelle bauen. Rinde wird auch genutzt um… Wenn wir draußen unterwegs sind und wir brauchen ein Feuer, dann halten wir immer Ausschau nach einer Birke. Birkenrinde hat verschiedene ätherische Öle, die supergut brennen. Und wenn wir uns ein bisschen was abschaben davon und dann mit einem Feuerstahl, also mit einem Metallstab, der Funken erzeugt, können wir damit einwandfrei Feuer machen. Brennt sofort.
ATMO Wald
SPRECHERIN
Förster Norbert Wimmer wäre vermutlich nicht so glücklich, über Bushcraft-Fans, die in seinen Wäldern das Überleben in der Wildnis üben. Vielleicht hätte er aber auch Verständnis für sie, denn Leute wie Martin Gebhardt setzen sich mit der Natur auseinander, gehen achtsam mit ihr um – weil sie sie brauchen.
OT 21 Martin Gebhardt
Bäume sind für mich extrem wichtige Partner im Wald. Ich kann daraus viel Material und Ressourcen ziehen. Aber ich profitiere auch unheimlich von den Bäumen, wenn ich sie überhaupt nicht anfasse: Sie bieten mir Schutz vor Unwetter, vor Regen. Sie bieten mir Schatten. Bäume bieten unheimlich viel Lebensraum für Tiere. Und ja, das Allerwichtigste ist natürlich, die produzieren unsere Luft zum Atmen, die ist lebenswichtig für mich. Und ich finde auch daher sollten wir sie unheimlich schätzen. Einfach, dass sie da sind und uns versorgen, bedingungslos.
Musik 10: Boundless beauty – siehe Musik 1 – 32 Sek
SPRECHERIN
In einem sind sich Martin Gebhardt, Birgitta Volz und Norbert Wimmer einig: Sie lieben den Wald, sie lieben Bäume – und sie empfinden eine Faszination für ihre ganz verschiedenen, kunstvollen, magischen, essbaren, schützenden – und besonders an alten Bäumen: extrem lebendigen Rinden.
STOPP
Senkrecht abheben, schweben und woanders punktgenau wieder landen: Davon träumte der Mensch schon vor Jahrtausenden. Was im alten China als Spielzeug mit Vogelfedern begann, setzten Tüftler Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals als personentragende Hubschrauber um. Damit startete der Siegeszug der "Drehflügler". Seit kurzem erobern auch elektrisch angetriebene Multikopter den Luftraum. Von David Globig (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Christopher Mann
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dieter Bals, Museumsleiter, Hubschraubermuseum Bückeburg;
Dr. Robert Kluge, Kurator für die moderne Luftfahrt, Deutsches Museum, München;
Prof. Ilkay Yavrucuk, Leiter des Lehrstuhls für Hubschraubertechnologie, Technische Universität München
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1950 schraubte der Radio-Techniker Leo Fender in Kalifornien den Prototyp der "Telecaster" zusammen - die erste Stromgitarre. Damit war das richtige Instrument geboren, dass den Jazz wild und roh werden ließ - die Initialzündung für die Geburt des Rock and Roll - der Soundtrack für eine sich nach Veränderung sehnender Jugend. Von Christian Schaaf (BR 2011)
Credits:
Autor dieser Folge: Christian Schaaf
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Es sprachen: Herbert Schäfer, Christiane Rossbach, Heinz Peter
Technik: Roland Boehm
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Ein neuer Job, eine neue Stadt, eine neue Liebe: Neuanfänge sind aufregend und voller Hoffnung. Voraussetzung für einen kraftvollen Neuanfang sind Mut und Risikobereitschaft sowie ein Abschied. Von Karin Lamsfuß (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Sebastian Fischer
Technik: Christine Frey
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Günter Menne, Coach; Gerald Hüther, Hirnforscher
Peter Gross, Buddhist und Psychotherapeut
Dr. Michael Schonnebeck, Facharzt für Psychotherapie und Psychosomatik; Petra Bock, Autorin und Coach
Petra van Laak, Unternehmerin
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Sein Leben ändern: Wie ihr einen NEuanfang wagt und meistert
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher:
Aus dem grauen, leblos wirkenden Erdboden arbeiten sich zaghaft die ersten Triebspitzen der Krokusse empor und bilden bald darauf lila Teppiche. Nahrung für die Hummeln, die langsam aus der Winterruhe erwachen. Sie sind bei den ersten Sonnenstrahlen aus ihren Erdlöchern emporgekrabbelt und fliegen nun mit leisem Summen von Blüte zu Blüte. So als würden sie die Geschichten des Winters miteinander teilen. Goldgelbe Pollenstaubwolken fliegen durch die Luft. Das pralle Leben kehrt zurück nach dem langen, kargen Winter.
Sprecherin:
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Sprecher:
In der Natur, so wie in allem Leben.
O-Ton 1 Petra Bock (0‘29“)
Und dann bin ich ins Bett gegangen, konnte lange nicht einschlafen, plötzlich hatte ich ne Art Vision, so kann man es wirklich nennen, hatte ich ein Bild, wie ich an einem wunderschönen Frühlingstag in einem Zimmer sitze bei offenem Fenster, draußen ist ein Obstgarten, die Vögel zwitschern, und ich sitze da und schreibe. Und in dem Moment kam so ein richtiges Glücksgefühl auf. Eins, dass ich seit Monaten nicht mehr kannte.
Sprecherin:
Ein Neuanfang im Leben der promovierten Politologin Petra Bock. Bevor er Wirklichkeit wurde, kam er zunächst als vielversprechende Vision in ihr Leben geschneit.
Sprecher:
„Neuanfang“ – das klingt fast magisch. Nach Chancen. Verheißungsvoll, inspirierend, motivierend. Nach frischem Wind, Fülle, Optimismus und Weiterentwicklung. Das ganze Leben ist voller Neustarts: freiwilligen wie unfreiwilligen. Großen wie kleinen. Jeder Tag, jedes Aufwachen, jeder Atemzug ist im Grunde ein winziger Neuanfang. Nicht immer, aber oft muss etwas Altes sterben, bevor etwas Neues beginnen kann.
Musik, dann darüber
Sprecherin:
Petra Bock führte ein Leben wie aus einem Hochglanzmagazin. Sie fuhr ein chices Auto, trug teure Klamotten und führte ein klassisches Businessleben in der Banken-Metropole Frankfurt. Dort arbeitete sie – nach ihrer Promotion mit 28 – als Unternehmensberaterin und Wirtschaftsanalystin. 12-14-Stunden-Tage waren die Regel.
O-Ton 2 Petra Bock (0‘16“)
Das war einfach sehr, sehr anstrengend, und ich war immer öfter erkältet. Bin dann trotzdem ins Büro gegangen, hab mich trotzdem reingeschleppt, hab dann für die Präsentationen noch irgendwie ne Tablette geschluckt, dass ich mit dem Fieber zurechtkomme. Das ist dann so ein Prozess geworden, so dass ich mich fast jede Woche neu erkältet hab.
Musikzäsur
O-Ton 3 Günter Menne (0‘11“):
Wenn Menschen zu mir kommen, dann kommen sie aus zwei Beweggründen. Eigentlich immer. Sie wollen irgendwo hin – zu oder sie wollen von – weg. Von etwas weg.
Sprecherin:
Günter Menne ist Coach. Er begleitet Menschen bei Neuanfängen. Oft, so seine Erfahrung, meldet sich dieses Bedürfnis in der Lebensmitte.
O-Ton 4 Günter Menne (0‘06“):
Wo die große Frage im Raum steht für viele: Was denn noch? Was ist noch möglich?
O-Ton 5 Petra Bock (0‘08“)
Die Frage war: Möchte ich das bis zum Ende meines Lebens machen? Also bis zum Ende meines Berufslebens machen? Und dann kam sofort so ein: „Nee, um Gottes Willen. Das halt ich gar nicht aus!“
O-Ton 6 Günter Menne (0‘53“):
Wenn Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ von jedem Zauber spricht, der uns beschützt bei allen Neuanfängen, dann denke ich aus meiner Erfahrung, die ich auch als Coach gewonnen habe, dass dieser Zauber sich nur dann entfalten kann, wenn wir wirklich gegenwärtig bleiben bei den Veränderungen, die uns oft auch widerfahren.
[[ Und um die Gelegenheit zur Aktualisierung, zur Veränderung in jeder neuen Erfahrung überhaupt zu erkennen, müssen wir gegenwärtig sein.]] Und zu spüren: Passt die noch zu mir? [[ Und aus diesem Gespür eine Kraft zu entwickeln, die wir oft als Druck oder auch als Sog erleben. Wobei dir Veränderung durch Sog in aller Regel leichter funktioniert als die Veränderung durch Druck.]]
Sprecherin:
Petra Bock lag also mal wieder mit ihrer soundsovielten Nasennebenhöhlenentzündung im Bett, als ihre Vision erschien: Das Bild von sich selbst, schreibend, mit dem Blick auf die Obstbaumwiese.
Als hätte jemand ihrem Wunsch erahnt, klingelte plötzlich das Telefon. Ein alter Studienkollege, Programmchef eines Verlags, war auf der Suche nach einer neuen Autorin. Er hatte von ihrem steilen Aufstieg gehört. Ob sie vielleicht Lust hätte, ein Buch zu schreiben? Nach der ersten Freude machten sich schnell die Ängste breit.
O-Ton 7 Petra Bock (0‘16“)
Die eine Angst war, dass ich gar nicht gut genug schreiben kann, z.B. Denn ich hatte vorher nichts gerade Substanzielles geschrieben. Wusste ich ja nicht, ob ich das kann! Dann dachte ich mir auch: was machst du, wenn du irgendwie plötzlich siehst: Es ist alles Müll, und der Verleger sagt „können wir überhaupt nicht nehmen!“. Was machst du dann? Also, da hatte ich schon Angst davor, dass ich scheitern könnte. Auf jeden Fall.
Sprecher:
Das ist ganz oft der Punkt, an dem sich das anfangs süße und verheißungsvolle Gefühl des Anfangszaubers wandelt: in nagende Zweifel und diffuse Ängste. Was ist, wenn es nicht klappt? Und wie stehe ich dann da?
O-Ton 8 Michael Schonnebeck (0‘28“):
Wir alle haben sogenannte Ich-Ideale. Also wie wir im besten Falle funktionieren, zurechtkommen, kleine innere Visionen, was wir alles könnten und sollten und erreichen wollen, und wenn diese manchmal doch recht geheimen Visionen von einem selbst dann sich nicht erfüllen, dann tut das sehr weh, weil das an der eigenen Identität, am eigenen Selbstbild so sehr kratzt. Oder es sogar zerbricht im schlimmsten oder im dramatischsten Fall.
Sprecherin:
Dr. Michael Schonnebeck ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet eine Tagesklinik. Er sagt: Zweifel und Versagensängste sind menschlich und gehören zu jedem Neubeginn, zu jeder Weiterentwicklung dazu. Mehr noch: Sie sind sogar hilfreich.
Sprecher:
Das bestätigt auch eine Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018: Träume und Zukunftsfantasien sind häufiger zum Scheitern verurteilt, wenn sie rein durch die rosarote Brille betrachtet werden. Dann strengen sich Menschen weniger an.
Erfolgreicher sind hingegen diejenigen, die Hindernisse und Hürden im Vorfeld schon mal durchspielen. Forscher nennen das "mentales Kontrastieren".
Sprecherin:
Für Michael Schonnebeck kann ein Neustart nur dann gelingen, wenn ein möglicher Misserfolg theoretisch praktisch miteingeplant wird. Eine Erfolgsgarantie gibt es sowieso nie.
O-Ton 9 Michael Schonnebeck (0‘28“):
Zum mutigen, abenteuerlichen, gewagten Leben gehört die Gefahr dazu, von der Bahn abzukommen, ins Straucheln zu geraten, abzustürzen, sich weh zu tun, und ich glaub, jeder muss entscheiden, wie sein Spielraum ist: eher schmaler oder eher etwas weiter, aber sich das zu erlauben, ist der Preis, die Eintrittskarte quasi für ein etwas aufregenderes, selbsterfüllenderes Leben.
Sprecherin:
Coach Günter Menne kennt das Stadium des Zweifelns bei seinen Klientinnen und Klienten nur allzu gut. Oft ist es der Knackpunkt, der darüber entscheidet, ob aus einem Neuanfangs-Plan auch ein tatsächlicher Neuanfang wird.
O-Ton 10 Günter Menne (0‘36“):
Neuanfänge fallen manchen oder vielleicht auch vielen Menschen schwer, weil wir oft an Glaubenssätze – aus der Kindheit beispielsweise – gebunden sind. Da hat der Vater vielleicht zu seiner Tochter gesagt „Du hast kein Talent, mach was Vernünftiges!“ und diesem Glaubenssatz ist die Tochter gefolgt und entdeckt vielleicht erst im Alter von 40 Jahren die Sehnsucht neu, und jetzt geht es in einem Coaching darum, die Glaubenssätze zu betrachten und umzuschreiben.
O-Ton 11 Petra Bock (0‘27“)
Der erste Gedanke war: Hmmm, was denken die anderen von mir? Ich bin dann so innerlich meine Reihe von Freunden und Bekannten durchgegangen und hab gedacht was sagen die dazu – ich werde jetzt Schriftstellerin! Das war ein guter Ausleseprozess für mich. Weil ich wusste: die oberflächlichen Nervbekanntschaften, die finden’s furchtbar, und die wollen nichts mehr mit mir zu tun haben (...) und andere wiederum, da wusste ich, die sagen: hey, Petra, endlich kommst du wieder zur Vernunft und machst deinen Weg, und es gab sehr viele, die mich unterstützt haben dann.
Musikzäsur
Sprecher:
Neuanfänge gehören unweigerlich zum Leben dazu. Neuanfang, das bedeutet auch fast immer: Abschied von etwas Altem, Liebgewonnenem. Meistens gibt es zu jedem ersten Mal auch ein letztes Mal.
Sprecherin:
Der letzte Schultag – der erste Tag an der Uni.
Der letzte Tag als Junggesellin – der erste Tag als frisch Verheiratete. Der letzte Tag in der alten Firma - der erste in der neuen.
Der letzte Frühlingstag, der erste Sommertag.
Über Musik:
Sprecher:
Der Sommer entfaltet sich wie ein strahlender Neuanfang. Alles erwacht zu neuem Leben: Blumen blühen in leuchtenden Farben, Bäume tragen stolz ihr grünes Blätterdach, und Vögel singen um die Wette. Die Luft ist erfüllt von einem Gefühl der Möglichkeit und des Aufbruchs. Von der Sonne gekitzelt aufzuwachen, erzeugt gleich das Gefühl. Heute geht was! Packen wir’s an!
Musik weg
Sprecher:
So magisch es auch klingen mag: Keineswegs wohnt jedem Anfang ein Zauber inne! Krankheit, Tod, Verlust des Partners, des Arbeitsplatzes – all das sind Ereignisse, die Menschen zu Neuanfängen zwingen. Und diese Neustarts sind keineswegs verheißungsvoll, hoffnungsvoll und inspirierend. Sie sind oft einfach nur bitter und schmerzhaft.
Ggf. über Musik
O-Ton 12 Petra van Laak (0‘16“):
Als junge Frau hab ich davon geträumt, viele Kinder zu haben und eine gute Ehe zu führen und mit meinem Partner alt zu werden und später dann auf die Enkelkinder auf dem Rasen spielend zu gucken und sich über die Kinder auszutauschen – das war mein Ideal. Und das ist natürlich komplett zersprungen in tausend Stücke.
Sprecherin:
Rückblende. Petra van Laak, studierte Kunsthistorikerin; führte ein Leben an der Seite eines erfolgreichen Geschäftsmannes.
Sie kümmerte sich um die gemeinsamen vier Kinder, hielt das große Haus am See in Schuss. Geld spielte keine Rolle. Es war einfach immer genug da. Bis herauskam, dass ihr Ehemann nicht halb so erfolgreich war, wie er vorgab. Er war hochverschuldet, hielt das aber lange geheim.
O-Ton 13 van Laak (0‘31“):
Das passiert alles gleichzeitig. Das Haus kommt quasi untern Hammer, also die Zwangsversteigerung steht im Raum. Sachen werden gepfändet, Strom wird abgestellt, Telefon wird abgestellt, kein Zugang mehr zum Konto. Es gibt kein Bargeld mehr, man kommt an Bargeld nicht mehr heran, d.h. ich hab dann so Sachen gemacht wie alle Schubladen durchforstet, nach alten Währungen, von früher, wenn wir gereist sind, dann hab ich die Währungen zur Bank getragen und hab die erst mal eingelöst und umgewechselt, auch zu schlechten Kursen, um wieder Bares zu haben. Und um wieder einkaufen zu können. Bei Aldi, ein paar Nudeln.
Ggf. akustische Zäsur
O-Ton 14 van Laak (0‘49“):
Ich kam mir total exotisch vor, als ich noch in der Villa war und die Räumungsklage am Hals hatte und mich das Amt für Wohnraumsicherung – so heißt das – und Obdachlosenstelle oder so ähnlich, forderte mich dann auf per Brief, mich bei denen zu melden, dass mir eine Bleibe zugewiesen werden kann. Und dann bin ich zu diesem Amt gestiefelt – hatte noch ein Auto mit ganz normalem Outfit, Aktenordern unterm Arm und gehe diesen langen Flur lang und links und rechts sitzen ist jetzt total klischeehaft – wirklich Punks, Penner, Junkies das ganze Chaos sitzt da, ich geh da durch, und die grüßen mich alle, weil die dachten: Da kommt die Sachbearbeiterin! Das war für mich der Hammer! Dann grüßte ich freundlich zurück und setzte mich zwischen die auf die Bank.
Sprecherin:
So tauschte die einst reiche Gattin und Mutter von vier Kindern ihr Haus am See in eine dunkle, feuchte Sozialwohnung.
O-Ton 15 van Laak (0‘35“):
Mir war schon klar, dass das ein grausamer Abstieg war. Dass das offensichtlich regelrecht würdelos war, wie wir da gewohnt haben, ist mir an den Gesichtsausdrücken klar geworden der Mütter, die ihre Kinder vorher in die Villa gebracht haben, dann eben mit ihren großen Autos in eine andere Gegend fuhren und ihr Töchterchen zum Spielen abholten oder ablieferten und dann durch dieses Treppenhaus mit Katzenpipi im Flur usw. und mit abgerissenen Tapeten an den Wänden, mit Modergeruch aus dem Keller, dann sah ich an deren Gesichtsausdruck: Oh ja, das muss schon ein krasser Gegensatz sein!
Sprecherin:
Ein Neuanfang ohne Zauber. Einfach nur eine knallharte Herausforderung, mit den Veränderungen irgendwie umzugehen. Trotzdem - oder gerade - weil die Fallhöhe so groß war, entwickelte Petra van Laak ungeahnte Kräfte. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich mal über eine geschenkte Kiste voller Lebensmittel so freuen würde. Oder dass sie durchaus in der Lage sein würde, sich und ihre Kinder mit Telefon-Drückerjobs über Wasser zu halten.
Sprecher:
Vielleicht ist das der Anfangs-Zauber, von dem Hesse in seinem Gedicht spricht, der uns beschützt und uns hilft zu leben.
Sprecherin:
Neben aller Härte und Gnadenlosigkeit, die diese Situation mit sich brachte: Petra van Laak entwickelte in dieser Zeit auch ungeheuer viel Kraft, Mut und Optimismus.
O-Ton 16 Peter Gross (0‘07“):
Der Buddhismus sagt: Bereite dich sozusagen darauf vor, dass nichts Bestand hat. Nichts bleibt gleich. Alles wandelt sich.
Sprecherin:
Peter Gross ist Psychotherapeut und Buddhist. Er stellt fest, dass sich Menschen mit Neuanfängen oft deshalb sehr schwertun, weil sie sich vom Alten nicht gut trennen können.
Sprecherin:
Ein großes Problem bei Neuanfängen, so Peter Gross, läge darin, was im Buddhismus „Anhaftung“ genannt wird:
O-Ton 17 Peter Gross (0‘26“):
Eine Lehre des Buddhismus ist: Nicht an Vergänglichem festzuhalten. Was zugegebenermaßen ein ziemlicher Lernprozess ist. Also erst mal die Vergänglichkeit anzuerkennen: dass es so ist und dass es da keine Ausnahmen gibt. Und zweitens: dass dieses Festhalten am Vergänglichen, dass das die Ursache des Leidens ist.
Sprecher:
Eine Studie der Universität New York und der Universität Hamburg kam 2020 zu dem Ergebnis, dass ein guter und zufriedener Abschied mit dem Lebensabschnitt davor entscheidend für einen erfolgreichen Neuanfang ist.
Und auch Hermann Hesse spricht davon, dass das Herz bei jedem Lebensruf bereit sein müsse zum Neubeginn – und zwar ohne zu trauern. Ein Gedanke, der besonders bei schmerzhaften Verlusten ein wenig fremd anmuten mag.
Über Musik
Sprecher:
Im Herbst wechselten die Farben. Das satte Grün der Blätter verwandelt sich in ein Kaleidoskop aus Rot, Orange und Gelb. Es wird allmählich kühler und dunkler, die Nächte länger. Zeit der Reflexion, die vorher nicht zur heiteren Stimmung der langen hellen Sommernächte passte. Auch der Herbst ist ein Neuanfang, eine Zeit des Wandels und die Vorbereitung auf die kommende Ruhe des Winters.
Musik weg
Sprecher:
Alles ist stets im Fluss. Klingt nach Kalenderspruch, ist aber ein Gesetz des Lebens. Eins, gegen das sich Menschen manchmal mit aller Macht stemmen. Aus Angst vor Weiterentwicklung verharren sie dort, wo es ihnen schon lange nicht mehr gut geht: in lieblosen Beziehungen, frustrierenden Arbeitsverhältnissen, leeren Freundschaften. Sie horten hunderte von Gegenständen, die sie gar nicht brauchen. Einfach weil sie es nicht schaffen, sich davon zu trennen.
Sprecherin:
Für Hirnforscher Dr. Gerald Hüther liegt ein Grund dafür in der Art, wie unser Gehirn konzipiert ist.
O-Ton 18 Gerald Hüther (0‘43“):
Wir sind ja alle ziemlich bequeme Menschen, und das Hirn ist ein Energiesparorgan. Immer dann, wenn dich das Hirn anstrengen muss, wenn man noch mal denken muss oder gar wenn man was verändern muss, wird’s furchtbar energieaufwendig. Wenn man sich einmal im Leben mit bestimmten Verhaltensmustern eingerichtet hat, dann ist das ne Katastrophe, wenn man plötzlich anders denken soll. Und wenn man anders handeln soll. Das macht keiner gern. Weil das Angst macht. Sie fühlen sich in dem alten Denken, in den alten Räumen, in denen Sie sind, da fühlen Sie sich total wohl, und jetzt sollen Sie raus in die Welt und etwas grundsätzlich Neues probieren: Da wissen Sie gar nicht, wie Sie das alles einordnen sollen!
Sprecher:
Der Aufbruch fällt - je nach Persönlichkeit - dem einen leichter und der anderen schwerer. Neugier, Mut und ein gewisser Anfängergeist sind hierfür gute Voraussetzungen.
Sprecherin:
Gerald Hüther sagt: Neuanfänge sind jederzeit möglich - wenn das Herz die Richtung vorgibt. Wenn sich also ein 85jähriger in eine Chinesin verliebt, sei er durchaus noch in der Lage, chinesisch zu lernen!
O-Ton 19 Gerald Hüther (0‘11“):
Wenn es einem unter die Haut geht. Also wenn es wirklich wichtig ist. Dann werden im Hirn die so genannten emotionalen Zentren aktiviert, und dann macht man sich auch auf den Weg!
Geräusch 1: 18‘30“ Kommt, poltert, bringt Jagdhorn, bläst
Sprecherin:
Auch Coach Günter Menne wagte einen Neustart. Der Magic Moment ereignete sich an seinem 57. Geburtstag.
O-Ton 20 Günter Menne (0‘16“):
Ein paar Freunde waren zum Essen eingeladen, und da oben auf dem Schrank im Esszimmer, da lag seit Jahrzehnten ein kleines Jagdhorn. Ein Geschenk meines Vaters an mich im Alter von sieben Jahren, ja, und dann lag’s rum. 50 Jahre lang.
Geräusch 2: Horn
O-Ton 21 Günter Menne (0‘30“):
Und wie zum Jux nahm ich dann dieses kleine Jagdhorn aus Kindertagen in die Hand, traut auf die Terrasse, und tatsächlich kam da ein Ton und auch ein zweiter, und diese zwei, drei Töne, die ich dann in dieser Nacht auf der Terrasse hinausblies, die haben eine solche magische Wirkung auf mich gehabt, dass ich am anderen Tag nach meinem Geburtstag nur diesen einen Wunsch in mir spürte: Ich möchte Horn lernen. Mit 57 Jahren.
Sprecherin:
Es war ein freiwilliger Neustart. Ohne Not, ohne vorherigen Abschied. Also die Luxusvariante eines Neubeginns. Einfach so aus einem Entdeckergeist heraus, der Lust zu experimentieren.
O-Ton 22 Günter Menne (0‘19“):
Der Klang war für mich reine Magie. Und damit verbunden der heiße Wunsch, das auch können zu wollen. Man stelle sich vor: Dieses vielleicht schwierigste aller Instrumente zu erlernen und hoffentlich eines Tages ganz schön spielen zu können.
Sprecherin:
Nach Jahren des intensiven Übens und unzähliger Unterrichtsstunden ist der Coach heute so weit, dass er sagt: Ich bin zufrieden!
Sprecher:
Vielleicht liegt darin das Geheimnis, gut mit dem Wandel des Lebens umzugehen: Sich einfach immer mal wieder im Kleinen etwas Neues zu trauen. Dort, wo es um nichts geht. Unwissend, ob es klappt. Das Scheitern einkalkulierend. Das trainiert vielleicht für den großen Wandel.
Musikzäsur
Sprecher:
Neuanfänge bieten große Chancen für persönliches Wachstum und die Verwirklichung von Träumen und Zielen. Auch Hermann Hesse spricht in seinem Gedicht vom Weltgeist, der uns Stufe um Stufe heben und weiten will.
In jedem Fall aber erfordern Neuanfänge meist Durchhaltekraft und Resilienz, um Rückschläge zu überwinden. Nicht selten wachsen Menschen über sich heraus, wenn sie aufstehen und ihr Krönchen neu richten müssen.
Sprecherin:
Petra van Laak, die einst reiche Unternehmergattin, wagte irgendwann den Sprung in die Selbständigkeit. Heute ist sie Chefin einer Kommunikationsagentur und wurde zur Unternehmerin des Jahres des Landes Brandenburg ernannt. Ohne den unfreiwilligen Neustart wäre das wahrscheinlich nie so gekommen.
O-Ton 23 Petra van Laak (0‘22“):
Ich hatte so ne innere Freiheit, ne innere Unabhängigkeit, ich war früher in einer viel abhängigeren Situation, die mir vielleicht auch gar nicht in meinem Wesen entsprochen hat, und im Grunde war dieser Zusammenbruch dieser bürgerlichen Existenz auch eine Katharsis. Eine Möglichkeit, Dinge abzustreifen und vielleicht auch gereinigt aus so was hervorzugehen.
Sprecherin:
Auch für die frühere Finanzanalystin Petra Bock hat der Neustart die entscheidende Wende gebracht: Mittlerweile hat sie einige Bücher geschrieben und coacht unter anderem Menschen auf dem Weg in ihre Berufung.
O-Ton 24 Petra Bock (0‘21“):
Damit macht mein Leben irgendwo Sinn. Und meine Talente, da hatte ich immer so ein Gefühl: die hab ich nicht umsonst mitbekommen. Ich bin kein gläubiger Mensch im klassischen Sinne, aber so ein Gefühl für spirituelle Verbundenheit zu etwas Größerem habe ich auf jeden Fall. Und so hab ich das empfunden. Ich dachte: ja, das könnte was sein, wofür ich vielleicht auch mit auf die Welt gekommen bin. Das war ein sehr tiefes und dankbares Gefühl.
Musik, dann darüber:
Sprecher:
Die Winterlandschaft verwandelt sich über Nacht in ein zauberhaftes Wunderland aus glitzerndem Schnee. Bäume tragen frostige Kronen, während der Atem der Natur in der kalten Luft sichtbar wird. Die Natur ruht in einem tiefen Schlaf, bereit, sich für einen neuen Zyklus vorzubereiten. Menschen nutzten die Stille und die Einsamkeit, um über Vergangenes nachzudenken und neue Pläne zu schmieden. Der Winter ist mehr als nur eine kalte Jahreszeit – er symbolisierte Hoffnung, Reinigung und die Möglichkeit für einen frischen Start.
Wutanfälle bei Kindern sind berühmt-berüchtigt. Die Kleinen entdecken ihren Willen und wollen ihn durchsetzen. Mit der Zeit lernen sie, Emotionen zu regulieren. Aber was passiert eigentlich mit all den Gefühlen? Von Maike Brzoska (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Irene Schuck
Es sprach: Susanne Schroeder
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Sabina Pauen, Psychologin und Professorin an der Universität Heidelberg
Herbert Scheithauer, Psychologe und Professor an der Freien Universität Berlin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 TON (Maike, Leo)
Zähneputzen. Gleich. Nein, jetzt Leo. Komm, wir müssen gleich los.
ERZÄHLERIN
So klingt es bei uns morgens. Erst frühstücken, Zähne putzen und dann anziehen.
02 TON (Maike, Leo)
Zieh mal bitte die Schlafsachen aus. Hörst du mich? Einmal Schlafsachen ausziehen.
ERZÄHLERIN
Aber mein Sohn ist schon wieder in seiner eigenen Welt. Er will mir unbedingt noch seinen Lieblingsbaum draußen zeigen.
03 TON (Maike, Leo)
Da, der wo das Häuschen daneben ist. Aha. So komm, zieh mal jetzt an. Hast du ihn gesehen? Ja. Stell dich mal hin und zieh die Sachen aus.
ERZÄHLERIN (leicht genervt)
Es folgt eine Runde auf dem Bett hüpfen ….
04 TON (Maike, Leo)
Komm her. Mama, kann ich spielen? Wir ziehen dich jetzt erst mal an. Beine durch. Wo sind denn jetzt die Socken? Socken? Ich hab dir hier eben die Socken gelegt. Einmal Socken suchen. Hab sie. Das ist ein Fußball.
ERZÄHLERIN
Die Socken durchs Zimmer kicken und noch ein Purzelbaum im Bett. Ist alles viel lustiger als Anziehen. Kann ich ja verstehen. Aber trotzdem: die Zeit drängt, wir müssen los zur Kita. Deshalb dranbleiben, es fehlen nur noch Schneeanzug und Schuhe:
05 TON (Maike, Leo)
Den Anzug ziehst du dir gleich alleine an. Ne Mama. Warum denn nicht? Weil ich nicht will!
Musik 2
"Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'50
ERZÄHLERIN
An dieser Stelle kann es dann auch mal etwas lauter werden, aber nur kurz. Inzwischen kriegen wir es eigentlich immer hin, dass alle einigermaßen pünktlich und vollständig angezogen loskommen.
Vor ein paar Jahren war das noch anders. Da war mein Sohn etwa zwei Jahre alt. Wenn es schlecht lief, kam es an dieser Stelle dann zu einem richtigen Wutanfall: Hochroter Kopf, Schuhe, die durch den Flur flogen, ein schreiendes Kind, das aufgebracht hin und her lief. Wie das klang, erspare ich Ihnen an dieser Stelle. Die meisten Eltern kennen das vermutlich ohnehin. So ein Wutanfall beginnt in der Regel damit, dass ein Kind etwas will, und zwar unbedingt!
06 O-TON (Pauen)
Sei es jetzt eine bestimmte Jacke anzuziehen oder eben den Teddy noch mitzunehmen oder Süßigkeiten aus dem Supermarkt mitzunehmen. Egal was es ist, es wird erstmal insistiert, dann gibt es ein Nein, ein Widerstand auf der anderen Seite, und dann wird das immer lauter und das Kind kann wirklich am Schluss völlig hilflos auf dem Boden liegen, strampeln, schreien, völlig ausgeliefert seinen negativen Emotionen sein.
ERZÄHLERIN
Sagt die Psychologin Sabina Pauen. Sie ist Professorin an der Universität Heidelberg. Typischerweise treten solche Wutausbrüche im Alter von zwei bis vier Jahren auf.
07 O-TON (Pauen)
Auch noch bis fünf, aber nach fünf selten.
Musik 3
"Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'40
ERZÄHLERIN
Bei uns gab es die Wutanfälle meistens morgens, wenn Müdigkeit und Zeitdruck zusammenkamen. Bis mein Sohn sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, konnte es schon mal zehn bis fünfzehn Minuten dauern. Eine schwierige Situation für uns Eltern. Manchmal hatte ich ein Meeting und wusste, alle Kolleginnen und Kollegen warten gleich auf mich. Oder ich musste zum Zug – und der wartet eben leider nicht auf mich. In solchen Momenten hätte ich mich am liebsten selbst auf den Boden geworfen und losgeschrien. Bringt natürlich nichts.
08 O-TON (Pauen)
Was man dann machen muss, ist, zunächst Verständnis signalisieren. Das ist natürlich genau nicht das Gefühl, das man gerade hat. In dem Moment, wenn man schnell aus der Tür muss und das Kind streikt. Aber im Endeffekt sagen: Ja, ich verstehe, du willst das jetzt wirklich nicht. Aber es muss jetzt so laufen. Also auf der einen Seite Verständnis signalisieren, auf der anderen Seite ganz ruhig und ganz konsequent die eigene Position noch mal wiederholen für das Kind, manchmal auch mehrmals. Aber das Wichtigste ist, ruhig zu bleiben. Und das Schwerste.
ERZÄHLERIN
Mit der Zeit sind wir als Eltern gelassener geworden. Was mir wirklich sehr geholfen hat: zu wissen, warum es zu solchen Wutausbrüchen kommt.
09 O-TON (Pauen)
Das hat was damit zu tun, dass die Kinder gerade eine bestimmte Entwicklungsphase durchlaufen, in der sie auf der einen Seite schon ein Autonomiebedürfnis entwickelt haben, auch die Fähigkeit, viele Dinge selber zu machen und auch zu kommunizieren, was sie möchten.
ERZÄHLERIN
Die Kinder wissen, was sie wollen und können es den Eltern auch mitteilen. Aber andere Fähigkeiten fehlen ihnen noch.
10 O-TON (Pauen)
Zum Beispiel die Fähigkeit, die Perspektive von Anderen mit einzubeziehen.
Musik 4
"48 Hours" - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'35
ERZÄHLERIN
Also beispielsweise meine Perspektive. Mir kam es tatsächlich so vor, dass mein Sohn ausgerechnet immer dann streikte, wenn ich einen wirklich wichtigen Termin hatte und pünktlich losmusste. Manchmal dachte ich sogar, dass er sich absichtlich querstellte, so von wegen: Mama soll keine Termine haben, sondern nur für mich da sein. Trotzkopf sagten manche Menschen früher – aber mit Trotz, also mit Widerstand gegen die Eltern, hat so ein Wutausbruch nichts zu tun.
11 O-TON (Scheithauer)
Als Elternteil, ich bin selber Vater, rutscht man sehr schnell auch in so eine Situation, dass man denkt: Oh, dieses Kind, was will das jetzt wieder? Und man bezieht das so auf sich selbst und denkt, das Kind will sozusagen rebellieren, es will seinen Kopf durchsetzen, es will einem etwas Böses. Das ist überhaupt nicht der Fall. Die Eltern müssen sich klar machen, dass das Kind eben noch nicht anders kann in so einer Situation.
ERZÄHLERIN
Sagt der Psychologe Herbert Scheithauer. Er ist Professor an der Freien Universität Berlin. Rückblickend denke ich, dass meine eigene Anspannung oft dazu beigetragen hat, wenn es morgens laut wurde. Deshalb: am besten gelassen bleiben. Und vielleicht schafft man es sogar, sich darüber zu freuen, dass das eigene Kind gerade einen bedeutenden Entwicklungsschritt macht. Das versucht auch Scheithauer zu vermitteln.
12 O-TON (Scheithauer)
Wenn Eltern mich fragen, sage ich oft: Herzlichen Glückwunsch, Ihr Kind entwickelt sich ganz vorzüglich. Denn zum einen sind Wutanfälle die Möglichkeit, mit denen kleine Kinder ihre Gefühle ausdrücken und bewältigen. Und zum anderen lernen sie gerade, dass ihr Verhalten andere beeinflusst.
ERZÄHLERIN
Im Alter von anderthalb bis drei Jahren passiert bei Kindern unglaublich viel. Wir als Eltern waren damals oft erstaunt. Zum Beispiel als unser Sohn, der als Baby eigentlich immer getragen werden wollte, plötzlich anfing, auf eigenen Beinen die Welt zu erkunden.
13 O-TON (Scheithauer)
Sie beginnen unabhängiger zu werden. Das geht damit einher, dass das Kind sich plötzlich im Spiegel selber erkennt, dass es das es plötzlich Worte benutzt wie „mein“ und eben auch das berühmt-berüchtigte Wort „Nein“. Und sie lösen sich damit natürlich auch ein Stück weit von den Eltern. Sie folgen nicht mehr so ganz dem, was die Eltern sagen und wollen, weil sie ihren eigenen Willen durchsetzen wollen. Sie wollen bestimmen, was sie anziehen, was sie essen, was sie tun.
ERZÄHLERIN
Ein Stück Autonomie also – das starke Emotionen mit sich bringen kann. Heftige Wut, wenn die Eltern einen ausbremsen. Aber auch riesige Freude, bei unserem Sohn zum Beispiel, als er es das erste Mal geschafft hat, die Tür alleine aufzumachen. Solche Gefühle können Eltern ihren Kindern spiegeln.
14 O-TON Scheithauer
Also von Geburt an kann man eigentlich Emotionen dem Kind gegenüber spiegeln: Ach, jetzt bist du traurig. Oder ja, das macht dich froh. Dass man dem Kind erklärt, wie es sich überhaupt fühlt. Das klingt jetzt komisch, es ist aber so, dass Kinder überhaupt noch gar kein Verständnis haben in einem sehr jungen Alter, was Emotionen sind und was mit ihnen da eigentlich los ist.
ERZÄHLERIN
Denn erst wenn sie verstehen, was da gerade passiert, welches Gefühl sie haben, können sie lernen, damit umzugehen. Anders ausgedrückt: Sie können lernen, ihre Emotionen zu regulieren.
15 O-TON (Scheithauer)
Und es gibt zwei Emotionsregulations-Strategien, wo wir auch aus einer Vielzahl von Studien wissen, dass diese besonders Sinn machen, die aber erst bei etwas älteren Kindern funktionieren, weil es bestimmte kognitive Kapazitäten braucht, das heißt, das Kind muss kognitiv in der Lage sein, das zu tun.
Musik 5:
"Desolate Spirit" - Ausführende: Nick Johnson & Nino Morro - Album: Nordic Noir - Komponist: Nick Johnson - Länge: 1'23
ERZÄHLERIN
Strategie Nummer eins: Das Kind möchte etwas haben, zum Beispiel den Schokoriegel an der Supermarktkasse. Und dann sagt oder denkt das Kind:
16 O-TON (Scheithauer)
Ist ja nicht so schlimm, wenn ich das jetzt nicht kriege, dann kriege ich nachher eben ein Gummibärchen. Das heißt, das Kind nimmt so ein bisschen Druck aus dieser Situation, dass es jetzt nicht sofort etwas bekommt, weil es sagt: Ich finde das jetzt gar nicht so wichtig.
ERZÄHLERIN
Es relativiert also ein Stück weit seinen eigenen Wunsch. Irgendwann wird es schon wieder was Süßes geben. Es muss nicht sofort sein. Das kann die Wut mildern. Die zweite Strategie, die Kinder ab einem gewissen Alter lernen können, ist: Lösungen finden. Zum Beispiel wenn der Turm, der sehr lange und mit sehr viel Hingabe gebaut wurde, plötzlich umfällt.
17 O-TON (Scheithauer)
Wenn also etwas umgefallen ist, dann nicht schreien und einen Wutanfall kriegen, sondern sagen: Ach, ist nicht schlimm, kann man ja wiederaufbauen und dann das Ganze auch wiederaufbauen. Und dann steht der Turm wieder und dann gibt es auch keinen Grund mehr für Frust.
ERZÄHLERIN
Relativieren und Lösungen finden – beides sind erfolgreiche kognitive Strategien, um eine Situation neu zu bewerten und mit Frust umzugehen. Es gibt sehr viele solcher Strategien, wobei einige von Psychologinnen und Psychologen heute nicht mehr empfohlen werden. Zum Beispiel „Dampf ablassen“, wie man umgangssprachlich sagt. Dahinter steht die sogenannte Karthasis-Hypothese.
18 O-TON (Scheithauer)
Die geht davon aus, dass sich zum Beispiel bei Frustrationen, die ich erlebe, meine Wut rauslassen muss. Es gibt also ganz berühmte Experimente, auch aus der Sozialpsychologie, wo wir Kindern die Möglichkeit geben, sozusagen dann mit Keulen auf eine Puppe einzuschlagen. Oder wir finden das auch häufig in Erziehungsratgebern. Das Kind soll dann ein Kissen nehmen und mit der Faust reinschlagen. In dieser Situation selber ist das tatsächlich so, dass man sich dann so ein bisschen wie befreit fühlt. Das Problem ist aber, dass die Kinder dann lernen, dass das ein tolles Gefühl ist, wenn man die Wut so rauslässt, wenn man zuschlägt, wenn man haut. Und das bleibt als Lerneffekt. Und deshalb ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass auch zukünftig in einer solchen Situation genau ein solches Verhalten gezeigt wird, was wir ja eigentlich nicht wollen.
ERZÄHLERIN
Als ich das höre, erschrecke ich erst mal. Denn tatsächlich haben wir das mit dem Kissen zum Reinboxen auch mal versucht, man liest es einfach oft. Es half auch ein bisschen. Aber auf längere Sicht ist es eben keine gute Idee.
19 O-TON (Scheithauer)
Wir wissen aus Studien, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Menschen, die ihre Wut in solchen Situationen rauslassen, zukünftig häufiger in wutauslösenden Situationen auch ein aggressives Verhalten zeigen. Es macht also mehr Sinn, mit der Wut umzugehen, die Wut zu beherrschen, zu kanalisieren in sozial angemessene Verhaltensweisen.
ERZÄHLERIN
Wobei es an dieser Stelle wichtig ist zu betonen: Es geht nicht darum, gar keine Wut oder keinen Frust mehr zu haben. Sondern vielmehr darum, Emotionen so zu regulieren, dass sie einen nicht mehr völlig überwältigen.
20 O-TON (Scheithauer)
Alle Emotionen, das muss man immer wieder sagen, haben ihre Berechtigung. Es geht also nicht darum, Emotionen wegzuregulieren, Dass wir nicht mehr traurig sind, ängstlich oder wütend. Das wäre fatal, weil alle Emotionen haben ihre Funktion, ihre Bedeutung in unseren sozialen Interaktionen.
ERZÄHLERIN
Sie sind wichtig, weil sie anderen Menschen signalisieren, wie es einem geht.
21 O-TON (Scheithauer)
Das heißt, man kann einem Menschen ansehen, wenn er Angst hat oder wenn er wütend ist oder wenn er glücklich ist. Und sie regulieren dann die Interaktion mit anderen Menschen. Das heißt, wenn ich sehr traurig bin, dann sehen das andere und sprechen mich an, oder ich suche mir selber Hilfe. Dafür dienen Emotionen.
ERZÄHLERIN
Deshalb ist es zwar wichtig, dass wir Emotionen regulieren, auch ein Stück weit dämpfen und kontrollieren, aber gleichzeitig auch ausdrücken und zeigen können. Langfristig betrachtet, kann es sonst zu Depressionen kommen im schlimmsten Fall.
22 O-TON (Pauen)
Wenn ich jetzt Gefühle habe und die werden nicht wahrgenommen von Anderen oder ich kann das Verhalten, das daraus resultieren würde, nicht zeigen, dann lähmt mich das oder macht mich hilflos. Und da ist so der Übergang zu depressiven Verstimmungen oder auch Depressionen irgendwann. Das ist ja gelernte Hilflosigkeit. Also ich kann nichts machen, ich werde nicht wahrgenommen und ich kann nichts bewirken. Das sind Gefühle, die mich sehr traurig und hilflos machen.
Musik 6
"Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'45
ERZÄHLERIN
Auch während eines Wutanfalls ist es deshalb wichtig, beim Kind zu bleiben und ihm zu signalisieren, es ist schon in Ordnung, dass du jetzt wütend bist.
23 O-TON (Pauen)
Das Gefühl ist erstmal da und es wird sich auch nur dann verändern, wenn sich meine Bewertung der Situation verändert…
ERZÄHLERIN
… was die Kleinen aber eben noch nicht können …
23 O-TON
Oder wenn eine andere Person darauf reagiert hat und mein Signal angekommen ist. Erst dann kann es wieder flüssig werden, sagen wir Psychologen manchmal, dass ich irgendwie wieder in andere Richtungen auch denken und fühlen kann.
Musik 7
"Desolate Spirit" - Ausführende: Nick Johnson & Nino Morro - Album: Nordic Noir - Komponist: Nick Johnson - Länge: 0'41
ERZÄHLERIN
Je älter Kinder werden, desto besser gelingt es ihnen, Gefühle zu regulieren. Auch weil sie immer besser sprechen können.
24 O-TON (Pauen)
Und damit auch in Verhandlungen einzutreten mit den Eltern und auf eine sozial akzeptierte Weise Interessenkonflikte zu regeln.
ERZÄHLERIN
Oh ja, das Verhandeln! Unser Sohn macht inzwischen Vorschläge, wie wir das mit den Süßigkeiten handhaben sollen. Also seiner Meinung nach. Nach jedem Essen etwas aus der Süßigkeiten-Dose. Oder für jedes Mal Zimmer aufräumen einen Schokoriegel. Meistens finden wir einen Kompromiss. Hilfreich ist dabei, dass er unsere Sichtweise inzwischen nachvollziehen kann.
25 O-TON (Pauen)
Was sich ändert, ist eben, dass man die Fähigkeit entwickelt, die Position des Anderen besser zu verstehen und damit auch vielleicht die eigenen Emotionen oder Wünsche zu relativieren. Und ganz wichtig ist: Das hängt mit der Reifung des präfrontalen Cortex zusammen, die Fähigkeit, auch eigene Gefühle ein Stück weit zu steuern, Situationen unterschiedlich zu bewerten, neu zu bewerten. Das sind alles Kompetenzen, die mit dem Alter immer mehr dazukommen und dann uns helfen, in sozial akzeptierter Weise unsere Interessen zu kommunizieren.
ERZÄHLERIN
In sozial akzeptierter Weise – das gilt übrigens auch für positive Emotionen. Man könnte vielleicht denken, dass wir Freude nicht regulieren müssen, weil man davon nicht genug haben kann. Ein Trugschluss.
26 O-TON (Scheithauer)
Stellen Sie sich vor, Sie wären stundenlang euphorisch oder überschwänglich positiv gestimmt. Das klingt jetzt erst mal so, als wäre das etwas sehr Erstrebenswertes. Aber ich glaube, wenn man so richtig glücklich ist und euphorisch hochspringt, wenn man das mal 15, 20 Minuten erleben würde, wäre man fix und fertig.
ERZÄHLERIN
Hinzu kommt: Erwachsene zeigen Freude anders als Kinder. Ich erinnere mich noch daran, wie mein Sohn und seine beste Freundin sich das erste Mal nach den Ferien in der Kita wiedergesehen haben. Die beiden fielen sich in die Arme und sind dann händchenhaltend und im Hopserlauf in ihren Kitaraum gehüpft. Wir Eltern waren entzückt. Tatsächlich freue ich mich wirklich auch, wenn ich Kolleginnen oder alte Freunde nach längerer Zeit wiedertreffe. Aber Händchenhaltend durch die Stadt? Im Hopserlauf durch die Redaktion? Eher nicht. Das zeigt: Wie wir unsere Gefühle ausdrücken, was akzeptiert ist und was nicht, ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Normen.
27 O-TON (Pauen)
Das hängt sehr von kulturellen und normativen Erwartungen ab. Und bei Erwachsenen drückt sich eben unbändige Freude anders aus als bei einem Kleinkind.
ERZÄHLERIN
Wie Gefühle ausgedrückt werden, lernen Kinder vor allem durch Beobachtung.
28 O-TON (Pauen)
Alle Kinder lernen durch Beobachtung am Modell. Und für die Kleinkinder sind die etwas älteren Kinder eben das Modell. Und wenn in einer Kultur sich eine bestimmte Form des Ausdrucks verbreitet hat, dann läuft dieses Lernen implizit. Das wird auch gar nicht irgendwie eingedrillt oder so, sondern das entsteht einfach, weil die Umgebung so ist.
ERZÄHLERIN
Die ist zum Beispiel in Asien anders als in Europa.
29 O-TON (Pauen)
Eine Kollegin von mir ist Japanologin. Die hat mir erzählt, dass sie mit ihren Kindern in Japan auf dem Spielplatz immer sehr unangenehm auffällt, weil ihre Kinder eben sehr laut durch die Gegend rufen und eben sehr viel Emotionsausdruck zeigen. Und schon die kleinen Kinder in Japan eigentlich viel gesitteter und ruhiger sich äußern. Also die Erwartungen, was den Ausdruck angeht und die Wildheit des Verhaltens angeht, sind in Japan ganz anders als hier.
ERZÄHLERIN
Ich finde es ja toll, wenn die Kinder auf dem Spielplatz sich so richtig austoben. Wenn sie wild spielen, rennen und auch mal so richtig rummatschen. Aber ich bin eben auch jemand, der im Westen sozialisiert wurde, also einer individualistischen Kultur.
30 O-TON (Scheithauer)
Hier fördern Eltern zum Beispiel die Selbstbestimmtheit des Kindes, die Autonomie, die Unabhängigkeit ihrer Kinder. Und der Selbstausdruck und eine offene Kommunikation von ich-fokussierten Emotionen wird hier besonders betont. Also Ärger, Stolz, Ekel, auch negative Emotionen werden hier viel stärker gefördert und akzeptiert als eben in den kollektivistischen Kulturen.
ERZÄHLERIN
Die kollektivistischen Kulturen findet man in vielen Ländern Asiens.
31 O-TON (Scheithauer)
Wir sprechen auch von Emotional Display Rules, das heißt, es gibt bestimmte Regeln, die wir einfach kulturell vermittelt kennen, wie man sich in bestimmten Kontexten zu verhalten hat – wenn man glücklich ist, wenn man fröhlich ist, wenn man wütend ist, wenn man ängstlich ist usw. Das heißt, je nach kulturellem Hintergrund kann dann auch die gezeigte Gesichts-Mimik etwas anders ausfallen.
ERZÄHLERIN
Das kann dazu führen, dass wir in einer fremden Umgebung, in einer anderen Kultur erst mal unangenehm auffallen. Aber gleichzeitig macht es auch deutlich, wie vielfältig wir Menschen sind.
32 O-TON (Pauen)
Auf der positiven Seite zeigt das ja eigentlich, mit wie vielen unterschiedlichen Formen des Austausches wir zurechtkommen. Also im Prinzip sind die Kleinen wirklich offen für alles. Es kommt darauf an, was wir ihnen bieten.
Musik 8
"Im Innern Berlins" - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'24
ERZÄHLERIN
Uns ist es wichtig, unserem Sohn zu zeigen, dass alle seine Gefühle okay sind. Auch Wut. Und mit der Zeit ist es uns gelungen, auch bei heftigen Wutanfällen gelassen zu bleiben. Meistens jedenfalls. Aber es muss auch gar nicht immer perfekt laufen.
33 O-TON (Scheithauer)
Weil es gibt ja auch Möglichkeiten der Wiedergutmachung, dass man dem Kind das hinterher erklärt und sagt: Du, Mama ist gerade ganz doll im Stress und es tut mir leid, ich wollte dich jetzt nicht anschreien. Auch das ist etwas, was Kinder dann lernen von den Erwachsenen, dass man auch mal einen Fehler macht und dass man sich aber entschuldigt und mit dieser Situation umgeht.
Musik 9
"Desolate Spirit" - Ausführende: Nick Johnson & Nino Morro - Album: Nordic Noir - Komponist: Nick Johnson - Länge: 0'37
ERZÄHLERIN
Sich entschuldigen, sich wieder vertragen und versöhnen – auch das will gelernt sein. Am besten von den eigenen Eltern.
34 O-TON (Scheithauer)
Man kann damit seinem Kind auch gleichzeitig wieder etwas Gutes tun, indem es lernt: Auch Erwachsene sind schwach, auch Erwachsene machen Fehler, und die wissen aber auch, wie man sich dann entschuldigt und wie man das wieder geradebiegt.
ERZÄHLERIN
Und das ist bei all den starken Gefühlen, die im Familienalltag so aufkommen, doch letztlich sehr beruhigend.
Surfen war für die Ureinwohner Hawaiis mehr als ein Freizeitvergnügen: Sich auf hölzernen Brettern Wind und Wellen auszuliefern, war für die Südsee-Insulaner gar eine Religion. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitet sich das Surfen weltweit. Von Lukas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Matze und Laura, Wellenreiter und Surftouristen aus Hannover;
Prof. Sabine Kind, Professorin an der Deutschen Hochschule für Prävention
und Gesundheitsmanagement, Saarbrücken und Surferin;
Timo Sternemann, Diplom-Sportwissenschaftler, Surflehrer und Coach, Münster;
Arthur Pauli, Pionier des Flusssurfens, Traunreut;
Philip Köster, Windsurf-Weltmeister in der Disziplin „Wellenreiten“, Gran Canaria
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Ein Podcast-Tipp für alle, die gerne authentische Geschichten hören: „Ein Zimmer für uns allein“ – zwei Frauen, zwei Generationen und die Frage „Wie hast du das erlebt?“
Hier trifft Paula Lochte immer zwei Frauen aus verschiedenen Generationen und sie sprechen offen und ehrlich über ein Thema, das sie verbindet. Was waren die Kämpfe damals, was sind sie heute? „Ein Zimmer für uns allein“ findet ihr in der ARD-Audiothek und überall, wo’s Podcasts gibt – oder gleich HIER
Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Atmo Wellen, Stimmen am Strand, darüber
Sprecher (Aussprache: „Si – ser“, Betonung auf erster Silbe)
Es ist ein sonniger, aber windiger Mittag am Cicer-Strand in Las Palmas auf Gran Canaria – einem der beliebtesten Surf-Spots Europas. Matze und seine Freundin Laura aus Hannover haben gerade ihre Wellenreit-Session beendet. Nun entspannt das Paar an der Strandpromenade in der Sonne, lässt den Surf-Tag Revue passieren – und sinniert über die Faszination, die das Surfen für sie im Allgemeinen und im Besonderen ausmacht.
O-Ton 1 Matze, Surfer aus Hannover
„Weil wir es einfach lieben, im Wasser zu sein, und Verbundenheit zur Natur zu spüren...Wir hatten schon sehr viele sehr schöne Momente, ich erinnere mich an einen Moment in Porto: Es hat leicht geregnet, und die Sonne kam alle paar Minuten doch ein bisschen raus. Und wir mitten im Wasser, und um uns keine Menschen. Also das sind diese fast meditativen Elemente, die mir das Surfen gibt.“
O-Ton 2 Laura, seine Freundin, ebenfalls Surferin
„Diese Kombination: Natur und Urlaub gleichzeitig, und auch Sport zu treiben...macht auf jeden Fall viel Spaß!“
Sprecher
Matze und Laura sind Surf-Touristen. Wann immer das Paar Urlaub hat, reist es dorthin, wo die Wellen am besten brechen, wo die Urgewalt des Meeres den Surfer oder die Surferin auf seinem Brett meterweit trägt. In Portugal waren sie schon, in Nordfrankreich - und jetzt in Las Palmas auf Gran Canaria. Und überall treffen Matze und Laura auf Gleichgesinnte: Längst ist eine internationale Surf-Community entstanden, die die Faszination für Meer, Wind und Wellen eint.
Musik: Inca Gold 0‘35
Sprecherin (Aussprache: Kabaiitos de Totora, Betonung auf den „i“)
Es ist indes kein neues Phänomen: Schon vor Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden wagten sich Menschen auf hölzernen Brettern oder auf einem Gefährt aus geflochtenem Schilf aufs Meer. Schon auf Keramiken der Vor-Inka-Zeit fand man Zeichnungen peruanischer Fischer, die auf Caballitos de Totora, auf „Schilf-Pferdchen“ über die Wellen ritten. Auch Höhlenmalereien aus Polynesien aus dem 12. Jahrhundert zeigen bereits, wie sich Vorreiter der heutigen Surfer auf dem offenen Meer bewegen.
O-Ton 3 Sabine Kind, Sportwissenschaftlerin und Surferin
„Ursprünglich sind die Polynesier und die Hawaiianer mit ihren Auslegerkanus rausgepaddelt, um halt zu fischen, quasi um ihre Nahrung aus dem Wasser zu holen….“
Sprecherin
….weiß Sabine Kind, Professorin für Sportwissenschaften, die zum Thema „Surfen“ promoviert hat.
Musik: Ku’ulpolka 0‘30
Sich in die oft meterhohen Wogen des pazifischen Ozeans zu wagen – das taten die Bewohner der Südsee-Inseln nicht nur zum Zweck des Nahrungserwerbs. Nachdem polynesische Seefahrer ihre Art, die Wellen auf einem Kanu, auf einer Planke oder einem Holzbrett zu reiten, nach Hawaii gebracht hatten, surfte man dort zum Freizeitvertreib. Das Surfen entwickelte sich so zur hawaiianischen Alltags-Kultur.
O-Ton 4 Kind
„Also vergleichbar mit den Inuit, die ich weiß nicht, wie viele hundert Bezeichnungen für Schnee und Schneeflocken haben, also ist das in Hawaii damals gewesen, dass sie unglaublich viele Bezeichnungen für das Meer hatten (…), und in allen Gesellschaftsschichten wurde gesurft. (…) Es gab halt Strände, die waren nur den Häuptlingen und den Königen vorbehalten und es gab halt Strände, die der allgemeinen Bevölkerung vorbehalten waren. (...) da gab es dann bereits maßgefertigte Surfbretter, auch hier gab es eine klare Trennung: bestimmtes Holz nur für die Könige, für die Häuptlinge, also sehr hochwertiges Holz und sage jetzt einfach mal Holz, was vielleicht nicht ganz so hohe Qualität hatte, für die normale Bevölkerung.“
Sprecherin
Letztendlich, sagt Sabine Kind, gewann das Surfen auf Hawaii sogar religiösen Charakter.
O-Ton 5 Kind
„Das Meer hatte halt auch einen Götterstatus.(...)Es gibt kleine Tempel oder gab kleine Tempel, die halt auch errichtet worden sind, in denen dann um Wellen gebeten wurde, wenn keine Wellen da waren.(…) Da gab es dann Opfergaben in Form von Blumen, ich sage jetzt einfach mal Naturopfergaben: Das kann auch Obst gewesen sein - um dann eben auch entsprechend Wellen zu bekommen, gute Wellen zu bekommen. (...) Das andere war zum Beispiel, dass man bei nicht vorhandenen Wellen das Meer mit Seetang gepeitscht hat, um quasi Wellen herbeizuschwören, dazu gab es dann halt auch bestimmte Gesänge.“
Sprecherin
Doch: dass die Hawaiianer ihr gesamtes Leben von früh bis spät nach dem Gang der Wellen ausrichteten – dies sollte bald der Vergangenheit angehören. Nach der Entdeckung der Inseln durch James Cook kamen im 19. Jahrhundert christliche Missionare nach Hawaii. Diesen war das heidnische Brauchtum ein Dorn im Auge: allem voran, dass sich die Inselbewohner nackt aufs Brett stellten. Den Missionaren gelang es, ihre moralischen Sitten durchzusetzen. Mit ihnen hielt auch ein klar strukturierter Tagesablauf auf den Südseeinseln Einzug, der sich nicht mehr nach Ebbe und Flut, nach dem Gang der Wellen richtete. Die kulturelle Einbindung des Surfens ging verloren, es verkam zum reinen Zeitvertreib.
Musikakzent: White sandy beach of Hawai 0‘15
Es war Duke Paoa Kahanamoku – kurz, der „Duke“ - der Anfang des 20. Jahrhunderts eine Renaissance des immer weniger populären Surfens herbeiführte.
O-Ton 6 Kind
„...Er hat das Ganze wirklich nach vorne gebracht: Ursprünglich ja auch ein Schwimmer, ein Rettungsschwimmer, wenn man in Waikiki am Strand steht, gibt es eine ganz große Statue von ihm mit einem Surfbrett. (…) Im Prinzip hat er das Surfen wieder gesellschaftsfähig gemacht, also eben, er hat halt im Prinzip einfach wieder gesurft und die Leute neugierig darauf gemacht, das hat ja so eine Sogwirkung dann: „oh, der macht das auf einmal, das ist ja schon wieder was Besonderes!“ Und letzten Endes hat er dann halt viele andere Leute mitgezogen. (...) Es wurden dann erste Surfclubs wieder eingerichtet, 1908 wurde dann die erste offizielle Surforganisation, der Outrigger Surfboard Club nannte der sich, gegründet. Touristen haben dann halt bei diesen typischen Beach Boys, so nannte man sie oder so nennt man sie halt auch immer noch, Surfunterricht bekommen. Das Ganze ist dann ja von Hawaii nach Kalifornien gekommen.“
Musik: Beach Boys“, Surfin´USA 1‘00
O-Ton 7 Sternemann Teil 1
„Da war das mehr so: Hey, wir gehen da raus, wir haben Spaß zusammen und dödeln da auf so Riesenbrettern so ganz langsam durch die Welle (…)
Sprecher
...weiß der Surflehrer und Coach Timo Sternemann.
O-Ton 7 Sternemann Teil 2
„Und ich denke da, vielleicht hast du so Bilder auch vor Augen, da sind so 50 Leute auf einer Welle gesurft und ich glaube, da war das weniger kompetitiv.“
Sprecher
Noch war das Surfen auf großen, trägen Brettern eine recht gemächliche Angelegenheit. Doch diese Zeiten änderten sich spätestens mit den 1950er-Jahren. Tüftler traten auf den Plan, um die Boards leichter, kleiner und wendiger zu machen. Dazu kamen mehreren Finnen: Kunststoffteile, die wie umgekehrte Haiflossen unten aus den Brettern ragen. Sie beschleunigten die Boards, und machten sie drehfähiger. Dies führte Timo Sternemann zufolge dazu...
O-Ton 8 Sternemann
„….dass die Sportart schneller, agiler, kraftvoller geworden ist, dass irgendwann (...) in den 70er Jahren die Bretter kürzer geworden sind und so ein Dreierfinnen-Set, so ein Thruster erfunden wurde. Da ist so mehr Dynamik reingekommen...und da brauchte dann ein Surfer die ganze Welle, weil der vor, zurück, rauf, runter gefahren ist und dann war dieser Style vom Surfen eben nicht mehr mit 30 Leuten auf einer Welle möglich.“
Sprecher
Dass das Surfen so zunehmend Wettbewerbscharakter gewann – und dass es sich gleichzeitig immer mehr verbreitete: Dies hatte mit einer weiteren Neuerung zu tun: Dem Neopren-Anzug. Denn der machte längere Aufenthalte im Wasser auch in kälteren Regionen - wie etwa der französischen Atlantikküste - möglich. Befeuert durch Berichte in Zeitungen, Magazinen, Rundfunk und Fernsehen kam es in den 1960er-Jahren weltweit zu einem Surf-Boom.
Atmo: Wellen
Auch Arthur Pauli, einem Abiturienten aus dem Chiemgau in Oberbayern, fiel ein Artikel über das Surfen am französischen Atlantik in die Hände. Der junge Mann las ihn – und war sofort fasziniert:
O-Ton 9 Pauli
„Das war der da...„The Fabulous French Surf“. Und das war natürlich... uih, in Frankreich kann man surfen und Biarritz ist natürlich sozusagen die Hauptstadt des europäischen Surfens. Da musste ich unbedingt hin! Das war dann mein Grund, warum ich dann nach meinem Abitur mit dem Motorrad nach Biarritz gefahren bin.“
Sprecherin
Doch: Wie dort surfen ohne eigenes Board? Arthur Pauli und sein ebenso surfbegeisterter Spezl schalteten eine Anzeige in einer Lokalzeitung im fernen Baskenland, um mit Surfern am Atlantik in Kontakt zu kommen. Gemeldet, erzählt Pauli, hat sich niemand.
O-Ton 10 Arthur Pauli, Mit-Erfinder des Fluss-Surfens
„Dann haben wir gesagt: Da gibt es bestimmt einen von den Surfern, der uns ein Brett leihen wird. Aber haben wir keine Resonanz bekommen, bis wir weggefahren sind nach Biarritz. Und auch in Biarritz selber hatten wir Pech gehabt, hat uns keiner ein Brett geliehen. Die waren alle in Betrieb. Immer wenn gute Wellen waren, waren die Bretter alle draußen. Und wenn keine guten Wellen waren, dann wollten wir auch nicht rausgehen. Der Traum, da viel zu surfen, war dann da ausgeträumt. „
Sprecherin
Doch Arthur Pauli, der junge Surf-Pionier aus Trostberg, wusste sich selbst zu helfen. Der Traum, eine schöne Welle zu reiten – der musste sich doch auch fern der Ozeane verwirklichen lassen? Erste Erfahrungen damit hatte Pauli schon als Schüler gesammelt. Zuerst mit Holzbrettern, dann mit der Platte eines alten Campingtischs, die der Jugendliche mit einem Seil am Ufer der Alz befestigte. Sich darauf in die Fluten zu stürzen – das funktionierte aber nur leidlich. Arthur Pauli und seine Freunde verbrachten mit diesen Brettern mehr Zeit unter - als auf dem Wasser.
Atmo Welle Surfin 0‘15
Der junge Mann beschloss daher, sein eigenes Surfbrett zu bauen. Als Vorlage hatte er nicht viel mehr als die Abbildung eines Wellenreiters auf einem Plattencover. Aber Pauli hatte schon Erfahrung im Modellbau, wusste bereits, wie man kleine Boote fertigt. Er sägte die Bestandteile des Bretts aus speziellem Sperrholz und überzog das Ganze mit Glasfaser-Polyester. Fertig war das erste im Chiemgau hergestellte Brett - möglicherweise das erste in Deutschland gefertigte Surfboard überhaupt. Mit der Übergabe eines seiner Boards an einen „Kunden“ in München im Jahr 1971 sollte auch die Geschichte des „River-Surfens“ in der Landeshauptstadt Fahrt aufnehmen.
O-Ton 11 Pauli
„Und da sind wir dann, das war dann südlich des Campingplatz Thalkirchen...da hat es auch eine kleine Welle gegeben, die war aber für uns das erste Mal noch nicht so interessant. Wir wollten das erste Mal mit dem Seil fahren, aber beim Fahren mit dem Seil mit dem Brett sind wir draufgekommen: Da ist ja eigentlich schon ein bisschen eine Welle, und vielleicht könnte man mal versuchen, so hinzufahren mit dem Seil, dass die Welle schiebt! Die war nämlich nicht sehr hoch die Welle, die hat schätzungsweise so 40 Zentimeter, 30 Zentimeter... Das ist uns nicht gelungen!“
Sprecherin
Frei, ganz ohne Seil auf einer Welle zu stehen: An der heutigen Königsdiziplin der Fluss-Surfer scheiterten Pauli und seine Surf-Spezln damals – noch.
O-Ton 12 Pauli
„...aber mein Spezl, dem ich das Brett geliefert habe am Königsplatz, der hat mit einem amerikanischen GI, den wir da auch kennengelernt haben, der hat so lang probiert und so intensiv auf der Welle probiert, bis er es geschafft hat, auf dieser kleinen 30 Zentimeter hohen Welle wirklich ohne Seil zu reiten“
Atmo große Welle(n), darüber
Sprecherin
Während in München das Riversurfen florierte, die tollkühnen Wellenreiter – nunmehr auf dem Eisbach - nach und nach zur Touristenattraktion wurden, nahm weltweit eine andere Form des Surfens ihren Aufschwung:
Musik: Wind beneath the wings 0‘45
Das Windsurfen. Es waren die US-Amerikaner Newman Darby und Jim Drake, die Ende der 1960er-Jahre die Idee, ein Surfbrett mit einem Segel zu verbinden, erstmals in die Tat umsetzten. Doch erst Neuerungen, die das Windsurfen bequemer machen, wie die Entwicklung des Trapezes, das die Hände entlastet, Fußschlaufen für höhere Standfestigkeit auf dem Brett, sowie insgesamt leichtere und agilere Bretter, die Sprünge ermöglichen, sorgten dafür, dass sich die Sportart weit verbreitete. Seinen weltweiten Durchbruch erlebte das Windsurfen Ende der 70-er, Anfang der 80er-Jahre.
Sprecher
Zu dieser Zeit wandert auch das Hamburger Ehepaar Köster nach Gran Canaria aus - und gründet dort eine Surfschule. Ihr Sohn Philipp wächst mit Wind und Wellen auf.
O-Ton 13 Philip Köster, Windsurf-Profi auf Gran Canaria
„Ich hatte eigentlich immer das Meer vor meiner Haustür. (...)Surfen ist mein Leben, sozusagen. Seit meinem achten Lebensjahr bin ich eigentlich nur am Windsurfen.“
Atmo: Wind/Meer
Sprecher (Aussprache: Poso Iskierdo)
Der hier stets wehende, oft starke Wind in Pozo Izquierdo im Südosten von Gran Canaria bietet professionellen Windsurfern wie Philip Köster beste Bedingungen.
Musik: Sky in your eyes 0‘30
Manchen Surfer reizt der Speed: Profis erreichen bei starkem Wind Rekordgeschwindigkeiten von bis zu 120 Kilometer pro Stunde. Andere bevorzugen die Disziplin „Slalom“. Philip Köster reizt indes eher das Waveriding: Die Wellen – und was sich aus ihnen machen lässt.
O-Ton 14 Köster
„Man kann Ein-, Zwei-Meter-Wellen haben bei einem guten Tag. Nicht so wie in Hawaii, wo es dann bis acht Meter geht. Das Spezielle hier auf Gran Canaria in Pozo, ist eigentlich der ganz starke Wind, wo man richtig hoch springen kann. Desto stärker der Wind ist, desto höher kann ich auch springen, was mir auch sehr viel Spaß bringt. Und ich schaue immer, immer höher zu springen. (...) Also ich bin schon seit Jahren lang dran am Triple Loop, also dreifachem Vorwärtssalto.“
Atmo: Meeresstand
Sprecher
Schon 2009, als Jugendlichem, gelang Philip Köster mit 18 Metern der damals höchste Sprung der Windsurfgeschichte. Köster war der erste Deutsche, der in der Kategorie „Wellenreiten“ Windsurf-Weltmeister wurde. Vier weitere Titel sollten folgen. Der junge Surfprofi ist „mit allen Wassern“ gewaschen. Doch perfekt – das, sagt Köster, ist man im Surfsport nie.
O-Ton 15 Köster
Man kann nie der perfekte Surfer sein.(…) Die Bedingungen sind eigentlich immer anders (…) Wenn der Wind stärker wird, wird alles unberechenbarer. Man kann Sachen kontrollieren bis zu einem Limit. Wenn der Wind, wenn erst mal zehn, elf, zwölf Windstärken da sind, dann kontrolliert man einfach nichts mehr so richtig. Und an dem Limit zu bleiben und Sachen auszuprobieren, bringt mir Spaß. Ja, das gehört eigentlich dazu zum Windsurfen, sich immer weiterzuentwickeln darin.“
Sprecher
Es ist der Reiz des Unkontrollierbaren, der Surferinnen und Surfer bis heute veranlasst, sich den Elementen auszuliefern, sich zum Spielball der Urgewalt des Meeres zu machen. Ungefährlich ist das nicht: Philip Köster verletzte sich bei einem Sturz schwer am Knie, riss sich Bänder, ein Knochen splitterte ab. Beim Surfen kann einiges passieren: Das Board kann einen Surfer am Kopf treffen, er kann bewusstlos werden, im schlimmsten Fall ertrinken. Weltweit verunglücken durchschnittlich jedes Jahr zehn Surfer tödlich. Um das Surfen sicherer und besser zu machen, hat der Mensch die Technik der Boards über die Jahrzehnte immer weiter verfeinert: Zunächst beim Wellenreiten, dann beim Windsurfen, schließlich aktuell beim Kiten – wobei sich der Surfer von einem Lenkdrachen ziehen lässt.
Musik: Longing for freedom 0‘20
Sprecherin
Freiheit erfahren, sich eins fühlen mit einer Natur, die dem Menschen gleichzeitig genau seinen Platz zuweist: Das macht für den Sportwissenschaftler, Surflehrer und Coach Timo Sternemann die Faszination des Surfens aus.
O-Ton 16 Sternemann
„Für mich ist das tatsächlich so, dass man sich irgendwie in dieses große System Natur so reinbegibt und ja irgendwo nach diesen Regeln spielen muss. Das sind ja eigentlich Regeln der Physik. Also ich muss irgendwelche Regeln erfüllen, damit ich in diesem System da überhaupt auf diese Welle kommen kann oder mit dem Kite wegfliegen kann. Aber innerhalb dieser Grenzen dieses Systems, da kann man sich dann frei entfalten. Und das finde ich geil. Und ich finde, da kann man auch so ein bisschen Parallelen aufs Leben, auf das Leben in einer Gesellschaft auch ziehen. So wir haben hier bestimmte Regeln, bestimmte Eckpfeiler. Aber innerhalb derer kann man sich dann doch frei entfalten und kreativ sein.“
MUSIK: Hyacinth House 0‘25
Sprecher
Neo-Hippies, die mit ihrem VW-Bulli den Wellen nachreisen, auf dem Dach immer das Board, in der Hand den obligatorischen Joint: Die, sagt Timo Sternemann, gebe es immer noch. Und doch habe sich im Surfen etwas verschoben: Weg von einer Lebenseinstellung, einem Lebensgefühl hin zum Sportlichen, das den modernen Prinzipien der Optimierung und Selbstoptimierung folgt.
O-Ton 17 Sternemann
„Bestimmt ist es kompetitiver geworden, weil die Welt ist ja durchaus, wir leben in den Medien und Marketing und Wirtschaft, das lebt ja irgendwie von Competition, vom Wettbewerb. (…) Und die Gesellschaft macht die Menschen, die Menschen machen die Gesellschaft, also werden diese Menschen auch genau das in so einen Sport reinbringen. In diesem Sinne kann man bestimmt sagen, ja, es gibt mehr Contests, mehr öffentliches Interesse, das würde auch so eine kompetitive Ader des Surfens fördern. Es gibt auch noch einen anderen Aspekt von Competition, das ist im Prinzip auch so ein Neidfaktor an den Spots, da gibt es natürlich auch etwas Kompetitives, nämlich wem gehört die Welle? Ist es den besseren Surfer, dem Surfer, der da wohnt oder sind die für alle da? Also dieses Lokalismus, Localism ist da ein Thema, glaube ich, wo Leute sich irgendwie des Kämpfens verpflichtet fühlen.“
Musik: Smart workaround 0‘45
Sprecherin
Denn über Social Media, über Instagram, Facebook oder Tik Tok ist jeder einmal entdeckte Surfspot einer globalen Community einfach in Sekundenschnelle zugänglich. Surfer wüssten heute durch Wind- und Wettervorhersagen oft schon im Vorhinein, welche Orte sich wann zum Wellenreiten lohnen – wo es sich lohnt, hinzufahren, und wo nicht. Doch: Geht dadurch nicht das Geheimnis von Versuch und Irrtum, die Faszination des Entdeckens neuer Strände, die Spontaneität beim Surfen verloren? Timo Sternemann hat daran Zweifel. Denn dank der digitalen Errungenschaften könne man heute eben auch ganz spontan einen Trip dorthin buchen, wo Wind und Wellen gerade am besten sind. Für Sabine Kind, Surferin und Professorin an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement hat ein weiterer Aspekt des Surfens jüngst an Bedeutung gewonnen: Fitness und Gesundheit.
O-Ton 18 Kind
„Atemübungen, Achtsamkeit, was kann ich meinem Körper zutrauen, was traue ich mir selber zu. (…) Es gibt ein paar wenige Studien, die zum Beispiel festgestellt haben, dass bei depressiven Verstimmungen, depressiven Erkrankungen Surfen helfen kann, das ganze zu verbessern. Eben aufgrund von Achtsamkeit, (...)man stärkt dadurch auch seine Selbstwirksamkeit, weil man ja immer seine Fähigkeiten intensiviert, immer mehr Fähigkeiten dazu gewinnt. Und eben auch durch diese Erfolgserlebnisse, die man dann irgendwann hat, wenn man dran bleibt, seine Selbstwirksamkeit stärkt.“
Musik: The flow of time 0‘45
Sprecherin
In ihrer Doktorarbeit „Surfing - Happy and Healthy? Gesundheit im Habitus von Surfern“ zitiert Sabine Kind die brasilianische Big-Wave-Surferin Maya Gabeira, die nach einem lebensbedrohlichen Unfall in meterhohen Wellen gefragt wurde, warum sie trotzdem weitermache. Ihre Antwort: Der Flow. „Wenn Du in einer lebensbedrohlichen Situation in den Flow kommst“, erzählte die Profi-Surferin, „dann erreichst Du ein Level, das Du ohne diese Situation nie erreichen würdest.“ Es sei genau dieser Flow, der Surferinnen und Surfer trotz brenzliger oder auch einfach nur anstrengender Situationen immer wieder aufs Brett treibe, sagt Sabine Kind.
O-Ton 19 Kind
„Surfer sprechen ja auch oft oder überhaupt in diesen Sportarten, die ja häufig von diesem Flow-Gefühl beschrieben, dass es einen so trägt und dass es einen motiviert, weiterzumachen. Auch wenn vielleicht der Muskelkater von Tag vorher noch extrem vorhanden ist.“
Sprecher
„Weitermachen, trotz aller Mühe!“ Das ist auch das Motto von Laura und Matze, die aus Hannover zum Surfen an den Stadtstrand von Las Palmas gekommen sind. Die Bedingungen: Sie waren heute nicht einfach, die Wellen ziemlich choppy, das heißt: Der Wind zerstreut die Wellen, macht sie ungleichmäßig – und so schwer zu reiten.
Atmo Wellen
Eine Erfahrung, von der sich passionierte Surfer wie Laura und Matze jedoch keineswegs entmutigen lassen.
O-Ton 20 Laura
„Heute schwierig, aber auch sehr interessant, die Wellen auch zu lesen. Ich habe begonnen – und ich werde, bis ich nicht mehr kann... surfen lernen und üben.“
Musik Ambient flow 0‘35
O-Ton 21 Matze
„Ich hab das schon erwähnt mit dem Meditativen: Es ist wie Wandern, aber im Wasser. Und das Gefühl nach so ner Session: Das genieße ich auch immer sehr. Ich fühl mich wie...als wär ich in der Waschmaschine gewesen. Ich war auch in einigen Waschmaschinen: So nennt man das beim Surfen auch, wenn man unter Wasser ist. Von daher: Das Gefühl danach ist auch sehr, sehr schön.“
Flüsse und Bäche trocknen wegen des Klimawandels immer öfter aus. Dabei können sie ihre Dienste als Ökosystem nicht mehr leisten und viele Arten gehen verloren. In dem Projekt ?Dry River? machen europäische Forscher und Forscherinnen nun eine Bestandsaufnahme, um unsere Fließgewässer besser schützen zu können. Von Brigitte Kramer (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Annika Künne, Geographin, Universität Jena;
Professor Dr. Markus Weitere, Biologe, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, Magdeburg;
Professor Dr. Klement Tockner, Biologe, Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, Frankfurt am Main.
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ATMO 1 Rauschender, großer Fluss, etwas stehen lassen
SPRECHERIN darüber
Wassermassen drängen sich durch die Landschaft ... mal als in der Sonne glitzerndes Band, mal als graugrüner, tosender Strom … immer weiter, dem Meer entgegen. ATMO 1 freistellen
An ihren Ufern sind Siedlungen entstanden, aus denen später Städte wurden. Felder und Weiden wurden angelegt, später Industrieanlagen, dann kamen Talsperren, Kanäle und Begradigungen …
Flüsse gehören zu den von uns am stärksten veränderten Ökosystemen. Für den Menschen sind sie jedoch lebenswichtig.
ATMO 1 freistellen, dann weg
Zur Übernutzung, Verunreinigung und massiven Eingriffen in die Natur kommen jetzt auch noch die Folgen des Klimawandels: Weltweit steht es schlecht um Flüsse und Bäche. Ihnen fehlt das Wasser. Viele von ihnen fallen trocken, verschwinden, versickern oder enden als jämmerliche Rinnsale. Was passiert, wenn Flussbetten vorübergehend austrocknen?
Was geht dabei verloren, und was kommt danach? Professor Klement Tockner von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung erklärt, was ein gesunder Fluss alles leistet:
O TON 1 Klement Tockner
Eine der wichtigsten Leistungen ist die Selbstreinigungskraft, das heißt das Entfernen von Nähr- oder auch von Schadstoffen an der Gewässersohle, um eben sauberes Trinkwasser für uns Menschen bereitzustellen, um Wasser für die Landwirtschaft bereitzustellen. Dazu kommt auch, dass das Gewässerbett ein ganz wichtiger Lebensraum zum Beispiel für Insektenlarven, aber auch für Jungfische ist.
Musik: Questions an decisions 0‘40
SPRECHERIN
Die „Reinigungsleistung“ entsteht zum einen durch die Fließbewegung, bei der das Wasser auf den Grund gedrückt und den Organismen dort zugespült wird. Diese reinigen das Wasser, zum Beispiel, indem sie es durch ihre Kiemen fließen lassen und dabei Nahrungspartikel herausfiltern - so wie es die Flussperlmuschel tut. Die Selbstreinigung eines Flusses findet zudem auch an der Gewässeroberfläche statt, in einem Biofilm, den Mikroorganismen unter Sauerstoffverbrauch bilden. Gesunde Flüsse leisten aber noch mehr:
O TON 2 Klement Tockner
Die Gewässer sind natürlich auch ein ganz zentraler Erholungsraum für uns Menschen. Das Gurgeln oder das Rauschen eines Baches hat eine positive Auswirkung auf unsere Wahrnehmung unserer Umwelt. Das sind alles zentrale Leistungen, die Gewässer für uns bereitstellen.
ATMO 2 Plätschernder Bach etwas stehen lassen, dann Blende Musik: Surviving victims 1‘09
SPRECHERIN darüber
Wenn sie diese „zentralen Leistungen“ nicht mehr erbringen können, haben wir Menschen ein massives Problem: Nicht nur wegen des Trinkwassers. Fallen Flüsse bei uns trocken, zeitweise oder stellenweise, sterben viele Arten, die in ihrem Ökosystem gedeihen. Musik 3 hoch Denn im Gegensatz zu anderen Regionen der Erde, wo das Austrocknen eines Flusses zu seinem natürlichen Zyklus gehört und die Arten sich daran angepasst haben, brauchen in Mitteleuropa viele Tier- und Pflanzenarten eine Rückzugsmöglichkeit in feuchte oder nasse Lebensräume. In die „hyporheische Zone“ zum Beispiel, die Übergangszone im Sediment zwischen Grundwasser und Fließgewässer. Doch die ist oft auch trocken, weil der Grundwasserspiegel stetig sinkt. Das ist gravierend, weil Flüsse Hotspots der Vielfalt sind und zu den wertvollsten Ökosystemen überhaupt gehören: Sie bedecken zwar nur ein Prozent der Landoberfläche, dienen aber zehn Prozent der Arten als Lebensraum.
Musik 3 weg.
Das Ökosystem Fluss ist also weit mehr als nur das fließende Band, das wir wahrnehmen:
O TON 3 Annika Künne
Um sich das überhaupt besser vorstellen zu können, muss man eigentlich wissen, dass das Gewässer oder Flussbett auch den Bereich unter und neben dem Fluss, also auch die Flussauen mit einschließt. Also eine Zone, wo eine Interaktion stattfindet zwischen dem oberflächlichen Wasser, was wir dann als Bach oder Fluss wahrnehmen, und natürlich auch dem Grundwasser.
Musik: Absorbed in thought 0‘34
Atmo Bach/Fluss
SPRECHERIN drüber
Flüsse und Bäche sind nichts anderes als zutage tretendes Grundwasser: Es kommt in Quellen an die Oberfläche und bildet dann ein oberirdisches Gewässer. Fließgewässer brauchen eine intakte Uferlandschaft, erkennbar zum Beispiel an Auenwäldern, in denen in unseren Breitengraden Brennessel oder Bärlauch wachsen. Diese Uferstreifen wirken bei Hochwasser wie ein Schwamm, bei Niedrigwasser geben sie Wasser in das Flussbett zurück. Musik 1 runter Dr. Annika Künne ist Geologin und arbeitet mit Klement Tockner zusammen an einem internationalen, von der EU finanzierten Projekt, das erstmals den Zustand von Flüssen erfasst:
O TON 4 Annika Künne
Eben weil dieses Trockenfallen vielleicht in Räumen, wo das früher nicht so häufig aufgetreten ist, wurde das auch wissenschaftlich etwas stiefmütterlich behandelt. Und deswegen haben wir dementsprechend wenig Methoden. Man hat Ansätze, aber man hat noch nicht so viel Analysen, dass man das wirklich ganz genau quantifizieren kann.
SPRECHERIN
Konkret geht es bei dem Projekt „Dryver“ – der Begriff ist eine Zusammensetzung / aus den Worten… dry, trocken und river, Fluss – um die Erforschung von sechs Flusseinzugsgebieten in Europa – Spanien, Frankreich, Ungarn, Kroatien, Tschechien und Finnland –, und drei in Lateinamerika. 25 Experten aus 11 Ländern sammeln Daten und geben dann Empfehlungen und Strategien heraus für ein anpassungsfähiges Management von Fließgewässern. Die von 2018 bis 2022 fast durchgehende Dürre hat vielen Menschen in Europa gezeigt, wie schnell das Wasser ausgehen kann:
O TON 5 Annika Künne
Auch hier wird es einfach stärker. Und es gibt Veränderungen, also sowohl der Wasserqualität als auch Wassermangel. Und was wir schon sehen können, ist ein Artenrückgang.
Musik: Bleak and droughty 0‘46
SPRECHERIN
Trockenfallende Flüsse sind ein weltweites Phänomen, das in Polargebieten, im Hochgebirge oder in karstigen Regionen immer schon aufgetreten ist. Weltweit fallen 51 bis 60 Prozent der Flüsse regelmäßig, vorübergehend, trocken. In besonders trockenen Gebieten der Erde, wie in Indien, Westaustralien oder der afrikanischen Sahelzone, sind es laut den Modellierungen des Forschungsprojekts Dryver sogar 99 Prozent der Fließgewässer. Aber auch in den kühlgemäßigten und feuchten Klimazonen trocknen fast ein Drittel der Fließgewässer immer wieder aus. Wenn man kleine Bäche mitzählt, sind es hier sogar mehr als die Hälfte der Wasserläufe.
O TON 6 Annika Künne
Bisherige Schätzungen zeigen, dass diese Probleme auch weiter zunehmen werden. Mechanismen kann man dabei noch nicht ganz genau abschätzen, zum Beispiel ab wann ein Fluss bestimmte Funktionen nicht mehr erfüllen kann.
MUSIK Surviving victims 0‘13
SPRECHERIN drüber, dann weg
Auch große Flüsse wie der Nil, der Gelbe Fluss in China oder der Rio Grande in den USA führen immer weniger Wasser.
O TON 7 Klement Tockner
Das hat natürlich dann massive Konsequenzen nicht nur für die Natur, sondern auch für die Wasserversorgung, für die Menschen, für die Schifffahrt oder für die Kühlung von Industrieanlagen. Und das nimmt zu, weil wir auf der einen Seite eine Verschiebung des Niederschlagsregimes haben und andererseits eine zunehmende Übernutzung der Gewässer.
Musik: Complex questions 0‘38
SPRECHERIN
Die Zusammenhänge sind komplex, wie alles bei der Klimakrise - weil eben alles ineinandergreift. Die Zeiten für Regen verändern sich, die Niederschlagsmenge ebenso. Es gibt mehr Starkregen. Sommer und Herbst werden in Mitteleuropa tendenziell trockener. Wegen der erhöhten Temperaturen auf der Erde brauchen wir mehr Wasser, zum Trinken und zum Bewässern und auch für die Energiewende. Und auch weil die Welt sich immer weiter industrialisiert, beziehungsweise digitalisiert. Zum Beispiel entstehen immer mehr Rechenzentren, und die brauchen Wasser zur Kühlung. Dazu kommen die Herausforderungen der Energiewende Stichwort Wasserstoffwirtschaft: In der zukunftsträchtigen Wasserstoffwirtschaft sollen fossile Energieträger durch grünen Wasserstoff ersetzt werden. Grüner Wasserstoff wird mit Strom aus erneuerbaren Energien anhand von Elektrolyse von Wasser hergestellt: Das Wasser wird in seine Elemente Sauerstoff und Wasserstoff zerlegt. Für die Produktion von einem Kilo Wasserstoff sind mindestens neun Kilo Wasser erforderlich. Alles dreht sich also um's Wasser. Annika Künne:
O TON 8 Annika Künne
Wir sehen, dass die Grundwasserstände an mehreren Stellen seit ungefähr zehn Jahren drastisch zurückgehen, und zwar so drastisch, dass man von einer Grundwasserdürre reden kann. Und das sieht man ja nicht. Das Grundwasser ist ja, bleibt ja irgendwie unsichtbar. Und das nächste ist Grundwasserqualität.
SPRECHERIN
Grundwasser ist Trinkwasser, da muss die Qualität stimmen. Oberirdisch kann man den Missstand mit bloßem Auge erkennen – in den Flüssen und Bächen. Professor Dr. Markus Weitere vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung beschreibt, was vor dem Austrocknen eines Fließgewässers passiert – also bei Niedrigwasser. Ein Symptom ist ...
O TON 9 Markus Weitere
… dass die Auen tatsächlich richtige trockene Symptome zeigen. Also Vegetation wird oft trocken, die Gewässer in den Auen gehen zurück oder verschwinden auch ganz.
SPRECHERIN
Der Fluss trocknet sozusagen vom Rand her aus.
O TON 10 Markus Weitere
Im nächsten Schritt was passiert ist, dass das Wasser schlicht und ergreifend erstmal langsamer fließt. Da hängt zum Beispiel auch so was wie die Reinigungsleistung dran, weil dafür ist es ganz wichtig, dass sich das Wasser einfach stark bewegt. Wenn jetzt geringer Abfluss zusammenkommt mit vielleicht einer sommerlichen Hitzewelle, auch dann kann es zu ganz unterschiedlichen Prozessen im Gewässer kommen. Es können sich zum Beispiel sehr stark Algen entwickeln, die dann am Ende wieder auch zu einer Sauerstoffzehrung führen und zum Problem werden. Im Extremfall kann es dann zum Fischsterben kommen.
SPRECHERIN
Wie in der Oder im Sommer 2022,
Musik: Sad water 0‘24
als mehrere hundert Tonnen toter Fische im Fluss trieben. Eine giftige Alge hatte die Fische umgebracht. Dazu war das Wasser sehr warm und, weil der Fluss wenig Wasser führte, war die Schad- und Nähstoffkonzentration sehr hoch, darunter die Konzentration von Salz, das aus schlesischen Kohlegruben in die Oder geleitet wurde. Musik weg Für Markus Weitere ein Szenario, an das wir uns gewöhnen müssen, wenn wir nicht eingreifen:
O TON 11 Markus Weitere
Wir haben Wasserdefizit aufgebaut und haben dadurch auch so ein gewisses Fenster in die Zukunft bekommen. In das, was uns eigentlich erwartet. Und was wir da gesehen haben, ist, dass viele Gewässer tatsächlich anfällig waren. Aber es gibt eben auch eine ganze Menge Gewässer, denen das offensichtlich nicht so viel angetan hat.
SPRECHERIN
Kann man Flüsse vor dem Austrocknen schützen? Ja, kann man, mit „anpassungsfähigem Management von Fließgewässern“, wie das im Dryver-Projekt heißt. Auch schon das, was vor dem Trockenfallen passiert, muss vermieden werden: Algenbildung, Fischsterben, Schadstoffkonzentration.
O TON 12 Markus Weitere
Wir sehen da zumindest drei Bedingungen, die das beeinflussen. Das eine ist das Einzugsgebiet, das heißt, kann das Einzugsgebiet viel Wasser aufnehmen, wenn es denn ein Starkregenereignis gibt und das dann dosiert auch abgeben das Wasser in Phasen der meteorologischen Dürre? Das zweite ist die Gewässerbelastung, die chemische Belastung. Also sind die Gewässer schon vorbelastet. Das ist das, was wir in der Oder erlebt hatten. Und es kommt auch auf die Struktur des Gewässers an, da spielt zum Beispiel auch der Randstreifen eine ganz wichtige Rolle. Geht das Gewässer durch den Wald, das heißt fällt Schatten auf die Gewässer. Und das ist ganz wichtig dabei, dass sich das Gewässer eben nicht zu stark erwärmt bei einer sommerlichen Hitze.
SPRECHERIN
Dabei haben wir Menschen das Wasser aus der Landschaft jahrhundertelang abgeleitet, haben Kanäle gezogen, Flüsse begradigt, Feuchtgebiete trocken gelegt, Barrieren, Talsperren eingebaut, die Flüsse regelrecht zerstückelt, Ufer versiegelt. So geht eine Menge wertvolles Regenwasser verloren: Es fließt ungenutzt dem Meer entgegen.
Musik: Light footed 0‘44
Naturnahe Flüsse halten sowohl Hochwassern als auch Dürreperioden am besten stand:
O TON 13 Klement Tockner
Ein unverbauter Fluss, ein unverbauter Bach hat eine Vielzahl an Lebensräumen, tiefe Stellen, also Gumpen, die kaum austrocknen. Grundwassereintritte, die kühl bleiben. MUSIK 2 hoch Vielfältige Zuflüsse, die wiederum unterschiedlich reagieren. MUSIK 2 hoch Und wie in der Finanzwirtschaft sprechen wir auch in der Ökologie von einem sogenannten Portfolio-Effekt. Das heißt, je vielfältiger ein System ist, desto resistenter ist es gegenüber Schwankungen.
Musik: Surviving victims 0‘25
SPRECHERIN drüber
Unverbaute Fließgewässer gibt es in Europa nur noch sehr wenige. Gerade mal neun Prozent sind in Deutschland in einem guten ökologischen Zustand. Dabei schreibt die europäische Wasserrahmenrichtlinie aus dem Jahr 2000 vor, dass ...
ZITATOR
... „alle Mitgliedstaaten der EU verpflichtet sind, bis 2015 und in Ausnahmefällen bis 2027 alle Gewässer in einen „guten ökologischen“ und „guten chemischen Zustand“ zu bringen. Für Grundwasser ist ein „guter mengenmäßiger“ und „guter chemischer Zustand“ zu erreichen.
ATMO 3 trauriges Gegurgel hoch, etwas stehen lassen
SPRECHERIN drüber
Die Erfüllung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie scheint heute utopisch. Die Zusammenhänge sind komplex und die Lösungen weitgreifend. In Bayern erwärmen sich Fließgewässer um durchschnittlich etwa ein halbes Grad in zehn Jahren. Das haben Messungen des Landesamts für Umwelt seit 1980 ergeben. In der Umgebung von Frankfurt fallen Bäche, die aus dem Taunus fließen, trocken, auch in Brandenburg trocknen im Sommer viele Bäche aus. Dort fallen nur etwa 500 Millimeter Regen pro Jahr, und die Niederschläge verschieben sich: Es gibt kürzere, feuchtere Winter und längere Sommer mit langen Trockenzeiten, wie sie eigentlich in südlichen Regionen typisch sind.
O TON 14 Annika Künne
Also es gibt dann eben Grenzen, wo man sagt okay, das hält in der jetzigen Zeit, wo es einfach unter Klimawandel häufiger zu Trockenfallen kommt und auch das Trockenfallen länger anhält, führt das einfach dazu, dass das die Arten, die vielleicht das eine ganze Weile auch gut hinbekommen haben, jetzt nicht mehr schaffen.
SPRECHERIN
Klimamodelle gehen zwar davon aus, dass mehr Niederschlag fallen wird. Der könne den Austrocknungsprozess aber nicht abmildern, meint Annika Künne:
O TON 15 Annika Künne
Das ist schon erschreckend. Das passiert einfach durch die Erderwärmung, weil die Verdunstung so stark zunimmt. Das heißt, das Wasser kommt da gar nicht an, das verdunstet.
Musik: Calculations 0‘25
SPRECHERIN
Bei jedem Grad, um das sie wärmer wird, kann die Luft weitere sieben Prozent mehr Wasserdampf aufnehmen. Der Dampf bleibt in der Luft, regnet sich vorerst nicht ab, sondern wandert mit der atmosphärischen Zirkulation in Richtung Pole.
ATMO: Regen/Fluss
Die Folge ist, dass ohnehin schon regenreiche Regionen zu bestimmten Zeiten noch mehr Niederschläge bekommen:
O TON 16 Annika Künne
Diese, was man im Wetterbericht immer so schön sieht, die Hoch- und Tiefdruckgebiete, das heißt diese Wirbel werden stärker und ziehen dann einfach aus noch größeren Regionen Wasser an und dadurch gibt es viel mehr extreme Niederschlagsereignisse.
SPRECHERIN
Starker Regen führt zu Überschwemmungen – die wirken in trockengefallenen Fluss- oder Bachbetten geradezu zerstörerisch, wie Klement Tockner von der Senckenberg-Gesellschaft weiß:
O TON 17 Klement Tockner
Man muss sich vorstellen, während der Trockenperioden sammelt sich organisches Material, Blätter, auch Schadstoffe an der Sedimentoberfläche. Und wenn dann das Wasser kommt, nach dem ersten großen Regenereignis, dann wird dieses Material auf einmal abtransportiert. Man spricht von sogenannten Black Flats, also schwarzen Hochwässern. Dann kann es flussabwärts, zum Beispiel in Seen oder im Küstenbereich, zur völligen Sauerstoffarmut kommen.
SPRECHERIN
Nährstoffreiches Wasser kann den Sauerstoffgehalt im Wasser verringern. Den brauchen die Wassertiere aber zum Überleben. Viele ersticken. Starkregen richtet nach einer Dürre im Flussbett und im Mündungsgebiet also mehr Schaden an, als er Nutzen bringt. Und wenn dann das Wasser wieder ruhiger fließt? Kehrt dann das Leben zurück? Markus Weitere vom Helmholtz-Zentrum:
O TON 18 Markus Weitere
Regeneration von trockengefallenen Gewässern, die ist sehr unterschiedlich. Wenn wir zum Beispiel von den Mikroorganismen sprechen, die erholen sich relativ schnell wieder. Wenn wir von größeren Tieren sprechen, dann hängt das davon ab, wie gut die sich zurückziehen konnten, also in andere Gewässerabschnitte auswandern. Oder sind es vielleicht Insekten, die erstmal eine Zeit am Land verbringen und dann wieder ihre Eier in das Wasser legen und sich da als Larven wieder entwickeln? Die kommen auch relativ schnell wieder. Aber es gibt dann durchaus auch Tiere, die letztendlich auch durch so eine Austrocknung aussterben können und die überhaupt nicht mehr wiederkommen oder die unheimlich lange brauchen, bis sie so ein Gewässer wieder besiedeln.
MUSIK: Surviving victims 0‘34
SPRECHERIN drüber
Ein extremes Beispiel dafür ist die Flussperlmuschel, die als Wasserfilterer viel für das ökologische Gleichgewicht eines Flusses tut:
O TON 19 Markus Weitere
Die Flussperlmuschel ist bei uns eine sehr seltene, sehr schützenswerte Art, die unheimlich alt wird. Und die kann nicht auswandern, wenn es zur Trockenheit kommt. MUSIK 3 hoch Die Wandergeschwindigkeit ist einfach sehr, sehr gering und die würde dann aussterben. MUSIK 3 hoch Und das wäre tatsächlich ein Verlust, der so schnell nicht wieder gut zu machen ist.
SPRECHERIN
Auch das gehört zum Dryver-Projekt: Ursachen und Folgen des Trockenfallens werden erfasst. Annika Künne benutzt dazu Felddaten von Kollegen und Kolleginnen, die in Flussbetten Pegelstände und Veränderungen gemessen haben. Auch Bürger können helfen: Mit der Dryver-App können sie den Zustand von Flüssen oder Bächen ganz einfach dokumentieren und in die Datenbank einspeisen. Letztlich sollen mit den Daten Modelle entstehen, die die Realität abbilden und dann mit Klimaprojektionsdaten angetrieben, also gefüttert werden können. So können Klimaprognosen und -anpassungsstrategien für Flüsse erstellt werden und zwar geologisch, biologisch und sozioökonomisch. Was schon heute klar ist: Flüsse müssen renaturiert werden, wenn sie klimaresilienter werden sollen und ihre wertvollen Dienste weiterhin leisten sollen. Dabei geht es nicht nur um die Flüsse selbst, sondern auch um ihre Einzugsgebiete. Markus Weitere:
O TON 20 Markus Weitere
Ein großes Stichwort sind blau-grüne Infrastruktur in Städten. Also wie kriegen wir Städte zum Beispiel dazu, dass das Wasser nicht zu schnell abfließt über die versiegelten Flächen, sondern dass es zurückgehalten werden kann in Zisternen und ähnlichem, dass wir Grünflächen haben, wo auch Wasser versickern kann.
ATMO 1 Rauschender, großer Fluss, etwas stehen lassen
SPRECHERIN drüber
Wir Menschen haben uns seit jeher an Flüssen angesiedelt, denn sie garantierten Trinkwasser und fruchtbare Böden. Jahrtausendelang hat die Menschheit von Flüssen profitiert, aber sie hat sie auch vergiftet, zerstückelt, kanalisiert, ihnen Wasser abgezapft. Zeit, dass ihre große Bedeutung mehr ins Bewusstsein rückt.
Musik: Green planet 0‘42
Flüsse brauchen Raum, um auf die Herausforderungen des zu einem erheblichen Teil durch die Menschen verursachten Klimawandels zu reagieren.
Markus Weitere ist optimistisch, gerade wegen der drastischen Ereignisse der Dürrejahre 2018 bis 2022:
O TON 21 Markus Weitere
Ich glaube, dass das im Moment vielen Menschen bewusst wird, dass sich die Gewässer verändern und dass das durchaus ein Problem ist. Ich habe das Gefühl, dass das Bewusstsein dafür zunimmt.
Die Schwerkraft überwinden - schon fliegen wir. In der Praxis steckt genau im Überwinden der Schwerkraft aber die Kunst. Auf welche physikalischen Gesetze es ankommt, damit tonnenschwere Flieger abheben, mussten Flugpioniere mühsam herausfinden. Von Inga Pflug
Credits
Autorin dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Hemma Michel
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Maximilian Wechner, Technische Universität München, Lehrstuhl für Flugsystemdynamik
Michael Zintl, Technische Universität München, Lehrstuhl für Flugsystemdynamik
Prof. Dr.-Ing. Florian Holzapfel, Professor für Flugsystemdynamik an der Technischen Universität München, Lehrstuhl für Flugsystemdynamik
Dr. Robert Kluge, Luftfahrt-Kurator am Deutschen Museum in München
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Im Podcast "Ein Zimmer für uns allein" mit Host Paula Lochte treffen zwei Frauen aus verschiedenen Generationen aufeinander und sprechen über ein Thema, das sie verbindet. Zum Beispiel über Schönheitsideale, sexuelle Aufklärung, Finanzen, Care-Arbeit. Was waren ihre Struggles damals und heute? Was hat sich verändert, oder vielleicht sogar verbessert?
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Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin 1 [beschreibend]:
Landeanflug auf München. Durch die schmalen Scheiben des Flugzeugcockpits lassen sich am Horizont einige grau-weiße Gebäude in der Landschaft erahnen. Das Wetter ist gut, keine Wolken versperren die Sicht.
01 Wechner:
So, also wir sind jetzt (quasi) im Anflug, auf die null acht links, also (quasi) auf die Nordbahn in München sind im Moment sechs nautische Meilen entfernt und machen jetzt (quasi) den Anflug auf München. Ich würde empfehlen, vor allem fürs erste Mal wahrscheinlich so ein bisschen je nachdem zu richten, was auf den Instrumenten ist, weil die ja schon ganz gut unterstützen.
Sprecherin 1:
Große Monitore zeigen die aktuellen Flugparameter an, erklärt Maximilian Wechner, Wissenschaftler an der TU München, der heute für den Flug verantwortlich ist und weiß, wie all die Instrumente im Cockpit zu lesen sind.
02 Wechner:
Auf der linken Seite haben wir einmal des Geschwindigkeitsband, da sehen wir, dass sie gerade 140 Knoten fliegen. Auf der rechten Seite haben wir dann auch unser Höhlenband. Wir sind auf 3340 Fuß und daneben noch unsere Vertikale Geschwindigkeit in Fuß pro Minute.
Sprecherin 1:
Und weil die heutige Test-Pilotin eigentlich Radio-Reporterin ist und zum allerersten Mal in ihrem Leben in einem Flugzeugcockpit sitzt, gibt es von Maximilian Wechner auch noch einen Crashkurs im Steuern, sprich der Bedienung der wichtigsten Schalter und Hebel.
03 Wechner:
Wir haben einen Joystick oder nen Sidestick auf der Seite, wenn wir den ziehen, geht die Nase nach oben vom Flugzeug. Wenn wir drücken, geht die Nase nach unten. Das heißt, damit steigen wir oder sinken wir. Wenn wir nach links drücken oder nach links ziehen, dann quasi drehe wir uns nach links mit dem Flugzeug, machen dadurch letztendlich eine Kurve und nach rechts genauso nach rechts eine Kurve.
Sprecherin 1:
Und dann wird es auch schon ernst. Zum Glück nur virtuell, im Flugsimulator.
04 Zintl:
Also wir müssen jetzt nach vorne und links, weil wir nach rechts jetzt wegdriften. Nach links, genau.
Sprecherin 1:
Denn auch wenn noch zahlreiche Helferlein eingeschaltet sind und Maximilian Wechner und sein Kollege Michael Zintl den Landeanflug unterstützen: Das Flugzeug im idealen Anflugkorridor zu halten, ist gar nicht so einfach.
05 Zintl/Wechner:
Das Gute ist, wir sind relativ weit weg von der Landebahn, also wenn wir jetzt ein bisschen schief sind, das könnte sich noch gut ausgehen. // Jetzt am besten nach rechts korrigieren.
Sprecherin 1 [hektisch/kritisch]:
Das Flugzeug schwankt und schaukelt – Passagiere an Bord einer echten Maschine hätten längst bemerkt, dass etwas nicht stimmt.
06 Zintl/Wechner:
Das ist Stress. So, jetzt würd ich das Flugzeug einmal gerade ausrichten, genau und jetzt einfach geradeaus fliegen. / ((Einmal nach rechts ausrichten, weil sonst überschießen wir wieder. Also)) Joystick nach rechts. Mehr, mehr, mehr, mehr. Jetzt überschießen wir nämlich schon wieder (lacht)
Sprecherin 1 [hektisch/angespannt]:
Mit jeder Aktion am Joystick verändert sich die Lage des Flugzeugs im Raum – alle Bewegungsachsen reagieren gleichzeitig – und dann ist da auch schon die Landebahn.
07 Zintl/Wechner/Autorin:
Nase nach unten nehmen, Flugzeug gerade halten, also nach rechts. / Also die Landebahn ist lang, es könnte sich schon noch ausgehen. Nase nach unten, also ein bisschen nach vorne drücken. Und das Flugzeug gerade ausrichten. / nach hinten ziehen, nach hinten ziehen. / Wir sind am Boden. (Erleichtertes Lachen) – es ist wirklich stressig.
[Ende Atmo Flugsimulator]
Musik: Perfectly precise (red.) 0‘20
Sprecherin 2:
"Fliegen können heißt Landen können" – dieses geflügelte Wort aus der Flugausbildung bestätigt auch Florian Holzapfel, Professor für Flugsystemdynamik an der Technischen Universität München, zu dessen Lehrstuhl der Flugsimulator gehört:
08 Holzapfel:
Beim Starten steh ich ja auf der Startbahn, die Nase zeigt in die Richtung. Das heißt, ich muss erst einmal einfach bloß gerade aus. Und wenn ich schnell genug bin, fliege ich. Wenn ich mal in der Luft bin, ist das Fliegen das Einfachste, was überhaupt gibt. Weil wenn ich weit genug von Hindernissen weg bin, kann ich nirgends dagegen dengeln. Beim Landen müssen Sie mit relativ großer Geschwindigkeit einen relativ kleinen Streifen treffen, die Landebahn. Und dann gibt's so böse Sachen wie Böen und Turbulenz und Winde, die Sie daran hindern. Und es wird umso anspruchsvoller, je kleiner die Landebahn wird und je größer die Geschwindigkeit, mit der sie auf die Landebahn zufliegen müssen.
Sprecherin 2:
… beschreibt der Professor, der selbst eine Flugausbildung hat.
Wobei: So ganz trivial ist das mit dem Fliegen und Abheben dann eben doch nicht.
09 Holzapfel:
Also Fliegen heißt ja jetzt einfach mal, dass wir die Schwerkraft überwinden müssen, weil bei uns auf der Erde wirkt natürlich überall die Schwerkraft, die kann man nicht ab schalten. Und die Frage ist jetzt wie erzeugt meine Kraft, die der Schwerkraft entgegenwirkt und halt genau in die entgegengesetzte Richtung geht…
Sprecherin 2:
… und dafür gibt es zwei Grundprinzipien. Das erste ist der Archimedische Auftrieb, den etwa Ballonfahrer nutzen.
10 Holzapfel:
Das is quasi über Unterschiede in der Dichte. Das ist der archimedische Auftrieb, den alle kennen, wenn man sich in die Badewanne setzt oder in Swimmingpool reinen hüpft. Und auf der anderen Seite haben wir den dynamischen Auftrieb.
Atmo Skateboard
Sprecherin 2:
Und der nutzt das physikalische Prinzip der Impulserhaltung, veranschaulicht Florian Holzapfel mit einem Beispiel:
11 Holzapfel:
Wenn Sie auf einem Skateboard stehen. Und sie haben einen schweren Pflasterstein in der Hand und Sie schmeißen den Pflasterstein runter. Dann wird das Skateboard ja anfangen, sich zu bewegen, weil Sie als Reaktion zu der Tatsache, dass Sie ja diesen Pflasterstein beschleunigen, eine Kraft erzeugen, die Sie dann auch vorantreibt.
Sprecherin 2:
Um permanent mit dem Skateboard fahren zu können, müsste der Skater in diesem Bild aber permanent Steine werfen.
12 Holzapfel:
Mit unserem Flieger fliegen wir in der Atmosphäre, des heißt wir haben ständig Luft um uns herum. Und jetzt können wir natürlich den Trick machen, dass wir die Masse, die wir in dem Fall nach unten schmeißen, weil wir eine Kraft nach oben haben wollen, den sogenannten Auftrieb, diese Masse, die klauen wir uns einfach aus der Luft, die um den Flieger herum ist.
Sprecherin 1 [einwerfend]:
Dabei kommt es auf die Form der Tragflächen an, die wir uns später noch näher anschauen.
Sprecherin 2:
Das Profil der Flügel verursacht bestimmte Effekte, es geht um Druck und Geschwindigkeit…
13 Holzapfel:
Aber in letzter Konsequenz machen wir nichts anders, als dass wir Luftmasse nach unten schmeißen. Und als Reaktion zum Luftmasse-nach-unten-Schmeißen, haben wir dann eben eine Gegenkraft und diese Gegenkraft, die ist der Auftrieb.
AKUSTISCHER TRENNER [z.B. Flughafendurchsage, Aufruf zum Boarding o.ä.]
ATMO Museum
Sprecherin 1:
Ortswechsel: Das Deutsche Museum in München, die Luftfahrthalle auf der Museumsinsel. Flug-Utensilien, wohin das Auge reicht: Hier stehen Flugzeuge und Hubschrauber, da schwebt ein Gleitflugzeug unter der hohen Decke. Dort veranschaulicht eine Tafel, wie die Luft in größeren Höhen immer dünner wird, drüben reihen sich Propeller in unterschiedlichsten Formen aneinander. Ein Doppeldecker dreht – aufgehängt an starken aber kaum sichtbaren Stahlseilen – zwischen zwei Geschossen einen Looping und abenteuerliche Geräte, die aussehen, wie geflügelte Fahrräder oder Seifenkisten mit Flügeln scheinen durch die Luft der Halle zu schweben.
Fliegen, das wird hier klar, ist/war schon immer ein großer Menschheitstraum.
14 Kluge:
Luft ist das letzte Element, das der Mensch sich erarbeitet, erobert hat.
Sprecherin 1:
… sagt Luftfahrt-Kurator Robert Kluge.
15 Kluge:
Man geht davon aus, dass so die allerersten Versuche wohl möglicherweise von den Chinesen durchgeführt worden sind, im Rahmen von Drachen. Also chinesische Drachen sind ja was relativ bekanntes. Und die haben sich dann auch draufgelegt und dann quasi wie so einen Kastendrachen, den man heute im Herbst als Kind steigen lässt, sich da schon nach oben tragen lassen. Also das könnte durchaus sein, es ist nicht belegt, aber dass das so die ersten waren, die das wirklich gemacht haben.
Musik: C1611230120 Mystic tendency (a) 0‘42
Sprecherin 1:
Auch Sagen und Mythen bezeugen – über Kulturen hinweg – eine langewährende Faszination für die Bewegung im Luftraum: Die alten Mayas und Azteken kannten die Gottheit Quetzalcoatl, die gefederte Schlange. Liebesgott Amor trägt Flügel, der griechische Götterbote Hermes Flügelschuhe. Pegasus ist ein geflügeltes Pferd, In der Wieland-Sage werden Flügel zur Flucht geschmiedet und in der wohl berühmtesten aller Fluglegenden stürzt Ikarus ins Meer, weil er mit seinen Flügeln aus Federn und Wachs im Übermut der Sonne zu nah kommt.
16 Kluge:
Es ist bewiesen, dass der Mensch mit seiner dürftigen Brustmuskulatur es nicht schaffen würde, selbst gefiederte Arme so stark zu schwingen, dass er nach oben kommt und sich auch oben hält. Aber Ikarus ist ein schönes Beispiel für Mythen, für Märchen, also alle möglichen Märchen. Denken Sie an Hexen auf Besen, die durch die Gegend fliegen, also all so was hat immer schon in der Menschheit eine Rolle gespielt und war eine gewisse Grenzüberschreitung, die aber vor allem in der Fantasie stattgefunden hat.
Sprecherin 1:
… beschreibt Flugexperte Kluge. Bis die Flug-Fantasien in die Tat umgesetzt wurden, hat es wohl über Jahrtausende gedauert. Berühmte Belege für Versuche sind mehr als 500 Jahre alt:
17 Kluge:
Es sind so die allerersten Versuche oder Ideen, die schriftlich fixiert worden sind, bei Leonardo da Vinci zu finden, mit seiner – auch wieder Muskelkraft, weil keine anderen Alternativen da waren – also Muskelkraft angetriebenen Hubschrauber-Konstruktionen oder eben auch Schwingenflügler. Er hat also auch schon relativ intensiv, die Rotmilane oder Raubvögel beobachtet, und immer wieder der Gedanke weitergetragen: Ja, es muss doch irgendeine Möglichkeit geben.
Sprecherin 1:
… für die aber damals noch die technischen Möglichkeiten fehlen.
18 Kluge:
Und Otto Lilienthal war dann tatsächlich der erste, der systematisch den Storchenflug beobachtet hat, und systematisch Apparate entwickelt hat, um Messungen durchzuführen, bis er dann eben 1891 den ersten bemannten Menschenflug durchgeführt hat.
Musik: Stummfilm 0‘22
Sprecherin 1:
Gerade einmal 25 Meter weit geht dieser Gleitflug von einem Hang
Musik: Flying machines 0‘38
– und doch wird der Lilienthal-Gleiter quasi das erste in Serie gebaute Flugzeug der Welt:
"Normal-Segelapparat" nennt Lilienthal das Modell, das er für den "Fliegesport" als geeignet erachtet: Der Apparat besteht im Wesentlichen aus einem hölzernen Gestell und stoffbespannten Rippen aus Weidenruten als Flügeln, zwischen denen der Pilot in der Mitte eher hängt als sitzt. Zum Abheben läuft der Flieger mit angelegtem Fluggerät gegen den Wind los – und setzt bei der Landung im Idealfall mit den Füßen wieder auf.
19 Kluge:
Ich glaube, das Wichtige war, tatsächlich das einer eben erst mal das so geschafft hat. Und daraus ging es dann relativ schnell, also, als das mit dem Erstflug von Lilienthal geschafft war und die Brüder Wright diese Informationen aufgenommen haben, weiterentwickelt haben. Dann ging das doch relativ flott.
Sprecherin 1:
…umreißt der Experte mit Pilotenlizenz die Entwicklung ab 1891.
20 Kluge:
Man sieht das ja: 1903, der erste Flug der der Brüder Wright und 1914 der ersten Kampfflugzeuge. Und wie schnell ging das, Passagierflugzeuge für bis zu 20 Personen zu bauen. Jetzt stehen wir hier vor der JU52, die ist 1932 zum ersten Mal geflogen. Bis ein paar Jahre später sind wir dann 1969/70 beim ersten Jumbojet, der schon bis zu 400, 500 Leute fassen kann. Oder A380 jetzt. Das sind 100 Jahre gut. Das ist schon eine unheimlich schnelle Zeit im Vergleich zur Menschheitsgeschichte. Aber es brauchte eben die Initialzündung, von der aus sich das dann alles entwickelt hat.
AKUST TRENNER [z.B. Flugzeug-Motor, Start/Landung]
Sprecherin 2:
Aber nochmal einen Schritt zurück, zu den systematischen Untersuchungen von Lilienthal: Er beobachtet nicht nur, was ein Vogel macht, um durch die Luft zu gleiten, sondern nutzt auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse, um zu verstehen, warum es funktioniert.
21 Kluge:
Luft ist ein Medium. Man kann darin Strömung erzeugen. Strömung wird erzeugt durch Wind, wenn man eine Fläche durch diese Luft bewegt. Man kann das mit einem ganz einfachen Experiment, was viele Kinder auch machen: Autoscheibe, runterkurbeln und Hand angestellt nach draußen halten. Hat man eine gewisse Art Windkanal und merkt die Hand wird nach oben weggetragen. Das ist im Grunde genommen nach Newton "Aktio gegengleich Reaktio", also es wird eine Kraft ausgeübt, und es ergibt sich daraus eine Kraft nach oben.
Sprecherin 2:
So wie beim Skateboard, das sich durch den nach hinten geworfenen Pflasterstein nach vorne bewegt.
Lilienthal erkennt aber auch, dass Vogelflügel eine besondere Form haben, ein sogenanntes Profil, das im Luftstrom den Auftrieb erzeugt:
22 Kluge:
Das Profil selber ist was Gewölbtes. Und das hat eben Lilienthal erkannt, indem er die Flügel von den Störchen sich genau angeguckt hat. Die sind also gewölbt, nach innen und an manchen Stellen noch etwas dicker. Und das zu Ende gedacht, ergibt dann eben das Tragflügel-Profil, das sich dann in verschiedenen Variationen für verschiedene Geschwindigkeiten, also Strömung, Geschwindigkeit all das spielt mit rein, Luftdichte natürlich, aber vom Prinzip her erst mal brauchen Sie eine gewölbte Fläche, an der die Strömung oben schneller vorbeifließt als unten. Und diese beiden Effekte zusammen, dass eine eben die Strömungsgeschwindigkeit um den gewölbten Tragflügel herum (nach Bernoulli) und (Newton) abgelenkte Strömung nach hinten unten, das zusammen ergibt den Auftrieb.
Sprecherin 2:
Lilienthal findet auch heraus: Damit ein Auftrieb entsteht, muss außerdem der Anströmwinkel zum Tragflügel passen – so dass die Luft der Flügelkontur einwandfrei folgen kann.
Sprecherin 1:
Denn, lapidar gesprochen: wenn die Luft nicht da hinkommt, wo sie gebraucht wird, dann erzeugt sie auch keinen Auftrieb.
Atmo: Flugzeug
Sprecherin 2:
Und weil eben Strömung, also eine Bewegung, im Spiel ist, wenn ein dynamischer Auftrieb zustande kommt, brauchen Flugzeuge Geschwindigkeit, um in der Luft zu bleiben. Würden sie in der Luft stehenbleiben, würden sie zu Boden fallen, wie ein Stein. "Strömungs-Abriss" heißt dafür das gefürchtete Schlagwort.
Atmo: Hubschrauber
Sprecherin 1 [als Einschub]:
An Ort und Stelle in der Luft stehen oder auch senkrecht starten, das können nur Hubschrauber – bei denen sich ja die Rotorblätter drehen – und somit die Geschwindigkeit für den Auftrieb erzeugen, den sie brauchen.
Sprecherin 2:
Flugzeuge aber müssen eben beschleunigen, um abzuheben. So wie etwa der Lilienthal-Gleiter durchs Loslaufen seines Piloten am Hang, Segelflugzeuge durch ein Windenseil oder Motorflugzeuge eben auf der Startbahn.
23 Holzapfel: Und natürlich bis zum Aufsetzen am Boden, muss ich auch die Geschwindigkeit haben. Und dann brauche ich auch wieder Platz, um abbremsen zu können, und es ist dann bei der Landung die Landebahn, die ich benötige.
… sagt Florian Holzapfel vom Institut für Flugsystemdynamik an der TU München.
AKUST TRENNER [z.B. Flugzeug-Motor, Start/Landung]
Sprecherin 2:
Ab welcher Mindestgeschwindigkeit am Flugzeug genug Auftrieb entsteht, um abzuheben und in der Luft zu bleiben, hängt von mehreren Faktoren ab. Von Form und Luftwiderstand, vom Gewicht des Fliegers und von der Spannweite – oder genauer gesagt: der Flügelstreckung:
Musik: Flying machines 0‘40
24 Holzapfel:
Zum Beispiel ein Albatros, ein sehr großer Vogel mit einer sehr großen Flügelstreckung, der hat eine Gleitzahl von ungefähr 20, das heißt mit einem Meter Höhe kann ich ungefähr 20 Meter fliegen.
Sprecherin 2:
Die Gleitzahl, die Florian Holzapfel hier ins Spiel bringt, beschreibt das Verhältnis von Auftrieb und Luftwiderstand und leitet sich vom Gleitflug ab.
25 Holzapfel:
Das heißt die aerodynamische Effizienz von einem Albatros ist genau gleich groß wie die aerodynamische Effizienz von einer modernen Verkehrsmaschine. Während irgend so ein kleiner Spatz, der kann mit einem Meter Höhe halt nur acht Meter weit fliegen, weil seine Gleitzahl eben nur eins zu acht oder seine aerodynamische Effizienz nur in der Größenordnung irgendwo zwischen vier und acht liegt. Und das heißt, der muss mehr Energie reinbringen. Deshalb muss er viel wilder mit den Flügeln schlagen und übertragen (mehr oder weniger) auf ein Flugzeug würde das heißen, ich brauche mehr Schub. Drum braucht zum Beispiel verglichen zum Gewicht so ein Kampfflugzeug oder ein kleines Sportflugzeug relativ mehr Schub, weil es eben eine schlechtere Gleitzahl hat als eben so ein Flieger mit großer Streckung, wie eben ein schöner Segelflieger oder Motorsegler oder wie eine Verkehrsmaschine.
Sprecherin 2:
Ausgebildete Piloten freilich kennen all diese Parameter ihrer Maschinen – und das Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren. Auch die sogenannte Flächenbelastung lässt sich schon bei der Konstruktion eines Flugzeugs berechnen – je nach Flugzeugtyp und Anforderung:
26 Holzapfel:
Wenn ich ein kleines Segelflugzeug nehme, dann habe ich eben eine Flächenbelastung von 25 bis 50 Kilogramm pro Quadratmeter. Das heißt, ein Quadratmeter Flügelfläche muss 25 bis 50 Kilo eben heben können. Wenn ich so ein Sportflugzeug nehme, da sind wir schon in der Kategorie 50 bis ein bisschen über hundert Kilogramm. Und wenn wir jetzt so eine Verkehrsmaschine nehmen, da ist man so in Größenordnungen von 400 bis 600 Kilogramm pro Quadratmeter Flügelfläche. Was natürlich sofort bedeutet, damit ich mit einem Quadratmeter so viele Auftrieb erzeugen kann, muss ich mich natürlich wesentlich schneller bewegen, weit über 200 km/h (f)liegen, während zum Beispiel bei so einem kleinen Sportflugzeug, wenn ich so ein Ultraleichtflugzeug eben nehme, ich nur Größenordnung 65 km/h brauche, um abheben zu können.
Atmo: Airbus
Sprecherin 2:
Je mehr Tempo und je mehr Flügelfläche zusammenkommen, desto größer die Kraft, die das Flugzeug nach oben bringt. Und das Zusammenspiel der physikalischen Kräfte lässt auch Massen fliegen, die schier unvorstellbar sind.
27 Holzapfel:
Wenn man sich so ein Airbus 380 anschaut, der hat ein maximales Abfluggewicht von 560 Tonnen. Immer dran denken: wenn man beim LKW sagt "40-Tonner", dann hat der maximal 40 Tonnen. Dann sieht man, dass man an der Stelle im Endeffekt 14 solche LKWs vom Gesamtgewicht hat. Und da brauche ich natürlich dann auch eine große Flügelfläche...
Sprecherin 2:
… und eine Flügel-Konstruktion, die den enormen Belastungen standhält. Und die – trotz der enormen Massen, die durch die Luft bewegt werden – selbst auf Leichtbau setzt.
ATMO Museum
Sprecherin 1:
Zurück im Deutschen Museum in München. Nicht nur komplette Flugzeuge zeigen in der großen Luftfahrthalle die Entwicklung des Fliegens auf, sondern auch einzelne Bauteile. In einer großen Glasvitrine sind aufgeschnittene Flügelprofile im Original zu sehen und offenbaren den Blick ins Innere eines Flugzeugflügels.
28 Kluge:
Hier ist ein Segelflug-Profil mit Streben, Fachwerk drin, die quasi wie Fachwerkbau entsprechend die Struktur verstärken und dann mit Sperrholz beplankt und im hinteren Teil dann mit Stoff, einfach um es leichter zu machen.
Sprecherin 1:
… beschreibt Luftfahrt-Kurator und Segelflieger Robert Kluge den tropfenförmigen Querschnitt, der vor allem eines ist: umbaute Luft, ein großer Hohlraum mit einer möglichst dünnen Hülle. Die textile Flügelhaut ist hier kein Notbehelf. Je leichter ein Flugzeug ist, desto weniger Energie ist schließlich notwendig, um es in die Luft zu bringen und dort zu halten.
Teilweise wirkt das extrem – wie etwa beim nächsten Ausstellungsobjekt.
29 Kluge:
Wir stehen hier vor einem Flügel der Cessna 172, des bis heute meistgebauten Flugzeugs der Welt. Man sieht hier, es ist im Grunde genommen eine bessere Cola-Dose mit ein bisschen Versteifung drin.
Sprecherin 1:
Ist aber natürlich ausgeklügelte Ingenieurskunst:
30 Kluge:
Also ich war selber fasziniert, als ich das zum ersten Mal gesehen habe, es gibt keinen richtigen Hauptholm, sondern es gibt zwei Holme, einen vorne einen hinten, aber auch nur gebogenes Blech. Also gleiche Dicke wie die Beplankung selber. Und dann so ein paar Stege, die das ganze längs stabilisieren und die Rippen selber mit großen Löchern drinnen, um es wieder leichter zu machen. Und die Steifigkeit ergibt sich dann durch den Rippenabstand. Das ist Metallbauweise, wie sie bis heute stattfindet und ähnlich eben auch im Großflugzeugbau. Das ist nicht viel anders.
Musik: Drift into white 0‘55
Sprecherin 1:
Inzwischen werden freilich moderne Materialien eingesetzt: Glas- und Kohlefaser können ausgeklügelte Profile formen und werden für die jeweiligen Anforderungen maßgeschneidert – ob nun Transport- oder Passagierflugzeug, Lang- oder Kurzstrecke, Sport- oder Linienflieger. Besondere Beschichtungen und Folien sollen heutzutage den Luftwiderstand reduzieren – und auch das Fahrwerk moderner Verkehrsmaschinen wird nach dem Start längst eingezogen und ist nicht mehr wie bei der berühmten "Tante Ju", der Junkers 52 aus Wellblech, im Flug noch zu sehen.
Sprecherin 2:
Messeinrichtungen für Luftdruck, Seitenwinde und vieles mehr unterstützen außerdem die Piloten, um jeden Flug so sicher wie möglich zu machen – und Sicherheitssysteme schlagen Alarm und greifen ein, sollte doch einmal das passieren, was beim Fliegen nie passieren darf:
31 Holzapfel:
Also das Schlimmste, was natürlich passieren kann, ist, dass man eben zu langsam wird.
Sprecherin 2:
… sagt Luftfahrttechniker Florian Holzapfel:
32 Holzapfel:
Weil dann bricht eben der Auftrieb zusammen. Und es ist eben gerade auch in der Sportfliegerei ein Unfallszenario, des leider nach wie vor auftritt. Die zivile Verkehrsfliegerei mit den großen Flugzeugen ist extrem sicher, und es sind ganz, ganz viele Mechanismen in so einem Flugzeug, damit es eben nicht passieren kann. Und das heißt, dass man natürlich dann lieber schaut, dass es Energieniveau lieber ein bisschen zu hoch ist. Und das kann natürlich dann zum umgekehrten führen, dass man mit zu viel Geschwindigkeit an der Landebahn ankommt. Und da ist es sicherste, durchzustarten und einfach noch ne Runde zu fliegen. Und sich darauf konzentrieren, dass es beim nächsten Versuch besser wird.
Sprecherin 1:
Luftraumüberwachung, Flugrouten und Fluglotsen tun ihr übriges – und nicht zuletzt die lange und gründliche Ausbildung der Piloten, auch in der Trockenübung, dem Flugsimulator.
Musik: Serious preperations 0‘48
ATMO Flugsimulator
33 Zintl/Wechner/Autorin:
Bisschen mehr Nase nach unten nehmen, dass wir wieder Richtung Landebahn kommen, nicht zu viel, reicht schon, bisschen nach links. Sooo, bisschen nach hinten ziehen, am Joystick ziehen. // wir haben die Landebahn getroffen. // Normalerweise setzt man mit dem hinteren Teil vom Fahrwerk zuerst auf und nicht mit der Nase. // Ich glaube, uns wäre das Fahrwerk abgebrochen. Ich halt uns mal an.
Vorsicht: dieser Text handelt von Sex und Gewalt! Literarische Produkte werden heute gern mit Triggerwarnungen versehen, um LeserInnen vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Besteht etwa die Gefahr, dass das Publikum entmündigt wird? Von Justina Schreiber
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Thomas Birnstiel
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Melanie Möller, Altphilologin und Literaturwissenschaftlerin an der FU Berlin,
Dr. Andrea Müller, Programmleiterin Populäre Belletristik, SF, Fantasy & everlove beim Piper Verlag
Literatur:
Melanie Möller: Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur. Eine Streitschrift. Galiani, Berlin 2024. 240 Seiten, 24 Euro. Ein äußerst kritisches, auch umstrittenes Buch, das Argumente versammelt gegen – wie Möller findet – „übervorsichtige“, aber politisch korrekte Maßnahmen von Verlagen und AutorInnen.
Johannes Franzen: Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2024. 432 Seiten, 26 Euro. Das gut zu lesende Buch regt dazu an über die Frage nachzudenken, warum wir uns über Kunst so sehr aufregen können, warum es z. B. Literaturskandale gibt oder vernichtende Urteile über Bücher gefällt werden….
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ZITATOR:
Wieviel nahrhafte Substanzen gibt es, die im Rohzustand unbekömmlich sind! Wie viele Erlebnisse, von denen zu lesen ratsam ist, nicht: sie zu haben.
SPRECHERIN:
Der Philosoph Walter Benjamin verglich die Kunst des Romanschreibens mit der Kunst des Kochens. Die Muse des Romans sei wohl eine Küchenfee, meinte er.
ZITATOR:
Sie erhebt die Welt aus dem Rohzustande, (…) um ihr ihren Geschmack abzugewinnen.
SPRECHERIN:
Das unverarbeitete Leben wäre sonst unerträglich.
Musik 2
"Rays of Hope (Extended Version)" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage- Länge: 0'35
SPRECHERIN:
Wie gut, dass es Romane gibt! Köstliche und weniger köstliche, mal schwerer, mal leicht verdauliche Werke. Wem welche Lektüre mundet oder auf den Magen schlägt, lässt sich kaum pauschal sagen. Die Geschmäcker sind eben verschieden. Gar nicht so leicht also, ein Rezept für eine Zubereitung zu finden, die dann möglichst vielen schmeckt. Die Programmleiterin Andrea Müller ist beim Piper Verlag für populäre Belletristik zuständig.
O-TON 01: (Andrea Müller)
„Unsere Kernfrage, wenn wir ein Buch kaufen, ist zum Beispiel: berührt uns das Buch emotional. Aber wir suchen natürlich eher einen positiven Impuls. Das kann unterschiedlich sein. Das kann sein: Ich will eintauchen in eine fremde Welt, in eine fantastische Welt, in eine historische Welt. Ich will mich flüchten in eine schöne, warme Gegenwelt zur harten Realität, also das Eskapismus-Element. Es kann aber auch sein, ich will bestimmte Fantasien im Safe Space ausleben. Das ist auch beim Thriller so. Spannung ist ja toll. Also, ich folge schon Serienkillerthrillern mit atemloser Spannung. Erleben würde ich es jetzt nicht unbedingt wollen.“
Musik 3
"Elisa's Theme" - Album: The Shape of Water (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'50
SPRECHERIN:
Seit ein paar Jahren macht ein neues, aus Amerika stammendes Genre auf dem Buchmarkt Furore. Millionen jüngere Leserinnen verschlingen eine Romance - eine moderne Liebesgeschichte - nach der anderen. Ohne das Geld, das sie in die Kassen der Verlage spülen, ließen sich Nischenprodukte wie Gedichtbände oder andere literarische Feinkost heute kaum finanzieren. Mit der neuen Leserschicht, die New Adult, also „gerade erwachsen“ genannt wird, gewinnt auch der Zeitgeist der Achtsamkeit im Verlagswesen an Bedeutung. Die New Adults der Generation Z möchten nämlich bitte vor eventuell triggernden, verstörenden Roman-Elementen gewarnt werden. Wie vor dem Gluten oder der Lactose in einem Gericht. Nach dem Motto: Vorsicht, ungesund!
O-TON 02: (Andrea Müller)
„Für uns war das erst ungewohnt. Aber diese Wünsche kamen immer häufiger. Wir haben es auch häufiger gesehen im Umgang, also diese Zielgruppe für New Adult und Romance ist ja auch sehr outspoken. Die teilen sich im Internet in den Social Media mit, die sagen auch, was ihre Wünsche sind. Und wir sehen natürlich, wie die das kommentieren, da, wo es fehlt und da, wo es gemacht wird und haben das für uns adaptiert.“
SPRECHERIN:
Ein mieser Kommentar auf Tiktok oder Instagram, und der Umsatz rauscht vielleicht in den Keller! Also kommt eben, wenn nötig, eine Triggerwarnung ins Buch! Die Romance-Reihe des Piper Verlags heißt „everlove“. Andrea Müller greift zu dem Titel „Ihre Liebe ist sein Lieblingsgift“ einer Autorin namens Darling Venom und liest den entsprechenden Hinweis vor:
O-TON 03: (Andrea Müller)
„Enthält Elemente, die triggern können. Deshalb findet ihr auf Seite 619 eine Triggerwarnung. Achtung, diese beinhaltet Spoiler für die gesamte Geschichte. Wir wünschen euch allen das bestmögliche Leseerlebnis.“
SPRECHERIN:
Die genaue Aufschlüsselung der problematischen Motive steht auf den letzten Seiten der Romane, um nicht gleich zu viel zu verraten beziehungsweise zu spoilern, wie es heute heißt.
O-TON 04: (Andrea Müller)
„Das soll die Bedürfnisse von allen Seiten abdecken, die, die auf keinen Fall den Spannungsfaden verlieren wollen und die, die gewarnt werden möchten, vor potenziell triggernden Inhalten.“
MUSIK 4
"She's Good / Get off the Boat" - Album: Inventing Anna (Music from the Netflix Series) - Komponisten und Ausführende: Kris Bowers & Pierre Charles - Länge: 0'40
SPRECHERIN:
Können Bücher wirklich gefährlich werden? Es ist eine alte Frage, die immer wieder neu gestellt wird: Sollte man bestimmte Inhalte, wenn schon nicht verbieten, so doch besser etwas abmildern? Müssen Leser und Leserinnen, vor allem jüngere, tatsächlich vor dem Konsum riskanter fiktiver Inhalte genauso geschützt werden wie vor realen Giften, wie vor Nikotin, Haschisch oder Alkohol? Bücher unterliegen seit alters her mal mehr, mal weniger strengen staatlichen Kontrollen, sagt die Altphilologin Melanie Möller. Meist sei es aber darum gegangen:
O-TON 05: (Melanie Möller)
„Dass einfach unliebsame Botschaften oder Verhaltensweisen in Literatur propagiert würden, die irgendwelchen Institutionen oder Machthabern nicht passen. Aber ob jetzt einzelne daran irgendwie seelischen Schaden nehmen könnten, das hat im Laufe der Geschichte sicher nicht so sehr interessiert. Man kann allerdings sagen: ganz früher gab es das auch schon mal zu Platons Zeiten oder so, dass man dachte, wenn die Leute so etwas konsumieren, dann werden sie vielleicht auch moralisch verwerfliche Menschen. Und Sokrates und andere bekannte Philosophen der griechischen Zeit, auch dann bei den Römern vergleichbare Fälle, wurden dann gerne auch dafür vor Gericht gebracht, dass sie irgendwie die Jugend verderben oder so was.“
SPRECHERIN:
Bücher können also in erster Linie für ihre Verfasser und Verfasserinnen gefährlich werden. Der Paragraph 184 des deutschen Strafgesetzbuches verbietet die Verbreitung pornographischer Schriften an Minderjährige. Ansonsten ist der Spielraum der Verlage in Deutschland heute groß. Es muss sich halt rechnen. Triggerwarnungen hält die Altphilologin Melanie Möller für ein überflüssiges Marketinginstrument:
O-TON 06: (Melanie Möller)
„Wie zum Beispiel bei Filmen, wo ja dann vor allem und jedem gewarnt wird: Hunden, Sex, Drogen, Alkohol, hat sich das ja ad absurdum geführt. Aber ich denke, das Verbotene oder irgendwie als verboten, na ja, nicht verboten, aber als besonders oder pervers im Wortsinne gegen die Norm Verstoßende, das reizt ja auch.“
SPRECHERIN:
Melanie Möller hat 2024 eine Streitschrift mit dem Titel „Der entmündigte Leser“ veröffentlicht. Sie kämpft für die Freiheit der Literatur. Es ärgert die Professorin der Freien Universität Berlin, wenn Texte in vorauseilendem Gehorsam an die „Befindlichkeiten“ einer – wie sie sagt – „zartbesaiteten“ Leserschaft angepasst werden. Wenn etwa aus Klassikern wie Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ das N-Wort gestrichen wird. Niemand soll verstört oder verletzt werden, heißt es. Aber was ist mit Homers „Ilias“, in der wahre Gewaltorgien stattfinden oder mit Ovids weltberühmten Gedicht „Die Metamorphosen“, in dem Frauen übergriffig „angetatscht“ werden, wie es die Altphilologin formuliert? Wo soll man mit dem Säubern, Verbieten und Abmildern anfangen, wo aufhören?
O-TON 07: (Melanie Möller)
„Grundsätzlich bieten ja fast alle Texte, also wenn man sehr sensibel ist, fast alle Texte so ein Potenzial, und ich finde, man kann das eben wirklich auch sehr weit treiben.“
MUSIK 5
"Other Dreamers" - Komponisten und Ausführende: Ben Salisbury & Geoff Barrow - Album: Black Mirror: Men Against Fire - Länge: 0'48
SPRECHERIN:
Im Fall von Darling Venoms Romance „Ihre Liebe ist sein Lieblingsgift“ summieren sich die psychischen Probleme. Nur so viel zum Plot: Zentrale Szenen zwischen Charlotte und Kellan spielen auf dem Dach ihrer High School. Zwei labile Jugendliche nachts an solch einem Ort! Da ist schon Vorsicht geboten, meint Andrea Müller, die Programmleiterin der Piper-Reihe „everlove“. Sie schlägt jetzt die Seite 619 auf.
O-TON 08: (Andrea Müller)
“Ihre Liebe ist sein Liebelingsgift“ enthält potenziell triggernde Inhalte. Diese sind Alkoholmissbrauch, Arztbesuche, Drogenmissbrauch, Mobbing, Selbstverletzung, Suizid, Suizidversuch, Trauer, Unfruchtbarkeit, Unfälle, Verlust der Eltern, Verlust von Kindern.
SPRECHERIN:
Schon krass. Aber warum klappen allzu sehr Betroffene das Buch nicht einfach zu? Offenbar ist es gar nicht so leicht, eine Romance beiseitezulegen und nicht mehr weiterzulesen. Sollte man vielleicht besser – wie schon im 18. und 19. Jahrhundert - vor der gefährlichen Roman-Lesesucht warnen? Nein, Spaß beiseite.
O-TON 09: (Andrea Müller)
„Bitte lest dieses Buch nur, falls ihr euch momentan dazu in der Lage fühlt. Falls es euch mit diesen genannten oder auch anderen Themen nicht gut geht, findet ihr unter der Nummer der Telefonseelsorge rund um die Uhr kostenlose und anonyme Hilfe. Und darunter steht dann die Telefonnummer und auch die Website der Telefonseelsorge.“
SPRECHERIN:
Zeitungen oder Sachtexte halten es heute ähnlich. Über Suizide wird nur in Ausnahmefällen berichtet. Artikel, die Gewalt, Missbrauch oder ähnlich problematische Inhalte thematisieren, verweisen oft auf Hilfsangebote.
Musik 6
"Victor Hugo and Balzac" - Album: Rodin (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführende: Philippe Sarde - Länge: 0'42
SPRECHERIN:
Wie groß gerade bei Suiziden die Nachahmungsgefahr ist, lehrt bereits die Rezeptionsgeschichte von Goethes Bestseller „Die Leiden des jungen Werther“. Ein Dutzend Todesfälle soll die Lektüre dieses erfolgreichen Sturm- und Drang-Romans damals ausgelöst haben. - Unter den Toten war auch eine Bekannte des Autors, eine 17-jährige Weimarer Hofdame, die sich 1778 aus Liebeskummer in der Ilm ertränkte. Von der Ermutigung, die Goethe vorsorglich der zweiten Auflage seines lebensmüden „jungen Werther“ beigefügt hatte…
ZITATOR:
Sei ein Mann und folge mir nicht nach!
SPRECHERIN:
… fühlte sich die junge Frau offenkundig nicht angesprochen.
O-TON 10: (Andrea Müller)
„Das ist ja von der persönlichen Wahrnehmung abhängig, wie gefährlich findet man Texte oder wie stark triggernd findet man die. Das hängt sicher davon ab, wieviel Leseerfahrungen haben Sie tatsächlich gemacht und wie stark empfinden Sie mit mit dem, was Sie im Buch lesen. Also ich bin ein professioneller Leser…“
SPRECHERIN:
Sagt Andrea Müller vom Piper Verlag.
O-TON 11: (Andrea Müller)
„Das heißt, weitgehend abgehärtet. Man hat halt schon sehr viel gelesen, und das erzeugt einen ganz anderen Resonanzboden.“
SPRECHERIN:
Wer seit Jahren viel liest, tut sich leichter, einen Roman vor der Lektüre – auch ohne Triggerwarnung - einzuordnen. Hinweise gibt es einige: Der Name des Verlags oder der Reihe, zum Beispiel eben „everlove“, die allerdings oft maßlos übertriebenen Klappentexte, die Farben des Buchcovers, rosa oder nüchtern-weiß vielleicht, der Name des Autors, der Autorin, eine oder keine Besprechung im Feuilleton… Und seit ein paar Jahren gibt es da auch noch die Empfehlungen der Influencerinnen auf Tiktok oder Instagram.
O-TON 12: (Andrea Müller)
„Wenn man sich TikTok-Videos anguckt von Leserinnen von Romance, dann gibt es welche von sehr, sehr emotionalen Büchern, wo die tränenüberströmt von ihrem Lektüreerleben berichten. Und das ist schon fast ein Qualitätssiegel, dass ein Buch eine so starke emotionale Reaktion erzeugen kann.“
SPRECHERIN:
Kritische Distanz spielt beim Lesen einer Romance eher keine Rolle. Deshalb erscheint es wohl auch so riskant, sich ungeschützt auf eine emotionale Achterbahnfahrt einzulassen. Aber selbst wenn die Leselust intellektuell anspruchsvoller bedient werden soll: Niemand kauft gern die Katze im Sack, bestätigt die Altphilologin Melanie Möller.
O-TON 13: (Melanie Möller)
„Es gab ja immer schon Inhaltsangaben auf Büchern, zumindest seit die Buchproduktion das zulässt, da findet man ja auch manchmal gewisse Zuspitzungen, die jetzt nicht explizit als Warnung daherkommen, aber vielleicht so ein bisschen in die Richtung gehen.“
SPRECHERIN:
Oder die Autoren und Autorinnen wählen einen anderen Weg, um vorab auf problematische oder kritische Inhalte hinzuweisen. Charles Baudelaire zum Beispiel, dessen Gedichtband „Die Blumen des Bösen“ 1857 wegen obszöner Passagen per Gerichtsbeschluss zusammengestrichen wurde, fügte weiteren Buch-Auflagen eine Art ironische Triggerwarnung in Gedichtform bei:
ZITATOR:
Leser friedlich und ländlich
Brav und voll nüchternheit ·
Wirf dieses buch beiseit:
Trübselig ist es und schändlich.
O-TON 14: (Melanie Möller)
„Das knüpft an diese auch antike Tradition an, dass man sich im Vorwort zum Ausnahmecharakter der eigenen Werke bekennt und damit wirklich kokettiert, um sich auch vom Mainstream oder von gesellschaftlichen Erwartungen abzusetzen, indem man auf sie reagiert und sie unterläuft, indem man also in der Kunst dann schon diese Warnungen irgendwie einarbeitet oder einfließen lässt.“
Musik 7
"Eternity And A Day - 2. By The Sea" - Komponistin: Eleni Karaindrou
- Album: Eternity And A Day - Länge: 1'08
SPRECHERIN:
Das Thema Liebe und Sex, überhaupt das zwischenmenschliche Beziehungsleben, ist ein besonders schwieriges, umstrittenes Gebiet. Gustave Flaubert landete mit seinem Ehebruchsroman „Madame Bovary“ ebenfalls 1857 vor Gericht. Sein Roman verstörte die bürgerliche Gesellschaft, weil er so ungewohnt realistisch wirkte. Flauberts Titelfigur, die unzufriedene Apothekersgattin Emma Bovary, liest ganz andere, weniger verstörende, nämlich beschönigende Liebesromane. Aber diese Lektüre bringt sie eben erst auf den Gedanken, nach der wahren Liebe außerhalb des eigenen Heims zu suchen. Flaubert legt Emma Bovary die Frage in den Kopf:
ZITATOR:
Wo eigentlich in der Wirklichkeit all das Schöne sei, das in den Romanen mit den Worten Glückseligkeit, Leidenschaft und Rausch so verlockend geschildert wird.
O-TON 15: (Andrea Müller)
„In der Romance, im Kern steht immer ein Liebespaar und eine zentrale Liebesgeschichte. Und es geht um diese Emotionen, dieses Mitfiebern, kommen sie zusammen. Natürlich ist es eigentlich klar, weil fast alle diese Bücher mit dem Happy End ausgehen. Aber es geht wirklich um dieses ganz starke Identifikationsmoment mit dieser dann meistens weiblichen Hauptfigur: Kann ich deren Gefühlsleben nachempfinden? Versteht man die Anziehung, die zwischen diesen beiden Figuren aufkommt? Und versteht man, wie sich diese Beziehung entwickelt, was treibt diese Beziehung an? Was hindert sie, dass sie nicht auf Seite zwei schon glücklich endet? Das ist das, was die Leserinnen suchen:“
SPRECHERIN:
Erfüllung! Eine Romance soll ihre Leserinnen auf keinen Fall runterziehen, sagt Andrea Müller vom Piper Verlag. Die Triggerwarnungen warnen sie vor kontraproduktiven Gefühlen, die sich einstellen könnten, falls jemand – wie die Protagonistin - von Magersucht oder Mobbing betroffen ist. Als weitere Reiz-Themen gelten: Ehebruch, Scheidung, Vandalismus oder Bodyshaming, also abwertende Äußerungen über das Aussehen einer Person. Hier möchten die modernen Leserinnen bewusst zunächst eine Grenze ziehen.
O-TON 16: (Andrea Müller)
„Die New-Adult und Romance-Zielgruppe, die haben ein sehr starkes Empfinden für Selfcare, Mental Health, das sind Themen, die denen wichtig sind. Und die möchten, bevor sie sich mit so einem Inhalt konfrontieren, gerne wissen, dass er da auf sie zukommt, um selbst zu entscheiden, ob sie sich damit konfrontieren wollen oder nicht.“
SPRECHERIN:
Die „New Adults“, meist Frauen zwischen 17 und 25 Jahren, bilden eine sanfte Opposition zu den mächtigen weißen Männern, die Jahrhunderte lang von oben herab den abendländischen Kanon diktierten, ohne Rücksicht auf Verluste und wahrlich nicht inklusiv. Frauen hatten es lange Zeit schwer, öffentlich zu Wort zu kommen. Und sie hatten es schwer, an gehaltvolle literarische Kost zu kommen, siehe Emma Bovary. Ob Verleger, Kritiker, Richter oder Kirchenmänner: sie bestimmten, welche Texte gedruckt und von wem was gelesen oder geschrieben wurde. Die neue Leserinnen-Gruppe legt Wert darauf, dass der literarische Betrieb auf demokratische Prinzipien setzt, auf Zustimmung und Übereinstimmung, „consent“ genannt.
O-TON 17: (Andrea Müller)
„Deshalb befürworten selbst Leserinnen, die selbst gar keine Probleme mit diesen triggernden Inhalten haben, dass wir Triggerwarnungen reinschreiben, weil sie sagen: warum nicht den kleinen, minimalen Mehraufwand, das da reinzuschreiben in Kauf nehmen, um Teile der Zielgruppe, die Probleme haben mit diesen Inhalten, zu schützen. Das ist eine wirklich sehr angenehme Zielgruppe, die versucht, diesen Community-Gedanken auch zu leben, in unterschiedlichster Form. Also lesen, was bis dato mehr so als privates Vergnügen galt, wird jetzt zu einem öffentlich zelebrierten, aber auch vernetzenden verbindenden Hobby.“
SPRECHERIN:
Die distanzierte klassische Wasserglaslesung ist out. Jüngere Leserinnen und Leser treffen heute mit ihren Autorinnen und Lektoren ganz locker zusammen, auf Buchmessen oder bei speziellen events wie Booklove-Festivals. Beim Speeddating mit Romance-Verfasserinnen halten sie sich korrekt an ihre fünf Minuten, um andere Fans nicht warten zu lassen. Rücksichtnahme ist ein hoher Wert für diese neue, kaufkräftige Leserschaft. Doch was, wenn deren Prämisse, Worte und Handlungen zu meiden, die bestimmte Gruppen beleidigen oder verletzen könnten, kurz: wenn Political Correctness zum Maß aller Dinge in Teilen der Buchbranche wird? Von Triggerwarnungen mal abgesehen: Die Altphilologin Melanie Möller findet den Trend, jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen, problematisch:
O-TON 18: (Melanie Möller)
„Da sehe ich schon eine Gefährdung der Kunstfreiheit, weil die Leute einfach sich da teilweise zumindest sehr, sehr viele Gedanken machen, wen was irgendwie eventuell verstören könnte oder irritieren könnte und ich finde nicht, dass das so sein sollte. Wenn sich jemand dafür entscheidet, sich einem krassen Thema zu widmen, dann soll er es durchziehen, oder er soll es eben lassen. Also man wird ja meistens auch nicht gezwungen, einen Text zu schreiben, der irgendwelche Grenzen überschreitet. Also wenn man wirklich jemanden schützen möchte, weil man ihn nicht dafür in der Lage hält, das auszuhalten, dann soll man es jetzt vielleicht gar nicht erst produzieren.“
MUSIK 8
"Rays of Hope (Extended Version)" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'44
SPRECHERIN:
Es ist zwar beides Obst, aber im Grunde lassen sich Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Früher wertete man Liebesromane im Stile von Darling Venoms Romance „Ihre Liebe ist sein Lieblingsgift“ als Trivialliteratur ab. Während Goethe, Schiller, Böll, Walser, Frisch, Handke und Co selbstverständlich „hohe“ Literatur erschaffen haben. Diese Bewertung beziehungsweise Abwertung ist nicht mehr zeitgemäß. Es gibt eben unterschiedliche literarische Stil- und Zielrichtungen, erklärt die Programmleiterin für populäre Belletristik beim Piper Verlag.
O-TON 19: (Andrea Müller)
„Unterhaltungsliteratur fordert Leser nicht heraus, sich jetzt irgendwelchen unangenehmen Wahrheiten zu stellen. Die Grenze, wo dann doch irgendwie ein Denkimpuls gegeben wird, ist natürlich fließend. Aber es ist nicht zwingend das Ziel, ganz neue Sichtweisen auf was zu eröffnen, sondern man sucht schon das Bekannte, das, wo man sich wohlfühlt und auf das man sich einlassen kann gefahrlos.“
SPRECHERIN:
Es gilt die Maxime: „Wasch mir den Pelz, doch mach mich nicht nass!“ Franz Kafka dagegen, der Erfinder anstrengender kafkaesker Fiktionen, verlangte, dass ein Buch die Axt sein muss für das gefrorene Meer in uns. Das klingt nach übler Selbstverletzung. Wohl bekomm‘s! Aber hier steckt die Theorie dahinter, dass aufwühlende Lektüren therapeutisch wirken können, dass sich real Erlebtes oder eine innere Erstarrung durch Gefühle aus zweiter Hand bearbeiten lässt. Schon der antike Philosoph Aristoteles propagierte in seiner „Poetik“ den läuternden Effekt eines Theaterbesuchs.
O-TON 20: (Melanie Möller)
„Sei es Katharsis, wirklich Reinigung von negativen Affekten, wie es ursprünglich aus dem Drama kommt, wenn man besonders grausame Dinge sich anschaut auf der Bühne oder so, sei es eben auf andere Art und Weise, dass man sich irgendwie identifiziert. Gefühle sind schon sehr wichtig bei der Lektüre oder überhaupt bei der Auseinandersetzung mit Kunst. Aber man sollte ihnen schon auch freien Lauf lassen.“
SPRECHERIN:
Und zwar allen Gefühlen, meint die Altphilologin Melanie Möller. Nicht nur den Tränen der Rührung und Erschütterung. Wozu gibt es Thriller, Krimis und Horrorfilme? Heute besteht ja ein wahrer Überfluss an fiktionalen Angeboten. Die Sehnsucht des Menschen scheint unstillbar groß, dem realen Elend zumindest manchmal zu entkommen. Es spricht für das altmodische Buch, dass es sich in dieser medial überformten, zersplitterten Welt so wacker hält. Besonders die sorgsam abgeschmeckte moderne Romance scheint es als „safe space“ zu schaffen:
O-TON 21: (Andrea Müller)
„Dass man sich in einem Buch völlig verliert, dass man nach stundenlanger Lektüre wieder auftaucht und ist immer noch total gefesselt von dem, was man gerade vor seinem inneren Auge gesehen hat und woran man teilhaben durfte als Teil der Geschichte.“
Musik 9
"Juju" - Komponist und Ausführender: John Zorn - Album: Film Works XVI - Länge: 0'35
SPRECHERIN:
Und das dauert definitiv länger als eine Fast-Food-Mahlzeit. So viel auch zur angeblich sinkenden Aufmerksamkeitsspanne jüngerer Menschen. Wie nach einem langen Essen mit Freunden bleibt am Ende als Nachgeschmack ein wohlig-sattes Gefühl.
O-TON 22: (Andrea Müller)
„Weil man diese Achterbahnfahrt der Gefühle durchlaufen hat, die diese Helden auch durchlaufen haben und voll mit denen geht. Und am Schluss so eine emotionale Erschöpfung auch spürt.“
Korsika: Traumschöne Insel im Mittelmeer, bewohnt von widerborstigen Korsen, die seit Jahrhunderten um ihre Freiheit kämpfen. "Korsika ist nicht Frankreich", "Freiheit für Korsika": Solche Graffiti finden sich überall auf der Insel. Welche Rolle spielen dabei die eigene korsische Identität und Sprache? Von Vanja Budde (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Vanja Budde
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Laura Maire, Florian Schwarz, Ron Schickler
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Ghjuvanfrancescu Mattei, Musiker;
Alain Di Meglio, Vize-Direktor Universität Corté;
Matthias Waechter, Historiker, Leiter des Institut Européen des Hautes Etudes Internationales, Nizza
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Literaturtipps:
Matthias Wächter, Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert. Verlag C.H. Beck, München 2019.
Matthias Wächter, Geschichte Frankreichs. Verlag C.H. Beck, München 2023.
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Atmo 1 , Konzert, L’Alba, polyphoner Gesang auf Korsisch, a capella, steht 0’38 frei, bis sie das erste Mal Luft holen, dann leise weiter unter
Sprecherin
Algajola, ein kleiner Ort an der zerklüfteten Westküste Korsikas. In der Dorf-Kirche verbinden drei Männer ihre Stimmen zum Paghjella-Gesang: Sie sind die Wurzeln der korsischen Musik, diese klagend-dramatischen mehrstimmigen Melodien. Wenn man sie hört, sieht man Korsikas schroffe Berge vor sich, die mehr als 50 Gipfel über 2.000 Meter Höhe, die eiskalten, klaren Flüsse, die zu Tal stürzen, die stachelige Macchia, die das harte Leben der Schäfer im Inneren der Ile de Beauté Jahrhunderte lang bestimme: der heute bei Touristen beliebten „Insel der Schönheit“.
Atmo Gesang, kommt kurz hoch, dann weiter unter
Denn Korsika ist schön, aber auch wild. Ein „Gebirge im Meer“, umkämpft seit Jahrtausenden, stets beherrscht von fremden Mächten, gegen die sich die Korsen immer gewehrt haben. All das klingt mit in diesem traditionellen, polyphonen Gesang. Die UNESCO hat ihn darum 2009 zum immateriellen Erbe der Menschheit erklärt.
Atmo 1 Gesang, kommt kurz hoch, endet Applaus, steht kurz frei, dann Kreuzblende zu Leadsänger Ghjuvanfrancescu Mattei begrüßt das Publikum, kurz auf Korsisch, dann auf Französisch, steht kurz frei, dann leise weiter unter
Sprecherin
Einer der drei Sänger ist Ghjuvanfrancescu Mattei. Seine Gruppe L’Alba lade sie dazu ein, mit in die korsische Seele einzutauchen, erklärt er den Touristen, die an diesem Abend zu annähernd 100 Prozent das Publikum stellen. Darum sängen sie ausschließlich in ihrer eigenen Sprache: Korsisch. Das klingt überhaupt nicht wie Französisch, sondern hat eher Ähnlichkeiten mit Italienisch. Weshalb es auch im Norden der Nachbarinsel Sardinien von vielen verstanden wird.
Atmo 2, Lied (Gesang beginnt bei 0’56, davor die Instrumente, Harmonium, Gitarren, Violine, Klarinette, Flöte) bitte mit langer Kreuzblende sanft einblenden und dann so hochkommen lassen, dass man zunächst die Instrumente noch hört), steht frei, dann leise weiter unter
Sprecherin
Korsika ist nach Sizilien, Sardinien und Zypern die viertgrößte Insel im Mittelmeer; mit knapp 350.000 Einwohnern, in etwa so viele wie Island hat. Früher wurde in den Dörfern im Inselinneren viel gesungen, bei Festen, aber auch abends in den Familien. Doch immer mehr junge Leute wandern in die Städte ab, nach Bastia an der Ostküste mit ihren langen Sandstränden oder in die Insel-Hauptstadt Ajaccio im Südwesten. Zurück bleiben die Alten, gesungen wird immer seltener. Gruppen wie I Muvrini, A Filetta oder eben L’Alba sind darum die Hüter nicht nur von Geschichte und Tradition, sondern sie bewahren und fördern auch die korsische Identität. Sagt Ghjuvanfrancescu Mattei:
O-Ton 1 Ghjuvanfrancescu Mattei, Französisch, OV
OV MÄNNLICH
„Unsere Insel hat in der Vergangenheit gelitten. Und sie hat sich an jedes Leiden angepasst. Deshalb findet man auch in der Musik, im künstlerischen Ausdruck, eine Form von Melancholie, eine Form von Schmerz. Denn die korsische Bevölkerung wurde in all den Jahren der Fremdherrschaft mundtot gemacht. Das erzählen wir auch in unseren Liedern: Dass wir Korsen schweigen mussten. Immer wieder unsere Staatsangehörigkeit ändern mussten. Sicherlich spürt man das in unserer Musik: Korsikas melancholische Leuchtkraft.“
Kreuzblende zu Atmo 3, Wellenrauschen, unter
Sprecherin
Sie ist lang, die Liste der fremden Herrscher über diese gebirgige Insel, die zwischen dem italienischen Festland und Sardinien liegt: Byzantiner, Langobarden, Sarazenen und Franken setzten sich an den Küsten fest. Die Markgrafen der Toskana meldeten ebenso Ansprüche an, wie die Seerepubliken Pisa und Genua. Die meisten Korsen zogen sich ins unzugängliche Inselinnere zurück.
Kreuzblende zu Atmo 4, instr. Lied, steht kurz frei, dann unter
Dabei war die Insel schon in prähistorischer Zeit bewohnt. Und schon immer begehrt. Ligurer und Etrusker vom nahen italienischen Festland siedelten sich an, aber auch Griechen und Araber hinterließen genetisch ihre Spuren. Unter der Herrschaft Genuas im Mittelalter kamen viele italienische Siedler, die ihre Sprache und Kultur mitbrachten. Es wird daher angenommen, dass die moderne korsische Bevölkerung eine Mischung all dieser ethnischen und linguistischen Gruppen ist. So blieb Korsika, das nie eine brave Kolonie oder Provinz war, immer eine Welt für sich.
Kreuzblende zu Atmo 4, instr. Lied, steht kurz frei, dann unter
1729 hatten die Korsen genug: In mehreren, Jahre langen Aufständen lehnten sie sich gegen die Zwangsverwaltung und das Feudalsystem der Genuesen auf. 1755 riefen sie ihre staatliche Unabhängigkeit aus. Unter Führung des Widerstandskämpfers Pascal Paoli, der bis heute als „Babbu di a Patria“ verehrt wird, als „Vater des Vaterlandes“, gaben sich die Korsen eine demokratische Verfassung. Übrigens war es die erste Verfassung im Zeitalter der Aufklärung, lange vor den Verfassungen der Vereinigten Staaten im Jahr 1776 und Frankreichs 1791. Inklusive Gewaltenteilung und Volkssouveränität und des europaweit ersten Frauenwahlrechts immerhin für alleinstehende Frauen und Witwen.
Sprecherin
Einer der engsten Mitarbeiter Paolis dabei war Carlo Buonaparte: Napoleons Vater.
Atmo 4, Lied, instr., kommt kurz hoch, dann weiter unter
Sprecherin
Die Genuesen mochten sich mit der kämpferischen Inselbevölkerung nicht länger herumärgern und verkauften ihre Ansprüche an Frankreich. Schon nach 14 Jahren war es dann vorbei mit der Freiheit: 1769 besiegte Frankreich die korsischen Truppen in der Schlacht bei Ponte Novu. (Lied ab hier ganz sanft weg blenden, Kreuzblende zu Atmo 5 Corté, Straßenverkehr ect., drunter)
MUSIK DEWF82104492 Neutral Assistance (Reduced 3) 01:08min
Sprecherin
Seither ist Korsika französisches Staatsgebiet. Sieht man von einer kurzen Periode während der Französischen Revolution ab, als die Insel unter englische Oberhoheit geriet. Pascal Paoli ging ins Exil nach England, 1807 starb er in London. Der junge Napoleon schrieb später in seinen unveröffentlichten „Lettres sur la Corse“: „Die Geschichte Korsikas ist ein ständiger Kampf zwischen einem kleinen Volk, das frei sein will, und seinen Nachbarn, die es unterjochen wollen.“
Sprecherin
Obwohl der korsische Kampf um Unabhängigkeit nur so kurze Zeit Erfolg hatte, beeinflusste er nicht nur viele Intellektuelle und Staatsmänner jener Zeit, unter ihnen Jean-Jacques Rousseau, der mit Paoli befreundet war, und die Gründungsväter der Vereinigten Staaten. Sondern die Erinnerung an diese 14 goldenen Jahre der Freiheit ist auch heute noch lebendig. Vor allem in der damaligen Hauptstadt des unabhängigen Korsikas: Corté, in den Bergen im Inselinneren gelegen. Heute hat die lebendige Kleinstadt am Zusammenfluss von Restonica und Tavignano 7.500 Einwohner. Die Hälfte davon sind Studenten der einzigen Universität Korsikas.
(ab hier Atmo Straßenverkehr sanft weg blenden, Kreuzblende zu Atmo 6, Treppensteigen in der Uni, steht kurz frei, dann unter Text schnell weg blenden und trocken weiter)
Die nach Pascale Paoli benannte Universität ist ein wichtiges Symbol des Strebens nach Autonomie, erklärt ihr Vize-Direktor Alain Di Meglio in seinem lichten Büro im oberen Stockwerk des modernen Baus.
O-Ton 2 Alain Di Meglio, Französisch (kein OV, da kurz und unten erklärt)
„Pascal Paoli, der Gründer des unabhängigen Korsikas, hatte hier eine Universität ins Leben gerufen, die vier Jahre lang bestand, von 1765 bis 1769.“
Sprecherin
Denn Pascale Paoli hat hier in Corté nicht nur das unabhängige Korsika gegründet, sondern 1765 auch eine Universität, die bis zur Machtübernahme Frankreichs 1769 bestand.
O-Ton 3 Alain Di Meglio, Französisch/OV
OV ALAIN
„Korsikas Universität war 212 Jahre lang geschlossen und wurde 1981 wiedereröffnet. Und zwar unter Druck, auf Grund von Forderungen. Zu dem Zeitpunkt, als die Universität wiedereröffnet wurde, saßen 120 politische Gefangene in den französischen Gefängnissen. François Mitterrand hat sich dann des Problems angenommen, Wahlen zum ersten Korsischen Regionalparlament zugelassen und die Universität wiedereröffnet. Das war erst möglich, nachdem die Sozialistische Partei unter François Mitterrand an die Regierung gekommen war. Von diesem Zeitpunkt an hat die Universität das Studium der korsischen Sprache wiederaufgenommen und korsischsprachige Lehrer für das Bildungssystem ausgebildet.“
Sprecherin
Neben Französisch ist an der Universität Korsisch obligatorisches Nebenfach in sämtlichen Fächern.
O-Ton 4 Alain Di Meglio, Französisch/OV
OV ALAIN
„Das ist sehr, sehr wichtig, weil die Sprache ein Identitätskriterium ist. Aber sie ist keine geschlossene Identität, keine ethnische Identität, sondern eine offene Identität, eine kulturelle Identität.“
MUSIK Voce Ventu – Rughju Di Vita (Label: Voce Ventu – 001) 00:25min
Sprecherin
Weil sie über die Sprache transportiert werde und nicht über Abstammung, erklärt Di Meglio. Die Sprachforscher der Uni haben die Jahrhunderte lang nur mündlich überlieferte Grammatik des Korsischen verschriftlicht und eine verbindliche Rechtschreibung festgelegt. Die Wissenschaftler zogen kreuz und quer über die Insel, zeichneten die verschiedenen Dialekte auf und brachten ein Wörterverzeichnis des Korsischen heraus.
O-Ton 5 Alain Di Meglio, Französisch (kein OV da kurz und unten erklärt)
„Die Wiedergeburt der korsischen Sprache ist nicht der Universität allein zu verdanken, sie hat aber einen großen Beitrag dazu geleistet.“
Sprecherin
So habe die Uni einen wichtigen Beitrag für die Wiedergeburt der Sprache geleistet, sagt Di Meglio. Das war auch dringend nötig, denn unter französischer Herrschaft wurde das Korsische gezielt unterdrückt, wie Matthias Waechter erklärt. Der deutsche Historiker und Frankreich-Experte leitet das Institut Européen des Hautes Etudes Internationales in Nizza. Er hat umfassende Werke über die Geschichte Frankreichs verfasst.
O-Ton 6 Matthias Waechter
„1870 bis 1940: Das war die Phase, in der sich dieses republikanische Staats- und Nationsmodell in Frankreich durchgesetzt hat. Und es musste sich gegen starke Widerstände durchsetzen. Und in diesem Zusammenhang hat man sich gedacht, um eine einheitliche Republik zu gründen, müssen wir auch alle eine einheitliche Sprache sprechen. Die Regionalsprachen, die ja in Frankreich extrem verbreitet waren, noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert, wurden vom Zentralstaat brutal unterdrückt. Insofern hat Frankreich große Schwierigkeiten, damit zurechtzukommen, dass es ein Volk gibt in Korsika, das seine Kultur autonom leben möchte.“
Sprecherin
An öffentlichen Orten wie zum Beispiel den Schulen Korsisch zu sprechen, war verboten. Doch die Unterdrückung ging noch weiter, richtete sich auch gegen die musikalische Tradition, erklärt Matthias Waechter:
O-Ton 7 Matthias Waechter
„Der Harmoniegesang, der in Korsika gepflegt wurde, galt ja auch als ein Ausdruck korsischen Widerstands. Diese gesamten Ausdrucksformen einer Eigenständigkeit wurden als Widerständigkeit gegenüber der Französischen Republik angesehen.“
O-Ton 8 Matthias Waechter
„Man fürchtete, dass die Menschen, die in diesen Grenzregionen oder auf einer Insel wie Korsika lebten, zum Separatismus neigen würden, wenn man ihnen zu viel Eigenständigkeit lassen würde.“
Sprecherin
In der französischen Nationalversammlung ging die Angst um, dass dann etwa auch die Bretagne, das Baskenland oder das Elsass ähnliche Ansprüche wie die störrischen Korsen erheben könnten.
MUSIK QZ2641950295 Enigmatic Machine 00:57min
Im Falle Korsikas nicht ganz zu Unrecht: Nicht nur die restriktive Sprachenpolitik trieb die Korsen auf die Barrikaden. Nachdem Algerien 1962 in einem grausamen Krieg seine Unabhängigkeit errungen hatte, siedelten tausende Algerienfranzosen, die so genannten „Pieds noirs“ nach Korsika über. Viele Korsen fürchteten, eines Tages zur Minderheit auf ihrer eigenen Insel zu werden.
Denn gleichzeitig wanderten zehntausende Korsen auf der Suche nach Arbeit von der wirtschaftlich rückständigen Insel ins Ausland ab. Wegen dieser massiven Landflucht verlor Korsika ein Drittel seiner Bevölkerung. In Sorge um die eigene Identität radikalisierte sich der korsische Nationalismus, Korsika wurde mit einer französischen Kolonie verglichen.
MUSIK QZ2641950335 Into The Construct 01:08min
In den frühen 1970er Jahren gründeten sich mehrere Parteien als politischer Arm der Nationalbewegung. Nachdem Frankreich Forderungen nach offizieller Zweisprachigkeit, Autonomie oder gar Unabhängigkeit strikt ablehnte, gingen einige Nationalisten in den Untergrund. Der 1976 gegründete Frontu di Liberazione Naziunalista Corsu, kurz FLNC, versuchte die Unabhängigkeit mit Bombenattentaten und Morden zu erzwingen. Mehrere bewaffnete Gruppen bekämpften sich auch gegenseitig. 1998 eskalierte die Gewalt: Ein nationalistisches Mordkommando erschoss den französischen Präfekten der Insel, Claude Erignac, aus nächster Nähe, auf offener Straße, mitten in der Hauptstadt Ajaccio. Die französische Öffentlichkeit war schockiert.
O-Ton 10 Matthias Waechter
„Und insofern wurde dieses Autonomiebestrebungen oder Unabhängigkeitsbestreben der Korsen auch oft als eine Bedrohung wahrgenommen.“
Kreuzblende zu Atmo 8, in den Straßen von Corté, Verkehr usw., steht kurz frei, dann weiter unter
Sprecherin
Über diese blutigen Zeiten spricht man auf der Insel heute nicht gern. Die Täter von damals und ihre Hintermänner wurden gefasst und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Die militanten Gruppen haben die Waffen niedergelegt. In den Supermärkten kauft man Baguette und auf den Dorfplätzen spielen die Korsen Boule. Haben sie ihren Frieden mit Frankreich gemacht? Nicht wirklich: Fährt man auf der sich durch die Berge schlängelnden Straße D18 nach Corte, durchquert man kurz vor der Universitätsstadt einen Straßentunnel. Dessen Wände sind über und über mit Spraydosen beschrieben: „Korsika ist nicht Frankreich“, liest man da auf Französisch. „Freiheit für Korsika“, „Franzosen raus aus Korsika“ und so weiter.
Atmo 8, in den Straßen von Corté, Verkehr usw., kommt kurz hoch, dann weiter unter
MUSIK DEBE91905251 Oriental Strings_STEM Drone 01:10 min
Sprecherin
Auf der ganzen Insel weht der Mohrenkopf mit Stirnband auf Bannern und Fahnen und klebt als Aufkleber auf Autos: Das Emblem des Freiheitskampfes. Und in den Altstadt-Gassen von Corte ist das Konterfei eines Mannes allgegenwärtig: Es ist das Porträt von Yvan Colonna. Der korsische Nationalist war wegen Beteiligung an dem Präfekten-Mord zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er hatte dabei stets seine Unschuld beteuert. Im März 2022 wurde Yvan Colonna im Gefängnis im südfranzösischen Arles von einem Mithäftling angegriffen und schwer verletzt. Daraufhin kam es auf Korsika zu Protesten und Ausschreitungen. Dutzende Polizisten wurden verletzt. Yvan Colonna starb drei Wochen später im Alter von 61 Jahren im Krankenhaus. Zu seiner Beerdigung in seinem Heimatdorf in den korsischen Bergen ordnete der Regionalpräsident der Insel Trauerbeflaggung an.
MUSIK 4138308 01/001 A Serva - 00:30min
Anfang der 2020er-Jahre stand damit Korsikas Verlangen nach Autonomie wieder auf der Tagesordnung. Auf Korsika machte man sich Hoffnungen auf neue Verhandlungen und Fortschritte. Doch dann griff der russische Präsident Vladimir Putin die Ukraine an. Die folgende Energiekrise und eine hohe Inflation hielten ganz Europa in Atem, so auch Frankreich. Das Thema Korsika rückte wieder auf die hinteren Ränge.
Sprecherin
Dabei seien die Forderungen im Vergleich zu den achtziger und neunziger Jahren mittlerweile gemäßigt, betont Alain Di Meglio, der Vize-Direktor der Universität in Corté: Nur noch zehn Prozent der Korsen verlangten die Unabhängigkeit ihrer Insel von Frankreich. Doch für die Autonomie seien 90 Prozent. Er eingeschlossen.
O-Ton 11 Alain Di Meglio, Französisch/OV
OV ALAIN
„Ich bin Autonomist. Ja, ja, ja, ja, ja, ja, ich bin Autonomist, da ich ein Aktivist der korsischen Sprache bin! Ich fordere das Korsische als offizielle Sprache neben Französisch. Und ich bin für ein System, das mehr Vertrauen in Korsika setzt, das Korsika mehr Macht gibt, aber ohne die Armee oder die Polizei zu fordern oder sich aus dem System der Solidarität mit Europa und Frankreich zu lösen. Die deutschen Bundesländer: Die sind ein Modell für uns. Deutschland ist viel besser dezentralisiert als Frankreich.“
Sprecherin
Die Verfechter korsischer Freiheit haben ihre Ansichten auch deshalb abgemildert, weil sie den Gang in die Politik und durch die Institutionen angetreten haben: Autonomisten und Separatisten taten sich zusammen und errangen 2015 die Mehrheit im korsischen Regionalparlament. Doch Korsika müsse sich auch Europa und der Welt öffnen, fordert Di Meglio. Ebenso wie Frankreich, das zu sehr auf seinen einheitlichen Zentralstaat fixiert sei und Befugnisse nur zögerlich abgebe.
O-Ton 12 Alain Di Meglio, Französisch/OV
OV ALAIN
„Und ich glaube auf jeden Fall, dass das Prinzip der Autonomie heute ein notwendiges Prinzip ist, sogar weltweit: Wir werden aufgefordert, kurze Transportwege zu fördern, vor Ort zu konsumieren, um die CO2-Kosten des Großhandels zu vermeiden. Man verlangt von uns, die Verpackungen zu reduzieren, man verlangt von uns mehr Ökologie, man verlangt von uns, Energie zu sparen. All das, was in Europa und der Welt im Trend liegt, ist ein Prinzip, das in Richtung Autonomie geht.“
MUSIK Diana Di L'Alba: A Ghitarra (DIA0293/1) 00:40min
Sprecherin
Auf dem Weg zu mehr Eigenständigkeit sei die korsische Sprache ein wichtiger Trittstein, betont Di Meglio.
O-Ton 13 Alain Di Meglio, Französisch/kein OV, da kurz und oben erklärt
„Die Sprache ist das wichtigste Kriterium für das Bedürfnis der Korsen nach Identität.“
Sprecherin
Doch obwohl sie heute im öffentlichen Leben, auch in der Literatur, anerkannt sei, gebe es da eine große Gefahr: Nur noch zehn bis 15 Prozent der Jugendlichen sprächen aktiv Korsisch und nur noch etwa die Hälfte verstehe die Regionalsprache. Denn in den Familien wird Korsisch zum ersten Mal seit Jahrhunderten nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben.
O-Ton 14 Alain Di Meglio, Französisch/OV
OV ALAIN
„In den vergangenen 40 Jahren hat sich eine Art Paradoxon entwickelt: Die korsische Sprache ist sichtbarer und präsenter in der Politik und in den Medien. In der Bevölkerung geht sie jedoch zurück. Sie wird im Alltag weniger gesprochen.“
Kreuzblende zu Atmo 9, Konzert von L’Alba, Lied sanft einblenden unter
Sprecherin
Die UNESCO stuft Korsisch darum als bedrohte Sprache ein. Diese Entwicklung müsse gestoppt werden, fordert Alain Di Meglio. Doch er ist guter Hoffnung: Auch wenn es immer weniger gesprochen wird, werde Korsisch immer häufiger an den Schulen gelehrt. Und dann sei da ja auch noch die Musik:
Atmo 9, Konzert von L’Alba, Lied kommt kurz hoch, dann leise weiter unter
Sprecherin
Viele korsische Lieder sind in der Zeit der Unterdrückung verloren gegangen, doch erstaunlich viele haben auch überlebt. Dank der Überlieferung in den Familien, wie Ghjuvanfrancescu Mattei von L’Alba erzählt (Lied kann drunter bleiben, denn da singt ein anderes Bandmitglied): Alle Mitglieder der Gruppe hätten von einer mündlichen Weitergabe profitiert.
O-Ton 16 Ghjuvanfrancescu Mattei, Französisch, kein OV, da kurz und unten erklärt
„Tous les membres de L’Alba ont bénéficié d'une d'une transmission orale en fait. Et ça fait finalement depuis toujours que l'on fait de la musique, que l'on chante.“
Sprecherin
Fragt man ihn, ob er sich als Korse fühle oder als Franzose, antwortet der Musiker überraschend weltoffen:
O-Ton 17 Ghjuvanfrancescu Mattei, Französisch/OV
OV MÄNNLICH
„Ich fühle mich sehr wohl und gut verstanden in der korsischen Sprache, natürlich. Aber ich fühle mich auch sehr gut mit Französisch. Und ich empfinde mich in gewisser Weise auch ein bisschen deutsch, und auch spanisch und auch italienisch. Ich fühle mich jedenfalls sehr wohl in meiner Rolle als Mittelmeeranrainer und das gilt auch für die anderen Musiker der Gruppe.“
Sprecherin
Mattei erklärt: Sie stünden mit einem Bein auf jedem Ufer des Mittelmeeres. Zwar bewahren sie die Tradition der korsischen Musik und hüten damit eine uralte kulturelle Tradition. Doch sie wollen sie auch kreativ weiterentwickeln. Darum habe L’Alba sich auch anderen mediterranen Einflüssen geöffnet, sagt Ghjuvanfrancescu Mattei: Griechischen, nordafrikanischen, italienischen Musiktraditionen.
O-Ton 18 Ghjuvanfrancescu Mattei, Mix aus Korsisch und Französisch/OV
OV MÄNNLICH
„Wir versuchen eigentlich mit der korsischen Sprache, der korsischen Musik, eine neue Musik zu machen, die ihre Wurzeln aber nicht verleugnet. Wir versuchen, ein Bindeglied zu schaffen, zwischen allen Ufern des Mittelmeers. Aber natürlich ist der Ausgangspunkt immer noch die Art und Weise zu singen, die für Korsika spezifisch ist.
Atmo 10, Konzert, Lied kommt hoch, endet, Applaus, sanft weg blenden
William Turner (1775-1851) ist einer der erstaunlichsten Maler der Kunstgeschichte. Weit vor der Erfindung der Abstraktion lösen sich die Konturen seiner Malerei bereits in Farbwolken und Lichteffekten auf. Zugleich gilt der Turner als Chronist der frühen Industrialisierung seiner englischen Heimat. Von Julie Metzdorf (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Thomas Loibl, Ditte Ferrigan, Christian Schuler
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Karin Althaus, Kunsthistorikerin, Lenbachhaus München
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Literaturtipps:
Wagner, Monika: William Turner: München: C.H. Beck Verlag, 2011.
Bockemühl, Michael: Turner: Köln (u.a.): Taschen Verlag, 2010.
Turner. Ein Lesebuch, hrsg. von Karin Althaus, Nicholas Maniu, Matthias Mühling. Lenbachhaus München, 2023.
Filmtipp:
Mike Leigh: „Mr. Turner – Meister des Lichts“ (2014).
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Groschenhefte: billige Trivialliteratur im Format DIN A5, nur 64 Seiten lang, dafür endlos fortgesetzt. Ein riesiges Angebot zum kleinen Preis. Seit jeher geschmäht als Schmutz- und Schundliteratur halten sich die Heftromane bis heute hartnäckig an den Kiosken. Groschenhefte - eine Never Ending Story. Von Frank Halbach (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Xenia Tiling, Christoph Jablonka
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Christine Haug, Leiterin des Zentrums für Buchwissenschaft. Buchforschung - Verlagswirtschaft - Digitale Medien an der LMU München, Initiatorin eines DFG-Forschungsprojekts über Groschenhefte
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Im Podcast "Ein Zimmer für uns allein" mit unserer Host Paula Lochte treffen zwei Frauen aus verschiedenen Generationen aufeinander und sprechen über ein Thema, das sie verbindet. Mit dabei: Meinungen und Perspektiven aus der Instagram-Community von FrauenGeschichte. Hört mal rein!
Schönheitsideale, Verhütung, Finanzen, Care-Arbeit – alles Themen, die Frauen seit jeher betreffen, ob gewollt oder ungewollt. Im Podcast „Ein Zimmer für uns allein“ mit unserer Host Paula Lochte treffen zwei Frauen aus verschiedenen Generationen aufeinander und sprechen über ein Thema, das sie verbindet. Was waren ihre Struggles damals und heute? Was hat sich verändert, oder vielleicht sogar verbessert? Wo müssen feministische Kämpfe weitergeführt werden? Mit dabei: Meinungen und Perspektiven aus der Instagram-Community von FrauenGeschichte.
Den Podcast findet ihr in der ARD-Audiothek und überall wo's Podcasts gibt: https://1.ard.de/EinZimmerfuerunsallein oder gleich hier
Die Instagram-Community FrauenGeschichte findet ihr hier: https://www.instagram.com/frauen_geschichte/redits
Die Bibelgeschichte von Adam und Eva und dem Sündenfall hat unsere Kultur geprägt wie kaum eine zweite,hat sie Antworten geliefert auf Grundfragen des Menschen, hat Denken, Glauben geprägt und die Unterdrückung von Frauen und Indigenen auf den Weg gebracht. Von Thomas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Stefan Wilkening, Jenny Güzel
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Thomas Morawetz
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Ein Podcast-Tipp für alle, die gerne authentische Geschichten hören: „Ein Zimmer für uns allein“ – zwei Frauen, zwei Generationen und die Frage „Wie hast du das erlebt?“
Hier trifft Paula Lochte immer zwei Frauen aus verschiedenen Generationen und sie sprechen offen und ehrlich über ein Thema, das sie verbindet. Was waren die Kämpfe damals, was sind sie heute? „Ein Zimmer für uns allein“ findet ihr in der ARD-Audiothek und überall, wo’s Podcasts gibt.
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER
Wenn ein Kind zur Welt kommt und alles gut geht, herrschen Freude und Erleichterung. Die Schmerzen der Geburt, die die Frau durchlitten hat, lassen langsam nach. Die Hebamme prüft, ob alles dran ist am Neugeborenen, ob es selbstständig zu atmen anfängt. Und wenn das Kleine den ersten Schrei ausstößt, ist das Glück der Eltern groß.
Musik 2 "Pink" - Komponist und Ausführende: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'10
ERZÄHLER
An Sünde denkt in einem solchen Augenblick heute wohl kaum jemand. Und nur den Allerwenigsten dürfte beim Anblick eines Säuglings der Heilige Augustinus in den Sinn kommen. Obwohl der einflussreiche Theologe und Kirchenlehrer des vierten und fünften nachchristlichen Jahrhunderts unser Denken im lateinischen Westen maßgeblich geprägt hat. Für Augustinus ist mit der Geburt ein neuer Sünder auf die Bühne des Lebens getreten, weil für ihn jeder Mensch ein Sünder ist – von Anfang an.
Musik 3 "Pink" - Komponist und Ausführende: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'10
ERZÄHLER
Was uns Heutigen höchst eigentümlich erscheinen mag, ja nachgerade absurd, ist eine der zentralen Lehren des christlichen Glaubens, wie Augustinus ihn verstanden hat: Der Mensch komme beladen mit der Erbsünde auf die Welt. Denn die Sündhaftigkeit, so der Kirchenvater, sei wie eine Krankheit, die übertragen werde durch Geschlechtsverkehr.
Musik 4
The feeling begins - Komponist: Peter Gabriel - Album: Passion: Music For The Last Temptation Of Christ - Länge: 0'50
ERZÄHLER
Schuld an diesem Unheil seien unsere allerersten Vorfahren: Adam und Eva. Sie haben sich dem Mythos zufolge der Ursünde, lateinisch peccatum originale, schuldig gemacht.
Spätestens seit der Engländer Charles Darwin 1859 mit seinem Hauptwerk „Über die Entstehung der Arten” das grundlegende Werk zur Evolutionsbiologie veröffentlicht hat, wissen wir, dass wir nicht von Paradiesbewohnern abstammen. Trotzdem hat die Erzählung von den zwei sündigen Ureltern unsere abendländische Kultur geprägt wie keine zweite. Sie ist der mächtigste Mythos der Menschheit, schreibt der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt in seinem Buch „The Rise and Fall of Adam and Eve“.
Musik 5
"Evening Prayer" Komponist und Ausführender: Volker Bertelman - Album: Conclave (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'52
ERZÄHLER
Eine Geschichte, die lange Zeit wortwörtlich als unverbrüchliche Wahrheit verstanden wurde. Die sich bei näherer Betrachtung jedoch als höchst komplexe, vielschichtige Erzählung erweist, in der wichtige Fragen des menschlichen Daseins verhandelt werden: Woher kommen wir? Was macht den Menschen aus? Was ist gut, was böse? Warum gibt es Elend, Leid, Schmerz und Krankheit? Und warum muss der Mensch sterben? Große anthropologische Fragen, die lange Zeit mit dem Sündenfall beantwortet wurden. Adam und Eva haben unser Denken, unseren Glauben und unsere Bilderwelten geprägt. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, Professor an der Berliner Humboldt-Universität, hat sich intensiv mit dem Mythos befasst. Auch wenn wir die Geschichte der Erbsünde heute nur noch als diffuse Metapher wahrnehmen, sagt Bredekamp, hat sie doch über mehr als 2000 Jahre eine ungeheure Wirkung entfaltet. Weil sie Erklärungen liefern konnte für eine menschliche Grunderfahrung.
ZSP 1 Bredekamp Grunderfahrung 0,32
Dass die Welt erstens schön ist und dass sie zweitens zum Tod führt. Und zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der Mensch und dazwischen entwickeln sich beide Möglichkeiten, beide Qualitäten sozusagen: die Entfaltung von Gutem und auch als schön Empfundenem und die Entfaltung von Bösem, von Schmerz und Tod. Und diese Geschichte dieser Bandbreite, diesen beiden Polen gibt die Geschichte von der Erbsünde eine Erklärung und eine Orientierung.
ERZÄHLER
Die Geschichte von Adam und Eva nimmt gerade mal anderthalb Seiten ein und steht ganz am Anfang sowohl der jüdischen Bibel als auch der christlichen. Im 1. Buch Mose des Alten Testaments erschafft Gott die Welt, formt Adam, den ersten Menschen aus Erde und bläst ihm den Lebenshauch ein. Fortan lebt dieser Mensch nackt und unschuldig im Garten Eden.
Musik 6
"Episode Two" - Album: Sirens (feat. Lisma Project) - Komponist und Ausführender: Michael Riessler - Länge: 0'42
ERZÄHLER
Dort wachsen zwei ganz besondere Bäume:
ZITATORIN:
Ein Baum, dessen Früchte unvergängliches Leben schenken, und einer, dessen Früchte ein Wissen geben, das von Gott unabhängig macht.
ERZÄHLER
Der Aufenthalt in diesem Paradies ist an eine einzige Bedingung geknüpft. Gott sagt zu Adam:
ZITATORIN:
Du darfst von allen Bäumen des Gartens essen, nur nicht von dem Baum, dessen Früchte Wissen geben. Sonst musst du sterben.
ERZÄHLER
Als Gott sah, dass Adam einsam war, ließ er ihn in einen tiefen Schlaf fallen, entnahm eine seiner Rippen und schuf daraus Eva. Die beiden lebten nun gemeinsam im Garten Eden – nackt und unschuldig.
Musik 7
"Waschung der Toten" - Album: Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Christian Heyne - Länge: 1'02
ERZÄHLER
Bis eines Tages die Schlange auftauchte, das klügste von allen Tieren, die Gott erschaffen hatte. Die Schlange überredet Eva, eine Frucht vom Baum der Erkenntnis zu probieren.
ZITATORIN:
Sobald ihr davon esst, werden Euch die Augen aufgehen, und ihr werdet alles wissen, genau wie Gott. Dann werdet ihr Euer Leben selbst in die Hand nehmen können.
ERZÄHLER
Eva wurde schwach, aß den Apfel und verführte auch Adam dazu. Mit einem Mal erkannten die beiden, dass sie nackt waren. Voller Scham verhüllten sie sich mit Feigenblättern. Als Gott dies sah, war klar: Die beiden hatten vom Baum des Wissens genascht. Sie mussten aus dem Garten Eden verbannt werden, bevor sie sich am Baum der Unsterblichkeit zu schaffen machten.
ERZÄHLER
Vorbei waren die paradiesischen Zeiten. Von nun an mussten Adam und mit ihm alle Männer folgender Generationen ihr täglich Brot mit harter Arbeit verdienen. Eva und alle ihr folgenden Frauen sollten künftig schwere Schmerzen bei der Geburt erleiden. Außerdem musste die Frau dem Mann untergeordnet sein, weil sie ihn zur Sünde verführt hatte.
Musik 8
"Pink" - Komponist und Ausführende: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'20
ERZÄHLER
Das Weib als Verführerin, verantwortlich für das Böse in der Welt! Mit dieser Geschichte beginnt eine frauenfeindliche Tradition, die über Jahrhunderte hinweg gewirkt hat, sagt Ulrike Ernst-Auga, Professorin für Religionswissenschaft an der Humboldt Universität Berlin. Bemerkenswert erscheint der evangelischen Theologin, dass diese Tradition das Ergebnis einer Manipulation ist. Denn in der Frühphase der Bibelentstehung, im ersten Jahrtausend vor Christus, gibt es verschiedene Schöpfungsgeschichten des Menschen nebeneinander. Und von Mann und Frau sei da noch keine Rede gewesen; sondern nur von einem einzigen, geschlechtslosen Menschen: Adám.
ZSP 2 Auga Erdling 0,53
Der Erdling, Adám, gemacht aus Adamáh, der Erde. Es gab hier keine Zwei-Geschlechtlichkeit, sondern alle waren aus dem gleichen Stoff gemacht. Es kam dann zu einer Spaltung im Zuge weiterer Übersetzungen und Übertragungen, insbesondere im Kontext der Entstehung der Septuaginta. Das war also die Übersetzung vom hebräischen Text in das griechische, und bei dieser Übersetzung, das ist so wie bei anderen Übersetzungen auch, entstehen auch neue Bedeutungen. Und diese griechische Bibelübersetzung der Septuaginta hatte ein Interesse daran, diese Geschichte hier erotisierend aufzuladen. Und so entstand aus dem Erdling dann Adam und seine Frau. Das ist also eine spätere Hinzufügung.
ERZÄHLER
Die Septuaginta entstand ab etwa 250 vor Christus im hellenistischen Judentum. Die patriarchalen Strukturen der Zeit hätten sich bei der Übertragung der Bibel ins Griechische bemerkbar gemacht.
ZSP 3 Auga Aristoteles 0,31
Dieser Versuch der Konstruktion einer Überlegenheit von männlich über weiblich hat eine Tradition, die sich bei Aristoteles findet. Bei Platon ist es noch nicht so, aber bei Aristoteles, der hat selber schon die Vorstellung einer Überlegenheit der männlichen Seele über die Frau. Die Frau wird als defizitärer Charakter betrachtet. Und dann wird sozusagen diese aristotelische Tradition aufgenommen und das trägt sich bis heute in die Kulturgeschichte durch.
ERZÄHLER
Eine Konstruktion mit gravierenden Folgen, sagt die feministische Theologin Ernst-Auga. Die geschlechtliche Zweiteilung wird festgeschrieben, wobei der Mann der Frau übergeordnet wird, während letztere gleichzeitig verantwortlich gemacht wird für alle Übel der Welt. Obwohl weder Jesus Christus noch die Autoren der Evangelien im Neuen Testament vom Sündenfall sprechen, entsteht später die theologische Lehre von der „Erbsünde“. In der biblischen Erzählung ist zunächst nur ganz allgemein von der Verderbtheit der Welt die Rede. Allerdings entwickelt der Apostel Paulus, der bedeutendste Missionar des Urchristentums, seine eigene Theologie der Sünde und ein Menschenbild, das zur Grundlage der späteren Erbsündenlehre werden konnte. Durch die Ur-Sünde des Ersten Adam sei die Menschheit dem Tod ausgeliefert. Nur durch Jesus Christus könne sie wieder erlöst werden und teilhaben an der vollkommenen Glückseligkeit. Was die Rolle der Frau angeht, erscheint der Apostel Paulus zwiespältig. Einerseits betont er die Gleichstellung aller Menschen und zeigt durchaus Wertschätzung für eine ganze Reihe von Mitstreiterinnen wie Phoebe oder Lydia. Andererseits sind Zitate überliefert, die von ihm stammen sollen und eine eher ablehnende und rigide Haltung gegenüber Frauen zeigen. Womit sich der Missionar vielleicht nur an seine Umwelt angepasst hat, um seine Botschaft besser unter die Leute bringen zu können.
Musik 9
Titel 03 - Album: Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Chris Heyne - Länge: 1'11
ERZÄHLER
In den Jahrhunderten nach Paulus haben sich bedeutende Kirchenschriftsteller Gedanken darüber gemacht, wie die Sünde vererbt werden kann. Tertullian etwa, der aus Karthago im heutigen Tunesien stammte, war zu Beginn des dritten Jahrhunderts der Ansicht, dass beim Zeugungsakt mit dem männlichen Samen auch die Seele auf das Kind übertragen wird. Ganz anders als dieser sogenannte Generatianismus sieht es die Lehre des Kreatianismus. Sie wurde von Laktantius entwickelt, der ebenfalls aus der römischen Provinz im heutigen Nordafrika stammte. Für Laktantius wird die Seele zum Zeitpunkt der Zeugung von Gott ganz neu erschaffen. Dieser Kreatianismus wurde schließlich zur verbindlichen Lehrmeinung der katholischen Kirche. Und dann war da noch ein weiterer höchst einflussreicher Kirchenvater: Augustinus, geboren im Jahr 354 nach Christus in Thagaste, im heutigen Algerien. Augustinus hing eher dem Kreatianismus an, obwohl der eigentlich nicht recht zu seiner Lehre passte: Denn Augustinus war der Meinung, der Mensch komme schon beladen mit der Erbsünde auf die Welt.
ZSP 4 Auga Augustinus 0,30
Augustinus hatte diese Idee der Erfindung der Erbsünde und das wirkte dann auch bis ins Mittelalter und bis in die Gegenwart nach. Dieses augustinische Erbe setzt sich dann eben auch später durch bei Thomas von Aquin, der gleichzeitig auch Aristoteles aufnimmt. Das heißt, wir haben hier so eine Konstruktion einer verwerflichen Geschichte, die so nachhaltig werden konnte, weil eben entscheidende Personen in der christlichen Theologiegeschichte so nachhaltig wirkten.
ERZÄHLER
Die Erbsündenlehre des Augustinus zementierte also schon im 4. Jahrhundert nach Christus ein frauenfeindliches Weltbild. Obwohl es damals auch andere Stimmen gab. Der Brite Pelagius lehnte das Erbsündenkonzept rundherum ab. Die Sünde des ersten Menschen, sagt er, führe nicht zwangsläufig dazu, dass alle folgenden Menschen auch Sünder werden. Jede und jeder könne ein Leben frei von Sünden wählen.
ZSP 5 Auga Pelagius 0,15
Seine Lehre wurde aber nicht als rechtmäßig betrachtet, sondern die des Augustinus setzte sich durch, und deswegen kam es dann eben zu dieser Vorstellung des sündigen Menschen und der Erbsünde, wie sie geprägt wurde durch Augustinus.
ERZÄHLER
Die Geschichte von Adam und Eva beschäftigte nicht nur Theologen. Auch Künstler interessierten sich schon sehr früh dafür, sagt Horst Bredekamp, vor allem für den „Sündenfall“.
ZSP 6 Bredekamp Anfänge 0,40
Eine der eindrucksvollsten frühen Darstellungen stammt aus der sogenannten Wiener Genesis, wohl aus dem sechsten Jahrhundert, die auf eine sehr eindrucksvolle Weise in drei Szenen nebeneinander, quasi wie in einem Film, ablaufen lässt: die Mahnung, dann den Sündenfall selbst und das sich Verbergen zum Schluss von Adam und Eva in ihrer Reue, nachdem der Sündenfall geschehen ist, also das Essen von der Frucht des Baumes der Erkenntnis. Und dort sind bereits die psychologischen Grundsituationen auf grandiose Weise dargestellt. Eben das Verbot, das Übertreten, aber dann die Reue, die Schuld – das Bewusstsein von Schuld.
ERZÄHLER
Durch das Essen vom Baum der Erkenntnis gewinnt der Mensch an ethischer Urteilskraft und kann fortan Gut und Böse unterscheiden. Aber das ist nicht die einzige Interpretation des Sündenfalls. Das „Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet“ zählt mehrere auf. Zum Beispiel die sexuelle Deutung, die im Geschlechtsverkehr von Adam und Eva die erste Sünde sieht. Oder eine intellektuelle Interpretation, die die Wissbegier und Selbstüberschätzung des Menschen betont. Auch als Akt der Emanzipation des Menschen ist der Sündenfall oft verstanden worden. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp sieht noch eine weitere, eine ästhetische Deutung, die wie ein Akt der Befreiung gewirkt hat.
Musik 10
"First Day" - Komponist und Ausführender: Volker Bertelman - Album: Conclave (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'54
ERZÄHLER
Die Darstellung des Sündenfalls gab den Künstlern die Möglichkeit, den nackten Körper in seiner ganzen Schönheit zu zeigen.
ZSP 7 Bredekamp Befreiungstat 0,27
Die Nacktheit, welche Adam und Eva nach dem Essen des Apfels erkennen, und mit der Nacktheit die Schönheit und mit der Nacktheit auch die Sexualität, kann durch diese Art Darstellung des Sündenfalls präsentiert werden, ausgereizt werden geradezu. Und so wird der Sündenfall in seinem bösen Charakter zur Lizenz zu etwas Schönem, zu etwas Großartigem, zu einer Befreiungstat.
ERZÄHLER
Biblische Themen dienten oft auch als Alibi für Aktdarstellungen, vor allem vom weiblichen Körper. Der Bildhauer Gislebertus zum Beispiel hat im 12. Jahrhundert am Nordportal der Kathedrale von Autun, im französischen Burgund, eine nackte, liegende Eva geschaffen.
ZSP 8 Bredekamp Verführung 0,13
Es ist die pure Verführung eines Körpers, gar nicht der Apfel, der Körper selbst wird die Verführung. Und diese Verführung... es ist eine einzige Feier des Körpers.
MUSIK 11
"Evening Prayer" - Komponist und Ausführender: Volker Bertelman - Album: Conclave (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'31
ERZÄHLER
Die Geschichte vom Sündenfall bringt also nicht nur Gut und Böse ins menschliche Leben, sondern auch das, was „für die Augen schön“ ist, wie es in der Bibel heißt. Und zu dieser Schönheit gehört eben auch die Sexualität, betont Horst Bredekamp. Bereits in der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts ist das zu sehen auf den Bronzetüren vom Hildesheimer Dom. Auf der sogenannten Bernwardstür, die ursprünglich für die Kirche St. Michael gefertigt wurde, ...
ZSP 9 Bredekamp Erotisierung 0,31
... hat die Eva in der einen Hand, in der rechten einen Apfel, in der linken auch einen Apfel. Und dieser Apfel ist im Grunde ihre rechte Brust. Also über die gesamte mittelalterliche Kunst kann man eine Verbindung von weiblicher Brust und Apfel nehmen und damit eine Erotisierung, die auf den ersten Blick negativ, stigmatisierend wirkt, aber auf den zweiten Blick zeigt, dass die Künstler ein widersinniges Spiel getrieben haben und mit diesem Motiv die Erotik des Körpers geradezu gefeiert haben.
ERZÄHLER
Sie nutzten die Freiheit der Kunst auch, um festgefahrene Positionen aufzuweichen. Zum Beispiel die gängige Lehrmeinung, die sich seit Augustinus unter Theologen verfestigt hatte:
ZSP 10 Bredekamp Eva 0,47
Ja, die Eva ist die ewige Schlange, die Böse, die Verführerin, die dem Mann das Elend und das Grab bringt. Es ist in der Sündenfallgeschichte angelegt, aber die Sündenfallgeschichte ist zu komplex in diesen wenigen Versen, als dass man Eva nun diese alleinige Schuld zusprechen könnte. Denn Eva wehrt sich zunächst gegenüber der Schlange und sagt: Nein, nein, wir dürfen davon nicht essen. Und dann kommt aber die Verführung, unter die Eva selbst gestellt ist, und das ist die Schönheit, die Schönheit, die mit dem Essen des Apfels verbunden ist. Und so ist Eva auch eine hilflose, eine verständlich Verführte, die dann zur Verführerin wird.
ERZÄHLER
Der Mythos von der Erbsünde hat zahlreiche bedeutende Künstler inspiriert. Hieronymus Bosch, Albrecht Dürer, Peter Paul Rubens, Donatello oder Lucas Cranach den Älteren. Und natürlich Michelangelo, von dem eines der berühmtesten Beispiele aus dem frühen 16. Jahrhundert stammt. „Der Sündenfall“ an der Decke der Sixtinischen Kapelle im Papstpalast zu Rom.
ZSP 11 Bredekamp Michelangelo 0,29
Eva streckt den Arm weit aus nach hinten, sie dreht sich um, bewegt sich auf dem Boden in sitzender Haltung und hat den Kopf nun wenige Zentimeter vom Glied des Mannes, der aufrecht zum Apfel greift. Also Freud würde das eine Fellatio nennen oder die Andeutung davon, womit auf extreme Weise die Sexualisierung, und hier wirklich in neutraler Weise, überhaupt nicht negativ bezeichnet, des Sündenfalls gemalt worden ist.
ERZÄHLER
Zu bewundern ist dieses großartige Kunstwerk wohlgemerkt in einer Kapelle des päpstlichen Palastes. Auf prüdere Gemüter mag der Anblick schockierend gewirkt haben. Ebenso irritierend war für einfache Christenmenschen um 1500 die Entdeckung der amerikanischen Kontinente. Denn plötzlich gerieten mit den Ureinwohnern Amerikas Menschen ins Blickfeld, die so waren wie Gott sie geschaffen hatte, nämlich nackt. Und das offenbar ganz ohne Scham, wie einst Adam und Eva im Paradies. Die hatten erst nach dem Sündenfall Schamgefühle entwickelt und sich aus Feigenblättern einen Lendenschurz gebastelt. Was aber war mit den Ureinwohnern, die gut ohne die Strafe der Scham auskamen? Lebten sie immer noch im Paradies? Oder waren sie etwa gar keine Menschen, wie manche Autoren des 16. Jahrhunderts mutmaßten. Waren diese „nackten Wilden“ nur Kreaturen, die unter den Stand des Menschlichen gesunken waren.
Musik 12
"Pink" - Komponist und Ausführende: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'10
ERZÄHLER
Die Folgen solcher Überlegungen waren Rassismus und millionenfacher Mord an den Indigenen der Neuen Welt.
Musik 13
"Pink" - Komponist und Ausführende: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'10
ERZÄHLER
Nur vereinzelt gab es auch andere Stimmen. Der Dominikaner Bartolomé de Las Casas etwa vermutete in den neu entdeckten Ländern den verlorenen Garten Eden. Die Eingeborenen dort seien sehr wohl Menschen wie alle anderen auch, ja sogar moralisch überlegen. Das Ideal eines unverdorbenen Naturmenschen also: der „edle Wilde“. Diesen Begriff hat erstmals im späten 16. Jahrhundert der französische Philosoph Michel de Montaigne verwendet – 200 Jahre vor Jean Jacques Rousseau. Doch das waren Ausnahmen. In der Regel wurden Menschen strikt und stereotyp in binäre Systeme eingeteilt: in Christenmenschen und Wilde etwa, oder in Mann und Frau. Daraus folgte eine scheinbar naturgegebene hierarchische Überlegenheit des weißen Mannes; eine Idee die eng verbunden war mit der Idee der Erbsünde. Erst mit Beginn der Aufklärung, schreibt Stephen Greenblatt, vervielfältigten sich die Zweifel an dieser Vorstellung. Zweifel, die sich bald nicht mehr unterdrücken ließen. Unterschwellig wirkt die Idee trotz aufklärerischer Ansätze jedoch weiter – bis in unsere Zeit hinein, sagt die Religionswissenschaftlerin Ulrike Ernst-Auga. Nicht nur in der Erbsündenlehre der katholischen Theologie, auch in protestantischen Theologien, ja selbst in säkularisierten Gesellschaften – bis hin zur Darstellung der Frau als sündige Verführerin in TV-Seifenopern unserer Tage. Besonders wirkmächtig erweist sich die Geschichte der Erbsünde dort, wo sie immer noch wortwörtlich verstanden wird.
ZSP 12 Auga Fundamentalismen 0,26
In fundamentalistischen Verständnissen in allen Religionen, aber auch in säkularen, gibt es immer ein essentialistisches Verständnis, insbesondere auch von Geschlecht, weil die für ihre Konstruktion des Ausschlusses und zur Selbstkonstruktion ein hierarchisches Geschlechterverhältnis brauchen. Und dafür ist diese Lehre der sündigen Frau sozusagen sehr nützlich.
MUSIK 14
The feeling begins - Komponist: Peter Gabriel - Album: Passion: Music For The Last Temptation Of Christ - Länge: 0'22
ERZÄHLER
Über 2000 Jahre alte Texte müssen gedeutet werden. Und einige dieser Interpretationen können heute noch interessante Anregungen liefern.
Musik 15
"Evening Prayer" - Komponist und Ausführender: Volker Bertelman - Album: Conclave (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'47
ERZÄHLER
Etwa wenn man die Vertreibung aus dem Paradies als Befreiung aus einem Zustand der Unmündigkeit deutet – als emanzipatorischen Akt des Menschen, der zur Selbstständigkeit, Freiheit und Verantwortung für das eigene Leben führt. Oder aber auch als Warnung: Mensch, treibs nicht zu bunt! Wer vom Baum der Erkenntnis nascht, muss gut aufpassen, ob ihm die Speise auch bekommt. Atomwaffen, Gentechnik, das Klonen von Menschen oder Künstliche Intelligenz – so manche Erfindung könnte sich als Hybris herausstellen. Als lebensgefährliche Selbstüberschätzung.
So gesehen kann die kurze, aber vielschichtige Erzählung vom Sündenfall heute noch spannende Denkanstöße liefern. Es lohnt sich also, sie wieder mal zu lesen.
Handelsroute und Durchgangsstation war der Brenner von alters her. Bis heute ist der 1370 m hoch gelegene Brenner-Pass eine der wichtigsten Alpen-Transit-Strecken. Bereits in der Bronzezeit soll über den Brenner Bernstein transportiert worden sein, die Römer drangen über den Brennerpass nach Norden vor. Von Gabriele Knetsch
Credits
Autorin dieser Folge: Gabriele Knetsch
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christoph Jablonka, Friedrich Schloffer
Technik:
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Golo Maurer, Kunsthistoriker, Leiter der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte in Rom
Prof. Margareth Lanzinger, Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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München, Ende April 1945: Michael Hansen, 25, kehrt als amerikanischer GI in das Land seiner Geburt zurück, das nun in Trümmern liegt. Im Auftrag des Geheimdienstes soll er herausfinden, welche Rolle ein bedeutender Wissenschaftler des Nazi-Regimes gespielt hat: Alfred Ploetz. Der NS-Eugeniker ist tot, doch Wagner, dessen einstiger Freund, ist noch am Leben. Von ihm lässt sich Hansen die Geschichte einer Freundschaft erzählen, die in Breslau begann und beide Studenten bis in die USA zu den Ikariern führte: Kommunen, die ihre Utopie von Gleichheit und Gerechtigkeit realisieren wollten. Wie konnte der Sozialist Ploetz zum Rassenhygieniker werden? HIER ENTDECKEN
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Literatur:
Peter Kaspar, Brenner und Brennerbad, Ein ReiseLeseBuch, Würzburg 2019 – umfassende Darstellung der Geschichte des Brennerpasses mit Fokus auf der politischen Fragestellung
Ralf-Peter Märtin, Die Alpen in der Antike – von Ötzi bis zur Völkerwanderung, Frankreich 2017. Historischer Streifzug der Alpengeschichte bis zum frühen Mittelalter.
Katharina Winckler, Die Alpen im Frühmittelalter, die Geschichte eines Raumes in den Jahren 500 bis 800, Köln/Weimar 2012. Fundierte und detaillierte historische Darstellung des Alpenraums nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs.
Golo Maurer, Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst, Hamburg 2022. Maurers Goethe-Monographie geht der Frage nach, inwiefern die Sehnsucht nach dem Süden ihn und sein Werk prägte.
Francesco dal Negro, Max Rungg: Postgasthöfe und Stationen an der Brennerstraße, Monographie Südtiroler Landesarchiv über die Entstehung der Infrastruktur an der Brennerstraße.
Johann Wolfgang von Goethe, „Die Italienische Reise, Reclam Verlag.
Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580-1581, Übersetzer Hans Stilett, Die andere Bibliothek, Aufbau Verlag
Cassius Dio: Römische Geschichte, Verlag Artemis und Winkler Zürich.
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SPRECHER
Dies ist die Geschichte eines Jahrtausende währenden Roadtrips. Würde man auf den Brennerpass aus der Vogelperspektive und im Zeitraffer blicken, so sähen wir ein geschäftiges Kommen und Gehen.
Von oben betrachtet winzig klein klettern frühe Alpen-Bewohner wie der Ötzi über den Pass. Einige Tausend Jahre später sieht man einen Kelten auf einem Esel, bepackt mit Hallstein-Schwertern nach Süden reiten. Römische Bauexperten verlegen um Christi Geburt Quader für die erste befahrbare Straße - „Per Alpes Raeticas“. Ab dem frühen Mittelalter ziehen Händler mit ihren Saumtieren in beide Richtungen über den Pass, um Wein und Oliven nach Norden und Käse und Wolle nach Süden zu liefern. Und Ende der 1950er Jahre des letzten Jahrhunderts schiebt sich ein schnaufender VW-Käfer über die alte Brennerstraße - beladen mit einer vierköpfigen Familie, die sich nach Strand-Urlaub in Rimini sehnt.
Musik Sehnsucht
Ein Sehnsuchtsort war der Brennerpass schon immer. Aber zugleich auch nie mehr als eine Durchgangsstation. Und das ist er bis heute, sagt der Kunsthistoriker Dr. Golo Maurer.
1. Zsp. Golo Maurer, 31.04
Eine Art Niemandsland zwischen zwei Kulturen. (…) Er ist zu einer Art transitorische Bereich geworden, wo man den Norden abschüttelt und sich auf den Süden vorbereitet. Oder wo man, wenn man aus dem Süden kommt, vom Süden Abschied nimmt und den Norden ins Auge fasst.
SPRECHER
Seinen Erfolg als Jahrtausende alter Übergang über die Alpen verdankt der Brennerpass seiner geographischen Lage im Zentrum der Alpen. Er verbindet den Norden Europas mit dem Süden. Im Vergleich zu den drei anderen wichtigen Alpenpässen - dem Simplonpass, dem Mont Cenis und dem Großen Gotthard - ist der Brenner mit 1370 Höhenmetern der niedrigste.
2. Zsp. Golo Maurer, 29.10
Es gibt ja nicht so viele befahrbare Alpenübergänge, es gibt wahrscheinlich kleinere Passstraßen im Westen und im Osten, die zu befahren anstrengend ist. (…) Und ich glaube, dass diese geografische Situation, dass Deutschland und Italien ja eigentlich auf so auf eine Nord-Süd-Achse liegen und in der Mitte die Berge sind wie so eine Art Grenze von spiegelbildlich entgegengesetzten Ländern. Man kann sagen, aus deutscher Sicht ist Italien das Gegenland, das, wo alles anders ist, und die einzige Trennung zu diesem Gegenland, das sind die Berge.
SPRECHER
Und diese Trennlinie wollen Menschen schon seit Jahrtausenden überwinden. Doch das Image dieses alpinen Zwischenraums zwischen Nord und Süd änderte sich im Lauf der Geschichte. Bevor die Römer die Alpen eroberten und erschlossen – unter anderem dadurch, dass sie die Pässe für Fuhrwerke befahrbar machten - galten ihnen die Alpen-Bewohner als unzivilisiert, wild und roh. So schrieb noch um Christi Geburt der römische Geschichtsschreiber, Titus Livius, die Alpen seien für Menschen eine unüberwindbare Grenze. Römische Schriftsteller überspitzten die Alpenerfahrung gerne und beschrieben schroffe, in die Wolken aufragende Berggipfel, bösartige Bewohner, eiskalte Winde und ewigen Winter. Der römische Historiker Florus behauptete gar, Alpenbewohner benutzten ihre eigenen Kinder als Wurfgeschosse. Die Alpenüberquerung galt in den antiken Schriften als Heldentat.
Musikakzent, verblenden mit Atmo, Marschschritten
Einer dieser sagenumwobenen Helden war der karthagische Feldherr Hannibal. Schon 218 vor Christus zog er mit über 30 afrikanischen Kampfelefanten über die Alpen nach Rom. Eine logistische Meisterleistung. Welchen Pass – oder welche Pässe – er mit seinen Soldaten nahm – ein Großteil ging zu Fuß - das wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Aber den Brenner wahrscheinlich nicht. Denn die Tausende von karthagischen Kämpfern kamen über die Iberische Halbinsel in Richtung Alpen. Da lag ein Übergang in den Westalpen – heute in der Schweiz oder Frankreich - eher auf ihrer Route. Doch Hannibal führte es allen vor Augen: die Alpen waren überquerbar.
Musikakzent
Rund 200 Jahre später machten sich die Römer selbst ans Werk. Kurz vor Christi Geburt eroberten sie den gesamten Alpenraum. Denn immer wieder griffen Stämme aus den Alpen römische Siedlungen jenseits der Alpen an - zum Beispiel die im Etschtal lebenden Räter.
ZITATOR 1 (Cassius Dio)
„Die Raeter, die zwischen Norikum und Gallien, nahe den Italien anliegenden tridentinischen Alpen, ihre Wohnsitze haben, unternahmen Einfälle in viele Teile des benachbarten Gallien und schleppten sogar aus Italien Raubgut hinweg. Außerdem belästigten sie die Römer oder auch ihre Bundesgenossen, welche ihr Gebiet durchquerten. …. Deshalb schickte Augustus zunächst den Drusus gegen sie.“
SPRECHER
Das schreibt der um 160 n. Chr. geborene Politiker Cassius Dio in seiner „Römischen Geschichte“, die im Verlag „Artemis und Winkler“ erschienen ist. Wie die Räter die Sache sahen, ist unbekannt. Klar ist: Kaiser Augustus griff zwischen 25 und 14 v. Chr. hart gegen die alpinen Bergvölker durch, um seine „Pax Romana“ zu erreichen: er ließ einen Großteil der waffenfähigen Männer gefangen nehmen, außer Landes bringen und versklavte sie. Im Jahr 7 n. Chr. setzte sich Kaiser Augustus selbst ein Denkmal – mit dem „Alpendenkmal“ in La Turbie, heute Monaco: dieses Ehrenmonument feierte den Sieg über eine Vielzahl von Alpen-Stämmen. Darunter kaum bekannte wie Karner, Salasser oder Noriker.
Atmo Steinarbeiten, Klopfen, Hämmern
Die andere Seite dieser Eroberungsfeldzüge: die Römer legten in den Alpen Städte nach römischem Vorbild an – mit Forum Romanum, Thermen und Tempeln. Sie gliederten die Alpengegenden als Provinzen ins Reich ein, bauten Straßen und sicherten mehrere Pässe ab – darunter: den Brennerpass.
3. Zsp. Margareth Lanzinger, 12.15
In der Römerzeit ist man viel noch mit zweirädrigen Karren gefahren, aber wohl auch mit vierrädrigen. Es gibt zum einen Meilensteine, die überliefert sind, dass sie die auch etwas über den Verlauf aussagen und zum anderen gibt das auch länger schon … archäologische Funde. Wo wir diese Wagenräder deutlich in den Stein eingegraben sehen und auch den Unterbau, also überall, wo diese Römerstraße nicht über felsiges Gelände gelaufen ist. Da, wo man nicht weit in den Untergrund kann, waren das sehr, sehr massiv gebaute Straßen. Und in der Regel auch gepflastert, wo immer es ging.
SPRECHER
Margareth Lanzinger, Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, forscht seit Oktober 2024 mit einem mehrköpfigen Team im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes zu Infrastruktur, Handel und Logistik im Alpenraum.
4. Zsp. Margareth Lanzinger, ca. 3.15
Und da spielt die Brennerstraße, aber eben auch andere Alpenübergänge, der Splügen, Sankt Gotthard, eine große Rolle.
SPRECHER
Die Brenner-Route führte von Verona im Süden, über Sterzing in Südtirol, bis nach Augsburg – römisch: Augusta Vindelicorum. Die Alpen gehörten nun zum Römischen Reich, und durch die Via Raetia – oder Via Claudia Augusta – waren die wichtigsten Wirtschaftszentren im Norden und Süden Europas verbunden. In ihren Grundzügen existiert diese Römerstraße bis heute – ihr Streckenverlauf entspricht aktuell der „Alten Brennerstraße“. Im 18. Jahrhundert ließ die österreichische Kaiserin Maria Theresia die Strecke als ganzjährig befahrbare Straße ausbauen. Die Römer hatten die Pässe in erster Linie aus militärischen Gründen erschlossen, um schnell und sicher ihre Truppen über die Alpen zu verlegen. Ihr Ziel war es, die Kelten im Norden zurückzudrängen. Unüberwindbar waren die Alpen im ersten Jahrhundert nach Christus also längst nicht mehr. Es gab sogar antike Reiseführer, mit Empfehlungen, welche Alpenroute am besten zu nehmen wäre. Die gut ausgebaute Transitstrecke der Römer durch die Alpen war die Basis für einen europäischen Handelsverkehr über viele Jahrhunderte.
5. Zsp. Margareth Lanzinger, ca. 10.00
So um 1300 gibt es wahrscheinlich schon einen ersten Höhepunkt, wo der Warentransit greifbar wird: dass Straßen ausgebessert werden, dass so etwas wie Gasthäuser, Hospize entstehen. Aber wir sehen es eben auch in den Quellen, wenn dann Zollrechte oder Straßenrechte verliehen worden. Also das alles deutet darauf hin, dass es eine Strecke war, die eben ökonomisch einträglich und wichtig geworden ist (…) mit der Zeit im Mittelalter wird eigentlich der Brenner zu der zentralen Nord-Süd-Route durch Europa, kann man sagen, und das ist es im Grunde bis heute auch ein Stück geblieben.
SPRECHER
Folgende Produkte wurden schon zur Römerzeit aus den Alpen in den Süden geliefert: Marmor aus den alpinen Steinbrüchen, Salz aus Reichenhall, Eisen aus den Erzminen in Tirol, Gold und Bergkristall, aber auch einheimische Erzeugnisse einer Almwirtschaft, die es in den Alpen vermutlich schon seit mehreren Jahrtausenden gibt: Schafwolle und Käse. Schon unter den Römern galt der „caeseus alpinus“ als delikater Luxusartikel, der in Rom sehr gesucht war, genauso wie blonde Perücken, Honig und gepökelter Schinken. Aber der Fernhandel aus Italien brachte auch etwas Luxus nach Nordeuropa: die Römer – und nach dem Zusammenbruch ihres Reiches die Kaufleute der italienischen Fürstentümer - lieferten über die Alpentransitstrecke Olivenöl, Wein und Esskastanien, aber sie brachten auch südländische Lebensart auf die andere Seite der Alpen.
6. Zsp. Margareth Lanzinger, ca. 17.30
Wir sehen da eigentlich auch durchgängig vom Mittelalter an, dass getrocknete Früchte in den Norden transportiert wurden. Aber auch, wo ich etwas überrascht war, relativ große Mengen an Reis, das ist dann im achtzehnten Jahrhundert sichtbar, was im achtzehnten Jahrhundert auch noch einmal deutlicher sichtbar ist, ist die Seide, also die Seidenproduktion nimmt im norditalienischen Raum deutlich zu.
Atmo, Rollende Räder, Musik flott
SPRECHER
War der Brenner unter römischer Herrschaft eher noch ein untergeordneter Pass, so wurde er im Lauf der Jahrhunderte zum Hauptübergang über die Alpen. Um 1430 lief schon 90 Prozent des Fernhandels über den Brenner. Und der florierte immer weiter, wie Dokumente über verzollte Waren belegen: So wurden im Jahr 1300 etwa 3000 Tonnen, um das Jahr 1500 ca. 5000 Tonnen, im Jahr 1800 etwa 15.000 Tonnen und im Jahr 1907 ca. 85.000 Tonnen über den Brenner transportiert.
Atmo Autobahn mit Schwerlastern
Und heute? Rollen Jahr für Jahr mehr Autos und Schwertransporter über die Brennerautobahn nach Italien und zurück. Im Jahr 2023 erreichte der Transitverkehr am Brenner einen Höchststand. Mit über 14 Millionen PKWs und LKWs, und über zwei Millionen Sattelschleppern. Andererseits blühte entlang der Brenner-Route in Tirol seit dem Hochmittelalter ein reges Wirtschaftsleben. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Wirtshäuser:
7. Zsp. Margareth Lanzinger, ca. 34.00
Es heißt, man musste die Leute mit Essen mit Trinken versorgen, eine Übernachtungsmöglichkeit bieten, aber eben auch die Pferde versorgen. Da hat man Schmiede gebraucht. Man hat Wagner und Leute gebraucht, die schnell mal was ersetzen konnten, wenn was kaputt war oder reparieren konnten und auch neu bereitstellen konnten.
SPRECHER
Auch für diese Infrastruktur gab es römische Vorläufer. Die Römer gingen dabei generalstabsmäßig vor: sie errichteten Grenzsteine, bauten Zollstationen und legten Wert auf bequeme „Mansiones“: Alle 37 Kilometer musste es zu römischer Zeit entlang der Transitstrecken ein Gasthaus geben. Einige waren durchaus luxuriös, mit beheizten Räumen und warmem Bad.
Auf den Passhöhen ließen die Römer Heiligtümer errichten. So verehrte man etwa auf dem Großen St. Bernhard den Jupiter Optimus Poeninus, aber auch für Alpengötter gab es an anderer Stelle Tempel. Am Brenner steht noch heute die Valentins-Kirche – dem Heiligen der Reisenden geweiht. Man vermutet, dass auch diese frühmittelalterliche Pfarrkirche ursprünglich ein Passheiligtum war.
Musik
Mehrere Schriftsteller berichten über ihre Reise über den Brenner, 1580 schwärmt der französische Schriftsteller Michel de Montaigne vom Aufenthalt in bequemen Gasthäusern entlang der Brenner-Strecke.
ZITATOR 2: (Michel de Montaigne)
„Und was Gasthäuser anging, so fand er nie eine Gegend, in der sie so dicht gesät und so schön waren; immer waren die Städte, in denen er logiert hatte, mit Lebensmittel und Wein wohlversehen und billiger als andere gewesen.“
SPRECHER
Die Reise in der Postkutsche hoch zum Brenner-Pass schildert Montaigne als spektakulären Abenteuertrip. Man fühlt sich erinnert an den antiken Helden-Epos der Alpenüberquerung.
ZITATOR 2: (Michel de Montaigne)
„Auf der Weiterreise beengte uns der Weg ein wenig und die Felsen rückten uns so dicht auf den Leib, dass für uns und den Fluß kaum genug Platz war und wir in Gefahr gekommen wären, wenn nicht zwischen Fluss und Reisenden eine Schutzmauer aufgerichtet gewesen wäre, (….) Zwar bilden die Berge, die hier an uns herantreten, zumeist wilde Felsmassen, teils zerklüftet und von Wildbächen zerrissen, teils spröde, von welchen unaufhörlich Stücke von unheimlicher Größe in die Tiefe stürzen – ich glaube, dass es hier zur Zeit eines starken Sturmes gefährlich ist.“
SPRECHER
Doch ein paar Zeilen später wundert sich Montaigne, dass diese Gegend „so stark besiedelt ist“ mit „reichen Bauern“ und „schönen Häusern“ in den Städten und oben auf den Ebenen. Eine Erklärung dafür liefert die Forscherin Margareth Lanzinger von der Universität Wien. Bauern, Gastwirte, Adelige und Bischöfe lebten über Generationen hinweg bestens von dem Transit-Business in Tirol.
8. Zsp. Margareth Lanzinger, 34.19
Die Landesfürsten waren auch die, die dann Anfang des vierzehnten Jahrhunderts die Zollstelle am Brenner übertragen bekommen haben. (…) Und dann gab es aber eben noch zwei fürstbischöfliche Territorien, das eine über Brixen und andere Trient. Zum Beispiel Brixen hatte den Zoll von Klausen. (…) Das war eine eher eine Bevölkerung, die zu einem großen Teil auch von Landwirtschaft gelebt hat, aber eben auch sehr stark von diesem Transit-Gewerbe, vom Handel, von der Gastwirtschaft, bis zum Handwerk.
SPRECHER
Tiroler Bauern verdienten sich im Nebenerwerb Geld dazu, weil sie zugleich die Wege ausbesserten. Oder ihre Pferde an Reisende verliehen. Die Gasthäuser heißen heute noch oft „Zur Post“ – weil sie als Zwischenstationen in dem aufkommenden Brief- und Transportwesen genutzt wurden. Waren mussten nach einer Tagesetappe in einem komplizierten System umgeladen werden, das vor Ort viele Menschen beschäftigte. Zusätzlich profitierte die ganze Gegen von Zöllen und Mautabgaben an vielen Grenzen, die den Transport von Waren zum Unmut der Kaufleute verteuerten. Rund 200 Jahre nach Montaigne, im Jahr 1786, macht sich der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe in der Postkutsche auf den Weg hinauf zum Brennerpass. Für ihn wird die Fahrt nach Rom zu einer Sehnsuchtsreise, die ihn in das Land führen wird, wo die Zitronen blühen. In seiner „Italienischen Reise“ hält Goethe seine Eindrücke fest:
ZITATOR 3 (Goethe)
„Die Sache ist, dass ich wieder Interesse an der Welt nehme, meinen Beobachtungsgeist versuche und prüfe, wie weit es mit meinen Wissenschaften und Kenntnissen geht, ob mein Auge licht, rein und hell ist, wie viel ich in der Geschwindigkeit fassen kann, und ob die Falten, die sich in mein Gemüt geschlagen und gedrückt haben, wieder auszutilgen sind … die Sonne scheint heiß man glaubt man wieder an einen Gott.“
SPRECHER
Mit seiner Sehnsucht, über die Berge in den Süden zu gelangen, war Goethe nicht allein, wenn auch die Motive höchst unterschiedlich waren. Auch plündernde barbarische Stämme nutzten die von den Römern befestigte Passstraße, um ihr Glück – und ihren Reichtum – im Süden zu suchen. Pilger zogen seit dem Mittelalter über den Brenner-Pass, um in Rom für ihr Seelenheil zu beten. 66 deutsche Könige fuhren mit vollem Gepränge und Hofstaat drüber, weil sie sich vom Papst mit Gottes Segen zum Kaiser eines Deutsch-Römischen Reichs krönen lassen wollten. Aber was war die Motivation des damals nicht mehr ganz jungen Dichters? Von „therapeutischem Reisen“ spricht der Kunsthistoriker Golo Maurer in seiner Monographie über Goethe und Italien.
9. Zsp. Golo Maurer, ca. 19.00
Er betrachtet die italienische Reise ja nicht als die Reise in eine Fremde, sondern als Heimkehr in eine ideelle, immer ersehnte und immer vorgestellte Heimat. Und diese Heimat betritt er ab dem Brenner wieder. Er sagt, es kommt mir wirklich vor, als ob ich hier geboren wäre und nach langem zwangsweisem Aufenthalt im Norden jetzt endlich wieder zurückkehren würde. Und sobald er in Verona ist, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als seine deutschen Kleider in den Koffer zu stecken und sich italienische Kleider zu kaufen.
SPRECHER
Goethe übernachtet vom 8. auf den 9. September sogar auf dem Brenner-Pass – im Posthaus. Er lobt es als „ein sehr sauberes bequemes Gasthaus“. Goethe wäre gern länger geblieben, um hier auszuruhen und seine Schriften zu ordnen. Doch der Tiroler Wirt schlägt ihm das ab, weil er die Kutsch-Pferde am nächsten Tag für die Ernte braucht. Goethe, immer interessiert an naturwissenschaftlichen Beobachtungen, macht sich am Brenner Gedanken über die Funktion dieses Passes als „Wasserscheide“. Diese Wasserscheide - für Goethe trennt sie den Norden vom Süden Europas - verläuft just über das Dach seines „sauberen bequemen Gasthauses“. Das Regenwasser fließt auf der einen Seite zum Inn und zur anderen Seite zur Etsch.
ZITATOR 3 (Goethe)
„Von hier fließen die Wasser nach Deutschland und nach Welschland, diesen hoffe ich morgen zu folgen“.
SPRECHER
Das alte Posthaus steht im Ort Brenner heute nicht mehr, nur noch ein hässlicher Nachfolgebau, in das aber das alte Portal noch eingemauert ist.
10. Zsp. Golo Maurer, ca. 5.25
Heute übernachtet da niemand mehr, aber es gibt noch an diesem sogenannten Goethehaus zwei Gedenktafeln, eine von 1904, die ein Goethe-Verein dort hat anbringen lassen, und eine aus der faschistischen Zeit. Und das ist sehr interessant, denn dort lautet die Inschrift sinngemäß, dass ja schon Goethe gesagt habe, dass an diesem Punkt Italien anfängt. Und das ist natürlich vor dem Hintergrund der Annexion von Südtirol ein eine fast sehr perfide Strategie.
SPRECHER
Goethe würde sich vermutlich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, dass ihn ausgerechnet italienische Faschisten als vermeintlichen Kronzeugen für ihre nationalistische Politik heranziehen. Und doch führen Fragen, die Goethe in jener September-Nacht 1786 am Brenner im Gasthaus zur Post im Kopf umgingen, direkt hinein in den bis heute aktuellen Südtirol-Konflikt. Wo beginnt Italien? Ist der Brennerpass eine Grenze? Wenn ja, ist er nur eine geographische, oder auch eine politische Grenze?
11. Zsp. Golo Maurer, 6.25
Österreich ging ja ursprünglich viel weiter nach Süden, über den Brenner hinweg, umfasste das ganze Südtirol mit Bozen als Hauptstadt. Und nach dem Ersten Weltkrieg, eigentlich in den letzten Tagen, als die Waffen schon fast ruhten, sind die Italiener bis an den Brenner vorgerückt und haben dieses Gebiet besetzt. Das wurde dann später vertraglich, wo die Österreicher mehr oder minder zu einer Unterschrift genötigt wurden, Italien zugeschlagen. (…) Und es gibt natürlich auch heute noch eine rechte bis rechtsradikale Bewegung in Südtirol, die den Leitspruch hat: Südtirol ist nicht Italien und zu zeigen, das ist so eine offene Wunde, die nie ganz verheilt ist.
Italienische Militärmusik
SPRECHER
Durch die Gemeinde Brenner – auf Italienisch „Brennero“ – verlief nun die italienische Staatsgrenze. Allen Hoffnungen der Südtiroler zum Trotz änderte daran auch der Diktator Adolf Hitler nichts – da er seinen Bündnispartner Benito Mussolini nicht verprellen wollte:
12. Zsp. Golo Maurer, 8.14
Hitler hat sich ja mit Mussolini arrangiert. Und auch nach dem Anschluss von Österreich gab es ja ein Abkommen zwischen Hitler und Mussolini, der diese Grenze bestätigt hat.
SPRECHER
Der Brennerpass mag eine Wasserscheide sein, doch weder klimatisch noch historisch erscheint der gesichtslose und meist kühle Ort Brenner als Italien zugehörig. Selbst Goethe trug seine warmen deutschen Kleider noch bis Verona.
Schlussmusik
SPRECHER
Und wofür steht der Ort Brenner – oder „Brennero“? Heute sind die Mieten im Ort die billigsten in ganz Italien. Der Nachfolgerbau von Goethes einst so bequemem Gasthaus wirkt heruntergekommen, heute sind dort Geflüchtete untergebracht. Sie sehnen sich nicht nach dem Süden, sondern nach Norden. Für Europäer hat der Brenner hingegen seine Bedeutung als Grenzort seit dem Schengener Abkommen 1985 verloren.
Musik verblenden mit Atmo Autobahn
Viel ist hier nicht mehr los. Die meisten Reisenden brausen auf der Brennerautobahn einfach daran vorbei.
13. Zsp. Golo Maurer, ca 4:00
Das ist vielleicht heute dieser Widerspruch, dass dieser Sehnsuchtsort gewissermaßen ein Non Lieu geworden ist. Ein Unort, an dem man eigentlich nur weiter will – entweder in Richtung Norden oder in Richtung Süden.
Die Geschichte des Taxis ist ein faszinierendes Kapitel Transport-Kultur, ein Spiegel technischen Fortschritts. Kunden gegen Entgelt zu transportieren, das beginnt mit Sänften und Kutschen, geht über Fahrräder, bis hin zu den motorisierten Taxis der Neuzeit. Von Martin Trauner
Credits
Autor dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Carsten Fabian
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Katharina Hübel
Im Interview:
Jürgen Hartmann - taxitimes
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DAS KALENDERBLATT
Literatur:
Ulrich Kubisch: Taxi - das mobilste Gewerbe der Welt - Schriftenreihe des Museums für Verkehr und Technik Berlin
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK: Fredl Fesl „Taxilied“
„Hallo, Taxi, fahrn's mich bitte
in die Ottobrunner Strass’.
Doch fahrn's bitte nicht so narrisch
denn ich hab' schon fünf-sechs Mass.
Wenn's geht, den kurzen Weg
über Giesing-Martinstrass’,
weil ich einen kleinen Umweg
über Dachau furchtbar hass’…
ERZÄHLERIN
Der niederbayerische Liedermacher Fredl Fesl singt 1976 von seiner Erfahrung in einem Taxi, in der Landeshauptstadt München. Eigentlich will er einfach nur ganz schnell heim… Von einem Auftritt im berühmten Kleinkunstlokal „MUH“ neben dem Sendlinger Tor, heim in die Münchner Ottobrunnerstraße. Das wären so um die 6 Kilometer Fahrtstrecke … Eigentlich….
MUSIK: Fredl Fesl „Taxilied“
Und ich will auch nicht nach Pasing
Und auch ungern nach Freimann
Weil ich a) schon furchtbar müd’ bin und
b) es mir nicht leisten kann
Der Innungskopf hat d'Tuer zug'haut
Hat g'wart, bis dass ich schlief
Dann hat er schnell sei' Uhr eing'stellt
Auf günstigsten Tarif
MUSIK weg
ERZÄHLERIN
Lieder über das Taxifahren gibt es viele. In jedem Land, in jeder Stadt. Und ja, damit kann man sogar einen Adventskalender füllen
1. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Wir als Magazin haben auch als Adventskalender, da haben wir jeden Tag, vom 1. Dezember bis zum 24. ein Taxilied vorgestellt als Adventskalender…
ERZÄHLERIN
Sagt Jürgen Hartmann, Geschäftsführer des „Taxi-times-Verlag“, der auch ein gleichnamiges Magazin herausgibt. Ein Fachmagazin für die Taxibranche.
2. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
…da ist auch das Fredl-Fesl-Lied natürlich darin vorgekommen… oder auch das berühmte Lied „I steh in der Kält’n und wart auf mein Taxi, aber es kummt net…
MUSIK (DÖF)
I steh in der Költ'n und woat auf a Taxi, oba es kummt net.
(Kummt net, kummt net)
I woat auf des Brummen von am Mercedes Diesel, oba es brummt net
(Brummt net, brummt net)
Die Dame vom Funk, die sagt zu mia:
"Der Wagen 734 ist in fünf Minuten hier!"
ERZÄHLERIN
Wenn Lieder nicht nur Geschichten erzählen könnten, sondern wirklich Geschichte, wäre die Geschichte des Taxis hier bereits auserzählt: Also: entweder kommt das Taxi nicht und wenn es dann doch kommt, ja, dann wird’s eine abenteuerliche Fahrt und sehr teuer.
MUSIK aus und Geräusch: Autotür schlägt zu
3. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
(…) das sind so diese Geschichten, die man halt hört, das Problem ist einfach wie überall. Wenn du im Taxi zehnmal fährst und hast neunmal einfach, neunmal ist es okay und es passiert nix und der fährt dich so wie er soll und völlig gewissenhaft von A nach B auf den direktesten Weg, dann bist du ausgestiegen als Fahrgast und hast in dem Moment, wo die Tür zugeht, auch schon wieder die Fahrt vergessen. Aber wenn dir mal was Schlechtes passiert, dann erzählst du das einfach …
ERZÄHLERIN
…. oder singst das in Liedern. –
MUSIK (alt und tückisch)
ERZÄHLERIN
… Die Geschichte des „Personenlohnfuhrwesens“, so hieß die Taxibranche auch mal, ist natürlich eine andere, eine komplexere und vor allem ist sie eine sehr lange und eine sehr alte Geschichte …. Wie alt eigentlich?
4. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Also wenn man überlegt, dass ja auch ein Sänftenträger schon ein Taxi war, wenn man so will, ja, … so alt wie die Menschheit, ja.
ERZÄHLERIN
So Jürgen Hartmann. Er kennt sich aus mit der Branche und der Geschichte des Taxis. Er war selbst lange Jahre Taxifahrer und auch Taxiunternehmer mit vier Fahrzeugen, Referent an der Taxischule München. Und Jürgen Hartmann ergänzt:
5. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Ich denke ab dem, also ohne eine Jahreszahl nennen zu können, ab dem Moment, wo eben jemand nicht selber mobil genug war, um irgendwo hinzukommen und deswegen auf eine fremde Hilfe, auf ein fremdes Gefährt mit einem entsprechenden Chauffeur angewiesen war.
ERZÄHLERIN
Jahreszahlen oder Daten zu nennen ist tatsächlich gar nicht so einfach oder kaum möglich. Denn in jedem Land, in jeder Stadt entwickelt sich die heute so genannte Taximobilität etwas unterschiedlich. das Wort „Taxi“ ist übrigens gar nicht so uralt… Aber dazu später mehr…
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Vermutlich beginnt dieses mobile Gewerbe also wirklich mit den Sänften. Doch wer weiß das so genau? Aufzeichnungen darüber gibt’s wenige. Die Ära der Sänftenträger in Deutschland endet jedenfalls allerspätestens irgendwann Anfang des 19.Jahrhundert. In Berlin hängt 1833 an einer festgezurrten Sänfte ein Schild:
ZITATOR
„Wer diese Sänfte gebrauchen will, der melde sich in der Siebergasse.
ERZÄHLERIN
Den Adeligen ist die Sänfte schon längst zu unbequem geworden, und ein normaler Bürger kann sich das teure Gefährt eh’ nicht leisten. Und man dürfte in dieser Zeit, also um 1830, durchaus einige Probleme gehabt haben, geeignetes Personal zu finden: in Berlin waren es Anfang 1700 die zugewanderte Hugenotten, die Sänften tagen durften, und: in München waren es um diese Zeit türkische Kriegsgefangene- man nennt sie „türkische Sesselträger“, die Sänften tragen mussten. Dass es in Berlin um diese Zeit überhaupt noch einen Sänftenservice gegeben haben soll, das ist dann doch schon ziemlich kuriose Geschichte …
MUSIKAKZENT und (Geräusch Kutsche)
ERZÄHLERIN
Denn: Ein nicht vom Menschen angetriebenes Gefährt zur allgemeinen Personenbeförderung, erobert die Städte bereits lange vorher: Die Kutsche. Bereits um 1770 fahren in Berlin 40 Wagen. Der Erfolg dort ist wechselhaft. Durchsetzen konnte sich diese, nicht ganz so neue Bewegungsart erstmal nur in wenigen Städten. Etwa in Warschau und natürlich in Wien.
MUSIK (Wiener Fiakerlied)
A Kutscher kann a jeder wer’n,
Aber fahren kinnans nur in Wean.
Refrain:
Mei’ Stolz is, i’ bin halt an echt’s Weanakind,
A Fiaker, wie man net alle Tag’ find’t,
Mein Bluat ist so lüftig und leicht wie der Wind,
I’ bin halt an echt’s Weanerkind.
MUSIK aus
6. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Ja, also die typischen Pferdekutschen, die nennt man Fiaker, vor allem in Wien, da gibt es sie immer noch. … Den Fiaker, da hat sich der Begriff auch noch gehalten…. und es wurde dann tatsächlich irgendwann von der Droschke ersetzt, also vom Automobil.
ERZÄHLERIN
Bis die Pferdedroschke zur Motordroschke, also zum Automobil wird, dauert es dann doch noch ein wenig. Im Süddeutschen Raum und vor allem in Österreich heißen die Fiaker nach dem französischen Vorbild so, weil die Pariser ihre Kutscher als „Fiacres“ bezeichnet haben. Warum die da so hießen? Da ranken sich viele Legenden darum. War es vielleicht der erste Standplatz für Taxis in Paris, in der Rue de Saint Fiacre? – Wir wissen es nicht. Immerhin:
Pate für diesen Begriff steht jedenfalls der „Heilige Fiacrius“, heute übrigens der Schutzheilige für Gärtner und Taxifahrer. -
Den Namen „Droschke“, das weiß man dann immerhin doch sehr genau, führt ein Dessauer Pferdehändler ein, der 1811 die Regierung von Preußen ersucht, „Warschauer Droschken“ zur allgemeinen Personenbeförderung zur allgemeinen Personenbeförderung in Berlin fahren zu lassen. „Droschke“ stammt vom russischen Wort „Droschki“ – auf Deutsch: „Fuhrwagen“. - Und schon drei Jahre nach seinem Antrag kommt prompt die Antwort von Friedrich Wilhelm:
ZITATOR (Friedrich Wilhelm)
Ich finde keine Bedenken, dem Pferdehändler Mortgen mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit der Berliner Einwohner, die ausschließliche Befugnis, so genannte „Warschauer Droschken“ in der Stadt aufzustellen.
ERZÄHLERIN
32 Droschken darf der Pferdehändler Alexi Mortgen in Berlin aufstellen. Und in den nächsten Jahren passiert schon einiges: Es entwickelt sich eine erste „Etikette“ des frühen Lohnfuhrgewerbes. Die Droschkenführer sind uniformiert oder zumindest gut gekleidet: schwarzer Zylinder, grüne Jacken mit gelben Schnüren. Tatsächlich ist das ein erster Schritt in die Zukunft des Taxigewerbes – so wie wir es heute kennen.
7. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Also wenn man so will, gucken Sie in den ländlichen Bereich, dort ist es nahezu, also eigentlich in der Überzahl, so dass in dem ländlichen Bereich die dortigen Taxibetriebe alle Angestellten, also keine Uniform tragen, aber natürlich eine Firmenkleidung tragen. Das heißt, ein T-Shirt, ein Sweatshirt oder auch eine Jacke, wo ganz klar das Logo der Firma draufgedrückt ist. (…)
ERZÄHLERIN
In dieser frühen Zeit des Lohnfuhrwesens, Anfang des 19. Jahrhunderts in Preußen, damals ist der Begriff „Taxi“ noch völlig unbekannt, setzt sich noch eine Etikette durch, die bis heute bei modernen Taxis gilt. Die Droschken stehen hintereinander aufgereiht auf Plätzen, die ihnen die Polizei zugewiesen hat, und warten auf Fahrgäste. Und für Kunden gilt das Höflichkeitsgebot: Man nehme immer die erste Kutsche. - Das hat sich im Großen und Ganzen bis heute gehalten. Jürgen Hartmann:
8. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Das mag vielleicht der Gerechtigkeitsgedanke sein, dass man sagt, also wer das Taxi, das ganz vorne steht, ist das, das am längsten jetzt schon wartet. Und dann auch das Vorrecht hat, den Auftrag zu bekommen oder die Fahrt zu bekommen.
(ERZÄHLERIN
Heutzutage ist das per Verordnung geregelt:
9. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Es steht aber ganz klar in der Ordnung drin, in jeder Taxitarifordnung, der Fahrgast hat das Recht, sich sein Taxi frei auszuwählen. Also er darf am Taxistand entlang laufen und auch in das dritte Taxi einsteigen)
MUSIK Akzent (Geräusch altes Taxameter)
ERZÄHLERIN
In der vermeintlich guten, alten Zeit der Fiaker und Droschken, also immer noch gegen Ende der 1880er Jahre, ist der Fahrpreis entweder Verhandlungssache oder: der Kutscher misst mit seiner Taschenuhr die Fahrzeit und berechnet daraus nach eigenem Ermessen seinen Tarif. Nur: Warum sollte der Kunde mehr bezahlen, nur weil der Kutscher lahme Gäule eingespannt hat. Oder den Weg nicht gekannt hat - Kein Wunder, dass da manche Unstimmigkeiten entstehen. - Aber da kommt plötzlich ein Gerät in die Welt, dass das Lohnfuhrwesen revolutioniert. Das Taxameter! Eine Zeitungsannonce dieser Zeit macht es publik:
MUSIK Werbung 1900
ZITATOR (Werbung um 1900)
Original Taxameter Bruhn! Erster und ältester Taxameter der Welt!!
Original Bruhn! Führende Weltmarke auf dem Gebiet der Verkehrskontrolle!
ERZÄHLERIN
Erfunden hat dieses seltsame Kästchen mit den vielen Zahnrädern, diesen bald Geschichte schreibenden Mechanismus, erfunden hat das ein gewisser Friedrich Wilhelm Gustav Bruhn. So um die 1890er Jahre. - Über Wilhelm Bruhn weiß man natürlich, wie in der Taxigeschichte üblich, so nicht unbedingt viel: In Lübeck ist er geboren, er besucht dort ein altsprachliches Gymnasium, lernt also Latein und Griechisch, heuert dann bei einem Ingenieurbüro in Hamburg an und erfindet und vermarktet sehr geschickt sein „Taxameter“ in Zeitungsanzeigen. - Nur: was überhaupt ist ein Taxameter? - 1927 schreibt das „Handwörterbuch für Kaufmänner“:
ZITATOR (Handwörterbuch für Kaufmänner);
Das Taxameter ist ein Gerät, bei dem die durchfahrende Strecke auf einem sichtbaren Zählwerk derart angezeigt wird, dass der Fahrgast sofort den zu zahlenden Betrag für die Fahrt ablesen kann …
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Jürgen Hartmann erklärt es genauer:
10. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Das Taxameter ist letztendlich das Gerät im Taxi, das eben den Fahrpreis anzeigt, den Kunden und durch eine entsprechende Technik und Mechanik berechnet. (…) Und anhand dessen zählt es dann quasi die Radumdrehungen. Und das führt dann letztendlich zur Berechnung des Fahrpreises, weil: der Fahrpreis setzt sich ja zum einen aus dem Zeitfaktor zusammen und zum anderen aus den gefahrenen Kilometern. (Und um die zu messen, werden einfach die Radumdrehungen gemessen. Da sitzt der Sensor dran und das wird alles mit dem Tachosignal und dem Taxameter verknüpft.)
ERZÄHLERIN
Das „Taxameter“ gibt dem alten Lohnfuhrwesen nicht nur einen neuen Takt und einen neuen Preis vor, das „Taxameter“ gibt der Branche vor allem ihren Namen. Beinahe weltweit, in vielen Sprachen, etwa im Arabischen, im Japanischen oder im Russischen, wird das Gefährt zum Transport bald „Taxi“ genannt werden. Klingt ja so einfach – Freilich: Friedrich Wilhelm Bruhn, übrigens Schüler der alten Sprachen, hat den Begriff aus dem lateinischen Wort „taxare“ - was „abschätzen“ bedeutet – und der griechischen Vokabel „metron“ – was „Maß“ bedeutet – neu zusammengesetzt. Aus der guten alten Pferdedroschke mit einem Taxameter wird also später das uns bekannte Gefährt, das „Taxi“.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Bereits 1896 wird das neue Gerät, das Taxameter, Pflicht für alle Berliner Pferdedroschken. Und auch andere Städte ziehen bald nach. - Doch fast gleichzeitig erreicht eine neue, vielleicht noch revolutionärere Erfindung, das Taxigewerbe.
MUSIK Fiakerlied Vorspiel
ERZÄHLERIN
Sang man noch in Wien in den 1890er Jahren das berühmte Fiakerlied mit den Anfangszeilen:
MUSIK (Fiakerlied)
I führ’ zwa harbe Rappen,
Mei’ Zeug dös steht am Grab’n,
A so wie dö zwa trappen
Wer’ns net viel g’sehen hab’n.
ERZÄHLERIN
… singt man das gleiche Lied bereits wenige Jahre später ein bisserl anders:
MUSIK
Ich hab an alten Daimler
die Kraxn steht am Grabn.
A so a Taxi-Auto werdn s‘
no net gsehgn no habm.
ERZÄHLERIN
Für die Nicht Wiener sei das mal übersetzt: anstatt der zwei alten Rappen, der alten Pferde, besitzt der Wiener Fiaker nun einen alten Daimler, in dem er die Kundschaft kutschiert. – Ja, was ist denn da passiert?
MUSIK Akzent (Geräusch: evtl erstes Daimler Taxi)
ZITATOR
… Der neue Daimler-Taxameter hat seinen Stand am Jungfernstieg und fährt zur bestimmten Taxe. Bei den zahlreichen bisher mit dem Gefährt unternommenen Fahrten bewährte sich das Gefährt so gut, dass man nur Stimmen der Anerkennung vernehmen konnte… Seine Vorzüge mit der schnellen Fahrweise werden zur Hebung seiner Beliebtheit beitragen.
ERZÄHLERIN
Schreibt 1898 die Zeitschrift „Der Motorwagen“. Schon in diesem Jahr entsteht in Hamburg ein Daimler Taxibetrieb. Der „Daimler“, der damals noch so genannte „Taxameter“ oder auch die so genannte Kraftdroschke, er erobert die Städte. Das sind keine Pferdekutschen mehr, sondern motorisierte Kutschen, der Volksmund nennt sie „Stinkdroschken“. Die Fahrzeuge sehen zwar anfangs immer noch aus, wie die alten Droschken, statt dem Pferd haben sie halt einen Motor vorne dran, aber die Gefährte werden immer besser. Und immer beliebter.
11. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Es gab früher mal den Spruch unter der Kundschaft, wenn du mal Mercedes fahren willst, dann fahr Taxi. Ja, weil Mercedes, der war damals noch eine Luxusmarke, konnte sich lang noch nicht jeder leisten. Und wer mal in so einer Luxuskarosse fahren wollte, ist Taxi gefahren, weil es tatsächlich so war, dass die Taxibranche größtenteils in Mercedes-Taxis unterwegs war.
ERZÄHLERIN
Damals zu Beginn der Motorisierung sind Daimler und Mercedes Benz noch getrennte Firmen, aber: sie konkurrieren um das Taxigewerbe. Und die neuen Kraftdroschken verdrängen immer mehr die alten Pferdedroschken. Die sind zu langsam, fahren im Schritttempo, also um die 5 bis 6 Stundenkilometer. Also: die neuen Gefährte: Fahren immerhin im Radltempo, also um die 18 Stundenkilometer. Und werden immer luxuriöser … Die Zeit der Pferdetaxis geht spätestens in den 1920er Jahren zu Ende…
MUSIK
ZITATOR (Fallada)
Der alte Gustav Hackendahl, der Vater – denn es gab ja auch einen jungen Gustav Hackendahl, den ältesten Sohn vom gefallenen Otto; der Alte hatte ihn freilich nie gesehen –, der alte Gustav Hackendahl fand es immer schwieriger, mit einem Pferde zwei Menschen zu ernähren, nämlich sich und seine Frau.
ERZÄHLERIN
Ein Ausschnitt aus dem Roman „ Der eiserne Gustav“ von Hans Fallada. Hauptfigur ist Gustav Hackendahl, ein alter Pferdedroschkenfahrer. Das wahre Vorbild für Falladas Romanhelden: Gustav Hartmann. Den gab es tatsächlich …
12. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Gustav Hartmann ist in Berlin ein ganz geehrter und bekannter Taxifahrer gewesen.
ERZÄHLERIN
Gustav Hartmann, oder wie er im Roman heißt „Gustav Hackendahl“, leidet unter der Konkurrenz der neuen motorisierten Droschken. Er hat mit 26 Jahren ein Fuhrunternehmen in Berlin gegründet und es über 40 Jahre einigermaßen erfolgreich geleitet:
ZITATOR (Fallada)
Früher (…) konnte man mit einer Droschke sogar Kinder großziehen, wenn man sich nur ein bisschen Mühe gab, die richtigen Warteplätze aufsuchte und einen Gaul vor dem Wagen hatte, der den Leuten Vertrauen einflößte. Aber wer setzte sich heute noch in eine Pferdedroschke?
ERZÄHLERIN
Der eiserne Gustav setzt sich in der Realität am 2. April 1928 in seine alte Pferdedroschke und fährt, als Protest gegen den Untergang des Pferdefuhrwesens, nach Paris. Dort, wo der gute alte Fiaker seinen Namen herhat. Mit einem Plakat:
ZITATOR
„Der älteste Fuhrherr von Wannsee, Gründer der Wannseedroschken, erlaubt sich mit der Droschke 120 die letzte Fahrt Berlin – Paris zu machen, da das Pferde-Material im Aussterbeetat steht.“
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Erreicht hat Gustav Hartmann mit seiner Fahrt nichts. Außer, dass er in die Literatur und in die Ahnentafel der „Taxigeschichten“ eingegangen ist - Aber tatsächlich entbrennen in diesen frühen Jahren Anfang des 20. Jahrhunderts noch heftigere Streitereien. Es geht nun um das Thema, welches Auto für das Taxi das passendere sei: eines, das mit Kraftstoff betrieben wird, sprich: mit fossilem Brennstoff, oder ein, und ja, das gibt es tatsächlich von Anfang an, ein mit Strom betriebenes Automobil. Das seinerzeitige E-Taxi hatte damals immerhin schon eine Reichweite von knapp 70 Kilometern.
13. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Ja, das ist eine Geschichte, die kam jetzt wieder auf, als es jetzt darum ging, dass man eben, dass sich das Taxi wieder wandelt, also weg vom Diesel wieder zur Elektromobilität hin. Und da hat man dann diese alten Geschichten aufgegriffen, vor allem die Verfechter des Elektrotaxis, haben da gerne darauf hingewiesen, dass es ja ganz früher auch schon die ersten Elektrotaxis gab.
ERZÄHLERIN
Die E-Taxis konnten sich damals nicht durchsetzen. Sie waren im Unterhalt und im Betrieb zu teuer. Es setzte sich die Benzintaxameterdroschke durch. Für viele Jahrzehnte…
MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN
Die Geschichte des Taxis – zumindest in Deutschland – läuft damit lange Zeit in eine Richtung. - Im Zweiten Weltkrieg ist das Taxifahren zwar stark eingeschränkt, blüht in den Nachkriegsjahren aber wieder auf. - Das Wirtschaftswunder. Man konnte und durfte sich jetzt das Taxi wieder leisten!
MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN
Aber warum wurden 1971 aus den schwarzen Taxis nun weiße, hellgelbe Taxis? Jürgen Hartmann kennt den Grund:
15. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Also offiziell heißt es RAL 1015, RAL 1015, das ist der offizielle Begriff, das ist Hellelfenbein… davor waren die Taxi schwarz, das hat man abgeschafft oder ist zu diesem Hellelfenbein gegangen, aus Sicherheitsgründen, weil eben es zu der Zeit zu sehr vielen Übergriffen kam und Überfällen auf Taxifahrer, vor allen nachts und dann waren die in einem schwarzen Auto natürlich noch schlechter zu erkennen.
MUSIK (Tom Waits) Night on earth
ERZÄHLERIN
Das Taxi ist bald aus dem Alltagsbild der wachsenden Städte kaum mehr weg zu denken. Und die Geschichten, die während einer Fahrt entstehen, finden natürlich auch Einzug in die Literatur und in den Film. 1991 beispielsweise erzählt der Regisseur Jim Jarmusch in seinem Film Night on Earth 5 Episoden, die in Taxis zeitgleich in einer Nacht rund um die Welt entstehen. Im Mittelpunkt. Eigentlich immer der Taxifahrer. Oder auch….
16. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
… also die Menschlichkeit in dieser Taxibranche ist, ist unheimlich wichtig. Ja, der Chauffeur ist, ist Gesprächspartner, der Chauffeur ist Tippgeber für Leute, die eben fremd in der Stadt sind.
Wo kann man denn hingehen und so weiter? Was können Sie denn empfehlen?
MUSIK hoch und aus
ERZÄHLERIN
Heute ist das traditionelle Taxigewerbe dennoch zu einer Mindestlohnbranche geworden. Und ja, sollte es je selbst fahrende Autos geben, wäre die Branche wohl am Ende, meint Jürgen Hartmann, aber, immerhin, eine Chance gäbe es …
MUSIK
17. ZUSPIELUNG (Jürgen Hartmann)
Die Personbeförderung in einem Taxi beginnt und endet nicht am Randstein, sondern da steckt viel, viel mehr dahinter.
Also unsere Branche macht zu einem ganz großen Prozentsatz, vor allem im ländlichen Bereich, die sogenannten Krankenfahrten. Ja, das heißt, es sind also Fahrten, die von der Kasse bezahlt werden, wo Patienten zur notwendigen Dialyse gefahren werden dreimal die Woche, wo sie zur notwendigen Bestrahlung gefahren werden nach einer Krebsbehandlung und so weiter. Man hilft vielleicht, viele sitzen im Rollstuhl, man setzt sie um oder sie müssen sogar im Rollstuhl sitzen, befördert werden. Dafür hat sich die Taxibranche entsprechende Fahrzeuge angeschafft, die dann eben die entsprechende Vorrüstung haben, also sprich ein Rollstuhl auch transportieren können und so weiter. Also das sind Dinge, solange das existiert oder notwendig ist in der Gesellschaft, solange wird es auch ein Taxi brauchen und geben
Löwenzahn, Holunderbeeren, Aloe Vera: Wild wachsende Pflanzen sind oft sehr robust. Denn sie müssen sich in der Natur immer wieder behaupten. Das tun sie zum Beispiel mithilfe von Bitterstoffen. Von Maike Brzoska (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Anja Scheifinger
Es sprach: Katja Schild
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Manuel Larbig, Wildkräuter-Guide, Buchautor
Dr. Maik Behrens, Geschmacksforscher am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München
Dr. Katja Witzel, Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau Großbeeren
Dr. Franziska Hanschen, Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau, Großbeeren
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 ATMO (Wald, Schritte)
drüber lesen:
SPRECHERIN
Unterwegs in einem Waldstück nahe der Kleinstadt Eberswalde in Brandenburg. Es geht einen kleinen Weg entlang, ein paar Schritte nur – und schon hat der Biologe Manuel Larbig die erste essbare Pflanze entdeckt.
02 O-TON (Larbig)
Ja, ich habe hier am Wegesrand direkt schon was gesehen, was Interessantes. Die Echte Nelkenwurz. Ich grab die jetzt einmal aus, weil da ist nämlich vor allem die Wurzel interessant.
Musik Under the stairs
SPRECHERIN
Er hockt sich neben die kleine Pflanze und gräbt sie mit den Händen aus. Zum Vorschein kommt eine gelbliche Wurzel. Die bricht er in der Mitte durch.
M weg
03 O-TON (Larbig)
Die Wurzel ist besonders interessant, also der Wurzelstock besser gesagt. Er hat hier nämlich so einen violetten Kern in der Mitte. Und er riecht einerseits nach Erde, aber auch nach Nelke. Was da so nach Nelke riecht, sind die Nelkenöle, und die sind zusammen mit den Gerbstoffen leicht antibiotisch und schmerzstillend. Und diese Kombination macht es zu einem sehr guten Kraut gegen Halsschmerzen. Da kann man sich so einen Sud draus kochen und damit gurgeln. Und das funktioniert wirklich sehr, sehr gut bei Halsschmerzen. Man kann damit auch würzen, und auch mit backen.
Musik Under the stairs
SPRECHERIN
Auch die Blätter der Echten Nelkenwurz sind essbar. Man kann sie Salaten beimischen oder klein gehackt in Kräuterquark verwenden.
Manuel Larbig arbeitet als Naturführer. In Workshops zeigt er den Teilnehmenden, welche essbaren Pflanzen sie in Wäldern oder Parks finden können. Zu seinen Kursen kommen sehr unterschiedliche Menschen.
04 O-TON (Larbig)
Wirklich von jung bis alt. Leute, die sich privat dafür interessieren, die sich einfach mehr aus der Natur ernähren möchten und sich so teilweise selbst versorgen wollen. Leute, die es beruflich gerne nutzen möchten, also Köche, Köchinnen, Pädagoginnen, Pädagogen.
SPRECHERIN
Es sei ein Trend der Großstädte, sagt er. Die Kurse seines Unternehmens „Waldsamkeit“ finden in Berlin, Hamburg und einigen NRW-Städten statt.
05 O-TON (Larbig)
Also auf dem Land habe ich das noch nicht so beobachten können. Ist schon ein Thema der Großstädterinnen und Großstädter, was eben auch mit dem Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit zu tun hat.
SPRECHERIN
Nachhaltigkeit spielt eine große Rolle, aber auch Unabhängigkeit.
06 O-TON (Larbig)
Wildpflanzen zu essen, sie zu verwenden, aromatische Öle draus zu machen, sie in die Hausapotheke mit zu integrieren, einfach so ein bisschen selbständiger zu werden und nicht zu 100 Prozent abhängig von den Supermärkten und dem Konsum, sondern sich teilweise Dinge selber machen, das finde ich spannend und finden auch viele Teilnehmenden der Kurse spannend.
Musik Under the stairs
SPRECHERIN
Lange suchen muss Manuel Larbig auf seinen Wanderungen nicht. Auch an diesem Tag dauert es nicht lange. Nur ein paar Meter weiter – und er wird schon wieder fündig.
07 O-TON (Larbig)
Das ist die dreinervige Nabelmiere, dreinervig, weil sie eben hier so drei Blattnerven hat, die hier so abgehen, eins, zwei, drei, deswegen heißt sie so. Ne relativ zarte Pflanze mit kleinen Blättern. Und die blüht ab Frühling weiß, dann hat die kleine schöne Sternblüten.
SPRECHERIN
Die Nabelmiere sei eine tolle Salatpflanze, ebenso wie die Vogelmiere, eine nahe Verwandte der Nabelmiere. Sie gehört zu seinen Favoriten.
08 O-TON (Larbig)
Also Vogelmiere finde ich schon sehr toll, die findet man sehr oft. Ist ein ganz tolles Salatkraut, weil es eben sehr mild schmeckt, relativ zart ist, man auch in größeren Mengen sammeln kann, ist so ein bisschen wie Feldsalat. Schmeckt mir sehr gut.
SPRECHERIN
Vogelmiere, Brennnessel und Echte Nelkenwurz kann man praktischerweise fast das ganze Jahr hindurch ernten. Im Frühjahr sind die Blätter noch sehr zart – ideal für Salate. Im Sommer kommen Früchte und Beeren hinzu – Manuel Larbig sammelt besonders gerne Heidelbeeren. Und im Herbst dann die ganzen Nüsse und Pilze.
09 O-TON (Larbig)
Ich bin nicht so gut mit Pilzen, ich habe nur so vier, fünf Standardarten, die ich sammele, also Austernseitlinge sammele ich schon ganz gerne, oder Milchlinge sind zum Teil auch sehr lecker, Steinpilze find ich auch toll. Ich bin nicht so der Maronen-Freund, die werden mir oft zu matschig in der Pfanne, ich mag eher so feste Speisepilze.
SPRECHERIN
Wobei das schon mehr Pilzarten sind als die meisten Supermärkte im Angebot haben. Auch geschmacklich sind wildwachsende Pilze – und Wildpflanzen generell – sehr vielseitig. Vor allem Bitternoten gibt es reichlich. Zum Beispiel im Löwenzahn, gut erkennbar an den gezahnten, länglichen Blättern.
10 O-TON (Larbig)
Das ist eine Löwenzahnart, also den Löwenzahn gibt es gar nicht, es gibt ganz viele Arten und Unterarten. Das Gute ist, dass man die aber alle verwenden kann.
SPRECHERIN
Und zwar von der Wurzel über die Blätter bis zu den gelben Blüten.
11 O-TON (Larbig)
Löwenzahn schmeckt ziemlich bitter, hat viele Bitterstoffe, ist in Maßen auch sehr gesund. Können radikalfangend wirken, tumorhemmend, magensaft-anregend, die Verdauung unterstützend, und auch so ein bisschen Heißhunger-unterdrückend. Unsere Vorfahren haben ja viel, viel bitterer gegessen als wir heutzutage. Wurde alles rausgezüchtet in den letzten hundert Jahren.
M bioreactor
SPRECHERIN
Unsere Nutzpflanzen, also Obst und Gemüse, schmecken insgesamt eher mild und süß im Vergleich zu ihren wilden Vorfahren. Die Früchte von wilden Apfelbäumen beispielsweise sind sehr viel bitterer und saurer als unsere Supermarkt-Äpfel. Und sie sind auch sehr viel kleiner, oft nur so groß wie eine Rosine. Aber die wilden Sorten enthalten oft ein Vielfaches an wertvollen Inhaltsstoffen im Vergleich zu unseren kultivierten Apfelsorten. Das hat eine Studie des US-Landwirtschaftsministeriums aus dem Jahre 2003 gezeigt. Unsere Supermarktäpfel gehen übrigens alle zurück auf eine einzige wilde Apfelsorte, die in Kasachstan wächst. Sie hat für eine Wildpflanze ungewöhnlich große und milde Äpfel. Durch Veredelung wurden aus diesem Wildapfel nach und nach unsere heutigen Sorten wie Elstar oder Pink Lady gezüchtet.
In ähnlicher Weise sind fast alle unserer Obst- und Gemüsesorten kultiviert und verändert worden. Auch weil wir milde und süße Nahrungsmittel in der Regel bevorzugen und Bitteres erst mal meiden.
12 O-TON (Behrens)
Also tatsächlich gehören Bitterstoffe zu den Geschmacksstoffen, die wir eher ablehnen.
SPRECHERIN
Sagt der Biologe und Geschmacksforscher Dr. Maik Behrens. Er ist stellvertretender Sektionsleiter am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München.
Insgesamt, so schätzen Forschende, gibt es mehr als 1000 verschiedene Stoffe, die wir als bitter wahrnehmen.
M string therapy
Dafür haben wir bestimmte Rezeptoren auf der Zunge – wobei es für Bitterstoffe sehr viel mehr Rezeptoren gibt als etwa für süße oder saure Stoffe. Das hat seinen Grund, denn Bitterstoffe können giftig sein. Dass wir sie so gut wahrnehmen können, war evolutionär betrachtet also sinnvoll. Denn in grauer Vorzeit, als Homo Sapiens noch als Jäger und Sammlerin durch die Natur streifte, half der Geschmacks-Sinn dabei, Essbares von Nicht-Essbarem zu unterscheiden. Denn jede Geschmacksrichtung zeigt etwas Bestimmtes an.
13 O-TON (Behrens)
Also der Süß-Geschmack genauso wie der Umami-Geschmack – da sollte ich vielleicht erklären, das ist der Geschmack, den wir empfinden, wenn wir Glutamin schmecken, das ist so ein würziger, angenehmer Geschmack – diese beiden Geschmacksrichtungen zeigen uns an, dass Energie in der Nahrung vorhanden ist in Form von Kohlenhydraten oder Eiweißmolekülen.
SPRECHERIN
Muttermilch etwa schmeckt leicht süßlich und enthält auch Glutaminsäure, hat also auch eine Umami-Komponente.
14 O-TON (Behrens)
Dann haben wir den Salzgeschmack, der ist in niedrigen Konzentrationen durchaus angenehm für uns und in höheren Konzentrationen eher unangenehm. Und dieses Gleichgewicht ist eben wichtig, um unseren Elektrolythaushalt aufrecht zu erhalten.
SPRECHERIN
Der Elektrolythaushalt reguliert den Wasserhaushalt unseres Körpers.
15 O-TON (Behrens)
Sauer weist in der Regel darauf hin, dass Früchte unreif sind oder auch bakteriell verdorben sein können, das ist also eher ein ablehnender Geschmack.
SPRECHERIN
Ähnlich wie bitter.
16 O-TON (Behrens)
Der Bitter-Sinn ist ein Warn-Sinn, der soll unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, dass unter Umständen gesundheitsschädliche oder gar giftige Substanzen in der Nahrung sind. Evolutionär war das von großer Bedeutung, deswegen ist das bei Kindern auch angeboren, die Abneigung gegen bitter.
SPRECHERIN
Erst mit der Zeit lernen die meisten Menschen, Bitteres zu tolerieren.
17 O-TON (Behrens)
Was passiert, ist, dass man im Laufe des Lebens Erfahrungen macht, das können positive oder negative Erfahrungen sein. Und je nachdem was wir dann für Erfahrungen machen, erwerben wir dann eine Toleranz für Bitteres.
SPRECHERIN
Oder sogar eine Vorliebe.
M string therapy
Koffein ist einer der vielen Bitterstoffe in Kaffee – und auf den möchten viele nicht verzichten, auch wenn der allererste Kaffee wahrscheinlich gar nicht geschmeckt hat. Auch Salat- oder Gemüsesorten wie Rucola, Radicchio oder Brokkoli mögen manche Menschen gerne, und zwar gerade wegen ihres bitteren Geschmacks. Man könnte sagen, sie haben im Laufe ihres Lebens gelernt: Ist zwar bitter, tut mir aber trotzdem gut – und schmeckt mir deshalb auch.
Mit den Bitterstoffen ist es also so eine Sache. Viele von ihnen sind sehr gesund, aber einige eben auch giftig. Wobei aber auch sauer oder sogar süß schmeckende Wildpflanzen giftig sein können. In der Natur gibt es nichts, was es nicht gibt. Deshalb schärft Manuel Larbig seinen Kursteilnehmenden ein:
18 O-TON (Larbig)
Die wichtigste Regel von allen ist, wirklich nur Pflanzen verwenden, die man 100 Prozent kennt und bei denen man sich 100prozentig sicher ist, dass es auch die Pflanze ist. Es gibt auch bei uns in Deutschland tödlich giftige Wildpflanzen und es gibt auch Pflanzen, die krebserregend, leberschädigend wirken, wenn man sie dauerhaft zu sich nimmt, und das will man ja gerade nicht. Man will ja Wildpflanzen verwenden, um sich was Gutes zu tun.
SPRECHERIN
Und das können Bitterstoffe durchaus. Sie gehören zu den sogenannten sekundären Pflanzenstoffen, sagt die Biologin Dr. Katja Witzel vom Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau.
19 O-TON (Witzel)
Bei Pflanzen unterscheidet man primäre und sekundäre Pflanzenstoffe. Die primären Pflanzenstoffe sind Kohlenhydrate, Fette, Eiweiße. Die bildet die Pflanze, um ihren ganz normalen Energiebedarf zu decken. Und daneben bildet die Pflanze sogenannte sekundäre Inhaltsstoffe. Das heißt, Pflanzen haben in der Evolution Stoffe gebildet, die sie schützen vor diversen Sachen, weil sie ja sessil sind, also sie können nicht weglaufen.
SPRECHERIN
Mit den Bitterstoffen schützen sich Pflanzen vor Tieren, die sie fressen wollen. Denn auch viele Tiere, zum Beispiel Insekten, haben eine Abneigung gegen Bitteres, sagt die Lebensmittelchemikerin Dr. Franziska Hanschen. Sie forscht ebenfalls am Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau.
20 O-TON (Hanschen)
Diese Bitterstoffe dienen der Pflanze als Fraßschutz. Dadurch dass die Pflanzenfresser diese bitteren Stoffe merken, werden sie entweder abgeschreckt und fressen das nicht weiter. Oder eben auch vergiftet im schlimmsten Fall.
SPRECHERIN
Eine zweite große Gruppe sekundärer Pflanzenstoffe sind die roten Farbstoffe, die zum Beispiel Äpfel, Tomaten oder Salate rot leuchten lassen. Damit schützen sich Pflanzen vor zu starker Sonneneinstrahlung.
21 O-TON (Hanschen)
Vergleichbar unseren Sonnenschutzmitteln, die machen genau das gleiche: aus dem Licht filtern sie gefährliche UV-Strahlung und machen sie unschädlich. Und genau das gleiche können einige sekundäre Pflanzenstoffe auch, also Flavonoide sind hier zu nennen oder auch Carotinoide.
SPRECHERIN
Für uns Menschen bieten diese Farbstoffe ebenfalls eine Art Schutz. Denn die roten Pflanzenfarbstoffe wirken anti-oxidativ, das bedeutet, sie schützen unsere Zellen vor schädlichen Einflüssen und können so dazu beitragen, Krankheiten wie Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen vorzubeugen.
22 O-TON (Witzel)
Viele antibakterielle und antivirale Inhaltsstoffe sind auch im Samen, um den Samen, den Keimling zu schützen, das sind so Strategien, die sich in der Evolution durchgesetzt haben.
M string therapy
SPRECHERIN
In der Natur verbreiten sich diejenigen Pflanzen, die sich am besten schützen können. Gegen Fraßfeinde, zu viel Sonne, Bakterien oder Viren. Jede Pflanze hat dafür eigene Strategien. Zu ihrem Schutz bilden sie bestimmte Stoffe – und die sind für uns eben auch oft sehr gesund.
23 O-TON (Witzel)
Viele Wildpflanzen kennt man ja auch aus der Naturheilkunde. Das kann Bärlauch sein, der im Frühjahr gesammelt wird, Schafgarbe, Kamille, die entzündungshemmend ist, also viele Wildpflanzen kennt man ja eben wegen ihrer Wirkung auf die Gesundheit, weil sie antibakteriell wirken, entzündungshemmend wirken, antiviral wirken, gut für die Verdauung sind.
SPRECHERIN
Ein Vergleich mit unseren Nutzpflanzen ist allerdings schwierig. Online kursieren viele Tabellen, die Wildpflanzen ein Vielfaches an Vitaminen, Mineralstoffen und sekundären Pflanzenstoffen gegenüber gezüchteten Pflanzen bescheinigen. Allerdings sind solche Vergleiche nicht sehr aussagekräftig. Zum einen sind die Studien größtenteils veraltet. Zum anderen hängen Vitamin- und Nährstoffgehalt einer Pflanze auch von Dingen wie Bodenzusammensetzung, Erntezeitpunkt und Lagerfähigkeit ab. Und noch aus einem anderen Grund hinkt der Vergleich zwischen Wild- und Nutzpflanze. Denn allein vom Essbarem am Wegesrand würde die Menschheit heute gar nicht mehr satt werden.
24 O-TON (Witzel)
Wir brauchen Züchtungen, wir brauchen große Tomaten, um viele Menschen ernähren zu können, um diese auch günstig herstellen zu können, also auch eine Automatisierung in der Lebensmittelherstellung ist wichtig.
SPRECHERIN
Beispiel wilde Möhre, das ist der wilde Vorfahr unserer Speise-Möhre. Die wilde Variante schmecke ähnlich, sagt Manuel Larbig.
25 O-TON (Larbig)
Vielleicht noch ein bisschen intensiver, ätherischer.
SPRECHERIN
Allerdings ist die wilde Möhre um einiges kleiner als unsere gezüchteten Möhren.
M bioreactor
26 O-TON (Larbig)
Wenn man so eine wilde Möhre mal ausgräbt und sich da die Wurzel anguckt, da braucht man wirklich viel Geduld, um satt zu werden im Vergleich zu einer Speisemöhre. Weil die Wurzeln viel, viel kleiner sind und für einen Möhrensalat braucht man dann schon 200, 300 Pflanzen.
SPRECHERIN
Die zu sammeln, dauert eine Weile. Manuel Larbig ernährt sich auf seinen mehrtätigen Wanderungen auch mal komplett aus der Natur – er weiß also, wovon er spricht.
27 O-TON (Larbig)
Es ist möglich, sich eine Zeitlang aus der Natur zu ernähren, aber es ist auch sehr zeitaufwendig. Auf meinen Survival-Touren habe ich es auch regelmäßig mal gemacht. Und man braucht schon vier bis sechs Stunden für die Nahrungssuche jeden Tag.
SPRECHERIN
Wenn er nicht gerade survival-mäßig unterwegs ist, nutzt er Wildpflanzen deshalb eher als Ergänzung zu den Lebensmitteln, die er im Supermarkt kauft.
28 O-TON (Larbig)
Ich gehe schon normal einkaufen und kaufe mir Salat, aber ich würde sagen, so einmal im Monat gehe ich ganz bewusst raus und sammele, und ansonsten immer, wenn ich spazieren gehe, nehme ich was mit.
SPRECHERIN
Historisch betrachtet waren große und gehaltvolle Obst- und Gemüse-Sorten für Züchter und Züchterinnen ein sehr wichtiges Ziel. Anders als heute, wo vor allem auf Geschmack und Gesundheit geachtet wird, ging es in erster Linie darum, die Menschen satt zu bekommen. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Denn hin und wieder ging es auch um anderes.
M Courtship Walk
Die wilde Möhre zum Beispiel war ursprünglich violett. Durch natürliche Mutationen entstanden andere Farben, so dass vor gut 400 Jahren in Europa rote, gelbe, violette und weiße Möhren angebaut wurden – nicht aber orangefarbene. Die haben Züchter in den Niederlanden erst Mitte des 16. Jahrhunderts gezüchtet, indem sie eine gelbe und eine rote Möhre kreuzten. Sie taten das zu Ehren des Königshauses – die Farbe Orange steht sinnbildlich für das holländische Königshaus Oranien-Nassau. Die orangefarbene und ungewöhnlich große Möhre war ein Renner – und breitete sich innerhalb von 200 Jahren in der gesamten westlichen Welt aus. Erst in jüngerer Zeit gibt es in Supermärkten auch wieder gelbliche und violette Möhren zu kaufen.
Die Geschichte der Möhre ist schon ein bisschen ungewöhnlich, aber Trends in der Züchtung gibt es auch heute noch.
29 O-TON (Witzel)
Wir hatten ein großes Feldexperiment mit 300 Kohlsorten, international gesammelt, Züchtungen aus den 50er, 60er, 70er Jahren. Was wir da schon gesehen haben: die Pflanzen waren sehr heterogen, und das ist für den Anbauer ein Problem, wenn ein Kohl drei Mal so groß ist wie der andere, also ein Züchtungsziel ist, homogene Pflanzen zu haben.
SPRECHERIN
Damit sie auf dem Feld in regelmäßigen Abständen und gleich breiten Reihen wachsen und mithilfe von Traktoren geerntet werden können.
30 O-TON (Witzel)
Dann haben wir auch gesehen, dass die sehr anfällig waren, also Resistenzzüchtung ist ein sehr wichtiges Züchtungsziel, gegenüber Mehltau, gegenüber Insekten. Und dann – was will der Konsument? Da ändern sich die Wünsche auch alle zehn Jahre. Wir haben viele Single-Haushalte, niemand braucht mehr einen Vier-Kilo-Kohlkopf.
SPRECHERIN
Und ganz wichtig: Wie sieht das Obst und Gemüse, wie sieht der Kohlkopf aus?
31 O-TON (Hanschen)
Der muss schön aussehen. Wenn der nicht attraktiv ist oder nicht gerade ist oder der Apfel mit Schorf bedeckt ist, dann wird’s halt letztendlich nicht gekauft.
SPRECHERIN
Deshalb liegen in unseren Supermärkten viele gleich große und wunderschön leuchtende Obst- und Gemüsesorten, aber in puncto Geschmack und Gesundheit haben diese Hochleistungssorten oft einiges eingebüßt.
32 O-TON (Witzel)
Im Moment merkt man eben, dass diese guten Inhaltsstoffe, die auch für das menschliche Wohlbefinden eine große Rolle spielen, unterwegs verloren gegangen sind und versucht, die jetzt wieder einzukreuzen.
SPRECHERIN
Geschmacklich tut sich ebenfalls einiges, auch weil die Ansprüche steigen.
33 O-TON (Witzel)
Das kennt man bei den Erdbeeren, wo jetzt alle wieder Mieze Schindler haben wollen, eine kleine, nicht haltbare, krumpelige Erdbeere, die aber so tollen Geschmack hat, der mit den neuen Züchtungen nicht vergleichbar ist. Und so zieht sich das eigentlich bei vielen Gemüsearten auch durch. Deswegen gehen jetzt viele wieder zurück auf alte Sorten, um alte Sorten, die geschmacklich interessanter sind, wieder einzukreuzen in diese Hochleistungssorten.
SPRECHERIN
Gerade bei Erdbeeren, aber auch bei Spargel, zeigt sich der Trend regional einzukaufen, besonders deutlich. Viele Menschen verzichten auf Erdbeeren aus Spanien oder Spargel aus Griechenland und warten lieber noch ein paar Wochen, bis es die regionalen Erzeugnisse zu kaufen gibt. Weil die einfach besser schmecken.
Gleichzeitig gibt es aber auch den gegenteiligen Trend.
Musik Under the stairs
Kakteen und Kaktusfrüchte aus Mittelamerika, Aloe Vera aus Nordafrika, Goji-Beeren aus China, Kurkuma aus Indien – sogenanntes Superfood aus allen Teilen der Welt gibt es bei uns zu kaufen, oft für viel Geld. Oft handelt es sich zwar um Wild- oder um wenig veränderte Pflanzen, die wirklich enorm gesund sind. Aber eben oft auch um den halben Globus gekarrt wurden oder unter schwierigen Bedingungen in unseren Breiten angebaut werden müssen.
34 O-TON (Larbig)
Ist natürlich oft auch so ein Marketing-Ding, dass sich so exotische Sachen besser verkaufen lassen.
SPRECHERIN
Gleichzeitig leuchten Holunderbeeren und Kornelkirschen im Spätsommer überall in den Parks. Der Gundermann und das Gänseblümchen sprießen auf jeder Wiese. Ganz zu schweigen von Brennnesseln oder Giersch, die Gartenbesitzer und Hobbygärtnerinnen verzweifeln lassen, weil sie quasi unausrottbar sind. Beide Wildpflanzen sind übrigens enorm gesund.
35 O-TON (Larbig)
Die Brennnessel, die ist extrem gesund, also ganz viele wertvolle Inhaltsstoffe. Kalium, Kalzium, Magnesium, viele Vitamine, kann man in Aufläufen, Pesto, Lasagne, alles Mögliche kann man aus der machen, auch Tee, mit Öl und Salz im Ofen als Chips, auch total lecker.
Musik Under the stairs 0´11´´unter:
Sprecherin:
Echtes heimisches Superfood. Deshalb zum Schluss der Tipp: statt ärgern – einfach mal essen.
Die Welt spricht von der Klima-, der Öl- oder der Wasserkrise, doch vom bedrohlichen Verlust der Böden durch Erosion spricht fast niemand. Dabei ist die Situation mehr als bedrohlich. Von Geseko von Lüpke (BR 2022)
Credits
Autor dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Johannes Hitzelberger und Andreas Neumann
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
David Montgomery (Prof. Dr.; Geologe und Autor, Universität Seattle);
Francois Buscot (Prof. Dr.; Leiter des Instituts für Bodenökologie, Helmholtz-Zentrum Halle/Leipzig);
Ulrich Hampel (Bodenberater für die Bio-Stiftung, Schweiz);
Sepp Braun (Landwirt und Boden-Pionier, Dürneck bei Freising);
Hans-Jörg Vogel (Prof. Dr.; Bodenphysiker, Leiter des Instituts für Bodensystem-Ökologie, Helmholtz-Zentrum Halle/Leipzig)
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Expedition in die Arktis: Sir John Franklin soll 1845 einen Seeweg durch das Polarmeer nach Asien finden. Unter seinem Kommando: die Schiffe HMS Erebus und die HMS Terror, an Bord 129 Seeleute und Proviant für mehrere Jahre. Doch bald fehlt von der Expedition jede Spur ? Was war geschehen? Von Georg Florian Ulrich (BR 2024')
Credits
Autor dieser Folge: Georg Florian Ulrich
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Stefan Wilkening, Katja Amberger, Andreas Neumann, Frank Manhold
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Ryan Byard, University of Adelaide
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik: Secret proofs 0‘41
Atmo: alte Stadt
Sprecher:
London, 1848. Seit mehr als drei Jahren gibt es keine Neuigkeiten von den beiden Schiffen. Kein Brief, keine Nachricht von der HMS Erebus und der HMS Terror erreicht die Admiralität in London. Niemand hat die zwei Schiffe gesehen, die ins arktische Eismeer gesegelt sind. Die Unruhe in der Admiralität wächst. Dabei hatte die Leitung der Royal Navy große Hoffnungen in die Expedition gesetzt – und eine Menge Geld. Man entschließt sich zu handeln.
Zitator: (Ausrufer/Steckbrief)
„20.000 Pfund Belohnung für jeden, der Hinweise zur Auffindung der Schiffe unter dem Kommando von Sir John Franklin geben kann!“
Atmo Polarwind
Drowning world 0‘43
Sprecher:
Eine Suchaktion von weltumspannenden Ausmaßen beginnt: Während ein Schiff von Großbritannien aus Kurs auf Grönland nimmt, fährt ein anderes die Küste im Norden von Alaska ab. Immer Ausschau haltend nach den beiden Schiffen der Franklin-Expedition. Gleichzeitig bahnt sich ein Suchtrupp im äußersten Norden Kanadas über Land einen Weg gen Norden, hin zu den Eisfeldern der Arktis. Irgendwo in dieser riesigen Region müssen sie abgeblieben sein. Drei Jahre zuvor, im Jahr 1845, hatten sie sich aufgemacht.
Sprecherin:
Ziel der Expedition: Die Nordwestpassage. Der erhoffte, aber bislang unentdeckte Seeweg von Europa nach Asien durch das arktische Meer. Wenn es eine solche Passage gäbe! Für die britische Seefahrt wäre es ein Riesengewinn.
Sprecher:
Will ein britischer Händler Anfang des 19. Jh. Ware aus Asien importieren, etwa Porzellan aus China, muss er an die 24.000 Kilometer Seeweg zurücklegen. Erst ganz Afrika umschiffen, den sturmgepeitschten indischen Ozean durchqueren, schließlich durch die Straße von Malakka, in der Piraten lauern. Erst dann kann er in China vor Anker gehen. Und auf dem Rückweg das Gleiche noch einmal.
Frozen wonder 0‘34
Sprecherin:
Die Nordwestpassage verspricht die Möglichkeit, all diese Gefahren zu umgehen. Und natürlich: Schneller wäre die Route auch: 8000km Umweg ließen sich so sparen. Wenn man sie denn findet: Denn bislang ist die Gegend zwischen Grönland und dem nördlichen Kanada ein weißer Fleck auf der Landkarte. Zu widrig waren die eisigen Temperaturen für die Entdecker des 17. Und 18. Jahrhunderts.
Sprecher:
Doch seit den Tagen der ersten Entdeckungsreisen in die Arktis hat sich das technische und geographische Verständnis der Briten enorm verbessert.
Musik: Time traveller red 0‘25
Die Industrielle Revolution ist in vollem Gang: In Großbritannien fahren bereits regelmäßig Eisenbahnen, neue Erfindungen wie die Konservendose oder die Nutzung der Elektrizität beginnen das Leben der Menschen zu verändern. Mit diesen technischen Errungenschaften, ist man sich sicher, auch den harten Bedingungen der Arktis trotzen zu können.
Sprecherin:
Deshalb hatte sich die Admiralität in London entschieden, zwei Schiffe auf eine Expedition in die Arktis zu schicken. Sie sollen endlich die Nordwestpassage finden. Die Wahl fällt auf die HMS Erebus und HMS Terror. Bombardenschiffe, sie sind schwer gepanzert – wie geschaffen, um Packeis zu durchbrechen. Bereits 1839 haben sie sich bei Expeditionen in die Antarktis bewährt.
Atmo: Fabrik im Dampfzeitalter
Für die Expedition werden keine Kosten und Mühen gescheut. Die Schiffe werden generalüberholt, die schon dicken Rümpfe zusätzlich mit Eisenplatten verstärkt. Zwei neuartige Dampfmaschinen werden verbaut, um den Schiffen zusätzlichen Antrieb zu liefern. Möglich macht das die Schiffschraube, die erst wenige Jahre zuvor erfunden wurde.
Sprecher:
Die Dampfmaschinen versorgen zudem eine Zentralheizung, die trotz arktischem Wetter für angenehme Wärme an Bord sorgen soll. Auch für reichlich Proviant ist gesorgt.
ZITATOR: (begeisterter Reporter)
Die Vorkehrungen, die für den Komfort der Offiziere und der Besatzung getroffen wurden, sind ausgezeichnet: Die an Bord genommenen Vorräte sind beträchtlich und bestehen aus Konserven, einer großen Menge Tee und extra starkem westindischen Rum.
Sprecherin:
Dazu kommen 7 Tonnen frisch abgekochtes Fleisch, verpackt in den neuen, modernen Konservendosen, 14 Tonnen Salzfleisch, 4740 kg Kartoffel- und Gemüsekonserven und 4200 Liter Zitronensaft. Er soll gegen Skorbut helfen, die gefürchtete Seefahrer-Krankheit. Sogar eine beträchtliche Bibliothek mit mehr als 1000 Büchern wird an Bord genommen. Einer mehrjährigen Expedition in die Arktis steht nichts mehr im Wege.
Musik: Time maschine (b) 0‘36
Sprecher:
Für Das Oberkommando wird schließlich Sir John Franklin auserkoren. Er ist zu diesem Zeitpunkt fast 60 Jahre alt, seine letzte Arktisexpedition fast 20 Jahre her. Manche Zeitgenossen äußern Bedenken wegen seines Gesundheitszustands. Dennoch soll diese Expedition das Glanzstück werden, das Franklins Karriere abschließt. Zudem stehen ihm erfahrene Männer zur Seite: Unter seinem Kommando steht auch Captain Francis Crozier, der bereits in der Antarktis mit der Terror unterwegs war.
Sprecherin:
Dann endlich! Mai 1845: Unter großem Beifall legen die Schiffe ab. Sie stechen unter guten Vorzeichen in See, die Besatzung ist optimistisch.
ATMO: knarzendes Segelboot, See
Vor der Küste Grönlands werden die letzten Vorräte an Bord genommen, dann machen sich die Schiffe auf ins Eis – in bisher unbekannte Gefilde.
Musik: Redeem 0‘50
Sprecher:
Auf ihrem Weg in den Lancastersund begegnen sie zwei Walfängern. Man besucht sich gegenseitig, tauscht Informationen aus. Es ist das letzte Mal, dass die beiden Schiffe von anderen Seeleuten gesehen werden.
ATMO/Musik hoch
Sprecherin:
Es vergeht ein Jahr ohne jegliche Nachricht von der Expedition. Dann noch eins. Schließlich ein drittes.
Sprecher:
Über Jahre nichts von einer Expedition in die Arktis zu hören, ist in dieser Zeit erstmal nicht ungewöhnlich. Die Expedition von James Clark Ross zum Beispiel saß vier Jahre im Eis fest. Sie ernährten sich von ihrem Proviant und Robbenfleisch, bis auf drei Seeleute kehrten alle wohlbehalten zurück. Doch Franklins Mannschaft ist deutlich größer, seine Vorräte nur für zwei, maximal drei Jahre ausgelegt.
Sprecherin:
Nachdem dann auch im dritten Jahr von der Expedition keinerlei Nachricht eintrifft, wird die Admiralität nervös. Wo sind die HMS Erebus und Terror? 1848 beginnt die Suche nach den verlorenen Schiffen. Drei Suchexpeditionen werden losgeschickt - erfolglos. Keine Spur findet sich von den beiden Schiffen. Die Lage ist ernst. Mit jedem Monat, der vergeht, sinken die Chancen, Franklin und seine Leute lebend zu finden.
Sprecher:
Im Jahr darauf werden ganze 14 Expeditionen ausgestattet. Die beiden Schiffe müssen doch irgendwo zu finden sein! Dass die Rettungsaktion so umfangreich ausfällt, liegt auch an der Ehefrau von John Franklin, Lady Jane. Sie nutzt ihren öffentlichen Einfluss, um Druck auf die Admiralität auszuüben.
Atmo Wind
Drowning world 0‘48
Sprecherin:
Endlich finden sich erste Zeichen der Expedition. Doch sie geben eine düstere Vorahnung, auf das, was kommt. Auf Beechey Island, einer kleinen Insel am Lancastersund, findet man die Überreste eines Winterlagers. Und: Drei Gräber. Die Namen auf den Grabsteinen sind gut lesbar.
ZITATOR:
John Torrington, 20 Jahre. William Braine, 32 Jahre. John Hartnell, 25 Jahre.
Sprecherin:
Besatzungsmitglieder der Franklin-Expedition. Alle drei gestorben im Jahr 1846, beerdigt hier auf Beechey Island. Die Erebus und Terror müssen hier Station gemacht haben. Woran starben sie? Gab es eine Krankheit an Bord? Die Insel wird genauestens untersucht, doch außer leeren Konservendosen und anderem Abfall findet sich nichts. Kein Logbuch, keine Nachricht wurde hinterlassen. Die Suche läuft weiter.
Sprecher:
Inzwischen erhitzen sich in London die Gemüter: ein Schuldiger wird ausgemacht. Der jüdische Kaufmann Stephan Goldner. Er hatte die Expedition mit Konservendosen versorgt. In nur 7 Wochen hatte Goldner den Großauftrag bewältigt. Jetzt häufen sich Vorwürfe, die Konserven seien von minderwertiger Qualität gewesen. Ging die Franklin-Expedition mit verdorbenem Proviant auf Reisen? Verhungerten die Seeleute trotz voller Vorratsschränke? Ein Bericht in der Times legt das nahe. Der Vorwurf ist haltlos, wie sich bald herausstellt. Eine offizielle Untersuchung spricht Goldner frei, doch sein Ruf ist ruiniert.
Cold journey 0‘36
Sprecherin:
Bei der Suche in der Arktis geraten inzwischen die Suchtrupps selbst in Not. Mehrere Schiffe bleiben im Eis stecken. Es dauert mehrere Jahre, bis die Expeditionen zurückkehren. Tatsächlich leisten sie mit ihren Reisen wichtige Beitrag zur Erkundung der Arktis. Aber außer den Gräbern auf Beechey Island können sie keine Hinweise über Franklins Schicksal liefern.
Sprecher:
Dennoch - die Hoffnung auf Neuigkeiten bleibt. Und tatsächlich finden sich neue Hinweise: Der Arzt und Polarforscher John Rae trifft auf seinen Arktis-Reisen auf Inuit, die ihm von düsteren Ereignissen berichten. Rae fasst ihre Berichte zusammen:
Musik: Slow degeneration 0‘40
ZITATOR:
Etwa vierzig weiße Männer wurden gesehen, wie sie in Begleitung eines Offiziers über das Eis nach Süden wanderten und ein Boot und Schlitten mit sich zogen. Sie sahen aus, als ob ihnen der Proviant ausgegangen wäre. Sie kauften von den Eingeborenen eine kleine Robbe oder ein Stück Robbe. Der Offizier wurde als ein großer, kräftiger Mann mittleren Alters beschrieben.
Sprecherin:
Handelt es sich bei dem Offizier um Franklin? Hat er seine Schiffe verlassen, und seine Mannschaft über Land weitergeführt? Doch die Inuit haben Rae noch mehr zu berichten:
ZITATOR:
Später hat man die Leichen von etwa dreißig Personen, einige Gräber auf dem Festland und fünf Leichen auf einer Insel in der Nähe entdeckt. Einige der Körper befanden sich in Zelten. Andere lagen unter einem Boot, das sie als notdürftige Unterkunft umgedreht hatten, einige verteilt um das Lager herum. Bei einem vermuteten die Inuit, dass es sich um einen Offizier handelte, da er ein Fernrohr über die Schultern geschnallt hatte und sein doppelläufiges Gewehr unter ihm lag.
Sprecherin:
Die Inuit zeigten Rae Gegenstände, die nur von Bord der Erebus und der Terror stammen konnten. Laut ihren Schilderungen waren die Männer in einer ausweglosen Situation.
Musik: Dark operation 0‘35
ZITATOR:
Aus dem Zustand vieler Leichen und dem Inhalt der Kessel war ersichtlich, dass unsere unglücklichen Landsleute zum letzten Mittel gezwungen waren, um ihr Leben zu erhalten.
Sprecherin:
Kannibalismus – als letztes Mittel gegen den Hunger. Eine für die viktorianische Zeit unerhörte Unterstellung. Als die Nachricht London erreicht, ist die Empörung groß. Die Witwe von Sir John Franklin, Lady Jane, lässt auf ihren Ehemann und dessen Expedition nichts kommen.
Sprecher:
Sie bekommt prominente literarische Unterstützung. Charles Dickens, ein Freund der Familie, steht ihr bei. In einer Zeitschrift wettert der berühmte Autor gegen die Inuit, weist ihre Berichte als unglaubwürdig zurück. Für ihn sind sie nichts weiter als:
ZITATOR: Zitat Charles Dickens
„Das Geschwätz einer groben Handvoll unzivilisierter Menschen, die in Blut und Walfett zuhause sind!“
Sprecher:
1854 werden alle Expeditionsmitglieder für tot erklärt.
Musik: New hope 0‘35
Lady Jane Franklin will jedoch Gewissheit. Zwei Jahre später finanziert sie erneut eine Expedition unter dem Kommando von Francis McClintock.
Sprecherin:
Tatsächlich gelingt es McClintock als erstem, eine handfeste Nachricht von der Expedition zu finden. In einem kleinen Steinhügel auf King William Island stößt er auf einen Brief der Franklin-Expedition. Versteckt in einem Bleizylinder, wasserdicht geschützt. Der erste Eintrag weckt Hoffnungen:
ZITATOR:
Mai 1847: Von 1846-47 überwintert bei Beechey Island. Sir John Franklin befehligt die Expedition. Alle wohlauf.
Sprecherin:
Der Beginn der Expedition scheint gut verlaufen zu sein. Doch an den Rand des Briefes gequetscht finden sich weitere Zeilen. Jemand muss den Bleizylinder zu einem späteren Zeitpunkt wieder geöffnet, den Brief erneut beschrieben haben. Die zittrige Handschrift lässt sich schwer lesen.
Musik: Z8033060102 Drowning world 0‘59
ZITATOR:
April 1848 - "Terror" und "Erebus" wurden am 22. April verlassen. 105 Seelen unter dem Kommando von Capitain Crozier landeten hier im September 1848. Sir John Franklin ist am 11. Juni 1847 gestorben, Gesamtverlust durch Todesfälle bis heute: 9 Offiziere und 15 Männer. Wir brechen morgen zum Back's Fish River auf.
ATMO Eiswind, Schritte
Sprecherin:
Franklin ist also definitiv tot. Mit ihm 24 weitere Besatzungsmitglieder – eine ungewöhnliche hohe Todesrate, selbst für Arktisexpeditionen. Das Ziel der Überlebenden, der Back’s Fish River, liegt mehrere hundert Kilometer Fußweg entfernt. Durch kaum wegbares Packeis, danach durch eine felsige Tundra, in der es im Frühjahr kaum Nahrung gibt.
Sprecher:
McClintock fährt mit seinem Hundeschlitten den Weg ab, den die Überlebenden genommen haben müssen. Er stößt auf ein seltsames Relikt: ein Beiboot eines der Schiffe. Scheinbar auf den Kopf gestellt, um einen provisorischen Unterschlupf zu bieten.
Frozen danger 0‘34
ZITATOR:
Im Boot befand sich etwas, das uns in Ehrfurcht erstarren ließ. Es waren Teile von zwei menschlichen Skeletten. Das eine das eines schmächtigen jungen Menschen, das andere das eines großen, starken Mannes mittleren Alters, vielleicht ein Offizier. Große und kräftige Tiere, wahrscheinlich Wölfe, hatten einen Großteil dieses Skeletts zerstört.
Sprecher:
Doch die Gegenstände, die McClintock und seine Kameraden rund um das Boot finden, werfen noch mehr Fragen auf: Kämme, Haarbürsten, Taschenbücher. Und sogar eine ganze Ladung Silberbesteck. Nichts, was man auf einem Marsch um Leben und Tod erwarten würde. Zudem finden sich neben etwas Tee ca. 18kg Schokolade. McClintock vermutet, dass die beiden Männer mit dem Boot und der Schokolade als letztem Proviant zurückgelassen wurden, als sie zu schwach geworden waren, um weiter zu ziehen. McClintock kehrt nach Großbritannien zurück. Er ist überzeugt, dass alle Mitglieder der Franklin-Expedition verstorben sind.
Musik: New hope 0‘28
Sprecherin:
Lady Franklin gibt jedoch bis zuletzt nicht auf, das Schicksal ihres Ehemanns zu klären. Noch mit 82 Jahren finanziert sie eine Expedition in die Arktis. Sie stirbt, noch während sie auf die Rückkehr des Schiffs wartet. Die Expedition endet ergebnislos. Auch eine letzte Expedition wenige Jahre später fördert keine neuen Erkenntnisse zutage.
ATMO Eiswind Heulen
Sprecher:
Doch das Rätsel um das Verschwinden der Erebus und Terror zieht die Menschen weiter in seinen Bann. Anfang der 1980er Jahre, gut 100 Jahre nach der letzten Expedition, macht sich ein Team von Forschern der University of Alberta auf, das Rätsel um die Expedition zu lösen. Die kanadischen Forscher stoßen die Reste des Beiboots, das McClintock gefunden hatte. Sie dokumentieren die Fundstelle, sammeln die menschlichen Knochen ein. Im Labor stoßen sie auf Überraschendes: Neben Anzeichen für Skorbut weisen die Knochen der Mitglieder von Franklins Expedition einen zehnmal höheren Bleigehalt auf, als die der Inuit, die in der Gegend beerdigt wurden.
Musik: Ice investigator 0‘36
Sprecherin:
Nun wollen die Forscher der Sache auf den Grund gehen. Zwei Jahre später machen sie sich auf nach Beechey Island, zu den Gräbern die die Franklin-Expedition dort zurückgelassen hatte. Für ihre Expedition brauchen sie eine besondere Genehmigung: Sie wollen die Gräber öffnen, die Leichen der Crewmitglieder untersuchen. Professor Roger Byard von der University of Adelaide ist Pathologe und hat sich eingehend mit den Forschungen zur Franklin-Expedition beschäftigt.
OV Prof Roger Byard Beschreibung Blei
OVERVOICE männlich
They dug up John torringtons body…
Die haben die Leiche von John Torrington ausgegraben, einem der Besatzungsmitglieder, die auf Beechey Island beerdigt wurden. Und dabei fanden sie einen sehr hohen Bleigehalt. Und deshalb sagte man: Aha, die Expedition benutzte diese neumodischen Blechdosen, die mit Blei verlötet waren, das ans Essen abgegeben wurde. Und deshalb meinte man, dass sie an einer Bleivergiftung gestorben sind.
Musik: Strange anomaly (b) 0‘36
Sprecherin:
Eine Bleivergiftung tötet nicht direkt, sondern schadet über längere Zeit dem Nervensystem. Erste Symptome: Erschöpfung, Reizbarkeit. Dann: Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme. Am Ende greift die Vergiftung auf das Gehirn über: Verwirrtheit, Orientierungsprobleme, Charakterstörungen. Starben die Männer, weil ihre bleiverseuchten Vorräte sie in den Wahnsinn trieben? Es würde ihre merkwürdigen Entscheidungen erklären: weshalb sie etwa Silberbesteck und anderen wertlosen Tand einpackten, als sie ihre Schiffe verließen.
Sprecher:
Lange gilt diese Erklärung als einer der Hauptgründe für das Scheitern der Expedition. Doch inzwischen gilt sie als überholt. Prof. Byard weiß warum.
OV Prof Roger Byard Multifaktoren
Overvoice männlich
Over the years the looked at graves of similar vintage…
Im Laufe der Jahre hat man bei Gräbern ähnlicher Jahrgänge von Marineangehörigen festgestellt, dass die Bleikonzentrationen bei allen sehr hoch sind. Damals gab es Bleirohre auf den Schiffen und alle möglichen anderen Dinge. Die Bleivergiftung war also nicht der Grund. Also stand man wieder am Anfang bei der Frage nach der Todesursache.
(…)
Aber ich denke, dass es viele Gründe gab, dass man sich im Grunde genommen einfach abnutzt. Es ist also ein additiver Effekt einer ganzen Reihe von Faktoren.
+ Schluss-O-Ton
The fact that you’re miserable as hell…
Die Tatsache, dass man sich verdammt elend fühlt und weiß, dass man nie wieder nach Hause kommen wird. Das ist wirklich nichts, was einen dazu anspornt, zu versuchen, zu überleben. Aber sie waren jahrelang dort, also waren sie unglaublich stoische Männer.
Sprecher
Hinweise für eine Vielzahl an Belastungen finden sich in den menschlichen Überresten: Die Lungen der Männer auf Beechey Island sind von Tuberkulose zerfressen. Die verstreuten Knochen auf den anderen Inseln zeigen Zeichen von Skorbut.
Musik: Dark operation red. 0‘43
Sprecherin:
Doch die Knochen geben auch Aufschluss über ein weiteres Rätsel: Forensiker in den 1990ern Jahren entdecken gerade Schnitte an den Knochen, die am Boot gefunden wurden: Spuren von Klingen. Hier wurde Fleisch von Knochen gelöst. Spätere Studien zeigen: Die Knochen wurden sogar aufgebrochen, über Stunden gekocht, um an das Mark zu gelangen. Eindeutige Beweise für Kannibalismus unter den letzten Überlebenden. Genauso, wie die Inuit es den ersten Suchtrupps im 19. Jahrhundert geschildert hatten. Nach Jahrzehnten der Verleumdung zeigt sich: Die Inuit hatten Recht.
Sprecher:
Die Forscher fangen an, die Berichte der Inuit in ihre Untersuchungen miteinzubeziehen. Und so gelingt im Jahr 2014 ein großer Durchbruch.
Atmo Eisbrecher und Sonar
Ein Suchboot, ausgestattet mit einem Sonar, durchfährt eine Bucht nahe der King-William Insel.
Laut Schilderungen der Inuit ist hier vor mehr als 150 Jahren ein großes Holzschiff gesunken. Plötzlich erscheint auf dem Radar ein Bild, das eindeutiger nicht sein könnte: Es ist ein Schiff, der Bug liegt zertrümmert am Meeresboden, doch der Rest ist deutlich erkennbar.
Sprecherin:
Es ist die HMS Erebus. Nach mehr als 150 Jahren ist sie wieder da, in ihrer ganzen Pracht. Doch sie liegt einsam am Meeresgrund. Wo ist ihr Schwesterschiff, die HMS Terror?
Sprecher:
Es dauert noch zwei weitere Jahre, bis auch dieses Rätsel gelöst wird. Etwa 100 Kilometer weiter südlich, vor der Küste der Adelaide-Halbinsel. Inuit hatten in dieser Gegend schon öfters angeschwemmte Wrackteile gefunden, doch den entscheidenden Hinweis gibt ein Inuk-Jäger. Vor einigen Jahren war er mit seinem Schneemobil auf der zugefrorenen Bucht unterwegs. Dabei stieß er auf einen Holzpfahl, der aus dem Eis aufragte. Jetzt führt er das kanadische Forschungsteam an die Stelle. Der Pfahl, der aus dem Wasser aufragte - Es ist der Mast der HMS Terror. In nur 11m Tiefe liegt das Wrack des Schiffs.
Musik: Drowning world 0‘34
Sprecherin:
Spätere Tauchgänge zeigen: Das eiskalte Wasser hat das Wrack in außergewöhnlicher Qualität erhalten. Glasflaschen und kostbares Porzellan liegen unversehrt in den Regalen, Gewehre hängen an der Wand. Als ob die Mannschaft sie gerade erst verlassen hätte.
Das Team der Unterwasserarchäologen hofft, in Zukunft vielleicht sogar eines der Logbücher bergen zu können. Vielleicht kann so die Geschichte um die Expedition zu Ende erzählt werden.
Unsere Innenstädte sind im ständigen Wandel. In der Nachkriegszeit sollten sie noch möglichst autogerecht sein, seitdem fand ein Umdenken statt, das immer wieder für Konflikte sorgt. Oft heißt es zum Beispiel, Verkehrsberuhigung schade dem Einzelhandel. Doch stimmt das überhaupt? Von Andreas Strobel
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Strobel
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Amberger, Benjamin Stedler, Jenny Güzel
Technik: Stephan Oberle
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Tamina Schelter, Polizistin in Rosenheim
Benedikt Boucsein [‘Bucksein], Professor für Urban Design, TUM
Valentina Orioli [Valen‘tina Ori‘oli], ehem. Verkehrsdezernentin Bologna
Cleto Carlini, Leiter der Abteilung für nachhaltige Mobilität Bologna
Bernd Ohlmann, Pressesprecher Handelsverband Bayern
Oliver May-Beckmann, Leiter MCube TUM
Tim von Winning, Bürgermeister für Stadtentwicklung, Bau und Umwelt Ulm
Andreas März, Oberbürgermeister Rosenheim
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
“CUT – Das Virus, das uns trennt”. In dem Storytelling-Podcast vom WDR geht es um das Virus, das alles verändert hat: Corona. Vor fünf Jahren hat die WHO die Verbreitung des Virus als Pandemie eingestuft. Und mit der Pandemie ging auch ein Riss durch unsere Gesellschaft. Fast in jeder zweiten Familie oder Freundeskreis gab es ernsthafte Konflikte wegen Corona. Das zeigen aktuelle Zahlen aus dem ARD Deutschlandtrend, die CUT exklusiv für den Podcast erhoben hat.
“CUT – Das Virus, das uns trennt” findet ihr jetzt in der ARD Audiothek und überall da, wo es Podcasts gibt oder gleich HIER
Literatur: Hans Dollinger, „Die totale Autogesellschaft“ (1972): Dollinger beschreibt in klarer Sprache die Probleme der autogerechten Stadt vor dem Hintergrund unwirtlicher Städte und zunehmenden Autoverkehrs Klaus von Beyme, „Der Wiederaufbau“ (1987): Ein Standardwerk, das die Unterschiede und Ähnlichkeiten im Städtebau in BRD und DDR aufzeigt Jane Jacobs, Tod und Leben großer amerikanischer Städte (1961): Große Kritik an der Stadtplanung amerikanischer GroßstädteWir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher 1
Verkehrskontrolle in der Rosenheimer Innenstadt, an einem Wochentag im Januar. Polizistin Tamina Schelter und ihr Kollege Robert Maurer beobachten ein Auto, das langsam in ihre Richtung fährt.
ZSP 02 OT Schelter Ah
Ah, da kommt einer. – Ja!
Sprecher 1
Das Team der Rosenheimer Polizei steht in der Münchener Straße, die seit kurzem eine Fußgängerzone ist. Doch dort, wo eigentlich Menschen gehen sollten, fährt ein schwarzer Kombi entlang. Tamina Schelter hält die Fahrerin an.
ZSP 03 OT Schelter Bollern
Sie befahren grad eine Fußgängerzone. Ab da vorne, wo diese schönen Bollern stehen, bis hier hinten, ist Fußgängerzone.
Sprecher 1
Die Autofahrerin will für diese Sendung nicht aufgenommen werden. Sie habe, sagt sie, die Schilder übersehen, die die Fußgängerzone ankündigen. Polizistin Tamina Schelter ist nachsichtig:
ZSP 04 OT Schelter Verwarnung
Ich würds heute bei ner mündlichen Verwarnung belassen, ausnahmsweise, normalerweise kostets 50 Euro.
Sprecher 1
Die Autofahrerin bedankt sich und kehrt um. Sie wird nicht die Einzige bleiben, die die Polizistin und ihr Kollege heute auf die neue Fußgängerzone hinweisen müssen – stündlich fahren hier noch Dutzende Autos unerlaubt entlang. Das kann gefährlich werden, wenn sich Passantinnen und Passanten auf die Verkehrsberuhigung verlassen:
ZSP 05 OT Schelter Unfall
Deswegen kann es durchaus zum Verkehrsunfall kommen. Und das wäre natürlich alles andere als gut. Deswegen wäre unser Wunsch, dass die Verkehrszeichen beachtet werden und hier einfach kein Fahrzeugverkehr mehr durchfährt.
Sprecher 1
Rosenheim will mit der neuen Fußgängerzone seine Innenstadt beleben, dem Handel helfen und Aufenthaltsqualität schaffen. Was muss die Stadt tun, damit das funktioniert?
MUSIK
Sprecherin 2
Es ist ein Konflikt, wie es ihn überall in Deutschland gibt: Wer Auto fährt, ist es gewohnt, direkt zu seinem Ziel fahren zu können. Seit der Nachkriegszeit sind Städte autofreundlich gestaltet. Inzwischen gibt es ein Umdenken. Doch was bedeutet der Wandel für die Menschen, die in den Städten wohnen? Was für die Besucherinnen und Besucher? Und stimmt es, dass der Einzelhandel leidet, wenn Autos draußen bleiben müssen? [[In deutschen und europäischen Städten lässt sich der unterschiedliche Umgang mit dem Autoverkehr direkt beobachten.]]
Doch zunächst ein Blick ganz an den Anfang der motorisierten Zeit.
MUSIK ENDE
ZSP 06 Atmo England 1900
ATMO Take: C1064590 004 / Straße in England um 1900
Sprecher 1
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreiten sich nach und nach die Dampfkraftwagen als Vorläufer des Autos. Im Vereinigten Königreich ist man skeptisch, fürchtet Unfälle in den Städten – und schreibt 1865 ein Gesetz. Motorbetriebene Fahrzeuge dürfen fortan innerorts nur noch mit 2 Meilen pro Stunde fahren, also gut 3 km/h, und ihre Betreiber müssen Sicherheitsmaßnahmen treffen:
MUSIK
Vorschlag: Take: ZE021640 102 / Greensleeves
Zitator:
Historischer Sprecher Zitat Red Flag Act
„Eine der Personen soll, während sich das Fahrzeug bewegt, diesem mit mindestens sechzig Yards Abstand vorausgehen und dabei ständig eine rote Flagge tragen.“
MUSIK ENDE
Sprecher 1
Eine rote Flagge, um die Stadtbevölkerung vor Fahrzeugen zu warnen, die sich nicht einmal mit Schrittgeschwindigkeit fortbewegen? Sicher, zur Anfangszeit des Motorverkehrs sind sich viele Menschen der potenziellen Gefahren nicht bewusst, sind sie doch eher Pferdekutschen auf den Straßen gewohnt. Doch der so genannte Red Flag Act, das Rote-Flaggen-Gesetz, setzt sich am Ende nicht durch und wird nach gut 30 Jahren wieder abgeschafft. Zu seiner Anfangszeit hat es der motorisierte Verkehr also gar nicht so leicht. Das wandelt sich aber bis zur Mitte des 20 Jahrhunderts deutlich.
MUSIK
Langsam beginnende, ruhige Musik, die leichte Spannung aufbaut
Sprecherin 2
Nach dem zweiten Weltkrieg sind viele deutsche Städte zu großen Teilen zerstört. Der Wiederaufbau ermöglicht aber auch, die Innenstädte komplett neu zu gestalten. Viele Verantwortliche verfolgen ein Ziel:
Musik Ende
Die autogerechte Stadt.
ZSP 07 OT Boucsein autogerechte Stadt
Das Leitbild der autogerechten Stadt ist aus der Moderne heraus entstanden, aus der modernistischen Stadtplanung, die auf einen starken Fortschrittsgedanken hin zu Technologie hingearbeitet hat.
Sprecherin 2
… erklärt Benedikt Boucsein. Als Professor für Urban Design an der Technischen Universität München erforscht er Architektur und Infrastruktur von Städten. Und diese autogerechte Stadt malte man sich folgendermaßen aus.
ZSP 08 OT Boucsein Quartiere
Man hat eigentlich gesagt, wir haben in den Städten ein Wohnquartier, ein Arbeitsquartier, ein Quartier zum Einkaufen und Erholung und die sind voneinander getrennt.
ZSP 09 Atmo Seidlstraße
Take: G0036620 002 / München Unterführung an der Seidlstraße
Sprecherin 2
Möglichst einfach und unabhängig soll man seitdem in die Innenstädte kommen, vielerorts entstehen mehrspurige Fahrbahnen für den Autoverkehr. [[München baut ab den 1950er-Jahren den Mittleren Ring …
ZSP 10 Atmo Berlin
Sprecherin 2
Und West-Berlin eine Stadtautobahn. Und schon zur Einweihung im Jahr 1964 ist sich der dortige Baudirektor sicher: Dabei wird es nicht bleiben, der Ausbau muss weiter vorangehen.
ZSP 11 OT Baudirektor Klotz stolz
Stadtautobahn Berlin(1)
03:10
Der Berliner ist wohl mit Recht in den letzten Jahrzehnten auf sein Stadtstraßennetz stolz gewesen. Was wollen wir Straßenbauer nun heute tun? Wir sind uns darüber klar, dass wir Straßen erstellen müssen, die ebenfalls in 20, 30 Jahren dem dann entstehenden Verkehr gerecht werden.
Sprecherin 2
Schon damals war also absehbar, dass die Zahl der Autos in den Städten weiter zunehmen wird, wie auch der Sprecher einer Fernsehsendung von 1960 feststellt.
ZSP 12 OT Bericht Stauung
rW Autogerechte Stadt
06:20 Es gibt eine Stauung nach der anderen, und schon schimpfen Sie wieder. 07:17 Dem Auto, das steht fest, werden unsere Städte nicht gerecht.]]
ZSP 13 Atmo Autogerecht
Atmo aus rW Autogerechte Stadt
Sprecherin 2
Um dem Auto gerechter zu werden, führen Städte die grüne Welle ein, bauen Straßen aus. Fußgängerinnen und Fußgänger spielen bei den Plänen eine untergeordnete Rolle.
MUSIK
Vorschlag: ID-/Produktionsnr.: 062250 / 1 – DDR 1962
Sprecher 1
Bei der Stadtplanung sind sich Ost- und Westdeutschland während ihrer Trennung übrigens recht ähnlich. Zwar hat in der DDR der öffentliche Personennahverkehr vor allem in Form von Straßenbahnen einen hohen Stellenwert. Doch auch hier sind Autos ein Statussymbol, nach dem sich die Stadtarchitektur richtet – auch wenn die einzelnen Städte in West und Ost natürlich im Detail unterschiedlich sind.
MUSIK ENDE
Sprecherin 2
Mit den immer volleren Straßen wächst in den frühen 70er-Jahren das Bewusstsein dafür, wie viel Platz das Auto einnimmt.
ZSP 14 OT Bericht Vehikel
Die einzelnen Vehikel schleichen nur noch im Schneckentempo dahin, vorbei an den endlosen Reihen der Blechkabinen, die die Straßenränder säumen.
Sprecherin 2
Und mit diesem Bewusstsein steigt auch die Kritik. [[Eine Fernsehsendung im Bayerischen Rundfunk von 1972 greift die Kritik auf, und erklärt anhand eines Buchs des Autoren Hans Dollinger:
ZSP 15 OT Dollinger
Almanach Autogesellschaft
15:20 Der Straßenverkehr ist ein Moloch, der jährlich 20.000 Menschen frisst, mit seinen Abgasen die Luft verpestet, die engen Straßen der Städte verstopft, mit seinem Lärm an den Nerven der Bevölkerung nagt und trotz allem die Aufgaben des Massentransports nicht bewältigen kann.]]
Sprecherin 2
Autor Hans Dollinger fordert 1972 in seinem Buch „Die totale Autogesellschaft“ andere Massenverkehrsmittel – und eine Wende im Straßenbau.
Sprecher 1
Eine Meinung, die sich bald in der Gesellschaft verbreitet – so beurteilt das auch Urban Design-Professor Benedikt Boucsein.
ZSP 16 OT Boucsein Unwirtlichkeit (16“)
Also ich denke, es hatte schon damit zu tun, dass es immer mehr Autos wurden und da gab es die Umweltbewegungen, die damals auch aufkamen und es gab da eine große Strömung in der Stadtkritik, die über die Unwirtlichkeit unserer Städte gesprochen hat und das sehr stark ans Auto drangehängt hat.
Sprecher 1
1972 eröffnet Münchens damaliger Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel die neue Fußgängerzone zwischen Stachus und Marienplatz:
ZSP 17 OT Vogel Blechschlangen
HJ Vogel 1972, DK243980 120
München hat sich durch die Einrichtung dieses Bereichs gegen die Übermotorisierung erfolgreich zur Wehr gesetzt. Es hat die richtige Rangordnung der Nutzungen wiederhergestellt und die Menschlichkeit, die in Blechschlangen, Motorenlärm und Abgaswolken zu ersticken drohten, in das Herz dieser Stadt zurückgeholt.
Sprecher 1
Die neue Fußgängerzone in München entsteht im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen in der Stadt.
ZSP 18 Atmo Fußgängerzone Nürnberg II (1978)
Sprecherin 2
Doch auch andernorts ist diese Entwicklung nicht aufzuhalten: Überall in deutschen Städten entstehen eigene Abschnitte zum Bummeln und Aufenthalten – ganz ohne Autos. Und sowohl DDR als auch BRD sammeln Erfahrungen, wie Verkehrsberuhigung funktionieren kann.
[[ZSP 19 Tagesschau 1973
Tagesschau vom 17.08.1973
Die Fußgängerzonen müssen durch öffentliche Nahverkehrsmittel leicht zu erreichen sein bzw. genügend Parkmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe aufweisen. Sie müssen durch Grünflächen aufgelockert werden sowie attraktive Geschäfte haben.
Sprecherin 2
Diese Faktoren gelten über 50 Jahre später noch genauso.]]
Was überrascht: Während im Deutschland der 70er also erst das Bewusstsein für die Vorteile verkehrsberuhigter Innenstädte wächst, sind andere Länder schon weiter.
Sprecher 1
Eine Stadt, an der sich München Ende der 80er ein Beispiel nimmt, ist das italienische Bologna. Dort ist ein Teil der Altstadt schon seit 1989 nur für Autos mit Ausnahmegenehmigung befahrbar. Grund genug für den damaligen Münchner Stadtplanungsausschuss, sich das mal vor Ort anzusehen:
ZSP 20 Klaus Hahnzog
In Deutschland wird sowas immer sehr viel grundsätzlicher angegangen, in Italien hab ich das Gefühl, dass man nicht so viel redet, sondern eher etwas tut und da wollen wir ein paar Beispiele anschauen.
Sprecher 1
… erklärt Klaus Hahnzog, damals 2. Münchner Bürgermeister, auf der Studienreise.
Natürlich gibt es auch im Bologna der 80er-Jahre Streit um die Verkehrsberuhigung. Als Gegner formiert sich damals zum einen der Einzelhandel, wie ein TV-Bericht des Bayerischen Rundfunks von 1989 zeigt.
ZSP 21 Autofreie Stadt Bologna Geschäfte
Heftig umstritten unter den Bologneser Geschäftsleuten war die Sperrung der Hauptgeschäftsstraße Via dell’Indipendenza. Bei manchen Besitzern der Geschäfte ist der Zorn noch immer nicht verraucht.
Sprecher 1
Zum anderen stößt das Einfahrtsverbot auch unter den Autofahrerinnen und Autofahrern auf wenig Gegenliebe:
ZSP 22 Autofreie Stadt Bologna Kontrollen
Die Bologneser Polizei hat jedoch rigide Kontrollen eingeführt, rund 3000 Sünder erwischt sie pro Woche, die sich nach wie vor ohne Genehmigung durch die engen Gassen der Altstadt zwängen wollen.
Sprecher 1
Das war also die Situation vor mehr als 30 Jahren. Wie hat sich die verkehrsberuhigte Altstadt Bolognas seitdem entwickelt? Halten sich die Menschen an die Regeln und ist der Einzelhandel heute zufrieden?
ZSP 23 Atmo Neptunsplatz
Sprecherin 2
Ziemlich genau in der Mitte der verkehrsberuhigten Altstadt Bolognas liegt der Palazzo D’Accursio.
ZSP 24 Atmo Begrüßung Orioli
Im Hintergrund einfaden
Sprecherin 2
Hier hat die Stadtverwaltung ihren Sitz und hier treffen wir Valentina Orioli. Sie ist Professorin für Stadtplanung und bis 2024 Verkehrsbeauftragte in Bologna.
ZSP 24 Atmo Begrüßung Orioli
Hier dann das „Buongiorno“, danach wieder ausfaden
Sprecherin 2
Valentina Orioli präsentiert stolz ihre neueste Maßnahme: In Bologna gilt seit Anfang 2024 fast flächendeckend Tempo 30 – damit ist Bologna Vorreiter-Stadt in Italien. Das Ziel, die Zahl der Verkehrstoten auf null zu bringen, hat auch auf Anhieb geklappt: kein Fußgänger wurde 2024 in einen tödlichen Unfall verwickelt.
Dabei war die Grundidee der Verkehrsbeschränkungen in der Stadt eigentlich einmal eine ganz andere.
ZSP 25 OT Orioli centri storici
Le zone a traffico limitato in Italia nascono principalmente come una misura di mobilità che accompagna la valorizzazione dei centri storici.
Overvoice (weiblich)
Verkehrsbeschränkte Zonen in Italien sind entstanden, um die historischen Stadtzentren zu schützen.
[[Sprecherin 2
Die Stadtzentren sind mit ihren engen Gassen ohnehin nicht für viel Autoverkehr ausgelegt.
Sprecher 1
Es waren also praktische Gründe, aus denen Bologna begann, den Verkehr in der Stadt einzuschränken.]] Inzwischen geht es bei der Verkehrsberuhigung längst um den Schutz der Umwelt und der Menschen, die ohne Auto unterwegs sind. Valentina Orioli erinnert sich, wie neue Maßnahmen von Händlerinnen und Händlern kritisiert wurden. Hat es sich am Ende gelohnt, die wichtigsten Straßen zur Fußgängerzone zu machen?
ZSP 26 OT Orioli pedonale
In realtà oggi la T è una delle zone commerciali più importanti di Bologna, nei weekend arrivano persone da tutta la regione per passeggiare e fare compere. Questo ha dimostrato in maniera molto evidente che l'appetibilità del commercio può essere anche legata a un'area pedonale.
Overvoice (weiblich)
Tatsächlich bilden sie heute eine der wichtigsten Einkaufszonen in Bologna, an den Wochenenden kommen die Menschen aus der ganzen Region, um zu bummeln und einzukaufen. Das hat sehr deutlich gezeigt, dass eine Fußgängerzone für den Handel attraktiv sein kann.
Sprecher 1
In Bologna geht die Verkehrsberuhigung für den Handel also auf. Ob das eine allgemeingültige Regel ist, erfahren wir später noch.
Allein ein Einfahrtsverbot für einen Großteil der Autos aussprechen reicht allerdings nicht, um den Verkehr tatsächlich aus der Stadt zu halten, das wissen sie auch hier in Bologna. Denn es müssen sich auch alle daran halten. Eine Lösung dafür nennt Oriolis Kollege Cleto Carlini.
ZSP 27 OT Carlini telecamere
In realtà Bologna poi ha preso piena efficacia la zona di traffico limitato nel 2005 quando viene attivato il servizio di telecontrollo che ha portato un grande beneficio perché da subito c'è stata una riduzione di quasi il 30% dei flussi veicolari
Overvoice (männlich)
Tatsächlich hat die verkehrsberuhigte Zone in Bologna erst im Jahr 2005 ihre volle Wirkung entfaltet, als die Videoüberwachung eingeführt wurde. Dadurch hat sich der Verkehr sofort um fast 30 % verringert.
[[Sprecher 1
In quasi jeder italienischen Stadt, groß oder klein, gibt es heute diese verkehrsberuhigten Zonen, überwacht durch Kameras. Wer keine Einfahrtsgenehmigung hat, sollte keine Strafen riskieren: Die liegen zwischen 80 und über 300 Euro.]]
ZSP 28 Atmo Indipendenza
Sprecher 1
In Bologna haben sie sich längst an die Einfahrtsregeln in der Altstadt gewöhnt, wie eine kurze Umfrage vor Ort zeigt:
ZSP 29 OT Voxpop giungla
Penso che sia di grande aiuto per le famiglie, per il passaggio in serenità, per godersi lo shopping evitando il caos della giungla che si presenta subito fuori porta del centro storico.
Overvoice (männlich)
Das ist sehr gut für Familien, um in Ruhe voranzukommen, Shopping zu genießen, während direkt vor den Toren der Altstadt ein chaotischer Dschungel beginnt.
ZSP 30 OT Voxpop tutela
E un modello che sicuramente aiuta a prevenire l’inquinamento ambientale acustico, e sicuramente ha anche la tutela ovviamente dei pedoni.
Overvoice (männlich)
Dieses Modell schützt vor Umweltschäden und Lärmbelästigung, und natürlich schützt es auch Fußgänger
ZSP 31 OT Voxpop normale
È normale che in centro delle città non si entra più in macchina.
Overvoice (männlich)
Es ist ganz normal, mit dem Auto nicht ins Stadtzentrum zu fahren.
Sprecher 1
Natürlich sind auch in Bologna nicht alle überzeugt von der verkehrsberuhigten Innenstadt.
ZSP 32 OT Voxpop parcheggi
Io non abito a Bologna, abito a provincia, e ci metto un sacco di tempo. Prima, c’erano tanti parcheggi, adesso parcheggi non ce ne sono.
Overvoice (weiblich)
Ich wohne nicht in Bologna, sondern in der Umgebung, und brauche sehr lange zur Arbeit. Früher gab es viele Parkplätze, jetzt aber nicht mehr.
ZSP 33 OT Orioli differenza
C'è una differenza fra chi vive in città e chi vive fuori dalla città
Overvoice (weiblich)
Es gibt einen Unterschied zwischen den Stadtbewohnern und denen aus dem Umland.
Sprecher 1
… weiß auch die Verkehrsbeauftragte Valentina Orioli.
ZSP 34 OT Orioli campagna
Chi vive in campagna fa più fatica a fare questi passaggi anche perché dove non c'è densità il trasporto pubblico funziona male
Overvoice (weiblich)
Für die Menschen auf dem Land sind die Fahrten in die Stadt anstrengender, denn in nur wenig besiedelten Regionen funktioniert der öffentliche Nahverkehr schlechter.
Sprecher 1
Die Lösung dafür ist laut Valentina Orioli aber nicht, die Verkehrsberuhigung zurückzunehmen. Stattdessen brauche es bessere Angebote vor allem im öffentlichen Personennahverkehr.
[[Sprecherin 2
In Bologna hat es Jahrzehnte gedauert, und die Bewohnerinnen und Bewohner diskutieren immer noch über neue Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung.]]
Auch in Deutschland gibt es oft Gegenwind bei Projekten zur Verkehrsberuhigung. Die FDP fordert im Sommer 2024 gar eine Politik für das Auto – auch in Städten. FDP-Politiker Zyon Braun sagt damals:
ZSP 35 OT Braun FDP Kulturkampf
„Dieser Beschluss, den wir heute getroffen haben, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass wir den Kulturkampf gegen das Auto nicht mitmachen“
Sprecherin 2
Die FDP fordert in ihrem Beschluss unter anderem mehr kostenlose Parkplätze. Das könnte, so die Schlussfolgerung der Partei, mehr Autos in die Innenstädte locken und dem Handel helfen.
Sprecher 1
Dabei ist nicht mal mehr der Handel selbst der Meinung, dass mehr Autos dem Verkauf in Stadtzentren unbedingt guttun.
ZSP 36 OT Ohlmann Mantra
Die autogerechte Stadt ist nicht mehr das große Mantra, was der lokale Einzelhandel vor sich herträgt, sondern eine klimagerechte Stadt, eine funktionale, ökologische und letztendlich lebenswerte Innenstadt.
Sprecher 1
Sagt Bernd Ohlmann, Pressesprecher beim Handelsverband Bayern.
[[ZSP 37 OT Ohlmann egal
Mittlerweile denken auch viele Einzelhändler immer mehr um und sagen, klar, mein Geschäft muss erreichbar sein für meine Kunden. Wie die zu mir ins Geschäft kommen, ist erstmal nebensächlich. Hauptsache, sie kommen. Ob jetzt per Fahrrad, zu Fuß, mit dem ÖPNV oder eben mit dem Auto, ist letztendlich dem Handel egal.
Sprecher 1
Daraus ergibt sich für den Handelsverband-Sprecher auch:]] Innenstädte ganz ohne Autos sind aber vermutlich nicht die Lösung.
ZSP 38 OT Ohlmann Durchschnitt
Der Autofahrer kann natürlich aufgrund seiner Mobilität, aufgrund des erhöhten Platzangebotes, mehr Sachen mitnehmen und Artikel und der Durchschnittsbon eines Autofahrers ist auf jeden Fall signifikant höher als der zum Beispiel eines Radfahrers oder Fußgängers.
MUSIK: Anhaltende Töne, Wissensmusik
Sprecher 1
Das bestätigt zunächst auch eine Untersuchung der Fachhochschule Erfurt von 2014: Autofahrerinnen und -fahrer geben bei einem Besuch in der Innenstadt mehr Geld aus als Menschen, die zu Fuß, auf dem Rad oder mit Bus und Bahn anreisen – machen quasi einen Großeinkauf. Aber: Dafür kommen die drei anderen Gruppen deutlich öfter in die Stadt. Auf lange Sicht betrachtet kehrt sich das Ergebnis damit um und Autofahrer sind auf einmal die schwächste Kundschaft.
ZSP 39 Atmo TUM
Sprecherin 2
Zurück in der Technischen Universität bei Benedikt Boucsein, dem Urban Design-Professor aus München. Neben ihm am Schreibtisch sitzt Oliver May-Beckmann – beide forschen zusammen an Mobilitätskonzepten. Oliver May-Beckmann sagt: Eine Verkehrsberuhigung muss immer von den richtigen Maßnahmen begleitet sein.
ZSP 40 OT May-Beckmann Kontext
Wie gut ist der ÖPNV angeschlossen? Wie leicht lässt sich von einem Mobilitätsgefäß ins andere umsteigen? Ein zentraler Fahrradparkplatz, Parkraum, Parktiefgarage reicht nicht aus, wenn die Fahrradinfrastruktur drum herum nicht gebaut ist. Dementsprechend hängt es immer davon ab, wie man tatsächlich solche Maßnahmen auch im Gesamtkontext sieht.
Sprecherin 2
[[Je nach Stadt können sich die Maßnahmen unterscheiden, was in einer Stadt funktioniert, kann der falsche Weg für eine andere sein. Doch:]] insgesamt, da sind sich May-Beckmann und Boucsein einig, gilt für eine verkehrsberuhigte Stadt, wenn sie gut geplant ist:
ZSP 41 OT Boucsein positiv
… dass es leicht positive Auswirkungen hat auf den Einzelhandel, aber auch sehr positive Auswirkungen auf Gastronomie und auf die Aufenthaltsqualität allgemein.
Sprecher 1
Inzwischen gibt es in ganz Deutschland Beispiele dafür, dass ein Aufbrechen der autofreundlichen Strukturen einer Stadt gut tut. [[[Und eins der Bespiele ist die Neue Straße im baden-württembergischen Ulm, die nach dem 2. Weltkrieg erstmal sehr autofreundlich gebaut wurde.
ZSP 42 OT Winning autogerecht
[[Die neue Straße ist eine Errungenschaft der Nachkriegszeit der autogerechten Stadt.]] Ulm war ja sehr, sehr zerstört und gerade in dem Bereich zwischen Münster und Rathaus, also der Kernbereich der Altstadt, dort hat man eben einen Baublock nicht wieder aufgebaut, sondern stattdessen dieser Straße Raum gegeben.
Sprecher 1
Erzählt der Ulmer Baubürgermeister Tim von Winning. Damals schlängeln sich stellenweise bis zu sieben Fahrspuren mitten durch die Altstadt. [[Für Passantinnen und Passanten eine riesige Barriere.]] Über die Jahre nimmt der Autoverkehr zu und die Stadtverwaltung merkt: Es muss sich etwas ändern.
ZSP 43 OT Winning Tunnel
Die erste Idee war die, die man in der technikbegeisterten 70er-Jahre-Zeit immer hatte, einen großen Tunnel unter den Bereich zu schlagen, die Autos unter die Erde zu bringen. [[Da war die Verwaltung auch schon sehr weit, es gab fertige Planungen.]]
Sprecher 1
Doch in der Bevölkerung bildet sich Widerstand gegen den teuren Tunnel. Der könnte, so die Befürchtung, nicht für eine Verkehrsberuhigung sorgen, sondern im Gegenteil noch mehr Autos anziehen und ständig verstopft sein. 1990 stimmt die Bevölkerung ab:
ZSP 44 Archiv Bürgerentscheid
Am Sonntag die große Sensation: Das 100-Millionen-Ding wurde per Bürgerentscheid gekippt, zur Freude der Tunnelgegner.
MUSIK Aufbruch, technisch, spannend
Sprecher 1
Die Stadt fängt also nochmal ganz neu an zu planen, schreibt einen Wettbewerb aus und baut schließlich bis in die Mitte der Nuller-Jahre um. Die Neue Straße hat je Richtung jetzt nur noch eine normale Fahrspur und eine Busspur, außerdem Freiflächen, um den Aufenthalt zu verschönern und unterirdisch eine große, freundliche Tiefgarage für Autos. Insgesamt fahren täglich zwar immer noch 15 bis 17-Tausend Fahrzeuge über die Neue Straße, aber:
ZSP 45 OT Winning Gestaltung
Sie ist, was die gestalterische Umsetzung angeht, extrem zurückgenommen, sodass Autofahrende das Gefühl haben, sie bewegen sich über eine Platzfläche und nicht Fußgängerinnen und Fußgänger das Gefühl haben, sie müssen über eine Straße laufen. Und mit dieser gestalterischen Veränderung ist ein sehr rücksichtsvolles Miteinander zwischen den verschiedenen Verkehrsteilnehmenden erreicht worden.
Sprecher 1
Laut Baubürgermeister von Winning hat die Straße sich so im städtischen Einzelhandel etabliert, verkehrsberuhigt – aber ohne zur Fußgängerzone zu werden.
[[ZSP 46 OT Winning nicht kritisch
Ich bin jetzt seit zehn Jahren hier Bürgermeister in der Stadt und ich habe in der Zeit nicht ein kritisches Wort über die neue Mitte gehört.]]
Sprecher 1
Vielleicht kann der Umbau der Neuen Straße in Ulm also auch als Vorbild dienen für andere – ein gut geplanter Kompromiss für beide Seiten.]]]
Sprecherin 2
Zurück nach Rosenheim:
ZSP 47 Atmo Rosenheim zugehen
Sprecherin 2
Hier kontrolliert Polizistin Tamina Schelter in der Münchener Straße, die erst seit kurzem Fußgängerzone ist. Und hat schon wieder ein Auto angehalten, dass unerlaubt hier lang fährt.
ZSP 48 OT Schelter Konfro
Hallo – Einbahnstraße?
Nein, es ist eine Fußgängerzone, die Sie befahren! – Okay … Und jetzt?
Kostet normalerweise 50 Euro, belassen wirs heute bei ner mündlichen Verwarnung und wir sehen uns hier mit dem Fahrzeug nie wieder.
ZSP 49 Atmo Münchener Straße Kontrolle
Sprecherin 2
Der Mann verspricht, sich daran zu halten. Warum ist er eigentlich durch die Fußgängerzone gefahren?
OT 50 Voxpop Schild nicht gesehen
Im Grunde wie mans kennt, ich hab noch die Poller hier gesehen, dachte mir naja, ist Geschwindigkeitsbegrenzung, dass man langsam fährt, habs Schild nicht gesehen.
ZSP 51 Atmo Rosenheim warten
Sprecherin 2
Gleich mehrere Fahrzeuge erwischen Polizistin Tamina Schelter und ihre Kolleginnen und Kollegen bei der Kontrolle. [[Und immer wieder treffen sie auf Passantinnen und Passanten, die von den Autos in der Stadt genervt sind.
OT 52 Voxpop unverschämt
Es fahren ja alle durch, das ist ja das, und wenn du dann was sagst, dann strecken sie die Zunge raus. Also ich find das unverschämt, weil wenn man schon vorwarnt, dass sie nicht durchfahren können, und dann rasen die hier durch, das ist nicht mehr schön.
Sprecherin 2
Denn die Idee der Fußgängerzone sei genau richtig, erzählt die Frau.]]
MUSIK
Sprecher 1
Der Abschnitt in der Münchener Straße ist auch nicht die erste Fußgängerzone in Rosenheim. Und vielleicht klappt das Miteinander auch hier in Zukunft besser. Die bisherige Lösung ist nämlich ein Provisorium, nach einem Jahr will die Stadt Bilanz ziehen. Erst danach könnte größer umgebaut werden, sodass, ähnlich wie in Ulm, die verkehrsberuhigte Stelle auf den ersten Blick erkennbar ist. Vorher will die Stadt nur Kleinigkeiten ändern, erklärt Oberbürgermeister Andreas März.
OT 53 März Piktogramme
Da müssen wir noch mal nachsteuern mit Piktogrammen auf der Straße, Aufklärung, Kontrollen auch.
Sprecherin 2
Denn grundsätzlich will Rosenheim auch von den Vorteilen einer verkehrsberuhigten Innenstadt profitieren.
OT 54 März spazieren
Wir spazieren durch die Stadt, lassen die Stadt, die Menschen, das Flair so auf uns wirken. Und das funktioniert natürlich auf verkehrsberuhigten Plätzen und Straßen deutlich besser, als wenn man immer aufpassen muss, ob jetzt wieder ein Auto kommt, ein Motorrad kommt.
Petrus‘ Tod markiert die Anfänge des Vatikans, heißt es. Doch die Wahrheit ist komplexer. Archäologen forschen schon seit Jahren in antiken Schichten unter dem Petersdom, als der Papst 1950 verkündet, das Apostel-Grab sei gefunden. Von Sebastian Kirschner
Credits
Autor dieser Folge: Sebastian Kirschner
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Irina Wanka, Stefan Wilkening
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Paolo Liverani, Archäologe (Universität Florenz)
Dr. Matthias Kopp, Theologe, Archäologe, Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz (Bonn)
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3D-Tour durch den Petersdom samt Petrusgrab - HIER geht es zur Website
Ist Petrus wirklich in Rom gestorben? - Rezension des Buchs eines Zweiflers:
Mario Ziegler, Rezension zu: Zwierlein, Otto: Petrus in Rom. Die literarischen Zeugnisse. Mit einer kritischen Edition der Martyrien des Petrus und Paulus auf neuer handschriftlicher Grundlage. Berlin 2009 , ISBN 978-3-11-020808-5, in: H-Soz-Kult, 14.12.2009 HIER geht es zur Website
Die Weihnachtsbotschaft von 1950 von Papst Pius XII. im italienischen Originallaut: HIER geht es zur Website
Literatur:
Paolo Liverani, Giandomenico Spinola, Pietro Zander, „Die Nekropolen im Vatikan“ (2010) – wunderbar bebildertes Werk zur unterirdischen Welt des Vatikans. Exzellente Fachleute erläutern die Topographie der Nekropole, die antiken Bestattungsbräuche und stellen detailliert das Petrusgrab vor.
Margherita Guarducci, „Hier ist Petrus. Die Gebeine des Apostelfürsten in der Confessio von St. Peter“ (1967) – Informationen aus erster Hand: Die Archäologin und Epigraphikerin Margherita Guarducci zu den entscheidenden Funden und ihrer Interpretation.
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SPRECHERIN
23. Dezember 1950. Es ist kurz vor Heiligabend, als Papst Pius XII. die Weltöffentlichkeit überrascht. In seiner Weihnachtsbotschaft zum Ende des Heiligen Jahres verkündet er, hier ins Deutsche übersetzt von Monsignore Bruno Wüstenberg:
01_ZUSPIEL Pius XII
Die wesentliche Frage ist ja die folgende: Hat man wirklich das Grab des heiligen Petrus wiedergefunden? Ja. Das Grab des Apostelfürsten ist wiedergefunden worden.
SPRECHERIN
Es sind die Ergebnisse aus dem Abschlussbericht von geheimen Grabungen im Vatikan, die das katholische Kirchenoberhaupt hier vorstellt. Archäologen hatten dafür zehn Jahre lang metertief unter dem Petersdom geforscht. Die Wissenschaftler hatten nicht zuletzt herausfinden sollen, ob Petrus nach seinem Märtyrertod tatsächlich hier zur letzten Ruhe gebettet worden war. Matthias Kopp ist Theologe und Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, er hat lange Zeit selbst in Rom gearbeitet. Für ihn sind die damaligen Forschungen ein Meilenstein in der Geschichte der katholischen Kirche:
02_ZUSPIEL Kopp
Das war damals eine große, wichtige Öffnung des Papstes zu sagen, wir müssen mal schauen, was unter dem heutigen Petersdom, der aus der Zeit der Renaissance stammt, drunterliegt. Wir müssen an die Wurzeln herangegraben, im wahrsten Sinne des Wortes und schauen, wo unsere Ursprünge liegen. Dann wirklich dieses sogenannte Petrusgrab zu finden, war damals eine Sensation.
MUSIK 2 (Hans Zimmer – Secrets 0’35)
SPRECHERIN
DASS der Ort des Petrusgrabes außerordentlich wichtig ist, steht für Archäologe Paolo Liverani von der Universität Florenz außer Frage. Fast 20 Jahre lang war er Leiter der Antikenabteilung der Vatikanischen Museen. Nicht zuletzt für sein Buch „Die Nekropolen im Vatikan“ hat er sich intensiv mit den Ausgrabungen beschäftigt:
03_ ZUSPIEL Liverani
Of course the discovery of the tomb of Peter was extremely important, because this is the reason why the basilica was built there in the early fourth century by Constantine and the visible reason why the bishop of Rome is there.
OVERVOICE zu 03
Natürlich war die Entdeckung des Petrus-Grabes äußerst wichtig. Deswegen hat Konstantin dort im frühen 4. Jahrhundert die Basilika errichten lassen und deswegen befindet sich der Bischof von Rom dort.
SPRECHERIN
Eine Entdeckung, die für die Geschichte des Christentums und der katholischen Kirche kaum bedeutender sein könnte, findet auch Matthias Kopp:
04_ZUSPIEL Kopp
In der Heiligen Schrift, im Evangelium heißt es von Jesus an Petrus: Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und dass diese Kirche, die auf Petrus gebaut wird, nicht in Israel, in Palästina liegt, sondern da, wo der Tote bestattet wurde, nämlich in Rom.
MUSIK 3 (Chris Gilcher – Fragile Balance 0’35)
SPRECHERIN
Was für eine Vorstellung, wenn man diese Wurzeln der katholischen Kirche nun wirklich sehen, ja geradezu berühren könnte! Doch zugleich werden sich manche Menschen auf die frohe Botschaft des Papstes im Jahr 1950 verwundert zwei Fragen gestellt haben: Stand die Lage vom Grab des Petrus nach fast 2000 Jahren Kirche überhaupt noch zur Diskussion? Und wenn ja, warum sollte es ausgerechnet an dieser Stelle liegen?
MUSIK 4 ( Lygia 0’22)
SPRECHERIN
Rom, knapp 2000 Jahre zuvor: An der Stelle des späteren Petersdoms steht eine gigantische Spielstätte, für die Römer ein sogenannter Circus. Schon Kaiser Gaius, genannt Caligula, hat diesen Circus während seiner Regentschaft von 37 bis 41 nach Christi Geburt errichten lassen. Der Überlieferung zufolge hatte seine Mutter Agrippina ihm eine Fläche westlich des Tiber vermacht, die schon damals den Namen „ad Vaticanum“ getragen hat. Doch erst der spätere Herrscher Roms, Nero, verleiht dem Circus seine gewaltigen Ausmaße: Bis zu 560 Meter in der Länge und 85 Meter in der Breite maß der Bau nach Schätzungen einiger Forscher. Das entspräche etwa der Fläche von sieben Fußballfeldern.
05_ZUSPIEL Kopp
Caligula und Nero ließen einen Zirkus bauen außerhalb der Stadtmauer, um dort Wagenrennen, Sportwettkämpfe und andere Darbietungen durchführen zu können. Wobei das menschliche Leben durchaus in Kauf genommen wurde.
SPRECHERIN
Soll heißen: Nero ergötzt sich dabei geradezu an blutigen Spektakeln: Christen werden ans Kreuz geschlagen, sie werden bei lebendigem Leib verbrannt, in Tierhäute genäht und von Hunden zerfleischt. Nero verfolgt die Christen grausam, weil er ihnen die Schuld am verheerenden Brand von Rom zuschreibt. Doch der wahre Grund für die Verfolgungen dürfte ein anderer gewesen sein, glaubt Matthias Kopp:
06_ZUSPIEL Kopp
Nero war nicht besonders amüsiert darüber, dass es im Römischen Reich eine religiöse Sekte gab, die Gott Jupiter nicht anbeten wollte. Also kommt es wahrscheinlich ab dem Jahre 60, 62 nach Christus zur ersten großen Welle der Christenverfolgung. Und Nero wollte diese Sekte verhindern. Und diese Christen verfolgen, das war am praktischsten, indem man sie in einen Zirkus trieb vor den Toren der Stadt.
MUSIK 5 (Kevin Yost – Oblivion 0’54)
SPRECHERIN
Das hängt mit dem römischen Gesetz zusammen: Demnach mussten Tote vor den Toren der Stadt beigesetzt werden. Und eben in jenem Zirkus stirbt einer historischen Deutung zufolge um das Jahr 64 oder 67 ein Christ den Märtyrertod am Kreuz, der später als erster Stellvertreter Jesu in die Geschichte eingehen wird: der Apostel Simon, genannt Petrus.
07_ ZUSPIEL Kopp
Wir wissen nicht genau, wie er gestorben ist. Wir kennen in der Literatur jetzt zwei Gattungen: einmal die Bibel, die um das Jahr 120 nach Christus abgeschlossen wird. Und dann gibt es noch so genannte - das ist jetzt für Petrus wichtig - apokryphe Schriften. Das sind Schriften aus der Geschichte der Kirche, die nicht zum biblischen Kanon zählen. Und in den sogenannten apokryphen Petrusakten wird uns berichtet, dass der Petrus eben mit dem Kopf nach unten gekreuzigt wurde in diesem Zirkus des Nero.
MUSIK 6 (Kevin Yost – Oblivion 1‘16)
SPRECHERIN
Ob diese historische Überlieferung wahr ist, wagt Matthias Kopp nicht zu beurteilen. Neben seiner Arbeit für die Deutsche Bischofskonferenz sucht er selbst nach historischen Fakten – und gräbt als Archäologe seit Jahren in einem Teil der Nekropolen des Vatikans. Eines jedenfalls ist klar: Dem Circus ist kein langes Bestehen beschieden. Archäologische Untersuchungen sprechen dafür, dass er wohl um die Mitte des zweiten Jahrhunderts schon aufgegeben ist; römische Gräber breiten sich auf seinem Areal aus. Auch Petrus – sollte er hier bestattet sein - scheint hier erst einmal in Vergessenheit geraten zu sein. Bis Kaiser Konstantin kommt: Der ist religiös tolerant und erhebt das Christentum zwar nicht zur Staatsreligion, aber zumindest zur staatlich geförderten Religion. Und: Er errichtet um das Jahr 324 auf dem vatikanischen Hügel auch eine Basilika.
08_ ZUSPIEL Kopp
Nach dem Zirkus kommt eine sehr lange Zeit, das sind 200 Jahre, die dort quasi dieses Gebiet auch als Begräbnisort benutzt wird. Und dann sagt der Kaiser Konstantin mit dem damaligen Papst Silvester, wir bauen eine Basilika. Zum ersten Mal wird eine Kirche gebaut, in der Form einer alten antiken Kaiserhalle. Das war ein rechteckiges, langgezogenes Gebäude mit einer Apsis, also einem halbrunden Ende.
MUSIK 7 (Kevin Yost – Oblivion 0’29)
SPRECHERIN
Das Gelände, auf dem später die Basilika stehen wird, ist nicht eben – es fällt nach Süden ab. Aber anstatt sich an die Gegebenheiten vor Ort anzupassen, krempelt der Kaiser den Hügel von Grund auf um, wie Forscher Jahrhunderte später feststellen werden.
10_ ZUSPIEL Liverani
This was not a very easy situation because there was a hill with the difference in level. So he had to build a sub-structure of seven meters height to level the terrace and to build the basilica on top. So it was a great effort.
OVERVOICE zu 10
Das war nicht einfach, denn da war ein Hügel mit Höhenunterschied. Er musste also eine sieben Meter hohe Unterkonstruktion bauen, um die Terrasse für den Bau der Basilika zu ebnen. Das war viel Aufwand.
SPRECHERIN
Kaiser Konstantin lässt also an einem Ort den Hügel samt der Gräber abtragen und ein Stück hangabwärts das Bodenniveau anheben – und das, obwohl hangaufwärts eine ebene Fläche geradezu darauf wartet, bebaut zu werden.
11_ ZUSPIEL Kopp
Da wird ein Riesenaufwand betrieben. Es sind unglaubliche Baumaßnahmen durchgeführt worden, allein an Aufschüttungen.
MUSIK 8 (Chris Gilcher – Fragile Balance 0’41)
SPRECHERIN
Warum? - Kaiser Konstantin betreibt einen Aufwand, der nach Urteil der meisten Fachleute eigentlich völlig unverhältnismäßig wäre ¬– wenn es nicht eine Stelle in der Basilika gäbe, auf die sich alles zu fokussieren scheint. Sollte das wirkich die Stelle sein, die fromme Christen dem Kaiser gewiesen hatten, weil sie dort schon länger das Grab des Petrus verehrten? Hat Kaiser Konstantin seine Kirche, den Vorgängerbau des heutigen Petersdoms, tatsächlich und bewusst über dem Grab des Petrus errichten lassen?
MUSIKENDE
SPRECHERIN
Es sind Fragen, die auch Papst Pius XII. beschäftigen, als die Archäologen während des Zweiten Weltkriegs unter dem Petersdom zu Gange sind.
14_ ZUSPIEL Liverani
Pope Pius XII. wanted to enlarge the grottos, because they were used also for the buriing of the Popes.
OVERVOICE zu 14
Pius XII. wollte die Grotten vergrößern, weil dort auch die Päpste bestattet wurden.
SPRECHERIN
erzählt Paolo Liverani. Der damals jüngst verstorbene Papst Pius XI. hatte testamentarisch verfügt, wie so viele Päpste vor ihm, dort unten bestattet zu werden. Dafür brauchte es Platz, das Bodenniveau musste dementsprechend abgesenkt werden. Doch das, worauf die Archäologen dabei gestoßen sind, war mehr als nur die Sarkophage einiger vergangener Kirchenoberhäupter:
15_ ZUSPIEL Liverani
They found a Roman necropolis of the second and third century.
OVERVOICE zu 15
Sie fanden eine römische Nekropole aus dem 2. und 3. Jahrhundert.
MUSIK 9 (Hans Zimmer – All That Remains 0’24)
SPRECHERIN
Die Ausgräber waren auf die alte Via Cornelia gestoßen, eine römische Totenstraße, auf der sich ein antikes Grabmal an das andere reiht – und die direkt unter den Altar des Petersdoms führt. Angestachelt von Neugier lässt Pius XII. die Grabungen vorantreiben.
16_ ZUSPIEL Kopp
Das war damals eine große, wichtige Öffnung des Papstes zu sagen, wir müssen mal schauen, was unter dem heutigen Petersdom, der aus der Zeit der Renaissance stammt, drunterliegt.
SPRECHERIN
Vielleicht lag ja dort das sogenannte Tropaion. Also das Grabmal, das nach den antiken Beschreibungen eines Priesters namens Gaius um das Jahr 160 unserer Zeit über dem Apostelgrab errichtet worden sein soll.
17_ ZUSPIEL Liverani
Gaius says that at the Vatican along the Via Ostiensis there are the tropaia, the trophies of the two apostles – Peter on the Vatican and Paul on the Via Ostiensis. Trophy means the monument glorifying the victory of the martyrdom against death and persecution. This is the meaning of the word.
OVERVOICE zu 17
Gaius sagt, dass es im Vatikan entlang der Via Ostiensis die Tropaia gibt, die Trophäen der beiden Apostel – Petrus im Vatikan und Paulus an der Via Ostiensis. Trophäe meint das Denkmal, das den Sieg des Martyriums über Tod und Verfolgung verherrlicht. Das ist die Bedeutung des Wortes.
MUSIK 10 (Hans Zimmer – Secrets 0’40)
SPRECHERIN
Doch das Ergebnis der Ausgrabungen scheint im ersten Moment ernüchternd: ein gepflastertes Feld, nicht größer als vier mal sieben Meter. Bis eine Entdeckung erste Hoffnung weckt.
18_ ZUSPIEL Kopp
Man hat unter dem alten Petersdom eine Konstruktion gefunden, die aus zwei kleinen Säulen besteht, mit einem Architrav, also eine Art Türsturz darüber. Und diese Konstruktion war an eine rote Mauer gelehnt.
19_ ZUSPIEL Liverani
And there was an Aedicula with two little columns which was in correspondence to the description which was given by Gaius.
OVERVOICE zu 19
Und da gab es eine Ädikula, eine Nische mit zwei kleinen Säulen, die der Beschreibung von Gaius entsprach.
SPRECHERIN
Aber statt einer prunkvollen Bestattung bleibt es für die Ausgräber bei einer roten Ziegelmauer mit einer Zierfassade und einer leeren Nische. Erst als die Archäologen unter dem Boden vor der Fassade suchen, stoßen sie in einer kleinen Grube auf Knochen. Doch selbst die stellen sich im Labor als buntes Gemenge heraus: Sie gehörten zwei Männern und einer Frau. Und außerdem einem Schwein, einem Pferd und einem Hahn. - Jahre vergehen. Bis sich in den 1950er-Jahren die Italienerin Margherita Guarducci daran macht, die Sache noch einmal aufzurollen. Als Archäologin war sie schon zuvor an den Ausgrabungen unter dem Petersdom beteiligt gewesen. Doch Guarducci ist auch eine äußerst renommierte Inschriftenspezialistin, weiß Paolo Liverani:
20_ ZUSPIEL Liverani
She was an iron lady. I knew her when she was very old. She was a highly esteemed specialist in greek epigraphy and now she was interested in deciphering the wall of the graffiti. because on the red wall there was also a little wall butting to the red wall. And inside the aedicula with the two columns, on this wall there were a lot of graffiti of every type. And there was also a tiny fragment of who was fallen down, but clearly part of the red wall. With a little inscription of letters which means „Petros ani“ which means „Peter is here“.
OVERVOICE zu 20
Sie war eine eiserne Lady. Ich habe sie kennengelernt, als sie schon alt war. Sie war eine angesehene Spezialistin für griechische Epigrafik. Und jetzt wollte sie die Graffiti an der Wand entziffern. Denn es gab noch eine kleine Wand, die an die rote Mauer angrenzte. Und an der Wand im Inneren der Nische mit den beiden Säulen gab es viele verschiedene Graffiti. Und auch ein winziges Fragment, das runtergefallen, aber eindeutig Teil der roten Wand war. Darauf Buchstaben, die Petros ani bedeuten. Übersetzt „Petrus ist hier“.
MUSIK 11 (Hans Zimmer – Secrets 0’31)
SPRECHERIN
Um es noch einmal deutlich zu machen: Es sind sieben krakelige griechische Buchstaben, die die Epigraphikerin Margherita Guarducci ergänzt zu den Worten PETROS ANI – „Hier ist Petrus“.
21_ ZUSPIEL Liverani
There is an enormous debate on the graffiti of the inscription on this wall. Because the problem is that at the base of the aedicula the were no bones in the tomb. But in the wall there was a little loculus. But there is a strange history because the archaeologist who were in charge for the excavation didn‘t find bones in the loculus. But Margherita Guarducci discovered that during the night with the administrator of the basilica. They went in the excavation to check whether was everything in order and found the bones and said, oh collect them because we cannot leave the bones of early christian people in this way and he put them in a wooden box in a store room. So 10 years later speaking with Margherita Guarducci she remembered, I found something there and she recovered this box. So that Margherita Guarducci thinks that there was a translation from the grave in the earth to this loculus for preserving in a better way.
OVERVOICE zu 21
Über das Graffiti der Inschrift an dieser Wand wird heftig diskutiert. Denn das Problem ist, dass sich am Fuß der Ädikula keine Knochen im Grab befanden. Aber in der Wand gab es einen kleinen Loculus dafür. Das seltsame an der Sache: Der damals verantwortliche Archäologe, hat keine Knochen in dem Loculus gefunden. Aber Margerita Guarducci entdeckte sie, als sie nachts mit dem Verwalter der Basilika auf der Ausgrabung war. Sie wollte prüfen, ob alles in Ordnung ist, findet die Knochen und sagt „oh, sammel sie ein, so können wir die Knochen von frühen Christen nicht zurücklassen“. Und er hat sie in eine Holzbox in einem Lagerraum gelegt. 10 Jahre später erinnert sich Margerita Guarducci in einem Gespräch, dass sie dort etwas gefunden hatte und stößt auf diese Kiste. Fortan glaubt Guarducci, dass die Knochen einst aus der Erde in den Loculus kamen, um sie besser aufzubewahren.
MUSIK 12 ( Adam Saunders, Mark Cousins – Gentle Wonderment 0’46)
SPRECHERIN
Eher zufällig stößt also die Wissenschaftlerin im Magazin des Vatikans auf eine Kiste mit Knochen, die einst just in der Nische mit den Graffiti gelegen haben sollen. Knochen, die – ein weiterer Zufall - nie in den damaligen Grabungsbericht eingegangen waren. Analysen, die Margherita Guarducci Mitte der 1960er-Jahre vorstellt, ergeben schließlich: Es handelt sich um die sterblichen Überreste einer, wie es heißt „60- bis 70-jährigen männlichen Person von kräftiger Statur“. Und die waren demnach einst sogar umhüllt von purpurrotem, golddurchwirktem Stoff. Endlich hat die Kirche ihren Petrus! Oder?
22_ ZUSPIEL Kopp
Es hat natürlich immer eine Debatte um die Echtheit der Knochen gegeben. Diese Knochen sind damals untersucht worden mit der radioaktiven Zerfallsmethode C14. Man hat die Ergebnisse so festgehalten, dass es sich um eine männliche Person semitischen Ursprungs handelt, die zwischen 60 und 80 nach Christus gewaltsam ums Leben gekommen ist. Mehr wissen wir konkret nicht. Wir werden nie eine hundertprozentige Sicherheit haben.
MUSIK 13 (Chris Gilcher – Fragile Balance 0’22)
SPRECHERIN
sagt Matthias Kopp. Ob die katholische Kirche ihren Petrus gefunden hat oder nicht? Diese Frage ist aus Sicht von Archäologe Paolo Liverani nicht einfach zu beantworten. Er findet es wichtig, dabei drei Aspekte zu unterscheiden:
23_ ZUSPIEL Liverani
The first one, which is the most important of the historical level of the death for martyrdom in Rome of Peter during the persecution by Nero. and this is a historical fact.
OVERVOICE zu 23
Der erste, historisch wichtigste ist der Märtyrertod von Petrus in Rom während der Christenverfolgung durch Nero. Und das ist historischer Fakt.
SPRECHERIN
Hier würden freilich kritische Stimmen Paolo Liverani auch widersprechen. Die literarischen Belege für Petrus‘ Ende in Rom reichen nicht so weit, als dass es als absolut sicher gelten kann. Aber selbst wenn man den Tod von Petrus in Rom annehmen möchte: Liegt das Grab an der angenommenen Stelle?
24_ ZUSPIEL Liverani
We have the archaeology of the brick stamp on the red wall. which is dated to not later than 161 AD so that we can say that in the middle of the second century the tomb of Peter was considered there. Of course there is one century between the death of Peter which according the sources was executed in 64 or in 67. But we also have to add that in antiquity nobody contested the presence of Peter in Rome. Also during a harsher debate between the various Christian communities, Arianes against Catholics and so on. So that according to me the tomb of Peter is a probable identification.
OVERVOICE zu 24
Archäologisch haben wir einen gestempelten Ziegelstein in der roten Wand. Der wird auf spätestens 161 nach Christus datiert. Man hat also in der Mitte des 2. Jahrhunderts angenommen, Petrus´ Grab liegt hier. Natürlich liegt ein Jahrhundert dazwischen zum Tod des Petrus. Der wurde laut Quellen im Jahr 64 oder 67 hingerichtet. Aber auch in der Antike hat niemand Petrus´ Anwesenheit in Rom bestritten. Obwohl es harte Debatten gegeben hat zwischen christlichen Gemeinschaften, Arianer gegen Katholiken und so weiter. Daher handelt es sich wahrscheinlich um das Grab des Petrus.
MUSIK 14 (Chris Gilcher – Fragile Balance 0’39)
SPRECHERIN
Und schließlich Aspekt drei: Sind es wirklich die sterblichen Überreste von Petrus, auf die man bei den Ausgrabungen gestoßen ist?
25_ ZUSPIEL Liverani
We have no absolute certainty here. But to be honest for a historian and archaeologist this level is less important.
OVERVOICE zu 25
Wir wissen es nicht sicher. Aber für einen Historiker und Archäologen ist das auch nicht so wichtig.
SPRECHERIN
Natürlich sei es wichtig für das Gedenken, sagt Paolo Liverani. Aber für die Geschichtsschreibung sei es eben nicht so entscheidend. - Vielleicht ist es genau das, was diese eine Stelle unter dem Petersdom bis heute so besonders macht:
26_ ZUSPIEL Kopp
Für mich als gläubiger Katholik, der eben auch noch Archäologe ist, bleibt eben das Spannende an der ganzen Geschichte, dass wir diese lange Verehrung exakt an diesem Ort haben und nicht zehn Meter weiter südlich und auch nicht zwanzig Meter weiter östlich. Die Tatsache, dass man hier in einer Zeit, in der unter den Kaisern Caligula und Nero Christen brutal verfolgt wurden, an einen Ort kommt, an dem Petrus seit so früher Zeit verehrt wird, ist für den Glauben durchaus fundamental.
SPRECHERIN
sagt Matthias Kopp. Und diese außerordentliche Bedeutung für den christlichen Glauben sieht er durch die archäologischen Grabungen in den letzten Jahren noch weiter bestätigt. So etwa durch die Ausgrabungen, die in den 2000er und 2010er Jahren erfolgt sind, wo jetzt das vatikanische Kaufhaus und das Parkhaus stehen.
27_ ZUSPIEL Kopp
Das sind sensationelle Ausgrabungen gewesen, weil man fantastische Begräbnisrituale durch mehrere Jahrhunderte gefunden hat. Die Kolleginnen und Kollegen haben dort Aschenurnen freigelegt, die eindeutig auf eine heidnische Begräbniskultur Rückschlüsse zulassen. Der Christ lässt sich als Ganzkörper bestatten, der Heide davor lässt sich verbrennen. Die Kolleginnen und Kollegen finden dann in einer anderen archäologischen Schicht voll erhaltene Gräber mit wunderbar erhaltenen Skeletten, wo eindeutig eine christliche Konnotation zu finden ist: durch Münzfunde, durch Ringe mit einem Kaisermonogramm und ähnlichem. Und in einer dritten Phase finden Sie dann fantastische Marmorarbeiten, kleine Altäre, kleine Kultnischen, wo man Öllämpchen abstellen konnte, wo man der Toten gedacht hat, wo man das Refrigerium, das Totenmahl, durchgeführt hat.
SPRECHERIN
Kurz gesagt: In den Funden zeichnet sich ab, wie die Menschen damals vom heidnischen zum christlichen Glauben übergegangen sind. Wir sehen die Anfänge des Christentums. Die Ausgrabungen der letzten Jahre zeigen, dass die Verehrungstradition sich eben nicht nur auf das Gelände unter Sankt Peter beschränkt. Sie hat offenbar nach und nach den gesamten vatikanischen Hügel erobert. Matthias Kopp merkt an,
28_ ZUSPIEL Kopp
… dass in Rom auch beim Begräbnis durchaus geklotzt wurde. Denn man war ja in der Nähe der Heiligen, und da wollte man ja ein ordentliches Grab haben.
MUSIK 15 ( Hans Zimmer – Sciences And Religion 1’16)
SPRECHERIN
Und das Grab des Petrus selbst, was wissen wir wirklich darüber? Nun ja, die Archäologen haben damals bei ihren Ausgrabungen unter dem Petersdom also erst einmal nichts anderes entdeckt als den Ort, den Christen zur Zeit von Kaiser Konstantin als das Grab des Petrus verehrt haben. Ob es sich um dessen wirkliches Grab handelt, ist so ungeklärt wie die Identität desjenigen, dessen Gebeine darin gelegen haben. Pius XII. selbst war sich seinerzeit in einem jedenfalls sicher: Zur Frage, wem die sterblichen Überreste einst gehört haben, sagt der Papst – wieder übersetzt von Monsignore Bruno Wüstenberg – in seiner Weihnachtsbotschaft 1950:
ATMO Rauschen altes Radio
29_ZUSPIEL Pius XII
Dies lässt indes die geschichtliche Wirklichkeit des Grabes unberührt.
Die Riesenkuppel wölbt sich genau über dem Grab des ersten Bischofs von Rom, (des ersten Papstes, einem Grab äußerst bescheiden in seinen Anfängen.)
Was könnte nicht alles passieren! Warum habe ich immer Pech? Wenn sich Gedanken nur noch im Kreis drehen, lässt sich keine Lösung, kein Ausweg mehr finden. Grübeleien blockieren das Handeln. Von Justina Schreiber
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Hemma Michel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Thomas Ehring, Psychologe, Psychotherapeut + Lehrstuhlinhaber Klinische Psychologie und Psychotherapie der LMU München
Annelie Ritschel, Psychologin + Körperpsychotherapeutin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literatur:
Tobias Teismann, Thomas Ehring: Pathologisches Grübeln, Hogrefe 2018
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JETZT ENTDECKEN
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Was lässt sich gegen Hass und Hetze unternehmen? Was brauche ich wirklich, um zufrieden zu sein? Wie geht man mit Konflikten in der Familie, in der Arbeit oder in der Politik um? Es gibt so viele Themen und Probleme, über die der Mensch nachdenken kann. Dass wir fähig sind, uns mit allem Möglichen und Unmöglichen gedanklich reflektierend auseinanderzusetzen, ist eigentlich eine tolle Sache, sagt die Psychologin Annelie Ritschel (kurzes I). Letztlich hängt sogar unser Überleben davon ab.
MUSIK ENDE
O-TON 01: (Annelie Ritschel)
„Wir sind ja nicht im luftleeren Raum. Das heißt, die Welt produziert Probleme. Menschen produzieren Probleme, sie produzieren Konflikte, sie produzieren Themen, wo man sich wieder neu anpassen muss. Gesellschaften produzieren Sachen, wo man sich neu anpassen muss, haben wir gerade ganz viele davon. Nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in der Sicherheitsarchitektur, wie man so schön sagt heutzutage, und so weiter und so fort. Also das heißt, das Leben ist ja immer etwas Lebendiges. Es ist immer in Bewegung, es verändert sich. Und dann habe ich natürlich immer das Problem, ich muss mich da anpassen. Dann kann ich auch mal nachts aufwachen und mir darüber Gedanken machen eine Weile.“
SPRECHERIN:
MUSIK 1 „Golden arrow“ ZEIT: 00:50
Doch: denkst du noch nach oder grübelst du schon? Der Übergang ist nämlich fließend. Was war vor dem Urknall? Was, wenn es wirklich Außerirdische gibt? Sich einer interessanten Fragestellung zuzuwenden, kann richtig Spaß machen. Ganz anders, wenn man eher sorgenvolle, ängstliche Gedanken wälzt: wie soll es auf Erden bloß weitergehen? Warum kommt immer alles zusammen? Sind die Aufgaben überhaupt noch zu bewältigen? Diese Art von Nachdenken wird gemeinhin als Grübeln bezeichnet, erklärt der Psychologie-Professor Doktor Thomas Ehring von der Ludwig-Maximilians-Universität.
MUSIK ENDE
O-TON 02: (Thomas Ehring )
„Der Unterschied zwischen Grübeln und Nachdenken wird häufig so getroffen, dass, wenn wir grübeln, das schon immer so eine leicht negative Konnotation hat und eine dysfunktionale Konnotation. Dass es also nicht so ganz hilfreich ist. Aber es gibt da keine scharfe Unterscheidung.“
SPRECHERIN:
Klar ist dagegen für die moderne Psychologie: Grübeln und sich Sorgen machen, sind verwandte Phänomene. Auch wenn Sorgen sich eher mit Zukünftigem beschäftigen und Grübeleien oft um vergangene Geschehen kreisen.
O-TON 03: (Thomas Ehring)
„Mittlerweile spricht eigentlich das meiste dafür, dass das ein Prozess ist, den wir als Grübeln dann häufig als Oberbegriff bezeichnen, oder repetitives Denken, weil das viel mehr Ähnlichkeiten hat als Unterschiede.“
MUSIK 2 „Heart“; ZEIT: 00:40
SPRECHERIN:
Wir sprechen von Gedankenkreisläufen oder einem Gedankenkarussell, wenn einen die immergleichen Gedanken beschäftigen. Der Kopf scheint keine Ruhe geben zu wollen. Nach dem Motto: jetzt denk doch noch einmal und noch einmal darüber nach! Wenn eine Frau ihr erstes Kind bekommt oder wenn das letzte Kind das Nest verlässt, wenn ein nahestehender Mensch gestorben ist oder der Job gekündigt wurde: immer, wenn der automatisierte Alltagstrott unterbrochen ist oder wenn Veränderungen anstehen, liegen Grübeleien näher als sonst.
MUSIK ENDE
O-TON 04: (Thomas Ehring)
„In der Pubertät wird sehr viel gegrübelt, äh, wenn man kritische Situationen hat, auch wenn viele ablenkende Dinge wegfallen. Gibt es auch Studien dazu, dass so zu Corona-Zeiten, als viele nur zu Hause saßen, da ging es sehr auseinander, für manche fielen viele Probleme oder Stressfaktoren auf der Arbeit vielleicht weg. Denen ging es besser, die haben sich weniger Gedanken gemacht. Aber viele hatten natürlich auch viel mehr Zeit und auch Anlass, Pandemie-Folgen und so weiter, sich Sorgen zu machen, zu grübeln.“
MUSIK 1 „Golden arrow“ ZEIT: 00:30
SPRECHERIN:
Hat das Leben einen Sinn? Findet mich das Glück? Was, wenn mich alle hässlich finden? Vor allem junge Menschen stellen sich Fragen, die nicht so leicht zu beantworten sind. Selbständig werden zu müssen, kann ziemlich verunsichernd sein, meint die Psychologin Annelie Ritschel.
MUSIK ENDE
O-TON 05: (Annelie Ritschel)
„Viele junge Erwachsene fangen dann tatsächlich das Grübeln an, wenn sie ausgezogen sind, weil dann noch mal auf eine andere Art und Weise deutlich wird: was habe ich gelernt? Was habe ich noch nicht gelernt?
Wo stellt vielleicht die Welt auch jetzt eine Herausforderung dar? Und womit fühle ich mich überfordert? Also zum Beispiel: viele fühlen sich dann mit einem Berufsabschluss überfordert schon, mit Prüfungen zu machen überfordert, weil ihnen das einfach nicht beigebracht wurde.“
SPRECHERIN:
„Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch“. Dieser Vers des Dichters Friedrich Hölderlin wird aus gutem Grund so oft zitiert. Er beschreibt ein Grundmuster unserer Welt. Es lässt sich auch auf lästige Grübeleien anwenden. Erst wenn Druck entsteht, tun sich manchmal neue Wege auf. Anstrengende Gedankenkreisläufe können Menschen zum Beispiel dazu animieren, sich Ratschläge zu holen und vielleicht eine Studien- oder Berufsberatung aufzusuchen. Eine gute Idee! Der Psychologie-Professor Thomas Ehring hält Grübel-Attacken deshalb auch nicht grundsätzlich für bedenklich. Bestenfalls stoßen wiederkehrende Gedanken notwendige Prozesse und Handlungen an.
O-TON 06: (Thomas Ehring)
„Grübeln hat in dem Sinne eine wichtige Signalfunktion: da ist ein Problem. Das ist wichtig für das, was meine Ziele sind und kümmere dich mal drum. Und solange setzt sich das fest. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel aus meinem Leben: Wenn ich Vorträge halten muss, bin ich meistens sehr spät dran, die vorzubereiten. Und ich merke, je näher das rückt, desto mehr Sorgen mache ich mir: kriege ich das überhaupt noch hin? Das ist, ehrlich gesagt, ganz hilfreich für mich, weil ich weiß, das motiviert mich, mich hinzusetzen. Und man könnte jetzt einfach definieren: Grübeln ist dann nicht mehr hilfreich, wenn diese Funktionen, die eigentlich sehr hilfreich sind, nicht mehr erfüllt sind.“
SPRECHERIN:
Also, wenn man sich nicht mehr von der Nachdenkerei lösen kann und nur noch grübelnd aus dem Fenster starrt. Warum finde ich keinen Mann? Warum gibt es bloß so viel Krieg und Gewalt? Die Körper-Psychotherapeutin Annelie Ritschel kennt Patienten und Patientinnen, deren Leben von negativen Gedankenkreisläufen regelrecht überschattet wird.
O-TON 07: (Annelie Ritschel)
„Ich habe viele Patienten mit Depressionen, mit Ängsten, psychosomatischen Geschichten, manche tatsächlich auch wirklich Grübel-Zwänge dabei, die ein unglaubliches Leid natürlich hervorrufen bei den Leuten, weil die können sich kaum noch auf was anderes konzentrieren.“
MUSIK 3 „The only shrine I've seen“; ZEIT: 00:50
SPRECHERIN:
Ein Gedankenkarussell ist wie ein fieser Ohrwurm, der alle anderen Geräusche übertönt. Anlässe gibt es wahrlich genug. Der Klimawandel, das Erstarken rechtsextremer und anderer radikaler Gruppierungen. Rassismus und Antisemitismus. Krisen, Katastrophen. Warum ist heutzutage bloß alles so kompliziert? Man versinkt förmlich in seinen Gedanken. Oft sind es ganz persönliche Gründe: Weil man sich zurückgesetzt fühlt. Weil die Enkel so viel Zeit am Handy verbringen. Weil das Knie beim Joggen schmerzt. Weil man tagelang auf das Ergebnis einer medizinischen Untersuchung warten muss. Was wäre, wenn? Und wo soll das alles bloß hinführen? Aber…! Thomas Ehring betont es noch einmal:
MUSIK ENDE
O-TON 08: (Thomas Ehring)
„Grübeln an sich ist keine psychische Störung, ist keine Krankheit.“
SPRECHERIN:
Der Psychologie-Professor hat 2019 zusammen mit einem Kollegen ein Fachbuch mit dem Titel „Pathologisches Grübeln“ publiziert. Zum klinischen Symptom wird Grübeln demnach erst, wenn es deutlichen Leidensdruck erzeugt. Das sagt auch die Körperpsychotherapeutin Annelie Ritschel.
O-TON 09: (Annelie Ritschel)
„Dysfunktional und selbstsabotierend wird es in dem Moment, wo es meine Gesundheit stört, wo es auch für mich quälend wird, wo es für mich nicht mehr normal ist im Sinne von: damit komme ich klar! Wenn ich tagsüber nicht mehr konzentriert bin, weil ich wirklich ganz, ganz schlecht geschlafen habe, dann kann ich das ein paarmal abpuffern, aber nicht dauerhaft. Außerdem kommt natürlich das ganze Stresssystem dann auch in anderen Modus.“
MUSIK 1 „Golden arrow“ ZEIT: 00:38
SPRECHERIN:
Man liegt nächtelang wach: Was, wenn das Kind jetzt auch noch gemobbt wird? Wie war dieser Satz der Lehrerin bloß gemeint? Wer über längere Zeit zu wenig Schlaf abbekommt und zu viel Adrenalin produziert, hat nicht nur ein erhöhtes Risiko, Bluthochdruck oder andere Stresssymptome zu bekommen. Auch Angststörungen und Depressionen können sich entwickeln. Die permanente Katastrophenstimmung zehrt an den Kräften.
MUSIK ENDE
O-TON 10: (Thomas Ehring)
„Wenn Sie merken, zusätzlich zum Grübeln, ich habe depressive Symptome entwickelt. Ich bin immer sehr niedergeschlagen, kann mich nicht aufraffen oder bin so ängstlich in vielen Situationen, dass es mich lähmt. Dann ist ganz wichtig, nicht selber zu probieren, damit klarzukommen, sondern sich professionelle Hilfe zu suchen, ja. Also z. B. eine Psychotherapeutin, Psychotherapeuten aufzusuchen und dann eben auch zu schauen, welche Rolle spielt jetzt wirklich Grübeln im Gesamtkontext der Probleme, die ich habe.“
O-TON 11: (Annelie Ritschel)
„Auch eine Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine Person, die ganz viel grübeln muss, die sich vielleicht aber auch selbst verletzt oder Risikoverhalten zeigt oder Drogen nehmen muss, um irgendwie klarzukommen damit, dass sie so viel Stress in ihrem Körper hat.“
SPRECHERIN:
Mehrere Studien belegen den Zusammenhang: Wer zu exzessivem Grübeln neigt, neigt auch zu psychischen Erkrankungen. Es gibt also eine gewisse Disposition.
O-TON 12: (Thomas Ehring)
„Es gibt jetzt kein Gen für Grübeln, das Grübelgen, sondern es hängt zusammen mit so einem ganzen Strauß an Faktoren so etwas, was häufig Neurotizismus genannt wird, also eine gewisse emotionale Störbarkeit zu haben, Dinge eher schwer zu nehmen, vielleicht auch ein bisschen Ängstlichkeit als Grund-Temperament, da scheint es doch eine genetische Komponente zu geben.“ (STIMME OBEN)
SPRECHERIN:
Aber dass mehr Frauen als Männer von Grübeleien betroffen sind, liegt nicht etwa am X-Chromosom, sondern an den traditionellen Geschlechterrollen. Die amerikanische Psychologie-Professorin Susan Nolen-Hoeksema hat in den 1980er und 90er Jahren erforscht, warum Frauen so viel häufiger an Depressionen leiden als Männer. Ihr Fazit: Erziehung und Sozialisation befördern es. Sich nach innen zu wenden, sich intensiv um Gefühle und soziale Beziehungen zu kümmern, gilt seit Jahrhunderten als Frauensache. Gelernt ist eben gelernt. So ergibt es sich:
O-TON 13: (Thomas Ehring)
„Dass es natürlich besser zur weiblichen Rolle passt, sagen wir mal, die Dinge auch zu durchdenken, ernst zu nehmen, vielleicht auch Auslöser, die in Beziehungen liegen, besonders zu durchdenken und sich gedanklich damit zu beschäftigen, wohingegen Männer eher aktiv werden, was übrigens für die Depression ganz gut ist, wenn man sich da ablenkt. Das kann aber natürlich zu anderen Problemen führen. Wir finden den umgekehrten Geschlechter-Effekt zum Beispiel bei Problemen mit Alkohol, Substanzen, Aggressivität und Ähnlichem.“
MUSIK 1 „Golden arrow“ ZEIT: 00:50
SPRECHERIN:
Grübeleien drehen sich häufig um den Frust, der in Beziehungen erlebt wird, oder um verstörende Erfahrungen. Auch Menschen, die Traumatisches erlebt haben, neigen zu Gedankenschleifen. Warum ist mir das bloß passiert? Bin ich vielleicht selbst an allem schuld? Herumzugrübeln tut nämlich weniger weh als sich schlimmen Bildern, starken Gefühlen oder knallharten Tatsachen auszusetzen. Vielleicht schwelt in dem depressiven Jugendlichen eigentlich eine große Wut auf die Eltern. Und die schlaflose Rentnerin spürt vor lauter Sorgenmachen gar nicht, wie einsam sie ist. Die Psychologie nennt das Vermeidungsverhalten.
MUSIK ENDE
O-TON 14: (Thomas Ehring)
„Genau hinzuschauen, ist häufig sehr schmerzhaft oder löst Angst aus, oder sich genauer zu überlegen: was ist da in meiner Beziehung los oder Ähnliches. Und grübeln ist häufig so ein Kompromiss. Ich denke schon darüber nach, aber nicht so, dass das zu schmerzhaft wird. Das heißt, der Stil des Nachdenkens ist tatsächlich ein ganz wichtiger Punkt.“
SPRECHERIN:
Auch Leistungssituationen können im Vorfeld unproduktive Gedankenschleifen auslösen. Wer vor einer Prüfung oder einem Bühnenauftritt steht, fragt sich womöglich verzweifelt: was, wenn ich scheitere? Warum bin ich nicht widerstandsfähiger oder souveräner? Warum habe ich mich überhaupt in diese Lage gebracht? So unterminieren die Betroffenen den eigenen Auftritt, indem sie in ihrem Innern zu forschen beginnen - was erst einmal vernünftig klingen mag. Auch wenn es um andere Anlässe geht.
O-TON 15: (Annelie Ritschel)
„Bei diesen Gründen komme ich aber dann mit meinen eigenen Gedanken über die Welt oder auch Überzeugungen vor allen Dingen über die Welt natürlich immer weiter in meine eigenen Geschichten. Ich nehme mal jetzt ein ganz einfaches Beispiel. Mein Nachbar grüßt mich nicht. Dann kann ich mir darüber viele Gedanken machen: warum hat der mich nicht gegrüßt? Was ist mit dem? Aber ich kann natürlich auch fragen: was ist mit mir, dass der mich nicht gegrüßt hat? Mag der mich nicht, will der gar nicht, dass ich hier wohne, weil ich hier vielleicht neu eingezogen bin. Und dann komme ich so in so ein Gedankenkreisen, und das verselbständigt sich dann.“ (STIMME OBEN)
O-TON 16: (Thomas Ehring)
„Grübeln, das nicht hilfreich ist, gerät häufig auf eine sehr abstrakte Ebene. Ja, ich denke darüber nach, warum passiert mir immer das? Wie schrecklich ist denn das Ganze und so weiter. Ich bleibe nicht bei der konkreten Situation, dem Auslöser, sondern es bläst sich auf. Ich denke das nicht wirklich zu Ende. Ich kriege nicht wirklich Antworten auf meine Fragen, sondern die Gedanken fangen an, sich im Kreis zu drehen.“
O-TON 17: (Annelie Ritschel)
„Und irgendwann weiß ich dann gar nicht mehr genau, was das Ganze soll, aber ich bin immer noch damit beschäftigt. Und dann bin ich vielleicht bei dem: der mag mich nicht. Wie soll das denn hier weitergehen, wenn der mich nicht mag, sollen wir hier wieder ausziehen? Aber eigentlich mag mich ja sowieso niemand. Wo soll ich denn hin, wenn mich niemand mag? Also dann komme ich immer weiter in Schleifen rein, die scheinbar ein Problem lösen wollten, also eine Kontrolle auch wieder schaffen wollten. Aber es funktioniert nicht.“
SPRECHERIN:
Denn bei dieser Art der Auseinandersetzung mit sich selbst fehlt das Korrektiv. Es gibt keine innere Stimme, die sagt: jetzt verrennst du dich aber. Vielmehr dienen fatalerweise kaum bewusste, alte Glaubenssätze zur Orientierung. Das, was man schon immer über sich und die Welt zu wissen glaubte, wird reproduziert. So kann ein Gedankengebäude zum Labyrinth oder Gefängnis werden, aus dem man nicht mehr herausfindet. Und der Grübelzwang übernimmt die Macht.
O-TON 18: (Annelie Ritschel)
„Man reinszeniert im Grunde genommen alte Erfahrungen von: ich bin alleine, ich bin nicht gewollt. Ich bin nicht liebenswert, ich bin auch nicht in der Lage, mein Leben selber zu gestalten. Also diese Selbstwirksamkeit ist völlig abhandengekommen. Und dieser Versuch der Kontrolle über Gedanken hilft überhaupt nicht, weil es ein kompletter Kontrollverlust ist. Das führt ja dann manchmal dazu, dass Leute gar nicht mehr arbeitsfähig sind oder eben zum Beispiel der Schlaf total gestört wird.“
MUSIK 1 „Golden arrow“ ZEIT: 00:30
SPRECHERIN:
Man wälzt sich im Bett hin und her. Nichts scheint zu helfen: weder Baldrian noch Honigmilch. Manchmal brauchen Grübeleien auch gar keinen Auslöser, keinen aktuellen Streit, keine unangenehme Beobachtung, kein belastendes Ereignis. Sie können aus reiner Gewohnheit auftreten, erklärt der Psychologe Thomas Ehring.
MUSIK ENDE
O-TON 19: (Thomas Ehring)
„Vielleicht gab es eine Phase, wo ich sehr belastet war, viele Probleme hatte: immer, wenn ich mich abends ins Bett gelegt habe, eigentlich schlafen wollte, alle ablenkenden Dinge waren weg, fing ich an, nachzudenken. Irgendwann kann das so zur Gewohnheit werden, dass selbst wenn die Probleme gar nicht mehr da sind, ich mich ins Bett lege und die Gedanken fangen wieder an zu kreisen. Die Situation kann das automatisch auslösen.“
SPRECHERIN:
Die gute Nachricht lautet: die Gewohnheit an bestimmten Orten oder zu bestimmten Zeiten in Grübeleien zu versinken, kann durchbrochen werden. Indem man (es klingt fast banal) etwas dagegen „tut“, also handelt. Man kann zum Beispiel versuchen, mit seiner Wahrnehmung vom Kopf in den Körper zu kommen, sagt die Psychotherapeutin Annelie Ritschel.
O-TON 20: (Annelie Ritschel)
„Grübeln ist Denken, reines Denken, was tun bedeutet: ich steige aus aus diesem Denkvorgang, aus dieser Art des Denkens. Und dann kann ich zum Beispiel eine Atemübung machen und werde am nächsten Morgen aufwachen, wenn es nicht zu massiv ist, dass diese Grübel-Zwänge schon so zwanghaft geworden sind, dass ich keine Selbstkontrolle darüber mehr bekommen kann. Dann hat sich das so verselbständigt, dass ich auch wirklich andere Hilfe brauche. Aber ich kann über Selbstdisziplin zum Beispiel versuchen zu sagen okay, bisschen grübele ich. Aber dann mache ich eine Atemübung, damit ich wieder einschlafen kann.“
MUSIK 1 „Golden arrow“ ZEIT: 00:33
SPRECHERIN:
Doch gegenzusteuern ist einfacher gesagt als getan. Das ist die nicht so gute Nachricht. Es braucht schon regelmäßige Wiederholung und einige Übung, um sich wirklich auf seinen Atem konzentrieren zu können und das Gedankenkarussell zu stoppen. Konsequenz ist unabdingbar. Das betrifft auch andere Aktivitäten, die einen anti-grüblerischen Effekt haben, sagt Thomas Ehring.
MUSIK ENDE
O-TON 21: (Thomas Ehring)
„Sport zum Beispiel. Wir wissen, dass Sport, wenn man das regelmäßig macht, und das muss schon ein bisschen intensiver sein, dass das dazu führt, dass man weniger grübelt. Eine andere Sache ist zum Beispiel so etwas wie Yoga, Meditation, Achtsamkeit. Ich versuche ganz im Hier und Jetzt auf etwas zu achten, was eben nicht meine Probleme sind, meinen Körper oder sonst was. Ich merke vielleicht immer wieder, dass das abschweift. Und dann bringe ich das wieder zurück. Das ist tatsächlich eine gute Übung gegen Grübeln, hilft auch nicht, wenn ich mir vornehme, jetzt mal kurz zu meditieren, sondern das ist was, was man auch in seinen Alltag mit einbringen muss.“
SPRECHERIN:
Die Schwierigkeiten, die die Grübeleien eventuell ausgelöst haben, lassen sich auf diese Weise auch nicht lösen. Wer nachts nicht schlafen kann, kann seine Gedanken deshalb auch mal aufschreiben, um sie sich am nächsten Tag wieder anzuschauen. Mit einer Psychotherapeutin oder einem Freund darüber zu sprechen, ist ebenfalls eine gute Idee, um das Problem einzugrenzen. Es geht letztlich darum, anders, also produktiver, darüber nachzudenken.
O-TON 22: (Thomas Ehring)
„Also wenn ich zum Beispiel diesen Streit hatte und ich denke die ganze Zeit darüber nach, dann wäre es ja hilfreich, sehr konkret und spezifisch darüber nachzudenken, was genau ist da passiert, wie habe ich mich da gefühlt? Ist das schon mal aufgetreten? Was sind meine Bedürfnisse? Oder auch ganz konkret etwas zu tun, es dann nachher anzusprechen.“
SPRECHERIN:
Aus sich herauszugehen und dem Partner oder der Chefin von den eigenen Sorgen zu erzählen. Das kann entlasten und erklärt dem sozialen Umfeld vielleicht auch, warum die grübelnden Menschen in letzter Zeit so abwesend gewirkt haben, als seien sie nicht da.
O-TON 23: (Thomas Ehring)
„Also aktiv handeln statt denken.“
SPRECHERIN:
Malen, Musik machen oder hören, mit Kindern spielen – was auch immer. Hauptsache: körperlich-sinnliche Empfindungen rücken wieder stärker ins Bewusstsein. Die Körpertherapeutin Annelie Ritschel schlägt die Ich-bin-Übung vor.
MUSIK 2 „Heart“; ZEIT: 01:10
O-TON 24: (Annelie Ritschel)
„Sie sitzen stehen, liegen irgendwo und sagen: ich bin und achten auf das, was Sie gerade spüren, also zum Beispiel: ich bin mein Bauch, der gerade tief einatmet. Ich bin meine Schultern, die sich gleich entlasten, wenn ich an die Schultern denke, ich bin mein Atem, den ich spüre, wenn ich einatme, ich merke, wie ich ausatme. Oder ich merke irgendwie mir juckt's da gerade, oder ich merke irgendwie meine Stirn hat einen Druck.“
SPRECHERIN:
Und das Grübeln lässt hoffentlich nach. Wir beruhigen uns. Unser Stresslevel reduziert sich. Wir können klarer denken und verspüren mehr Kraft. Wir können jetzt aufstehen und losziehen, um etwas zu tun und die Welt um uns vielleicht ein kleines bisschen besser zu machen.
Seit Juli 2006 zählt die Altstadt von Regensburg mit Stadtamhof zum Weltkulturerbe der UNESCO. Die Stadtlandschaft an der Donau gibt mit über 1000 Baudenkmälern einen einzigartigen Blick auf 2000 Jahre europäischer Geschichte. Von Florian Kummert (BR 2020)
Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling, Udo Wachtveitl, Jerzy May
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Eugen Trapp, Untere Denkmalschutzbehörde, Regensburg
Matthias Rapp, Welterbekoordinator Regensburg
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
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JETZT ENTDECKEN
Januar 1984. Die Münchner Diskothek »Liverpool« brennt. Ein Attentat der rechtsextremen Terrorzelle »Gruppe Ludwig«, die in Italien schon seit Jahren eine mörderische Spur hinterlässt. Kurz darauf wird in der Nähe des Gardasees ein Brandanschlag vereitelt. Die Polizei nimmt zwei junge Männer fest. Sind sie diese »Gruppe Ludwig«? Von Philip Montasser
Credits
Autor dieser Folge: Philip Montasser
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Christopher Mann
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Martin Maurer, Autor der auf wahren Begebenheiten basierenden Romane "Die Krieger" und "Der Kreis"
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO
Nachts im Münchner Bahnhofsviertel: dumpfe Musik aus verschiedenen Lokalen geht fließend ineinander über, Autoverkehr, Stimmengewirr, in der Ferne eine Straßenbahn.
MUSIK „White mountains“ – (0:35)
ERZÄHLERIN
Das Münchner Bahnhofsviertel. Wie in vielen Städten: eine lebendige und internationale, aber keine wirklich gute Gegend. Egal ob Drogen, Gewalt oder illegale Prostitution – zwischen Pfandleihern und Stripclubs, Wettbüros und Dönerbuden ist Kriminalität nichts Ungewöhnliches. Doch kaum einer weiß, dass an diesem Ort auch ein rechtsextremer Terroranschlag verübt wurde. Eine Frau starb. Sieben weitere Menschen wurden verletzt. Die Tat ist mehr als vierzig Jahre her. Und wirft bis heute Fragen auf.
ATMO / ZSP 01
Raunende Menschenansammlung. Krähen in der Ferne. Reifen auf nassem Asphalt.
ERZÄHLERIN
Ein Sonntagmorgen im Januar 2024. Normalerweise wäre das Viertel wie ausgestorben. Doch in der Schillerstraße hat sich eine kleine Menschenmenge zusammengefunden, der Kälte und Schneeregen nichts auszumachen scheint. Manche haben Schirme aufgespannt. Bei anderen sammelt sich der nasse Schnee auf Mützen, Hüten und Kapuzen.
ZSP 02: Vertreterin Omas gegen Rechts
Ja, wir sind Omas gegen Rechts. […] Erinnerungsarbeit ist für uns natürlich ein wichtiges Thema.
ZSP 03: Vertreter Südtiroler Gewerkschaftsbund
Wir sind Vertreter des Südtiroler Gewerkschaftsbundes und der Gewerkschaftsorganisation CISL von Trentino. […] Und da die Täter, Italiener waren, italienische Neofaschisten waren, wollten wir auch ein Zeichen setzen und hier sein.
ERZÄHLERIN
Graue Häuser, grauer Himmel. Ein krasser Kontrast dazu: drei große Blumenkränze, die auf dem Bürgersteig aufgestellt sind – direkt neben einem Stripclub. Gemäß Leuchtreklame gibt es dort die »Hottest Girls in Town«. Neben der Eingangstür prangt die lebensgroße Abbildung einer Frau in Flammen. Ein paar der Anwesenden stehen daneben und diskutieren.
ZSP 04: Diskussion Teilnehmer Gedenkveranstaltung
Ich bin hier rübergegangen und hab mir das angekuckt hier… Ich hab gedacht, ich glaub’s nicht, ja. Weil das ist wirklich… das ganze Ding ist gestaltet wie ne Feuerhölle. […] Das ist wirklich irre, ich hab’s nicht glauben können…
MUSIK „double agents“ – (0:40)
ERZÄHLERIN
Vierzig Jahre vorher. In der Schillerstraße 11a befindet sich das »Liverpool«, eine Diskothek der anrüchigeren Sorte. Schilder über dem Eingang versprechen »Film«, »Cabaret«, »Tanz«. Am späteren Abend des 7. Januar 1984 läuft hier ein Pornofilm. Als nächstes steht der Mitternachts-Striptease auf dem Programm. Doch dazu kommt es nicht mehr. Um kurz vor halb zwölf dringen zwei gut angezogene junge Männer mit großen Reisetaschen zur Eingangstür herein. Darin verstaut sind: zwei 20-Liter-Kanister, gefüllt mit Benzin. Die Männer schleudern die Taschen über die Wendeltreppe hinunter ins Kellerlokal. Die Brandsätze explodieren, die Treppe steht sofort in Flammen. Rasend schnell frisst sich das Feuer durch das holzgetäfelte Lokal – und verwandelt das »Liverpool« in eine Feuerhölle.
MUSIK „White mountains“ – (0:45)
ERZÄHLERIN
14 Gäste und elf Mitarbeiter befinden sich zum Zeitpunkt des Angriffs im »Liverpool«. 25 Menschen, die plötzlich in Lebensgefahr sind. Panik greift um sich. Die meisten Insassen können sich über den Notausgang ins Freie retten. Drei Personen – eine Bardame, eine Tänzerin und ein Gast – flüchten in die Küche, landen dort aber in einer Sackgasse: Das Küchenfenster ist aus Sicherheitsglas. Es lässt sich weder öffnen noch zerschlagen. Aber zurück ins Lokal können sie auch nicht mehr. Die zwanzigjährige Corinna Tartarotti steht zum Zeitpunkt des Anschlags am Zigarettenautomaten direkt neben der Wendeltreppe. Ihr dünnes Seidenkleid fängt sofort Feuer. Ein Zeuge erinnert sich an den Anblick:
ZITATOR ZEITUNGSBERICHTE
Da stand diese junge Frau und brannte wie eine Fackel.
ERZÄHLERIN
Corinna Tartarotti ist die Einzige, die versucht, durch den Haupteingang zu entkommen. Sie kämpft sich über die brennende Treppe nach oben – und verliert das Bewusstsein, ehe sie es zur Tür hinausschafft. Gerettet wird sie von einem prominenten Nachbarn: Der frühere Fußballnationalspieler Rudi Brunnenmeier, der in der Nähe selbst in ein Nachtlokal betreibt, trägt die Frau nach draußen.
MUSIK „double agents“ – (0:35)
ERZÄHLERIN
Siebzig Männer der Berufsfeuerwehr kämpfen die Flammen nieder. Nicht einmal 90 Minuten wütet der Brand. Doch am Ende ist das »Liverpool« komplett zerstört, vom Interieur bleibt nur verkohlter Schutt. Acht Menschen werden verletzt, darunter auch ein Feuerwehrmann. Am schwersten betroffen ist: die Angestellte Corinna Tartarotti. Sie wird mit lebensgefährlichen Verbrennungen auf die Intensivstation gebracht. Von den Tätern fehlt jede Spur. Doch für die Polizei ist der Fall rasch klar: Rivalitäten im Rotlichtmilieu. Die Münchner Abendzeitung schreibt:
ZITATOR ZEITUNGSBERICHTE
Der Anschlag ist nach Ansicht der Polizei der blutige Höhepunkt des Bandenkriegs der Münchner Unterwelt.
ERZÄHLERIN
Jahrzehnte später wird sich der Berliner Autor Martin Maurer intensiv mit dem Fall befassen. Sein Roman »Die Krieger« aus dem Jahr 2020 handelt vom Anschlag auf das »Liverpool«. Bei der Recherche hat er auch die damalige Situation in München im Detail aufgearbeitet.
ZSP 07: O-TON Martin Maurer
Es war damals eine Zeit, wo es so eine Art Rotlicht-Krieg gab in München, also, da gab es verschiedene Brände, die da gelegt worden sind. Es ging um Standplätze von Prostituierten. Und da hat am Anfang die Polizei logischerweise gesagt, naja, das muss damit irgendwie zu tun haben. Es gab, wie gesagt, überhaupt keinerlei Hinweis auf irgendein politisches, eine politische Komponente bei diesem Anschlag an sich.
ERZÄHLERIN
In den Tagen nach dem Attentat wird eine Belohnung ausgesetzt: 13.000 Mark für alle Hinweise, die zur Ergreifung der Brandstifter führen. Kurz darauf wird der Betrag sogar auf 40.000 Mark erhöht. Doch am Ende ist es kein Zeuge, der den Ermittlungen zum Durchbruch verhilft. Es sind die Täter selbst: Bei einer italienischen Nachrichtenagentur geht ein Bekennerschreiben ein. Und das hat es in sich.
MUSIK „dark addiction“ – (0:20)
ZITATOR ITALIENISCH (blechern verfremdet)
Rivendichiamo lo spettacolo pirotecnico di Monaco. Al Liverpool non si scopa più. Ferro e fuoco sono la punizione nazista.
ZITATOR VOICEOVER
Wir bekennen uns zum pyrotechnischen Spektakel in München. Im Liverpool wird nicht mehr gefickt. Eisen und Feuer sind die Strafe der Nazis.
ERZÄHLERIN
Die italienischen Behörden erkennen sofort, womit sie es zu tun haben. Es ist das siebte Bekennerschreiben in diesem ganz eigentümlichen Stil: Auf italienisch und in einer runenartigen Schrift verfasst. Im Briefkopf ein Reichsadler mit Hakenkreuz in den Klauen und dem Namen »LUDWIG« über den Flügeln. Und am Ende jeder dieser Briefe die deutsche Losung: »Gott mit uns«. Die Texte strotzen vor schwülstigem Pathos und brachialer Gewaltverherrlichung:
MUSIK „dark addiction“ – (0:40)
ZITATOR ITALIENISCH (blechern verfremdet)
Siamo gli ultimi eredi del nazismo. Il fine della nostra vita è la morte di coloro che tradiscono il vero dio.
ZITATOR VOICEOVER
Wir sind die letzten Erben des Nazismus. Zweck unseres Lebens ist der Tod jener, die den wahren Gott verraten.
ZITATOR ITALIENISCH (blechern verfremdet)
Il potere di Ludwig non ha limiti.
ZITATOR VOICEOVER
Die Macht Ludwigs hat keine Grenzen.
ERZÄHLERIN
Seit 1980 versendet »Ludwig« diese kruden Bekennerschreiben. Die darin beschriebenen Morde reichen zurück bis 1977 – und wurden an verschiedensten Orten in ganz Oberitalien ausgeübt. Es sind monströse Verbrechen, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben – erst die Bekennerbriefe schaffen einen Zusammenhang. Darin erwähnen die Absender das »Gesetz Ludwigs«, einen offenkundig nazistisch-katholischen Moralkodex, gegen den die Opfer nach Ansicht der Terroristen verstoßen haben sollen.
MUSIK „dark addiction“ – (0:45)
ERZÄHLERIN
In Verona verbrennen sie 1977 einen arbeitslosen Sinto in dessen Auto. In Padua erstechen sie 1978 einen schwulen Kellner, 1979 in Venedig einen homosexuellen Drogenabhängigen. 1980 erschlagen sie in Vicenza eine Sexarbeiterin. In Verona zünden sie 1981 einen schlafenden Studenten an, den sie wohl für einen Obdachlosen gehalten haben. 1982 töten sie in Vicenza zwei liberale Mönche mit Hammerschlägen auf den Kopf. 1983 ermorden sie in Trient einen Priester mit einem Maurermeißel und rammen ihm ein Kruzifix ins Genick. Es heißt, er habe einen Jungen sexuell missbraucht. Wenige Monate später verüben sie einen Brandanschlag auf das Mailänder Pornokino »Eros Sexy Center«, bei dem sechs Menschen sterben. Nun also das »Liverpool«? Der erste Anschlag außerhalb Italiens? Die Absender des Bekennerschreibens können Täterwissen vorweisen: Sie nennen im Brief die Seriennummer eines Weckers, der am Tatort gefunden worden ist.
MUSIK „White mountains“ – (0:45)
ERZÄHLERIN
Seit Jahren haben in Italien Polizei und Presse gerätselt, wer hinter den grausamen Hinrichtungen steckt. Jetzt nimmt also auch die Münchner Kriminalpolizei die Ermittlungen auf. Vier Beamte des Polizeipräsidiums München, darunter der Leiter der Mordkommission, reisen dafür noch im Januar 1984 nach Mailand. Und natürlich beginnen damit auch in deutschen Zeitungen die Spekulationen. Zum Beispiel in der Abendzeitung:
ZITATOR ZEITUNGSBERICHTE
Ein Phantom? Verrückte? Polit-Gangster? Italiens blutrünstigste Bande mordet seit zwölf Jahren, immer im „Auftrag Gottes“, immer als „Nazi-Rächer“. Bis heute ist unbekannt, wer hinter der Terror-Truppe steht, die Homosexuelle, Padres, Dirnen und Drogensüchtige getötet hat.
ERZÄHLERIN
Unbekannte Täter, ominöse Briefe, symbolträchtige, ja fast ritualhafte Morde. In der zeitgenössischen Berichterstattung schwingt zwischen den Zeilen immer auch eine gewisse Faszination für das Böse und das Mysterium mit. Anfang Februar geht ein Phantombild durch die deutsche Presse. Es soll ein Mitglied der »Gruppe Ludwig« darstellen. Dann: wird es erst mal still in den Medien. Doch vier Wochen später nimmt der Fall eine unerwartete und spektakuläre Wendung. Die Abendzeitung meldet:
ZITATOR ZEITUNGSBERICHTE
Seit Freitagmittag herrscht bei der Sonderkommission „Liverpool“ im Münchner Polizeipräsidium wieder hektische Betriebsamkeit. Ein neuer Brandanschlag auf eine Diskothek in der oberitalienischen Provinz Mantua zeigt direkte Parallelen zu der mörderischen Brandstiftung in der Münchner Sex-Disco „Liverpool“ Anfang Januar.
MUSIK „Mr Flagio“ (0:35)
ERZÄHLERIN
Der 4. März 1984. In der Diskothek „Melamara“ in Castiglione delle Stiviere in der Nähe des Gardasees geht die Post ab: eine ausgelassene Faschingsfeier mit mehr als 300 Jugendlichen. Zunächst bemerkt niemand die beiden Männer, die sich als Clowns, als Pierrots verkleidet haben. Über den Notausgang schmuggeln sie zwei große Sporttaschen herein. Darin verborgen: jeweils ein Kanister Benzin, das die Beiden unauffällig im Raum verteilen. Es droht ein Inferno, schlimmer noch als das in München.
MUSIK „double agents“ – (0:30)
ERZÄHLERIN
Doch dann riechen einige Gäste das Benzin und schlagen Alarm. Der Pierrot am Haupteingang kann seinen Kanister im Gedränge zwar noch anzünden, bevor geistesgegenwärtige Besucher das brennende Gefäß nach draußen kicken. Sie löschen den Brand und überwältigen die beiden Brandstifter. Die Carabinieri nehmen sie in Gewahrsam. Den 23-jährigen Marco Furlan aus Verona. Und den 24-jährigen Wolfgang Abel aus München.
ERZÄHLERIN
Die Parallelen zum Anschlag auf das »Liverpool« sind offensichtlich. In den folgenden Tagen wird immer mehr über die beiden Terrorverdächtigen bekannt. Wolfgang Abel und Marco Furlan sind Schulfreunde. Beide gelten als eigenbrötlerisch, aber hochintelligent, beide stammen aus gutem Hause. Der in München geborene Abel ist als Kind mit seiner Familie nach Verona gezogen, wo sein Vater die Dependence einer deutschen Versicherungsgesellschaft geleitet hat. Furlans Vater ist Chirurg an einer Veroneser Klinik, ein renommierter Spezialist für Verbrennungen. Zum Zeitpunkt der Verhaftung ist Wolfgang Abel Doktor der Mathematik – seinen Abschluss erhielt er »summa cum laude«. Er arbeitet in München für eine Lebensversicherung. Marco Furlan studiert in Italien Chemie und plant ebenfalls seine Promotion. Nun sitzen Abel und Furlan in Untersuchungshaft in Mantua – und leugnen jede Verbindung zu »Ludwig«. Und der Anschlag auf die Faschingsparty im »Melamara«? Sei nur ein »Scherz« gewesen. Sie hätten lediglich etwas zündeln wollen. Doch in Bezug auf den Münchner »Liverpool«-Anschlag erhärtet sich der Verdacht gegen die beiden. Abels Mutter erkennt den Wecker, den die Attentäter am Tatort zurückgelassen haben. Er habe ihrem Sohn gehört. Außerdem beweisen die Ermittler, dass die beiden Männer zum Tatzeitpunkt in München gewesen sind. Marco Furlan wird als derjenige identifiziert, der die Benzinkanister gekauft haben soll. Und dann macht das Bundeskriminalamt einen Fund, der geradezu unglaublich ist. Bei der Durchsuchung der Gegenstände, die bei der Durchsuchung von Abels Münchner Wohnung gefunden wurden, finden die Beamten: den Durchdruck eines »Ludwig«-Bekennerschreibens. Mithilfe eines Hightech-Geräts machen sie auf dem karierten Papier eines Spiralblocks Abdrücke sichtbar – auch durch mehrere Blätter hindurch. Es ist der komplette Text, verfasst in der üblichen Runen-Schrift, mit dem sich die Terroristen zum Angriff gegen das Mailänder Pornokino »Eros Sexy Center« bekannt haben – dem ersten »Ludwig«-Brandanschlag. Sechs Menschen wurden an jenem 14. Mai 1983 getötet. Wenige Tage später kam der Brief:
MUSIK „dark addiction“ – (0:30)
ZITATOR ITALIENISCH (blechern verfremdet)
Rivendichiamo il rogo dei cazzi. Una squadra della morte ha giustiziato uomini senza onore irrispetto si della legge di Ludwig…
ZITATOR VOICEOVER
Wir bekennen uns zum Scheiterhaufen der Schwänze. Ein Todeskommando richtete Männer ohne Ehre hin, die das Gesetz Ludwigs missachtet haben…
ERZÄHLERIN
Kurz darauf tauchen bei Furlan ebenfalls Durchdrucke von Bekennerschreiben auf – und eines davon gehört zum Münchner Attentat. Es ist nicht mehr von der Hand zu weisen: Die beiden Inhaftierten stehen in Verbindung mit »Ludwig«. Mittlerweile ist Corinna Tartarotti, die schwerverletzte Angestellte des »Liverpool«, an den Folgen der Verbrennungen gestorben. Ein weiterer Mord, der Abel und Furlan nun angelastet wird. Doch trotz erster Erfolge stocken die Ermittlungen. Der genaue Ablauf der einzelnen Attentate lässt sich immer noch nicht rekonstruieren. In langen, fruchtlosen Verhören versuchen italienische und deutsche Polizisten, weiterführende Informationen aus Abel und Furlan herauszukitzeln. Wenn sie nicht schweigen, beteuern sie ihre Unschuld und behaupten, hereingelegt worden zu sein. Nur den verhinderten Anschlag auf die Diskothek »Melamara« können die Beiden nicht leugnen. Die Ermittler müssen sich die Abläufe der anderen Anschläge mithilfe der Indizien zusammenreimen – und stützen sich zudem auf Zeugenaussagen. Darin geht es immer wieder auch um mögliche weitere Täter. Die italienische Journalistin Monica Zornetta, die 2011 in einem wegweisenden Buch die Geschehnisse um die Gruppe »Ludwig« minutiös nachzeichnet, hatte Zugriff auf die Prozessakten und zitiert daraus den Staatsanwalt:
ZITATOR ITALIENISCH
Almeno nella tentata strage al Melamara, insieme agli imputati ci sarebbe stata un'altra persona rimasta fuori dal processo.
ZITATOR VOICEOVER
Zumindest beim versuchten Massaker beim »Melamara« dürfte es neben den Angeklagten noch eine weitere Person gegeben haben, die sich draußen aufhielt.
ERZÄHLERIN
Er halte es für wahrscheinlich, dass ein dritter Mann existiere, auch wenn man die Wahrheit nie herausfinden werde. Am Ende bleibt nur das Terror-Duo übrig. Obwohl im Zuge der Verhandlungen herauskommt, dass Abel und Furlan schon während der Schulzeit einer religiös angehauchten rechtsradikalen Organisation nahestanden, tritt die politische Dimension der Verbrechen immer weiter in den Hintergrund. Martin Maurer wundert das nicht:
ZSP 09: O-TON Martin Maurer
Man hat sich komplett darauf gestürzt, dass da eben zwei psychisch irgendwie gestörte junge Männer aus gutem Hause eben mit diesen Attributen – er spielt klassische Gitarre, hochintelligent – dass diese zwei nun solche bestialischen Taten gemacht haben. Und das ist natürlich etwas, was, wenn man die Geschichte rechter Gewalt verfolgt, immer wieder passiert. Also man hat immer die verwirrten Einzeltäter in allen möglichen Ausformungen.
ERZÄHLERIN
Psychologen attestieren den beiden Männern schließlich eine »Follia a due« – Das bedeutet: Abel soll sich nach der Lektüre von philosophischen Texten »eine Art fanatischer Ideologie« erdacht haben, bevor er mit »enormem Pathos« und »kämpferischem Fanatismus« seinen Freund Furlan dann in den Wahn mitgerissen hat. Martin Maurer kann dieser These nichts abgewinnen – nicht nur, weil Menschen, die Abel und Furlan näher kannten, eine ganz andere Dynamik beschreiben.
ZSP 10: O-TON Martin Maurer
Verona war damals überschwemmt worden von Heroin. Also man hatte praktisch in der Altstadt Verona das, was man sich heute wirklich schwer nur noch vorstellen kann, wenn man diese wunderbare Stadt sieht, das Zentrum… aber da waren also überall in den Gassen waren die Heroinsüchtigen und die rechte Jugend Veronas hat sich gegen das eigentlich geschlossen gestellt. Ich sag mal, das bürgerliche Verona war einfach rechts, […] das war so und […] da gehörten eben diese beiden auch dazu.
MUSIK „double agents“ – (0:32)
ERZÄHLERIN
Im Januar 1987 ist es endlich soweit. Nach fast drei Jahren Untersuchungshaft, in denen die beiden Angeklagten mehrere Selbstmordversuche unternommen haben, gibt es nun ein Urteil. Wolfgang Abel und Marco Furlan werden wegen Mordes in zehn Fällen schuldig gesprochen. Auch an Corinna Tartarotti, die vier Monate nach dem Anschlag auf das »Liverpool« an ihren Verletzungen gestorben ist. Die Strafe: 30 Jahre Gefängnis. Keiner von beiden hat die Taten je gestanden.
In den Jahren danach verschwindet der Fall aus dem kollektiven Gedächtnis. Vor allem in Deutschland gerät die »Gruppe Ludwig« in Vergessenheit. Autor Martin Maurer stößt Jahrzehnte später per Zufall auf einen älteren italienischen Artikel. Die Geschichte elektrisiert ihn und er verarbeitet sie daraufhin in Form eines Romans. Parallel werden vereinzelt Historiker und Aktivisten auf die Terrorserie aufmerksam. Insbesondere die Antisexistische Aktion München sorgt dafür, dass der Anschlag aufs »Liverpool« wieder bekannt wird.
MUSIK „White mountains“ – (0:45)
ERZÄHLERIN
München, den 7. Januar 2025. Zum 41. Jahrestag wird eine Gedenkstele vor dem ehemaligen Liverpool enthüllt. Die italienische Journalistin Monica Zornetta ist für einen Vortrag angereist. Es geht um Fragen, die bei den Ermittlungen offen geblieben sind. Vor allem: Haben Abel und Furlan alleine gehandelt? Oder steckt hinter den Verbrechen ein größeres Netzwerk?
Bis heute herrscht Ungewissheit. Abel und Furlan sind 2009 aus der Haft entlassen worden. In den Jahren danach äußern sie sich kryptisch, widersprüchlich oder gar nicht. Abel ist im Herbst 2024 an den Folgen eines Unfalls verstorben. Doch die Suche nach der Wahrheit geht weiter. Wenige Wochen nach Abels Tod verkündet die Mailänder Staatsanwaltschaft, dass sie die Ermittlungen im Fall »Ludwig« wieder aufgenommen hat.
Nunavut heißt "unser Land" in der Sprache der Inuit; 1999 wurde das gleichnamige Territorium eingerichtet: Ein Gebiet sechsmal so groß wie Deutschland im äußersten Norden Kanadas und in direkter Nachbarschaft zu Grönland. Nur gut 40.000 Menschen leben dort in verstreuten Siedlungen und der Hauptstadt Iqaluit, knapp 31.000 von ihnen identifizieren sich als Inuit. Von Renate Ell (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Ell
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Caroline Ebner, Andreas Neumann, Friedrich Schloffer
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dennis Patterson, bis 30.12.2023 Senator für Nunavut, zuvor u.a. Premier der Northwest Territories;
Alexina Kublu, Dozentin für Inuktitut und Inuit-Kultur, Übersetzerin;
P. J. Akeeaguk, Premier von Nunavut
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Literatur der Inuit - Hart am Rand
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Linktipps:
Die Qikiqtani Truth Commission hat einschneidende Entwicklungen in Nunavut im 20. Jh. aufgearbeitet, in ausführlichen Reports berichten Menschen über ihre teils traumatischen Erlebnisse.
EXTERNER LINK | https://www.qtcommission.ca/en
Inuit – Informationen der kanadischen Regierung:
EXTERNER LINK | https://www.rcaanc-cirnac.gc.ca/eng/1100100014187/1534785248701
CBC North – Radio- und TV-Berichte aus Nunavut (Canadian Broadcasting Corporation, öffentlich-rechtlicher Sender):
EXTERNER LINK | https://www.cbc.ca/news/canada/north/topic/Location/Nunavut
Nunatsiaq News – Tageszeitung aus Iqaluit
EXTERNER LINK | https://nunatsiaq.com/
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Eine Reise nach Nunavut beginnt im Flugzeug – denn es führt keine Straße dorthin. Und man merkt gleich: Die Reise führt in ein ganz anderes Kanada.
(1. ZUSP.) FLUGZEUG-SICHERHEITSANSAGE
(Inuktitut)
ERZÄHLERIN
Die üblichen Ansagen gibt es nicht nur wie sonst in Kanada auf Englisch und Französisch, sondern auch auf Inuktitut – der dritten Amtssprache in Nunavut – übersetzt: „Unser Land“. Nunavut ist der Versuch, Kultur, Traditionen und Werte eines arktischen Jäger- und Sammler-Volkes mitzunehmen in ein Industrieland des 21. Jahrhunderts. Begonnen hat dieser Versuch 1999, als Nunavut autonom wurde.
Musik 1
"Katuuti" - Ausführende: Alexis Bowles & Guillaume I. Saladin - Komponist: Alexis Bowles - Abum: Made in Igloolik - Länge: 0'53
SPRECHER
Nunavut wurde am 1. April 1999 von den Northwest Territories abgetrennt. Die drei Territorien im Norden Kanadas sind extrem dünn besiedelt, deshalb werden sie zum Teil von der Bundeshauptstadt Ottawa aus verwaltet – anders als die Provinzen, die etwa unseren Bundesländern entsprechen. Obwohl Nunavut fünfeinhalb mal so groß wie Deutschland ist, hat es nur rund 41.000 Einwohner – überwiegend Inuit. Die Einwohner von Nunavut, Nunavummiut genannt, leben in 24 weit verstreuten Siedlungen und der Hauptstadt Iqaluit mit siebeneinhalb-tausend Einwohnern. Alle sind nur mit dem Flugzeug erreichbar – oder, für Gütertransporte, mit dem Schiff.
ERZÄHLERIN
Dennis Patterson könnte man als einen der Väter Nunavuts bezeichnen. Der Jurist aus dem Südwesten Kanadas kam in den 70er-Jahren als Rechtsberater nach Iqaluit, stieg in die Politik ein und setzte sich für die Abtrennung seiner Wahlheimat von den Northwest Territories ein. Vielen Menschen im Westen des riesigen Territoriums mit seinen Städten, intensivem Bergbau und großen Wäldern war die Region in der Arktis ohnehin fremd – und nicht nur das.
(2. ZUSP.) DENNIS PATTERSON
OVERVOICE MÄNNLICH
Nunavut galt als ödes Land. Und als Belastung, wegen der Kosten für die Versorgung dieser abgelegenen, isolierten Gemeinden und der schnell wachsenden Bevölkerung. Deshalb gab es eine Bewegung, die sagte: Lasst sie gehen, dann kommen wir wirtschaftlich besser voran.
ERZÄHLERIN
Damals wusste man noch nichts von den begehrten Rohstoffen, die inzwischen in Nunavut entdeckt wurden. Aber die Menschen im hohen Norden haben bis heute auch ganz andere Beweggründe für ihre Unabhängigkeit.
(3. ZUSP.) DENNIS PATTERSON
OVERVOICE MÄNNLICH
Nunavut wurde vor allem gegründet, um die Sprache und Kultur einer Minderheit zu erhalten. Die Inuit sind eine Minderheit innerhalb der indigenen Bevölkerung Kanadas. Das hat die Sprache sehr gestärkt – in einem Land, in dem indigene Sprachen ums Überleben kämpfen. Inuktitut ist dank Nunavut und anderen Regionen, in denen Inuit leben, bei weitem die stärkste indigene Sprache Kanadas.
MUSIK 2
"Inuuganuuk" - Komponist: Terry Uyarak & Andrew Morrison - Album: Nunarjua Isulinginniani - Ausführender: Terry Uyarak - Länge: 0'26
SPRECHER
Inuktitut gehört zu einer Sprachfamilie, die in der nordamerikanischen Arktis, in Grönland und Teilen Sibiriens verbreitet ist. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde für Inuktitut eine eigene Silbenschrift aus geometrischen Formen entwickelt; es wird aber inzwischen auch in lateinischen Buchstaben geschrieben.
MUSIK 3
"Katuuti" - Ausführende: Alexis Bowles & Guillaume I. Saladin - Komponist: Alexis Bowles - Abum: Made in Igloolik - Länge: 0'33
ERZÄHLERIN
Die Sprache ist weit mehr als ein Verständigungsmittel: Sie transportiert das Selbstbewusstsein der Inuit als eigenständige Kultur. Und eine eigene Art zu kommunizieren: Sehr viele Inuit klingen auch auf Englisch leiser und sanfter als Qallunaat – also „Nicht-Inuit“. Wobei sich das aber zu ändern scheint. Alexina Kublu, eine Inuk aus Nunavut, Dozentin für Inuktitut und Inuit-Kultur, hat es in einem Interview für radioWissen 2008 so beschrieben:
(4. ZUSP.) ALEXINA KUBLU 2008
OVERVOICE WEIBLICH
Würde man in einem Raum zehn Qallunaat in die eine Ecke setzen und zehn Inuit in die andere, würde man nach einer Weile nur noch die Qallunaat hören, weil alle durcheinander reden und jeder versucht, sich Gehör zu verschaffen. Qallunaat haben Angst vor der Stille. Und wenn es doch mal still wird, meint sofort jemand, was sagen zu müssen. Bei den Inuit redet einer, und die anderen nicken oder hören zu. Und wenn eine Person in der Gruppe noch nichts gesagt hat, werden alle sie anschauen. Aber nicht sagen: „Was meinst Du dazu“, sondern einfach still warten, und dann wird die Person anfangen zu sprechen, weil man ihr die Gelegenheit dazu gibt.
ERZÄHLERIN
Das ist bei Älteren immer noch so, sagt sie fünfzehn Jahre später. Auch bei politischen Auseinandersetzungen, etwa im Parlament, geht es ganz anders zu als in der kanadischen Hauptstadt.
(5. ZUSP.) ALEXINA KUBLU OVERVOICE WEIBLICH
Wenn im kanadischen Parlament jemand spricht, dann hören manche Leute gar nicht zu oder sie reden untereinander! Im Parlament in Iqaluit redet eine Person und alle anderen hören zu.
On TV you watch the parliament of Canada. There'll be one person talking and there are people around who are not paying attention but talking to each other. Whereas in the legislative assembly in Iqaluit you have the one person talking and everybody is listening.
ERZÄHLERIN
In der jüngeren Generation scheint sich das allerdings zu ändern, hat Alexina Kublu beobachtet. Sie sind lauter.
(6. ZUSP.) ALEXINA KUBLU OVERVOICE WEIBLICH
Wenn Jugendliche mit 12, 13, 14 zusammen sind, achten sie nicht auf die anderen (yap yap yap yap yap).
ERZÄHLERIN
Und das, obwohl die Jugendlichen in diesem Alter selbst in der Schule kaum Englisch sprechen.
(7. ZUSP.) ALEXINA KUBLU OVERVOICE WEIBLICH
Bis zur fünften, sechsten Klasse wird mehr Inuktitut gesprochen, danach immer mehr Englisch; in der High-School dann überwiegend Englisch.
ERZÄHLERIN
Zwar gibt es heute in jedem Ort eine Schule bis zur 12. Klasse – aber viele Jugendliche gehen früher ab und lernen nicht gut Englisch. Sie sind in Krankenhäusern oder Behörden auf Übersetzer angewiesen. Dort arbeiten viele Menschen aus dem Süden, weil immer noch zu wenige Inuit studiert haben.
Die meisten älteren Inuit hingegen sprechen sehr gut Englisch – es sind die Menschen, die bis in die 1960er-Jahre hinein geboren wurden und eine Entwicklung erlebten, die anderswo Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende dauerte.
(8. ZUSP.) ALEXINA KUBLU OVERVOICE WEIBLICH
Mein Bruder zum Beispiel, geboren 1963 in einem „Qarma“, eine Hütte aus Steinen und Grassoden. Jetzt sitzt er im Büro vor dem Computer: von der Steinzeit ins Computerzeitalter.
Musik 4
"BROODING" - ALBUM: BLOOD (ORIGINAL MOTION PICTURE SOUNDTRACK) - KOMPONIST UND AUSFÜHRENDER: DANIEL PEMBERTON - LÄNGE: 0'57
ERZÄHLERIN
Inuit wie die Familie Kublu waren Jäger und Sammler. Manche hatten vielleicht Schusswaffen oder Kochtöpfe aus Metall – statt der althergebrachten „Qullik“, einer Schale aus Stein. Aber sie lebten ansonsten ganz traditionell in kleinen Gruppen an wechselnden Orten, je nach Jahreszeit. Ab Ende der 1950er-Jahr wurden in ersten Siedlungen Grundschulen eingerichtet, Kinder aus den nomadischen Familien wohnten dort zunächst in kleinen Herbergen. Später mussten Familien mit schulpflichtigen Kindern in den Siedlungen leben – so wie die Familie Kublu Mitte der 60er-Jahre mit Alexinas jüngerem Bruder. Sie selbst, geboren 1954, gehörte noch zu den Kindern, die von der kanadischen Schulbehörde schon mit fünf, sechs Jahren in ein Internat gebracht wurden.
MUSIK 5
"Duos of the past"- Komponist: Peter Scherer - Album: Passare - Länge: 0'39
ERZÄHLERIN
Die Kinder wurden in eine völlig fremde Welt katapultiert. Die Unterrichts-sprache: Englisch, das sie nicht konnten. Die Schulbücher aus dem Süden: mit Bildern von Kleinfamilien in hübschen Städtchen, von Schulbussen, Autos, Bäumen, Getreidefeldern. Nichts davon kannten die Kinder aus ihrer Realität. Unter diesen verstörenden Umständen zu lernen, zu leben war ein Kraftakt. Noch dazu: Ohne Kontakt zur Familie, außer für zwei Monate im Sommer.
(9. ZUSP.) ALEXINA KUBLU OVERVOICE WEIBLICH
Das war, als wäre man bei der Lieblingstante, dem Lieblingsonkel. Eine liebevolle Beziehung, aber nicht die Nähe, wie sie Eltern und Kinder vor der Schule hatten. Während des Sommers fanden wir zwar zurück zu einem normalen Familienleben, aber dann mussten wir wieder weg.
ERZÄHLERIN
In einigen Schulen durften die Kinder selbst außerhalb des Unterrichts nur Englisch sprechen. Kleinere Kinder verlernten ihre Muttersprache und konnten sich kaum noch mit den Eltern verständigen – zumal manche nicht mal in den Sommerferien heim gebracht wurden. Manche erlebten Gewalt und sexuelle Übergriffe. Aber selbst ohne solche Erfahrungen, allein durch die Entfremdung während der Schulzeit, entstand ein generationen-übergreifendes Trauma: In Nunavut gibt es Eltern, und inzwischen Großeltern, die in ihrer Kindheit und frühen Jugend kaum erfahren haben, was es heißt, in einer Familie zu leben.
ERZÄHLERIN
Die erschreckend hohe Suizidrate und der verbreitete Alkoholismus werden mit diesem Trauma in Verbindung gebracht. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts gibt es viele Bemühungen, dies alles aufzuarbeiten, zu bewältigen. Und die kanadische Regierung hat sich offiziell für die frühere Schulpolitik entschuldigt.
Von einem Leben als Jäger und Sammler ins 20. Jahrhundert – dieser extreme Wandel hat manche Menschen überfordert. Aber gerade in Nunavut versuchen viele, auch junge Menschen, Tradition und Moderne zu verbinden. Dabei hilft ihnen der Kontakt zu Menschen, die zumindest in ihrer Kindheit noch selbst als Jäger und Sammler gelebt haben. Bis heute haben viele Nunavummiut eine enge Beziehung zur Natur – die den meisten Menschen kahl und unwirtlich erscheint.
MUSIK 6
"Katuuti" - Ausführende: Alexis Bowles & Guillaume I. Saladin - Komponist: Alexis Bowles - Abum: Made in Igloolik - Länge: 0'52
SPRECHER
Nunavut liegt westlich von Grönland und erstreckt sich etwa zwischen dem 60. und dem 82. Breitengrad. Abgesehen von einem kleinen Gebiet im äußersten Südwesten, wo ein paar Bäume wachsen, ist es von Tundra bedeckt: Flechten, Moose, Gräser, niedrige Blütenpflanzen und Arktische Weide, die selten höher wird als 15 Zentimeter. Üblicherweise erreichen die Sommertemperaturen gerade mal 12 Grad – immer häufiger gibt es aber Spitzenwerte über 20 Grad. Im Winter wird es minus 30 Grad kalt. In Nunavut leben Robben, Wale, Schneehühner, Eisbären, Polarfüchse und Karibus, die Rentiere Nordamerikas.
Musik 7:
"Unveiled" - Album: Without Sinking - Komponistin und Ausführende: Hildur Gudnadottir - Länge: 0'30
Erzählerin
Im Sommer mit dem Boot, im Winter mit dem Schneemobil oder dem Hundeschlitten unterwegs zu sein, gehört zum Lebensgefühl. Man ist „on the land“. Ein unübersetzbarer Begriff, keinesfalls „auf dem Land“ – was eine Landschaft mit Feldern und Wäldern bezeichnet. Die Tundra ist tatsächlich unberührte Natur, Wildnis.
MUSIK 8
"Katuuti" - Ausführende: Alexis Bowles & Guillaume I. Saladin - Komponist: Alexis Bowles - Abum: Made in Igloolik - Länge: 0'52
ERZÄHLERIN:
Die traditionelle Ernährung der Inuit, die „on the land“ lebten, bestand vor allem aus Meeressäugern und Karibus, im Sommer auch Fisch und einige Pflanzen; sie enthält gesunde Omega-3-Fettsäuren und alle nötigen Vitamine. Wie die Sprache transportiert dieses heute „country food“ genannte Essen Kultur und Werte der Gemeinschaft, weil Jagdbeute traditionell mit Nachbarn und Freunden geteilt wird. Die Jagd ist in Nunavut kein Freizeitvergnügen, sondern einerseits ein Teil der Tradition, andererseits für viele Menschen eine Notwendigkeit, denn die aus dem Süden importierten Lebensmittel sind extrem teuer. Und manchmal ist die Jagd „on the land“ immer noch überlebenswichtig. Alexina Kublu erzählt von einem Erlebnis, wie sie es deutet:
(10. Zusp.) Alexina Kublu OVERVOICE WEIBLICH
Bei einer Bootstour im Sommer wurden wir vom Eis eingeschlossen, etwa eine Woche steckten wir fest. Weil wir nur kurz unterwegs sein wollten, hatten wir nicht genug gekauftes Essen dabei. Dann kam eine Robbe, sie wurde geschossen und ich meinte: Die Robbe hat gesagt: ihr seid in meinen Gewässern, seid mein Volk, euch gebe ich mich. Als wir das Robben¬fleisch nach ein paar Tagen aufgegessen hatten, kam ein Karibu. Es wurde geschossen, wir hatten wieder Fleisch, und ich meinte: Das Karibu hat gesagt, ihr seid in meinem Land, seid mein Volk, euch gebe ich mich.
MUSIK 9
"BROODING" - ALBUM: BLOOD (ORIGINAL MOTION PICTURE SOUNDTRACK) - KOMPONIST UND AUSFÜHRENDER: DANIEL PEMBERTON - LÄNGE: 0'30
ERZÄHLERIN
Eine spirituelle Beziehung zur Natur ist nicht ungewöhnlich unter Inuit. Und sie gilt auch als eine Art zweite Schule: Schon Jugendliche gehen mit auf die Jagd und lernen von den Älteren dabei auch geduldig zu sein, oder Misserfolge auszuhalten. Vor allem lernen sie dabei Respekt vor der Natur. Traditionell wird nur so viel gejagt, wie man wirklich braucht, und das gesamte Tier verwertet.
Inuit-Jäger konnten mit der Vermarktung von Robbenfellen bis Anfang der 80er-Jahre auch etwas Geld verdienen. Bis in Europa und Nordamerika Bilder von der Jagd auf Jungrobben mit ihrem kuschligen Babypelz in den Fernseh¬nachrichten liefen – brutale Szenen, mit viel Blut auf dem Eis. An dieser Jagd für die Pelzindustrie waren Inuit nicht beteiligt – sie jagen traditionell nur erwachsene Tiere, die viel Fleisch liefern. Greenpeace protestierte zwar ausdrücklich nur gegen die industrialisierte Jagd auf Jungrobben. Aber trotzdem wurde in vielen Ländern der Handel mit sämtlichen Robbenpelzen eingestellt. Ausnahmen für traditionelle Jagd indigener Gruppen, wie in der EU, hatten keine große Wirkung. Der Markt brach ein. Und die Robben¬bestände stiegen an. So stark, dass kanadische Fischer um die Kabeljau-Bestände fürchteten. Dennis Patterson, ehemaliger Senator und in den 90er-Jahren einer der Gründer von Nunavut, sieht aber auch Vorteile
(11. Zusp.) Dennis Patterson OVERVOICE MÄNNLICH
Es gibt sie im Überfluss, sie werden gejagt, gegessen, und die großen Sattelrobben sind ideales Futter für Schlittenhunde – die es jetzt wieder vermehrt gibt, meistens wohl für Touristen. Und wir haben eine wachsende „made in Nunavut“-Mode-Branche. Unsere Designer machen weltweit Eindruck, sie entwerfen traditionelle Kleidung mit modernem Flair. Die ist auch praktisch, ich habe selbst einen Seehundfell-Parka, weil er winddicht ist.
ERZÄHLERIN
Wer bei der Jagd erfolgreich sein will, muss sich „on the land“ gut auskennen. Manches traditionelle Wissen ist heute allerdings nicht mehr zuverlässig – weil sich das Klima in der Arktis noch schneller verändert als in den mittleren Breiten. Der Klimawandel eröffnet den Menschen im Hohen Norden aber auch neue ökonomische Perspektiven.
(12. ZUSP.) DENNIS PATTERSON OVERVOICE MÄNNLICH
Durch die Erwärmung im Süden Kanadas ziehen manche Arten im Meer, darunter die Eismeer-Garnelen, in die kühlere Arktis. Die Garnelen-Fischerei ist ein riesiger und wachsender Wirtschaftszweig in Nord-Kanada und Grönland. Und der Fang von Schwarzem Heilbutt, der in China sehr begehrt und sehr teuer ist. Inuit kaufen jetzt Fischkutter; es gibt eine Organisation, die sie für die Fischerei ausbildet – und sie arbeiten sich dann hoch bis auf die Brücke; noch nicht gleich, aber es entwickelt sich. Die Fischerei ist eine Erfolgsgeschichte mit großem Potenzial.
ERZÄHLERIN
Solche Erfolgsgeschichten braucht Nunavut. Denn es steht vor neuen, großen Aufgaben. Am 18. Januar 2024, knapp 25 Jahre nach der Gründung, feierte Nunavut eine Art zweiten Unabhängigkeitstag.
(13. ZUSP.) DENNIS PATTERSON OVERVOICE MÄNNLICH
Von Anfang an war das Problem, dass der Territorial-Regierung die Erträge aus der Erschließung des Landes vorenthalten wurden. Obwohl sie für die Folgen dieser Erschließung zuständig ist, also für Auswirkungen auf das Gesundheits-, Wohnungs- und Sozialwesen oder die Umwelt.
ERZÄHLERIN
Das zu ändern, war der Territorial-Regierung besonders wichtig, seit in den letzten Jahren in Nunavut neue, begehrte Bodenschätze wie Nickel und Blei entdeckt wurden. Wenn eine Firma diese Schätze heben möchte, muss sie dafür Abgaben zahlen – und die fließen zukünftig in den Haushalt von Nunavut. Damit werden wohl endlich die dringend nötigen Investitionen in den Wohnungsbau möglich. Aber die Regierung von Nunavut muss auch Aufgaben übernehmen, die bisher in der Hand der kanadischen Bundesregierung lagen – vor allem die Entwicklung und Verwaltung der Bergbauprojekte. Für diesen Wandel gibt es eine Übergangsfrist von drei Jahren, ab dem 1. April 2024. Bei der Zeremonie zur Unterzeichnung des Abkommens sagte P. J. Akeeaguk, Premier von Nunavut: Wir sind bereit für diese Herausforderungen. Aber er brachte eben auch zum Ausdruck: Die Erträge aus unseren Ressourcen stehen uns zu!
(14. ZUSP.) P. J. AKEEAGUK (ohne OV)
We did it and we're ready. (Inuktitut) It’s our land, our resources in the hands of our people.
ERZÄHLERIN
Die Entscheidungen, die jetzt mit der neuen Unabhängigkeit, der wirtschaft¬lichen Entwicklung, der Bewältigung von Bildungs- und Wohnraumkrise anstehen – sie werden, wie so vieles in Nunavut, anders angegangen als im Rest Kanadas.
SPRECHER
Nunavut hat eine so genannte Konsens-Regierung. Sie verknüpft Prinzipien der parlamentarischen Demokratie mit indigenen Werten, vor allem: so intensiv wie möglich zusammenzuarbeiten und gemeinsam Rechenschaft abzulegen für alle Entscheidungen. Politische Parteien gibt es nicht; jedes der 22 Parlaments-Mitglieder vertritt einen Wahlkreis. Aus ihrer Mitte wählen die Abgeordneten den oder die Premier und sieben Kabinettsmitglieder. In Nunavut spielen außerdem die „Elder“ eine große Rolle, also „Alte“, deren Rat geschätzt wird. Wobei nicht allein ihr Alter in Jahren zählt, sondern vor allem ihr Wissen und ihre Verwurzelung in den Traditionen. Manche „Elder“ arbeiten in Organisationen oder Gremien, die das öffentliche Leben mitgestalten.
ERZÄHLERIN
Eine Chance für Nunavut, aber im Moment vor allem eine große Heraus-forderung ist, dass hier die jüngste Bevölkerung Kanadas lebt. Rund ein Drittel der Nunavummiut sind unter 14 Jahre alt – doppelt so viele wie im übrigen Kanada. Und Teenagermütter sind keine Seltenheit.
(15. ZUSP.) DENNIS PATTERSON OVERVOICE MÄNNLICH
Langsam wird es besser. Bildung wird das ändern, denn je höher der Bildungsstand, desto eher bekommt jemand erst ein Kind, wenn auch der Unterhalt gesichert ist.
MUSIK 10
"BROODING" - ALBUM: BLOOD (ORIGINAL MOTION PICTURE SOUNDTRACK) - KOMPONIST UND AUSFÜHRENDER: DANIEL PEMBERTON - LÄNGE: 0'59
ERZÄHLERIN
Viele Jugendliche leben allerdings in den oft großen Inuit-Familien sehr beengt, was den Lernerfolg nicht fördert. Denn das starke Bevölkerungs¬wachstum geht einher mit einer dramatischen Wohnungsnot. Die übliche Wohnbebauung besteht aus Holz-Fertighäusern – und manchmal leben mehrere Generationen, zehn oder mehr Menschen, in einem Vierzimmer-Haus. Oder, weil wirklich kein Platz mehr ist, sogar in Zelten oder Holzschuppen. Wohnungsbau ist eines der drängendsten Probleme, das die Regierung von Nunavut lösen muss – denn fast alle Häuser gehören der öffentlichen Hand. Häuser zu bauen ist in der Arktis allerdings besonders schwierig: Erstens gibt es dort kein Material für den Hausbau; alles muss per Schiff aus dem Süden herangeschafft werden. Und zweitens ist der Baugrund Permafrost, also Dauerfrostboden. Ein beheiztes Haus würde ihn auftauen – und im Sommer wird er ohnehin weich.
(16. ZUSP.) DENNIS PATTERSON OVERVOICE MÄNNLICH
Häuser müssen auf Stahlstützen stehen. Die Kosten steigen immens – laut der Nunavut-Hausbau-Gesellschaft auf mehr als 900.000 Dollar für eine einfache Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnung.
ERZÄHLERIN
Das sind mehr als 620-tausend Euro. Aber Nunavut braucht nicht nur mehr Häuser für die jetzige Bevölkerung. Sondern auch für Fachleute, die jetzt vor Ort jene Aufgaben übernehmen, die bisher in der kanadischen Hauptstadt Ottawa erledigt wurden. Viele Menschen werden dafür nach Iqaluit kommen müssen. Denn es fehlt an qualifizierten Einheimischen.
(17. ZUSP.) DENNIS PATTERSON OVERVOICE MÄNNLICH
Leider sind vor allem Inuit arbeitslos. Zwar entwickelt sich eine neue Mittelklasse, bei Schul- und Universitäts-Abschlüssen gibt es einen langsamen Fortschritt. Aber das Bildungssystem ist nicht richtig zweisprachig mit Inuktitut und Englisch, und das ist wohl der Grund dafür, dass viele keinen High-School-Abschluss machen oder gar studieren. Deshalb gibt es nicht genug Inuit, die in der Krankenpflege, als Juristen, Ärztinnen, Geologen, im Finanz-Management oder für die Regierung arbeiten können.
MUSIK 11
"Inuugannuk" - Album: Nunarjua Isulinginniani - Komponist: Terry Uyarak & Andrew Morrison - Ausführender: Länge: 1'02
ERZÄHLERIN
Die Jugend ist da – sie braucht eine Chance, sich zu qualifizieren und ihr Land, Nunavut, selbst in die Zukunft zu führen. Auch um diese gewaltigen Aufgaben zu bewältigen, können sich die Nunavummiut auf traditionelle Werte besinnen. Auf einen Begriff, der Mut macht und Zuversicht gibt: Ajuinnata. Er bedeutet: widerstandsfähig zu sein, dabei innovativ und anpassungsfähig. Auf jeden Fall: nicht aufzugeben, auch in schwierigen Situationen. Mit „ajuinnata“ könnte es den Nunavummiut tatsächlich gelingen, Kultur, Traditionen und Werte eines arktischen Jäger- und Sammler-Volkes zu vereinen mit dem Leben im 21. Jahrhundert.
Kiebitze zählten einst zu den häufigsten Wiesenbrütern in Deutschland. Doch ihre Bestände gehen rasant zurück. Vogelschützer wollen jetzt in einem "Kiebitz-Projekt" das Überleben des Wiesenbrüters sichern. Von Werner Bader (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Werner Bader
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Rahel Comtesse, Werner Härtl
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Christina Niegl, Biologin, Landschaftspflegeverband Aichach-Friedberg
Stefan Haas, Landwirt (Mühlhausen)
Jan Skorupa, Biologe, Landesbund für Vogelschutz
Anton Burnhauser, Biologe, Höhere Naturschutzbehörde, Regierung von Schwaben
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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SPRECHER:
Ortstermin im Lechhauser Moos, nördlich von Augsburg. Auf den moorigen Ackerböden bei Mühlhausen, umgeben von Siedlungen, Autobahn, Flughafen, Auwald und Straßen, begeben wir uns Ende Februar auf die Suche nach den ersten Kiebitzen des Jahres. Biologin Christina Niegl weiß, wo sich die Kiebitze bevorzugt niederlassen und steuert einen Acker an. Einen Acker mit dunklem, moorigem Boden und Pfützen.
ZSP 2
„Ich habe heute tatsächlich schon die ersten Kiebitze im Landkreis beobachten können. 56 an der Zahl, und ja, da war dann ein Riesen-Schwarm über mir, und dann haben sie sich an einem bekannten Brutplatz niedergelassen. Um zu rasten, und um Nahrung zu suchen. Man kann jetzt nicht genau sagen, ob das jetzt die Kiebitze sind, die später hier auch brüten werden. Kann auch sein, dass das die Durchzügler sind, weil es einfach noch die Durchzugszeit ist und die sich so ein bisschen sortieren.“ 0‘30‘‘
ATMO Kiebitz
SPRECHERIN:
Viele Kiebitze fliegen bei der Rückkehr aus ihren Überwinterungs-gebieten in Frankreich oder Spanien von hier aus weiter in den Norden. Erst im März treffen die Kiebitze ein, die schon im Vorjahr auf diesem Acker gebrütet haben. Kiebitze sind standorttreu, meist kehren die Zugvögel zu ihren angestammten Brutplätzen zurück. Die hat Christina Niegl auf einer Karte vor sich. Für den Landschaftspflegeverband betreut sie 13 Kiebitz-Brutgebiete, mit insgesamt 2.500 Hektar. Wenn die Kiebitze dann da sind und zu brüten beginnen, kommt viel Arbeit auf sie zu.
Musik 2: 10 Midi
SPRECHER:
Manche Äcker und Wiesen werden jedes Jahr von Kiebitzen als Brutplatz genutzt, manche nur jedes zweite Jahr, sagt die Biologin, je nachdem, was darauf angebaut wird. Wird ein Maisacker im nächsten Jahr zum Getreideacker, dann brüten die Kiebitze nicht darauf, denn in Getreidefeldern finden sie keine Deckung. In diesem Jahr will Landwirt Stefan Haas auf seinem Acker Mais anbauen. Ihm gehört der moorige Acker. Und er kennt die Brutplätze. Denn Landwirt Haas nimmt, wie eine ganze Handvoll Landwirte im Landkreis Aichach-Friedberg, am Wiesenbrüter-Schutzprogramm teil.
ZSP 3 „Der Kiebitz ist halt hier bei uns, hat sich auf meiner Fläche niedergelassen, und brütet hier. Ich find das eine tolle Sache. Die Fläche teilen wir uns, sagen wir mal so. Er kriegt einen Teil, ich krieg einen Teil. Es ist ja nicht so viel, was da jetzt nicht bewirtschaftet werden kann, das ist ja nur eine kleine Prozentzahl. Und von dem her habe ich kein Problem damit.“ 0‘17‘‘
SPRECHERIN:
Und dafür bekommt der Landwirt einen finanziellen Ausgleich. Mitte März jeden Jahres startet das Wiesenbrüter-Projekt. Noch vor dem 20.März, wenn die ersten Kiebitz-Gelege in den Äckern sind, identifiziert Christina Niegl die Standorte der Brutpaare. Dann werden die Gelege mit einer Stange mit Fähnchen markiert, der Landwirt wird die so genannte Linse, 3 Meter breit und bis zu 16 Meter lang, beim Ackern umfahren, damit das Kiebitz-Weibchen bis zu 25 Tage ungestört brüten kann.
Musik 3: Glockenturm – siehe vorn – 1:03 Min
SPRECHER:
Kiebitz-Nester sind offene Gelege mitten im Acker. In eine Bodenmulde legt das Kiebitz-Weibchen in der Regel 4 Eier. Die sind oliv-braun gefärbt, mit schwarzen Punkten gesprenkelt. Also perfekt getarnt. In den dunklen Ackerböden werden die Eier selbst von Fachleuten leicht übersehen. Mit etwas Übung entdeckt man in einem Acker viel eher das brütende Kiebitz-Weibchen auf dem Nest.
SPRECHERIN:
Auch wegen der abstehenden „Federholle“ auf ihrem schwarz-weißen Kopf, die so charakteristisch ist für die etwa taubengroßen Vögel. Bei den Männchen ist die Federholle zur Brutzeit etwas ausgeprägter, etwas länger. Männliche Kiebitze haben eine komplett schwarz gefärbte Brust, während bei Weibchen dort auch weiße Federn eingestreut sind. Das Gefieder der Kiebitze ist ansonsten kontrastreich, mit metallisch glänzender schwarzer Oberseite und weißer Unterseite. Daran kann man Kiebitze gut erkennen. Und an ihrem Ruf. Denn Kiebitze rufen ihren Namen: „Kie-Witt“.
ATMO Kiebitz
Musik 4: Glockenturm – siehe vorn – 49 Sek
SPRECHER:
Zur Balzzeit steigen die Kiebitz-Männchen in die Luft und machen kuriose Flugmanöver, mit denen sie auch ihre Nester verteidigen, sagt Jan Skorupa vom Landesbund für Vogelschutz. Damit machen sie auf sich aufmerksam und signalisieren den Kiebitz-Weibchen, hier hat ein Männchen einen Brutplatz, den es beanspruchen möchte.
ZSP 4 „Die drehen sich teilweise ganz spontan in der Luft und das sieht dann manchmal von außen so aus, als würden sie gezielte Abstürze in den Flug einbauen. Und was auch dabei auffällig ist, ist einmal der Ruf. Die haben auch eine Art von Gesang. Und sie erzeugen dabei mit ihren Flügeln so ein spezielles Geräusch, so eine Art Wummern. Und das ist dann relativ auffällig, wenn die da ihre Pirouetten drehen und ihre spektakulären Flugmanöver vollziehen.“ 0‘35‘‘
SPRECHERIN:
Kiebitz-Paare sind saisonal monogam, aber manchmal brüten sie auch im nächsten Jahr gemeinsam. Bis zu 24 Jahre alt können Kiebitze werden. Ein Kiebitz kann sich aber auch mit mehreren Weibchen paaren und brüten. Zur besseren Verteidigung ihrer Nester brüten Kiebitze gemeinsam in kleineren Kolonien. Und auf offenen Ackerflächen, so können sie herannahende Feinde schneller erkennen und ihr Nest verteidigen. Dennoch werden sehr viele Nester geplündert, die Sterblichkeit ist hoch.
ZSP 5 Skorupa: „Ein Großteil der Gelege, der geht an den Fuchs verloren. Es sind natürlich auch Marder, oder auch Hermeline oder so. Es gibt durchaus auch Gelege-Prädation durch Igel. Wenn der so ein Nest findet, nimmt er das auch gerne mit. Ansonsten ist auch Bedrohung durch die Luft vorhanden. Das wird insbesondere dann für die Küken relevant. Bussarde, mitunter auch Turmfalken, und Rabenkrähen gehen durchaus auch auf die Küken. Wenn sich da eine günstige Gelegenheit bietet.“ 0‘32‘‘
ATMO Kiebitz
SPRECHER:
Nach 21 bis 28 Tagen schlüpfen die Küken, schon ab einem Alter von 35 bis 40 Tagen können sie fliegen. Das Schlüpfen aus dem Ei ist Schwerstarbeit für die Jungvögel, es dauert meist zwei ganze Tage, bis sie sich aus der Eischale befreit haben. Die flauschigen Küken, auch „Pullis“ genannt, sind Nestflüchter und suchen bald selbständig nach Nahrung. Biologe Jan Skorupa:
ZSP 6 Skorupa: „Das heißt aber nicht, dass die Altvögel da keine Rolle mehr spielen, weil die Altvögel durchaus die Küken überwachen und vor Feinden warnen. Und ihnen gleichzeitig Signale geben, wann sie sich vor Feinden ducken und verstecken müssen. Sie hudern, das heißt, dass sie sich wärmend auf die Küken setzen und sie damit vor dem Auskühlen schützen. Weil das Federkleid der jungen Vögel, das isoliert noch nicht so gut und die kühlen vergleichsweise schnell aus. Und außerdem führen die Eltern zu entsprechend geeigneten Futterplätzen.“ 0‘35‘‘
SPRECHERIN:
Und damit beginnt eine aufregende Zeit für die Kiebitz-Familie. Die Jungen brauchen Nahrung, die finden sie auf feuchten Böden, auch in nassen Gräben. Dort gibt es Würmer, Käfer, Insekten. Und jetzt brauchen sie auch Deckung, am besten in einer Wiese. Immer auf der Hut vor Fuchs und Co und Greifvögeln am Himmel. Viele Kiebitz-Junge überleben diese Phase ihres Lebens nicht, manchmal ist auch der gesamte Nachwuchs weg.
SPRECHER:
In solchen Fällen beginnen die Kiebitze ein so genanntes Nachgelege. Bis zu zwei Mal schaffen sie das, wobei die vitalsten Küken diejenigen sind, die beim ersten Gelege geschlüpft sind. Wenn dann ein Küken bis zum Sommer überlebt, ist das schon ein Erfolg, ein Schnitt von 0,8 oder 0,9 flüggen Jungvögeln pro Brutpaar und Jahr ist nötig, sagen die Experten, um den Bestand stabil zu halten. Denn gezählt wird pro Saison, in dem ein Kiebitz-Paar ein Gelege und bis zu 2 Nachgelege anlegen kann.
Musik 5: Start from Innocence
SPRECHERIN:
Und das hat über Jahrhunderte hervorragend geklappt – mehr noch, in der Vergangenheit hatten sich die Kiebitze zu Allerweltsvögeln auch hier in Deutschland entwickelt. Kiebitze gab es in Massen, wer hätte schon darüber nachgedacht, dass Kiebitz-Bestände hierzulande eines Tages massiv einbrechen? Mittlerweile gilt ihre Art in Europa als gefährdet, in Deutschland als stark gefährdet. Wie konnte das passieren? Das fragte sich auch der Biologe Anton Burnhauser. Er betreibt im Donauried seit gut 40 Jahren Wiesenbrüterschutz, im Auftrag der Höheren Naturschutzbehörde, die Regierung von Schwaben, und beschreibt die Situation so:
ZSP 7 Burnhauser: „Mit einem Satz: Es ist ein dramatischer Rückgang. Es ist fast ein Absturz. Und wenn ich jetzt zurückdenke, an die Zeit, wo es noch Flächenstilllegungen in den Agrar-Umweltprogrammen gab, zum Beispiel 2005, da kann ich mich an eine Fläche erinnern, hier im Donauried, ungefähr 25 Hektar, da waren 25 Kiebitz-Paare drauf. Auf dieser Stilllegungsfläche. Also, da waren noch so viele Kiebitze da, wir haben die nicht gezählt, muss ich ganz ehrlich sagen. Und wir sind ein bissl auf dem falschen Fuß erwischt worden, weil es so dramatisch und so schnell ging.“ 0‘37‘‘
SPRECHER:
Vor 20 Jahren also waren Kiebitze auch hier noch massenhaft verbreitet und heute, da sind sie stark gefährdet! Dabei ist das Aislinger Ried an der Donau, unweit der Kühltürme des stillgelegten AKW Gundremmingen, seit Menschengedenken ein „Hotspot“ für Bodenbrüter wie den Kiebitz. In seinem moorigen Kern staut sich das Wasser, es gibt ein dichtes Grabennetz, eine kleinteilige Flur und eine sehr offene Landschaft. All das, was Bodenbrüter wie der Kiebitz brauchen. Verschwunden sind aber die vielen Wiesen, die es hier einmal gab. Und der Fest-Mist aus den Kuhställen. Weil kaum mehr Milchkühe gehalten werden. Festmist ist wichtig, er zieht Würmer, Käfer und Insekten an. Alles Nahrung für Kiebitze, die jetzt fehlt.
ATMO Traktor +
Musik 6 Stealth bells
SPRECHERIN:
Etwa zur Mitte der 1990er Jahre gab es einen Intensivierungsschub in der Landwirtschaft. Immer größere Maschinen fahren seither durch das moorige Ried, feuchte Wiesen wurden und werden zu großflächigen Maisäckern umgepflügt. Plötzlich gibt es Dünger und Pestizide, wo es vorher keine gab. Schädlich, oft tödlich für die Brutnester der Kiebitze und anderer Wiesenbrüter. Der Brachvogel ist bereits aus dem Aislinger Ried verschwunden. Und die Kiebitze? Die tun sich schwer, sagt Anton Burnhauser. Denn eigentlich waren Kiebitze auf Feuchtwiesen spezialisiert, seit es die kaum mehr gibt, weichen sie auf Ackerflächen zum Brüten aus. Damit sei der Kiebitz als eine Art „Kulturfolger“ in Richtung Acker in eine für ihn sehr bedrohliche Situation geraten.
ZSP 8 Burnhauser: „Weil früher, wo Rüben und Mais noch mit der Hand gehackt worden sind, da ist dem Nest natürlich nichts passiert. Heute geht alles maschinell, da kann er nicht mehr leben. Er hat sich auf den Lebensraum spezialisiert. Und wenn durch die Bodenbearbeitung die Gelege alle verschwinden, oder auch die Küken, dann kann er nicht überleben, und das ist sicher ein Grund, warum er so drastisch zurückgegangen ist. 85 Prozent in vierzig Jahren, das ist schon dramatisch! 0‘28‘‘
SPRECHER:
Und sehr beunruhigend für Naturschützer wie Anton Burnhauser. Für ihn war bald klar, dass man den Kiebitz fortan dort schützen muss, wo er jetzt brütet, nämlich auf dem Acker. Also änderten Burnhauser und seine Kollegen ihre Maßnahmen zum Schutz der Wiesenbrüter. Die bisherigen Agrar-Umweltprogramme, die Flächenankäufe, ja, sogar die Umsetzung eines gesamt-ökologischen Gutachtens für das Donauried hatten den dramatischen Rückgang der Wiesenbrüter, insbesondere des Kiebitzes nicht stoppen können.
Musik 7: Infinite – 1:49 Min
SPRECHERIN:
2013 wurde ein „Kiebitz-Soforthilfe-Programm“ gestartet. Zwei Jahre später wurde es erweitert zum Biodiversität- und Artenhilfsprogramm „Wiesenbrüter-Brutplatz-Management Schwaben“. In enger Zusammenarbeit mit den Landwirten. Das alles war Neuland für den Naturschutz. Was könnte den Kiebitzen helfen? Viele Maßnahmen wurden diskutiert, einige ausprobiert, so Kiebitz-Experte Burnhauser. Mittlerweile habe man im Aislinger Ried mit den neuen Methoden einige Erfahrungen gesammelt, die Mut machen.
SPRECHER:
Um den Kiebitzen wieder günstige Bedingungen für ihre Gelege und die Aufzucht ihrer Jungen zu schaffen, hatten sich die Experten auf insgesamt 4 Maßnahmen geeinigt. Drei davon haben sich bewährt, berichtet Anton Burnhauser. Etwa die verspätete Aussaat von Mais, erst ab dem 20.Mai. So bleibt den Kiebitzen genügend Zeit, auf einem bis dahin offenen Acker ihrer erste, vielleicht sogar ihre zweite Brut anzulegen. Denn bis dahin wächst kaum etwas auf dem Acker, das Kiebitz-Nest mit den Eiern liegt offen da. So können es die Brutvögel besser gegen Feinde verteidigen.
SPRECHERIN:
Eine weitere Maßnahme: Nasse Mulden zwischen Maisäckern und Wiesen werden ab Mitte März bis Ende Juni nicht bewirtschaftet. Denn sobald die Jungen auf dem Maisacker aus ihren Eiern geschlüpft sind, führen die Kiebitz-Paare sie dort zusammen. Auch dadurch können sie Feinde wirkungsvoll abwehren und gleichzeitig Nahrung am Gewässer finden.
ZSP 9 : Burnhauser: „Solche eher feuchten Wiesen sind für den Kiebitz ganz wichtig. Weil hier Regenwurmnahrung da ist und dann auch Insekten. Aber rechts grenzt der Acker an. Und in der Furche, die wird immer wieder ein bisschen ausgeackert auch, das steht ganz schnell das Wasser. Und das ist entscheidend. Das sind jetzt 300 Meter, wo der Kiebitz eine Futterquelle hat. Und das sind so kleine Elemente in der Landschaft, die man gern übersieht. Aber für den Kiebitz sind sie entscheidend.“ 0‘29‘‘
SPRECHER:
Vor allem vielfältige Strukturen in der Landschaft helfen den Kiebitzen weiter. Und hier müssen Landwirte umdenken, die im Herbst Bewuchs auf dem Acker lassen und diesen dann zur Düngung einpflügen, also mulchen. Solche Flächen sind in der Regel ungeeignet für brütende Kiebitze. Dicht wie ein Sportrasen, ohne Struktur. Mit geringem Aufwand aber ließe sich auf ihnen ein regelrechtes „Bett“ für die Kiebitze bereiten.
ZSP 10 : Burnhauser: „Wenn man das jetzt zubereitet. Also ein Landwirt, der das versteht, dass der das klein macht, zum Beispiel mit der Sternwalze. Auf der gleichen Fläche drei Mal herumfährt, und ein paar Kurven rein macht, das ein Landwirt nie freiwillig machen würde, dann hätte er für den Kiebitz ein „Bett“ bereitet. Weil dann geht der nämlich rein. Da hat er nämlich Beides: ein Muster und er hat Deckung und Übersicht.“ 0‘27‘‘
SPRECHERIN:
Gute und unkomplizierte Zusammenarbeit mit den Landwirten vor Ort sei entscheidend für den Erfolg beim Schutz der Kiebitze, sagt Anton Burnhauser. Die Verträge mit ihnen hat er selbst entworfen. Sie sind knapp und präzise gehalten, die Landwirte verpflichten sich für Maßnahmen in einem begrenzten Zeitraum innerhalb der Saison und werden, so sagt er, „anständig“ dafür bezahlt. Gegenseitiges Vertrauen und Wertschätzung seien wichtig. Viele Landwirte reagierten mittlerweile erfreut, wenn er ihnen berichtet, dass auf einer ihrer Flächen ein schützenswertes Kiebitz-Gelege ist. Sie helfen mit und freuen sich über jeden Bruterfolg.
ATMO Wiese + zwei Kiebitze
SPRECHER:
Und so wurden und werden im Wiesenbrüter-Gebiet Aislinger Ried auch steile Ufer an Bächen und Gräben abgeflacht, damit die Kiebitz-Jungen ungefährdet ans Wasser kommen. Auf einer neu ausgewiesenen Fläche wurde der Lebensraum für den Kiebitz nach und nach optimiert. Dort wurde eine Kies-Abbaufläche rekultiviert, ein kleiner See entstand. Auf den Wiesen wurden Mulden ins Erdreich gegraben, der Humus weitflächig abgeräumt und zum Roh-Boden für den Kiebitz gemacht. Eine Weidehaltung mit Rindern wurde etabliert, jetzt gibt es dort Dung und damit Nahrung für die Kiebitze. Letztendlich führte hier ein Bündel an Maßnahmen zum Erfolg:
ZSP 11 : Burnhauser: „Die Schilfflächen werden so immer Wiesenbrüter-tauglich gemäht, man lässt immer einen kleinen Bereich für Kleinvögel. Aber der Kiebitz mags übersichtlich. Und das ist wunderbar, wenn man hier beobachten kann, wie die Altvögel ihre Jungvögel verteidigen, wenn zum Beispiel die Rohrweihen kommen, oder Milane. Das ist phantastisch. Und wir haben jedes Jahr hier einen deutlichen Bruterfolg. Da kann ich schon sagen, die Sache hat etwas gebracht.“ 0‘27‘‘
Musik 8: Glockenturm – siehe vorne - 33 Sek +
Atmo Dorf
SPRECHERIN:
Schauen wir noch einmal zurück ins Lechhauser Moos zu Christina Niegl. Die Biologin vom Landschaftspflegeverband Aichach-Friedberg, einer der Projektträger im schwäbischen Wiesenbrüter-Brutplatzmanagement, hat inzwischen mit Landwirt Stefan Haas genau besprochen, wo sie demnächst auf seinem Maisacker Brutnester von Kiebitzen erwartet und an welchen Stellen sie diese markieren wird. Etwa 50 Brutpaare zählt sie in einer Saison, also 100 Kiebitze in ihrem Gebiet. Wenn, wie sie hofft, möglichst alle Kiebitze vom Vorjahr an ihre angestammten Brutplätze im Lechhauser Moos zurückkehren.
SPRECHER:
Denn auf dem Zug in den warmen Süden und zurück sind Kiebitze
vielen Gefahren ausgesetzt. Noch immer dürfen sie in einigen Ländern Europas gejagt werden, pro Jahr werden mehr als 100.000 Kiebitze erlegt. Und das, obwohl Kiebitze in ganz Europa als gefährdet gelten und sich die Bestände seit 1980 mehr als halbiert haben! Weltweit steht der Kiebitz auf der Vorwarnliste bedrohter Vogelarten.
SPRECHERIN:
In Deutschland stehen die Kiebitze in manchen Regionen kurz vor dem Aussterben, gerade in Süddeutschland ist ihr Rückgang besonders dramatisch. Und dennoch sind Christina Niegl und Anton Burnhauser optimistisch, dass es in Bayerisch-Schwaben mit den Kiebitz-Beständen bald schon wieder aufwärts gehen könnte. Das aber hänge von einer Reihe von Faktoren ab, und davon, welche Weichen Politik und Gesellschaft jetzt und in naher Zukunft beim Natur- und Artenschutz stellen, sagt Christina Niegl.
ZSP 12 : Niegl: „Flächenfraß, Zerschneidung der Landschaft, wie unsere Agrarpolitik auch weiter sich aufstellt, wie sie die Landwirte fördert. Da sind wir nur ein kleines Rädchen in einem großen Prozess. Man kann nur hoffen, dass da alle in die richtige Richtung gehen und man auch sich überlegt, welche Flächen müssen wir tatsächlich versiegeln, wo müssen wir tatsächlich neue Straßen bauen, das sind alles solche Themen.“ 0‘25‘‘
ATMO ZSP 1 +
Musik 9: Glockenturm – siehe vorn – 1:18 Min
SPRECHER:
Und die Kiebitze? Sie sind eine von vielen Arten in unserem Ökosystem, die seit Jahrzehnten unter großem Druck stehen oder gleich ganz aus unseren Landschaften verschwinden. Schon lange warnen Experten, dass Raubbau an der Natur und das Artensterben letztendlich die Zukunft der Menschheit bedrohen. Zerstörte Lebensgrundlagen wieder herzustellen oder adäquat zu ersetzen, das zeigen die Anstrengungen zum Erhalt der Kiebitze in Schwaben, ist aufwändig und mühsam. Zum Glück haben die Wiesenbrüter mittlerweile Beschützer wie Christina Niegl. Sie zählt den Kiebitz zu ihren Lieblingsvögeln:
ZSP 13 : Niegl: „Vermutlich weil ich ihn seit fünf Jahren übers Brutgeschäft betreue und viele Verhaltensweisen kenne. Und weil er halt ein wunderschön anmutiger Vogel ist. Mit seiner Haartolle, und seinem grün schimmernden Gefieder und seinen paddelförmigen Flügeln ist er einfach ein außergewöhnlicher Vogel bei uns in der Landschaft, den man so selten sieht.“ 0‘22‘
Es waren wenige Tage, die die Weltpolitik verändert haben. In den 1950er Jahren spielen Staaten Afrikas und Asiens international keine Rolle. Um das zu ändern, solidarisieren sich Staaten beider Kontinente. Von Linus Lüring
Credits
Autorin dieser Folge: Linus Lüring
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Birnstiel, Friedrich Schloffer
Technik:
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
PD Dr. Jürgen Dinkel, Historiker an der Universität Leipzig
Dr. Christopher J. Lee, Historiker, war u.a. tätig an der Ludwig-Maximilian-Universität München
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin 1
Der indonesische Präsident Sukarno ist sichtlich ergriffen, als er ans Rednerpult trifft. Er wird in wenigen Augenblicken eine Konferenz eröffnen, die die Welt verändern wird. Manche sagen sogar - revolutionieren wird. Sukarno blickt in einen großen Saal in Bandung, einer Stadt auf der indonesischen Insel Java. Es ist der 18. April 1955.
1 Sukarno (Ohne OV)
This is the first intercontinental conference of coloured peoples – so-called coloured peoples - in the history of mankind!
Sprecherin 1
Dies sei, erklärt Präsident Sukarno feierlich, die erste Konferenz in der Geschichte der Menschheit, in der sogenannte People of Colour sich treffen, erklärt Sukarno. Hinter ihm sind zahlreiche Flaggen aufgereiht - ausschließlich von Staaten aus Afrika und Asien. Vertreten sind zum Beispiel Indien, Japan, Syrien oder auch Äthiopien…
2 Sukarno
It is a new departure in the history of the world that leaders of Asian and African peoples can meet together in their own countries to discuss and deliberate upon matters of common concern.
Overvoice
Es ist ein neuer Aufbruch in der Geschichte der Welt, dass Führer asiatischer und afrikanischer Völker sich in ihren eigenen Ländern treffen können, um über Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse zu diskutieren und zu beraten.
Sprecherin 1
Und was das gemeinsame Interesse ist, das der indonesische Präsident Sukarno hier erwähnt, sind große Ziele. Die Staaten Afrikas und Asiens möchten endlich auf der internationalen Bühne ernst genommen werden. In der Eröffnungsrede redet Indonesiens Präsident dann fast schon beschwörend auf die Gäste ein:
3 Sukarno (Ohne OV)
Let this Conference be a great success!
Sprecherin 1
Dass die Konferenz von Bandung tatsächlich ein riesiger Erfolg werden wird und von manchen sogar mit der französischen Revolution verglichen werden wird, das ahnen Sukarno und die anderen Teilnehmer noch nicht. Aber eines ist von Anfang an in der Stadt zu spüren - nämlich eine riesige Euphorie, erklärt der Historiker Dr. Jürgen Dinkel. Er lehrt an der Uni Leipzig.
4 Dinkel
Die Stimmung kann man vermutlich gar nicht fassen, was da passiert ist. Und das vor allem vor dem Hintergrund, weil sehr viele Personen, die anwesend waren - und das betrifft die Organisatoren, die Teilnehmer und die Beobachter- viele haben damit gerechnet, dass diese Konferenz gar nicht stattfinden wird.
Sprecherin 1
Noch kurz vor dem Konferenzbeginn sollen auch Großbritannien und die USA Depeschen ausgetauscht haben und sich gegenseitig versichert haben, dass Indonesier und ihre Partner es niemals schaffen würden, eine solche Konferenz zu organisieren. Und tatsächlich sind die insgesamt 29 Staaten, die Delegationen nach Bandung senden, sehr unterschiedlich. Manche sind gerade erst unabhängig geworden, andere haben sogar noch bis vor kurzem Krieg gegeneinander geführt, zum Beispiel Pakistan und Indien.
Sprecher 2
Aber alle Staaten eint ein Gefühl - sie sind frustriert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten sie große Hoffnungen in eine neue internationale Ordnung gesetzt. Sie waren daher eigentlich auch glühende Befürworter der Vereinten Nationen, die wenige Jahre vorher gegründet worden waren. Jürgen Dinkel:
5 Dinkel
Also sie wollten eine internationale Plattform, auf der Themen besprochen werden, die alle Menschen betreffen weltweit. Also, da waren sie sehr dafür. Nur dann kam die große Enttäuschung. Sie wurden zu den großen Treffen gar nicht eingeladen. Dass verhindert wurde, dass sie Mitglied wurden.
Sprecherin 1
Kolonialmächte wie Frankreich und Großbritannien dominieren weiterhin zusammen mit den Supermächten USA und der Sowjetunion die Vereinten Nationen und damit die internationale Politik. Sie entscheiden über Grenzziehungen und Machtverteilungen weltweit. Das wollen sich Länder wie Indonesien, Indien oder Ceylon, das heutige Sri Lanka, nicht mehr gefallen lassen. Sie beginnen in Asien und Afrika für eine Zusammenkunft zu werben.
6 Dinkel
Man will ein für alle Mal ein Signal aussenden, dass das koloniale Zeitalter vorbei ist und dass es neue postkoloniale Staaten gibt.
Sprecherin 1
Entscheidendes Kriterium für eine Einladung zur Konferenz ist in erster Linie die geographische Lage in Asien oder Afrika. Offiziell heißt die Tagung auch Asien-Afrika-Konferenz. Bewusst nicht eingeladen wird Südafrika wegen der rassistischen Apartheid-Politik. Arabische Teilnehmer sprechen sich außerdem vehement gegen eine Einladung Israels aus.
Sprecher 2
Als Ort für die Konferenz wird Bandung ausgewählt. Das Städtchen liegt in den Bergen auf der indonesischen Insel Java und ist bekannt für sein mildes Klima. Während der niederländischen Kolonialherrschaft war Bandung zum Erholungsort ausgebaut worden. Es gibt also viele Hotels und ein großes Tagungszentrum. Dazu kommt, dass Bandung im Zweiten Weltkrieg und im indonesischen Unabhängigkeitskrieg im Vergleich zu anderen Städten wenig zerstört worden war.
Sprecherin 1
Im April 1955 ist es dann soweit. Nach Bandung reisen Delegationen aus 23 asiatischen Staaten an. Unter anderem aus der Türkei, dem Libanon, Japan oder Thailand. Außerdem sind sechs Staaten aus Afrika vertreten. Dies hört sich erstmal wenig an. Aber im Jahr 1955 sind große Teile Afrikas noch immer unter kolonialer Herrschaft… Insgesamt repräsentieren die Delegationen, die nach Bandung kommen, 1,5 Milliarden Menschen. Zur Einordnung: Das ist damals über die Hälfte der Weltbevölkerung. Und schon am Anfang versuchen die Organisatoren der Konferenz bewusst zu verdeutlichen, dass dies mehr ist als ein formelles Zusammentreffen von Staatschefs und Diplomaten, analysiert Christopher Lee. Der Historiker forscht seit langem zur Bandung-Konferenz und Unabhängigkeitsbewegungen in Asien und Afrika.
7 Lee
It was not a meeting held in secret. It was not a meeting, you know that was completely behind closed doors. And of course to you also had these well-known leaders, such as Jawaharlal Nehru of India, Sukarno of Indonesia and Gamal Nassar of Egypt. So there was definitely a spectacle aspect, and and there was a hunger among ordinary Indonesians to see these leaders. So there are a lot of famous photographs of these leaders walking on the street and you know crowds showing up to see them.
Overvoice
Das war kein Geheimtreffen, das hinter verschlossenen Türen stattfand. Es waren ja auch diese weltbekannten Führer gekommen, neben Sukarno, waren das auch Nehru aus Indien oder Nasser aus Ägypten war da. Das war ein richtiges Spektakel und die Indonesier waren wahnsinnig interessiert, diese Staatschefs in der eigenen Stadt zu sehen. Deswegen gibt es zahlreiche berühmte Fotos, die diese Persönlichkeiten zeigen, wie sie auf der Straße spazieren und wie sich Menschenmengen versammeln, um sie zu sehen.
Sprecherin 1
Es gibt damals so gut wie keine Sicherheitsvorkehrungen. Dabei geht es nicht bloß darum, Volksnähe zu zeigen. Dahinter steckt eine von den Organisatoren geschickt inszenierte Symbolik, analysiert der Historiker Jürgen Dinkel. Zwischen den Hotels und der Konferenzhalle liegen nur wenige hundert Meter. Und alle Delegationen werden gebeten, diesen kurzen Weg zu Fuß zu gehen.
8 Dinkel
Die Beobachter beschreiben das wie so eine Parade der Nationen. Es gab Freiheitsrufe, manche haben Autogramme geschrieben, Hände wurden geschüttelt. Und damit haben alle Teilnehmer auch noch mal verdeutlicht, dass sie sozusagen aus den unabhängig werdenden Völkern kommen, dass sie mit ihnen in Kontakt stehen. Sondern sind sie von der Straße aus dem Volk als neu entstehende Regierungen in die Konferenzhalle eingezogen und haben dann dort die Interessen ihrer Länder repräsentiert.
Sprecherin 1
Der Tagungsraum ist dabei bewusst ähnlich aufgebaut wie der der Vereinten Nationen. Jede Delegation setzt sich auf Plätze vor der eigenen Nationalflagge. Damit wird gut sichtbar dokumentiert: Wir repräsentieren einen unabhängigen, souveränen Staat. Dabei gibt es allerdings ein Problem. Nämlich für die Vertreter des Sudan. Der Staat ist so jung, dass er 1955 noch keine eigene Flagge hat. Auf Fotos ist die Lösung zu erkennen: Kurzerhand wurde ein weißes Laken genommen und mit schwarzer Farbe “Sudan” darauf geschrieben. Dieses Provisorium stellt alle zufrieden.
Sprecher 2
Eine andere Herausforderung betrifft alle teilnehmenden Staaten. Sie eint zwar das Ziel, auf der Weltbühne eine gewichtigere Stimme zu bekommen. Wie bereits angedeutet, sind die sonstigen Gemeinsamkeiten der Staaten aus Afrika und Asien aber überschaubar. Präsident Sukarno geht darauf in seiner Eröffnungsrede ausführlich ein.
9 Sukarno
Yes, there is diversity among us. Who denies it? Small and great nations are represented here, with people professing almost every religion under the sun, - Buddhism, Islam, Christianity, Confucianism, Hinduism, Jainism, Sikhism, Shintoism, and others. Almost every political faith we encounter here - Democracy, Monarchism, Theocracy, with innumerable variants. And practically every economic doctrine has its representative in this hall - Socialism, Capitalism, Communism, in all their manifold variations and combinations. But what harm is in diversity, when there is unity in desire? This Conference is not to oppose each other, it is a conference of brotherhood.
Overvoice
Ja, wir sind sehr unterschiedlich. Wer könnte das leugnen? Kleine und große Nationen sind hier vertreten, mit Menschen, die fast jede Religion unter der Sonne praktizieren - Buddhismus, Islam, Christentum, Konfuzianismus, Hinduismus, Sikhismus, Shintoismus und andere. Fast jede politische Überzeugung ist hier vertreten - Demokratie, Monarchie, Theokratie, mit unzähligen Varianten. Und praktisch jede wirtschaftliche Doktrin hat ihren Vertreter in diesem Saal - Sozialismus, Kapitalismus, Kommunismus, in all ihren vielfältigen Variationen und Kombinationen. Aber wie kann diese Vielfalt schaden, wenn man sich in den Zielen einig ist? Diese Konferenz ist nicht dazu da, sich gegenseitig zu bekämpfen, sie ist eine Konferenz der Brüderlichkeit.
Sprecherin 1
Zwischen den Konferenzstaaten in Bandung gibt es also durchaus großes Konfliktpotential. Auch wegen unterschiedlicher politischer Ideologien von Ost und West. Dazu versuchten die Großmächte den Konferenzverlauf im eigenen Sinn zu beeinflussen. Sowjetische Vertreter bemühen sich, die antikoloniale Stimmung für sich zu nutzen und den Kommunismus als Gegenentwurf zum Kolonialismus zu präsentieren. Das alarmiert die USA. Auch weil in Bandung mehrere kommunistische Staaten vertreten sind, allen voran die Volksrepublik China, versuchen die USA Gesandte neutraler Staaten unter Druck zu setzen. Es soll um jeden Preis verhindert werden, dass diese kommunistischen Forderungen zustimmen. Auch Großbritannien und Frankreich sind besorgt. Beide Staaten besitzen zu dem Zeitpunkt immer noch zahlreiche Kolonien, vor allem in Afrika. Sie befürchten, dass ihre Einflusszonen weltweit immer kleiner werden. Um das zu verhindern, hatten sie teilweise versucht Gesandte von einer Reise nach Bandung abzubringen.
Sprecher 2
Es gelingt aber überraschend gut, die Konferenz von den Einflüssen externer Staaten abzuschirmen. Auch Konfliktthemen werden bewusst nicht auf die Tagesordnung gesetzt. Stattdessen bleibt die Konferenzagenda bewusst eher allgemein. Man vereinbart, verschiedene große Themenbereiche zu diskutieren. Dazu zählen die kulturelle und die wirtschaftliche Zusammenarbeit, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und auch die Förderung des Weltfriedens. Zu allen Fragen wurden Unterausschüsse gebildet. Um alle mit ins Boot zu holen, gilt dabei das Prinzip: Keine Mehrheitsabstimmungen. Stattdessen mussten alle Beschlüsse und Erklärungen einstimmig verabschiedet werden. Es soll von vornherein vermieden werden, dass die von Sukarno geforderte Konferenz der Brüderlichkeit zu einer Bühne für Streit wird. Eine sehr weitsichtige Maßnahme, wie sich zeigen wird.
Sprecherin 1
Sukarno und den anderen Organisatoren ist gleichzeitig bewusst, dass die versammelten Staaten im internationalen Vergleich kein großes ökonomisches oder militärisches Gewicht haben - eine harmonische Konferenz und vehemente Forderungen allein, das ist ihnen klar, reichen nicht, um ihre Ziele zu erreichen. Wenn man weltweit wahrgenommen und respektiert werden will, braucht es mehr. Die Konferenz von Bandung setzt deshalb für die damalige Zeit völlig neue Maßstäbe in der Öffentlichkeitsarbeit. Denn eines wissen alle Delegationen in Bandung, betont der Historiker Jürgen Dinkel:
10 Dinkel
Die Konferenz wird nur erfolgreich sein, wenn sie es schafft, ihre zentralen politischen Forderungen und Botschaften weltweit zu verbreiten. Es gab eben Abendveranstaltungen, wo man Delegierte und Journalisten gezielt zusammengebracht hat. Vieles, was wir von heutigen internationalen Konferenzen auch kennen.
Sprecherin 1
Im Vorfeld der Konferenz werden auch Kommunikationsstrukturen neu aufgebaut. Zum Beispiel wird damals die erste Faxverbindung Indonesiens eingerichtet. Und Medienvertreter aus der ganzen Welt werden nach Bandung eingeladen. An die 700 von ihnen werden am Ende anreisen. Und das Konzept geht auf. Vor der Konferenz waren in zahlreichen Medien noch Skepsis und Zurückhaltung zu spüren. Jetzt transportieren Reporter ein anderes Bild in die Welt. “Hier entsteht etwas völlig Neues” – das ist der Grundtenor vieler Berichte. Im britischen Guardian wird zum Beispiel die “heitere und enthusiastische Atmosphäre” von Bandung hervorgehoben. Und weiter heißt es in einem Artikel:
Sprecher 2
Die asiatische und wohl auch die asiatisch-afrikanische Einheit wird zu einem bedeutenden politischen Faktor werden.
Sprecherin 1
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung erklärt den Lesern in Deutschland schon kurz nach dem Beginn der Konferenz:
Sprecher 2
„Dem Zeitalter des weißen Imperialismus soll in Bandung der Todesstoß gegeben werden. Niemand zweifelt seit ihrer Einberufung an dem wahrhaft geschichtlichen Rang dieser Konferenz als Zäsur der Zeitalter.”
Sprecherin 1
Die FAZ betont auch, dass zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt, also seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, weder die russische noch die US-amerikanische Großmacht an einer Entscheidung von Weltbedeutung beteiligt seien. Und die Wochenzeitung „Die Zeit“ misst der Bandung-Konferenz eine zukunftsweisende Bedeutung zu:
Sprecher 2
Sie ist erst der Beginn einer langen Entwicklung, die das Bild unserer heutigen Welt gründlich verändern kann.
Sprecherin 1
Auch wegen dieser Berichte wird die Konferenz weltweit mit immer größeren Sympathien wahrgenommen. Es gelingt, die öffentliche Meinung in vielen Staaten für sich zu gewinnen und auch damit Druck auf Regierungen auszuüben. Das Abschlusskommuniqué, das nach sechs Konferenztagen in Bandung am 24. April 1955 verabschiedet wird, beinhaltet dann zwar keine konkreten Entscheidungen oder Vereinbarungen. Die zehn zentralen Prinzipien in dem Dokument sind aber leidenschaftliche Appelle, die sich in ihren Forderungen gegen den Kolonialismus und imperialistische Ziele richten. Dazu zählen die Respektierung der fundamentalen Menschenrechte. Außerdem wird die Achtung der territorialen Integrität und Souveränität aller Staaten betont. Und auch die Nichteinmischung in innere Angelegenheit anderer Länder wird gefordert. Diese eher allgemeinen Formulierungen spiegeln den Verlauf der Konferenz von Bandung wider: Trennendes oder heikle Themen sind ja bewusst ausgeblendet worden.
Sprecher 2
Wirksamer als konkrete Entscheidungen ist daher wahrscheinlich etwas anderes. Allein durch die Tatsache, dass sich so unterschiedliche Staaten in Bandung versammeln konnten - entgegen aller Skepsis - wird ein Signal der Einigkeit und der Stärke in die Welt gesendet. Es hat sich eine Stimmung entwickelt, die nicht durch Beschlüsse oder Deklarationen herbeigeführt werden kann. Diese wird als “Geist von Bandung” beschrieben, der um die Welt geht, wie Christopher Lee erklärt. Der Historiker hat unter anderem an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität geforscht.
11 Lee
One of the things that came Out of the conference that was recognized at the time but also lasted really for decades. And people still talk about it in different ways is the Bandung spirit and what is meant by the Bandung spirit, is this idea of solidarity among developing countries among countries in Africa and Asia among essentially countries in what today we refer to as the Global South. And so the Bandung spirit is very much a, you know, a positive spirit. It's about political imagination and imagining a different world.
Overvoice
Eines der Ergebnisse der Konferenz ist der sogenannte “Geist von Bandung”. Bis heute wird in verschiedenen Kontexten darüber gesprochen. Dieser “Geist von Bandung” steht für die Solidarität zwischen den Entwicklungsländern, insbesondere zwischen Ländern in Afrika und Asien – also im Wesentlichen zwischen den Staaten, die wir heute als den Globalen Süden bezeichnen. Er verkörpert eine positive Grundstimmung, eine politische Vorstellungskraft und die Vision einer anderen Welt.
Sprecherin 1
Nach dem Ende der Konferenz sind sich Teilnehmer wie Beobachter zum übergroßen Teil einig, dass sich diese Forderung des indonesischen Präsidenten Sukarno bewahrheitet hat.
3 Sukarno
Let this Conference be a great success!
Sprecherin 1
Wie groß der Erfolg der Konferenz von Bandung war, zeigt sich in den Jahren danach, analysiert Jürgen Dinkel. Er hat intensiv untersucht, welche Folgen die sechs Tage von Bandung hatten.
12 Dinkel
Danach ist die Legitimation von kolonialer Herrschaft tiefgreifend erschüttert und die teilnehmenden Staaten werden dann in den nächsten Jahren in die Vereinten Nationen aufgenommen. 1960 und in den folgenden Jahren werden große Teile Afrikas unabhängig. Also ihr zentrales Ziel erreichen die Organisatoren und diese Staaten sind eben plötzlich auch auf der weltpolitischen Bühne.
Sprecherin 1
Den Teilnehmerstaaten von Bandung ist es gelungen, ihre Bedeutung weltweit sichtbar zu machen. Das zeigt sich auch an der Reaktion der Supermächte USA und Sowjetunion. Diese verändern ihre Strategie jetzt grundlegend…
13 Dinkel
Bis dahin rechnet man diesen Staaten kein großes politisches Gewicht zu. Nach Bandung wird klar, den Kalten Krieg kann man nur gewinnen, wenn man diese Staaten auf seiner Seite hat oder wenn sie sich zumindest neutral verhalten. Aber sie sollen auf keinen Fall zum Gegner überlaufen. Dadurch gewinnen diese Staaten auch an Gewicht.
Sprecherin 1
Und noch eine Folge hat die Konferenz von Bandung. Und da wird Jürgen Dinkel etwas nachdenklicher.
14 Dinkel
Also man kann vielleicht tatsächlich wenig Negatives über die Bandung-Konferenz sagen, aber man darf sie auch, glaube ich, nicht zu sehr glorifizieren. Es war keine Konferenz, die sich für Demokratie oder demokratische Regierungsformen ausgesprochen hat.
Sprecherin 1
Die Konferenz von Bandung ist nämlich keine Konferenz, die sich für die Demokratie einsetzt. Das Wort kommt im Abschlusskommuniqué kein einziges Mal vor. Aus gutem Grund: Viele der Staatschefs, die nach Bandung gekommen sind, waren kurz vorher noch Anführer von Unabhängigkeitsbewegungen, sie sind zwar angesehen. Aber demokratisch gewählt wurden sie nicht. Der ägyptische Staatspräsident Nasser zum Beispiel ist erst seit wenigen Jahren an der Macht und gilt in seiner Heimat als umstritten. Bandung wird für ihn zum Wendepunkt.
15 Dinkel
Nasser nimmt eine wichtige Rolle in Bandung ein und davon profitiert er dann auch zuhause, also er wird dann auch in Ägypten akzeptiert als der rechtmäßige Präsident Ägyptens. Eben auch weil er zeigen kann, dass er international in dieser Rolle anerkannt ist.
Sprecherin 1
Das, was Nasser und andere in Bandung erleben, ist ein Mechanismus, der in den kommenden Jahrzehnten immer wieder wirkt. Herrschaft wird dabei nicht durch demokratische Wahlen im Land legitimiert, sondern stattdessen auf der internationalen Ebene. Das ist ein entscheidender Faktor, wenn sich neue Staatschefs an die Macht putschen.
16 Dinkel
Und das zeigt sich in Bandung auch schon sehr stark für die Regierungsoberhäupter, dass sie da sich gegenüber der eigenen Bevölkerung legitimieren können, wenn sie ihnen Bilder zeigen, dass andere Staatschefs sie als Regierungsoberhäupter anerkennen.
Sprecherin 1
Und damit nochmal zurück zum Abschlussdokument der Konferenz von Bandung. Ganz am Ende bekräftigen die Teilnehmerländer, dass es bald eine Folgekonferenz geben soll. Und es gibt in den Jahren danach immer wieder Überlegungen, eine neue Konferenz asiatischer und afrikanischer Staaten einzuberufen. Zum Beispiel in Algerien. Doch alle Versuche scheitern. Das hat auch mit dem Erfolg der Konferenz von Bandung zu tun, nämlich, dass Kolonialismus nicht mehr als legitim galt und zahlreiche Staaten neues internationales Gewicht bekommen haben.
17 Dinkel
Das Hauptziel wurde erreicht und damit ist das Element, was Zusammenhalt gestiftet hat, verloren gegangen.
Sprecherin 1
Konflikte unter den Teilnehmern von Bandung brechen jetzt stärker auf, etwa weil manche Staaten sich den USA zuwenden, andere dagegen dem kommunistischen Lager unter sowjetischer Führung beitreten. Aber der Geist von Bandung lebt weiter.
Sprecher 2
Es entsteht in den 1960er Jahren zum Beispiel die Bewegung bündnisfreier Staaten, die versucht, im Kalten Krieg einen Weg jenseits von Ost und West zu gehen. Zusammenschlüsse wie diese gehen nicht direkt auf die Konferenz von Bandung zurück. Aber sie berufen sich auf den gleichen Gedanken - und der ist bis heute gültig. Nämlich die Erkenntnis, dass kleinere Staaten oder Länder mit wenig ökonomischer oder militärischer Macht mehr internationalen Einfluss entwickeln können, wenn sie sich verbünden und mit einer Stimme sprechen.
Die einen lehnen das Kreuz als Symbol einer blutigen Sühnopfertheologie ab, andere schätzen das Kruzifix als Zeichen der Solidarität mit den Elenden und Verfolgten, als Trost für leidende und sterbende Menschen. Von Christian Feldmann (BR 2014)
Credits
Autor dieser Folge: Christian Feldmann
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner, Rainer Bock, Stefan Wilkening
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartnerin dieser Folge:
Claudia Janssen (Dr.; Professorin; Hannoveraner Studienzentrum für Genderfragen der Evangelischen Kirche Deutschlands)
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Der bairische Dialektraum gilt als das größte zusammenhängende Dialektgebiet Mitteleuropas. Denn zu ihm zählen nicht nur Ober- und Niederbayern, sondern neben dem Großteil Österreichs auch noch Südtirol und sogar Teile des eigentlich italienischsprachigen Trentino. Dennoch gilt Bairisch als aussterbende Sprache. Von Markus Mähner (BR 2022)
Credits:
Autor dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Rainer Schaller
Es sprach: Ruth Geiersberger
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Das persische Neujahrsfest am 21. März markiert den Beginn des Frühlings. Als Symbol für das Ende des Winters entzünden nicht nur im Iran, in Afghanistan und Tadschikistan die Menschen Feuer. Es wird gesungen, getanzt, gegessen. Von Claudia Steiner
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Berenike Beschle, Thomas Lettow
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Musa Celik und Ergün Erdogan von der Alevitischen Gemeinde München
Behrooz Shojaeian vom Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Philipps-Universität Marburg
Ali Ertan Toprak von der Kurdischen Gemeinde Deutschland
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Literatur:
Michael Stausberg, ZARATHUSTRA UND SEINE RELIGION, C.H. Beck
Firdosi's Königsbuch (Schahname) / übers. von Friedrich Rückert. Aus dem Nachlaß hrsg. von E. A. Bayer Sage I - XIII Firdausī Berlin, 1890
Jakob Eduard Polat, Persien: das Land und seine Bewohner; ethnographische Schilderungen, Teil 1 HIER geht es zur Website
Linktipps:
Newroz und seine Bedeutung HIER
Nouruz: Wie und wo das Neujahrsfest gefeiert wird HIER
Nouruz, Nevruz, Newroz, Novruz: Musik zum Frühlingsanfang HIER
Internationaler Nouruz-Tag HIER
UN-Resolution zum internationalen Nouruz-Tag HIER
Kurdische Gemeinde Deutschland HIER
Alevitische Gemeinde Deutschland HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 Zsp. Nouruz
Es war auch viel Schnee da. Ich kann mich so erinnern, dass man wirklich, die Wasserquelle gerade noch gesehen hat, außen rum alles voller Schnee. Und genau an der Wasserquelle hat man dann die Kerzen gesehen. Die Tiere sind dann auch an dem Tag zum ersten Mal raus ans Wasser, wirklich aus der Scheune raus, (…) weil wir hatten wirklich teilweise eineinhalb Meter Schnee, in schlimmsten Zeiten sogar zwei Meter Schnee, sodass man die Häuser gar nicht mehr gesehen hat. Der 21. März war quasi der Tag, wo der Umbruch da war, Richtung Erwecken von der Natur, es kamen langsam immer mehr Flecken von der Erde raus unter der Schneemasse.
Musik 2
"Prelude" - Komponist und Ausführender: Max Richter - Album: Testament of Youth (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'5
SPRECHERIN
Musa Celik von der Alevitischen Gemeinde München sitzt im großen Gemeindezentrum und erinnert sich an früher. Seine Kindheit hat er in Anatolien verbracht und dort Newroz-Feiern erlebt.
Musik 3
"Prelude" - Komponist und Ausführender: Max Richter - Album: Testament of Youth (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'13
SPRECHER
Aus astronomischer Sicht ist am 20. März Frühlingsanfang. Auf der Nordhalbkugel steht dann die Sonne senkrecht über dem Äquator. Tag und Nacht sind gleich lang.
Musik 4
"Maqam By Ney" - Album: Hey Gol (Kurdish Music) - Ausführende: Jalil Andalibi & Behrouz Tavakkoli - Länge: 1'32
SPRECHERIN
In Ländern wie dem Iran, Irak, Syrien, der Türkei, Afghanistan oder auch Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan oder anderen Ländern beginnen die Feierlichkeiten zum Frühlingsfest am 20. oder 21. März. In der Türkei heißt das Fest Newroz, im Iran Nouruz. Übersetzt bedeutet der Begriff „neuer Tag“. Seit 2010 ist Nouruz auf Beschluss der 64. Generalversammlung der Vereinten Nationen als internationaler Nouruz-Tag anerkannt. Zudem wurde der Feiertag in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. In der UN-Resolution 64/253 heißt es:
Zitator
„…dass der Nouruz, der Tag der Frühlingstagundnachtgleiche, von mehr als 300 Millionen Menschen in der ganzen Welt als Beginn des neuen Jahres begangen und im Balkan, im Kaukasus, im Nahen Osten, im Schwarzmeerbecken, in Zentralasien und in anderen Regionen seit über 3.000 Jahren gefeiert wird.“
SPRECHERIN
Zudem wurde in der Resolution festgehalten -
Zitator
„… dass der Nouruz auf die Bejahung des Lebens in Eintracht mit der Natur, das Bewusstsein der untrennbaren Verknüpfung zwischen konstruktiver Arbeit und den natürlichen Kreisläufen der Erneuerung und eine fürsorgliche und respektvolle Haltung gegenüber den natürlichen Quellen des Lebens gerichtet ist.“
SPRECHERIN
In einigen Ländern wie Iran, Aserbaidschan und Afghanistan ist Nouruz ein offizieller Feiertag.
Musik 5
"Kutahaya Nin Yinarlari (Kutahya)" - Ausführender: Mahmut Sezer - Album: Turkish Folk Music Instrumentals, Vol. 1 - Traditional Turkish Folk Instruments - Komponist: Public Domain - Länge: 0'21
SPRECHERIN
Egal, wo das Fest gefeiert wird, es geht immer um den Frühlingsbeginn – sonst unterscheiden sich die Feierlichkeiten, Traditionen und Rituale je nach Region. Musa Celik erzählt von den Newroz-Festen in seiner Kindheit in einem alevitisch geprägten Dorf in der Türkei.
02 Zsp. Nouruz
Wir haben in den Dörfern keine Gemeindezentren gehabt. Das heißt da, wo der Geistliche sein Haus gehabt hat, entweder ist man zu ihm, oder in der Regel geht man zu einer Pilgerstätte an den Tag und (…) betet dann dementsprechend für die Natur, für die Menschheit. (…) Und im Nachhinein, wenn ich mich so reinversetze: Ich fand das eine tolle Zeit, in der Natur einfach so zu leben, die Religion so auszuüben, wie man es einfach kennt von der Familie.
SPRECHER
Inzwischen feiert Musa Celik Newroz jedes Jahr im Cem-Haus in München, einer Art Gemeindezentrum. Für Aleviten spielt das Licht eine besondere Rolle. Es gilt als göttlich, als Quelle jeglicher Schöpfung und steht symbolisch für die Erkenntnis, die Erhellung des Geistes. Deshalb werden an Newroz Kerzen angezündet – im übertragenen Sinne erwecken die Menschen das Licht als Zeichen des Lebens und bringen es später zwischen Daumen und Zeigefinger wieder zur Ruhe. Érgün Èrdogan von der Alevitischen Gemeinde München.
03 Zsp. Nouruz
Da wir auf der Seite des Lichtes stehen und Licht für uns eine Erlösung darstellt, (…) feiern wir diesen Tag auch besonders in dem Sinne, dass die Natur ein neues Leben beginnt.
SPRECHERIN
Symbolisch werden die länger werdenden Tage im Alevitentum als Sieg des Lichtes über die Dunkelheit gesehen, also als Sieg des Guten über das Böse.
SPRECHER
Alevit bedeutet so viel wie Anhänger von Ali. Nach alevitischer Auffassung wurde der heilige Ali am 21. März, dem Frühlingsanfang und iranischem Neujahr, 598 nach Christus, in Mekka geboren. Aus diesem Grund feiern Aleviten den 21. März als den Geburtstag des Heiligen Ali. Ali war der Vetter des Propheten Mohammed und durch seine Ehe mit Fatima, der Tochter des Propheten, auch dessen Schwiegersohn. Das alevitische Glaubensbekenntnis lautet: „Es gibt keinen Gott außer Gott, Mohammed ist der Gesandte Gottes und Ali ist der Freund Gottes. In der Kurzform heißt das Glaubensbekenntnis „Ya Alláh, ya Mohámmed, ya Ali.“ An Newroz feiert die Glaubensgemeinschaft also nicht nur, dass die Tage wieder länger werden, sondern vor allem auch den Geburtstag von Ali – er verkörpert für sie das göttliche Licht und steht für Gerechtigkeit – symbolisiert durch die Gleichheit von Tag und Nacht. Ali soll mit Weisheit, Mut, Opferbereitschaft und Hilfsbereitschaft gesegnet gewesen sein. Sagt Ergün Erdogan.
04 Zsp. Nouruz
Ali (…) ist Sinnbild für das Göttliche, für Frieden, für das Menschliche, für das Gute und für den Weg, den wir gehen. Was uns hinterlassen worden ist, versuchen wir auf dem Weg mitzunehmen und an den Menschen weiterzugeben, mit Liebe, Menschlichkeit und Zusammenkunft.
SPRECHERIN
Die alevitische Gemeinde in München trifft sich an Newroz im Gemeindezentrum. Die Gläubigen hören die Andacht, es werden Fürbitten gesprochen und Newroz-Gedichte vorgetragen. Viele beschenken auch Verwandte, Freunde und Nachbarn und verteilen im Cem-Haus Speisen – das sogenannte Lokma. Die Speisen werden gesegnet und gemeinsam gegessen. Das kann zum Beispiel Brot oder aber auch Obst sein, erklärt Musa Celik.
05 Zsp. Nouruz
Man kann auch Obst und Gemüse verteilen. Man kann auch einfach sagen okay, ich bringe an den Tag Apfel, Birne oder Orangen oder whatever, was man hat. Je nachdem, was man selber als Gabe geben möchte. (…) Da geht es nicht (darum), was man teilt, sondern dass man es teilt.
Musik 6
"Narmeh Nay Solo" - Album: Kurdish Music: Zamâne - Komponist: Saeed Farajpouri - Ausführender: Aziz Shahrokh - Länge: 0'20
SPRECHERIN
Der Ursprung von Newroz beziehungsweise Nouruz geht weit zurück – es ist ein Fest aus vor-islamischer Zeit. So gibt es zum Beispiel Bezüge zur iranischen Mythologie, erklärt der Iranist Behrooz Shojaeian vom Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Philipps-Universität Marburg
06 Zsp. Nouruz
Ein großes Werk in der persischen Literatur, wo über die iranischen Mythen gesprochen werden und auch der Name Nouruz vorkommt, ist Schahname von Firdausi. (…) Und da kommt auch die Geschichte vor, was wirklich mythische Konnotationen hat. Also es ist jetzt nicht historisch akkurat, aber da ist der König Dschamschid derjenige, der den Tag, wo er auf den Thron sitzt, als den neuen Tag benennt und Nouruz ist tatsächlich auch wortwörtlich übersetzt.
SPRECHERIN
Der Dichter Firdausi starb um das Jahr 1020.
Musik 7
"Narmeh Nay Solo" - Album: Kurdish Music: Zamâne - Komponist: Saeed Farajpouri - Ausführender: Aziz Shahrokh - Länge: 0'30
SPRECHERIN
In Schahname, dem Zehntausende Verse umfassenden sogenannten Königsbuch, heißt es:
Zitator
„Da saß, wie die glänzende Sonn' auf der Luft,
Der Schah, der kein Gebot widerruft.
Juwelen ihm streuend standen sie,
den Tag Neujahrtag nannten sie.
Jahranfang, Hormos des Ferwadin
War's, als die Freude der Welt erschien.
SPRECHERIN
Der König und oberste Priester Dschamschid galt als wichtiger Herrscher, unter dem ein „Goldenes Zeitalter“ begann. Er kommt nicht nur in der persischen Literatur, sondern schon in zoroastrischen Schriften vor. Auch Grundprinzipien des Zoroastrismus, dieser einst im gesamten persischen Reich verbreiteten Religion, finden sich in Nouruz-Traditionen. Behrooz Shojaeian:
07 Zsp. Nouruz
Da wird ganz einfach und schlicht gesagt der Mensch wirklich rationalisiert oder lernt einen rationalen Umgang mit der Natur kennen. Und das ist halt, wofür Djamschid bekannt ist. Und deswegen hat auch Nouruz eine Konnotation, die man verbinden kann mit diesem ganz bekannten Dreieck von Zoroastrismus also von …. (sagt auf Persisch….) , also das heißt: Gutes sagen, Gutes denken und Gutes tun. Und das bezieht sich auch darauf irgendwie, dass man an diesem neuen Tag wirklich versucht, das Ganze noch mal retrospektiv zu sehen. Was man da gemacht hat und dass man da einiges aufheben möchte und jetzt einiges Neues als Mensch machen möchte.
SPRECHER
Der Zoroastrismus gilt als eine der ältesten Religionen. Kleinere Gemeinschaften leben heute vor allem im Iran und in Indien. In Indien sind die Zarathustrier als „Pársi“ bekannt, schreibt Religionswissenschaftler Michael Stausberg in seinem Buch ZARATHUSTRA UND SEINE RELIGION. Die Parsi waren - als arabische Truppen im 6. Jahrhundert nach Persien einfielen - an die indische Westküste gekommen. Im Zoroastrismus soll sich der Mensch der guten Kraft zu- und vom Bösen abwenden. Das Licht beziehungsweise das Feuer symbolisiert das Gute, die Dunkelheit das Böse. Auch die Verbundenheit zur Natur ist eng. Die vier Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser gelten als heilig.
Musik 8
"Tasnif Charuke" - Ausführender: Saeed Farajpouri - Album: Zhuan - Kurdish Music (Promise) - Länge: 0'59
SPRECHERIN
Im Iran, aber auch in anderen Ländern werden noch heute am Vorabend des letzten Mittwochs vor Nouruz große Feuer entzündet. Die Menschen versammeln sich um das Feuer, tanzen und springen über die Flammen – ein Symbol für Reinigung und einen geglückten Start ins neue Jahr. Traditionell sagen die Menschen im Iran dann: Meine Blässe für dich, deine Röte für mich. Soll heißen: Krankheiten sollen überwunden und Gesundheit erlangt werden. Das Feuer spielt auch bei kurdischen Newroz-Feiern eine wichtige Rolle, sagt Ali Értan Tóprak von der Kurdischen Gemeinde Deutschland.
08 Zsp. Nouruz
Das ist ein Symbol für Hoffnung, Freiheit, Licht, Erneuerung, Neuanfang – also ohne ein Feuer, Großfeuer gibt es keine Newroz-Feier bei den Kurden, und dann springen sie über dieses Feuer, und das soll auch Glück bringen.
SPRECHERIN
Auf den Basaren und in den Geschäften herrscht vor und während Nouruz Hochbetrieb. Traditionell ziehen die Menschen ihre besten Festtagskleider an, bunt bestickt und verziert. In dem 1865 von Jakob Eduard Polak, einem österreichischen Arzt und Ethnographen, erschienenen Buch über Persien heißt es:
Zitator
„Wer es irgend zu erschwingen vermag, besonders aber jede Frau, legt am Nouruz ein neues Gewand an. Die Fabrikation und der Verkauf von Stoffen gehen daher um diese Zeit am stärksten, und manches Haupt einer zahlreichen Familie muss alle Mittel aufbieten, selbst Schulden machen, um dem unumgänglichen Bedarf zu genügen.“
SPRECHERIN
Noch heute herrscht rund um Nouruz auch auf den Lebensmittelmärkten und Supermärkten Hochbetrieb, denn natürlich wird bei den 13 Tage dauernden Feierlichkeiten ausgiebig gegessen. Das letzte Gericht vor dem neuen Jahr ist im Iran zum Beispiel traditionell grün: Bei vielen Familien wird dann Sabzi Polo serviert — ein Reisgericht mit Fisch, dem Reis werden gehackte Kräuter zugefügt, weshalb dieser grün ist. Traditionell wird auch eine Mischung aus getrockneten Früchten und Nüssen gereicht – die Menschen glauben, dass persönliche Probleme verschwinden, wenn sie sich dies beim Knabbern wünschen. Eine besonders wichtige Nouruz-Tradition ist eine spezielle Tischdekoration, die in der Regel für 13 Tage im Haus stehen bleibt, so der Iranist Behrooz Shojaeian:
10 Zsp. Nouruz
Ja, und dann gibt es diese Nouruz-Zeit an sich, wo man immer versucht, Haft-Sin zu haben. Haft-Sin, man kann es zum Beispiel auf dem Tisch oder auf dem Boden … Persisch, so heißt so eine Decke, unterschiedliche Gegenstände tun. Und Haft-Sin heißt wortwörtlich übersetzt sieben S. Und das sind sieben Elemente, die mit dem Buchstaben S anfangen.
Musik 9
"Narmeh Nay Solo" - Album: Kurdish Music: Zamâne - Komponist: Saeed Farajpouri - Ausführender: Aziz Shahrokh - Länge: 0'51
SPRECHERIN /SPRECHER
Dazu gehören
Sabzeh – Weizensprossen in einer Schale – sie symbolisieren das neue Leben.
Samanu – Ein Pudding aus Weizenkeimen – das süße Gericht steht für Wohlstand.
Senjed - Getrocknete Mehlbeeren des Ölweiden Baums, die Liebe und Zuneigung symbolisieren. Andere interpretieren die Beeren als Keim des Lebens.
Seer - Knoblauch, als Zeichen von Gesundheit.
Seeb - Äpfel, sie stellen die Schönheit dar.
Somāq – Das orientalische Gewürz, das aus der roten Steinfrucht des Färberbaums gewonnen wird, ist ein Symbol für Hoffnung, Freude und Licht.
Serkeh – Essig. Weil es ein langwieriger Prozess ist, ihn herzustellen, ist Essig ein Zeichen für Geduld.
SPRECHERIN
Oft stehen noch andere Gegenstände auf den prächtig dekorierten Haft-Sin-Tischen wie Blumen, Kerzen, Münzen und ähnlich wie bei uns an Ostern, gefärbte Hühnereier. Auch ein Glas mit einem Goldfisch ist manchmal zu sehen – die Tiere symbolisieren das Leben. Diese Tradition ist allerdings inzwischen umstritten, weil die Tiere meist in viel zu kleinen Glasbehältern gehalten werden und tatsächlich meist kein sehr langes Leben haben. Und auch ein Buch liegt auf vielen Tischen: Das kann zum Beispiel der Koran sein oder auch eine Vers-Sammlung des persischen Dichters und Mystikers Heféz. Zu der Tisch-Dekoration gehört oft auch ein Spiegel: Behrooz Shojaeian:
11 Zsp. Nouruz
Spiegel kann auch ein Zeichen sein, um sich wiederzuerkennen oder vielleicht noch mal ein bisschen versuchen, das ganze Leben im letzten Jahr, sich noch einmal anzuschauen.
SPRECHERIN
In Ländern wie Afghanistan bereitet man aus symbolträchtigen Zutaten Haft Méwa zu, eine Art Obstsalat. Dieser besteht aus sieben Zutaten, nämlich getrockneten Rosinen, Aprikosen, Pistazien, Nüssen, Mehlbeeren, Zucker und Rosenwasser. Besondere Speisen und Gaben rund um Nouruz sind eine alte Tradition. In dem historischen Werk von Jakob Eduard Polak heißt es:
Musik 10
"Maqam By Ney" - Album: Hey Gol (Kurdish Music) - Ausführende: Jalil Andalibi & Behrouz Tavakkoli - Länge: 0'46
Zitator
„Kurz vor dem Eintritt des Jahreswechsels wurde ein wohlgestalteter Jüngling, allegorisch das neue Jahr darstellend, an die Thür des königlichen Schlafgemachs postiert. Im Augenblick, wo die Sonne über dem Horizont erschien, trat er unangemeldet ein. Der König fragte ihn: Wer bist du? Woher kommst du? Wohin gehst du? Wie heißt du? Was bringst du? Worauf der Jüngling erwiderte: Ich bin beglückt und gesegnet. Ich bin von Gott zu Dir geschickt. Ich bringe das neue Jahr. Ein anderer brachte eine Schüssel voll Weizen, Bohnen, Linsen, Sesam und Reis. Ferner einen Klumpen Zucker und zwei neu geprägte Münzen.
SPRECHERIN
Heutzutage bestehen die zwei Wochen dauernden Nouruz-Feierlichkeiten aus Familienbesuchen, Geschenken, vielen Süßigkeiten und üppigem Essen mit Verwandten und Freunden. Örtlich gibt es auch Jahrmärkte, Volksfeste und Musikveranstaltungen. Am 13. Tag des neuen Jahres endet das Neujahrsfest mit einem Ausflug und einem Picknick in der Natur. Die gekeimten Sprossen werden dann zu einem Bach gebracht und die Goldfische – sofern sie überlebt haben – in Bäche oder Seen gesetzt.
MUSIK 11
"Tasnif Safar" - Ausführender: Saeed Farajpouri - Album: Zhuan - Kurdish Music (Promise) - Länge: 0'45
SPRECHERIN
Auch für Kurden ist Newroz eine bedeutende Feier – aus mehreren Gründen.
SPRECHER
Kurden gelten als größtes Volk ohne eigenen Staat. Heute leben sie vor allem im Iran, Irak, Syrien und in der Türkei. Gesicherte Zahlen gibt es nicht. Schätzungen gehen von 20 bis 40 Millionen Menschen aus. Zwar gibt es ethnische, sprachliche, religiöse und auch politische Unterschiede, dennoch besteht unter anderem wegen gemeinsamer Bräuche ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl. So feiern Kurden - egal in welchem Land sie leben - am 21. März das Neujahrs- und Frühlingsfest. Ali Ertan Toprak von der Kurdischen Gemeinde Deutschland.
12 Zsp. Nouruz
Sie begrüßen den Frühling, was für Hoffnung und Frieden steht – und Neuanfang steht. Aber für das kurdische Volk ist Newroz vor allem ein Symbol des Widerstandes, dem Wunsch nach Freiheit und dem Kampf gegen Unterdrückung.
SPRECHER
Nach der Gründung der Türkei im Jahr 1923 fand der systematische Aufbau einer neuen Nation statt. Türkisch war die einzige Staatssprache – dies hatte für viele Menschen, auch für Kurden - dramatische Folgen. So durften kurdische Sprachen in der Öffentlichkeit viele Jahre nicht verwendet werden. Auch die Bezeichnung Kurde oder Kurdistan standen unter Strafe, dies galt als Akt gegen die Einheit der Nation. Kurden durften ihren Kindern zum Beispiel lange Zeit offiziell auch keine kurdischen Vornamen geben. ((Der Grund: In vielen kurdischen Namen wie Wélat, Qani oder Xezal kommen die Buchstaben Q, X und W vor – im türkischen Alphabet gibt es diese Buchstaben aber nicht. Viele Kurden mussten daher zumindest auf dem Papier türkische oder arabische Vornamen annehmen. ))
MUSIK 12
"1L" - Komponist: Peter Votava - Album: Equilirium - Ausführender: PRSZR
Länge: 0'54
SPRECHERIN
In der Türkei waren auch Newroz-Feierlichkeiten für viele Jahre verboten. Wenn Kurden dennoch Feuer entzündeten, tanzten, kurdische Lieder sangen und sich auf den Straßen versammelten, schritten immer wieder Sicherheitskräfte ein. In den Jahren 1991 und 1992 wurden während der Newroz-Feierlichkeiten 125 Menschen bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften getötet. Viele Menschen wurden festgenommen. Lange konnten Newroz-Feiern nur im engsten Familienkreis begangen werden. Ali Ertan Toprak besuchte als Kind an Newroz manchmal seine Großmutter und Tanten in der türkischen Hauptstadt Ankara. Er erinnert sich.
13 Zsp. Nouruz
Damals war schwierig für die Kurden im Westen der Türkei Newroz zu feiern, weil die kurdische Identität Sprache war damals rigoros auch verboten in der Türkei, so dass viele Kurden sich im Westen der Türkei nicht getraut haben, offen das zu feiern. Zu Hause, innerhalb der Familie, hat man das natürlich gefeiert. Dann kamen Freunde und Familienmitglieder zusammen, genauso wie wir hier in Deutschland ja auch zu Weihnachten und Ostern zu bestimmten großen Festen, ja auch mit Freunden und Familie zusammenkommen. So haben wir das gefeiert.
SPRECHERIN
Bei Newroz-Feiern wird oft auch die Freilassung kurdischer Gefangener gefordert. Für Kurden und Kurdinnen wurde der Neujahrstag damit zunehmend ein politisches Event. Auch die kurdischen Legenden zu Newroz sind eng mit Themen wie Unterdrückung und Freiheit verbunden. Ali Ertan Toprak:
14 Zsp. Nouruz
Es gibt ja viele Legenden, auch um das Newroz-Fest. Und in der kurdischen Überlieferung ist Newroz eng mit der Legende von Kawa, dem Schmied, verbunden. Das kennt jedes kurdische Kind, und nach dieser Erzählung gab es einen Tyrannen namens Dahak, einen sehr grausamen Tyrannen. (…) Er unterdrückte das Volk und ernährte zwei Schlangen, die aus seinen Schultern herauswuchsen. Und diese Schlangen wurden mit dem Gehirn junger Männer gefüttert sozusagen. Und es gab den Schmied Kawa, der führte dann eine Revolte gegen diesen grausamen Tyrannen an und besiegte Dahak. Um die Befreiung von diesem Tyrannen zu feiern, entzündeten die Menschen auf den Bergen große Feuer. Also das ist die Legende in der kurdischen Erzählung. Die wird allen Kindern erzählt, wo es quasi am Ende der Dunkelheit wieder Hoffnung gibt und Licht, Feuer. Und damit verbinden auch die Kurden Newroz.
SPRECHERIN
Je nach Überlieferung heißt es auch, dass Kawa im Palast des Tyrannen ein Feuer legte, um den unterdrückten Menschen die Botschaft der Freiheit zu übermitteln. Teilweise wird der Namen des Tyrannen auch mit Zóhak angegeben. In der syrischen Stadt Afrin, in der Region leben viele Kurden, stand lange Zeit eine Statue von Kawa, dem Schmied. 2018 wurde die Statue von der türkischen Armee und Islamisten niedergerissen.
MUSIK 13
"Tasnif Safar" - Ausführender: Saeed Farajpouri - Album: Zhuan - Kurdish Music (Promise) - Länge: 0'30
SPRECHERIN
Auch Kurden in Deutschland feiern Newroz im privaten Kreis oder bei großen Zusammenkünften. Ali Ertan Toprak:
15 Zsp. Nouruz
Viele kurdische Vereine veranstalten auch große Musik- und Tanzveranstaltungen, wo die Menschen in Sälen zusammenkommen und einfach den ganzen Tag tanzen, aber auch gleichzeitig draußen Feuer anzünden. Wir als Kurdische Gemeinde Deutschlands und unsere Mitgliedsvereine feiern im ganzen Bundesgebiet in den Vereinsräumlichkeiten. Größere Vereine mieten Säle an, die Kurdische Gemeinde Deutschland feiert das immer in Berlin mit einem Neujahrsempfang, wo wir vor allen Dingen die Politik, Kultur, Medien einladen zu unserem Neujahrsempfang.
MUSIK 14
"Maqam By Ney" - Album: Hey Gol (Kurdish Music) - Ausführende: Jalil Andalibi & Behrouz Tavakkoli - Länge: 0'38
SPRECHERIN
Egal ob im Iran, im Irak, in Syrien, der Türkei, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan oder anderen Ländern. Nouruz ist ein Fest der Hoffnung, des Neuanfangs und des Zusammenhalts. Es ist ein Fest, das die Menschen daran erinnern soll, dass nach langen Wintern der Frühling kommt – und auch nach dunklen Zeiten wieder die Sonne scheinen wird. Es ist eine Botschaft, die Mut machen soll.
Falsche, irreführende und manipulative Kommunikation gibt es nicht erst, seit es das Internet gibt. Schon von Hunderten von Jahren setzten Herrscher Fake News ein - und teilweise war dies den Menschen auch bewusst. Von Claudia Steiner
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Burchard Dabinnus, Katja Amberger
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Daniel Bellingradt, Professor am Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg
Roxane Bicker, Staatliches Museum Ägyptischer Kunst, München
Diego De Brasi, Junior-Professor für Gräzistik, Universität Trier
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Linktipps:
Veni, vidi, falsi nuntii - Fake News in der Antike - Crischan Becher, Markus Hörty
HIER geht es zur Website
Der Physiologus und die Tierkunde der Griechen, Aus dem Buch Christus in natura, Herwig Görgemanns - HIER geht es zur Website
Jüdisches Leben in Bayern - Hostienfrevel HIER geht es zur Website
Fake News im 17. Jahrhundert - HIER geht es zur Webiste
Literatur:
Fake News in Ancient Greece – Edited by Diego De Brasi, Amphilochios Papathomas and Theofanis Tsiampokalos, Der Gruyter, 2025
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Es ist eine der bekanntesten Fake News der Geschichte – ein Großskandal: Juden schänden geweihte Hostien. Sie durchstächen die Hostien mit einem spitzen Werkzeug, so dass sie bluten. Legenden über den angeblichen Hostienfrevel kamen offenbar erstmals im Jahr 1290 in Paris auf. Nach katholischem Glauben ist Jesus Christus in der geweihten Hostie präsent. Deshalb wurden die Juden bezichtigt, die Tötung Christi zu wiederholen, indem sie die Hostien als Leib Christi verletzten. Auch in Röttingen bei Würzburg gingen solch judenfeindliche Verleumdungen um. Davon zeugt sogar ein Ölgemälde, das lange Zeit in der Röttinger Pfarrkirche hing.
MUSIK 2: Retreat – 39 Sek
SPRECHER
Erzählt wurde, dass ein Mesner Juden Hostien verkauft habe. In der Osternacht sollen die Juden dann mit Klingen auf die Hostien eingestochen haben, die daraufhin zu bluten begangen. Entsetzt sollen sie die entweihten Hostien in die Tauber geworfen haben. Das Wasser habe sich blutrot gefärbt. Flussabwärts beim Kloster Schäftersheim seien die Hostien aus dem Wasser gefischt worden. Danach seien feurige Lichter über dem Mesnerhaus und der Synagoge erschienen.
Musik 3: Paul – 1:16 Min
SPRECHERIN
Ausgangspunkt für diesen Vorwurf waren vermeintliche Blutflecken auf den Hostien. In Wirklichkeit kamen die roten Flecken von Bakterien, die einen Farbstoff bildeten. Diese Fake News hatte grausame Folgen: Am 20. April 1298 wurden in einem ersten Massaker die 21 Juden der Stadt Röttingen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Weitere Morde folgten. Im Nürnberger Memorbuch, einem jüdischen Totengedenkbuch sind die Namen von 3.441 ermordeten Jüdinnen und Juden aus mehr als 40 Orten aufgeführt. Diese historische Falschmeldung aus dem 13. Jahrhundert ist Teil eines verschwörungsideologischen, antijudäischen, antisemitischen Weltbildes. Immer wieder wurden und werden Lügen über Juden verbreitet – mit katastrophalen Folgen bis heute.
SPRECHER
Historische Fake News, meist lokal oder regional, Verbreitet wurden die Falschmeldungen mündlich, auf Papyrus, per Brief, Flugschrift oder später in Zeitungen, verbreitet.
Musik 4: Defender – 48 Sek
+ O-Ton-Collage aus Nachrichten, Posts etc.
SPRECHERIN
Der Begriff Fake News kommt aus dem Englischen und bedeutet „gefälschte Nachricht“ oder „Falschnachricht“. Fake News werden heute in den Medien und im Internet, besonders in den Sozialen Medien verbreitet, und zwar in manipulativer Absicht.
Musik aus
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Die Zahl der gefälschten Nachrichten ist heute so groß wie nie zuvor. Inzwischen kann jeder Fake News mit einem Klick in die Welt setzen. Doch das Phänomen der Falschnachrichten gibt es nicht erst, seit es Soziale Medien gibt. Schon vor Jahrhunderten war die Falschnachricht ein Werkzeug, um Anderen zu schaden, gehörte die Lüge auch zum Instrument der Mächtigen. Frühere Herrscher setzten auf Fake News und manipulative Kommunikation – um Niederlagen zu vertuschen, ihre Macht zu festigen oder um Gegner zu diskreditieren. Das waren keine Einzelfälle. Mit einigen davon haben sich Forscherinnen und Forscher intensiv auseinandergesetzt – wir wollen den Blick auf einzelne Schlaglichter in der früheren Zeit werfen:
MUSIK
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Schon im antiken Griechenland gab es das Phänomen der Fake News. Im Jahr 2022 befassten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Trier und Athen auf einer Tagung mit dem Phänomen. So wird zum Beispiel in literarischen Texten und religiösen Erzählungen von unwahren, ausgedachten Nachrichten berichtet. Den Begriff Fake News gab es natürlich noch nicht. Aber einen anderen, sagt der Altphilologe Diego De Brasi. Er ist Junior-Professor für Gräzistik, also Altgriechische Philologie, an der Universität Trier.
O-TON 1
Grundsätzlich wird im Altgriechischen ein Verb, das Verb angello, durch verschiedene Adverbien näher bestimmt, um auszudrücken, dass eine Nachricht falsch ist. Das Verb angello bedeutet in etwa ‚verkünden‘– wir kennen das aus dem deutschen Wort ‚Engel‘, das bedeutet ja, derjenige, der eine Kunde tut, der eine Nachricht bringt. Aber ein Begriff, der nah an dem, was wir als Fake News heute bezeichnen würden, wäre etwa pseudangelia. Wir können darin das Wort angelia erkennen, das mit angello zusammenhängt, also die Nachricht, die Kunde. Und pseudo das bedeutet ‚falsch‘, wie in Pseudonym, ein ‚falscher Name‘. Pseudangelia ist also eine Nachricht, die falsch ist und dementsprechend eine, eventuell könnte man sagen, eine Falschmeldung.
MUSIK 5: Guards oft he Cult – 1:10
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Falschmeldungen, wilde Spekulationen und Gerüchte sind besonders dann im Umlauf, wenn sich Menschen verunsichert und verängstigt fühlen. Zum Beispiel, wenn sich eine Epidemie ausbreitet – das war schon im 5. Jahrhundert vor Christus der Fall. Während des Peloponnesischen Krieges zwischen dem von Athen geführten Attischen Seebund und den Spartanern grassiert eine Seuche in Athen. Sie ist als Attische Seuche oder auch als Pest von Athen bekannt – heute geht man davon aus, dass es Fleckfieber oder die Pocken gewesen sein könnten.
SPRECHER
Die Menschen leiden unter anderem an Fieber, Übelkeit, Durchfall, Bläschen und Geschwüren auf der Haut. Etwa ein Viertel der Bevölkerung Athens stirbt. Die ursprüngliche Quelle der Seuche ist bis heute unklar. Doch damals verbreiten sich schnell Spekulationen und Gerüchte über die Ursachen der Krankheit.
O-TON 2
Ein gutes Beispiel ist die Darstellung der Seuche in Athen im 5. Jahrhundert durch den Historiker Thukydides, wo es tatsächlich präsentiert wird, wie in Athen verschiedene Gerüchte liefen, wie eben zur Seuche gekommen sei und dementsprechend die Schuld durch diese Gerüchte mal auf die Angreifer aus Sparta oder auf die politische Führung, wie zum Beispiel Perikles, geworfen wurden.
SPRECHER
Eines der Gerüchte besagt, dass die Spartaner von der Krankheit angeblich verschont bleiben, die Athener dagegen krank werden und sterben. Viele Menschen glauben deshalb, dass die Spartaner die Krankheit gezielt eingeschleppt hätten, um die Athener Bevölkerung zu schwächen. Denn dass Athen im Peloponnesischen Krieg eine Niederlage erleidet, wird letztlich auch auf die Auswirkungen der Krankheit zurückgeführt.
MUSIK 6: Athenian Fighters – 47 Sek
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Lügen, Gerüchte und Fake News werden in der Antike vor allem mündlich weitergegeben, an Orten, wo sich Menschen treffen, wie bei Bürgerversammlungen, auf öffentlichen Plätzen, beim Friseur, auf dem Markt oder in der Familie. Also an Orten, an denen man sich auch heute noch Ratsch und Tratsch aus der Nachbarschaft erzählt. Auch Briefe und Dokumente spielen eine Rolle. So sind Dokumente auf Papyrus aus dem 2. Jahrhundert nach Christus bekannt, die fälschlicherweise den Tod eines römischen Herrschers verkünden, so der Gräzistik-Professor Diego De Brasi.
O-TON 3
Zum Beispiel in der Kaiserzeit, als dann das Gerücht umging, dass Marc Aurelius schon tot war und über verschiedene, teilweise offizielle Briefe des Militärs sozusagen auch diese Meldung weitergegeben wurde, um dann aber tatsächlich sie zurückziehen zu müssen, als sich herausstellte, dass der Kaiser noch nicht tot war.
Musik 7: Still no result – 1:02 Min +
Musik 8: leaving the junkyard – 39 Sek
SPRECHER
Als sich die falsche Nachricht vom Tod Mark Aurels, wie er im Deutschen genannt wird, verbreitet, lässt sich Avidius Cassius zum römischen Kaiser ausrufen. Doch auch nachdem bekannt wird, dass die Todesnachricht falsch ist und Aurel lebt, hält er an der Proklamation fest. Avidius Cassius schafft es aber nicht, seine Herrschaft zu etablieren. Ein Offizier ermordet ihn im Jahr 175. Der Ursprung der Falschmeldung über Mark Aurels angeblichen Tod ist unklar. Es gibt mehrere Theorien: Möglicherweise setzte Avidius Cassius die Nachricht selbst in die Welt, möglicherweise spielte auch Aurels Gattin Faustina eine Rolle. Sie soll Kontakt zu Avidius aufgenommen und ihm das Angebot gemacht haben, ihn im Falle des Todes ihres Gatten zu heiraten und ihm so zur Macht zu verhelfen.
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500 Jahre zuvor gab es ebenfalls eine Fake News – mit fatalen Folgen. Es handelt sich um eine Todesnachricht von Alexander dem Großen, dem König von Makedonien im Jahr 335 vor Christus.
Musik 9: Labyrinth oft he souls - 1:04 Min
SPRECHER
Der Kontrahent von Alexander dem Großen, der griechische Staatsmann Demosthenes, setzt das Gerücht in die Welt, Alexander sei bei einem Kampf gefallen. Das Land sei ohne Herrscher, die Griechen könnten sich jetzt von der Herrschaft der Makedonen befreien. In der Folge begehren die Menschen in Theben auf. Doch der durchaus lebendige Alexander der Große marschiert daraufhin mit seinem Heer in Theben ein und schlägt den Aufstand nieder. Tausende Menschen werden getötet oder als Sklaven verkauft, große Teile der Stadt zerstört.
MUSIK hoch
SPRECHERIN
Menschen in der Antike ist bereits natürlich bewusst, dass es die Möglichkeit der Täuschung gibt, dass nicht alle Informationen und Gerüchte, die man sich auf dem Markt oder in Versammlungen zuraunt, stimmen.
SPRECHER
Und griechische Philosophen wie Platon weisen auf den Unterschied zwischen dem, was nur scheinbar wahr und dem, was tatsächlich wahr ist, hin. Auch Meinungen und Halb-Wahrheiten tauchen in philosophischen Diskussionen auf. Der Altphilologe De Brasi.
O-TON 4
Die philosophische Diskussion zeigt, dass zumindest bei gebildeten Leuten eine Reflexion darüber, was wahr oder was falsch sein kann, entstand und dass man sich tatsächlich auch Gedanken darüber gemacht hat, wie man eventuell hinter eine Falschmeldung kommen kann. Also (…) wir haben bei Platon manche Passagen, wo es auch auf die verschiedene Art und Weise, wie Redner ihre Worte und ihre Erzählungen legitimieren, eingegangen wird. Zum Beispiel, ob sie jetzt hervorheben, dass das, was in einer Rede gesagt wird, (…) überliefert ist, seit wie lange das überliefert ist, oder wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass der Sprecher momentan etwas sagt, dass er glaubt, es sei wahrscheinlich, und er hofft, dass das Publikum, das ihm zuhört, auch genug Verstand hat, um zu verstehen, dass das, was er präsentiert, nur eine Hypothese ist.
SPRECHERIN
Nur eine Hypothese ist ein Fall aus der Herrschaft des ägyptischen Pharao Ramses II. im Jahr 1274 vor Christus. Die angeblich älteste, bekannte Fake News wird immer wieder in Artikeln und Dokumentationen über historische Falschnachrichten aufgeführt.
Musik 10: Holy War – 43 Sek
SPRECHER
Es geht um den Feldzug der Ägypter gegen die Hethiter. 20.000 Kämpfer marschieren unter dem Kommando des jungen Pharaos. Doch der gerät in einen Hinterhalt. Die Hethiter kesseln das ägyptische Heer am Fluss Orontes ein – das Gebiet liegt heute in Syrien. Es kommt zu einer Schlacht - zur „Schlacht von Kadesch“. Sie soll ein bis zwei Tage gedauert haben - der Pharao entkommt gerade noch so.
SPRECHERIN
In Denkmälern wie dem Tempel von Abu Simbel verewigten die Steinmetze nach seiner Rückkehr diese Schlacht von Kadesch. Doch die Beinahe-Niederlage soll als Sieg verkauft worden sein, heißt es immer wieder. Bis zur heutigen Zeit. Aber Roxane Bicker vom Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst in München hält das für falsch:
O-TON 5
Wir haben im Team in der Tat ((jetzt in der Vorlaufzeit)) relativ viel diskutiert: Gibt es Fake News im Alten Ägypten? Und wir sind zum Schluss gekommen: Nein, es gibt keine Fake News im Alten Ägypten. (…) Der König musste sein Volk nicht irgendwie beeinflussen. (…) Im Alten Ägypten hat das vollkommen anders funktioniert und wir können an die altägyptische Weltsicht nicht mit unserem heutigen rationalen Verstand hinangehen.
SPRECHERIN
Der allmächtige Pharao, der sich als Sohn der Gottheiten verstand, als ihr Bevollmächtigter, Abgesandter und Nachfolger, stand über allen Dingen. Er galt als Herr und Beschützer Ägyptens. Er musste sich also nicht gut verkaufen – und das tat er auch nicht, auch nicht in den Schlacht-Tableaus von Kadesch. Bei genauer Betrachtung sei durchaus zu erkennen, dass die Lage für Ramses II. brenzlig war, sagt Roxane Bicker und zeigt die entsprechenden Szenen auf einer Abbildung.
O-TON 7
Und so sehen wir zum Beispiel das Lager der ägyptischen Soldaten, die ihre Pferde aus den Streitwagen abgespannt haben, die zusammengepackt haben, die dort an ihren Kesseln sitzen und kochen. (…) Aber wenn man ein Stückchen weiter nach rechts guckt, dann sieht man, dass das Lager dort schon aufgebrochen wird und dort die Hethiter in ihren Streitwagen heranrasen, um das Lager zu überfallen. Wir sehen den Wesir, der ist auch so bezeichnet, Tjati, Wesir, der steht direkt daneben, der auf dem Rücken eines Pferdes sitzt. Ohne Zaumzeug. Ohne Sattel. Ohne alles. Man ist in Ägypten nicht geritten, man hat Pferde lediglich vor Streitwagen gespannt. Dass hier der Stellvertreter des Königs, der höchste Beamte, auf dem Rücken eines Pferdes sitzt, um Hilfe zu holen, das ist ein Zeichen aller-allerhöchster Not. Das ist etwas, was man sonst nicht getan hat. Wir haben an verschiedenen Stellen Ramses groß dargestellt, in seinem Streitwagen, wo er sich zurückdreht und seine hohen Beamten, seine Ratgeber schillt und schimpft, anders kann man das nicht nennen.
SPRECHERIN
Die Behauptung, dass die Schlacht von Kadesch durch den Pharao bewusst falsch dargestellt worden sei, ist aus Sicht der Ägyptologin also eine falsche Interpretation. Nicht alles, was berichtet wird, ist wahr – aber auch umgekehrt, nicht alles, was als falsch „entlarvt“ ist, wirklich falsch…
MUSIK 11: The Discovery – 26 Sek
SPRECHERIN
Zeitsprung in die frühe Neuzeit. Damals taucht im deutschsprachigen Raum erstmals den Begriff „Zeitung“ auf. Die Menschen wollen wissen, was in der Welt passiert, welche Neuigkeiten es gibt, sagt der Historiker, Professor Daniel Bellingradt. Er lehrt am Institut für Europäische Kulturgeschichte an der Universität Augsburg.
O-Ton 8
Diese Nachrichtenströme in Europa, die sich da entwickeln, die kommen so ab dem 14. Jahrhundert, gibt es mehr Briefe, die wir nachweisen können, in denen Neuigkeiten geteilt werden. Und diese Neuigkeiten sind nicht nach dem Kriterium wahr oder falsch, sondern nur nach Aktualität: wie neu ist das, was du mir da berichtest. (…) Und man nimmt erst mal die neue Information an, und die bewertet dann vielleicht nachher, ob die richtig oder falsch ist für sich selbst. Meistens kann man es gar nicht verifizieren, ob das stimmt oder nicht stimmt.
SPRECHER
Der Buchdruck ist noch relativ neu. Zu Beginn des Nachrichtenwesens kursieren deshalb handschriftliche Zeitungen, sogenannte Aviso-Briefe mit Informationen von Nachrichtenschreibern aus Italien. Die Schreiber sammeln Informationen und verschicken diese per Boten und Postreiter an reiche Kunden. Was in Italien "avvisi" heißt, wird im deutschsprachigen Raum "Zeitung" genannt. Die ersten "geschriebenen Zeitungen" im deutschen Raum abonnieren die Fugger - die sogenannten Fuggerzeitungen. Die Informationen kommen von Diplomaten, Kaufleuten und Reisenden. Es sind Briefwechsel mit Berichten und Meldungen über politische Entwicklungen und Kriege.
O-TON 9
Und da lassen die sich extra alles berichten, was es an Neuigkeiten gibt. Aviso heißt auch nichts anderes als ein Bericht, eine Neuigkeit. Die wollen extra Gerüchte haben, (…) die wollen die Fake News mit dabei haben, die sagen: Schick uns alles, was du in Neuigkeiten kennst.
SPRECHERIN
Die klare Unterscheidung zwischen wahren und falschen Nachrichten beginnt erst mit den gedruckten Zeitungen ab dem Jahr 1605.
Musik 12: The shed not to be used – 22 Sek
SPRECHER
1618 beginnt der Krieg, der später als Dreißigjähriger Krieg bekannt wird. Es geht um die Führungsrolle im Heiligen Römischen Reich und in Europa. In dieser Zeit werden Nachrichten zur Ware. Daniel Bellingradt:
O-TON 10
Und hier kommt jetzt Kritik mit rein. Hier auf einmal merkt man, dass man in Kriegssituationen vielleicht auch verlässliche Informationen, wahre Informationen vielleicht doch mehr brauchen könnte als falsche. Und hier entwickelt sich auch so eine Medienkritik zum ersten Mal unter Kriegsbedingungen. Diese Geburt der Zeitungen, diese Geburt der Neuigkeiten, das ist eine Geburt der Gegenwartsbeobachtung eigentlich.
SPRECHERIN
Nachrichtenschreiber geben nun auch offen zu, dass ihre Zeitung auch Errata, also Fehler, enthalten können, sagt Bellingradt.
O-TON 11
Die sagen von Anfang an: Ich an meinem Korrespondenzort in Straßburg, kann gar nicht entscheiden, ob die Nachricht aus der Toskana, ob die Nachricht aus (…) Konstantinopel, ob die richtig ist. Ich melde die aber. Wenn ich dann in der nächsten Woche eine Korrektur bekomme oder einen anderen Informationsstand habe, dann schreibe ich das rein.
Musik 13: Blood on the stairs – 53 Sek
SPRECHERIN
Das ist auch eine Art Selbstschutz, denn die Nachrichtenschreiber brauchen ein Privileg, eine Art Lizenz ihres Regionalfürsten oder Königs. Und dieser hat die Möglichkeit, die Erlaubnis zur Veröffentlichung von Zeitungen zu entziehen, wenn diese aus seiner Sicht zu viele Fake News beinhaltet. Im Jahr 1623 heißt es zum Beispiel in einer Zeitung, es gebe – so wörtlich – „seltsame Zeitungen“ aus England – soll heißen: seltsame Nachrichten. Die Leser bekommen also den Hinweis, dass die Information möglicherweise nicht stimmt, die Quelle nicht sehr vertrauenswürdig ist.
SPRECHER
Viele Menschen können damals nicht lesen. Sie bekommen aber trotzdem mit, wenn eine wichtige Nachricht in den Zeitungen steht, denn die Neuigkeiten werden laut vorgelesen – in der Familie oder auch in der Taverne. Kollektiv-Rezeption heißt der Begriff dazu in der Wissenschaft. Die Leser und Zuhörer diskutieren sogleich darüber, ob Berichte wahr oder falsch sein könnten – eine beginnende Debatte über Fake-News. Und das ist wichtig: Denn angesichts des Krieges sind die Zeitungen voll mit Manipulationsversuchen, sagt Daniel Bellingradt.
O-TON 12
Und das ist wie heute: Kriegsparteien haben ein großes Interesse daran, (…) Falschinformationen zu streuen, um selbst einen Vorteil zu haben. Dieser Dreißigjährige Krieg ist zudem noch ein religiös konnotierter Krieg. Also hier treffen katholische Heere auf protestantische Heere und das ist ein europäischer Krieg, der stattfindet. Und jede dieser militärischen Großgruppen, die mitmacht, religiös auch noch mal aufgeteilt, nutzt natürlich propagandistische Informationen über den Ausgang von einer Schlacht zum Beispiel. Je nachdem, was für der Zeitung man damals in die Finger bekam, ist diese Schlacht im Dreißigjährigen Krieg - einmal haben die Protestanten gewonnen, einmal haben die Katholiken gewonnen.
SPRECHERIN
Der Nachrichtenmarkt ist umkämpft. Zeitungsmacher werfen sich gegenseitig vor, unwahre Berichte zu verbreiten. Mit der zunehmenden Zahl falscher Nachrichten mitten im Dreißigjährigen Krieg nimmt die allgemeine Kritik an Medien Fahrt auf. Diese wird in Flugblättern geäußert, die große Abbildungen enthalten und damit ein breiteres Publikum erreichen, Menschen die nicht oder nicht gut lesen können. Daniel Bellingradt:
O-TON 13
Eine Medienkompetenz ist in der frühen Neuzeit sehr viel ausgeprägter als heute vorhanden. Selbst Illiteraten war im 16., 17. Jahrhundert klar, dass die Informationen, die ihnen hier angeboten wird, (…) dass die nicht wahr sein muss. Das ist ein Informationsangebot, ein Deutungsangebot. Und man ist sich eigentlich auch bewusst, dass da Fehler drin sind. Man weiß nicht, wer das meldet. (…) Also diese Medienkompetenz, diese Skepsis, die grundlegende Skepsis und eben auch ein Bedürfnis, weiter andere Quellen sich anzugucken, nicht nur einer Quelle zu glauben, das ist in der frühen Neuzeit sehr viel ausgeprägter, als es heute ist. Wir haben diese Medienkompetenzen ein bisschen verlernt.
Musik 14: Neurotic illusion - 35 Sek
Sprecherin:
Das ist der eine Aspekt, andererseits aber ist es noch nie so schwer gewesen wie heute, Fake News zu entlarven. Täuschend echte Videos und Bilder, mit täuschen echten Stimmen werden als wahre Begebenheit verkauft – und dies in einer Geschwindigkeit, die einen leicht die Kontrolle über die Wirklichkeit verlieren lässt. Dabei wäre das heute wichtiger denn je: denn auch auf Basis von Fake News bilden sich die Bürgerinnen und Bürger eine Meinung, die wahlentscheidend sein könnte.
Urzeitkrebse gab es schon auf der Welt, als Dinosaurier über unsere Erde stapften. Anders als die Urzeitechsen sind die Krebse aber nicht ausgestorben. Von Maike Brzoska (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling, Christopher Mann
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Hannes Petrischak, Geschäftsführer Heinz-Sielmann-Stiftung;
Ralph Schill, Zoologe und Professor am Institut für Biomaterialien und biomolekulare Systeme an der Universität Stuttgart;
Roland Eichhorn, Leiter des Geologischen Dienstes in Bayern
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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ARD Audiothek | RadioWissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Mit dem Auto unterwegs in der Döberitzer Heide, einem Naturschutzgebiet im Havelland westlich von Berlin.
O-TON (Petrischak)
Jetzt kann ich hier das Tor aufschließen. Wir sind jetzt also am Zaun um die Kernzone und ich hoffe, dass wir an den Stellen, wo ich es vermute, noch Reste von Wasser finden. Und wenn wir Glück haben, sehen wir die.
SPRECHERIN
Hannes Petrischak ist Leiter des Geschäftsbereichs Naturschutz der Heinz-Sielmann-Stiftung, die dieses Gebiet unterhält. Er öffnet ein großes, mit Elektrozäunen gesichertes Gatter und weiter geht’s in die sogenannte Kernzone.
ATMO Autofahrt
MUSIK 2 Chris Gilcher / Michi Koerner: Vibration Sphere 0‘35
SPRECHERIN
Früher war das Gelände militärisches Sperrgebiet, deshalb ist die Kernzone auch nicht öffentlich zugänglich – Reste von Munition könnten im Boden lagern. Heute ist die Kernzone das Zuhause vieler seltener Tiere. Wisente und Przewalski-Pferde leben hier, genau wie der Wiedehopf, ein Vogel mit lustig abstehenden Federn am Kopf. Aber Petrischak ist auf der Suche nach einem anderen Tier – eins, das viele Fans hat und Forschenden immer noch Rätsel aufgibt.
ATMO Autotür
SPRECHERIN
Eine große Pfütze am Wegesrand, mit schlammigem hellbraunem Wasser – ein gutes Zeichen.
04 O-TON (Petrischak)
Also wenn das Wasser sehr trüb ist, ist das eigentlich immer ein gutes Zeichen, weil die viel wühlen im Wasser, die wühlen am Grund den Schlamm auf und dann werden die Pfützen trüb.
ATMO Wasserplätschern
SPRECHERIN
Mit einem kleinen Kescher fischt Petrischak vorsichtig durchs Wasser – mit Erfolg. Im Netz windet sich ein sogenannter Urzeitkrebs. Zwei Arten dieser besonderen Krebsart kommen in der Döberitzer Heide vor.
06 O-TON (Petrischak)
Das ist jetzt die kleine Art, die hier drinnen ist, der Sommer-Feenkrebs, Branchipus schaefferi.
SPRECHERIN
Der längliche Feenkrebs ist nur etwa zwei Zentimeter groß. Außerdem zartrosafarben, fast schon durchsichtig. Dadurch wirkt er tatsächlich feengleich. Auffallend sind seine dunklen runden Augen – und eine leuchtend blaue Stelle am Unterkörper.
07 O-TON (Petrischak)
Bei dem ist es so, dass die Weibchen diese hübschen blauen Brutsäcke haben, und die Männchen haben immerhin noch so eine rote Schwanzgabel.
SPRECHERIN
Petrischak entlässt den Feenkrebs wieder in die Pfütze. Sofort zieht das zierliche Wesen wieder seine Bahnen durch das Wasser.
ATMO Wasserplätschern
Der Naturschützer keschert weiter. Er sucht nach einem Exemplar der anderen Urzeitkrebs-Art.
08 O-TON (Petrischak)
Oft sind beide Arten zusammen drin, aber nicht immer. Aber wir haben Glück!
SPRECHERIN
Im Netz ist dieses Mal ein sogenannter Triops. Das bedeutet so viel wie: der Dreiäugige – und tatsächlich sieht es so aus, als hätte er drei Augen. Außerdem ist der Triops bräunlich und im Vergleich zum Feenkrebs um einiges größer und robuster.
09 O-TON (Petrischak)
Der hat so einen Rückenschild, der schützt ihn von oben gegen Fressfeinde, damit kann er sich auch flach auf den Boden legen, ohne dass er groß bemerkt wird. Und er kann dann den Boden aufstrudeln, die haben nämlich bis zu 70 Beinpaare am Bauch, und mit diesen Beinen können sie sowohl den Boden aufstrudeln als auch an der Basis der Beine die Nahrung gleich schon zermalmen und dem Mund zuführen, das ist wie so eine Nahrungsrinne.
MUSIK 3 Maxi Menot: Breeze Over Grasslands 0‘41
SPRECHERIN
Urzeitkrebse fressen Pflanzenreste, zum Beispiel Algen, die typischerweise in Pfützen vorkommen. Die größeren Exemplare jagen aber auch mal kleine Tierchen wie Würmer oder Kaulquappen. Also eigentlich alles, was in Pfützen oder Tümpeln finden kann. Forschende sprechen übrigens von temporären Gewässern, weil Pfützen und Tümpel immer wieder austrocknen. Für Urzeitkrebse bieten sie ideale Bedingungen, vor allem weil keine Fische drin sind.
10 O-TON (Petrischak)
Also wenn jetzt Fische da wären, die würden die natürlich gleich fressen, das wäre ideales Fischfutter hier. Und natürlich auch die Wärme, wenn das Gewässer nicht tief ist und die Sonne häufig draufscheinen kann, dann bedeutet das, dass das Wasser sich schnell erwärmen kann. Und der Vorteil für die Urzeitkrebse ist, dass sie sich dann eben sehr schnell entwickeln können. Die Wärme beschleunigt ja die Entwicklung, und die müssen ja, bevor die Pfützen austrocknen, mit ihrer Entwicklung durch sein, damit sie wieder Eier am Boden ablegen können.
SPRECHERIN
Mithilfe ihrer Eier können sich Urzeitkrebse auch räumlich ausbreiten. Zum Beispiel wenn sich Wildschweine oder Wisente zur Abkühlung in der Pfütze suhlen. Dann bleiben Eier im Fell hängen bleiben. Auf diese Weise gelangen sie zur nächsten Wasserstelle.
11 O-TON (Petrischak)
Oder das kann an Füßen oder im Gefieder von Vögeln sein, dass diese Eier von Gewässer zu Gewässer getragen werden. Und dann breiten die sich aus.
SPRECHERIN
Sogar der Wind kann die winzigen Eier verwehen. Aber trotz der vielen Verbreitungswege gibt es heute kaum noch Urzeitkrebse. Sie sind vielerorts vom Aussterben bedroht – oder sogar schon verschwunden. Das liegt vor allem daran, dass es immer weniger temporäre Wasserstellen wie Pfützen oder Tümpel gibt. Denn der Mensch ist kein Freund von Vertiefungen im Boden, wo sich Wasser sammelt. Die Unebenheiten werden zugeschüttet, um Straßen zu asphaltieren, Felder zu bestellen oder Häuser zu bauen. Auch Auenlandschaften, wo das Wasser regelmäßig über die Ufer tritt und feuchte Wiesen hinterlässt, gibt es heute kaum noch.
MUSIK 4 Chris Gilcher / Michi Koerner: Vibration Sphere 1‘20
Dass es in der Döberitzer Heide noch vergleichsweise viele Urzeitkrebse gibt, liegt daran, dass die Kernzone jahrhundertelang militärisches Sperrgebiet war. Panzer fuhren regelmäßig über das Gelände, Truppen marschierten auf – ansonsten ließ man die Natur im Großen und Ganzen wie sie war. Seit 1997 ist das Gelände Naturschutzgebiet. Soldaten gibt es in der Döberitzer Heide heute also keine mehr – Panzer fahren aber trotzdem noch durch die Kernzone, und zwar im Auftrag der Heinz-Sielmann-Stiftung. Denn die schweren Panzer verfestigen den Boden und verhindern, dass das Gelände mit Sträuchern überwuchert. Auf diese Weise bleiben die Vertiefungen, wo nach Regenfällen Pfützen entstehen, erhalten. Petrischak schmunzelt, als er das erzählt. Kriegsgerät im Einsatz für den Naturschutz – er weiß, wie schräg das klingt. Aber es funktioniert. In der Döberitzer Heide sind bis heute Urzeitkrebse erhalten, im Gegensatz zu den meisten anderen Orten, wo Urzeitkrebse ausgestorben sind.
12 O-TON (Petrischak)
Für Zoologen ist es etwas ganz Großartiges, und es gibt viele, die das aus dem Studium nur noch als Präparat kennen.
SPRECHERIN
Urzeitkrebse – der Name sagt es schon – gibt es schon sehr lange. Das weiß man, weil man entsprechende Fossilien, also Versteinerungen der Tiere, entdeckt hat, sagt der Zoologe Ralph Schill. Er ist Professor an der Universität Stuttgart.
MUSIK 5 Mathieu David Gagnon: Point d’ancrage 0‘32
13 O-TON (Schill)
Von einigen dieser sogenannten Urzeitkrebse hat man sehr schöne Versteinerungen gefunden. Und dann kann man ganz genau vergleichen; wie sehen die Tiere heute aus – mit den Versteinerungen.
SPRECHERIN
Forschende gehen davon aus, dass es Urzeitkrebse seit mehr als 200 Millionen Jahren auf diesem Planeten gibt. Äußerlich haben sie sich während dieser langen Zeit kaum verändert. Deshalb sprechen manche auch von „lebenden Fossilien“. Wobei der Begriff genau genommen eigentlich keinen Sinn macht.
14 O-TON (Schill)
Lebende Fossilien gibt es in diesem wortwörtlichen Sinne natürlich nicht, aber umgangssprachlich wird das verwendet, um sozusagen klarzumachen, diese Tiere und Pflanzen haben sich über lange, lange Zeiträume hinweg nur minimal verändert und sind manchmal auch die einzigen verbliebenen Vertreter in dieser evolutionären Linie.
SPRECHERIN
Die kleinen Krebse wühlten also schon Pfützen auf, als andere Urzeitwesen, wie die Dinosaurier, die Erde bevölkerten. Das ist es auch, was viele Menschen an diesen kleinen Wesen so fasziniert.
15 O-TON (Schill)
So haben wir letztendlich dann ein Fenster in die Vergangenheit und können uns auch ein bisschen vorstellen, wie die Tiere damals vielleicht gelebt haben.
SPRECHERIN
Denn vor 200 Millionen Jahren, im sogenannten Erdmittelalter, sah unsere Erde noch ganz anders aus.
16 O-TON (Schill)
Es war generell wärmer und man kann sich das Ganze vorstellen, dass wir große, ausgedehnte, flache Meeresbuchten hatten mit einer ganz reichhaltigen Lebenswelt unter Wasser. Und an Land hatten wir wahrscheinlich ausgedehnte Wälder aus Farnen und Schachtelhalmen. Und dazwischen eben die Dinosaurier, die die Landschaft durchstreiften.
MUSIK 6 Daniel Backes / Peter Moslener: Easy Plucker 0‘30
SPRECHERIN
Die Dinosaurier hinterließen riesige Fußspuren, wenn sie über den Boden stapften. Fiel dann Regen oder wurde der Boden zeitweise überschwemmt, entstanden zahlreiche Pfützen – beste Bedingungen für Urzeitkrebse. Heute funktioniert das im Prinzip noch genauso: Es entsteht eine temporäre Wasserstelle, und wenn es an dieser Stelle Urzeitkrebs-Eier im Boden gibt, schlüpfen in Rekordzeit kleine Larven.
17 O-TON (Schill)
Dann können wirklich innerhalb von 24 Stunden kleine Urzeitkrebse wieder schlüpfen. Und die beeilen sich dann ganz schnell und wachsen heran, pflanzen sich fort, weil sie letztendlich auch wieder nur eine ganz bestimmte Zeit zur Verfügung haben, bis ihr Lebensraum, wie bei den elterlichen Tieren, dann auch wieder austrocknet.
SPRECHERIN
Gibt es nur noch wenig Wasser in der Pfütze, ist es an der Zeit, die befruchteten Eier abzulegen. Den richtigen Zeitpunkt dafür erkennt der Triops übrigens mithilfe des dritten Auges – das eigentlich kein Auge ist.
18 O-TON (Schill)
Dieses dritte Auge hat keine Sehfunktion. Es dient vielmehr der Regulation von Körperflüssigkeiten, das heißt in diesen Gewässern verändert sich letztendlich immer der Salzgehalt durch Niederschlag und Verdunstung. Und wenn wir so eine Veränderung haben, dann müssen die Triopse sich relativ schnell auf diese veränderten Salzgehalte einstellen. Und dieses sogenannte dritte Auge spielt dabei eine entscheidende Rolle, indem es den Salzgehalt in diesen temporären Gewässern überwacht.
MUSIK 7 Mathieu David Gagnon: Point d’ancrage 0‘47
SPRECHERIN
Verdunstet das Wasser, steigt der Salzgehalt in der Pfütze – für den Triops das Zeichen, dass sein Lebensraum bald verschwindet. Die abgelegten Eier sichern dann die Nachkommenschaft. Bis die nächste Generation schlüpft, kann allerdings sehr viel Zeit vergehen. Denn die Eier von Urzeitkrebsen sind in dieser Hinsicht etwas ganz Besonderes.
19 O-TON (Schill)
Die legen Eier, die dann auch ganz allmählich mit ihrem Lebensraum austrocknen können.
SPRECHERIN
Normalerweise stirbt ein Lebewesen, wenn es austrocknet. Nicht so die Urzeitkrebs-Eier.
20 O-TON (Schill)
Bevor diese Eier vollständig ausgetrocknet sind, erfolgen im Inneren einige Zellteilungen bis zu einer bestimmten Anzahl an Zellen. Und dann gehen diese Zellen in einen Zustand der Anhydrobiose über. Das ist ein Zustand, in dem es keine offensichtlichen Lebenszeichen mehr gibt, in dem die Zellen letztendlich dann auch eingetrocknet sind. Und in diesem getrockneten Zustand können sie über lange Zeiträume hinweg unbeschadet überdauern. Das können viele Monate sein, das können Jahre oder sogar Jahrzehnte sein.
SPRECHERIN
Man spricht deshalb auch von Dauereiern. Was genau in den Eiern passiert, wie sie trotz Austrocknung überleben, ist für Forschende ein Rätsel. Ralph Schill und sein Team arbeiten daran, dieses Rätsel zu lösen.
21 O-TON (Schill)
Wir sind interessiert daran, wie schaffen es diese Zellen trotz Eintrocknen letztendlich lebendig zu bleiben? Und da gibt es sicherlich noch sehr, sehr viel Forschungsbedarf und wir kratzen da momentan mit unserem Wissen wirklich erst an der an der Oberfläche. Aber wenn wir das verstehen, dann hätten wir sicherlich sozusagen ein besseres Verständnis über so grundlegende Erkenntnisse über das Leben und was ist Leben letztendlich?
SPRECHERIN
Dieses Wissen könnte für uns Menschen noch sehr nützlich werden, zum Beispiel bei Gewebe- oder Organ-Transplantationen.
22 O-TON (Schill)
Man kann sich durchaus vorstellen, dass wenn man weiß, wie diese Tiere es schaffen, ihre Zellen einzutrocknen, sodass sie nicht geschädigt werden, dass man dieses Wissen in den medizinischen Bereich überführen kann. Das heißt, wenn es möglich ist, zum Beispiel mehr Zeit zu gewinnen zwischen Entnahme von einem Organ bis zur Transplantation von einem Organ, dann hätte man letztendlich sehr, sehr viel gewonnen.
MUSIK 8 Jens Buchert: Open Senses 0‘40
SPRECHERIN
Die äußerst widerstandsfähigen Dauereier der Urzeitkrebse sind vermutlich auch ein Grund dafür, dass einige Urzeitkrebs-Arten nicht ausgestorben sind, anders als etwa die Dinosaurier. Urzeitkrebse sind Überlebenskünstler der Evolution. Sie haben es geschafft, sich immer wieder an die unterschiedlichsten Bedingungen der verschiedenen Zeitalter anzupassen. Zumindest bis wir Menschen begannen, die Welt zu verändern und Erdlöcher im großen Stil zuzuschütten.
23 O-TON (Schill)
Und diese Zerstörung von solchen Lebensräumen, die hat letztendlich dann auch zu einer starken Dezimierung von diesen Urzeitkrebs-Populationen geführt.
SPRECHERIN
Insgesamt zwölf Urzeitkrebsarten gibt beziehungsweise gab es in Deutschland. Allesamt sind sie entweder stark gefährdet oder bereits ausgestorben.
24 O-TON (Schill)
Zwei von diesen zwölf Arten gelten bereits als ausgestorben oder verschollen. Man hat sie also in den letzten Jahren nicht wiedergefunden. Fünf sind akut vom Aussterben bedroht und die verbleibenden fünf sind zumindest als sehr stark gefährdet eingestuft. Das bedeutet letztendlich, dass sämtliche in Deutschland lebende Urzeitkrebsarten entweder gefährdet oder bereits ausgestorben sind.
SPRECHERIN
In Bayern gibt es noch einige Orte, wo man – mit sehr viel Glück – Urzeitkrebse finden kann. Zum Beispiel im unterfränkischen Steigerwald. Wo genau, will Roland Eichhorn nicht verraten. Er ist Leiter des Geologischen Dienstes in Bayern.
25 O-TON (Eichhorn)
Sie sind eben selten und deswegen wollen wir es dabei belassen, dass es sie in Bayern gibt, dass sie sich auch wohlfühlen. Aber man muss es nicht genauer sagen. Also auf jeden Fall im Steigerwald. Es gibt aber auch noch andere Orte in Bayern, wo man sie finden könnte.
MUSIK 9 Simon Bohrer: Löwenzahn 0‘40
SPRECHERIN
Tatsächlich war es auch im Steigerwald, wo man zum allerersten Mal fossile, also versteinerte Triopse entdeckt hat. Ein Geologie-Student namens Ferdinand Trusheim fand sie in einem Steinbruch bei Koppenwind, heute ein Gemeindeteil von Rauhenebrach. Trusheim kannte sich bestens mit den Urzeitkrebsen aus: Er hatte seine Diplomarbeit über sie geschrieben, über die lebendigen wohlgemerkt. Denn die hatte er bei Wanderungen durch den Steigerwald oft in Pfützen gesehen. Nach fünf Jahren war er mit seiner Arbeit fertig.
26 O-TON (Eichhorn)
Danach war er fertiger Geologe, ging wieder in den Steigerwald, ging an der Pfütze vorbei. Aber diesmal schaut er nicht in die Pfütze, sondern schaut in das Gestein, weil er ja Geologe ist. Und es stockt ihm der Atem. Ganz in der Nähe findet er die versteinerten Urzeitkrebse. Das heißt, er hat eine Stelle auf der Welt gefunden, wo offenbar diese Krebse 225 Millionen Jahre lang gelebt haben – jetzt in der Pfütze, vor 200 Millionen Jahren versteinert.
SPRECHERIN
Quicklebendige Triopse ganz in der Nähe von versteinerten – eine kleine Sensation. Wobei es die lebendigen Urzeitkrebse in früheren Zeiten noch sehr viel häufiger gab als heute. Zeitweise traten sie sogar in Massen auf.
27 O-TON (Eichhorn)
Es gab es so sie so massenhaft in den Pfützen in Wien, dass die Marktweiber angeblich diese als Schweinefutter sogar auf dem Markt verkauft haben. Das ist dokumentiert und nachzulesen.
SPRECHERIN
Zum Beispiel in dem Bericht eines gewissen K. Lampert in der Zeitschrift Kosmos:
ZITATOR
Im August des Jahres 1821 wurden in Wien von Marktweibern gar seltsam aussehende, 40-50 mm große Tiere zum Verkauf angeboten. Sie bewegten sich lebhaft im Wasser und sollten nach Angabe der Verkäuferinnen mit dem einige Zeit zuvor niedergegangenen, ungewöhnlich schweren Regen vom Himmel gefallen sein. Den meisten schien dies sehr glaubwürdig, denn die Tiere hatten eine gar absonderliche, nie gesehene Gestalt und fanden sich in ungeheuren Mengen in Pfützen und Regenlachen, an deren Stelle kaum zwei Wochen vorher staubige Straßengräben und mit dürrem Gras bedeckte Mulden zu sehen waren.
MUSIK 10 Simon Bohrer: Sunnestore 0‘52
SPRECHERIN
Krebse, die vom Himmel gefallen sind, vielleicht sogar aus dem Weltall kommen – eine ziemlich schräge Vorstellung. Aber man konnte sich das plötzliche und massenhafte Auftreten der Urzeitkrebse einfach nicht anders erklären. Erst eine eigens eingesetzte Kommission brachte Aufklärung. Aber trotz aller Erklärungen und Versicherungen, dass die Krebse nicht vom Himmel gefallen sind, hält sich die Bezeichnung „Himmelskrebs“ mancherorts bis heute.
Es liegt auch an solchen Geschichten, dass die Urzeitkrebse eine große Fangemeinde haben. Ein weiterer Grund sind die sogenannten Yps-Hefte.
28 O-TON (Eichhorn)
Also was die Yps-Hefte angeht, da bin ich ja absoluter Fan gewesen wie ich ein kleiner Junge war. Ich habe ja die Hefte verschlungen und der Gimmick darin, das war ja das Allerbeste.
SPRECHERIN
20 Mal lagen der Jugendzeitschrift Yps ab Mitte der 1970er Jahre Urzeitkrebseier bei – kein anderes Gimmick war so häufig vertreten.
29 O-TON (Eichhorn)
Dann musste man sich so ein kleines Aquarium machen. Da musste man dann so eine Wasserflüssigkeit anrühren und nach paar Tagen konnte man tatsächlich beobachten, wie die kleinen Krebselchen geschlüpft sind.
SPRECHERIN
Echte Lebewesen, die aus getrockneten Eiern schlüpfen, das ist schon etwas Besonderes. Auch Ralph Schill war damals beeindruckt – und ist es noch heute.
30 O-TON (Schill)
Also ich glaube schon, dass diese Faszination, wie aus einer trockenen Materie plötzlich Leben entstehen kann, mich damals als Kind fasziniert hat. Und das hat sicherlich auch Anteil daran, dass ich heute immer noch begeistert bin, wenn ich wirklich sehen kann, wie aus diesen getrockneten Eiern nach 24 Stunden plötzlich kleine Krebschen entstehen. Diese Faszination kann man vielleicht wirklich auf die Kindheit zurückführen.
SPRECHERIN
Wobei man sagen muss, dass es sich nicht um echte Urzeitkrebse gehandelt hat. Den Yps-Heften lag ein anderer Krebs bei, der sich evolutionär erst später entwickelt hat. Und der auch nicht in Pfützen oder Tümpeln lebt.
31 O-TON (Eichhorn)
Es ist kein Süßwasserkrebs. Nein, die Yps-Macher, die haben Salzwasser-Krebseier hergenommen von einer anderen Art, und die kommt gar nicht aus der Urzeit. Die ist ganz neu, aber viel, viel pflegeleichter. Die heißt Artemia. Na ja, es war eigentlich eine kleine Verbrauchertäuschung, aber hey, jetzt sind wir alle alt und Yps gibt’s gar nicht mehr, jetzt darf man das verraten (lacht).
MUSIK 11 Jens Buchert: Dragonfly 1‘05)
SPRECHERIN
Die Yps-Hefte sind seit vielen Jahren eingestellt. Die Begeisterung für Urzeitkrebse hält hingegen an: Die Eier sind in Zoo- oder Aquariengeschäften erhältlich. In Internet-Foren tauschen sich Fans über Aufzucht und mögliche Fundorte aus. Vielleicht haben einige von ihnen auch mitgefiebert, als mehrere Triops-Eier zur ISS geflogen sind. Forschende der internationalen Raumstation testeten, ob die extreme Temperatur im All und die Weltraumstrahlung den Tieren etwas anhaben können. Mehrere Monate umrundeten die Urzeitkrebseier in Proben-Container an der Außenseite der ISS den blauen Planeten. Und siehe da: Zurück auf der Erde schlüpften aus den Eiern wieder kleine Urzeitkrebs-Larven. Mission geglückt!
Zumindest für diese Tiere stimmt sie nun in gewisser Weise also doch – die Bezeichnung „Himmelskrebse“.
Dona Gracia Nasi ist eine der erstaunlichsten Frauen der Renaissance: Als Tochter zum Christentum übergetretener Juden wird sie katholisch getauft. Sie steigt zur Chefin eines Bank- und Handelshauses auf, das sich mit den Fuggern und Welsern messen kann. Und sie hütet ein Geheimnis, das sie zur Flucht quer durch Europa zwingt. Von Simon Demmelhuber (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Simon Demmelhuber
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Benedikt Schregle
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Matthias Lehmann, Lehrstuhl für Neuere Jüdische Kultur- und Sozialgeschichte am Martin-Buber-Institut für Judaistik der Universität zu Köln
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Literaturtipps:
Marianna D. Birnbaum: The Long Journey of Gracia Mendes. Budapest [Central European University Press], 2003.
Andrée Aelion Brooks: The Woman Who Defied Kings. The Life and Times of Dona Gracia Nasi. A Jewish Leader during the Renaissance.
Abraham David: The Nasi Family and the Reconstruction of Tiberias in the Second Half of the Sixteenth-Century”. In: Judaica, vol. 73, no. 1 (March 2017): 36-57.
Cecil Roth: The House of Nasi. Dona Gracia. Philadelphia [The Jewish Publication Society of Amerika] 1947.
Herman Prins Salomaon und Aron di Leoni Leoni: Mendes, Benveniste, de Luna, Micas, Nasci: The State of the Art (1532-1558. In: In The Jewish Quaterly Review, LXXXVIII, Nos. 3-4 (January-April, 1998) 135-211.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1: Caldibi castigliano 0‘47
ERZÄHLERIN
Sie ist reich und mächtig wie kaum eine Frau ihrer Zeit. Sie lebt in Palästen, führt eines der größten Handels- und Bankimperien der Renaissance. Ihr Wort hat Gewicht, Könige und Kaiser sind ihre Schuldner.
SPRECHER
Das ist das eine, das öffentliche ihrer zwei Leben. Als Tochter zwangschristianisierter Juden wird sie katholisch getauft und ist 43 Jahre lang offiziell Christin.
ERZÄHLERIN
Innerlich aber bleibt sie dem Judentum treu. Das ist ihr zweites, ihr verborgenes Leben:
Musik Bad thoughts 0‘20
Sie darf nicht sein, wer sie ist, und fürchtet Tag für Tag, der Inquisition anheimzufallen.
SPRECHER
Die päpstlich autorisierten Glaubensgerichte verfolgen Ketzer. Dazu zählen auch jüdische Scheinchristen. Wer katholisch getauft ist und dennoch "judaisiert", darf keine Gnade erhoffen: Das Eigentum entlarvter Kryptojuden verfällt dem Tribunal, sie selbst werden nach Schwere des Falls entweder eingekerkert, verbannt oder hingerichtet.
SPRECHER
Vor dieser latenten Dauergefahr flieht sie von Lissabon über Antwerpen, Venedig und Ferrara bis nach Konstantinopel ins Osmanische Reich, wo sie den jüdischen Namen Gracia Nasi annimmt.
MUSIK 2: La rosa enflorese 0‘32
ERZÄHLERIN
Die längste Zeit ihres Lebens aber heißt sie Beatriz de Luna. Auf diesen Namen wird sie um 1510 in Lissabon als Neugeborene getauft. Auch Eltern sind Christen.
SPRECHER
Allerdings noch nicht lange und nicht aus freien Stücken. Sie sind Conversos. So heißen zum Katholizismus bekehrte Juden in Portugal und Spanien. Aus Überzeugung haben die wenigsten Konvertiten das Christentum angenommen. Den meisten blieb keine Wahl:
ERZÄHLERIN
Seit Beginn des 14. Jahrhunderts stehen iberische Juden unter wachsendem Bekehrungsdruck. Als 1391 in Sevilla, Cordoba, Toledo und vielen anderen Städten Christen mit dem Schlachtruf "Taufe oder Tod" über die Judenviertel herfallen, kommt es zu regelrechten Konversionswellen.
SPRECHER
Gerade diese Massenübertritte aber schaffen ein Problem, erläutert Matthias Lehman. Er ist Professor für Neuere Jüdische Kultur- und Sozialgeschichte am Martin-Buber-Institut für Judaistik der Uni Köln.
01 O-TON LEHMANN (ca. 34 Sekunden)
Man hat plötzlich nicht nur einzelne Juden, die zum Christentum konvertiert sind. Man hat plötzlich eine ganze soziale Klasse von ehemaligen Juden, die nun offiziell Christen sind. Und als solche sind sie gleichberechtigt, man kann sie nicht mehr marginalisieren. Aber konnte man diesen Leuten trauen, dass sie wirklich Christen geworden sind?
SPRECHER
Der Argwohn setzt eine Entwicklung in Gang, die in zwei Stufen eskaliert:
ERZÄHLERIN
1478 gestattet der Papst die Einrichtung der Inquisition in Spanien. Die Glaubensgerichte sollen gezielt Conversos aufspüren, die heimlich am Glauben ihrer Väter festhalten.
02 O-TON LEHMANN (ca. 26 Sekunden)
Die Aufgabe der Inquisition war ja, die sogenannte Häresie des heimlichen Judaisierens auszumerzen. Die Inquisition hat erstmal an Juden, die als Juden leben, kein großes Interesse, sondern tatsächlich an diesen Conversos.
SPRECHER
Die Tribunale arbeiten effizient: Bis 1490 werden etwa 13.000 "heimlich judaisierende" Neuchristen teils verhaftet, teils zur Ausreise gezwungen oder verbrannt.
ERZÄHLERIN
Die zweite Eskalationsstufe zündet 1492: Nachdem mit Granada auch das letzte muslimische Kalifat gefallen ist, holen Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon zum Schlag gegen das Judentum aus. In der Alhambra, am Ort ihres Triumphs, erlassen sie ein hartes Edikt.
ATMO: Öffentliche Proklamation, Ausrufer
ZITATOR
Wir beschließen, alle Juden und Jüdinnen aus unseren Königreichen zu verbannen und dass sie niemals zurückkehren sollen. Wer sich weigert und in diesen Gebieten gefunden wird oder zurückkehrt, wird des Todes schuldig sein und sein Vermögen wird konfisziert.
SPRECHER
Juden, die bleiben möchten, müssen sich taufen lassen und der Inquisition unterstellen. Juden, die an ihrem Glauben festhalten, haben drei Monate zur Ausreise. Sie dürfen ihren Besitz verkaufen, ihre bewegliche Habe mitnehmen, aber weder Geld noch Waffen ausführen.
Por alli paso un cavallero 0‘23
ERZÄHLERIN
Schätzungen zufolge wählen etwa 150.000 spanische Juden das Exil. Die meisten wandern nach Nordafrika und Osteuropa aus, an die 60.000 ziehen nach Portugal, wo ihnen König João Zuflucht gewährt. Allerdings nicht für Gotteslohn und nur befristet.
SPRECHER
Acht Cruzados, den Gegenwert von zwei Tonnen Weizen, kostet ein acht Monate gültiges Aufenthaltsrecht in zugewiesenen Zonen. Wer allerdings 100 Cruzados pro Kopf aufbringt, darf seinen Aufenthaltsort frei bestimmen und unbegrenzt bleiben.
ERZÄHLERIN
Zu dieser privilegierten Gruppe gehören vermutlich auch Beatriz' künftige Eltern Alvaro Nasi und Philipa Mendes. Der Kölner Judaist Matthias Lehmann nimmt an, dass sie sich in Lissabon ansiedeln, um weiterhin als Juden zu leben.
03 O-TON LEHMANN (ca. 13 Sekunden)
Die wahrscheinlichere Variante ist, dass sie 1492 Spanien verlassen müssen als Juden und deswegen nach Portugal gehen. Es sind genau die Leute, die alles hinter sich gelassen haben, um Juden bleiben zu können.
ERZÄHLERIN
Die Hoffnungen zerschlagen sich gründlich. 1497 befiehlt Manuel I. allen Juden in Portugal den Übertritt zum Christentum. Damit sitzen Alvaro Nasi und Philipa Mendes in der Falle. Da sie als Juden weder nach Spanien zurückkehren noch in Portugal leben können, werden sie notgedrungen Katholiken und führen fortan den Familiennamen de Luna. Ihre 1510 geborene Tochter Beatriz kommt also rechtlich gesehen nicht als Conversa, sondern als Christin zur Welt.
SPRECHER
Dass die Familie insgeheim dem Judentum treu bleibt, ist sehr wahrscheinlich, aber nicht belegbar. Nach außen hin jedenfalls wahrt man den katholischen Schein: Man geht zur Messe, feiert die kirchlichen Feste und lässt sich, wie Beatriz, katholisch trauen.
MUSIK 3: Carmen für 4 Gamben 0‘39
ERZÄHLERIN
1528 heiratet sie mit etwa 18 Jahren den Kaufmann Francisco Mendes, einen Onkel mütterlicherseits. Der Bräutigam entstammt einer in Portugal zwangsgetauften Familie jüdischer Exilanten, die im Handel mit Edelsteinen, Pfeffer, Gewürzen und durch Kreditgeschäften reich geworden ist. Zehn Jahre lang sieht es aus, als habe sich doch noch alles zum Guten gewendet: Das Haus Mendes blüht, 1534 wird die Tochter Ana geboren, die Schrecken der Inquisition verblassen.
Bad thoughts 0‘21
SPRECHER
Die Ruhe trügt. Das Misstrauen gegen konvertierte Juden sitzt auch in Portugal tief. Um das vermeintliche Übel auszurotten, wird die Inquisition 1536 hier ebenfalls aktiv. Und das bedeutet akute Gefahr.
04 O-TON LEHMANN (ca. 15 Sekunden)
Die Inquisition ist eine interessante Institution insofern, als dass sie sich selbst finanziert. Wenn jemand von der Inquisition verurteilt wurde, konnte auch das Vermögen eingezogen werden. Das gab natürlich einen gewissen Anlass, sich gerade für prominente Familien zu interessieren.
SPRECHER
Darauf will es Francisco Mendes nicht ankommen lassen. Er kennt das Beuteschema der Glaubenstribunale und beschließt nach Antwerpen zu ziehen, wo sein Bruder Diogo eine Niederlassung des Unternehmens leitet. Umsetzen kann er den Plan allerdings nicht mehr.
ERZÄHLERIN
Francisco stirbt im Januar 1535. Er vermacht die Hälfte des Familienvermögens seiner Witwe, die nun den Ortswechsel vorantreibt. Sie tut es entschlossen, lautlos und klug, wie alles, was sie beginnt. 1537 übersiedelt sie mit ihrer zweijährigen Tochter, ihrer Schwester Brianda sowie den Neffen Bernardo und João in die Niederlande.
MUSIK 4: La Rose chanson 0‘28
ERZÄHLERIN
Die Stadt an der Schelde ist eine wahre Boomtown der Renaissance: Der Diamanten- und Textilhandel brummt; Banken vermitteln Risikokapital für Handelsfahrten und Expeditionen; täglich treffen Schiffe mit Waren aus Ostindien ein, die von hier aus nach Nordeuropa und in den Mittelmeerraum gelangen.
SPRECHER
Das Bank- und Handelshaus durchlebt goldene Jahre. Diogo hat sich das Ankaufsmonopol für den gesamten Pfeffer- und Gewürzimport der portugiesischen Krone gesichert. Er dominiert den Markt, diktiert die Preise, erzielt enorme Profite. Ein Großteil der Gewinne fließt zurück in Kredite für Königshäuser, die sich durch Privilegien und Schutzbriefe erkenntlich erweisen.
ERZÄHLERIN
Beatriz bewährt sich in allen Belangen des Handels und der Finanzverwaltung als erfahrene Partnerin ihres Schwagers. Aber auch karitativ ziehen beide an einem Strang: Sie spenden für Spitäler und Synagogen, unterstützen sefardische, das heißt aus Spanien und Portugal stammende Juden, und sie schleusen jüdisches Vermögen an der Inquisition vorbei nach Flandern.
SPRECHER
1539 heiratet Diogo Beatriz' jüngere Schwester Brianda. Aber auch sein Leben endet früh. Er stirbt im Herbst 1543 und hinterlässt ein Testament, das einen jahrelangen Erbstreit zwischen den Schwestern auslöst: Anstelle seiner Frau Brianda setzt er Beatriz als Alleinverwalterin des Gesamtbesitzes und Treuhänderin seiner dreijährigen Tochter ein.
MUSIK 5: Nymphes 0‘35
ERZÄHLERIN
Mit etwa 30 Jahren herrscht Beatriz de Luna nun über eines der größten Finanz- und Handelsimperien der Renaissance. Doch weder ihr Reichtum noch ihr Ansehen lassen sie in Antwerpen heimisch werden.
Bad thoughts 0‘25
Der Magistrat und selbst Kaiser Karl V. gieren nach ihrem Vermögen und obendrein greift nach Jahren der Schonung die Inquisition jetzt auch hier mit aller Härte durch. Als in den Straßen dann Gerede über ihr angebliches Judaisieren aufspringt, ist es für Beatriz' erneute höchste Zeit, aufzubrechen.
SPRECHER
Diesmal nach Venedig. Beatriz bereitet den Umzug gewohnt umsichtig und unauffällig vor. Sie transferiert den liquiden Besitz über Umwege in die Lagunenstadt, verschafft sich Geleitbriefe des Papstes und Sicherheitszusagen des Zehnerrates der Seerepublik.
MUSIK 6: 3 Tänze für Blockflöte 0‘40
SPRECHER
1545 bezieht sie mit ihrer Tochter Ana, ihrer Schwester Brianda und deren Tochter einen prächtigen Palast am Canal Grande. Angstfrei leben kann sie trotz aller Privilegien keineswegs. Sie ist zwar offiziell Christin, gibt keinerlei Anstoß, anderes zu vermuten und verfügt über kostspielige Schutzgarantien. Aber ihr familiärer Hintergrund ist nicht nur den Behörden, sondern auch Neidern und Denunzianten bekannt.
Bad thoughts 0‘32
Dieses jederzeit nutzbare Wissen macht sie verletzbar. Schon der kleinste anonyme Häresieverdacht reicht für einen Zugriff der Inquisition.
ERZÄHLERIN
Ungeklärt ist außerdem nach wie vor das Schicksal großer Sach- und Geldwerte, die der Antwerpener Magistrat einbehalten hat. Um die Freigabe kümmert sich ihr Neffe João Micas. Der inzwischen Zwanzigjährige hat sich nach Diogos Tod als Beatriz' engster Mitarbeiter und Vertrauter profiliert. Es braucht zwei Jahre zäher Verhandlungen, bis er den Großteil des konfiszierten Vermögens retten und 1546 schließlich selbst nach Venedig übersiedeln kann.
SPRECHER
Hier hat inzwischen der Streit um Franciscos Vermächtnis einen offenen Krieg entfacht. Brianda prozessiert um ihr Erbe und erringt einen Teilerfolg: Beatriz soll die Hälfte des Familienbesitzes bis zur Volljährigkeit ihrer Nichte bei der Münzbehörde hinterlegen.
ERZÄHLERIN
Dieses Urteil ist womöglich der Anlass dafür, dass Beatriz den Unternehmenssitz 1548 nach Ferrara verlegt. Dort sichert ihr Herzog Ercole d'Este die Anerkennung aller testamentarischen Verfügungen Diogos zu, und obendrein gehen in Venedig Gerüchte um, die Beatriz als Kryptojüdin diffamieren. Und nachdem die Inquisition seit 1547 nun auch die Lagune im Griff hat, entschließt sich Beatriz abermals zur Flucht.
Musik: Tedescha für Renaissanceensemble 0‘18
SPRECHER
Vier Jahre bleibt sie in Ferrara, lange genug, um zu begreifen, dass sie selbst hier nur eine Schutzgefangene ist, deren Sicherheit vom Wohlwollen des Herzogs abhängt und an den Grenzen seines Staates endet. Geborgen, das erkennt sie in Ferrara in letzter Konsequenz, ist sie nur dort, wo der Papst und die Inquisition machtlos sind. Nur dort, wo man ihr das Christentum nicht gewaltsam überstreift, kann sich das Grunddilemma ihres Lebens noch lösen.
ERZÄHLERIN
Die längste Zeit lebt Beatriz äußerlich als untadlige Katholikin. Innerlich aber hält sie all die Jahre am Judentum fest. Das wissen wir nicht von ihr selbst. Sie hinterlässt keine Briefe und auch sonst keine persönlichen Aufzeichnungen. Aber wir kennen ihren Einsatz für verfolgte Glaubensgeschwister. Wir wissen, dass sie erhebliche Summen für Thoraschulen und Synagogen spendet. Und wir wissen, was noch kommt: ihre späte Heimkehr zum Judentum. All diese Zeugnisse lassen nur eine Lesart zu: Christin ist Beatriz lediglich vor der Welt, im Herzen ist sie Jüdin.
SPRECHER
Wie sie diesen Konflikt aushält, wie sie zurechtkommt mit der Angst, als Kryptojüdin aufzufliegen, wie sie die aufgezwungene Verstellung erträgt, bleibt ihr Geheimnis. Aber wir ahnen, welchen Mut, welche Selbstdisziplin ihr diese Spaltung abnötigt. Und wir beobachten staunend, welche Kraft diese unbeirrbare Frau trotz aller Rückschläge immer wieder mobilisiert. Mithilfe dieser Stärken plant sie in Ferrara die letzte ihrer Fluchten: den Absprung nach Konstantinopel.
05 O-TON LEHMANN (ca. 19 Sekunden)
Wirklich sicher als Jüdin leben kann sie nur im Osmanischen Reich, weil den osmanischen Autoritäten vollkommen egal ist, ob ein Konvertit zum Judentum zurückkehrt oder nicht. Nur im Osmanischen Reich, wo die Inquisition keine Jurisdiktion hatte, konnten Conversos wirklich offen wieder als Juden leben.
MUSIK 7: Neva Ceng-i Harbi 0‘56
ERZÄHLERIN
Beatriz de Luna lässt sich im Sommer 1552 in Konstantinopel nieder. Sie residiert in einem Palast am Galataturm, führt ein glanzvolles Haus, ist der Stolz der sefardischen Gemeinde, finanziert Schulen und Synagogen, empfängt Diplomaten, verkehrt in höchsten Kreisen, hat Ohr und Vertrauen des Sultans. Alles wie gehabt. Und trotzdem ist alles anders: Denn Jüdin oder Jude zu sein ist jetzt kein todwürdiges Verbrechen mehr! Endlich kann sie sich frei und gefahrlos zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs bekennen. Endlich darf sie sein und zeigen, wer sie wirklich ist: Eine fromme Jüdin, die ihren Gott und seine Gebote achtet.
SPRECHER
Dass sich im Osmanischen Reich nicht nur ein äußerer Weg, sondern eine lebenslange Hoffnung erfüllt, zeigt sich kurz nach der Ankunft: Die Christin Beatriz de Luna gibt sich in Konstantinopel den jüdischen Namen, der die Jahrhunderte überdauert und unter dem wir sie noch heute kennen. Sie nennt sich von nun an Gracia Nasi, ihre Tochter Ana heißt ab jetzt Reina.
ERZÄHLERIN
1553 trifft auch João Micas in Konstantinopel ein. Er war in Venedig geblieben, um konfiszierte Vermögenswerte auszulösen. Kurz nach der Ankunft bricht auch er mit dem aufgezwungenen Christentum. João lässt sich beschneiden, nennt sich fortan Josef Nasi, heiratet seine Cousine Reina und legt als Berater, Diplomat und Bankier eine steile Karriere am Hof des Sultans hin.
ATMO: Tikio drums 0‘17
SPRECHER
Dass sich Gracia und Josef Nasi zeitlebens nicht nur um ihr persönliches Wohlergehen kümmern, zeigt sich 1556 einmal mehr. Den Anlass liefern erschreckende Nachrichten aus Ancona.
ERZÄHLERIN
Um den Handel zu fördern, hatte Papst Julius III. knapp ein Jahrzehnt zuvor gezielt sefardische Conversos in der Hafenstadt angesiedelt. Als sein Nachfolger Paul IV. im Mai 1555 den Papstthron besteigt, sind alle Zusagen auf einen Schlag wertlos. Der neue Pontifex kündigt sämtliche Schutzgarantien auf, lässt alle Conversos verhaften und von der Inquisition durchleuchten.
SPRECHER
Kurz darauf stellt Sultan Süleyman die in Ancona verhafteten Juden unter seinen Schutz und fordert ihre unverzügliche Freilassung. Aber Paul IV. bleibt stur. Auf sein Geheiß hin werden 24 Conversos verbrannt, und die übrigen auf die Galeeren geschmiedet.
MUSIK 8: El male rachamim 0‘35
ERZÄHLERIN
Um den Papst in seine Schranken zu weisen, greift Dona Gracia zu einer ausgesprochen modern anmutenden Maßnahme: Sie ruft die jüdischen Gemeinden des Osmanischen Reichs und Italiens zum Boykott der Hafenstadt auf. Bis Paul IV. die Sicherheitszusagen seines Vorgängers erneuert, soll kein Schiff Ancona anlaufen und stattdessen Venedigs Hafen Pesaro nutzen.
SPRECHER
Die Blockade misslingt. Das Gros der italienischen und osmanischen Juden unterläuft den Boykott aus Furcht vor Gewinneinbußen. Schon 1558 ist Ancona wieder voll im Geschäft, Dona Gracia muss sich geschlagen geben. Aber nur wenige Jahre später nimmt sie ein kaum weniger ambitioniertes Projekt in Angriff.
MUSIK 9: Elci pesrev 0‘32
ERZÄHLERIN
1516 hatten die Osmanen Palästina erobert. Sie finden ein dünn besiedeltes Land ohne Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen vor. Viele Häfen und ehemals blühende Städte sind zerfallen, nomadisierende Beduinen gefährden die Sicherheit. So bringt die Eroberung keinen Profit. Dazu müssen die Osmanen erst die marode Infrastruktur sanieren, vor allem aber Handwerk, Handel und Gewerbe fördern.
SPRECHER
Damit beginnt das letzte große Kapitel im Leben im Gracia Nasis.
ERZÄHLERIN
1566 kauft sie die Steuerpacht für Tiberias am See Genezareth und sieben umliegende Dörfer. Gegen eine jährliche Zahlung von 1000 Golddukaten erwirbt Gracia das Recht, Abgaben einzuziehen, Kolonisten anzusiedeln, Synagogen und Schulen zu errichten. Die formelle Herrschaft über das Gebiet der Steuerpacht überträgt der Sultan ihrem Neffen und Schwiegersohn Josef Nasi.
MUSIK 10: Grazia Nasi 0‘38
SPRECHER
Auf den ersten Blick ist das Projekt nicht mehr als eine clevere Investition in die Wiederherstellung der einst hochprofitablen regionalen Textilproduktion. Andere Deutungen rücken das Geschehen in die Nähe messianischer Konzepte.
ERZÄHLERIN
Die Erwartung eines gottgesandten Königs, der die in alle Welt zerstreuten Juden wieder in Israel vereint, ist eine zentrale Hoffnung des Judentums. Im frühen 16. Jahrhundert häufen sich messianische Prophezeiungen, die das Geschehen in Spanien und Portugal als Beginn der Rückkehr nach Zion deuten. Dass der Plan einer Siedlung in Tiberias im Kontext solcher Vorstellungen reift, ist nicht ausgeschlossen. Von einer Staatsgründung kann indes keine Rede sein, betont Matthias Lehmann:
06 O-TON LEHMANN (ca. 28 Sekunden)
Mit Sicherheit ist dieses Tiberias Projekt kein proto-zionistisches Projekt. Es gibt nicht die Vorstellung, einen jüdischen Staat oder ein jüdisches Gemeinwesen dort im osmanischen Palästina aufzubauen. Es gibt mit Sicherheit auch religiöse, vielleicht auch messianische Vorstellungen. Aber sie speisen sich eben aus einer religiösen, messianischen Vorstellungswelt und nicht einer innerjüdischen Staatsbildung im Heiligen Land.
SPRECHER
Das Vorhaben läuft zügig an. Josef Nasi schickt anfangs der 1560er Jahre einen Stellvertreter voraus, der die Arbeiten vor Ort anleiten soll. Um die Textilproduktion aufzubauen, lässt er Maulbeerbäume als Nahrung für Seidenraupen pflanzen und Wolle aus Spanien importieren.
ERZÄHLERIN
Die anfängliche Euphorie verpufft rasch. Bis auf wenige Familien kapitulieren die Kolonisten vor den Härten der Aufbauarbeit. Die Strapazen der Anreise, die Angst vor Piraten und Berichte über feindselige Nachbarn schrecken Nachzügler ab. Zehn Jahre nach dem Start ist das Projekt gescheitert.
SPRECHER
Gracia erlebt den Niedergang nicht mehr. Sie stirbt vermutlich im Spätsommer 1569 in Konstantinopel.
MUSIK 11: Priere Hebräische Volksweise 0‘47
ERZÄHLERIN
Wir kennen weder ihr Todesdatum noch ihr Grab. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine außergewöhnliche Frau. Eine Frau, die weit mehr war, als nur die Chefin eines großen Bank- und Handelsimperiums der Renaissance.
07 O-TON LEHMANN (ca. 23 Sekunden)
Man könnte sie vielleicht gut als eine der großen jüdischen Philanthropinnen bezeichnen. Sie geht in die Geschichte ein als eine Wohltäterin, die etwas für ihre Gemeinschaft, für die Conversos oder für das jüdische Kollektiv getan hat. Eben wie eine neue Miriam, eine neue Debora, wirklich so eine heroische Figur in der jüdischen Geschichte.
Katzen galten bisher als pflegeleichte Einzelgänger, die man stundenlang alleine lassen kann. Neue Forschungen haben indes gezeigt, dass ihr Bindungsverhalten dem von Kleinkindern gleicht und sie auf vielfältige Art mit dem Menschen kommunizieren. Von Brigitte Kramer
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Xenia Tiling
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dennis Turner, Biologe, Zürich
Willa Bohnet, Biologin, Tierärztliche Fakultät der Hochschule Hannover
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Ein Podcast-Tipp für alle, die gerne authentische Geschichten hören: „Ein Zimmer für uns allein“ – zwei Frauen, zwei Generationen und die Frage „Wie hast du das erlebt?“
Hier trifft Paula Lochte immer zwei Frauen aus verschiedenen Generationen und sie sprechen offen und ehrlich über ein Thema, das sie verbindet. Was waren die Kämpfe damals, was sind sie heute? „Ein Zimmer für uns allein“ findet ihr in der ARD-Audiothek und überall, wo’s Podcasts gibt.
Literatur:
Schötz, Susanne: „Die geheime Sprache der Katzen“, Ecowin Verlag. Erlebnisse und Erkenntnisse der schwedischen Wissenschaftlerin, die mit fünf Katzen lebt.
Turner, Dennis C.: Turners Katzenbuch: Wie Katzen sind, was Katzen wollen, Kosmos Verlag. Ein Klassiker und hilfreicher Ratgeber für Katzenhalter.
Linktipps:Website von Susanne Schötz mit Lautbeispielen HIER
Telefonische Beratung von Willa Bohnet HIER gehts zur Website
Portal der US-amerikanischen Katzenforscherin Kristyn Vitale HIER gehts zur Website
Website von Dennis C. Turner HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN drüber
Sie können sich jetzt entspannen. Genießen Sie die kommenden 21 Minuten!
O1 ATMO Katzen hoch
SPRECHERIN drüber
… vorausgesetzt, Sie mögen Katzen?!
O1 ATMO Katzen
SPRECHERIN drüber
Wenn Sie eher zur Hundefraktion gehören oder Katzen sogar lästig und schädlich finden, weil sie ihr Geschäft in Ihren Vorgarten machen und Singvögel jagen …
O1 ATMO Katzen hoch
SPRECHERIN drüber
… oder sie unsympathisch finden, wegen ihrer angeblichen Unnahbarkeit, Unberechenbarkeit und Gleichgültigkeit – dann sollten Sie vielleicht trotzdem – oder gerade deshalb - zuhören. Denn Katzen ...
MUSIK ENDE
02 ATMO Katzen Katze sauer hoch, dann weg
SPRECHERIN
… sind gar nicht so, wie wir immer dachten!
Neue Forschungen zeigen ein ganz anderes Bild unserer Katzen: Sie sind gesprächig, anhänglich, sensibel, passen sich dem Leben ihrer Menschen an – ja, sie haben sogar eine eigene Sprache für ihre Betreuungsperson entwickelt … – Und: viele Katzen eigenen sich sogar gut für tiergestützte Therapie.
MUSIK privat Take 13 ”The Pink Panther Theme”; Album: Fascinating Rhythm; Label: Signum – SIG X76-00; Interpret: Ensemble Clarinesque; Komponist: Henry Mancini; ZEIT: 00:13
SPRECHERIN drüber
Katzen jagen Vögel und Mäuse, machen ihr Geschäft gerne auf weichem, lockerem Untergrund, sind eigenwillig. Das stimmt alles.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Und das ist auch ganz natürlich so, findet Dennis Turner (Englisch aussprechen), schweizerisch-amerikanischer Biologe:
01 Zsp. Katzen – Dennis Turner
Wir haben im Prinzip ein Wildtier, das freiwillig bei uns bleibt und interagiert mit uns.
SPRECHERIN
Es gibt inzwischen so genannte Rassekatzen, die sich in Felllänge und Farbe unterscheiden…–, aber die Unterschiede betreffen hauptsächlich das Äußere: Genetisch haben sich Hauskatzen, zu denen auch die Europäische Kurzhaar zählt, kaum verändert, seitdem die Ägypter sie in ihre Häuser gelassen haben. Unsere Hauskatzen stammen nicht von der Europäischen Wildkatze ab, sondern von der Falbkatze, einer afrikanischen Wildkatze. Sie ist zierlich, hat kurzes, hell-rötliches Fell - und sieht aus wie eine von Millionen Hauskatzen. Sie alle gehören zur Gruppe der Kleinkatzen: 40 Arten, zu denen unsere Hauskatze, ihre afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Verwandten zählen, aber auch Geparden, Pumas oder Luchse. Den Unterschied zu Großkatzen wie Löwe, Tiger, Jaguar und Leopard macht nicht die Körpergröße, sondern die Beschaffenheit des Zungenbeins: Das ist ein kleiner, runder Knochen, der unterhalb des Munds an Sehnen und Bändern hängt.
03 ATMO Katzen Brüllender Tiger / oder Löwe hoch, dann weg
SPRECHERIN drüber
Großkatzen können brüllen …
BLENDE O3 ATMO 3 / 04 ATMO Schnurren laut
SPRECHERIN drüber
… dafür aber nur beim Ausatmen schnurren. Kleinkatzen können nicht brüllen …
04 ATMO Schnurren laut
SPRECHERIN drüber
… dafür aber beim Aus- und Einatmen schnurren.
04 ATMO Katzen Schnurren laut
SPRECHERIN drüber, dann weg
Sicherlich eines ihrer Erfolgsgeheimnisse an der Seite des Menschen.
SPRECHERIN
Hunde begleiten den Menschen seit etwa 60.000 Jahren – Katzen „erst“ seit etwa 10.000 Jahren. Sie leben seit neun Millionen Jahren auf der Erde, von Asien breiteten sie sich auf der ganzen Welt aus. Mit der Sesshaftigkeit des Menschen kamen uns die Katzen näher, zunächst als Abfallvernichter, später als Mäusejäger in den Kornkammern … heute sind sie weltweit die beliebtesten Haustiere. Trotz ihres „Erfolgs“ haben Katzen in den letzten Jahrzehnten erheblich weniger wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten als Hunde. Doch das ändert sich gerade.
02 Zsp Katzen – Dennis Turner
Es gibt sicher eine Veränderung in unserer allgemeinen Haltung gegenüber Katzen. Früher waren Katzen vor allem auf Bauernhöfen gehalten als Nagetiervertilger, das ist klar. Und zunehmend, in den letzten, sagen wir 100 Jahren, werden sie effektiv als sozialer Begleiter von Menschen aufgenommen.
SPRECHERIN
Sie rücken uns buchstäblich näher. Und diese vermehrte Zuwendung bringt mehr Forschung mit sich. Bislang durchgeführte Studien deuten darauf hin, dass wir die sozial-kognitiven Fähigkeiten von Katzen – also ihre Fähigkeit, Informationen der Umgebung aufzunehmen, gedanklich und emotional zu verarbeiten und infolge zu handeln – unterschätzen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Katzen sich stark auf ihre Bezugsperson einstellen. Vorausgesetzt, sie haben in ihren ersten Lebenswochen Umgang mit Menschen. Dennis Turner:
03 Zsp Katzen – Dennis Turner
Neuere Studien auch von mir zeigen, dass Katzen auch ein echte Bond mit den Menschen machen. Sie hat Probleme, wenn sie getrennt sind zu lange von uns. Die sind eben wirklich von Bindungstheorie her sind Katzen vielleicht nicht ganz so stark gebunden an den Menschen wie Hunde ...
SPRECHERIN
… aber die Bindung ist da. Sie ist sogar mit der eines Kleinkindes vergleichbar! Kristyn Vitale (sprich: Kristinn Waitäli), US-amerikanische Forscherin, versetzt sich seit vielen Jahren in Katzen hinein. Vitale hat nachgewiesen, dass Katzen unterschiedliche Bindungsstile gegenüber menschlichen Bezugspersonen aufweisen, ähnlich wie Säuglinge.
05 ATMO Katze lieb hoch, dann weg
SPRECHERIN
Kristyn Vitale hat 2019 eine Studie zum so genannten „Sichere Basis-Effekt“, durchgeführt. Der Effekt stellt sich in der Eltern-Kind-Beziehung ein, wenn die Bezugsperson den Kindern Sicherheit vermittelt. Bei Hunden wurde dieser Effekt schon 2013 nachgewiesen. Nun ist er auch bei Katzen belegt. Die Tierwissenschaftlerin hat 79 Katzenjunge zwischen drei und acht Monaten einzeln zwei Minuten lang mit ihrer Betreuungsperson in einem unbekannten Raum platziert, gefolgt von einer 2-minütigen Alleinphase und dann einer zweiminütigen Wiedervereinigungsphase. Nach der Rückkehr der Betreuungsperson zeigten knapp 65 Prozent der Kätzchen ein Verhalten, das auf sichere Bindung schließen lässt: Reduzierte Stressreaktion und sowohl Kontakt- als auch Erkundungsverhalten. Der Rest zeigte unsicheres Bindungsverhalten: Die Kätzchen blieben gestresst, suchten entweder übermäßige Nähe, vermieden die Person oder verfielen in einen Annäherungs- Vermeidungskonflikt. Dahinter stecken die drei bei Menschen bekannten, unsicheren Bindungstypen: vermeidend, ambivalent oder desorganisiert.
Bei der Fortführung der Versuchsreihe über ein Jahr belegten Kristyn Vitale und ihr Team dann, dass die Katzen auch im Erwachsenenalter ihren Bindungstyp beibehalten und sich dabei ähnlich verhalten wie Kinder
MUSIK „Everybody wants to be a cat”; ZEIT:00:33
SPRECHERIN drüber
Katzen mit sicherem Bindungsverhalten, also die Mehrheit, können sogar mehr sein als „soziale Begleiter des Menschen“, wie Dennis Turner das nennt. Sie können Menschen heilen, oder zumindest ihre Heilung fördern. Dennis Turner hat in Zürich viele Jahre zu tiergestützter Therapie mit Katzen geforscht:
MUSIK ENDE
O4 Zsp Katzen – Dennis Turner
Was sie sehr speziell macht, ist, dass sie akzeptieren die Menge an sozialen Interaktionen, die der Mensch haben will. Entweder der Mensch will viel Kontakt mit Ihrer Katze oder wenig Kontakt mit Ihrer Katze, und das akzeptieren die Katzen. Sie bleiben in der Nähe oder im Haushalt.
SPRECHERIN
Treue Seelen sozusagen, die zugleich zurückhaltend sind, was gerade bei Menschen mit Stimmungsschwankungen, die nicht immer gleich viel Kontakt zu ihrem Haustier halten wollen oder können, gut funktioniert. Katzen wollen im Gegensatz zu Hunden, so Dennis Turner, „nicht immer sofort alle Probleme des Menschen lösen.“ Turner hat in Zürich unter anderem das Mensch-Katze-Verhältnis bei Paaren untersucht, die mit einer Katze leben. Er hat festgestellt, dass in diesem Setting Katzen positiver auf Frauen als auf Männer wirken. Das heißt, bei Paaren, die Katzen haben, empfinden die Frauen die Katze und den fürsorglichen Partner als vergleichbar positiv. Für Männer ist allerdings die Frau wichtiger als die Katze, wenn es um seelische Leiden geht.
O6 ATMO Katze / Miauen („genau“) falls nicht zu ‚kindisch‘
O5 Zsp Katzen – Dennis Turner
Allerdings es gibt eine Ausnahme, wenn wir vergleichen die Wirkung von Katzen auf Stimmungen von alleinlebenden Frauen mit alleinlebenden Männern. Die Katze hat genau die gleiche Wirkung auf beide Geschlechter. Es ist ganz interessant.
SPRECHERIN
Keine der Testpersonen hatte eine psychische Störung diagnostiziert, viele litten aber unter Stimmungsschwankungen:
O6 Zsp Katzen – Dennis Turner
Insbesondere konnte mein damaliger Masterstudent zeigen, dass mit Katzen negative Stimmungen wie Deprimiertheit, Ängstlichkeit und Introvertiertheit reduziert werden, also verbessert werden.
SPRECHERIN
Immer mehr Psychotherapeuten und Psychiater wissen das und halten sich Katzen in der Praxis und beziehen diese auch in die Therapie ein. Bei Menschen, die Erfahrung mit Tieren haben, können sie als emotionale „Eisbrecher“ wirken, sie sind wie eine Brücke zwischen Patienten und Therapeut. Tiergestützte Therapie, also wenn Tiere als Co-Therapeuten dienen, funktioniert mit Katzen besonders gut:
O7 Zsp Katzen – Dennis Turner
Wenn man ein Tier in tiergestützte Therapie hinzufügt, muss die Wirkung vom Tier noch stärker sein, über die Wirkung von Psychotherapie oder medikamentöse Behandlungen haben. Und das ist inzwischen bewiesen. Und wir wissen auch, wieso Katzen funktionieren.
SPRECHERIN
Katzen tun im Grunde dasselbe, wie wohlgesonnene Menschen, die einen psychisch Kranken in der Familie haben:
O8 Zsp Katzen – Dennis Turner
Sie ändert ihr Verhalten bei deprimierten Stimmungen, sie streichelt viel mehr um die Beine. Und da hilft die Katze. Und das ist genau das, was der gesunde Partner in Menschen macht bei chronisch depressiven Personen.
01 ATMO Schnurren konstant
SPRECHERIN drüber
Katzen interagieren mehr, zeigen mehr Zuneigung und Interesse, wenn ihre Besitzer depressiv verstimmt sind.
01 ATMO stehen lassen, dann BLENDE
MUSIK „Everybody wants to be a cat”; ZEIT:00:50
SPRECHERIN drüber, dann weg
Die französische Verhaltensforscherin Charlotte de Mouzon (sprich: Scharlott dö Musó) hat die innerartliche Kommunikation zwischen 18 Hauskatzen und Besuchern und Betreuern in zwei Katzencafés in Bordeaux und Toulouse untersucht. Sie hat dabei unter anderem festgestellt, dass Menschen oft ein bestimmtes Sprachregister verwenden, um mit Haustieren zu sprechen, nämlich eine höhere Tonlage. Das ist aber nur bedingt wirksam: Die Katze versteht zwar, dass sie gemeint ist, vor allem, wenn sich ihre Bezugsperson an sie wendet, aber noch besser versteht sie uns, wenn wir „bimodal“ kommunizieren, also visuell und stimmlich. Das gleiche gilt umgekehrt: Wir verstehen Katzen besser, wenn sie sich uns mittels Stimme und Körpersprache mitteilen:
MUSIK ENDE
06 ATMO verschiedene Katzengeräusche (falls vorhanden)
SPRECHERIN drüber, evtl Atmo dazwischen hochfahren, sodass eine Art „Sprechen“ entsteht
Gurren, Miauen, Schnattern, Keckern, Knurren, Zischen oder Fauchen kombiniert mit hin- und her wedelndem Schwanz, angelegten oder weggedrehten Ohren, Buckel oder steil aufgestelltem Schwanz mit gebogener Spitze … Katzenhalter wissen, was los ist.
06 ATMO nochmal hoch, dann weg
MUSIK privat Take 13 ”The Pink Panther Theme”; Album: Fascinating Rhythm; Label: Signum – SIG X76-00; Interpret: Ensemble Clarinesque; Komponist: Henry Mancini; ZEIT: 01:32
SPRECHERIN
Und welche visuellen Signale sollten wir Menschen den Katzen senden, damit sie uns besser verstehen?
Bei Erstkontakt nie direkt in die Augen blicken, das wirkt herausfordernd. Dann: Sich in Katzenhöhe begeben, also in die Hocke gehen oder auf den Boden setzen; eine Hand ausstrecken und unterhalb des Kopfes der Katze platzieren, damit sie schnüffeln kann; beobachten, ob die Katze gestreichelt werden will oder nicht, also ihr die Initiative überlassen. UND: Von schnellen Bewegungen ist abzuraten, wenn man Vertrauen aufbauen will.
Abgesehen davon kennen Katzen ihre Besitzer oder Betreuer genau, das hat Charlotte de Mouzon auch herausgefunden. Sie haben sich sozusagen auf uns Menschen spezialisiert: Sie können beispielsweise unsere Zeige-Gesten lesen, um verstecktes Futter zu finden und dem menschlichen Blick folgen, um wichtige Informationen zu erhalten, zum Beispiel wo die Spielmaus liegt – unterm Sofa etwa. Katzen blicken auch schnell zu ihrem Besitzer, wenn sie ein potenziell beängstigendes Objekt sehen. Darüber hinaus können sie menschliche Gefühlsausdrücke, Aufmerksamkeitszustände und Stimmungslagen unterscheiden: Sie können genau wie Hunde und Pferde visuelle und akustische Signale aufnehmen und „deuten“, um unsere Emotionen zu erkennen, und ihr Verhalten daran anzupassen.
MUSIK ENDE
06 ATMO Katze "genau" hoch, dann weg
SPRECHERIN
Zur Kommunikation Katze-Mensch hat auch Susanne Schötz geforscht. In ihrem Buch „Die geheime Sprache der Katzen“ unterscheidet die schwedische Phonetikerin zwischen mit geschlossenem Maul erzeugten Lauten ...
01 ATMO Schnurren konstant
SPRECHERIN drüber
… allen voran das Schnurren, das Katzen übrigens nicht nur bei Zufriedenheit, sondern auch bei Schmerzen, Geburt und sogar beim Sterbeprozess erzeugen. Es bedeutet so etwas wie „Von mir geht keine Gefahr aus“.
01 ATMO Schnurren weg
SPRECHERIN
Katzen können mit geschlossenem Maul auch kurz Trillern, Murren, Grunzen oder Brummen, oft in Kombination mit einem Miau oder während des Schnurrens.
07 ATMO Gurren (Archiv? auf der Webseite von Susanne Schötz sind Klangbeispiele, leider so schlecht aufgenommen, dass man sie nicht senden kann)
SPRECHERIN
Diese knappe Lautäußerung wird oft zur Begrüßung, bei der Annäherung und beim Spielen eingesetzt. Manchmal klingt sie höher, manchmal tiefer. Zu den Lautäußerungen mit offenem Maul gehört natürlich das Miauen, und hier gibt es ein breites Register. Katzenbesitzer können ein „Ich habe dich vermisst“...
07 ATMO Katze Ich habe dich vermisst hoch, dann weg
SPRECHERIN
… von einem „Futter her!“
08 ATMO Futter her! hoch, dann weg
SPRECHERIN
... und einem „Vorsicht Freundchen“- Miauen eindeutig unterscheiden:
09 ATMO Vorsicht Freundchen! hoch, dann weg
SPRECHERIN
Beim Kämpfen zeigen sich Katzen von ihrer wilden Seite. Sie können anhaltend tief knurren und sich dabei steigern, sie können fauchen und dabei die Zähne zeigen, kreischen - als allerletzte Warnung, und sogar spucken. Diese Eigenschaften bleiben uns oft verborgen, denn Freigänger-Katzen scheinen oft zwei Persönlichkeiten zu haben: In der Stube das Schmusekätzchen, im Freien der Raufbold:
10 ATMO Katze Revierverteidiger
SPRECHERIN
Bei der Jagd imitieren Katzen sogar oft die Geräusche des Vogels oder Insekts, um die Aufmerksamkeit abzulenken.
O1 MUSIK sanft etwas stehen lassen
MUSIK privat Take 13 ”The Pink Panther Theme”; Album: Fascinating Rhythm; Label: Signum – SIG X76-00; Interpret: Ensemble Clarinesque; Komponist: Henry Mancini; ZEIT: 00:22
SPRECHERIN drüber
Miaut wird im Leben einer wild lebenden Katze, wenn wir das entspannte Miauen in heller Tonlage meinen, übrigens nur am Lebensanfang. Hauskatzen behalten es ihr Leben lang bei. Verhaltensforscherin Willa Bohnet am Institut für Zoologie an der Tierärztlichen Hochschule Hannover weiß auch, warum:
MUSIK ENDE
09 Zsp Katze – Willa Bohnet
Weil das so ein Kontaktlaut ist der Kitten mit der Mutter. Und die jungen Katzen, die zeigen das später auch, also wenn sie dann nicht mehr bei der Mutter sind, aber vielleicht noch mit Geschwistern zusammen sind als Kontaktlaut zwischen einander und dann eben auch als Kontakt mit dem Menschen. Und ja, wenn die dann lernen, dass sie eben mit dem Miauen bei uns was erreichen, auch wenn es nur unsere Aufmerksamkeit ist.
11 ATMO Katze nervt
SPRECHERIN
Und da sind sie geschickt:
10 Zsp Katze – Willa Bohnet
Sie lernen auch sehr gut, ihre lautliche Kommunikation auf den Menschen anzupassen. Also je nachdem, was sie haben möchten: Leiser, lauter, schriller zu sein. Wie auch immer. Und das kann bei manchen Katzenrassen, die sehr stimmgewandt sind, so Siamkatzen und ähnliche, da kann das dann ganz schön nervig werden, weil, die werden lauter und lauter und lauter und kreischen und kreischen.
SPRECHERIN
Willa Bohnet verweist auf das Bindungsverhalten dahinter:
12 Zsp Katze – Willa Bohnet
Ich habe das bei meinen Katzen auch immer genauso ausgenutzt. Das heißt von Anfang an, wenn ich mit den Kätzchen dann nach draußen gegangen bin, habe ich miaut, um ihnen auch zu zeigen, wo ich bin und dann sind die mir dann auch hinterhergelaufen.
SPRECHERIN
Willa Bohnet forscht zur Kommunikation und sozialen Bindung von Katzen gegenüber ihren Besitzern und Artgenossen. Und sie berät Tierbesitzer telefonisch zu Verhalten und Tierschutz. Unsaubere Katzen, aggressive Katzen, Katzen, die den ganzen Tag schlafen, bereiten den Anrufern und Anruferinnen Sorgen. Viele halten ihre Katze nur in der Wohnung. Bei Wohnungskatzen kommen tatsächlich die meisten Verhaltensprobleme vor, haben wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt:
15 Zsp Katze – Willa Bohnet
Einfach weil das Erkundungsverhalten fehlt. Und Erkundungsverhalten wird ja einmal von innen heraus wird das, wird das motiviert. Also ich möchte jetzt gerne irgendwas machen, irgendwas tun, aber genauso eben auch durch Außenreize. Und wenn eine Wohnungskatze halt eben nur in der Wohnung ist, da gibt es dann halt nicht so viel Außenreize. Ja, es sei denn, ich gestalte das so, dass das die Katze zum Fenster rausgucken kann. Und es ist nicht gerade die fünfte Etage, sondern es ist irgendwo ein Garten dahinter und sie kann da noch irgendwas beobachten. Ja, wobei es auch dadurch zu Problemen kommen kann. Wenn da nämlich regelmäßig durch den Garten fremde Katzen laufen, dann kann es sein, dass meine Katze an der Terrassentür dann eben auch Markierverhalten zeigt. Entweder durch Kratzen oder auch durch Urinspritzen. Ganz normales Verhalten.
SPRECHERIN
Können unterforderte Wohnungskatzen auch Depressionen bekommen?
16 Zsp Katze – Willa Bohnet
Wenn Tiere Depressionen aufweisen, dann ist damit auch anderes verbunden. Also nicht nur viel schlafen, sondern zum Beispiel auch vermindertes Sozialverhalten, wenig Interesse an der Umgebung usw. usw. Und das sieht man bei den meisten dieser Katzen nicht. Die schlafen einfach nur mehr, die ruhen mehr. Aber wenn dann der Besitzer da ist und mit denen spielt, dann sind sie auch aufmerksam und spielen.
SPRECHERIN
Spielen, Schmusen, ‚Reden‘ ... jegliche Interaktion zwischen Mensch und Tier ist in diesem Fall besonders wichtig. Für Vollzeit-Berufstätige außer Haus oft eine Herausforderung. Sind dann zwei Katzen eine Lösung?
17 Zsp Katze – Willa Bohnet
Ich gehe los und suche für meine Katze eine Katze, die ich besonders toll finde. Und dann komme ich nach Hause und dann sagt meine Katze Neeh, wer ist das denn? So was kann ich ja hier gar nicht gebrauchen. Vollkommen unsympathisch! Und dann bei einer Wohnungskatze, das ist ihr Territorium! Und plötzlich kommt da eine fremde Katze ins Territorium rein. Hallo? Und das ist auch nicht die Lösung. Also wenn man so viele Stunden nicht zu Hause ist, dann sollte man sich überlegen, ob es überhaupt gut ist, sich ein Haustier anzuschaffen.
SPRECHERIN
Das ist der Extremfall. Geschwisterkatzen oder Katzen, die vom Charakter her zusammenpassen, können sich sehr wohl ergänzen und gegenseitig unterhalten. Das Grundproblem ist und bleibt aber das Dasein als Wohnungskatze:
18 Zsp Katze – Willa Bohnet
Da fehlt natürlich der Katze eine ganze Menge von ihrem normalen Ausleben ihrer Funktionskreise. Viel ist zum Beispiel das Jagdverhalten. Und wenn jetzt im Tagesablauf diese 20 Prozent der Beschäftigung zum Jagen und dann kommen ja auch noch mal dazu, wenn die draußen umherlaufen, die erkunden ja, die zeigen Sozialverhalten. Da sind Markierungen, die kann man lesen, da kann man schnuppern, da kann man neu drüber markieren. Das heißt, ganz viel Erkundungsverhalten wird da auch gestillt. Die beobachten die Umgebung dann finden sie tatsächlich mal sehen sie irgendein Beutetier? So eine Jagd auf eine kleine Maus ist sehr anstrengend. Ja, da müssen die sich sehr stark konzentrieren. Die dürfen sich ja fast gar nicht bewegen. Die müssen sich anschleichen, den richtigen Moment abpassen. Dann springen sie los und verfehlen die Maus. Dann geht das Ganze noch mal von neuem los. Das heißt, da haben die ganz viel für den Kopf auch zu tun. Ja, und so eine Wohnungskatze ist dann halt zu Hause und die beschäftigen sich zum größten Teil mit Schlafen.
SPRECHERIN
Willa Bohnet empfiehlt Spielen, und zwar mindestens eine halbe Stunde lang Jagdspiele, auf zwei, dreimal über den Tag verteilt. Katzen sind heute viel abhängiger von uns als früher, denn wir haben ihnen viel Freiraum genommen. Und Katzen sind, außer bei der Jagd, keine Einzelgänger, das haben diverse Forschungen der letzten Jahre belegt. Sie sind soziale Tiere, die mit Partnerkatzen oder Menschen, die sie mögen, „soziopositives Verhalten“ zeigen: Um die Beine streichen, Köpfchen geben, schnurren, Milchtritt. …
12 ATMO Katze Schnurren
19 Zsp Katze – Dennis Turner
Sie hat Riesenfreude, und kann man es nicht anders sagen, wenn wir nach Hause kommen, und das wissen alle Katzenhalter, wer kommt entgegen mit dem Schwanz hoch, um uns zu begrüßen, wenn wir nach Hause kommen? Sie hat uns vermisst, wenn wir weg sind, und sie freut sich. Vielleicht kehrt sie um und geht weg für ein Weilchen, nachher. Zuerst kehrt sie den Rücken. Also, du hast mich verraten! Du bist weggegangen! Aber relativ kurz danach kommt die Katze und schmust mit dem Halter, der Halterin.
MUSIK privat Take 13 ”The Pink Panther Theme”; Album: Fascinating Rhythm; Label: Signum – SIG X76-00; Interpret: Ensemble Clarinesque; Komponist: Henry Mancini; ZEIT: 01:05
SPRECHERIN
Sagt Dennis Turner. Katzenhalter muss man nicht überzeugen. Katzenhasser oder Mitglieder der Hundefraktion können an dieser Stelle vielleicht erkennen, dass Katzen in manchen Bereichen Hunden ähnlich sind: Katzen sind treu, sie können eine stabile Bindung zu uns aufbauen, sie sind uns gutgesonnen, wenn sie früh mit uns sozialisiert wurden. Das geht so weit, dass sie uns aus Depressionen, Angstzuständen und anderen psychischen Krankheiten heraushelfen können, weil sie unsere Gefühlsausdrücke deuten können, Aufmerksamkeitszustände erkennen und Stimmungslagen spüren. Dabei sind sie nicht aufdringlich, sondern bleiben einfach ‚nur‘ … in unserer Nähe.
Bittere Armut trieb die Menschen in Norditalien dazu, sich in den Sommermonaten auf bayerischen Baustellen und Ziegeleien zu verdingen. Der Bauboom des späten 19. Jahrhunderts ist auch ihr Verdienst. Von Julia Devlin
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Caroline Ebner, Sebastian Fischer
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Lambert Grasmann, ehem. Direktor des Heimatmuseums Vilsbiburg
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Mutter haben - Eine Familiengeschichte im Schatten der deutschen Teilung von Ruth Johanna Benrath in 2 Episoden
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR Pietro Menis
Meinen Einstand, meine erste Erfahrung in Deutschland erlebte ich zu Beginn des Jahrhunderts in der Ziegelei von Marktoberdorf in Bayern. Ich war noch keine elf Jahre alt und hatte nie zuvor einen Zug bestiegen, noch die Welt jenseits der Berge von Gemona gesehen. Dreißig Stunden dauerte die Fahrt in drei verschiedenen Zügen: einer bis zur Grenze bei Pontebba, ein zweiter durch Österreich bis Kufstein und ein dritter durch Ebenen, dichte Wälder und geschäftige Städte des fetten Bayern. Wie groß war doch die Welt!
SPRECHERIN
So beschrieb der Schriftsteller Pietro Menis, wie er im Jahr 1903 das erste Mal nach Bayern kam, um als "Mui", als Wegtrager in einer Ziegelei zu arbeiten. Er war zehn Jahre alt, und ihn quälte das Heimweh.
ATMO Dampfzug
ZITATOR Pietro Menis
'Gleich sind wir da, "mui", packt eure Sachen.' Durch das beschlagene Fenster sah ich dichtes Schneetreiben. Kurz danach hielt der Zug unter einem kleinen Dach, unter das der Sturm den Schnee trieb. Ich zitterte vor Kälte und Angst. 'Um diese Zeit macht deine Mutter die Polenta!' sagte einer. Ich begann zu weinen; sie hatten ihr Ziel erreicht und lachten mit unmenschlichem Vergnügen. Ich erinnere mich, daß 'die Großen', die 'eisenharten' Ziegler, auch später, in den folgenden Jahren, ihren Sadismus auslebten, indem sie den Jüngsten ihre heiligste Zuneigung in Erinnerung riefen - die geliebten Gesichter in der Ferne.
SPRECHERIN
Pietro war einer von tausenden Italienern, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre ländlich geprägte Heimat in Norditalien verließen, um sich während der Sommersaison im Ausland zu verdingen.
ZITATOR Pietro Menis
Die 'Arbeit', die Ziegelei, befand sich in einem kleinen Tal zwischen einem Hügel, der rechts anstieg, und einem Fluß, der links hinunterfloß. 'Beim Morgengrauen geht's los. An die Mutterbrust könnt ihr euch im Herbst wieder werfen...'
MUSIK 2 Gerd Baumann & Gregor Hübner: In dead silence 1‘00
SPRECHERIN
Es war die bittere Not, die die Menschen dazu zwang. Schon immer war es in den kargen Alpentälern schwer gewesen, sich ein Auskommen zu verschaffen, und Saisonwanderung, besonders von spezialisierten Handwerkern wie Terrazzolegern und Schmieden, aber auch von Krämern, hatte jahrhundertealte Tradition. Dann geriet die italienische Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine Krise, da billige Agrarprodukte aus Russland und den USA auf den Markt kamen. Dies traf besonders die norditalienische Region Friaul schwer. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung stark an, vor allem, weil die Kindersterblichkeit erheblich zurückging. Die Menschen verarmten, denn es gab nicht genug Arbeitsplätze in der Nähe. Nun waren es nicht mehr nur die spezialisierten Handwerker, die saisonal nach Arbeit suchten, sondern vor allem ungelernte Kräfte.
ATMO Baulärm
SPRECHER
Anders nördlich der Alpen. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nahm die Industrialisierung im Deutschen Kaiserreich Fahrt auf, die Städte wuchsen, das Eisenbahnnetz verdichtete sich. Es gab immer mehr Arbeit, und immer mehr Baustellen. Gleichzeitig wurde es auch immer schwieriger, in den Sommermonaten genügend Arbeitskräfte für die Saisonarbeit zu finden. Mit Einheimischen war das nicht mehr zu stemmen - zumal am Ende des 19. Jahrhunderts eine Auswanderungswelle knapp zwei Millionen Deutsche nach Übersee geführt hatte. Da lag es nahe, ausländische Arbeitskräfte anzustellen. Sie waren bereit, die harte Arbeit zu leisten, die bei den Einheimischen nicht beliebt war.
MUSIK 3 Gerd Baumann: Sieben Leben 0‘56
SPRECHERIN
Auch Bayern boomte. Hier fanden vor allem Arbeitskräfte aus Italien Arbeit. Weil sie von jenseits der Alpen kamen, wurden sie "transalpini" genannt. Sie fanden - wie Pietro Menis - vor allem in den zahlreichen Ziegeleien Arbeit. Wo immer sich im lehmreichen Bayern im 19. Jahrhundert ein Vorkommen dieses Rohstoffs fand, wurde er alsbald abgebaut, zu Ziegeln verarbeitet und zu den nächstgelegenen Baustellen gebracht. Zahlreiche Ziegeleien gab es zum Beispiel um Augsburg und München. Die dort gefertigten Ziegel wurden für den Bau der rasch wachsenden Stadt benötigt, für die großen Kasernen, für die Pflasterung der Gehwege und Straßen und für die Tunnel der neuen Kanalisation. Die Städte waren ziegelhungrig, sie verschlangen Unmengen des Baustoffes.
SPRECHER
Doch auch anderswo, wo der Rohstoff Lehm zu finden war, entstanden aufgrund der großen Nachfrage Ziegeleien. So auch im niederbayerischen Vilsbiburg. Im Heimatmuseum der Stadt erfährt man viel zu der Ziegeleigeschichte. Lambert Grassmann hat hier in seiner Zeit als Direktor des Heimatmuseums die Abteilung "Ziegelpatscher und Ziegelbrenner im Vilsbiburger Land" eingerichtet. Im obersten Stockwerk des stattlichen Baus - dem ehemaligen Heilig-Geist-Spital aus dem Spätmittelalter- kann man seine Funde bewundern.
SPRECHERIN
Da gibt es Dachziegel aller Formen und Größen, tönerne Wetterhähne, die hölzernen Formen, in denen der rohe Lehm gepresst wurde. Es gibt markierte Ziegelsteine, die Beschriftungen tragen, auf denen eine Zeichnungen eingeritzt ist oder ein Name. Dies sind die Feierabendziegel, bei denen sich ein Ziegler die Freude gemacht hat, einen Ziegel individuell zu verschönern. Anrührend das Exemplar, das den Abdruck einer kleinen Hand zeigt: Hier hat ein Kind, vielleicht so alt wie Pietro Menis, seine Hand in den noch feuchten Lehm gedrückt. Lambert Grasmann hat diese Exponate zusammengesucht. Wie er erzählt, hat er
O-Ton Grasmann 1
Darunter einen Ziegelstein erhalten, eine Bodenplatte, die bezeichnet ist: "Buia, Santi Angelo". Kein Mensch hat gewusst, was das bedeutet.
SPRECHER
Die quadratische Platte aus Ton stammte aus einem Bauernhaus der Umgebung. Sie war Teil des Fußbodenbelags gewesen. Jemand hatte sich große Mühe damit gegeben, in sorgfältigen Buchstaben in den noch feuchten Ton zu ritzen: Buia Santi Angelo.
O-Ton Grassmann 2
Der Kreisheimatpfleger von Dingolfing, Fritz Markmüller, hat mir das aufgelöst: Buja ist eine Stadt, wo - aus dem Umkreis vor allem - Ziegler nach Bayern, in die Schweiz und nach Frankreich gewandert sind und haben Ziegel hergestellt.
SPRECHERIN
Buja liegt im Friaul, einer Landschaft in Venetien im Nordosten Italiens. Die in Bayern tätigen transalpini kamen vor allem aus dieser Gegend. Lambert Grassmann hat sogar noch einen persönlichen Kontakt zu den transalpini herstellen können.
O-Ton Grassmann 3
Und ich habe einen alten Herrn gefunden, der ist mir verraten worden von der Gemeinde, einen Domenico Calligaro, dessen Vater in Vilsbiburg von 1883 bis 1908 Akkordant, also Ziegelmeister war, und der für die Anwerbung der Arbeiter, dann fürs Essen zuständig war, und auch für die Bezahlung, die er ja vom Ziegeleibesitzer erhalten hat, die hat er dann an die Arbeiter weitergegeben.
SPRECHERIN
Die Akkordanten waren Zwischenunternehmer. Sie waren oft selber Ziegeleiarbeiter gewesen und beherrschten die benötigten Sprachen - deutsch, italienisch und das im Friaul gesprochene furlanisch. Vor Saisonbeginn handelten sie mit den Ziegeleibesitzern einen Vertrag aus. Darin wurde festgelegt, wieviele Steine zu liefern waren und wie die transalpini untergebracht und verpflegt würden. Auch der Preis für 1000 Stück Steine wurde ausgehandelt. Mit dem Vertrag in der Tasche kehrten die Akkordanten ins Friaul zurück und warben dort eine Mannschaft, die sogenannte squadra an. Die Menschen, die die Wintermonate ohne Einkommen gewesen waren, verpflichteten sich bereitwillig. Diese Tage des Anheuerns wurden in einigen Dörfern wie ein Volksfest begangen, auch wenn kritische Stimmen von einem "Markt für Menschenfleisch" sprachen.
MUSIK 4 Gerd Baumann: Brenner 1‘00
SPRECHER
Im März oder April brachen die Ziegler dann nach Deutschland auf. Vor dem Bau der Bahn war dies ein Fußmarsch von etwa zehn Tagen. Die Route folgte jahrhundertealten Pfaden, über den Plöckenpass, den Felbertauern und den Pass Thurn nach Kitzbühl und Kufstein bis nach Bayern. Der Akkordant führte seine Arbeitsgruppe, organisierte die Verpflegung und die Unterkunft auf der Strecke.
SPRECHERIN
Mit der Brennerbahn wurde 1867 eine direkte Verbindung zwischen Deutschland und Italien geschaffen. Dies verkürzte die Reisedauer nach Bayern auf zwei Tage. Im Herbst ging es dann zurück. Der Akkordant Luigi Calligaro blieb jedoch in Vilsbiburg, wie Lambert Grassmann von dessen Sohn erfahren hat.
O-Ton Grassmann 4
Der Domenico Calligaro, 1890 geboren, war natürlich bei seinem Vater mit dabei, und der Mutter, und die haben diese Jahre, von 1883 bis 1908 in Vilsbiburg gelebt. Die sind praktisch nicht heimgefahren, oder heimgewandert, wie die Ziegelarbeiter, die ja im März gekommen sind und im Oktober, spätestens Anfang November wieder in die Heimat mit Geld zurückgekehrt sind, sondern der ist dageblieben. Dieser Luigi Calligaro, dieser Akkordant, der hat in Vilsbiburg eine gehobene Stellung gehabt. Der war schon jemand, den man auch gehört hat.
SPRECHER
Durch ihre Orts- und Sprachkenntnisse hatten die Akkordanten eine mächtige Position, denn die von ihnen geworbenen Saisonarbeiter waren auf sie ebenso angewiesen wie die Ziegeleibesitzer. Möglicherweise war die verbesserte Bahnverbindung der Grund dafür, dass der Akkordant Luigi Calligaro nicht mehr als Begleitung benötigt war. Auch war es für das Familienleben einfacher - der Sohn Domenico musste nicht aus seinem Alltag herausgerissen werden.
O-Ton Grassmann 5
Er war ja im Kindergarten in Vilsbiburg, und ist auch in die Schule gegangen, er hat mir sein Schulzeugnis gezeigt.
Ich hab von seinem Sohn dann, vom Piere-Luigi, ein Erstkommunionzeugnis von 1901 bekommen; das kann man im Heimatmuseum sehen.
MUSIK 5 Salewski & Thomas Geltinger: Radfahren 0‘52
SPRECHERIN
Fast achtzig Jahre später kehrte Domenico Calligaro nach Vilsbiburg zurück - 1979, zu einem Klassentreffen. Lambert Grassmann hat ihn dann kurz darauf während eines Italienurlaubs in Buja besucht. Daraus entwickelte sich nicht nur eine persönliche Freundschaft, sondern auch eine lebendige Städtepartnerschaft zwischen Vilsbiburg und Buja.
SPRECHER
Sehr gerne kommen die Besucher aus Buja ins Museum, denn hier liegt ein Verzeichnis mit über 2.300 italienischen Ziegelarbeitern und -arbeiterinnen aus. Lambert Grasmann hat dazu Krankenversicherungsunterlagen ausgewertet. Denn im wilhelminischen Kaiserreich waren ab 1883 alle Beschäftigten in Handwerks-, Fabrik- und Gewerbebetrieben krankenversicherungspflichtig.
O-Ton Grassmann 7
Da sind also die Namen drin, die Herkunft der Ziegler, die persönlichen Daten, der Arbeitsort, und die Arbeitszeit, also vom Anfang bis zum Herbst, solang sie halt da waren.
SPRECHERIN
Eine Fundgrube für die Familienforschung.
O-Ton Grassmann 8
Wenn Besucher aus Buja kommen, da können die wunderbar suchen drin, die finden dann einen Angehörigen, der da gearbeitet hat.
MUSIK 6 Salewski & Thomas Geltinger: Oli 1‘00
SPRECHERIN
Die Arbeit in den Ziegeleien war hart. Ein zeitgenössischer Beobachter schreibt:
Zitator Giovanni Cosattini
Die Arbeiter, welche der größten Anstrengung unterworfen sind, sind die Handformer, deren Arbeit, den Tonklumpen hochzuheben und in die Form zu drücken, eine große Arbeitskraft in Armen und Brust erfordert... Jeder Ziegelformer hat eine Arbeitsbank zu seiner Verfügung nebst einer kleinen Kiste für den Sand, der auf das Rohmaterial gestreut wird... Ihm helfen zwei Muli, wie im Berufsjargon die beiden Knaben zwischen 10 und 15 Jahren genannt werden, denen es obliegt, die gefüllte Form aufzuheben, den Ziegel herauszunehmen, ihn auf den Trockenplatz zu schaffen, die Form zur Bank zurückzubringen, sie mit Sand zu bestreuen und dem Former zu reichen.
SPRECHERIN
Auch Frauen wurden als Muli eingesetzt.
O-Ton Grassmann 15
Die Frauen, das waren die Wegtrager. Und die Kinder. Die mui auf Furlan, auf Friulanisch, und sonst auf Italienisch heißen sie muli. So hat man sie genannt, und so hat man sie auch benutzt.
SPRECHERIN
Zwischen fünf- und siebentausend Ziegel musste ein einzelner stampatore, ein Ziegelpatscher, wie er auf bayerisch hieß, an einem Tag schlagen. Die Arbeit begann zwischen vier und fünf Uhr morgens und dauerte bis in die Nachtstunden. Und dies bei ebenso dürftiger Ernährung, die vor allem aus Polenta und Käse bestand, und bei dürftiger Unterkunft: Die Schlafräume waren meist mit Stroh ausgelegte Bretterverschläge auf dem Gelände der Ziegelei, oder die Holzböden der Trockenstadel.
SPRECHER
Im Jahre 1879 setzte das Königreich Bayern eine Gewerbeaufsicht ein, um den Schutz von Arbeitern und Arbeiterinnen in Betrieben zu kontrollieren. Lambert Grassmann weiß zu berichten:
O-Ton Grassmann 9
Da ist der sogenannte Fabrikeninspektor gekommen aus Landshut und hat nachgeschaut, wie es mit den Arbeitsstellen ausschaut, mit den Unterkünften, etc., mit den hygienischen Verhältnissen, und das waren natürlich nicht die besten. Gerade die sogenannten Aborte, hat er geschrieben: "Es gibt kein Dach, es gibt keine Seitenwand, es gibt keine Rückwand, es gibt keine Türe. Es gibt nur einen Balken." Und dann, aufgrund dieser Beanstandung, ist es dann besser geworden. Es sind dann feste Unterkünfte gemacht worden, ein paar Häuser stehen noch...
SPRECHER
Besonders die Kinder- und Jugendarbeit in den Ziegeleien war der Gewerbeaufsicht ein Dorn im Auge. Sie versuchten, das Mindestalter für die Jugendlichen heraufzusetzen und ihre Arbeitszeit zu begrenzen.
O-Ton Grassmann 10
Es hat einen Aushang geben müssen, wo also diese Schüler aufgelistet werden müssen, 28.47 und da ist also immer wieder aufgefallen, dass welche unter 13 Jahren, mit 10 Jahren also haben sie welche mitgenommen. Und die san dann heimgeschickt worden. Wie das gegangen ist, weiß ich nicht, aber sie sind dann heimgeschickt worden.
MUSIK 7 Salewski & Thomas Geltinger: Martins Aquarium 1‘24
SPRECHERIN
Auch in der bayerischen Schulbehörde sorgte man sich um die minderjährigen Italiener. Denn die Schulpflicht erstreckte sich in Bayern auch auf ausländische Kinder. So richtete ab 1890 die Schule an der Wörthstraße im Münchener Stadtteil Haidhausen eigene Schulklassen ein, in denen die Kinder der transalpini und jugendliche Ziegeleiarbeiter auf Italienisch unterrichtet wurden. Hier, am Ostufer der Isar, befanden sich zahlreiche Ziegeleien, denn zwischen Ismaning und Ramersdorf erstreckte sich eine ertragreiche Lehmzunge.
SPRECHER
Das Ansinnen mutet heute bemerkenswert fortschrittlich an. Es war ein bayerisch-italienisches Prestigeprojekt. Der päpstliche Nuntius schaute gelegentlich vorbei. Der italienische Generalkonsul und der Vizekonsul ließen sich gerne bei der jährlichen Abschlussfeier sehen, und dank großzügiger Spenden wurde jedes Kind an diesem Tag mit einem neuen Gewand, einer Brotzeit und einem Glas Bier bedacht. Doch die gutgemeinte Idee scheiterte an der Praxis. Zu weit waren die Wege, und zu sehr wurde die Arbeitskraft auch der Jüngeren gebraucht. Und so wurde das Projekt schon 1904 wieder aufgegeben.
SPRECHERIN
Auch die katholische Kirche kümmerte sich um die transalpini. Dies war aufgrund der Konfession naheliegend. Die Kirche verglich die Arbeitsmigration mit dem Exodus der Israeliten aus Ägypten oder mit der Flucht der Heiligen Familie. Sie gründete die Hilfsorganisation "Opera di assistenza". Lambert Grassmann weiß von Vilsbiburg zu berichten:
O-Ton Grassmann 13
31.01 1898 hat also die Obrigkeit möglich gemacht, dass die italienischen Ziegelarbeiter in der Wallfahrtskirche Maria Hilf zu Vilsbiburg einen Gottesdienst haben besuchen können, und die Predigt hat ein aus München stammender ... Pater gehalten, der Pater Linus, der war Vikar des Kapuzinerklosters in München, hat natürlich Italienisch können, vielleicht war's sogar ein Italiener.
MUSIK 8 Pixner, Delgado, u.a.: Melanchodia 1‘16
SPRECHER
Neben den Ziegeleien waren die zahlreichen Baustellen im Boomland Bayern ein Betätigungsfeld der transalpini. Im Hoch- und Tiefbau, für Häuser, Tunnels, Straßen und Eisenbahn wurden die italienischen Wanderarbeiter eingesetzt. Hier kamen den transalpini ihre Erfahrung mit dem schwierigen Terrain der Alpen zugute. Der bayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf schildert in seinem autobiografisch geprägten Roman "Das Leben meiner Mutter", wie er einen solchen Bautrupp erlebte:
ZITATOR Oskar Maria Graf
Die Bauleute setzten sich zum Teil aus bärtigen, dunkelhäutigen, ausgedörrten Italienern zusammen... Sie redeten ein ziemlich unverständliches Kauderwelsch zusammen, aber sie schufteten viel ergebener als die einheimischen, meist schon gewerkschaftlich organisierten Maurer. Sie kamen scharenweise Sommer für Sommer aus den armen Gegenden ihrer fernen Heimat, arbeiteten für jeden Lohn und kannten nur eine Kameradschaft unter sich, die wahrscheinlich auch nur von der gleichen Sprache herrührte. Sie knauserten und sparten und waren auf jeden Pfennig Nebenverdienst gierig erpicht...
SRECHERIN
Oskar Maria Graf beschreibt, warum die transalpini als Arbeitskräfte so beliebt waren: sie waren zuverlässig, anspruchslos und bereit, die unbeliebte, harte Arbeit zu leisten. Zudem waren sie durch ihre mangelnden Deutschkenntnisse und ihren immer nur saisonalen Einsatz isoliert. Daher wurden sie gerade auf Baustellen immer wieder als Streikbrecher und Lohndrücker eingesetzt, wo sie teilweise durch Polizei von den einheimischen Arbeitern abgeschirmt werden mussten. Denn sie machten sich dadurch natürlich nicht beliebt. Die Bezeichnung "Furlan", eigentlich nur die Bezeichnung für eine Person aus dem Friaul, wurde in deutschen Maurerkreisen sogar ein Synonym für einen Streikbrecher.
SPRECHER
Graf spricht auch die Sparsamkeit der transalpini an. Sie gaben kaum etwas für sich selber aus, denn sie wollten möglichst viel Geld mit zurück nach Hause nehmen. Das trug in der Tat Früchte. Der Lebensstandard in der Heimat besserte sich, denn die Wanderarbeiter brachten nicht nur ihr Geld, sondern auch ihr Wissen und ihre Fertigkeiten mit ins Friaul. Die Schattenseite war jedoch, dass sie über ein halbes Jahr zuhause fehlten - ein geregeltes Familienleben war mit monatelang abwesenden Familienvätern nur schwer möglich, und die Arbeit in der Landwirtschaft mussten die Daheimgebliebenen stemmen.
SPRECHERIN
Eine weitere Schattenseite war der gestiegene Bierkonsum der Heimgekehrten. Oft wurde auf den bayerischen Ziegeleien Bier ausgeschenkt, und viele transalpini wollten es auch während der Wintermonate in der Heimat nicht mehr missen. Die Brauereien im Friaul steigerten ihre Produktion zwischen 1890 und 1914 um das Neunfache. Gleichzeitig stieg die Anzahl der Todesfälle durch Alkohol rasant an. Besonders beunruhigend war, dass gerade die Kinder und Jugendlichen, die aus Bayern zurückkehrten, sich das Biertrinken angewöhnt hatten.
MUSIK 9 Gerd Baumann & Ensemble: Neon poetry 1‘21
SPRECHER
Wie viele transalpini in Bayern arbeiteten, lässt sich nur ungenau feststellen, Schätzungen gehen von zwölf- bis fünfzehntausend Personen für eine Sommersaison aus. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam die Massenwanderung schlagartig zum Erliegen. Die Italiener, die sich gerade zur Saisonarbeit in Bayern aufhielten und im August 1914 von der Kriegserklärung überrascht wurden, kehrten überstürzt nach Hause zurück. Angetrieben von der Furcht, dass eine Rückkehr später nicht mehr möglich sein könnte. Es gab Unruhen und Staus in vielen Grenzorten, so auch in Kufstein, ein Nadelöhr für die transalpini, die von Bayern ins Friaul zurück wollten. Oder mussten: Denn viele transalpini erhielten einen Einberufungsbefehl. Aus Zieglern wurden nun Soldaten. Das Kriegerdenkmal in Buja zählt 101 Ziegler auf, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind.
SPRECHERIN
Und so kam die lange Tradition der Arbeitsmigration von Italien nach Bayern zum Erliegen. Erst gute vier Jahrzehnte später, in der Wirtschaftswunderzeit, schloss die junge Bundesrepublik ein Abkommen über Arbeitswanderung mit Italien. Dabei zeigte sich, dass beide Seiten noch stark auf die Erfahrung der transalpini vor dem Ersten Weltkrieg zurückgriffen, was eine Illusion der Rückkehr anbetraf. Vor allem die Bundesregierung glaubte, dass die sogenannten Gastarbeiter saisonal oder nach Konjunktur zu steuern wären, weil man sich noch an der zyklischen Arbeitsstruktur des Kaiserreichs orientierte.
MUSIK 10 Iso 68: Diffusion capricc. 0’47
SPRECHER
Was bleibt von Jahrzehnten der Arbeitsmigration? Nur wenige transalpini ließen sich auf Dauer in Bayern nieder. Doch ihr Vermächtnis findet sich in den Bauten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, vermauert in Häusern und Schulgebäuden, Kirchen und Kasernen, Krankenhäusern und dem unterirdischen Kanalnetz der Städte.
Solange es Elefanten gibt, werden sie auf den Menschen immer eine besondere Wirkung haben. Über die wahrscheinlichsten stärksten Tiere der Welt kursieren jede Menge Klischees und Mythen - doch was stimmt davon?
Credits
Autor dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Rahel Comtesse, Armin Berger, Andreas Neumann
Technik: Daniela Roeder
Redaktion: Bernhard Kastner
Die Straßenverbindung über den Brenner ist völlig überlastet. Abhilfe soll der Brennerbasistunnel schaffen. Seit 2007 wird an der 64 km langen Eisenbahnstrecke unter den Alpen gebaut. Das Projekt ist allein schon durch seine Dimensionen eine Herausforderung. Von David Globig.
Credits
Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Rahel Comtesse, Clemens Nicol
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Andreas Ambrosi, Pressesprecher der BBT SE, der Projektgesellschaft für den Brennerbasistunnel
Romed Insam, Projektleiter
Geologe Kurosch Thuro, Lehrstuhl für Ingenieurgeologie an der Technischen Universität München
David Salameh, Tunnelbohr-Experte von der FLORA Tunneling GmbH
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SPRECHERIN:
Der Brennerpass zwischen Österreich und Italien: einer der wichtigsten Alpenübergänge, die es gibt. Allein über den Brenner rollt mehr Verkehr, als über sämtliche Alpenpässe Frankreichs und der Schweiz zusammen.
ZSP 02 GERÄUSCH Sattelzug fährt vorbei, darüber:
ZSP 03 GERÄUSCH Sekundenzeiger, darüber:
SPRECHERIN:
Neben 14 Millionen PKW donnern jedes Jahr 2,5 Millionen LKW über die Brennerautobahn. Das sind etwa 7.000 pro Tag. Im Durchschnitt ein Sattelzug alle zwölf Sekunden.
ZSP 03 GERÄUSCH Sekundenzeiger kurz hoch, dann darüber:
ZSP 02 GERÄUSCH Sattelzug fährt vorbei, darüber:
SPRECHERIN:
Und die Zahl der Fahrzeuge steigt immer weiter. Um die baufällige Strecke zu entlasten - und gleichzeitig auch die anliegenden Ortschaften -, soll möglichst viel Verkehr auf die Schiene verlagert werden. Doch die alte Bahnstrecke hat ebenfalls die Grenzen ihrer Kapazität erreicht. Die Alternative: eine neue, schnellere Strecke - unter den Alpen hindurch - der Brennerbasistunnel. Wenn er fertig ist, wird er die längste unterirdische Eisenbahnverbindung der Welt sein.
MUSIK, darüber:
SPRECHERIN:
Der Weg zur Tunnelbaustelle bei Innsbruck führt erst einmal in den Umkleideraum des Baubüros. Andreas Ambrosi, Pressesprecher der BBT SE, der Projektgesellschaft für den Brennerbasistunnel, stellt die Ausrüstung zusammen.
ZSP 04 O-TON Ambrosi 1, Teil 1:
"Jetzt brauchen Sie Stiefel, Warnweste. Das wäre ein Tracker. Den muss jeder haben, damit der Leitstand hier orten kann, wie viele Personen drin sind bei einer Evakuierung, wo sie sind. Dann ein Helm."
SPRECHERIN:
Und eine Lampe. Zuletzt greift Andreas Ambrosi noch nach einem kleinen Rucksack in einem der Regale.
ZSP 05 O-TON Ambrosi 1, Teil 2:
"Und was wir noch mitnehmen, ist so ein Selbstretter."
SPRECHERIN:
Der enthält eine Sauerstoff-Flasche sowie Mundstück und Nasenklemme. Damit hat man für etwa 90 Minuten Atemluft, falls sich ein Tunnelabschnitt mit Rauch füllen sollte. Durch den Zufahrtstunnel Ahrental geht es dann mit dem Auto in den Berg hinein. Am Steuer sitzt Romed Insam, der Projektleiter für diesen Bauabschnitt. Nach rund 2,5 Kilometern kreuzt die unterirdische Straße eine andere Tunnelröhre – das, was später der eigentliche Brennerbasistunnel sein wird.
ZSP 06 O-TON Insam 15, Teil 1:
"Also, wir sind jetzt im Bereich der sogenannten Weströhre. Hier rechts geht's Richtung Italien. Und links Richtung Innsbruck."
SPRECHERIN:
Auf beiden Seiten blickt man jeweils in einen Tunnelabschnitt. Bis zur italienischen Grenze sind es von hier aus rund 25 Kilometer, bis zum Tunnelausgang in Südtirol etwa 50. Der Projektleiter lässt den Wagen ein Stück vorrollen.
ZSP 07 O-TON Insam 15, Teil 2:
"Jetzt hier, ziemlich genau unter uns, befindet sich der Erkundungsstollen, ca. 12 m tiefer. Wir fahren jetzt weiter und kommen in die sogenannte Oströhre."
SPRECHERIN:
Sie verläuft parallel zur Weströhre – in einem Abstand von etwa 70 Metern.
Weströhre, Erkundungsstollen, Oströhre: Der Brennerbasistunnel besteht aus insgesamt drei Tunnelröhren. Durch die Weströhre werden die Züge von Süden nach Norden fahren, also von Italien nach Österreich, durch die Oströhre in die Gegenrichtung. Hinzu kommen noch Querverbindungen zwischen den Hauptröhren; außerdem Zufahrtstunnel, drei unterirdische Nothaltestellen und noch einiges mehr, erklärt Romed Insam. <Er steht dabei in einem bereits weitgehend fertigen Tunnelteil.
ZSP 08 O-TON Insam "230 km":
"Die Anlage ist sehr, sehr komplex. Also insgesamt beinhaltet die Anlage ca. 230 km an Tunnelbauwerken."
SPRECHERIN:
Und ist damit von den Dimensionen her noch einmal deutlich größer als etwa der Gotthard-Basistunnel in den Schweizer Alpen. Entsprechend lange hat es gedauert, bis die Arbeiten beginnen konnten.
MUSIK, darüber:
SPRECHER:
Tunnel statt Pass - Eine alte Vision nimmt konkrete Formen an
MUSIK kurz hoch, dann unter den nächsten Worten weg
SPRECHERIN:
Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hat man erstmals darüber nachgedacht, unter dem Brennerpass hindurch einen Eisenbahntunnel zu bauen. Die Bahnstrecke, die ab 1860 errichtet wurde, führte dann aber doch ganz normal über den Pass. Anfang der 1970er Jahre griff man die Tunnel-Idee allerdings wieder auf: Bis 1989 entstanden mehrere Machbarkeitsstudien. Im Jahr 2004 unterzeichneten Österreich und Italien schließlich einen Staatsvertrag über die Errichtung des Tunnels. Eines Tunnels, der nicht nur diese beiden Länder verbindet, sondern der eine wichtige Rolle für den Verkehr zwischen Nord- und Südeuropa insgesamt spielen soll. Relativ rasch folgten dann die nächsten Schritte.
ZSP 09 O-TON Insam "Bau ab 2009":
"Die Genehmigungsphase bzw. die Einreichphase hat zwischen 2005 und 2009 gedauert. Und ab 2009 ist hier auf der österreichischen Seite auch gebaut worden."
SPRECHERIN:
Nachdem man auf der italienischen Seite bereits 2007 begonnen hatte – gut ein Jahr nach dem symbolischen ersten Spatenstich. 55 Kilometer liegen zwischen dem Tunnelportal Innsbruck und dem Portal Franzensfeste/Fortezza in Südtirol. Außerdem wird der Tunnel unterirdisch an die bereits bestehende Eisenbahnumfahrung Innsbruck angeschlossen. Das ergibt insgesamt: 64 durchgehende Tunnel-Kilometer. Man ist mit dem Bau allerdings nicht ins Unbekannte gestartet. Das betont auch Pressesprecher Andreas Ambrosi. Den eigentlichen Tunnelbau-Arbeiten gingen umfangreiche Untersuchungen voraus.
ZSP 10 O-TON Ambrosi "Probebohrungen":
"Wenn ich das Gebirge durchfahre oder unterfahre – man weiß ja wirklich nicht, was auf einen zukommt. Daher wurde in diesem Projektgebiet bis zu 40 km an Probebohrungen geleistet. Diese Probebohrungen haben einen Durchmesser gehabt, das waren ca. z.T. drei bis vier Zentimeter. Das sind sogenannte Bohrkerne. Und anhand dieser Bohrkerne hat man dann gesehen, wie das Gestein ist. Ob hier Quarz drin ist, ob es andere Sedimente gibt."
SPRECHERIN:
Denn vom Gestein und seinen Eigenschaften hängt unter anderem ab, welche Tunnelbau-Techniken man einsetzen kann, und welche Maschinen geeignet sind, erklärt der Geologe Kurosch Thuro. Der Professor hat den Lehrstuhl für Ingenieurgeologie an der Technischen Universität München inne.
ZSP 11 O-TON Thuro "Festigkeit":
"Viele denken ja, wenn das Gebirge sehr fest ist, so eine hohe Festigkeit hat, und damit auch sehr stabil ist, dass das dann der günstigste Fall ist. Und dass, wenn die Steine eine geringe Festigkeit aufweisen, z.B. Ton, Schluff, Mergel, Sande, Kiese, dass das ganz schlecht ist für den Tunnelbau. Die Wahrheit ist, eigentlich sollte es, wenn es günstig sein soll, möglichst gleichmäßig sein."
SPRECHERIN:
Bauen kann man Tunnel jedenfalls sowohl durch festes als auch durch weniger festes Gestein. Und wechselnde Festigkeiten lassen sich ebenfalls bewältigen. Dabei legt das Gestein mit der höchsten Festigkeit fest, mit welcher Technik man sich vorarbeitet, bzw. mit welchen Maschinen. Und das Gestein mit der geringsten Festigkeit entscheidet darüber, wie hoch die Stabilität eines Tunnels ist. Ob also vielleicht zusätzliche Maßnahmen notwendig sind, um die Stabilität zu erhöhen. Auch der Brennerbasistunnel führt durch ganz unterschiedliches Gestein. Im Projektbüro zeigt Andreas Ambrosi ein paar Proben.
ZSP 12 O-TON Ambrosi "Gesteinsarten":
"Wir haben da verschiedene Gesteinsarten eben vor uns. Z.B. einmal den Bündnerschiefer. Das ist ein sehr weichblättriges Gestein. D.h. es zerbricht auch, wenn man es in die Hand nimmt und dran herunterreißt. Dann haben wir hier auch noch den Quarz-Phyllit, das ist dieses Gestein hier. Das ist ein bisschen fester, aber auch ziemlich brüchig. Zudem haben wir noch auf der italienischen Seite Granit und Gneis. Dieses Gestein ist sehr gut. Das heißt, da hält auch eben der Tunnel besser."
SPRECHERIN:
Auf der österreichischen Seite ist das Gestein hingegen herausfordernder.
ZSP 13 O-TON Ambrosi "Vortrieb":
"In Italien fahren z.B. in allen Tunnelabschnitten die Tunnelbohrmaschinen. Das ist auf österreichischer Seite nicht möglich. Sondern wir haben z.T. eben auch den Sprengzyklus dabei. Man kann sagen: Hälfte/Hälfte. Hälfte Tunnelbohrmaschinen und Hälfte mit dem Sprengzyklus."
SPRECHERIN:
Also dem schrittweisen Heraussprengen von Gestein.
MUSIK, unter den letzten Worten einblenden, kurz hoch, dann darüber:
SPRECHER:
Mit Explosionen und "Tunnelfabriken" – Wie man sich unterirdisch den Weg durch die Alpen bahnt.
MUSIK kurz hoch, dann unter den nächsten Worten weg
SPRECHERIN:
Um eine Tunnelröhre durch den Fels zu treiben, muss man das Gestein zerkleinern und abtransportieren. Viele Jahrhunderte lang geschah das mit Hammer, Meißel und Schaufel. Ein mühsames Unterfangen, bei dem es nur zentimeterweise voranging. Moderne Methoden machen heute ein sehr viel höheres Tempo möglich, sagt Romed Insam. Da wäre zum einen: das Sprengen. (24")
ZSP 14 O-TON Insam - "Sprengzyklus":
"Da werden Abschnitte in der Größenordnung von circa 1,3 bis 2,2 Meter vorgetrieben. Diese Abschnitte werden gesprengt. Und im Zuge dessen wird im Nachgang eine Spritzbeton-Sicherung aufgebracht." STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN
SPRECHERIN:
Wobei rund viermal pro Tag gesprengt wird. Das macht im Durchschnitt knapp sieben Meter, die man hier weiterkommt.
Der Aufwand dafür ist groß, sagt Kurosch Thuro von der Technischen Universität München. Zuerst einmal braucht man viele Bohrlöcher im Gestein.
ZSP 15 GERÄUSCH Schlagbohrer Bergbau, darüber:
ZSP 16 O-TON Thuro – "Sprengen", Teil 1:
"Das muss man sich vorstellen wie mit der heimischen Schlagbohrmaschine. Nur der Durchmesser ist nicht ein paar Millimeter, sondern einige Zentimeter. Das sind ungefähr so 100 bis 120 Löcher. Die werden mit Sprengstoff besetzt und dann gesprengt, im Fachjargon 'geschossen'.
ZSP 17 GERÄUSCH Sprengung, darüber:
ZSP 18 O-TON Thuro – "Sprengen", Teil 2:
"Und dann das, was eben gesprengt wurde, wird dann herausgefahren, sprich 'geschuttert', das ist der Fachausdruck da dazu."
SPRECHERIN:
Indem man die Bohrlöcher geschickt anordnet und den Sprengstoff in genau festgelegten, winzigen Zeitabständen zündet, entsteht eine gleichmäßige Röhre.
Andere Abschnitte des Tunnels werden jedoch nicht aus dem Gestein herausgesprengt, erläutert Projektleiter Romed Insam.
ZSP 19 O-TON Insam - "Vortriebsmethoden", Teil 2:
"Sondern hier sind große Tunnelbohrmaschinen unterwegs. Das sind im Prinzip fahrende Fabriken mit einer Länge hier von bis zu 160 Metern. Und diese Maschine besteht zum einen aus einem Bohrkopf, aus einem rotierenden Bohrkopf, mit Meißeln bestückt. Und dieser Tunnelbohrmaschinen hier auf dieser Baustelle wickeln ca. zwölf bis 14 Meter an Vortriebs-Länge pro Tag ab."
ZSP 20 GERÄUSCH Tunnelbohrmaschine, darüber:
SPRECHERIN:
Dabei arbeiten sie eine Röhre mit über zehn Metern Durchmesser aus dem Gestein heraus. Die Maschinen bestehen aus Zehntausenden von Teilen – und haben ein Gewicht von mehreren tausend Tonnen. Insgesamt neun dieser riesigen Geräte sind seit Beginn der Bauarbeiten im Brennerbasistunnel zum Einsatz gekommen. Für ihren Aufbau hat man mitten im Fels Kavernen aus dem Gestein gesprengt: mit genügend Platz, um die Einzelteile zu montieren, die über Zufahrtstunnel angeliefert wurden. Mit einer normalen Bohrmaschine, wie man sie von zu Hause kennt, haben sie allerdings keine Ähnlichkeit, betont Tunnelbohr-Experte David Salameh von der FLORA Tunneling GmbH. Der eigentliche Bohrkopf ist nicht spitz und spiralförmig, sondern eine große, flache Stahlscheibe, auf der einzelne Schneidringe befestigt sind.
ZSP 21 O-TON Salameh TBM:
"Das heißt, wenn wir jetzt von einem Durchmesser, sage ich mal, von zehn Metern sprechen, dann sitzen da ca. 60 Schneidringe drauf oder Schneidrollen, welche sich in den Berg drücken. Und durch das Aufdrücken dieser Schneidrollen platzt das Gestein ab und fällt nach unten; und wird dann durch die Rotationsbewegung aufgenommen und nach hinten befördert."
ZSP 20 GERÄUSCH Tunnelbohrmaschine unter den letzten Worten einblenden, dann darüber:
SPRECHERIN:
Insgesamt fallen bei den Bauarbeiten für den Brennerbasistunnel rund 21 Millionen Kubikmeter Abraum an. Das entspricht einem Würfel mit einer Kantenlänge von etwa 275 Metern. Ein paar Meter höher als das höchste Hochhaus Deutschlands, der Commerzbank Tower in Frankfurt am Main. Über ein kilometerlanges Förderbandsystem gelangt das Gestein ans Tageslicht. Um es zu lagern, hat man fünf Deponien angelegt, erklärt Andreas Ambrosi. Unter anderem im Padastertal.
ZSP 22 O-TON Ambrosi – "Padastertal":
"Das ist die größte Erdaushubdeponie Europas. Und hier wird ein ganzes Tal aufgeschüttet. Das kann man sich so vorstellen: Ein Tal, das zuerst eher V-mäßig war, also sehr schmal auch, wird verbreitert. Es wird circa bis zu 80 Meter aufgeschüttet und in einer Länge ca. 1,5 Kilometer."
SPRECHERIN:
Dadurch entsteht 80 Meter über dem ursprünglichen, schmalen Talgrund eine größere Fläche, die begrünt werden soll.
MUSIK, darüber:
SPRECHERIN:
Doch es wird nicht nur jede Menge Material aus dem Berg herausgeholt, sondern es kommt auch einiges wieder hinein.
MUSIK kurz hoch, dann darüber:
SPRECHER:
Ringe für die Röhre – Wie man einen Tunnel verkleidet
MUSIK kurz hoch, dann unter den nächsten Worten weg
SPRECHERIN:
"Tunnel-Fabrik" – diese Bezeichnung für Tunnelbohrmaschinen kommt nicht von ungefähr. Während sich die gigantischen Geräte vorne noch durch den nackten Fels arbeiten, rollt der hintere Bereich der Maschine, das sogenannte "Nachlauf-System", bereits durch einen rohbaufertigen Tunnel. Möglich machen das vorproduzierte Betonteile, sogenannte Tübbing-Steine. Sie werden kreisförmig aneinandergelegt - sechs von ihnen bilden zusammen den kompletten Ring. Im Brennerbasistunnel haben diese Ringe einen Innendurchmesser von gut acht Metern. Mehrmals am Tag kommt Nachschub mit einem kleinen Bauzug, der auf provisorischen Schienen durch den Tunnel fährt.
ZSP 23 GERÄUSCH Transportbahn fährt an, hupt kurz, darüber:
ZSP 24 O-TON Salameh – Tübbing-Segmente:
"Diese Tübbing-Segmente werden dann in den Bereich der Maschine gebracht, wo die einzelnen Segmente dann mit einem Kran aufgenommen werden, in den vorderen Teil der Maschine gefahren werden. Und werden dann durch einen speziellen Arm aufgenommen. Und dieser bringt sie dann in die entsprechende Position, <wo sie dann verbaut wird>."
SPRECHERIN:
<In der sie dann verbaut werden.> Für einen Teil der Röhren fertigt man die Tübbing-Steine in unmittelbarer Nähe der Tunnelbaustelle. Auf der Fläche vor den Produktionsgebäuden sind hunderte Ringsegmente aus Stahlbeton gestapelt. Jeder Bogen ca. zehn Tonnen schwer. Farbige Punkte auf dem Beton geben Auskunft darüber, ob die vorgegebenen Toleranzen eingehalten werden. Grün heißt: Der Tübbing-Stein entspricht den Anforderungen. Bei andersfarbigen Markierungen muss noch nachgearbeitet werden, erklärt Romed Insam.
ZSP 25 O-TON Romed Insam – "Tübbing-Steine Toleranz" (Stereo):
"<Also> jeder Stein wird millimetergenau hergestellt. Und wir haben sehr hohe Anforderungen an diese Betonfertigteile gestellt. Eben aufgrund dessen, dass diese Steine die künftige Hauptauskleidung des Tunnels dann sein werden." STIMME OBEN – BITTE ABNEHMEN
SPRECHERIN:
Eine Auskleidung, die die Tunnelröhre unter anderem gegen eindringendes Wasser abschirmt. Dazu verfügt jeder Tübbing-Stein über eine umlaufende Dichtung.
Mehr als 50.000 Beton-Elemente kommen alleine aus der Fabrik am Zufahrtstunnel Ahrental. Um mit ihnen auch Kurven folgen zu können, gibt es leicht unterschiedlich geformte Segmente. Sie müssen nicht nur sehr präzise gefertigt, sondern auch zentimetergenau eingepasst werden.
Tatsächlich ist Präzision beim Tunnelbau an vielen Stellen entscheidend.
MUSIK unter den letzten Worten einblenden, kurz hoch, dann darüber:
SPRECHER:
Immer wieder messen - Wie man sich zuverlässig im Fels trifft
MUSIK kurz hoch, dann darüber:
SPRECHERIN:
Wenn man einen Tunnel anlegt, genügt es nicht, dem geplanten Verlauf nur so halbwegs genau zu folgen. Dann würde man nämlich Gefahr laufen, z.B. an einer ganz anderen Stelle wieder ans Tageslicht kommen als vorgesehen. Noch haariger wird die Sache, wenn man – wie beim Brennerbasistunnel – ein System aus gleich drei Tunnelröhren hat; und sich Bautrupps von mehreren Startpunkten aus über viele Kilometer aufeinander zubewegen. Die Richtung der Tunnelröhren muss hier absolut genau stimmen. Und zwar nicht nur beim Start, sondern bei jedem Meter, den sich die Teams durch das Gestein sprengen oder bohren.
ZSP 26 O-TON Romed Insam – "Vermessung", Teil 1 (Mono):
"Hier wird täglich vermessen. Also, wir haben hier mehrere Vermesser vor Ort tätigt, die sogenannten Bauvermesser. Und die stecken die Trasse ab, zentimetergenau."
SPRECHERIN:
Im Berg haben sie allerdings keine Möglichkeit, auf Satelliten-Navigationssysteme zurückzugreifen. Deshalb müssen die Vermesser von Punkten außerhalb der Tunnelröhren ausgehen, deren Positionen genau bestimmt wurden. Auf diese Punkte beziehen sich dann die Messungen unter der Erde. Die Bauvermesser nutzen dabei Tachymeter, optische Messgeräte, mit denen sich Winkel und Entfernungen präzise erfassen lassen.
ZSP 27 O-TON Romed Insam – "Vermessung", Teil 2:
"Und zudem werden diese Messungen auch kontrolliert. Wir haben dann zusätzlich auch noch die Haupt-Kontrollmessungen, die zu Ostern oder zu Weihnachten durchgeführt werden. Also zu einer Zeit, wo nicht vorgetrieben wird." STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN
SPRECHERIN:
Und deshalb z.B. kein Staub in der Luft liegt. Für die Kontrolle nutzt man Messgeräte, mit denen sich minimale Abweichungen von der vorgesehenen Richtung feststellen lassen. Den Verlauf der Röhren zu vermessen, genügt allerdings nicht: Man muss z.B. auch die Tunnelbohrmaschinen exakt steuern, sagt Dr. Gerhard Wehrmeyer. Er leitet Forschung und Entwicklung bei der Herrenknecht AG, einem der wichtigsten Hersteller von Tunnelbohrmaschinen. Wenn man die riesigen Geräte sich selbst überlässt, bewegen sie sich nämlich nicht geradeaus.
ZSP 28 O-TON Wehrmeyer "Kopflastigkeit":
"Unsere Maschinen bestehen aus sehr viel Stahl, die sind relativ schwer. Und vornedran hängt das Schneidrad mit dem Antrieb. D.h. die sind relativ kopflastig und wollen am liebsten immer zum Erdmittelpunkt. Und darum müssen wir von unten auch wieder mehr drücken. Und die Maschinen werden deshalb so gesteuert, dass sie immer möglichst nahe auf der Trasse sind."
SPRECHERIN:
Und diese Trasse steigt - von den beiden Portalen aus gesehen - im Brennerbasistunnel sogar ganz leicht bis zum Brenner an, erklärt Andreas Ambrosi. Der Grund dafür: Bergwasser, das sich im Tunnelsystem sammelt, soll selbständig zu den Portalen hin ablaufen.
ZSP 29 O-TON Ambrosi "Wasserscheide":
"Es geht hier auch um eine Wasserscheide, d.h. es gibt einen Scheitelpunkt am Brenner. Und hier ist dann der Punkt, wo quasi das italienische Wasser nach Italien abgeleitet wird, und das österreichische Wasser nach Österreich fließt."
SPRECHERIN:
Das ist zwar technisch herausfordernd – aber auch ein Politikum, das der Staatsvertrag zwischen den beiden Ländern entsprechend regelt. Wie präzise man bei der Vermessung und beim Vortrieb der Tunnelröhren gearbeitet hat, das zeigt sich beim sogenannten Durchschlag. Also dann z.B., wenn die letzten Zentimeter Gestein zwischen zwei Tunnelabschnitten durchstoßen werden.
ZSP 30 GERÄUSCH Durchschlag, darüber:
ZSP 31 O-TON Romed Insam – "Durchschlag" (Mono):
"Wir haben einige Durchschläge gehabt, hier am Brennerbasistunnel. Und wir hatten hier Abweichungen im Zentimeterbereich. Also beim Erkundungsstollen auf einer Länge von über 20 km hatten wir z.B. in der Lage eine Abweichung von ca. 3 bis 4 cm, in der Höhe von ca. 2 cm, also sehr, sehr genau."
SPRECHERIN:
Präzision war auch bei einer baulichen Besonderheit des Brennerbasistunnels gefragt.
MUSIK unter den letzten Worten einblenden, kurz hoch, dann darüber:
SPRECHER:
Auf dem Weg zum Zugbetrieb - Ein Tunnel sucht Anschluss
MUSIK kurz hoch, dann darüber:
SPRECHERIN:
Man könnte meinen, es sei ein Leichtes, die Zugtrassen der beiden Länder am Ende zu verbinden. Aber hier liegt eine weitere Herausforderung – eine historisch gewachsene: Anders als auf den österreichischen Strecken - und genauso auf den deutschen - herrscht in Italien bei der Bahn nämlich Linksverkehr. Für Züge, die in Innsbruck halten, ist das kein Problem. Wohl aber für Güterzüge, die ohne Stopp – und möglichst auch ohne die Geschwindigkeit deutlich zu verringern – durch den Umfahrungstunnel an der Stadt vorbeigeleitet werden.
ZSP 32 O-TON Ambrosi – "Seitenwechsel":
"Also für die Güterzüge ist es eben so, dass die im Bereich Innsbruck dann quasi von der linken Seite auf die rechte Seite dann wechseln. D.h. zuerst sind die Haupttunnelröhren parallel, laufen parallel. Und dann quasi führt eine Tunnelröhre über die andere. Und so kann man dann von dem Linksverkehr auf den Rechtsverkehr wechseln."
SPRECHERIN:
Für den Anschluss an die Eisenbahnumfahrung Innsbruck tauschen also die Röhren mitsamt den Gleisen die Seiten.Bis tatsächlich Züge durch den Brennerbasistunnel fahren, wird es aber noch eine Weile dauern.
ZSP 33 O-TON Ambrosi – Zeitplan:
"Also wir haben jetzt noch die Rohbauphase, <wie gesagt,> mit <drei> aktiven Baustellen. Diese werden dann im Jahre ca. 2028 dann abgeschlossen sein. Dann kann der Ausbau der Bahntechnik erfolgen oder der sogenannten Ausrüstung. Dann gibt es noch mehrere Monate so eine Art <Betriebs- oder> Probephase mit den Zügen. Und das sollte dann 2031 abgeschlossen sein. Also die ersten Züge werden dann 2032 fahren."
SPRECHERIN:
Deutlich später als gedacht. Ursprünglich war man hier von einem Termin in den 2020er Jahren ausgegangen. Personenzüge sollen 2032 dann mit einer Geschwindigkeit von bis zu 250 Kilometern pro Stunde durch den Tunnel rasen. Die Reisezeit wird sich dadurch erheblich verkürzen.
ZSP 34 O-TON Ambrosi – Fahrtzeit komplett:
"Also vom Portal Innsbruck, vom Hauptbahnhof bis zum Bahnhof Franzensfeste sind es dann ca. 20 bis 25 Min. mit dem Personenzug. <Da kann ich dann quasi wirklich diese Strecke in dieser Zeit durchfahren.> Jetzt braucht man ca. 80 Min. diese Strecke eben."
SPRECHERIN:
Güterzüge können immerhin mit bis zu Tempo 120 durch die Tunnelröhren fahren. Das Konzept sieht einen Mischbetrieb von 80 Prozent Güterzügen und 20 Prozent Personenzügen vor. Trotz der unterschiedlichen Geschwindigkeiten sollen im besten Fall acht bis zehn Züge je Richtung gleichzeitig im Tunnel unterwegs sein können.
ZSP 35 O-TON Ambrosi – "Mischbetrieb und Zugzahl":
"<Das Konzept sieht vor, dass eben 80 % Güterzüge fahren und 20 % eben der schnelleren Personenzüge.> Insgesamt nimmt der Brennerbasistunnel dann bei die 260 Züge auf, pro Tag. Auf der Bestandsstrecke sind es dann ca. bei die 136. Also knapp 400 Züge könnten diese Strecke dann benützen."
SPRECHERIN:
Dadurch würden sich die Transportkapazitäten mit der Bahn deutlich erhöhen. Die wesentlich kürzeren Fahrtzeiten könnten tatsächlich ein Anreiz sein, mehr Güter auf der Schiene statt auf der Straße zu transportieren. Das alles gilt allerdings nur, wenn der Tunnel entsprechend angebunden ist.
ZSP 36 O-TON Ambrosi – Zulaufstrecken:
"Es benötigt natürlich dann auch noch die Zulaufstrecken im Norden und im Süden. Also die nördlichen Zulaufstrecken in Deutschland. Und auch die südlichen Zulaufstrecken Südtirol und Italien."
SPRECHERIN:
Um den Tunnel perfekt auslasten zu können, sollen diese Zulaufstrecken zwischen München und Verona ausgebaut werden. Und genau da dürfte es noch für eine lange Zeit haken – besonders auf der Nordseite des Tunnels. Während an der südlichen Zulaufstrecke teilweise bereits gebaut wird, haben sich die Planungen in Deutschland um Jahre bzw. Jahrzehnte verzögert. Unter anderem, weil es Widerstand gegen Neubaupläne zwischen München und Kufstein gibt. Vor Anfang der 2040er Jahre wird die nördliche Zulaufstrecke deshalb wohl nicht fertig werden. Also erst rund zehn Jahre nach der geplanten Eröffnung des Brennerbasistunnels. (38")
MUSIK, darüber:
SPRECHERIN:
Und wie sich bis dahin das Verkehrsaufkommen über den Brenner entwickelt hat, ist noch einmal eine ganz andere Frage.
Stoff war seit der Frühzeit ein wertvolles Gut, in das lange mehr Arbeitszeit floss, als etwa in die Produktion von Nahrung. Die teuren Textilien wurden deshalb auf kreative Weise weiterverwendet - getauscht, verkauft, umgearbeitet. Von Vanessa Schneider.
Credits
Autorin dieser Folge: Vanessa Schneider
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Peter Veit
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Katharina Hübel
Im Interview:
Prof. Dr. Franziska Neumann, Historikerin an der Technischen Universität Braunschweig, forscht zu Abfall- und Umweltgeschichte und hat den Stoffkreislauf von Textilien in der frühen Neuzeit nachverfolgt.
Prof. Dr. Stephan Schlichter, Initiator des Innovationsprojekts Circular Textiles von der Technischen Hochschule Augsburg – u.a. mit der weltweit ersten Modellfabrik für textiles Recycling.
Beatrix Nutz, freie Textilarchäologin, die sich mit der Wiederverwendung von Textilien aus kulturgeschichtlicher Sicht beschäftigt.
Literatur:
Roman Köster: Müll – Eine schmutzige Geschichte der Menschheit, 2024. Ein tiefer Einblick in die wechselvolle Geschichte unseres Mülls und unsere Beziehung zum Abfall. Unbedingt lesenswert!
Annette Kehnel: Wir konnten auch anders – Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit, 2021. Argumente für eine Recyclingmentalität bringt Kehnel in ihrer Kulturgeschichte der Nachhaltigkeit.
Lothar Müller: Papier, 2014. Die Geschichte des Papiers – sehr schön erzählt.
Dieter Veit: Geschichte der Textilherstellung. Technologien, Erfindungen, Handel, Mode – von der Steinzeit bis heute, 2024. Veit zeichnet auf fast 900 Seiten die gesamte Geschichte der Textilproduktion nach. Umfassende Grundlagenlektüre
Linktipps:
Über die Textilfunde aus der Hallstätter Salzmine können Sie sich hier weiter informieren
Hier sehen Sie die Patchwork-Tunika des Mannes von Bernuthsfeld
Das Recycling Atelier des Intituts für Textiltechnik Augsburg (ITA) und der Technischen Hochschule Augsburg HIER
Die Abfallstatistik des Statistischen Bundesamtes zu Textilabfällen HIER
Der NABU hat das Potenzial von Textilrecycling in Deutschland analysiert HIER
Wie der Gebrauchtwarenhandel in der Antike ausgesehen haben könnte, zeigt Titus Petronius in seiner satirischen Fiktion “Satyricon”. Hier in der Übersetzung von Egon und Gisela Gottwein.
Die komplette Kleiderordnung von Kaiser Maximilian I. aus dem Jahre 1518 lesen Sie hier
Allessandro Piccolominis: “La Raffaella – Gespräch über die feine Erziehung der Frauen” finden Sie hier
Bernhard Ramazzini's ehemaligen Professor primarius der Arzneywissenschaft zu Padua Abhandlung von den Krankheiten der Künstler und Handwerker von 1700 HIER
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Kleidung und Stoffe waren über viele Jahrhunderte teures Gut, zum Teil unerschwinglicher Luxus. Viel zu wertvoll, um einfach weggeworfen zu werden. Auf kreative Art und Weise haben Menschen zu den unterschiedlichsten Zeiten Textilien weiter- und wiederverwertet, getauscht, verkauft, umgearbeitet – bis sie Lumpen waren – und selbst dann erfüllten sie noch einen Zweck: von der Steinzeit, über die Antike – bis ins Zeitalter der Industrialisierung und darüber hinaus. Und heute? Allein 2023 haben deutsche Haushalte 175.000 Tonnen Textilien in den Altkleidercontainer entsorgt laut Statistischem Bundesamt, Tendenz steigend.
00 OTON SCHLICHTER Recycle
Fasern, die aus dem Gebrauch herausgenommen werden, also Altextilien, werden nur zu 1% wieder zu Fasern.
ERZÄHLERIN
Glas und Papier können aufbereitet werden und erhalten ein zweites Leben. Für Textilien gilt das aber nicht. Ein Teil wird zwar immerhin noch zu Lappen, Vlies oder Dämmstoffen verarbeitet, minderwertige Stoffe, so genanntem Downcycling. Meistens aber werden sie verbrannt – und dann ist die Ressource einfach weg. Doch es gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das ändern wollen – wie Stefan Schlichter:
MUSIK ENDE
01 OTON SCHLICHTER Ballen
Hier stehen überall Ballen mit Material, die hier angekommen sind....
ERZÄHLERIN
Schlichter ist Professor für Textiltechnik an der Technischen Hochschule Augsburg.
02 OTON SCHLICHTER Labor 1
Das ist unser Labor. In dem Labor wollen wir spezielle Sachen feststellen, wie unser Material zusammengesetzt ist. Ist da Baumwolle drin, ist da Polyester drin? Aber wir wollen auch wissen, wie lang sind die Fasern?
ERZÄHLERIN
Schlichter hat die weltweit erste zirkuläre Modellfabrik für Textilabfälle initiiert – das Recycling Atelier in Augsburg. Gemeinsam mit der RWTH Aachen und einigen Maschinenherstellern erforscht er seit 2022, wie aus Altkleidern und Produktionsabfällen neue Produkte entstehen könnten.
ATMO Modellfabrik
03 OTON SCHLICHTER Labor 2
Wenn ich ein hochwertiges Hemd habe, also da könnte ich auch immerhin noch ein gutes Polohemd draus machen oder so. Und das versuchen wir hier festzustellen, wenn wir die Materialien aufreißen, wie viel Schädigung haben wir denn, weil das Material wird nicht automatisch besser, sondern es wird eher ein bisschen schlechter.
ERZÄHLERIN
Im Recycling Atelier beschäftigt sich Stefan Schlichter unter anderem mit dem so genannten mechanischen Recycling. Das Problem, das es dabei nämlich bislang gibt, ist, dass die maschinelle Verarbeitung die Fasern der Alttextilien beschädigt. Dann sind sie oft so kurz, dass sie nicht mehr zu neuem Garn weiterverarbeitet werden können. Eine weitere Herausforderung: Anders als Glas oder Papier bestehen die meisten Textilien nicht nur aus einem Material. Früher wurden Textilien hauptsächlich aus natürlichen Stoffen gefertigt – heute kommt ein hoher Anteil an Chemiefasern dazu.
04 OTON SCHLICHTER Probleme
Und die machen natürlich das Recycling und die Verwertung schwieriger, ganz ohne Frage. Wir haben Reißverschlüsse, gab es vor 100 Jahren noch gar nicht so richtig. Wir haben Embleme draufgedruckt. Deswegen setzen wir in der Sortierung KI ein, die uns sagen kann, da ist ein zusätzliches Produkt, das sollten wir lieber rausschneiden und separat behandeln, das können wir dann automatisieren.
ATMO Schneideeinrichtung Textilfabrik
ERZÄHLERIN
Eine Schneideeinrichtung hackt die Textilien in kleine Stücke und Streifen. Die Reißmaschine zerreißt sie dann mit scharfen Metallzähnen in kleine Faserstücke. Die werden von zwei Walzen mit scharfen Haken gegeneinander gebürstet bis nur noch flauschige Fasern übrig sind – sie werden „kardiert“, heißt es in der Fachsprache. Und dann zu Bändern aufgewickelt.
ATMO Spinnerei
Am Ende spinnt daraus eine Maschine neues Garn für einen Pullover.
05 OTON SCHLICHTER Garn
Das ist Baumwolle, eine Mischung aus Rohbaumwolle und recycelt. Um die Qualität hinzukriegen, kann man noch nicht alles 100% recyceln. Diese sind reine Recycle-Garne, diese grauen hier...
MUSIK privat Take 004 „In Your Head Now”; Album: Multi Faith Prayer Room; Label: Because Music – BEC561138; Interpret: Brandt Brauer Frick; Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 01:10
ERZÄHLERIN
Die Menge an Textilabfällen steigt weiter – Fast Fashion ist nach wie vor beliebt: 2030 werden voraussichtlich sechzig Prozent mehr Alttextilien anfallen als noch 15 Jahre zuvor, das schätzt die gemeinnützige Organisation Global Fashion Agenda, die sich für Nachhaltigkeit in der Modeindustrie einsetzt. Gleichzeitig werden Rohstoffe wie Baumwolle immer knapper.
06 OTON SCHLICHTER Zukunft
Wir müssen irgendwann aus dieser Schleife raus. Und vielleicht können wir mit guten Produkten aus Recycling das tun.
ERZÄHLERIN
Noch sind die meisten Recyclinganlagen nicht für Textilrecycling ausgerüstet. Und es ist teuer: Da die automatisierte Sortiertechnologie noch nicht marktreif ist, müssen Textilien nach wie vor von Hand vorsortiert werden. Das könnte sich ändern, wenn 2030 die ersten Prototypen aus dem Recycling Atelier industriell zum Einsatz kommen. Eine Vision, die greifbar scheint. Und alles andere als abwegig. Denn über viele Jahrhunderte war genau das schonmal Normalität: Textilien zu recyceln.
MUSIK ENDE
MUSIK „Lyra and cithara“; ZEIT: 00:45
ERZÄHLERIN
Bis zur Industrialisierung wurden Textilien in aufwendiger Handarbeit hergestellt. Die meisten Menschen trugen selbstverständlich alte, gebrauchte und ausgebesserte Kleidung und hätten sich oft mehr gar nicht leisten können. Und das schon beispielsweise in der Antike. Die Toga eines Römers etwa bestand aus bis zu zwanzig Quadratmetern Stoff. Das bedeutete: 40 Kilometer Garn. Das zu weben dauerte einen Monat. Vier Monate, um das Wollgarn dafür zu gewinnen – bei acht Stunden Arbeit am Tag. In der Regel machten das die römischen Frauen selbst zu Hause.
MUSIK ENDE
07 OTON NUTZ Stunden
Wenn man heute diese Arbeitsstunden bezahlen müsste, wären diese Textilien absolut unerschwinglich bei diesen heutigen Löhnen. Und natürlich, wenn man so viel Arbeitsstunden in etwas investiert, dann schmeißt man es nicht einfach weg, sondern man nutzt es bis zum Geht-nicht-mehr.
ERZÄHLERIN
Beatrix Nutz ist Textilarchäologin und beschäftigt sich mit historischen Recyclingpraktiken. Selbst in Fetzen hatte alte, ausgediente Kleidung in frühen Gesellschaften noch einen Nutzen. Das legen auch einige der seltenen urgeschichtlichen Textilfunde nahe: In Prilep, Nordmazedonien haben Archäologinnen der Universität Skopje Tonscherben aus dem 6. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung gefunden, auf denen Abdrücke von ausgefransten und abgenutzten Textilgeweben zu sehen waren. In der Steinzeit recycelten Menschen ihre Textilreste offenbar zum Töpfern – um darin Gefäße zu trocken, als Unterlage und Modellierhilfe. Stoffe konnten so am Ende ihres Lebenszyklus noch als Werkzeuge nützlich werden. Auch in einer Salzmine im Österreichischen Hallstatt zur Eisenzeit: Lumpen und Fetzen von wollenen Gewändern, Decken und Säcken wurden wohl in der Siedlung gesammelt und im Berg weiterverwendet oder zu Handledern verarbeitet. Beatrix Nutz:
08 OTON NUTZ Hallstatt
In den Bergwerken, da hat man dann die alten Sachen in Streifen gerissen und diese Textilstreifen dann verwendet, um zum Beispiel Kienspanbündel zusammenzubinden. Und die findet man heute noch, diese Textilstreifen mit den Knoten drinnen zum Zuknoten dieser Bündel.
MUSIK privat Take oo6 „Vindavla”; Album: Skald; Label: By Norse Music – BNM014CD; Interpret: Wardruna; Komponist: Traditional; ZEIT: 01:02
ERZÄHLERIN
Das sind nicht die einzigen archäologische Funde, die darauf hinweisen, dass durch die Jahrtausende Textilien kreativ wiederverwendet wurden. Im Bernuthsfelder Moor in Ostfriesland zum Beispiel, zeigt der Fund einer Moorleiche aus dem frühen Mittelalter, dass auch schon vor rund 1.200 Jahren upgecycelt wurde: Die Moorleiche trug eine Patchwork-Tunika aus zwanzig unterschiedlichen Geweben und 45 einzelnen Stoffresten. Getragen, immer wieder ausgebessert und geflickt begleiteten Textilien in dieser Zeit den Menschen oft ein Leben lang. Und am Ende dieses Menschenlebens rüsteten Textilien ihn für die letzte Reise – als Bekleidung, aber auch als Verpackungsmaterial anderer Grabbeigaben. Spuren von Läusen, Flicken und abgewetzte Stellen deuten darauf hin, dass diese vor dem Begräbnis als Kleidung getragen und als Totentracht wiederverwendet wurden.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Auch Funde aus dem Mittelalter zeigen: Mit der Christianisierung wurden die meisten Verstorbenen in einem Totentuch, oft aus recyceltem Leinenstoff, beigesetzt. Die von ihnen hinterlassenen Leinen- und Wollgewänder spendeten die Angehörigen seit dem Mittelalter oft an Klöster und Kirchen - als Akt der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Diese gaben die Kleiderspenden als Almosen an Bedürftige weiter, verkauften sie, oder stellten Alltagstextilien und Kleidung für die Geistlichen daraus her. Häufig wurden zum Beispiel die oftmals prächtigen Frauenkleider zu liturgischen Gewändern männlicher Priester recycelt. Davon berichten zum Beispiel Quellen aus dem Spätmittelalter: In seiner Familienchronik schreibt der Florentiner Textilkaufmann Niccoló di Buono di Bese Busini über ein Kleid seiner verstorbenen Frau Raffaella:
MUSIK C5036550 W04 „Notum fecit“; ZEIT: 00:24
Zitator
„Ich erinnere mich, dass ich, Niccolò, am 24. Dezember der Kirche San Iacopo tra le Fosse in Florenz ein Messgewand schickte, das aus einem Kleid Raffaellas gefertigt war. Ich ließ dies im Inventar der genannten Kirche verzeichnen, zum Seelenheil Raffaellas.“
MUSIK ENDE
(((selbst übersetzt vom Englischen ins Deutsche, via Isabelle Chabot: “Renaissance female luxury garments on the move”, S. 23; zitiert aus: Archivio di Stato di Firenze, from now ASFi, Carte strozziane, XIV serie, 564, fol. 30r, 63v)))))
ERZÄHLERIN
Bei dem Kleid, das zum Messgewand umgeschneidert wurde, handelte es sich um das samtene Hochzeitskleid seiner verstorbenen Gattin. Und das war noch nicht alles: Der Kaufmann schenkte seiner neuen Frau ein rosa Kleid mit Hermelinbesatz aus Raffaellas Besitz. Die Schwägerin erhielt ein altes, schwarzes Kleid, das sie ändern und färben ließ. Raffaellas Lieblingskleider wurden zu Bettwäsche und Bekleidung für die Kinder verarbeitet. Durch das Recyceln und die Weitergabe der gebrauchten Gewänder bewahrte man gleichzeitig das Andenken an die Verstorbene und stärkte das soziale Gewebe innerhalb der Familie – aber auch zwischen Adel und Kirche sowie den niedrigeren Ständen. Diese erhielten von Adel und Kirche gebrauchte Textilien als Almosen, aber auch als Arbeitslohn, erklärt Franziska Neumann, Professorin für frühneuzeitliche Geschichte an der TU Braunschweig.
09 OTON NEUMANN Gebraucht
Das gehört so zum vormodernen Gabentausch letztendlich auch dazu. Das heißt erstmal bloß, weil es nicht mehr getragen wird von der einen Person, heißt das nicht, dass da schon das Ende als Kleidungsstück erreicht ist. Es gibt einen ganz regen Gebrauchtwarenhandel, auch mit Textilien, was auch eine Möglichkeit ist, für viele an Mode zu partizipieren, indem es immer weiter sozusagen gegeben wird.
ERZÄHLERIN
Trotz strenger Kleiderordnungen, die den Gesellschaftsständen genau vorschrieben, wer was tragen durfte. Beatrix Nutz:
10 OTON Nutz Unverboten
Da gibt es dann sogar von 1518 eine Kleiderordnung von Kaiser Maximilian I.,
Zitator
„…und was ihnen ihre Herren von Kleidung schenken, soll ihnen zu tragen unverbothen seyn.“
10 OTON NUTZ Unverboten weiter
der also explizit sagt, die Landsknechte, wenn die von ihrem Herrn was geschenkt bekommen an Kleidung, das ja dann über ihrem Stand wäre, weil es ja herrschaftliche Kleidung ist, dürfen sie es, weil sie es geschenkt bekommen haben, trotzdem tragen, auch wenn es über ihrem Stand ist.
ERZÄHLERIN
So blieben Kleidungsstücke in der Vormoderne über lange Zeit erhalten und zirkulierten durch mehrere Hände und Gesellschaftsschichten. Franziska Neumann:
12 OTON NEUMANN Stewardship
Es gibt den Begriff der Stewardship of Objects, also dass es eine Kultur gab, pflegsam mit Dingen umzugehen. Und das galt auch für Textilien. Es gibt ganz viele Handbücher, die beschreiben, wie müssen Textilien gelagert werden? Was kann man machen, um zu verhindern, dass sie sich abnutzen, ausbleichen oder Ähnliches. Und ich glaube, das ist schon ein ziemlich großer Unterschied zwischen der Vormoderne und der Moderne.
ERZÄHLERIN
Diese Fürsorgepflicht für den Besitz wurde über Jahrhunderte praktiziert. Das ständige Nähen, Ausbessern, Flicken, Umschneidern und Färben alter Kleidung zog aber auch Spott auf sich. So schreibt der Gelehrte Alessandro Piccolomini 1539 in seiner Satire “La Raffaella - Gespräch über die feine Erziehung der Frauen” über eine Frau aus Siena, die sich auch nach Jahren nicht von ihrem Hochzeitskleid aus gemustertem Damast trennen wollte:
MUSIK CD234470 007 „Saltarello“; ZEIT: 00:13
ZITATOR
Als es schon recht schmutzig geworden war, ließ sie es wenden, so dass das Innere nach außen kam, und so trug sie es Sonntag für Sonntag noch fünf Jahre.
MUSIK ENDE
13 OTON NUTZ ausbessern
Man hat es gewendet. Dazu hat man den Altschneider aufgesucht. Manchmal nennt man das auch Wendeschneider. Der hat es tatsächlich dann alle Nähte sorgfältig aufgetrennt, die Außenseite nach innen gekehrt. Weil die Innenseite war ja nicht ausgebleicht und nicht abgewetzt. Und das Kleid war dann wieder faktisch wie neu.
MUSIK CD234470 007 „Saltarello“; ZEIT: 00:25
ZITATOR
Als es nun schon ganz abgewetzt war, ließ sie es brustbeerenfarbig färben, damit es aussähe, als hätte sie ein neues Kleid. Einige Jahre darauf aber riss der Stoff überall und nun zertrennte sie das Kleid und machte aus einem Stück des Stoffes Fransen für einen violetten Rock, aus einem andern Ärmelaufschläge.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Doch was passierte mit dem, was nach Jahren und Jahrzehnten der Nutzung und Wiederverwendung von einem Kleidungsstück am Ende noch übrig war?
14 OTON NEUMANN Lumpen
Irgendwann sozusagen wird es tatsächlich zu einem Fetzen, der dann erstmal als Putzlappen vielleicht noch gebraucht wird. In den Haushaltsratgebern steht immer, ja, man soll so ein kleines Kästchen haben, wo man das aufbewahrt, kann man für unterschiedliche Sachen nutzen. Und dann irgendwann ist es vorbei.
MUSIK privat Take 006 “On Powdered Ground (Mixed Lines)”, Album: Mr. Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble; Komponist: Daniel Brandt; ZEIT: 00:50
ERZÄHLERIN
Hier schließt sich der textile Stoffkreislauf. Ab dem 14. Jahrhundert sorgte auch in Europa langsam eine bahnbrechende technologische Erfindung aus China dafür, dass auch Lumpen sinnvoll weiterverwendet werden konnten. Denn für die Papierherstellung wurden textile Reste nun mechanisch zu einem ganz neuen Produkt recycled. Und mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert stieg auch der Papierbedarf. Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation boomte die Papierproduktion. 1450 produzierten nur etwa zehn Mühlen Papier, zwei Jahrhunderte später waren es geschätzte 200. Doch Lumpen und Hadern – aus Leinen und Hanf waren tatsächlich rar, sagt Franziska Neumann:
MUSIK ENDE
15 OTON NEUMANN Lumpenmangel
Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass man halt eher sorgfältig und pflegsam mit seinen Textilien umgegangen ist. Das heißt, dass man eigentlich versucht hat zu verhindern, dass überhaupt Lumpen angefallen sind. Aber das ist ein Riesenproblem.
MUSIK privat Take 001 „Pestilence“, Album: Black Death; Label: MovieScore Media – MMS-10011; Interpret: Nick Ingman; Komponist: Christian Henson; ZEIT: 01:31
ERZÄHLERIN
Lumpenedikte versuchten dem Mangel entgegenzuwirken. Doch der gefragte Rohstoff wurde weiter außer Landes geschmuggelt – zu Mühlen nach Holland oder England, die viel Geld dafür bezahlten. Gesetze und Erlässe im gesamten Reich regelten, wer wo sammeln durfte und für welche Papiermühle. Ab 1763 mussten sich Lumpensammler in Preußen mit einem Lizenzzettel ausweisen und mindestens zweimal die Woche in der Stadt von Haus zu Haus gehen. Das Lumpengewerbe war hart und die Tätigkeit von Lumpensammlern begann häufig schon mitten in der Nacht. Ausgerüstet mit einem Haken, durchstocherten sie die Fäkalien und Hausabfälle auf der Straße nach Textilien. An der Haustür tauschten sie Perlen, Flöten und Nadeln gegen Lumpen, die die Haushalte in Lumpenkästchen oder Beuteln aufbewahrten. Witwen, Handwerkerfrauen und ausgediente Soldaten besserten so ihre Haushaltskasse auf. Doch die Arbeit mit unreinen, infektiösen Abfällen wurde für viele zum gesundheitlichen Problem: Lumpen, gerade aus hellen Leinen kamen in ihrem vorherigen Leben als Unterhemden und Bettwäsche, aber auch Verbandszeug und Windeln regelmäßig mit körperlichen Ausscheidungen in Kontakt. Nicht nur, dass sich die Sammler bei der Arbeit mit Tuberkulose, Milzbrand, Pocken und Cholera anstecken und diese Krankheiten verbreiten konnten. Sie wurden auch sozial ausgegrenzt. Und das über Jahrhunderte.
MUSIK ENDE
16 OTON NEUMANN Metapher
Diese semantische Kopplung von „du Lump“ als Schimpfwort, das kommt dann vor allem im 19. Jahrhundert und wird da ganz groß. Und das hat auch was zu tun mit sozialer Verelendung, das hat auch was damit zu tun, dass immer mehr Leute durch das Recyclen von Abfallstoffen Geld machen, das hat auch was mit anti-jüdischen Stereotypen zu tun. Und das muss man sich immer wieder auch vergegenwärtigen, dass es sozusagen keine fröhliche, freundliche Welt des harmonischen, nachhaltigen Recyclings ist, sondern dass die soziale Dimension und auch Abwertung von Abfallarbeitern, von Drecksarbeit ein ganz wichtiger Bestandteil auch der Geschichte von Recycling ist.
ERZÄHLERIN
Die Lumpensammlerinnen verkauften ihre Lumpen meist an Händler, die wiederum die Papiermühlen belieferten. Dort wurden die Lumpen nach Stoffart und Farbe sortiert, von Dreck, Knöpfen und Nähten befreit und zerschnitten. Die Textilschnitzel gärten anschließend 4-8 Wochen in einem Wasserbad, wurden zerkleinert und 2 Tage lang in einem Wasserbad zu Faserbrei zermahlen. Der Brei wurde mehrfach abgeschöpft, zu einer Papierseite gepresst, getrocknet, geglättet und geleimt.
MUSIK privat Take 006 “On Powdered Ground (Mixed Lines)”, Album: Mr. Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble; Komponist: Daniel Brandt; ZEIT: 00:47
ERZÄHLERIN
Papier blieb nicht das einzige Recyclingprodukt, das durch die Verwertung von Textilresten angefertigt wurde. Im nordenglischen Batley wurde Anfang des 19. Jahrhunderts die erste Recyclingfaser erfunden: Shoddy, zu deutsch: Reißwolle. Gewonnen aus neuaufbereiteten, alten Wollfasern. Die Herkunft des Begriffs “Shoddy” ist unklar, heute beschreibt er eine schäbige Qualität. Die grauen Anzüge, Militärdecken und Mäntel aus Reißwolle gingen nämlich schnell kaputt. Trotzdem: Die Erfindung von Shoddy war wegweisend. Eine Vorläufertechnologie des heutigen Faser-zu-Faser Recyclings. Im Augsburger Recycling Atelier wird die Reißmaschine nun wieder optimiert, sagt Stefan Schlichter.
MUSIK ENDE
18 OTON SCHLICHTER Reißmaschine 2
Sie ist auch schrittweise weiterentwickelt worden, nur ab dem 60er, 70er Jahren nicht mehr, weil der Markt zu klein war. Mit Recycling konnte man kein Geld verdienen, weil ja neue Ware herzustellen viel einfacher war. Und dann ist diese Technologie nicht gepflegt worden.
MUSIK C1509860 105 „The disposition of the linen”; ZEIT: 00:44
ERZÄHLERIN
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden neue Waren immer günstiger. Die Müllentsorgung fiel in die öffentliche Hand und Holz löste Lumpen als Rohstoff für Papier ab. Bis dahin hatte das Wiederverwerten von Textilien jahrhundertelang zum Alltag dazugehört – aus Tradition oder aus der Not heraus. Eine Recycling-Mentalität will Abfall-Historikerin Franziska Neumann unseren Vorfahren trotzdem nicht uneingeschränkt attestieren. Denn diejenigen, die recycelten und diejenigen, die wegwarfen, seien nicht dieselben gewesen:
MUSIK ENDE
19 OTON NEUMANN Mentalität
ein primäres Interesse am Recycling haben Papiermühlen. Das sind diejenigen, die das als Rohstoff haben wollen und die das weiterverkaufen. Lumpensammler haben ein Interesse an Recycling, weil sie tatsächlich davon profitieren. Das gilt aber nicht für das Gros der Haushalte. Und deswegen finde ich es wichtig, hier nochmal zu unterscheiden, wer profitiert, wie verbreitet ist das eigentlich und gibt es auch nicht Bereiche, wo wesentlich häufiger einfach entsorgt wurde.
ERZÄHLERIN
Dennoch: Ein Bewusstsein für den Wert von Textilien war über Tausende von Jahren selbstverständlich. Heute ist der Trend eher gegenläufig:
ATMO Recycling Atelier
20 OTON SCHLICHTER Wert
Textilien werden immer weniger wert. Eine Hose hat einen Wert, der kann nicht bei 8,67 Euro liegen. Das Allerwichtigste ist, dass wir Textilien wieder Wert zugestehen.
MUSIK privat Take 006 “On Powdered Ground (Mixed Lines)”, Album: Mr. Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble; Komponist: Daniel Brandt; ZEIT: 00:31
ERZÄHLERIN
Stefan Schlichter vom Textilrecycling Atelier in Augsburg:
2 OTON SCHLICHTER Ausblick
Und wenn wir es lernen, Alttextil als Rohstoffquelle zu sehen, wir sitzen auf einem Berg, nicht genutzter Baumwolle zum Beispiel, der größer ist als das, was Indien an Baumwolle produziert im Jahr. Wir wären der viert- bis fünftgrößte Hersteller von Baumwolle, obwohl hier keine einzige Baumwollpflanze wächst.
Im Ramadan gilt für gläubige Muslime von der Morgendämmerung bis Sonnenuntergang nicht essen, trinken, rauchen und kein Sex. Alte, Kranke oder auch Kinder sind von der Pflicht ausgenommen. Am Ende des heiligen Monats feiern Muslime das Zuckerfest. Von Claudia Steiner (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Bürkle, Sebastian Fischer
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Serdar Kurnaz, Institut für Islamische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Florian Lützen, Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen,
Familie Duran aus München
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR
Der Monat Ramadan ist es, in dem der Koran erstmals als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt worden ist, und die einzelnen Koranverse als klare Beweise der Rechtleitung und der Rettung. Wer nun von euch während des Monats anwesend ist, soll in ihm fasten.
SPRECHERIN
Koran, Sure 2, Vers 185.
MUSIK (nein) aus!
SPRECHERIN
Der heilige Monat Ramadan ist der einzige Monat, der im Koran namentlich erwähnt wird. Da sich der Monat nach dem Mondkalender richtet, verschiebt sich der Beginn jedes Jahr um mehrere Tage. Der Ramadan erinnert an die Offenbarung der ersten Sure des Korans durch den Erzengel Gabriel an den Propheten Mohammed.
MUSIK forni 14c
ZITATOR
Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes.
Trag vor im Namen deines Herrn, der erschaffen hat,
den Menschen aus einem Embryo erschaffen hat!
Trag Worte der Schrift vor!
Dein höchst edelmütiger Herr ist es ja,
der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat,
den Menschen gelehrt hat,
was er zuvor nicht wusste.“
SPRECHERIN
Koran, Sure 96, Vers 1 bis 5. Die Suren im Koran sind nicht chronologisch geordnet. Der Überlieferung nach erschien Mohammed etwa im Alter von 40 Jahren in einer Höhle auf dem Berg Hira nordöstliche von Mekka auf der Arabischen Halbinsel der Erzengel Gabriel. Der Engel ergriff ihn. Er befahl Mohammed, die Offenbarung vorzutragen. Das geschah nach islamischem Glauben im Jahr 610 - und zwar am 27. Tag des Ramadan. Noch heute gedenken Muslime und Muslimas dieser ersten Offenbarung – im Arabischen heißt sie Lailat al Qadr, ‚Nacht der Bestimmung‘ oder ‚Nacht des Schicksals‘. Wie bedeutend diese Nacht für Muslime ist, geht aus Sure 97, Vers 3 bis 5 hervor:
ZITATOR
Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate. Die Engel und der Geist kommen in ihr mit der Erlaubnis ihres Herrn hinab, lauter Logoswesen. Sie ist voller Heil und Segen, bis die Morgenröte sichtbar wird.
MUSIK aus
SPRECHERIN
Der Ursprung des Begriffs Ramadan ist nicht eindeutig geklärt – es gibt verschiedene Erklärungsansätze. Manche Experten sind zum Beispiel der Ansicht, dass es eine Ableitung von „ramdâ“ ist. So wird der reinigende Regen nach einem heißen Sommer genannt – während des Fastenmonats wird das Herz der Gläubigen gereinigt. Außerdem ist Ramadan auch einer der Namen Allahs. Auch wenn die Herkunft des Begriffs nicht abschließend beantwortet werden kann, bekannt ist, dass es auf der Arabischen Halbinsel schon vor der Verbreitung des Islams üblich war, zu fasten. Im Koran, Sure 2, Vers 183 heißt es:
MUSIK „until it blazes“
ZITATOR
Ihr Gläubigen! Euch ist vorgeschrieben, zu fasten, so wie es auch denjenigen, die vor euch lebten, vorgeschrieben worden ist. Vielleicht werdet ihr gottesfürchtig sein.
O-TON 1
Also wir wissen aus Überlieferungen, dass schon vor der Entstehung des Islams das Fasten auf der Arabischen Halbinsel bekannt war, unter anderem durch die jüdische Tradition oder auch innerhalb der vorislamischen arabischen Stämme war es auch üblich, dass man gefastet hat.
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… sagt Serdar Kurnaz. (ADB? Serdar KURNASS) Er ist Professor am Institut für Islamische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
MUSIK „Sem“
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Weltweit gibt es schätzungsweise mehr als zwei Milliarden Muslime – die meisten leben in Indonesien, Pakistan, Indien und Bangladesch. In Deutschland sind es mehr als fünf Millionen. Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2020 fasten in Deutschland rund 56 Prozent der Muslime mit Migrationshintergrund. Weitere knapp 20 Prozent fasten zumindest teilweise. Das heißt: sie verzichten - wie manche Christen in der Fastenzeit - auf bestimmte Genussmittel oder sie fasten tageweise.
MUSIK
SPRECHERIN
Der Ramadan ist der neunte Monat im islamischen Mondkalender. Das Fasten beginnt, wenn die Mondsichel gesichtet wird, heißt es in der Hadith-Sammlung, den Überlieferungen, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden. Wenn der Himmel bedeckt ist, sollen die Gläubigen den Beginn des Ramadan bestimmen.
MUSIK „breaker of chains“
SPRECHERIN
Das Fasten zählt zu den fünf Säulen des Islam. Zu den anderen grundlegenden Praktiken gehören das Glaubensbekenntnis, das Gebet, die Armensteuer und die große Wallfahrt nach Mekka. Der Ramadan ist eine Zeit der Gegensätze: Von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang verzichten gläubige Muslime auf Essen, Trinken, Rauchen und Sex. Nachts aber ist der Genuss erlaubt. Koran, Sure 2, Vers 187:
ZITATOR
… und eßt und trinkt, bis ihr in der Morgendämmerung einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden könnt! Hierauf haltet das Fasten durch bis zur Nacht!
SPRECHERIN
Weiter steht geschrieben:
ZITATOR
Es ist euch erlaubt, zur Fastenzeit bei Nacht mit euren Frauen Umgang zu pflegen. Sie sind für euch, und ihr für sie wie eine Bekleidung. Gott weiß wohl, dass ihr solange der Umgang mit Frauen während der Fastenzeit auch bei Nacht als verboten galt, euch immer wieder selbst betrogen habt. Und nun hat er sich euch gnädig gezeigt wieder zugewandt und euch verziehen. Von jetzt ab berührt sie unbedenklich …
(…)
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Im Internet stellen viele Gläubige islamischen Rechtsgelehrten ganz konkrete Alltagsfragen: Ist es erlaubt, während des Fastens Deo oder Parfüm zu tragen? Verstoßen Augentropfen gegen das Fasten? Darf ich Kaugummi kauen? Bricht Küssen das Fasten? Je nach Rechtsauffassung können die Antworten unterschiedlich ausfallen.
MUSIK hier erst aus
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Da das islamische Jahr 354 statt 365 Tage hat; verschiebt sich der Ramadan jedes Jahr um zehn oder elf Tage nach vorn und durchläuft so im Laufe der Zeit die Jahreszeiten. Im Winter, wenn es früh dunkel und spät hell wird, ist die Fastenzeit nicht allzu lang. Im Sommer dagegen sind es oft viele Stunden des Verzichts – zumal die Menschen in südlichen Ländern auch mit viel höheren Temperaturen zurechtkommen müssen, ohne, dass sie tagesüber etwas trinken dürfen. Bei 40 Grad und mehr, die im Juli und August in Ländern wie Pakistan oder im Irak durchaus erreicht werden können, kann dies sehr anstrengend werden. Eine besondere Situation gibt es in Skandinavien, wenn der Ramadan dort auf einen Sommermonat fällt und es - wie rund um Mittsommer – kaum dunkel wird. Für sie gibt es unterschiedliche Empfehlungen von Rechtsgelehrten, sagt Florian Lützen vom Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen:
O-TON 2
Manche sagen, man könne nach den Fastenzeiten von Mekka und Medina beispielsweise fasten. Andere haben die Alternative gewählt, sich am nächsten muslimischen Land in Anführungsstrichen zu orientieren. (…) Eine dritte sagt, man soll trotzdem die vollumfängliche Zeit fasten. Insofern kann sich schon das unterscheiden je nach Gemeinde und welche Auslegung diese folgt.
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2024 begann der Ramadan im März. Je nach Wohnort dauert das Fasten unterschiedlich lange. Muslime in Island müssen zum Beispiel mehr als 18 Stunden fasten, in Mekka in Saudi-Arabien sind es dagegen nur rund 14 Stunden.
MUSIK „breaker of chains“
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Aufgrund des Verzichts im Ramadan verändert sich für viele Menschen der Tagesablauf. Gläubige stehen vor Sonnenaufgang auf, um noch einmal zu Essen und zu Trinken. Die Mahlzeit am Morgen heißt Sa(c)hur. Traditionell laufen in vielen muslimisch geprägten Ländern dann früh am Morgen Trommler durch die Straßen und wecken die Gläubigen auf, damit sie ihr Frühstück nicht versäumen.
ATMO Ramadan-Trommeln (Schallarchiv)
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Firmen nehmen Rücksicht darauf, dass die Menschen tagsüber etwas müder sind. Die Menschen sind oft weniger produktiv. In einigen Ländern sinkt während des Ramadan sogar das Bruttoinlandsprodukt. Viele Restaurants machen tagsüber gar nicht auf – es würden sowieso keine Kunden kommen. Manche Menschen ruhen sich aus und holen tagsüber etwas Schlaf nach. Abends füllen sich die Straßen dann wieder mit Menschen. Wenn die Zeit des Verzichts vorüber ist, schallt der Gebetsruf von den Minaretten der Moscheen. In Dörfern gibt es oft nur ein Gotteshaus. In großen Städten aber erschallt der Gebetsruf von mehreren Minaretten und vermischt sich zu einem großen Chor.
ATMO Gebetsruf (evtl Schallarchiv) SUCHEN oder g-Minarett
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Der Ruf des Muezzin lautet:
ZITATOR
Gott ist groß. Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt. Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist. Auf zum Gebet. Auf zum Heil. Gott ist groß. Es gibt keinen Gott außer Gott.
HALL (?)
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Die Menschen versammeln sich zum Gebet. Männer und Frauen haben unterschiedliche Bereiche in der Moschee, um nicht abgelenkt zu sein und sich auf das Gebet konzentrieren zu können. Beim Gebet macht jeder Muslim die gleichen Gebetsbewegungen. Man beginnt im Stehen, verbeugt sich, richtet sich wieder auf, dann kniet man nieder und berührt mit der Stirn den Boden. Danach bleibt man knieend, richtet den Oberkörper aber wieder auf. Diese Abfolge wird mehrmals wiederholt. Währenddessen sagen alle die gleichen Gebete.
MUSIK „In Doubt“ )
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Zum Iftar, also zum Fastenbrechen am Abend strömen Arme und Bedürftige in riesige Zelte, die oft auf öffentlichen Plätzen aufgebaut sind. Sie erhalten in der Fastenzeit jeden Abend ein kostenloses Essen. Auch Moscheegemeinden in Deutschland laden Gläubige, oft auch Vertreter anderer Religionen ein, um das Fasten gemeinsam zu brechen. Familien und Freunde besuchen sich zum gemeinsamen Fastenbrechen, auf Arabisch heißt das Abendmahl im Ramadan „iftar“.
ATMO 1
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Fastenbrechen bei der türkischstämmigen Familie Duran in München. Während des Ramadan ertönt bei der vierköpfigen Familie jeden Abend der Gebetsruf, den ein Wecker in Form einer Moschee abspielt.
ATMO 1
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Eine Ecke im Wohnzimmer ist geschmückt. „Willkommen Ramadan“, steht auf einer goldfarbenen Girlande. Auf Instagram geben sich Gläubige – wie bei uns zur Weihnachtszeit – Tipps, wie man sein Zuhause festlich gestalten kann und tauschen Rezepte aus. Auf dem Esstisch stehen bereits mit Reis und Hackfleisch gefüllte Weinblätter, Kichererbsen Püree, Fladenbrot und Krüge mit frischem Wasser.
O-TON 3
Heute habe ich rote Linsensuppe gekocht, mercimek corbasi, dann habe ich Reis gemacht und hier im Ofen weiße Bohnen mit Fleisch gemacht.
SPRECHERIN
… erzählt Funda Duran. Bevor es jedoch all die Köstlichkeiten gibt, wird eine Schale mit Datteln herumgereicht. Der Berliner Theologe Serdar Kurnaz:
O-TON 4
Das geht auf die Tradition des Propheten zurück. Es wird überliefert, dass der Prophet das Fasten mit einer Dattel gebrochen hat und dann darauf noch Wasser getrunken hat. Das hat sich als Tradition etabliert. Es gibt natürlich auch unterschiedliche Ansätze, die dann versuchen zu sagen: Ja, Dattel ist sehr nahrhaft, deswegen hat der Prophet Datteln gegessen, das hilft, es ist sozusagen ein Energiedepot für die Fastenden.
SPRECHERIN
Die 17-jährige Fulya, die bald ihr Abitur macht, fastet seit sie 13 Jahre alt ist. In der Regel beginnen Jugendliche mit der Pubertät zu fasten. Schwer fällt ihr das Fasten nicht, erzählt die Gymnasiastin:
O-TON 5
Es fällt mir eher leicht, würde ich behaupten, weil ich generell einfach sehr wenig esse und trinke. Leider. Und ich würde sogar von mir behaupten, dass ich während dem Ramadan, so lustig es sich anhört, mehr esse und trinke als sonst, weil ich halt wirklich so am Abend wirklich dann gut und viel esse und mein Wasser vor mir hab und es auch trinke und ich Nacht es dann ebenfalls mache. Das ist auf jeden Fall mehr als ich sonst tagsüber während eines stressigen Schultags zum Beispiel essen würde.
SPRECHERIN
Ausgenommen vom Fasten sind Kinder, Alte, Schwangere, Stillende, Frauen, die ihre Tage haben, Reisende oder auch kämpfende Soldaten. Funda Duran ist gesundheitlich angeschlagen. Sie fastet nicht. Früher hat auch sie gefastet.
O-TON 6
Es ist sehr, sehr anstrengend, gerade im Sommer - Juni, Juli, August, die Zeit – das hab‘ ich ja auch gemacht. Natürlich wenn man jung ist, und wenn man nicht krank ist, man schafft das. Ich glaube immer daran, dass der liebe Gott uns hilft. Aber natürlich - je älter man wird (…), wenn man Medikamente einnimmt und bestimmte Krankheiten hat, sagt auch der Gott, man soll den Körper nicht belasten und man soll auch nicht fasten.
SPRECHERIN
Es gibt klare Empfehlungen, wie man als gläubiger Mensch verfahren soll, wenn man nicht fasten kann oder krank wird. Florian Lützen:
O-TON 7
Wenn man während dem Ramadan krank wird und nicht fasten kann, sollte das zum nächstmöglichen Zeitpunkt nachgeholt werden, bis zum nächsten Ramadan. Falls das nicht möglich ist, (…) kann auch eine Spende an die Stelle dessen treten.
SPRECHERIN
Die Ersatzspende ist in Höhe von der Speisung eines Armen für einen Tag angesetzt. Viele Kinder fiebern auf den Zeitpunkt hin, bis sie alt genug sind, um zu fasten, sagt der Berliner Theologe Serdar Kurnaz:
O-TON 8
Innerhalb der muslimischen Community ist das Fasten schon etwas, worauf Kinder oder Jugendliche sehr stolz sind. Die wollen das auch selber tun. Da gibt es auch so Möglichkeiten, so spielerisch die Kinder an das Fasten herantasten zu lassen, also zum Beispiel jüngere Kinder, denen würde man sagen: Ja, faste bis 2 Uhr. Und dann darfst du mal zwischendurch essen. Jeder weiß, dass es jetzt kein gültiges Fasten ist. Aber es geht ja nicht darum, sondern darum, dass die Kinder auch diese Möglichkeit haben, weil dieses Kollektivgefühl zu fasten und gemeinsam das Fasten zu brechen und einen Zustand zu erreichen, wo man noch besonders darauf bedacht ist, was man tut, was man sagt. (…)
Das ist schon ein Anreiz für die Kinder. (hängt)
SPRECHERIN
Manchmal verzichten Kinder, die noch nicht fasten, im Ramadan zum Beispiel auf Süßigkeiten. Fulyas kleiner Bruder Deniz geht noch in den Kindergarten. Er ist tatsächlich noch zu jung zum Fasten. Deshalb hat sich seine Mutter Funda für ihn etwas Besonderes ausgedacht. Sie hat eine Schachtel mit buntem Papier verziert. Jeden Abend nach dem Fastenbrechen darf Deniz zusammen mit seiner Familie ein Holzstäbchen in die Box werfen.
ATMO 2 (etwas stehen lassen, dann drüber)
Auf jedem Stäbchen steht eine gute Tat wie zum Beispiel: Ich habe nicht gelogen. Ich war heute lieb. Ich habe Mama oder Papa geholfen. Ich war geduldig. Auch seine Eltern und seine Schwester werfen je ein Stäbchen mit ihrem Namen und der guten Tat in die Schachtel. Die Idee hat Funda aus einem Buch.
O-TON 9
Das machen wir alle zusammen nach dem Fastenbrechen, da überlegen wir, was haben wir heute Gutes gemacht und dann suchen wir das hier raus, in die Kiste rein… und dann machen wir nach Ende der Ramadan auf und sehen wir alle Stäbchen und sehen, wer von uns ganz viele Sachen geleistet hat.
SPRECHERIN
Inzwischen gibt es auch viele Kinderbücher mit Gute-Nacht-Geschichten zum Ramadan und viele Familien denken sich neue Bräuche aus so wie die Familie Duran. Serdar Kurnaz:
O-TON 10
Es ist eigentlich sehr individuell ausgeprägt, aber ich beobachte auch in Deutschland vermehrt zum Beispiel, dass es Ramadan-Kalender gibt wie einen Adventskalender. Also es etablieren sich mittlerweile Dinge, auf die man sich aufgrund der geteilten Erfahrungen und aufgrund der geteilten Prägung auch in Deutschland, dass man auch Möglichkeiten versucht, auszutarieren, um die Kinder noch stärker miteinzubeziehen.
MUSIK „until it blazes“
SPRECHERIN
Im Ramadan geht es aber nicht primär ums Fasten und um Verzicht. Noch wichtiger als der Verzicht an sich ist die spirituelle Ebene. Es ist vor allem eine Zeit der inneren Einkehr und des Gebets, sagt Fulya:
O-TON 11
Eigentlich sollte man im Ramadan versuchen, den ganzen Koran sozusagen einmal durchzulesen. Ich schau dann halt so, wie weit ich persönlich komme. Erstmal lese ich es auf Arabisch, aber ich verstehe es halt nicht. Und dann schaue ich mir noch mal die Übersetzung auf Türkisch an, damit ich überhaupt verstehe, was ich gelesen habe.
SPRECHERIN
Im Ramadan sollen Gläubige üben, empathisch und aufrichtig zu sein. Sie sollen auch auf kleine Lügen verzichten – gemeint sind zum Beispiel Ausreden. Es geht um die Läuterung der Seele. In einer Aussage des Propheten Mohammed heißt es, dass sich Gott den fastenden Menschen zuwendet.
Florian Lützen vom Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen:
O-TON 12
Ein berühmter Hadith, ein berühmter Bericht des Propheten, besagt, (…), dass das Fasten ein Schutz sei, vor dem Überwiegen des Diesseits im Herzen des Menschen. (…) Wenn man es etwas nüchterner ausdrücken möchte, hat das Fasten also das Ziel, den Charakter zu läutern oder zu verfeinern. Die Sufis haben das auch manchmal mit dem Satz ausgedrückt, dass das Fasten der Seele Raum verschaffen soll, sodass sie nicht vom Körper eingeengt wird. (…) Wenn man es noch ein bisschen weiterspinnt, diesen Gedanken, dann soll das Fasten ein tieferes Verständnis vom eigenen Wesen hervorbringen und ist gewissermaßen auch eine Art von Wissenserwerb, ein Wissen, das neben der intellektuellen Intelligenz steht, (…) und eine Art emotionale Intelligenz mit ins Spiel bringt.
SPRECHERIN
In Deutschland hören Muslime manchmal Sätze wie: „Ach du Armer, Du musst fasten.“ Doch das spiegele nicht die Sicht und das Empfinden der Gläubigen wider, sagt der Theologe Serdar Kurnaz:
O-TON 13
Dieses Bedauern ist halt immer tatsächlich ein seltsamer Blick, weil es gibt überhaupt nicht die emotionale Ebene und die spirituelle Ebene wieder, die die Fastenden selbst empfinden.
SPRECHERIN
Ein weiterer wichtige Aspekt im Ramadan ist das soziale Engagement. Es ist ein Monat der guten Taten. Die Gläubigen entrichten die Armensteuer Zakat und unterstützen Bedürftige.
O-TON 14
Eine weitere Ebene ist, dass man auch nachempfinden kann, was es überhaupt bedeutet, Hunger zu haben. Wie man mit den Gottesgaben umzugehen hat, wie wichtig eigentlich alle Gaben Gottes sind und dass man das noch mal hautnah spürt bei den notwendigsten Mitteln, die wir im Alltag brauchen, also Essen und Trinken, das müssen wir über den Tag hinweg mehrmals tun. Und wenn man darauf verzichtet, sieht man eigentlich die Gottes Barmherzigkeit und die Gaben Gottes, wie wichtig sie sind und welchen wichtigen Teil des Lebens ja auch ausmachen.
MUSIK „Liebeslied“
SPRECHERIN
Am Ende des Monats Ramadan – nach vier Wochen des Fastens - wird gefeiert. Gläubige Muslime begehen dann das Zuckerfest, Eid al-Fitr, genannt. Es markiert das Ende des heiligen Monats.
ATMO (Markt Türkei/arabisches Land – Schallarchiv)
SPRECHERIN
In Konditoreien und auf Märkten herrscht dann Hochbetrieb. Die Menschen kaufen hübsch verpackte Pralinen, Schokolade oder auch Baklava, ein in Honig oder Zuckersirup eingelegtes Gebäck aus Blätterteig, der mit gehackten Walnüssen, Mandeln oder Pistazien gefüllt ist. Serdar Kurnaz:
O-TON 15
Man feiert, dass man einen Monat lang gefastet hat. Und die Feier besteht eigentlich darin, dass man morgens früh ein besonderes Gebiet verrichtet, das Festtagsgebet. Und dann kommt man mit der Familie zusammen, und man frühstückt, man besucht die älteren Familienangehörigen. Und dort ist es dann auch üblich, weil man ja einen Monat lang gefastet hat, dass man auch Süßigkeiten verteilt oder die Gäste auch mit Süßigkeiten empfängt. Weshalb es sich auch etabliert hat in der türkischen Sprache, das gab es schon unter den Osmanen, dass man das als Şeker Bayramı, als Zuckerfest dann auch bezeichnet hat. (…)
SPRECHERIN
Auch zu Familie Duran in München kommen dann Freunde, erzählt die Mutter Funda:
O-TON 16
Man besucht dann die Älteren, (…) Geht man dann zum Zuckerfest, um frohes Fest zu wünschen. Aber wir merken schon ein paar Jahren, dass wir auch schon zu den Älteren gehören (…), dass wir jetzt auch langsam Besuch bekommen, dass die uns unsere Hand küssen, um uns frohes Fest zu wünschen.
MUSIK „until it blazes“
SPRECHERIN
Zusammen fasten, zusammen beten, zusammen Fastenbrechen. Das Gemeinschaftsgefühl während des Ramadan ist für die Gläubigen wichtig. Aber es geht eben nicht nur um Verzicht, sondern vor allem um die innere Läuterung. Das reine Herz und die Offenheit für die Begegnung mit Allah sollten Muslime auch nach Ende des Fastenmonats beibehalten – im Idealfall bis zum nächsten Ramadan in einem Jahr.
Eine Geburt ist immer auch ein soziales Ereignis, das Menschen prägt und ihr Leben verändert. Der Beruf der Hebamme war immer mit einer besonderen Aura umgeben. Von Brigitte Kohn (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Irina Wanka, Christian Baumann, Jenny Güzel
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Dr. Barbara Fillenberg, Hebamme und Lehrstuhlinhaberin für Hebammenwissenschaft an der Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V.
PD Dr. habil. med. Nadine Metzger, PhD, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Lehrstuhl für Geschichte der Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
1 O-TON PROF. FILLENBERG 00.49
Ich muss zugeben, dass ich immer noch Tränen in den Augen hab, wenn das Baby geboren ist. Ich glaub, das hängt auch damit zusammen, dass ich unglaublich stolz bin auf die Frau, die diese Leistung absolviert hat in dem Moment. Und das ist so eindrücklich, dass mich das nie loslässt.
ERZÄHLERIN:
Die Hebamme Barbara Fillenberg, Professorin und Lehrstuhlinhaberin für Hebammenwissenschaft an der Johannes-Gutenberg Universität in Mainz, hat vielen Kindern auf die Welt geholfen und viele Paare auf den Weg ins Elternsein begleitet. Sie weiß, dass das Erleben und Gestalten von Geburten sehr stark von historischen und sozialen Rahmenbedingungen abhängt und sich im Lauf der Zeit verändert.
MUSIK ENDE
2 O-TON BARBARA FILLENBERG 8.50
Ich stelle schon fest, dass das Thema Geburt nicht mehr so präsent ist in den Köpfen der werdenden Eltern. Dass das eigene Baby das erste Baby ist, das die Eltern auf dem Arm tragen, und dass sie sich im Vorfeld wenig Gedanken machen, was das eigentlich bedeutet, ein Kind zu kriegen. Oder sie haben sich so viel Gedanken gemacht, dass sie viele Filme anschauen und viel Informationsmaterial einholen und dann eher in die Risikodenkweise kommen. Und das ist für uns als Hebammen nicht ganz befriedigend, weil wir ja einen ganz anderen Ansatzpunkt haben, und wir hätten schon gerne, dass die Kinder lernen, dass eine Geburt was ganz Normales ist, was dazugehört zum menschlichen Leben und dass das auch ein normaler Vorgang ist im Leben einer Frau, der bei den Frauen meistens ganz gutgeht.“
ERZÄHLERIN:
Dass das Kinderkriegen meistens ganz gut geht, darauf konnte man nicht immer so zuversichtlich hoffen. Im 18. Jahrhundert nehmen etwa 20 Prozent der Geburten einen tragischen Verlauf. Auch Johann Wolfgang Goethe wäre bei seiner Geburt fast gestorben. Seine Mutter Catharina Elisabeth erzählt Jahrzehnte später ihrer Freundin, der Dichterin Bettine von Arnim, von den Strapazen ihrer Niederkunft, und Bettine gibt das Gehörte brieflich an Goethe weiter:
MUSIK „Clock Winder”; ZEIT: 00:53
ZITATORIN:
"Drei Tage bedachtest Du Dich, eh Du ans Weltlicht kamst, und machtest der Mutter schwere Stunden; aus Zorn, dass Dich die Not aus dem eingeborenen Wohnort trieb, und durch die Misshandlung der Amme kamst Du ganz schwarz und ohne Lebenszeichen."
ERZÄHLERIN:
Protestantische Gesangsbücher jener Zeit enthalten Lieder, die Schwangeren Mut machen sollen. Vor der Geburt machen viele Frauen ihr Testament. Catharina Elisabeth Goethe und ihr erstes Kind haben Glück: Alles wird gut.
ZITATORIN:
„Sie … bäheten Dir die Herzgrube mit Wein, ganz an Deinem Leben verzweifelnd. Deine Großmutter stand hinter dem Bett, als Du zuerst die Augen aufschlugst, rief sie hervor: Rätin, er lebt!“
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN:
Wein gilt als Stärkungsmittel, man reibt schwächliche Neugeborene damit ein und gibt ihn auch den Gebärenden und Wöchnerinnen zu trinken. Des Weiteren hält man Zugluft von der Wochenstube fern, heizt gründlich ein, stellt Tücher, heißes Wasser und frische Butter als Schmier- und Gleitmittel bereit. Hebammen haben im allgemeinen Klistiere im Gepäck, Leinenfäden zum Abbinden der Nabelschnur, stumpfe Scheren zum Durchschneiden derselben, Salmiakgeist und Kräutersalben, auch Weihwasser und Spritzen zur Nottaufe von Kindern, die bei der Geburt zu sterben drohen. Und dann wartet man ab und hofft das Beste. Bei Komplikationen jedoch muss eine Hebamme entschlossen zugreifen. Goethes Hebamme geht so rabiat zu Werke, dass die Familie ihr die Schuld an dem gefährlichen Verlauf der Geburt gibt.
MUSIK „Clock Winder”; ZEIT: 01:01
ERZÄHLERIN:
Das 18. Jahrhundert ist eine Zeit großer Veränderungen, auch in der Medizin. Immer mehr männliche Ärzte drängen in die Geburtshilfe und beanspruchen die Kontrolle über die Hebammen, ohne selbst Praxiserfahrung zu haben. Das geht nicht ohne Konflikte ab, und die schwelen lange auch in den Hierarchien moderner Kliniken bis in die Gegenwart hinein. Barbara Fillenberg ist zuversichtlich, dass die Akademisierung für mehr Augenhöhe sorgen wird. Seit 2020 ist Hebammenwissenschaft auch in Deutschland ein Studiengang, der den Hebammen auch wissenschaftliche Karrieren eröffnet. Das wird die Forschung beleben, denn Hebammen legen den Fokus auf den normalerweise unproblematischen Verlauf von Schwangerschaft und Geburt, während Ärzte sich stärker mit Risiken auseinandersetzen müssen.
MUSIK ENDE
Das Studium der Hebammenkunde hat einen hohen Praxisanteil und zieht viel Interesse auf sich, weiß die Medizinhistorikerin Nadine Metzger, die die Studentinnen an der Universität Erlangen in der Geschichte des Hebammenberufs unterrichtet. Sie hat ein Lehrbuch verfasst mit dem Titel „Medizinische Terminologie für Hebammen“, das auch umfangreiche Kapitel zur Geschichte dieses Berufes enthält, und sie arbeitet gern mit den jungen Leuten im aufblühenden Feld der Hebammenwissenschaften.
3 OTON NADINE METZGER:
Die sind unglaublich engagiert, und es gibt auch sehr viele Bewerbungen auf die Studienplätze. Die Studienplätze sind sehr begrenzt, weil es so intensive Praxisanleitungen in diesem Studium hat, und da kann man halt nicht 100 Leute gleichzeitig ausbilden, sondern maximal 25 oder 35 hier in Erlangen. Es kommen aber viele hundert Bewerber auf diese Plätze.
MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner: Original Motion Picture Soundtrack; Label: Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 01:01
ERZÄHLERIN:
Gelehrte Hebammen gab es früher auch schon. In der Antike sind sie nicht einmal so selten. Viele von ihnen haben eine ähnliche Ausbildung wie Ärzte, manche verfassen auch Bücher. Platon überliefert, dass die Mutter des Sokrates Hebamme gewesen sei und dessen philosophisch-didaktische Methode inspiriert habe: So wie die Hebamme dem Kind auf die Welt helfe, so verhelfe er, Sokrates, seinen Schülern dazu, Gedanken und Einsichten zur Welt zu bringen. Der Philosoph Aristoteles sucht häufig das Gespräch mit Hebammen, wenn er an seinen anatomischen und naturkundlichen Schriften arbeitet. Im 17. Jahrhundert hat es Justine Siegemund, eine gebildete Pastorentochter, von der Dorfhebamme zur Hofhebamme am brandenburgischen Hof gebracht und ein vielbeachtetes Lehrbuch veröffentlicht.
MUSIK ENDE
4 O-TON BARBARA FILLENBERG 28.
Siegemund hat einen Begriff geprägt, den ich bis heute faszinierend finde, das ist das Kontaktwissen. Als Hebamme lerne ich die Frau als Person kennen, lerne ihre Familie kennen, und wenn ich die Wochenbettbegleitung mache und die Schwangerschaftsvorsoge auch im häuslichen Umfeld anbiete, dann stelle ich fest, wie die Frau lebt und welche Ressourcen ihr zur Verfügung stehen. Dass ich auch erspüren kann von der Frau, was braucht die jetzt von mir.
ERZÄHLERIN:
Im 18. Jahrhundert entwickelt eine Französin namens Angélique du Coudray ein wegweisendes Unterrichtsmodell …
5 O-TON BARBARA FILLENBERG
um zu zeigen, wie sich das Kind durch das Becken schraubt bei der Geburt. Sie konnte an diesem Modell auch Komplikationen darstellen, und Hebammen hatten immer die Gelegenheit, an diesem Modell zu üben, auch manuell zu üben, und das wird bis heute angewandt.
ERZÄHLERIN:
Aber Siegemund und Coudray sind Ausnahmehebammen. Die durchschnittliche Hebamme im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kommt aus den ärmeren Schichten: Als Bäuerin oder Handwerkersfrau ist sie auf einen Zuverdienst angewiesen und hat weder Zeit noch Kenntnisse zum Bücherschreiben. Aber Erfahrung mit Geburten und einen guten Ruf in der Dorfgemeinschaft, das hat sie schon.
6 O-TON METZGER:
Die verheirateten Frauen wählen untereinander aus ihrer Mitte die Hebamme, und das ist eine Frau, zu der sie offensichtlich Vertrauen haben. Das ist aber nicht so, dass die eine Ausbildung gehabt hätten, das war nicht großartig organisiert. Eine informelle Wissensweitergabe.
ERZÄHLERIN:
Im Dorf spricht es sich schnell herum, wenn bei einer Frau die Wehen einsetzen. Nachbarinnen und Verwandte eilen herbei, die Männer holen die Hebamme ab, begleiten sie durch oft unwegsames Gelände und ziehen sich zu Hause, wenn es dann hart auf hart kommt, zurück. Gebären ist Frauensache.
7 O-TON NADINE METZGER
Traditionell haben immer die Frauen aufrecht geboren. Entweder gestützt im Stehen, im Hocken, durch andere Frauen aufrecht gehalten, oder im 17., 18. Jahrhundert auf Gebärstühlen, im aufrechten Sitzen.
ERZÄHLERIN:
Die Gebärende bleibt bekleidet, das gebietet das Schamgefühl auch unter Frauen, und die Hebamme ertastet die Lage des Kindes unter ihren Röcken. Ist die Lage problematisch, muss das Kind im Mutterleib gewendet werden. Ein Kaiserschnitt ist noch keine Option, die Mutter würde verbluten.
8 O-TON NADINE METZGER:
Die Hebamme Justine Siegemund beschreibt in ihrem Buch ein von ihr entwickeltes Verfahren mit Hilfe eines Wendestäbchens, wo die Hebamme ihren Arm bis in den Uterus einführt und mit einem Stäbchen und einer Schlinge das Kind im Mutterleib wendet. Das muss eine schreckliche Prozedur gewesen sein, aber das hat Leben gerettet. Das zu können und zu wissen, wie man das macht, und es im richtigen Moment zu machen, das hat eine gute Hebamme in der Vormoderne ausgezeichnet.
MUSIK „Golden arrow“; ZEIT: 01:41
ERZÄHLERIN:
In Fällen, in denen sich ein tragisches Ende abzeichnet, dürfen und müssen Hebammen dem Kind die Nottaufe spenden und den sterbenden Müttern die Beichte abnehmen, also priesterliche Funktionen übernehmen. Die Kirche achtet darauf, dass sie die entsprechenden Gebetsformeln und Rituale beherrschen, und sie erwartet auch von ihnen, dass sie Verstöße gegen die Sittlichkeit, uneheliche Geburten zum Beispiel und den Namen von Kindsvätern, melden. Zur Zeit der Inquisition müssen Hebammen sich verstärkt bemühen, an ihrer Rechtgläubigkeit keinen Zweifel zu lassen, um nicht in den Verdacht der Hexerei zu geraten. Das ist nicht so einfach, da Bräuche und Rituale mit heidnischem Einschlag oft noch sehr beliebt sind.
AKZENT
Die Entlohnung der Hebammen regelt allerdings niemand. Wohlhabende Familien geben Geld oder Naturalien, Feuerholz zum Beispiel, bei den Armen gibt es wenig oder nichts zu holen. Viele Hebammen, die ja oft selbst einen harten Lebenskampf bestehen müssen, verwenden also mehr Sorgfalt und Zeit auf reiche Familien als auf arme. Das ist einer der Missstände, die den Regensburger Stadtvätern 1452 ins Auge fallen, weswegen sie den ersten überlieferten Versuch unternehmen, die Geburtshilfe amtlich zu regeln. Sie sehen …
MUSIK ENDE
ZITATOR:
„den Mangel und Abgang, den sie in ihrer Stadt an guten Hebammen hätten, und dass durch Unordnung der Hebammen zu Zeiten die Frauen verwahrlost würden“.
ERZÄHLERIN:
Die Regensburger Stadtväter verbieten den Hebammen, den Geburtsvorgang künstlich zu beschleunigen oder die Gebärende vorzeitig zu verlassen, um zu einer anderen womöglich reicheren Frau zu eilen. Und außerdem sollen die Hebammen bei der Arbeit nicht trinken, jedenfalls keinen Alkohol.
ERZÄHLERIN:
Die Stadtväter regeln noch einiges mehr, und sie lassen die Frauen einen Eid vor der Obrigkeit schwören, dass sie sich an alle Auflagen halten werden.
10 O-TON NADINE METZGER:
Dass Hebammen ihren Job richtig machen, wurde kontrolliert durch ein Gremium ehrbarer Frauen, wahrscheinlich die Gattinnen von Ratsherren oder wichtigen Handwerksmeistern. Und die haben in dieser weiblichen Sphäre der Frauengemeinschaft geguckt, dass die vereideten Hebammen sich an den Eid halten.
MUSIK „Golden arrow“; ZEIT: 01:16
ERZÄHLERIN:
Hebammeneide sind also der Ursprung der Professionalisierung der Geburtshilfe. Später werden sie vor Ärztekollegien abgelegt, denn seit dem 17. Jahrhundert steigen im Zuge des Fortschritts der Naturwissenschaften das Ansehen und der Einfluss der Ärzte in der Stadtgesellschaft rapide an. Immer mehr Landesherren erkennen, dass die Gesundheit ihrer Landeskinder und eine hohe Bevölkerungszahl für die Wirtschaft und die Landesverteidigung wichtig sind, und fördern den Beginn einer öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Ärzte kontrollieren und überwachen die Hebammen zunächst und bilden sie später auch aus.
Obwohl diese Entwicklung Konflikte und Nachteile mit sich bringt, hält die Medizinhistorikerin Nadine Metzger nichts davon, vormoderne Verhältnisse zu idealisieren. Ähnlich wie die historische medizinische Literatur enthalte das schriftlich überlieferte traditionelle Hebammenwissen auch Irrtümer wie beispielsweise Opiumgaben für Neugeborene, sagt sie.
11 O-TON NADINE METZGER:
Man muss sich sehr davor hüten, das zu romantisieren. Das Bild der Hebamme als weise Frau mit besonderem Heilwissen, mittelalterlich verbrämt, das ist eine Figur, die sehr stark durch die Nazis gefördert wurde.
ERZÄHLERIN:
In der Stadt setzen sich die neuen Spielregeln viel schneller durch als auf dem Land, wo lange alles beim Alten bleibt. Zwar werden auch Landgemeinden spätestens seit 1800 dazu verpflichtet, angehende Hebammen zu medizinischen Kursen in die Stadt zu schicken, aber die Landfrauen akzeptieren die neumodischen Geburtshelferinnen oft nicht und schicken lieber nach den traditionellen, die sie schon kennen und die auch an den lebhaften Trubel gewöhnt sind, in dem das Gebären so stattzufinden pflegt. Cousinen, Tanten und Nachbarinnen bechern gemeinsam Wein und Bier, rauchen Tabak und überbieten sich gegenseitig mit Ratschlägen.
ZITATOR:
„Alle die anwesenden Frauen erzählen die Stellung, in welcher jede von ihnen ihre Kinder am leichtesten zur Welt gebracht hat, und nötigen die Gebärende, alle diese Stellungen nacheinander zu versuchen“,
ERZÄHLERIN:
… stellt ein Arzt aus Altona im Jahre 1763 irritiert fest. In einigen Stadtarchiven gibt es Akten über Prozesse, in denen sich eine Hebamme und ein Arzt wechselseitig der Ahnungslosigkeit und Praxisferne beziehungsweise der Kurpfuscherei beschuldigen. Karikaturen von beschwipsten Hebammen machen die Runde.
12 O-TON NADINE METZGER.
Es ist oft in dieser Zeit für uns schwer zu trennen, was ist üble Nachrede und was ist ein realistisches Problem gewesen. Dieses Bild der alkoholisierten, unfähigen, schmutzigen Hebamme, das ist ein Bild, das sehr viel von ärztlichen Autoren beschworen wird. Im 18. Jahrhundert, im 19. Jahrhundert und auch noch im 20. Jahrhundert.
MUSIK „Golden arrow“; ZEIT: 00:55
ERZÄHLERIN:
Der moderne Arzt will Ruhe und Konzentration und einen zügigen Geburtsverlauf. Häufig greift er viel zu schnell zur Geburtszange, die es seit dem 17. Jahrhundert gibt und die die Hebammen nicht verwenden dürfen; Risikogeburten sind zum Vorrecht des Arztes geworden. Viele Frauen und Kinder überleben die Tortur einer Zangengeburt allerdings nicht. Auch die Gebärhäuser, die im 18. und 19. Jahrhundert entstehen, haben so erschreckend hohe Sterberaten, dass Kritiker sie als „Mördergruben“ bezeichnen. Und doch werden diese Häuser hauptsächlich deswegen gegründet, um die Ausbildung ärztlicher Geburtshelfer zu ermöglichen und die der Hebammen zu systematisieren.
MUSIK ENDE
13 O-TON METZGER:
Die Idee war die, dass arme Frauen, Frauen aus der Unterschicht mit unehelichem Kind, dass die so verzweifelt sind, dass die dann in so eine Anstalt gehen und sich dort als Anschauungsobjekt den Ärzten und Studenten zur Verfügung zu stellen. Und da normalerweise Gebären im Frauen- und Familienkreis abgelaufen ist, haben das wirklich nur ganz verzweifelte Frauen gemacht. Aber aus dieser Praxis konnte dann eben die aufstrebende männliche ärztliche Geburtshilfe genügend Anschauungs- und Forschungsmaterial gewinnen – also, „Material“ ist hier ein entpersonalisierendes Wort für die Gebärende und ihr Kind -, um daraus die Geburtshilfe als ärztliche Disziplin zu etablieren.
MUSIK „Clock Winder”; ZEIT: 01:00
ERZÄHLERIN:
Die Frauen müssen im Liegen gebären, um Medizinstudenten und Hebammenschülerinnen bessere Einblicke zu gewähren. Das Kindbettfieber rafft eine Frau nach der anderen dahin. 1847 schöpft der Wiener Arzt Ignaz Semmelweis den Verdacht, das könnte mit den ungewaschenen Händen der Ärzte zusammenhängen, die gerade von der Leichenschau kommen, aber er stößt auf Widerstände. Antiseptische Vorgehensweisen setzen sich nur allmählich durch – im Fahrwasser der Fortschritte in der Chirurgie. Von denen profitiert auch die Geburtshilfe. Seit 1882 ist es möglich, den Uterus nach einem Kaiserschnitt mit Carbolseide zu vernähen. Das senkt die Mortalität im Laufe der folgenden Jahrzehnte immer mehr und ist ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der Geburtshilfe.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN:
Das wachsende Hygiene- und Gesundheitsbewusstsein hat aber auch eine dunkle Seite. Vorstellungen von Rassereinheit und Eugenik machen sich bereits im 19. Jahrhundert in den Wissenschaften breit. Sie finden ihren furchtbaren Höhepunkt im Nationalsozialismus, der auch den Hebammenberuf ideologisch für sich vereinnahmt.
15 O-TON NADINE METZGER
Die Reichshebammenführerin Nanna Conti war die Mutter des Reichsärzteführers, Leonardo Conti. Das war eine ganz stramme Nationalsozialistin, die schon in den 20er Jahren in die NSDAP eingetreten war und voll hinter jedem völkischen Gedankengut stand und es sehr geschickt geschafft hat, die Hebammen in den Dienst der Körperpolitik der NS-Diktatur zu stellen.
MUSIK „Clock Winder”; ZEIT: 00:52
ERZÄHLERIN:
In der Nachkriegszeit setzt sich die Klinikgeburt auch auf dem Land flächendeckend durch, in der DDR in den Sechzigern, in der Bundesrepublik etwas später. In der DDR verbucht man bessere Erfolge bei der Senkung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit als in der Bundesrepublik, auch die Hebammenausbildung ist sehr viel fundierter.
Im Westen übernehmen Kassenärzte seit 1965 auch die Schwangerenvorsorge, was die Hebammen erst mal ins Hintertreffen geraten lässt. Inzwischen haben sie aber wieder ein gutes Standing, findet die Hebammenwissenschaftlerin Barbara Fillenberg. In ihrer vielfältigen Laufbahn als Hebamme hat sie auch die Erfahrung gemacht, dass Ärzte und Hebammen gut zusammenarbeiten können.
MUSIK ENDE
16 O-TON BARBARA FILLENBERG:
Und dieses Miteinander, das würd ich mir wünschen, dass wir das intensivieren, weil ich glaube, für die Frauen, für die Familien gibt’s nichts Besseres, als wenn die Berufsgruppen Hand in Hand arbeiten. Für mich ist es so, dass wir von der Frau aus und den Bedürfnissen des Kindes aus denken sollten und nicht unbedingt nur, was will die Berufsgruppe für sich selber, ob das jetzt Ärzte oder Hebammen sind. Der Diskurs bringt uns weiter. Es wär ja schrecklich, wenn‘s immer nur harmonisch wär, dann würden wir ja auf der Stelle treten.
17 O-TON NADINE METZGER:
Ich glaube, es sehen alle in dem Bereich als Problem, dass man sich unter Personalmangel-Umständen nicht genügend um die einzelne Gebärende kümmern kann. Es ist ein organisatorisches Problem, es ist ein finanzielles, wirtschaftliches Problem, und allein der Hebammenmangel ist dafür nicht verantwortlich, es ist ein strukturelles Ding. Man kann nur hoffen, dass da gute neue Lösungen entwickelt werden.
Unkräuter sind scheinbar unverwüstlich. Sie breiten sich schnell und oft unkontrolliert aus - zum Ärger vieler Gärtnerinnen und Landwirte. Zugleich erhöhen die unerwünschten Pflanzen jedoch die Biodiversität und dienen als Nahrung für viele Insekten. Einige enthalten auch für den Menschen wertvolle Inhaltsstoffe. Von Claudia Steiner (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Diana Gaul
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Marion Dorsch, LBV - Landesbund für Vogel- und Naturschutz in Bayern e.V.;
Dr. Lena Ulber, Julius-Kühn-Institut in Braunschweig;
Christian Meidinger, Biobauer aus Neufahrn bei Freising
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Literaturtipps:
Unkräuter – Bedeutung in Gartenbau und Landwirtschaft, Gerhard Bedlan, avbuch;
Unkraut, Ökologie und Bekämpfung, Peter Zwerger, Hans Ulrich Ammon, Ulmer Eugen Verlag
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Etwa 500.000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich an Krebs - darunter auch Podcast-Host Daniela. Mit der Diagnose Brustkrebs begann für die 35-Jährige "Die Challenge meines Lebens": In sechs Episoden erzählt Daniela von ihrer Achterbahnfahrt durch diese Krise und beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der Krebserkrankung: Wie können wir lernen, mit der Angst vorm Sterben und dem eigenen Tod besser umzugehen? Was braucht guter Trost und was sind die richtigen Worte in schwierigen Zeiten?
ZUM PODCAST
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Von Liebhabern wird er als erstes heimisches Freilandgemüse nach dem Winter sehnsüchtig erwartet: Spargel. Blütenweiß, grün, aber auch lilafarben. Er steckt voller Mineralstoffe und Vitamine. Doch sein Preis ist stolz, sein Anbau arbeitsintensiv. Ist das Kultgemüse in der Krise? Von Susanne Hofmann
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Benjamin Stedler, Carsten Fabian, Sissi Forster
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Dr. Gunther Hirschfelder, Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg
Claudia Freitag-Mair, Leiterin des Europäischen Spargelmuseums in Schrobenhausen
Josef und Christine Rehm, Spargelbauern in Linden bei Schrobenhausen
Stefan Settele, Gasthof Settele in Augsburg
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Ein Podcast-Tipp für alle, die gerne authentische Geschichten hören: „Ein Zimmer für uns allein“ – zwei Frauen, zwei Generationen und die Frage „Wie hast du das erlebt?“
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Linktipps:
Schrobenhausen - Das europäische Spargelmuseum HIER geht es zur Website
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR
Schwanenfleisch in Fischsauce
ZITATORIN
gepfefferter, gefüllter Siebenschläfer mit Nüssen
ZITATOR
gebratener Kranich mit Liebstöckel und Honig
ZITATORIN
gekochter Flamingo in Koriandersauce
ZITATOR
marinierter Pfau
ERZÄHLERIN
Die Rezepte für diese Gerichte stammen aus einem der ältesten überlieferten Kochbücher der Welt. Es entstand vor 2.000 Jahren im alten Rom und trägt den Titel „De re conquinaria“, zu Deutsch „Über die Kochkunst“. Verfasst haben soll es ein gewisser Apicius, ein weithin bekannter Feinschmecker der römischen Antike. Er lehrte seine Kunst in eigens gegründeten Kochschulen. Raffiniert-Exotisches findet sich in seinem Kochbuch ebenso wie einfache Hausmannskost. Seine Rezepte zeigen: Die römische Oberschicht ließ sich ihre Gaumenfreuden etwas kosten, sie legte Wert auf erlesene und außergewöhnliche Zutaten.
ZITATOR 2 (nur Anfang und ggf. Schluss hörbar)
Accipies asparagos purgatos, in mortario fricabis, … teres in mortario piperis scripulos VI, …postea adicies vini cyathum unum, … mittes in caccabum olei uncias III, illic ferveant, perunges patinam, in ea ova VI cum oenogaro misces, cum suco asparagi impones cineri calido, piper asperges
ZITATOR (drüberlegen)
Nehmen Sie gewaschenen Spargel, zerreiben ihn in einem Mörser, … Mahlen Sie sechs Pfefferkörner, …. geben Sie eine Tasse Wein und drei Unzen Öl in einen Topf. … Mischen Sie sechs Eier mit dem Essig und dem Spargelsaft, garen Sie das Gericht auf heißer Asche und bestreuen Sie es mit Pfeffer.
ERZÄHLERIN
In Apicius‘ Rezeptsammlung findet sich auch dieses Gericht mit Spargel, auf der altrömischen Speisekarte damals noch ein recht junges Gemüse. Als Heilpflanze bekannt war der Spargel zu der Zeit bereits viele Jahrhunderte lang in China, Ägypten und im alten Griechenland, sagt Claudia Freitag-Mair. Sie leitet das Kulturamt im oberbayerischen Schrobenhausen sowie das dortige Europäische Spargelmuseum:
MUSIK 2 ( Atrium Musicae de Madrid – Papyrus Oxyrhynchus 2436 0’22)
1. ZUSPIELUNG Freitag-Mair
Bei den Griechen war es sogar das heilige Gewächs der Aphrodite, weil man damals schon wahrscheinlich die Form bisschen in Verbindung gebracht hat mit einem männlichen Phallus.
ERZÄHLERIN
Frisch vermählte Paare wurden mit dem Kraut der Spargelpflanze geschmückt, man schwor auf den Spargel als Aphrodisiakum zur Stärkung der Manneskraft und als Heilpflanze: Spargel sei entwässernd und entgiftend. Die Römer begannen den bis dahin wild wachsenden Spargel zu kultivieren. Der Geschichtsschreiber Plinius der Ältere hielt rund 200 nach Christus fest:
ZITATOR 2 (Plinius)
Omnium in hortisrerum lautissima cura asparagis
ERZÄHLERIN
Übersetzt so viel wie:
ZITATOR (Plinius)
Von allen Dingen im Garten wird dem Spargel die größte Sorgfalt gewidmet
MUSIK 3 ( Procurans odium 0’42)
ERZÄHLERIN
Zu jener Zeit ist der Spargel noch ausschließlich grün. Bei den Stangen handelt es sich um die Sprosse der Spargelstaude. Sie überwintert als Wurzelstock in der Erde und treibt im Frühling neu aus. Und wie! Eine Spargelpflanze entwickelt bis zu 25 Triebe, die am Tag mehrere Zentimeter wachsen. Man kann dem Spargel also beim Wachsen fast zuschauen. Im Mittelalter wurde Spargel in europäischen Klostergärten angebaut. Für den Stauferkaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert beispielsweise war er
ZITATOR (Friedrich II.)
das beste Gemüse
2. ZUSPIELUNG Hirschfelder
„Wir sehen immer wieder, dass Spargel eigentlich eher eine Sache für die Wohlhabenden ist, eine teure Angelegenheit. Woran liegt das?
ERZÄHLERIN
Dieser Frage ist Professor Gunther Hirschfelder nachgegangen. Er lehrt vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der kulturwissenschaftlichen Ernährungs- und Agrarforschung.
3. ZUSPIELUNG Hirschfelder
Die besondere Rolle des Spargels kommt eben daher, dass er einmal nur kurz verfügbar ist, eben nur im späten Frühjahr und Frühsommer, bis zum Johannistag. Am 24. Juni ist Schluss damit, sonst kann sich die Pflanze nicht regenerieren. Vor allem aber ist der Spargel doch eine Angelegenheit, die einen guten Boden braucht. Und auf diesen guten Boden kann ich alles Mögliche anbauen, nämlich in einer Mangelgesellschaft Dinge, die viel Kalorien bringen oder viel Eiweiß bringen, also entweder Getreide oder Erbsen, Bohnen, Linsen, also Leguminosen, oder ansonsten Edelgemüse, was ich auch lange aufheben kann. Und ich muss erst mal so viel Überschüsse haben, dass ich den guten Boden überhaupt für den Spargel hernehmen kann, der zwar lecker und gesund ist, aber nicht richtig satt macht.
MUSIK 4 ( Einstürzende Neubauten: Wüste 0’41)
ERZÄHLERIN
Und so erklärt sich auch, dass der Spargel in Kriegs- und Krisenzeiten einen schweren Stand hatte. Claudia Freitag-Mair vom Spargelmuseum in Schrobenhausen:
4. ZUSPIELUNG Freitag-Mair
Im Ersten Weltkrieg und im Zweiten Weltkrieg war die Verordnung auch von Regierungsseite her, die Felder mit Kartoffeln mit nahrhaftem Gemüse und Obst anzubauen. Also da war eigentlich Spargelanbau verboten, weil: ist ja kein Nährwert drin… Es ist Wasser mit der Gabel gegessen, sozusagen.
ERZÄHLERIN
Der Asparagus officinalis, so der botanische Name von Spargel, war in seiner Geschichte immer ein Gemüse für die bessere Gesellschaft, für diejenigen, die nicht essen mussten, um zu arbeiten, sondern die genussvolle Seite des Lebens auskosten konnten.
Dass der heimische Spargel nur über wenige Wochen im Jahr verfügbar ist, macht wohl einen Teil seines Reizes aus. Die Spargelsaison dauert in Deutschland ohne Hilfsmittel rund zwei Monate, er sprießt ungefähr ab Mitte April und endet an Johanni, also am 24. Juni. „Kirschen rot, Spargel tot“, weiß der Volksmund.
MUSIK 5 (CD492710122 Amarillis – Caprice, H 542 0’50)
Schon zu früherer Zeit versuchten Spargelliebhaber, die Natur auszutricksen und die Spargelzeit künstlich zu verlängern. Im 16. und 17. Jahrhundert hielten Gewächshäuser an den europäischen Königshöfen Einzug. Darin konnten wärmeliebende Pflanzen, die man aus dem Süden holte, dem Winter trotzen. In den sogenannten Orangerien ließ man Zitrusfrüchte, Feigen und Ananas wachsen. Es gibt Hinweise darauf, dass man auch Spargel in Gewächshäusern anbaute, die man sogar beheizte, um ihn auch außerhalb der Saison zu ernten. Claudia Freitag-Mair:
5. ZUSPIELUNG Freitag-Mair
Da ist bekannt, dass auch Ludwig XIV. sehr viel Spargel mochte und auch Wert darauf legte, dass der auch überwintert wurde. Der wollte das ganze Jahr Spargel auf der Tafel haben.
ERZÄHLERIN
Den Rang des Edelgemüses brachte Antoine Beauvilliers, ein berühmter französischer Koch des 18./19. Jahrhunderts, in seinem Buch über die französische Kochkunst so auf den Punkt:
ZITATOR
Spargel ist das Gemüse der Könige und die Königin der Gemüse.
ERZÄHLERIN
Bis ins 19. Jahrhundert hinein blieb Spargel der gehobenen Gesellschaft vorbehalten, sagt Spargelkennerin Claudia Freitag-Mair:
6. ZUSPIELUNG Freitag-Mair
Erst mit der Eisenbahn, mit der Überbrückung oder Überwindung der weiten Strecken durch Transportmittel, die dann billiger waren, konnte auch dann der einfache Bürger sich also einen Spargel leisten.
MUSIK 6 ( Comedian Harmonists: Veronika, der Lenz ist da 0’22)
ERZÄHLERIN
Seitdem wurde der Spargel weiter demokratisiert und fand seinen Weg allmählich in allen gesellschaftlichen Schichten auf den Teller. Durchaus kostspielig, aber doch erschwinglich für die Mehrheit, zumindest hin und wieder. Der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder erinnert sich an seine Jugend in den 1960er/70er Jahren:
MUSIK 7 ( Hazy Osterwald – Singing Guitar 0’50)
7. ZUSPIELUNG Hirschfelder:
Spargel war das neumodische Sommergemüse. Es stand für Leichtheit und Eleganz, für irgendwas Internationales. Und wenn ich an Spargel denke, dann denke ich nicht nur an diesen komischen Geruch des Spargelwassers und an den leckeren Schinken, den es dazu gab, sondern ich denke vor allem an das Frühsommer-Licht, was auf einmal da war, die Wärme nach dem langen Winter, an die tolle Farbe, und Spargel war von daher allein schon durch die Jahreszeit ein gutes Laune-Gemüse, weil man wusste, wenn der Spargel da ist, ist der Winter vorbei, und der Sommer steht vor der Tür.
ATMO Vogelgezwitscher, Storchengeklapper
ERZÄHLERIN
Im oberbayerischen Schrobenhausen haben die Störche ihre Nester bezogen, bald schlüpft der Nachwuchs. Lindgrüner Flor zeigt sich auf den Äckern, dazwischen viele Felder, die mit schwarzer oder weißer Folie überspannt sind. Als hätte der Verpackungskünstler Christo hier gewirkt. Die Folien verhüllen das Produkt, das Schrobenhausen weit über die Region hinaus bekannt macht – den Spargel. Die Abdeckung dient der Überlistung der Natur: Sie schützt die Pflanze vor Kälte und Unkraut. Der Spargel findet hier einen idealen Boden vor: Humusreich, sandig und locker, so dass die Spargelsprosse kerzengerade hinauf zum Licht dringen können. Apropos Licht: Bis vor rund 150 Jahren war der Spargel ausschließlich grün. Claudia Freitag-Mair vom Schrobenhausener Spargelmuseum.
8. ZUSPIELUNG Freitag-Mair
Erst dann ist man draufgekommen, wenn man dem Spargel Licht entzieht, … wenn man den abdeckt, kommt keine Sonne hin, kein Licht … es gibt keine Photosynthese, und er verfärbt sich nicht. ganz am Anfang hat man Hauben drüber gestülpt, damit kein Licht drankommt. Später hat man diese Erdwälle angehäuft und gesagt: Das hilft auch. Und er ist schön elfenbeinfarbig. … Und in den besseren Bürgerhäusern oder auch am Fürstenhof war natürlich der weiße Spargel sehr beliebt.
MUSIK 8 ( Maxi Menot – Path To Restoration 0’37)
ERZÄHLERIN
Der sogenannte Bleichspargel - in Deutschland hat er seine grünen Vorfahren längst verdrängt. Nach der Anbaufläche bemessen, ist das weiße Gold in Deutschland die Nummer Eins beim Freiland-Gemüse. Auf rund 1,4 Kilo Spargel pro Kopf kommen wir im Jahr. Damit liegt der Spargelkonsum jedoch etwas niedriger als im Durchschnitt der letzten 20 Jahre. Das beobachtet auch Gunther Hirschfelder von der Universität Regensburg:
9. ZUSPIELUNG Hirschfelder
Der Spargel ist ein bisschen in die Krise geraten, weil Spargel natürlich auch vom Anbau und vor allem von der Ernte her teuer ist. Und er gehört zu den absolut hochpreisigen Gemüsen, und er steht heute nicht mehr für eine bürgerlich leichte Küche, sondern fast für eine Luxusküche, und ich bin gespannt, wie der Spargel dieses Jahr im Preis entwickeln wird. Wer kann sich ihn überhaupt noch leisten?
MUSIK 9 ( Maxi Menot – Path To Restoration 0’27)
ERZÄHLERIN
Zwischen acht und 12 Euro kostet ein Kilo Spargel. Je weißer, dicker und gerader gewachsen, desto teurer, erklärt Spargelbauer Josef Rehm. Er bewirtschaftet ein kleines Spargelfeld bei Schrobenhausen und setzt dabei vor allem auf alte Sorten. Auf Plastikplanen sowie Pestizide verzichtet er.
10. ZUSPIELUNG Rehm
Der Spargel ist schon noch teuer, er wird auch nicht billiger, weil auch unsere Löhne ansteigen. Unsere Spargelstecher kriegen den Mindestlohn. … Und die Landwirte müssen halt das auf die Lebensmittel umlegen. Und das wird von Jahr zu Jahr schwieriger. Du kannst den Spargel nicht ein Jahr das Kilo um einen Euro erhöhen, … dann sagen viele, ich kauf mir halt Kartoffeln, weil einen Spargel können wir uns nicht mehr leisten. Es gibt viele Leute, die sparen und müssen sparen
ERZÄHLERIN
Für die Erntezeit holt Josef Rehm Saisonarbeitskräfte aus Rumänien, die dann bei ihm auf dem Hof wohnen. Einheimische Erntehelfer sind nicht mehr zu bekommen, berichtet er. Zu anstrengend die Arbeit, zu gering – gemessen daran - die Entlohnung. Jeder einzelne Spargel muss von Hand gestochen werden, in gebückter Haltung, bei jedem Wetter. Sobald sich an der Oberfläche des Erdwalls Sprünge zeigen, heißt es:
11. ZUSPIELUNG Rehm
Mit den zwei Fingern vorsichtig reingraben, dass man den Kopf nicht verletzt. Und dann grabt man halt runter, … dass man den halt dann bei 22 oder 25 Zentimeter absticht. Und dann müssen wir aufpassen, weil der Spargelstock, der macht so zwischen 15 und 25 Triebe, da ist einer drin, der hat zehn Zentimeter, einer 15 Zentimeter, andere drei Zentimeter. Und wenn ich jetzt nicht aufpass‘, breche ich den ab. Passiert mir auch, aber so wenig wie möglich sollte man halt verletzen. Und dann soll man den einen genau abstechen und den anderen nicht anstechen. Weil, der schmeckt dann bitter oder er wächst gar nicht mehr.
ERZÄHLERIN
Ohne sorgsame Handarbeit kein Spargel. Und sobald die Stangen geerntet sind, tickt die Uhr. Binnen ein, zwei Tagen müssen sie vermarktet werden. Gunther Hirschfelder:
12. ZUSPIELUNG Hirschfelder
Wer große Spargelfelder baut, muss in kurzer Zeit seine komplette Ernte verkaufen. Wir können ihn nicht wie die Kartoffel in den Keller legen, in den Kühlschrank legen, ewige Zeiten aufheben und zur Not noch Schnaps draus brennen oder an die Schweine verfüttern. Der Spargel muss frisch gegessen werden.
MUSIK 10 (Simon Borer – Afternoon Sun 1’00)
ERZÄHLERIN
In einer Landwirtschaft, die zunehmend unter Effizienzdruck steht, ist der Spargel ein schwieriger Kandidat. Denn erst im dritten Jahr, nachdem er gepflanzt wurde, bringt er den vollen Ertrag. Nach der Ernte braucht er bis zum nächsten Frühjahr, um sich zu erholen. Das Feld liegt in diesen langen Monaten brach. Im Sommer treiben die Spargelpflanzen aus, das Spargelkraut sprießt und je länger es grün bleibt, desto mehr Stärke kann über die Fotosynthese in der Wurzel eingelagert werden. Hier schlummert schon der Ertrag des nächsten Frühjahrs. Nach spätestens zehn Jahren ist eine Pflanze erschöpft und muss ausgetauscht werden. Dazu kommen die Launen der Natur, die das Wachstum des Spargels stark beeinflussen, sagt Spargelbauer Josef Rehm:
13. ZUSPIELUNG Rehm
Das macht eine Schwierigkeit aus, weil - jetzt wird Schönwetter, kommen Gewitter, regnet aber nicht. Dann gibt es massig Spargel. Wird es kalt, geht der Wind, regnet’s, gibt es bei uns nicht viel Spargel, ohne Folie. Das ist halt die Natur.
ERZÄHLERIN
Nicht nur Wind und Wetter muss der Spargel trotzen, dazu kommt das Auf und Ab in der Konjunktur. Boomt die Wirtschaft, dann geht es auch dem Spargel gut, beobachtet der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder. Das war zuletzt Anfang dieses Jahrhunderts der Fall. Da wurde das einstige Luxusgemüse popularisiert:
14. ZUSPIELUNG Hirschfelder
Die Konjunktur lief gut, die Menschen hatten mehr Geld und jedes Jahr mehr Geld, und der Anteil des Geldes, was für die Ernährung ausgegeben worden ist, ist auch gestiegen. Gleichzeitig kam immer mehr Konjunktur des gesunden und saisonalen Essens, da war man bereit, für den Spargel Geld auszugeben.
MUSIK 11 ( Simon Borer – Afternoon Sun 0‘30)
ERZÄHLERIN
Es folgte eine Art Spargelinflation. Zwischen dem Jahr 2000 und 2018 hat sich die Ernte auf deutschen Anbauflächen beinahe verdreifacht. Das Spargel-Angebot ist entsprechend gewachsen – mit Folgen für sein Image, beobachten die Spargelbauern Josef und Christine Rehm:
15. ZUSPIELUNG Christine und Josef Rehm
Es ist halt schade, dass das bisschen ein Massenprodukt geworden ist. Früher war es wirklich was ganz Besonderes. – Da hats auch nicht so viel Spargel gegeben. … da hast du den suchen müssen, da sind Leute gekommen für den Spargel von weiß Gott woher und haben auf dem Hof gekauft oder auf dem Markt. Und jetzt stehen viele Spargelbauern irgendwo an der Straße. Das Image verliert schon. Früher war es was Besonderes. … an Image hat er schon verloren, der Spargel ja, das ist ein Produkt geworden, das du in jeder Ecke kaufen kann.
ERZÄHLERIN
Nicht nur regionalen Spargel natürlich. Spätestens ab Februar findet auch die Importware aus Griechenland, Spanien bis hin zu Mexiko und Peru in die Supermärkte. Mit dem wachsenden Angebot gerät der Spargel in die Defensive, so der Kulturwissenschaftler Hirschfelder. Dazu kommen steigende Energie- und Lohnkosten.
16. ZUSPIELUNG Hirschfelder
Wir haben einen Pfundpreis, der zwischendurch bei vier, fünf Euro vielleicht lag und jetzt deutlich hochgegangen ist in den letzten Jahren. Auch wenn wir ein sehr trockenes Frühjahr haben oder ein ganz verregnetes Frühjahr, auch das mindert die Ernte. Die Arbeitskraft ist teurer geworden. Die Arbeitsbedingungen sind auch besser geworden. Auch das müssen wir sehen. Unter den Bedingungen der Ausbeutung lässt sich Spargel besser produzieren als unter den Bedingungen fairer und gerechter Löhne. Und da ist es gar kein Wunder, dass dieses schwierig zu erntende Gemüse eben im Laufe der Zeit teurer geworden ist und von einem besseren Alltagsprodukte zu einem Luxusprodukt geworden ist. Und dazu kommen eben steigende Preise gerade von Mieten, gerade in Bayern, führen dazu, dass jüngere Leute weniger verfügbares Einkommen für Essen haben.
ERZÄHLERIN
Hirschfelder ist überzeugt: Die Krise des Spargels wird umso größer, je mehr die wirtschaftliche Entwicklung im Land ins Stocken kommt.
17. ZUSPIELUNG Hirschfelder
Und wenn wir daran denken, dass die Wirtschaft sich transformiert und dass auch der Automobilsektor etwa an Bedeutung einbüßt und an Wirtschaftskraft verliert, dann sinken Einkommen – das wird es dem Spargel nicht leichter machen.
ERZÄHLERIN
Der Spargel hat es aber nicht nur wegen seines stolzen Preises inmitten einer stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung zunehmend schwer. Für Gunther Hirschfelder wirkt er auch wie aus der Zeit gefallen. Schließlich ist er nicht nur in Anbau und Vermarktung ein durchaus anspruchsvolles Gemüse.
18. ZUSPIELUNG Hirschfelder
Dieses Sperrige, Gestelzte, Vornehme, das macht ihn schon zu einer besonderen Sache, die für den ganz schnellen Alltag und für den ganz großen Pragmatismus nicht taugt.
ERZÄHLERIN
Und so hat Spargel in den Augen von Hirschfelder bei der jungen Generation keinen leichten Stand. Obwohl er viele Kriterien erfüllt, die ihn für eine zeitgemäße Kost geradezu prädestinieren: Er ist gesund, vegan, saisonal und kommt aus der Region.
19. ZUSPIELUNG Hirschfelder
Aber der Spargel steht für viele junge Leute eben auch für die Generation der Eltern. Von denen will man sich immer absetzen. Der Spargel ist kompliziert im Essen und in der Zubereitung, und er passt nicht recht zu diesen neuen Trends easy To-run und All-in-One und Bowl Gerichte, also so Suppengerichten, wo alles reinkommt, wo es egal ist, wie lange das kocht. Der Spargel verzeiht nicht so viel wie Zwiebel oder Fenchel oder Mohrrübe oder so. Und das macht ihn ein bisschen kompliziert. Und er braucht Aufmerksamkeit. … Wobei: Er hat Potenzial. Wir können wahnsinnig viel Modernes auch aus ihm machen.
ERZÄHLERIN
Davon ist auch der Gastronom und gelernte Koch Stefan Settele vom Gasthaus Settele in Augsburg überzeugt. Seinen Familienbetrieb gibt es schon seit 120 Jahren. Jedes Frühjahr bietet er Spargelwochen mit Spargel aus der Region an, und ihm fällt auf:
20. ZUSPIELUNG Settele
Große Spargelessen gibt es tatsächlich ein bisschen weniger. … viele machen natürlich auch Spargel zu Hause. Es gab mal Zeiten, wo die Gruppen wirklich speziell zum Spargelessen gekommen sind.
MUSIK 12 (Eko Fresh - Ekmek parasi (Instrumental) 0’50)
ERZÄHLERIN
Diese Zeiten seien vorbei. Im Restaurant habe der klassische Spargel mit Kartoffeln, zerlassener Butter oder Sauce Hollandaise an Attraktivität verloren. Deshalb setzt Stefan Settele auf neue Spargelkreationen:
21. ZUSPIELUNG Settele
Ob man eine Vorspeise daraus macht, ob man salatmäßig was macht, im Hauptgang als Ragout, als Risotto – selbst im Dessert geht Spargel. Also, das ist unglaublich vielseitig. Und das ist natürlich für uns die Herausforderung, wo man sich auch ein bisschen abgrenzen kann. … Ich finde ihn auch herrlich als Salat bisschen asiatisch angemacht, also schön fruchtig, mit bissche n Chili. Da kann man auch Mango dazu kombinieren, Süße reinbringen über einen Honig zum Beispiel und dann ein bisschen Sesamöl und bisschen Limette noch mit rein. Und das ist ein schöner, frischer Salat dann.
ERZÄHLERIN
Auch wenn also die Bedingungen für das Kultgemüse Spargel womöglich schon einmal leichter waren – Spargelforscher Gunter Hirschfelder sieht im Spargel
22. ZUSPIELUNG Hirschfelder
letztlich auch eine Metapher für ein gutes Leben der Gegenwart und für ein gutes Leben früher. … Letztlich ist es die Ökonomie, die das richten wird. … Der Spargel wird vielleicht von einem sehr populären Gut wieder in seine Nische zurückfinden. Da hat er aber seinen Platz, und da wird er auch neue Chancen entfalten.
MUSIK 13 ( Guiseppe Amore & Bertold Knecht – Spargelzeit 0’30)
ERZÄHLERIN
Und wenn man Spargelbauer Josef Rehm hört, ist auf eines wohl Verlass - konjunkturelle Krisen hin oder her: Die Spargelliebhaber. Sie freuen sich alle Jahre wieder auf das frisch geerntete Frühlingsgemüse.
23. ZUSPIELUNG Rehm
Wissen Sie, Sie fahren da 20 Jahre auf den Markt, die Leute, die bei Ihnen einkaufen, die kennen Sie inzwischen. Man kennt sich einfach. Du kommst den ersten Tag, da kommen die Leute und sagen, Mei ist das schön, Herr Rehm, dass Sie wieder da sind. Dann sag ich, es ist schön, dass Sie wieder da sind, was täte ich allein auf dem Markt, wenn Sie nicht kommen würden? Und so traurig ist es dann auch am letzten Tag, man wünscht sich dann schöne Weihnachten und frohe Ostern, bis nächstes Jahr und da sind Leute dabei, die weinen, wenn ich am letzten Tag auf dem Markt stehe.
Wie funktioniert eine offene Gesellschaft und wie lässt sie sich bewahren? Wie kommt wissenschaftliche Erkenntnis zustande? Fragen, die den Philosophen Karl Popper zeit seines Lebens umtrieben. Er war ein konstruktiver Skeptiker, der rechten wie linken Gesellschaftsutopien kritisch gegenüberstand. Von Christian Schuler (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Christian Schuler
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Manfred Geier, Hamburg
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Literaturtipps:
Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg 1979.
Karl R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München 2005 (9. Auflage).
Manfred Geier: Karl Popper, rororo, Hamburg 1994.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zitator
Zwar habe ich, wie es niemandem erspart bleibt, Sorgen und Kummer erlebt, doch glaube ich nicht, dass ich als Philosoph eine unglückliche Stunde erlebt habe. ... Seit wir 1950 nach Penn in Buckinghamshire gezogen sind, bin ich, so vermute ich, der glücklichste Philosoph, der mir je begegnet ist.
Erzählerin
Ein glücklicher Philosoph? Im 20. Jahrhundert, im Zeitalter der Weltkriege, der totalitären Regime, Konzentrationslager und Völkermorde? Philosophiert sich da einer das Leben schöner, als es ist? Sir Karl Popper schreibt diese Zeilen in den 1970-er Jahren, in seinem autobiographischen Buch „Ausgangspunkte“, und er beharrt auf seinem Glücklichsein bis an sein Lebensende. Als 83-Jähriger beginnt er einen Vortrag in Zürich, voller Freude über die vielen jungen Menschen, die vor ihm sitzen, mit den Worten.
Zitator
Ich finde das Leben unbeschreiblich wundervoll. Es ist sicher auch schrecklich, und ich habe furchtbar traurige Todesarten in meiner engsten Verwandtschaft und Freundschaft miterlebt.
16 meiner nächsten Verwandten sind Opfer von Hitler geworden, teils in Auschwitz, teils durch Selbstmord. Trotz allem und obwohl ich nicht selten verzweifelt war und auch heute schwerste Sorgen habe, war es mit mir ‚Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt‘; und ich bin glücklich.
Erzählerin
Was war das für ein Glück, das sich offenbar gegen widrigste Umstände und selbst angesichts von Katastrophen zu behaupten wusste? Zunächst einmal war es das Glück eines Mannes, der auf ein Leben zurückschaut, das erfüllt war von konzentrierter Denk- und Lehrtätigkeit; eines Mannes zudem, der eine Stunde von London entfernt lebte, abgeschieden und zugleich unablässig beschäftigt mit den Fragen, die ihn seit Jahrzehnten umtrieben: Was können wir wissen? Was bedeutet wissenschaftliche Erkenntnis? Was macht ein menschenwürdiges Staatswesen, was eine offene Gesellschaft aus? Eines Mannes auch, dessen politische Überzeugung sich mit dem berühmten Bonmot von Winston Churchill ausdrücken lässt:
Zitator
Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – ausgenommen alle anderen Regierungsformen.
Erzählerin
Ebenso kritisch wie er als Philosoph und Wissenschaftstheoretiker war, konnte er auf extreme politische Ansichten und auf existenziellen Pessimismus reagieren. In einem Spiegel-Interview von 1992 wiederholt er sein immer wieder formuliertes Credo:
Zitator
Ich stehe unserer heutigen Gesellschaft sehr kritisch gegenüber. Da ließe sich vieles verbessern. Aber unsere liberale Gesellschaftsordnung ist die beste und gerechteste, die es bisher auf Erden gab.
Zitator
Vom Himmelhof, da komm ich her.
Erzählerin
„Am Himmelhof“, das ist eine Adresse am westlichen Rand von Wien, die Popper in seiner Autobiographie anspielungsreich erwähnt. Zum einen ist der „Himmelhof“ der Ort, an dem Popper 1902 zur Welt kam, zum anderen ist es eine Metapher für das erste philosophische Problem, das sich seiner kindlichen Neugier stellte: „der gestirnte Himmel“, in den er abends schaute, der Kosmos in seiner unfassbaren und unfasslichen Größe.
Zitator
Ich konnte mir weder vorstellen, dass der Raum endlich sei, noch dass er unendlich sei.
Erzählerin
Popper wächst in einem wohlhabenden, liberal-aufgeklärten Haus auf. Poppers Mutter ist Mitbegründerin der „Wiener Musikfreunde“. Der Vater, Rechtsanwalt, Autor, Freimaurer, engagiert sich für Arme und Obdachlose. Er steht einem Verein vor, der in Wien unter anderem das Männerwohnheim Meidling betreibt, eine soziale Einrichtung für Gestrandete und gescheiterte Existenzen, in der von 1910 bis 1913 auch ein gewisser Adolf Hitler gemeldet ist. Von Anfang an ist Popper von Büchern und Musik umgeben. Eine behütete Kindheit, die an seinem 12. Geburtstag abrupt endet. An jenem 28. Juli 1914 erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Der Erste Weltkrieg beginnt. Er wird die Welt, in der Karl Popper aufgewachsen ist, zerstören. Popper fühlt sich schon als Jugendlicher abgestoßen von dem nationalistischen Getöse, das den Krieg begleitete.
01 O-Ton Popper
Ich war 12 Jahre, als der Krieg ausgebrochen ist, und ich bin sehr bald als Kind schon Pazifist geworden unter dem Einfluss sowohl meines Vaters als auch von Freunden. Ich habe einen Freund in Wien gehabt, einen Ingenieur, Arthur Arndt, ein besonders entschiedener Anti-Nationalist ... Unter dem Einfluss dieses Arthur Arndt bin ich dann sehr gegen den Krieg gewesen, sehr bald. Und ich habe auch ziemlich bald begriffen, dass die Berichte über den Krieg ... das war natürlich ungeheure Propaganda. Im Jahr 1918, als der Krieg zu Ende ging, war ich ein radikaler Sozialist, auch unter dem Einfluss dieses Ingenieurs Arthur Arndt. Ich habe mich sogar einige Wochen als Kommunisten betrachtet.
Erzählerin
Das war im Frühjahr 1919. Das Kaiserreich war zerfallen, die ökonomische Produktion stand weitgehend still, Millionen fanden keine Arbeit. Obdachlose und Bettler beherrschten das Straßenbild, Hunderttausende froren und hungerten.
1919: ein Schlüsseljahr in Poppers Leben - und ein Jahr, in dem sein Denken entscheidende Impulse erfuhr.
Erzählerin
Am 15. Juni kommt es im 9. Wiener Gemeindebezirk zu Unruhen. Linke Demonstranten, unter ihnen Popper, planen einen Angriff auf die Polizeistation in der Hörlgasse, um verhaftete Gesinnungsgenossen zu befreien. Die Polizei feuert in die Menge, es gibt Tote.
02 O-Ton Popper
Das war für mich die entscheidende Wendung gegen den Marxismus. Ich war zwar entsetzt über die Tat der Polizei, aber ich war auch entsetzt darüber, dass ich und andere Leute einfach aufgrund der kommunistischen Formel: je mehr Unruhen und je ärger die Dinge werden, desto schneller wird der Sozialismus kommen und desto besser ist es für die Menschheit. Diese Formel habe ich von da an bezweifelt ... Ich meine, man kann sein eigenes Leben für gewisse Ideale einsetzen, aber ob man das Leben anderer einsetzen kann, ist überaus fragwürdig. Am fragwürdigsten ist es, das Leben anderer einzusetzen, wenn man ihnen sagt, dass es sicher zu einer Lösung aller dieser Probleme kommen wird im Sozialismus. Wenn man von dieser Sicherheit in Wirklichkeit nichts weiß.
Erzählerin
Für manchen humanitären Impuls des Sozialismus hegte Popper zwar weiterhin gewisse Sympathien. Auch befürwortete er das Engagement des „roten Wien“ etwa für sozialen Wohnungsbau oder eine reformorientierte Schulpolitik. Einen Marxismus jedoch, der den exklusiven Anspruch erhob, Geschichte objektiv zu beschreiben und „wissenschaftlich“ vorherzusagen, lehnte er strikt ab. Der sogenannte „Historische Materialismus“ war für ihn nichts als ein Mythos.
Erzählerin
Das Jahr 1919 hielt für Popper noch ein weiteres Schlüsselerlebnis bereit. Es ereignete sich zwei Wochen nach den Schüssen in der Hörlgasse. Ein paar Jahre zuvor hatte Albert Einstein eine revolutionäre Theorie vorgelegt, wonach Kategorien wie Raum und Zeit nicht mehr als absolute, unhintergehbare Größen für kosmische Ereignisse verstanden werden können. Raum sei sozusagen eine bewegliche Kategorie, das Weltall sei gekrümmt und dehne sich aus. Zeit vergehe zudem an unterschiedlichen Stellen des Weltraums langsamer oder schneller als an anderen usw. Diese Relativitätstheorie war bislang eine rein mathematische These gewesen, die sich durch Beobachtung noch nicht hatte bestätigen lassen. Das änderte sich nun durch ein englisches Forscherteam, dem es gelang, die durch Gravitation verursachte Krümmung von Sternenlicht nicht nur zu errechnen, sondern zu beobachten. Jahrhundertelang geltende Theorien von Euklid bis Newton mussten damit überdacht werden oder gar als widerlegt gelten. Was Popper an den Beobachtungen der englischen Forscher besonders elektrisierte, war allerdings nicht allein das, was Einsteins Theorie bestätigte.
Zitator
Was mich hauptsächlich beeindruckte, war ... die Tatsache, dass sich hier eine Theorie aufs äußerste exponierte, sozusagen eine Widerlegung verlangte, und dass diese Widerlegung nicht stattfand.
Erzählerin
Dies wird für Popper in der Folge zum Kriterium jeder seriösen wissenschaftlichen Arbeit: dass Forscher ihre Theorien der Widerlegbarkeit aussetzen. Der sogenannte wissenschaftliche Marxismus tut das seiner Ansicht nach nicht, ebenso wenig wie die Psychoanalyse Siegmund Freuds.
Zitator
Diese Theorien erweckten den Anschein, praktisch alles erklären zu können, was sich innerhalb ihres Bezugsrahmens abspielt. Das Studium jeder der Theorien schien die Wirkung einer intellektuellen Bekehrung oder Offenbarung zu haben ... Waren die Augen erst einmal geöffnet, erblickte man überall bestätigende Beispiele ..., und Ungläubige waren einwandfrei solche, die die diese handgreifliche Wahrheit nicht sehen wollten ...; sei es, weil sie ihrem Klasseninteresse widersprach, sei es, weil ihre Verdrängungen noch ‚unanalysiert‘ waren ...
Erzählerin
Zu den Theorien, die Popper attackiert, kommen später noch weitere, etwa die Anschauungen einiger Mitglieder des sogenannten „Wiener Kreises der wissenschaftlichen Weltauffassung“, einer Gruppe von Mathematikern, Physikern, Logikern, Sozialwissenschaftlern mit einem äußerst strengen, antimetaphysischen und rein auf Empirie gestützten Wissenschaftsbegriff. Diese Gruppe bot Popper einerseits ein anregendes geistiges Umfeld, um seine eigenen Gedanken weiterzuentwickeln. Zugleich aber weckten die Thesen und Methoden mancher Vertreter des Wiener Kreises seinen Widerspruch. Der Philosoph Manfred Geier erklärt, warum.
03 Zsp Geier
Der Wiener Kreis setzt alles auf die Bestätigung von Theorien. Verifikation, also die Bestätigung der Wahrheit einer Theorie steht für den Wiener Kreis im Mittelpunkt ... sie setzen sich also selbst nicht der Prüfung aus, dass es möglicherweise falsch ist, was sie vertreten oder behaupten. Und deshalb setzte er gegen dieses abstrakte Prinzip der Verifikation, der Bestätigung der eigenen Position, die eher schwächere Haltung: Versuchen wir doch das, woran wir glauben, zu widerlegen. Denn erst dann zeigt es sich doch in seiner Stärke, wenn es diesen Widerlegungsversuchen standhält. Also der Schritt von der Verifikation zu dem, was Popper dann die Falsifikation genannt hat.
(Erzählerin
Oder in Poppers eigenen Worten:
04 O-Ton Popper
Erst kommt die Theorie, die spekulative Erklärung oder wenn Sie wollen: die Hypothese oder Vermutung oder das Raten, ... und dann versucht man, Experimente zu machen, um diese Theorie dann zu überprüfen. Und hier ist es wichtig, dass die Experimente nur anscheinend daraufhin angelegt sind, um die Theorie zu beweisen. In Wirklichkeit müssen die Experimente daraufhin angelegt sein, die Theorie wenn möglich zu widerlegen. Der Wissenschaftler ist sich dessen oft gar nicht bewusst. Bewusst will er seine Theorie stützen, aber nur solche Experimente können eine Theorie stützen, deren Ausgang die Theorie widerlegen könnte.)
Erzählerin
Gedanken, die der reife Philosoph mit über 80 Jahren formuliert. Im Grunde aber war schon der junge Popper 1919, wenn man seiner Autobiographie glauben will, philosophisch an genau diesem Punkt angelangt:
Zitator
Im Winter 1919/20 hatte ich das Problem der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft formuliert und gelöst, aber nicht der Veröffentlichung für wert gehalten.
Erzählerin
Popper beschäftigte sich um sein 20. Lebensjahr herum mit Mathematik, Physik und Philosophie eher aus persönlichem Wissensdrang. Mit seiner beruflichen Zukunft hatte das alles zunächst nichts zu tun. Seine Pläne waren bescheidener, und sie hatten mit seiner Abkehr vom Sozialismus zu tun.
05 O-Ton Popper
Ich habe gegen einige Freunde, die auch Sozialisten waren, reagiert. Diese Freunde haben es nämlich als selbstverständlich angesehen, dass „wir“ die zukünftigen Führer der Arbeiterschaft sein werden. Das hat mir so missfallen, dass ich mich entschlossen habe, selbst Arbeiter zu werden ... Ich habe zuerst versucht, Straßenarbeiter zu werden..., aber nach einigen Tagen habe ich das aufgeben müssen, dazu war ich nicht imstande ... Als nächstes habe ich versucht, Tischler zu werden. Ich wurde Tischlerlehrling bei einem kleinen Tischlermeister, der eine Werkstatt in Wien in der Gumpendorfer Straße gehabt hat. Ich war zwei Jahre als Lehrling bei ihm und habe dann eine Gesellenprüfung gemacht.
(Erzählerin
Das Gesellenstück, ein Schränkchen, stand angeblich bis zu Poppers Tod in seinem Haus in Penn, und Besuchern wurde nicht ohne Stolz vorgeführt, dass sich die Schubladen noch immer einwandfrei rausziehen und reinschieben ließen. Seinem Wiener Tischlermeister Adalbert Pösch, hat er in seiner Autobiographie ein liebevolles Andenken bewahrt:
Zitator
Einmal erzählte er mir, dass er viele Jahre lang an verschiedenen Modellen für ein Perpetuum mobile gearbeitet habe. Nachdenklich setzte er hinzu: ‚Da sagn’s, dass ma‘ so was net mach’n kann; aber wenn amal eina ein’s g’macht hat, dann wer’n s‘ schon anders red’n!‘ ... Ich vermute, dass ich über Erkenntnistheorie mehr von meinem lieben, allwissenden Meister Pösch gelernt habe als von irgendeinem anderen meiner Lehrer. Keiner hat so viel dazu beigetragen, mich zu einem Jünger von Sokrates zu machen. Denn mein Lehrer lehrte mich nicht nur, dass ich nichts wusste, sondern auch, dass die einzige Weisheit, die zu erwerben ich hoffen konnte, das sokratische Wissen von der Unendlichkeit des Nichtwissens war.)
Erzählerin
Neben seiner Tischlerlehre holt er privat das Abitur nach und gehört ab 1925 zum ersten Studienjahrgang des neuen reformpädagogisch orientierten Pädagogischen Instituts der Stadt Wien. Er engagiert sich als Sozialarbeiter und verdient seinen Unterhalt als Nachhilfelehrer für amerikanische Studenten. 1930 schließlich wird er als Lehrer für Mathematik und Physik angestellt und heiratet seine Studienkollegin Josefine Henninger, mit der bis zu ihrem Tod 1985 zusammenbleibt. „Hennie“, seine strengste philosophische Kritikerin, wie er einmal schreibt.
Zitator
Ihr Anteil an meiner Arbeit war ... mindestens so aufreibend wie meiner.
Erzählerin
Anfang der 1930er Jahre beginnt er, seine philosophischen Gedanken niederzuschreiben, angeregt durch seine Frau und durch einzelne Mitglieder des Wiener Kreises.
Zitator
Damals hatte ich keinen weiteren Ehrgeiz, als Schulkinder zu unterrichten. Des Unterrichtens wurde ich erst ein wenig müde, nachdem meine ‚Logik der Forschung‘ im November 1934 erschienen war.
Erzählerin
In der „Logik der Forschung“ geht es unter anderem um die Frage, ob und wie man aufgrund von Einzelbeobachtungen allgemeine Naturgesetze aufstellen kann. Popper ist sicher: man kann es nicht. Der Schritt von der empirischen Beobachtung zu einer allgemeinen, sicheren, also absolut gültigen Theorie ist unzulässig. Die These etwa, dass alle Schwäne weiß sind, gilt nur so lange, bis ein schwarzer auftaucht und die These falsifiziert, also widerlegt ist. Die These, dass alles Kupfer Strom leitet, gilt nur, solange man nicht alles Kupfer im Universum überprüft hat.
Zitator
Unser bestes Wissen ist das großartige naturwissenschaftliche Wissen, das wir in 2500 Jahren geschaffen haben. Aber die Naturwissenschaften bestehen eben nur aus Vermutungen, aus Hypothesen.
Erzählerin
In dieser Hinsicht ist Popper zum einen ein leidenschaftlicher Wissenschaftler, zum anderen aber ein ebenso leidenschaftlicher Kritiker ihrer Dogmen und Gewissheiten.
06 O-Ton Popper
Es gibt natürlich einfache Sätze, von denen wir wissen, dass sie wahr sind ... Denn wenn ich z.B. den Satz aufstelle: Heute regnet es, dann weiß ich, ... heute regnet es oder heute regnet es nicht, einer dieser beiden Sätze ist sicher wahr, und einer der Sätze ist sicher falsch ... Die mehr interessanten Sätze, für die müssen wir die Frage der Wahrheit durch kritische Diskussion, müssen wir der Frage, ob sie wahr oder falsch sind, näherkommen. Und die wirklich schwierigen wissenschaftlichen Sätze bleiben alle immer Vermutungen, die sehr gute Vermutungen sein können und die sehr gut bestätigte, bewährte Vermutungen sein können, aber sie bleiben doch immer wieder Vermutungen, und wir finden immer heraus, dass unsere Theorien an Stellen falsch sind, wo wir es nicht vorausgesehen haben.
Erzählerin
Popper misstraut jeder Form von Dogmatismus, jedem Absolutheitsanspruch, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik.
07 O-Ton Popper
Das wichtigste ist, all jenen großen Propheten zu misstrauen, die eine Patentlösung in der Tasche haben und euch sagen: Wenn ihr mir nur volle Gewalt gebt, dann werde ich euch in den Himmel führen. Die Antwort darauf ist: wir geben niemandem volle Gewalt über uns.
Erzählerin
1937 nimmt er das Angebot einer Dozentur für Philosophie in Neuseeland an und wird erst 1946 wieder nach Europa zurückkehren. In Neuseeland schreibt er sein zweites Hauptwerk: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Er analysiert darin, ohne Hitler oder Stalin namentlich zu erwähnen, auf welchem geistesgeschichtlichen Hintergrund es zur kriegerischen Eskalation in Europa kommen konnte.
08 Zsp Geier
„Da sind natürlich auch Dogmen, wahrheitsüberzeugte Täter am Werk: der Bolschewismus auf der einen Seite mit seiner Utopie einer klassenlosen Gesellschaft, die aber dann in eine Zwangsgesellschaft bolschewistischen Terrors ausmündete, und der Faschismus, auch ein Heilsversprechen für das deutsche Volk, mit katastrophalen Konsequenzen. ... Sie stellen sich keiner Prüfung. Sie gehen von einer Dogmatik aus, die sie politisch durchsetzen, und zwar bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die die ganze Welt in den Strudel des Abgrunds zieht. Gegen beide opponiert er -
Erzählerin
… so der Philosoph Manfred Geier, und setzt dagegen einen Gesellschaftsentwurf, der bescheiden nach Lösungen für konkrete Probleme sucht. Das Buch ist zugleich ein Plädoyer für die Demokratie westlichen Zuschnitts. Demokratie und offene Gesellschaft definieren sich laut Popper allerdings nicht, indem das Volk herrscht, sondern dadurch, dass das Volk seine Regierung ohne Blutvergießen, nämlich durch Wahlen, zu Fall bringen kann.
09 O-Ton Popper
Ja, Sie haben recht, es ist ein Kriegsbuch ... Wie gesagt, es heißt „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Die Feinde sind hauptsächlich die Faschisten, die Nazis, aber auch die kommunistische Diktatur ... Und was ich bei der offenen Gesellschaft gemeint habe, war eine Gesellschaft, sagen wir, in der man frei atmen kann, frei denken kann, in der jeder Mensch einen Wert hat und in der die Gesellschaft keine überflüssigen Zwänge über die Menschen ausübt. Ja, es gibt Gesellschaften, die mehr oder weniger offen sind, und es gibt Gesellschaften vor allem, die gar nicht offen sind ... Die Grundidee der ganzen Demokratie ist, die Macht zu beschränken und zu kontrollieren. Nicht zu viel Macht, das ist der Grundgedanke. Die Macht muss verteilt sein, damit nicht zu viel Macht in einer Hand ist.
Erzählerin
Alles Leben, alles Forschen, alle Politik, auch alles moralisch Gute ist für Popper letztlich unvollkommen und unvollendet. Popper propagiert dagegen eine Sozialtechnik der kleinen Schritte und …
Zitator
Methoden, die sich bewusst als ‚Stückwerk‘ und ‚Herumbasteln‘ verstehen und in Verbindung mit kritischer Analyse das beste Mittel zur Erlangung praktischer Resultate in den Sozial- wie in den Naturwissenschaften sind.
Erzählerin
Diese Stückwerktheorie hat ihn in einen scharfen Gegensatz zu den neomarxistischen Denkern der Frankfurter Schule gebracht, zu Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas, gipfelnd im sogenannten Positivismusstreit, der zum Teil bis heute das Bild Poppers in der deutschen Öffentlichkeit bestimmt.
10 Zsp Geier
Dieser pragmatische gesellschaftliche Ansatz hat Popper in Deutschland viel Kritik eingetragen. Popper, der an der London School of Economics lehrte, galt – so sehr auch die Kritik im Zentrum seiner Theorie steht - als Philosoph des Establishments, was in der aufgeheizten Atmosphäre der 60er Jahre dazu führte, dass man Popper als Positivisten abstempelte. Es bildeten sich Fraktionen, Streitschriften gingen hin und her ... und dadurch entstand dann dieser Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, der sehr stark polarisierte und eine Überpolarisierung vornahm, die meines Erachtens dazu führte, dass Popper in West-Deutschland sehr stark unterschätzt worden ist und von den rebellischen jungen Menschen und Philosophen sehr schnell ad acta gelegt worden ist. Heute ist er für mich der Sieger in diesem Streit.
Erzählerin
Bis kurz vor seinem Tod 1994 reist Popper durch die Welt, hält Vorträge, gibt Gastvorlesungen, trifft sich mit Politikern und Religionsführern, wirbt für eine offene Gesellschaft und bekämpft jede Art von Dogmatismus und Zynismus. Seinen Optimismus verliert er bis zum Schluss nicht, einen Optimismus, wie er einmal präzisierte, der sich auf die Gegenwart beziehe, nicht aber auf die Zukunft.
11 O-Ton Popper
Mir hat meine Frau, wie wir in Amerika waren, aus einer Zeitung ein Interview mit einem der Mondflieger gezeigt. Und er hat gesagt – auf Englisch: I’ve seen some worlds in my days ... was man übersetzen könnte: Ich habe ja verschiedene Welten gesehen, aber ich kann nur sagen, die Erde ist mir doch am liebsten. Diese Bemerkung eines offenbaren Fachmannes scheint mir sehr richtig zu sein. (Wir haben zwar unserer Erde ziemlich übel mitgespielt und sie bös ausgenützt, aber ich glaube, jeder ehrliche Mensch muss sagen, dass die Erde schön ist.) ... Mir scheint die Tradition des Pessimismus eine Verlogenheit zu sein. Irgendwie bejahen wir ja doch alle das Leben, durch das wir gegangen sind, trotz zweier Weltkriege, trotz der Atombombe, trotz Hitler und trotz der Konzentrationslager. Und wir bewundern ja doch die Leute, die in den Konzentrationslagern bis zuletzt durchgehalten haben. Das bedeutet, dass wir das Leben bejahen.
Bei Planung und Bau neuer Krankenhäuser rückt der Mensch wieder in den Mittelpunkt. Doch welche Umgebung brauchen Kranke, um sich wohlzufühlen und zu genesen? Wie wirken Räume, Gänge, Türen, Licht, Fenster, Wege und Außenbereiche auf deren Genesung? Von Werner Bader
Credits
Autor dieser Folge: Werner Bader
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Sebastian Fischer, Rahel Comtesse
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Birgit Dietz, Architektin, Schwerpunkte Krankenhausbau und unterstützende, demenzsensible Architektur. Lehrt an der TU München;
Professor Christine Nickl-Weller, Architektin; Nickl & Partner Architekten München;
Arndt Sänger, Architekt, Nickl & Partner Architekten München;
Nina Lutz, Referentin Öffentlichkeitsarbeit Klinikum Agatharied
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Literatur:
Christine Nickl-Weller, Hans Nickl „Architecture für Gesundheit“ 2021, Braun Publishing
Viele Bilder und Materialien, Einblicke in die Planungswelten moderner Krankenhäuser
Dietz, B. (2023). Demenzsensible Architektur. Planen und Gestalten für alle Sinne. 2. Auflage. Fraunhofer IRB Verlag
Katalog zum Ausstellungsprojekt „Das Kranke(n)haus.Wie Architektur heilen hilft - Building to Heal.New Architecture for Hospitals“ - Lisa Luksch, Tanja C. Vollmer, Andreas Lepik, 15 Seiten, im Internet unter: Website Pinakothek der Moderne Bilder und Beispiele von beispielhaft realisierten Krankenhausbauten
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER:
Wer ein Krankenhaus betritt, sucht Heilung von Krankheit oder besucht einen Menschen auf dem Weg zur Genesung. Oder arbeitet dort. Taucht ein in die Atmosphäre eines speziellen Orts, mit seinen Geräuschen und Gerüchen, seinem Licht und seiner baulichen Gestaltung. Muss man an ein klassisches Krankenhaus denken, wenn man das Klinikum Agatharied bei Miesbach betritt? Nicht unbedingt, so Referentin Nina Lutz:
02 Zsp. Heilsame Architektur Nina Lutz
„Was Allererstes auffällt, dass wir einen sehr offenen Eingangsbereich haben, dass wir sehr viel Glas haben, das sehr viel Lichteinfall ermöglicht und dass man nicht das Gefühl hat, man wird eingeengt, sondern man hat ein Gefühl der Offenheit, ein Gefühl der Übersicht. Dass die Patienten sich zurechtfinden und auch die Besucher. Und was hier sehr besonders ist, das ist unser Wasserlauf hier, der eine schöne Geräuschkulisse bietet, der auch die Krankenhausgeräusche, die man so typisch wahrnimmt, auch ein bisschen abdämmt, und für eine schöne Atmosphäre sorgt.“
ATMO Wasserlauf und Park
Musik 1: Ein Toast – 1:05 Min
SPECHERIN:
Glas und Licht, Offenheit und Übersicht, Natur in Form eines Wasserlaufs. Kein Klackern, kein Türenknallen, keine Rollgeräusche von Betten, keine hektischen Aktionen. Den langen Gang, die Magistrale, die durch das Klinikum Agatharied führt, flankiert im Eingangsbereich eine hölzerne Rampe, die sich von links nach rechts, von rechts nach links den Weg ins obere Stockwerk bahnt. Von der Cafeteria im Gang mit der großen Glasfront blickt man auf einen Teich und Pflanzen.
SPRECHER:
Im Klinikum Agatharied wird das Draußen nach Drinnen geholt, man fühlt sich verbunden mit der natürlichen Umgebung des Krankenhauses, das sich mit seiner langen Hauptachse und den einzelnen Klinikbereichen, den Modulen wie Innere Medizin, Geriatrie oder Orthopädie mit nur wenigen Stockwerken an den Hang schmiegt und immer wieder den Blick auf die Voralpenlandschaft freigibt.
SPRECHERIN:
Das Klinikum Agatharied wurde von 1994 bis 1998 gebaut, geplant hat es das Münchner Architekturbüro Nickl-Weller. Es markiert eine neue Ära im Krankenhausbau des 20.Jahrhunderts. Der war zuletzt von technik-dominierten Großbauten geprägt, Hochhauskliniken wie etwa die Uniklinik in München Großhadern. Praktisch, steril, uni-form. Architektin Christine Nickl-Weller:
03 Zsp. Heilsame Architektur Nickl-Weller
„Warum war es uniform? Weil man gedacht hat, dass der Zenit der medizinischen Entwicklung erreicht ist. Davon gehe ich aus. Also, man hat genau für diesen Punkt gebaut. Für die Erkenntnisse des Jahres zwischen 1970, 80 bis 85 ungefähr. Und man hat nie gedacht, dass die Radiologie in den OP einzieht. Also da sind wir heute.“
SPRECHER:
Radiologie, Sonographie, MRT, digitale Medizin, Robotik – die technische Entwicklung in der Medizin ist nicht stehengeblieben, sie schritt und schreitet unaufhaltsam voran. Mit Folgen für das Krankenhaus und die Menschen, die darin arbeiten und die, die darin gesund werden sollen.
04 Zsp. Heilsame Architektur
„Wenn Sie heute in Großhadern gerade in die Radiologie kommen, die bordet über, so eng ist es da. Also, die braucht Luft. Und das ist in diesen Gebäuden nicht möglich. Die haben schon allein über die „Hochhaus-Scheibe“ ein klar begrenztes Baufeld, da geht nichts mehr. Wir hatten 3-Bett-Zimmer in dieser Zeit, wenn sie die auf die heute üblichen 2-Bett-Zimmer reduzieren, haben sie so wenige Betten für eine Pflegestation. Sie können nichts koppeln, Sie können nichts ändern. Sie haben genau eine Art von Funktion in einem Bereich. Und das funktioniert nicht mehr.“
Musik 2: Data stream – 1:04 Min
SPRECHERIN:
Fast jeder kennt Großkliniken wie das Klinikum Großhadern, oder war schon einmal Patient dort. Erbaut zwischen 1967 und 1977, Sichtbeton. Glatte Fronten, ein Riegel in der Landschaft, kühl, technokratisch. Damals eine der größten Unikliniken in Deutschland und Europa. Oder das Zentralklinikum Augsburg, heute Uniklinikum. Erbaut zwischen 1974 und 1982. Vier Flügel jeweils über 10 Stockwerke hoch, weithin sichtbar in der Landschaft. 23 Kliniken, 6 Institute, 7.400 Mitarbeitende, 1.140 Ärzte und Ärztinnen und 3.000 Pflegende. 1.741 Betten, höchste Versorgungsstufe.
SPRECHER:
Beeindruckende Zahlen, imposante Bauwerke: Groß, unübersehbar, technisch gesehen das Beste ihrer Zeit. Doch wo bleibt der Mensch? Wer hat sich nicht schon einmal verlaufen in den unendlichen Gängen und Stockwerken dieser Häuser? Wer fühlte sich nicht eingeschüchtert allein schon beim Anblick, beim Betreten dieser Großkliniken? Dieser Typ Krankenhaus ist wohl ein Auslaufmodell. Beide Unikliniken, Großhadern und Augsburg werden abgerissen und neu gebaut. Sie sind in die Jahre gekommen. Offenbar auch der reine „Technik-Optimismus“ ihrer Bauzeit.
Musik 3: Thema – 37 Sek
SPRECHERIN:
Schon in den 1960iger Jahren gab es einen Bewusstseinswandel im Krankenhausbau, sagt die Architektin Birgit Dietz. Stichwort: „Humanisierung“. Der Mensch sollte wieder in den Mittelpunkt der medizinischen Versorgung rücken, gerade in den großen Kliniken. Auf die Frage „Wie fühlen Sie sich im Krankenhaus?“ gab es schon damals in Allensbach-Umfragen Rückmeldungen von Patienten, die ähnlich den heutigen sind. Birgit Dietz:
05 Zsp. Heilsame Architektur Birgit Dietz
„Zum Beispiel, man hat Angst, man kann sich nicht wehren, es ist endloses Warten, die Architektur ist kalt und nüchtern eingerichtet. Also, Themen, die man damals schon hatte, sind bis in die 1970iger Jahre in diesen Allensbach-Umfragen immer wieder auch dokumentiert. Und, ja, das sind die Themen, die wir jetzt auch leider, immer wieder noch haben. Weil wenn sie kucken, Klinikum Großhadern oder sowas, die sind natürlich entsprechend alt, in die Jahre gekommen. Man baut heute Krankenhäuser tatsächlich anders.“
SPRECHER:
Birgit Dietz engagiert sich im Vorstand des Verbands für Krankenhausbau und Gesundheitswesen, forscht seit Langem zu menschenfreundlicher Architektur in den Kliniken. In der Ausstellung „Das kranke Haus“, 2023 in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen, befragte sie mit ihren Studierenden die Besucher zu ihren Bedürfnissen in einem Krankenhaus. Viele der Antworten, die auf Poster geschrieben wurden, drücken auch Wünsche aus, für die Architekten erstmal nicht zuständig sind.
06 Zsp. Heilsame Architektur Birgit Dietz
„Wir wünschen uns mehr Personal, Personal hilft uns unglaublich beim Gesundwerden. Die Kommunikation muss sich ändern. Patienten muss man zuhören. Man muss sie ernst nehmen und sie ausreden lassen. Ein anderer schreibt ganz einfach „eine Aussicht in die Natur, in die Berge“. Was uns da aufgefallen ist, dass sehr viel Negatives über das Essen beschrieben worden ist. Und natürlich ist das auch ein Thema, wenn ich jetzt an einen Patienten mit einer Allergie denke. Denn das ist in Krankenhäusern allem Anschein nach noch immer schwierig, auf bestimmte Allergien zu achten.“
Musik 4: On the shores of lake Zurich – 39 Sek
SPRECHERIN:
Menschen auf dem Weg der Genesung wollen sich ernst genommen, geborgen und sicher fühlen. Dazu gehört auch eine gute Orientierung, sagt Birgit Dietz. Patienten müssten wissen, wo im Krankenhaus sie sich befinden. Brauchen ein Haus mit menschlichem Maßstab, mit Blickverbindungen. Und Schutz vor möglichen Stürzen und Verletzungen. Ein weiterer wichtiger Baustein fürs Wohlfühlen ist die Akustik. Lärm auf dem Flur, Türenschlagen, laute Klimaanlagen kosten Genesenden im Krankenhaus, aber auch den Mitarbeitenden, viele Nerven.
07 Zsp. Heilsame Architektur
„Es geht um schalldämmende Türen, Wände, Decken. Wir verbauen schallabsorbierende Materialien. Wie Akustik-Unterdecken oder Schallabsorber an der Wand, die als Bild getarnt, auch optisch angenehm wirken können. Und im Bad fliesen wir zum Beispiel nicht bis an die Decke, um die schallharten Materialien zu reduzieren.“
Musik 5: Ein Toast – siehe vorn – 34 Sek
SPRECHER:
Auch auf das Licht in den Zimmern, Fluren und Gängen müsse man beim Bau eines Krankenhauses achten. Wenn Architektur heilen helfen soll, so die Architektin, muss man fragen: Wie viel Kunstlicht ist nötig, wie viel natürliches Licht ist möglich? Natürliches Licht im Raum oder bei einem Spaziergang im Garten, unterstütze den Tag-Nacht-Rhythmus, sorge für Wohlbefinden.
SPRECHERIN:
Wegbereiter einer „Healing architecture“, also einer Architektur die heilen hilft, war eine Studie aus den USA in den 1980iger Jahren. Zwei Gruppen von Patienten wurden verglichen, die im Krankenhaus nach identischen Operationen durch ihre Zimmerfenster entweder auf einen Park mit Bäumen oder auf eine Betonmauer sehen konnten. Patienten, die auf den Park sehen konnten, benötigten deutlich weniger Schmerzmittel, litten seltener an Depressionen und konnten im Schnitt einen Tag früher nach Hause entlassen werden als die Patienten der Vergleichsgruppe, so das Ergebnis. In der Folge gab es eine Reihe von weiteren Studien zu dem Thema.
Musik 6: Data stream – siehe vorn – 35 Sek
SPRECHER:
Inzwischen stehen Krankenhäuser vor neuen Herausforderungen. So hat die Corona-Pandemie gezeigt, wie baulich ungeeignet viele Krankenhäuser für die Bekämpfung einer Pandemie sind. Dazu brauche es separate Zugänge von außen, nicht wie sonst üblich einen zentralen Zugang für Alle, Personal, Besucher und Kranke. Mehr Einzelzimmer und die Möglichkeit, einzelne Bereiche nach Bedarf vom normalen Krankenhausbetrieb zu isolieren.
08 Zsp. Heilsame Architektur
„Da geht’s um Isolierstationen, so wie früher, als TBC noch ein Thema war. Dass da Schleusen sind, aber dass da auch ein Balkon vor den Zimmern ist, so dass man einfach raustreten könnte und ein bisschen Frischluft oder auch Sonne abkriegt. Das sind die Zugangssituationen, die man noch einmal anschauen müsste, Schleusen, Quarantänezonen und vor allem diese Einzelzimmer-Möglichkeit, die am schnellsten wohl durchschlagende Wirkung erzielen kann.“
SPRECHER:
Immer wichtiger beim Bau neuer Krankenhäuser sind auch die hygienischen Anforderungen, die Baumaterialien erfüllen sollten. Denn: Jahr für Jahr erkranken 500.000 Menschen an einer „Krankenhausinfektion“, zirka 10.000 Menschen jährlich sterben in Deutschland daran. Durch den jahrzehntelangen Einsatz von Antibiotika sind mittlerweile sehr viele Erreger resistent, etwa gegen Antibiotika bei einer Lungenentzündung.
SPRECHERIN:
Entsprechende Materialien könnten helfen, die Übertragungsketten zu stoppen, so Architektin Birgit Dietz. Oberflächen müssen über ihren gesamten Lebenszyklus leicht zu reinigen sein. Mechanischen Beanspruchungen standhalten, auch Chemikalien, Reinigungsmitteln. Neuere Forschungen zeigten: Bis zu einem Drittel aller Infektionen in Krankenhäusern könnten durch bessere Materialien verhindert werden.
Musik 7: Verlogene Traditionen – 55 Sek
SPRECHER:
Auch auf die Probleme und Krankheiten einer alternden Gesellschaft müssen moderne Krankenhäuser zunehmend reagieren. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums leben in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Betroffenen voraussichtlich auf 2,8 Millionen steigen. Über die Hälfte der Menschen in Krankenhäusern ist aktuell über 65 Jahre alt, fast 40 Prozent von ihnen leiden an kognitiven Störungen und Demenz. Dafür brauche es keine eigene Architektur, so Birgit Dietz. Doch die Krankenhäuser müssten mehr Orientierung bieten, farbliche Kontraste schaffen. Etwa in Bad und Toilette, wo die Sturzgefahr für demente Menschen besonders groß ist.
09 Zsp. Heilsame Architektur
„Wenn Sie sich so ein Bad „Weiß in Weiß“ vorstellen, es gibt da keinen Kontrast, es gibt zwar netterweise eine Aufstehhilfe oder Ähnliches, aber Sie finden diese weiße Stange auf der weißen Fliese nicht. Einfach nur, weil Sie es nicht sehen. Sie finden den Weg nach Draußen aus dem Bad nicht, weil die weiße Tür in der weißen Wand schlicht und einfach nicht zu erkennen ist. Sie können nicht spülen, weil der weiße Knopf auf der weißen Wand nicht zu finden ist. Das heißt: Da gibt es eine ganze Menge an Themen, wo ich mir denke, das schadet anderen Patienten auch nicht. Lasst uns das doch im ganzen Krankenhaus realisieren.“
Musik 8: Ein Toast – siehe vorn – 1:00 Min
SPRECHERIN:
Schauen wir noch einmal ins Klinikum Agatharied, fertiggestellt 1998. Die moderne Akutklinik wird erschlossen über eine zentrale Linie, die Magistrale. Von ihr weg führen die einzelnen Module, elf Fachabteilungen von Darmkrebszentrum, Schulter- und Ellenbogenklinik, Traumazentrum bis zu Geriatrie und Psychiatrie. Die Intensivmedizin ist im hinteren Teil an den Hang gelagert, weitere Module sind auf der anderen Seite der Magistrale. Nie höher als drei Stockwerke, stets mit Lichthöfen, die Patientenzimmer gehen nach außen.
ATMO Klinikum
SPRECHER:
Bei unserer Führung mit Architekt Arndt Sänger und Referentin Nina Lutz haben wir den hellen Eingangsbereich verlassen, sind vorbei an einer Cafeteria, haben den fast kreisrunden Andachtsraum betreten, der, mit viel Holz und Licht von oben, die nötige Wärme für Trost und erholsame Gedanken bietet. An einer Sitzgruppe, ein paar Schritte weiter, können Angehörige und Patienten ausruhen, sich treffen, miteinander reden.
SPRECHERIN:
In den Fluren gibt es viel Tageslicht, die großen Fenster gehen bis zum Boden, man blickt in grüne Innenhöfe mit Schilf, Sträuchern, einem Kirschbaum. Die Magistrale ist Verteiler und bietet Aufenthaltsbereiche, so Architekt Arndt Sänger. Sie geht weit über das Funktionale hinaus, eröffnet Kommunikation.
10 Zsp. Heilsame Architektur
„Mit der Kommunikation auch so ein bisschen aus dem Krankenhaus rauskommen, in die normale Umwelt, so dass man Kontakt mit Nachbarn pflegen kann. Hier mit Zimmer-Nachbarn im öffentlichen Aufenthaltsbereich. Das werden wir gleich sehen, dass auch in diesen einzelnen Kuben mit viel Glas und offenen Materialien gearbeitet wird, damit man keine Isolation verspürt, dass man das Personal sehen kann, dass man Besucher sehen kann, dass man Leben auf den Gängen wahrnimmt, und dass man nicht total isoliert auf seiner Station oder auf seinem Zimmer liegt.“
SPRECHER:
Die „Kuben“, die einzelnen Stationen in den Modulen haben je einen zentralen Lichthof, um den sich die Zimmer und der Stützpunkt des Personals gruppieren. Um den Lichthof kann man herumlaufen oder sich dort aufhalten. Wer aus dem Zimmer tritt, hat Blickkontakt mit Patienten und Personal, man sei nie allein und fühle sich behütet, so der Architekt. Die Patientenzimmer sind Zweier-Zimmer und bieten dennoch Privatheit.
11 Zsp. Heilsame Architektur
„Also die Betten stehen nicht wie sonst im Krankenhaus nebeneinander, sondern eines steht hier, und das andere steht gegenüber, auf der anderen Seite. Und durch die Raumkonfiguration hat jeder für sich einen eigenen Bereich. Die können miteinander kommunizieren durch das schräg gegenüberstellen von den Betten, und jeder hat den Blick nach Draußen. Der Wintergarten, durch den sie schauen, also die Hälfte der Fassade wird durch den Wintergarten definiert, verglast von oben nach unten, und die zweite Hälfte durch ein Fenster direkt nach Draußen. Das heißt, sie haben frische Luft zum einen oder vor-temperierte Luft durch den Wintergarten. Das vermittelt so etwas wie Zuhause im weitesten Sinne, dass man in einem Wohnbereich sich befindet und nicht in einem Krankenhaus. Und das ist dieser heilungsunterstützende Aspekt, der hier im Vordergrund stand bei der Konzeption dieses Krankenhauses.“
Musik 9: On the Shores of Lake Zurich – siehe vorn – 1:30 Min
SPRECHERIN:
Architektur, die heilen hilft? Vieles davon ist im Klinikum Agatharied bereits realisiert. Doch die Entwicklung im Krankenhausbau geht weiter, entsprechend dem medizinisch-technischen Fortschritt. Pandemien und neuen Krankheiten. Personalmangel und Kostendruck. Auch müssen viele Kliniken fit gemacht werden für den Klimawandel, Hitze, extremes Wetter.
SPRECHER:
Ein Krankenhaus sei eben keine Maschine, sagt Architektin Christine Nickl-Weller. Über 15 Jahre hatte sie die Professur für Gesundheitsbauten an der TU Berlin inne, hat den Begriff „healing architecture“, also, „Architektur, die heilen hilft“, maßgeblich geprägt. Im Mittelpunkt jedes Krankenhauses, ob Alt- oder Neubau, sollte der Mensch sein, der krank ist und dort Heilung, Genesung sucht, so Christine Nickl-Weller.
SPRECHERIN:
Kranke und Genesende wollen ihre Autonomie behalten können, Orientierung und Selbstständigkeit erleben. Und nicht Entmündigung. Gute Krankenhaus-Architektur kann dafür sorgen. Auch Rückzugsorte schaffen, das Innen und Außen zusammenbringen, Privatheit ermöglichen. Dafür braucht es mehr Einzelzimmer. Und dazu abgetrennte Bereiche und eine Erschließung, die das Ausbreiten von Infektionen verhindert. Die Architektin spricht von künftigen Krankenhäusern als „Exzellenz-Zentren“.
12 Zsp. Heilsame Architektur Christine Nickl-Weller
„Die Exzellenz-Zentren müssen die anderen mitbedienen. Da muss der Chirurg, Spezialist auf seinem Gebiet, nicht nur in dem einen Haus, sondern im anderen mit-operieren, um diese Exzellenz wirklich überall hinzutragen, Dann kann ich dieses hohe Niveau der Gesundheitsversorgung bei uns halten. Und ich muss dann in den Quartieren natürlich kleine Anlaufpunkte, MVZ’s und dergleichen haben. Die aber auch über ein bestimmtes Niveau verfügen müssen.“
Musik 10: At a glance – 1:29 Min
SPRECHERIN:
Im Schnitt zehn Jahre dauert es vom Entwurf über die Genehmigung und Bau bis zum fertigen Krankenhaus, an die 60 Jahre kann es die zeitgemäßen Anforderungen erfüllen. Derzeit entstehen in Bayern, in Deutschland, in ganz Europa viele neue Krankenhäuser, es kommt eine neue Generation. Mit einer „Architektur, die heilen hilft“ und für künftige Herausforderungen gewappnet ist. Etwa in Memmingen, dort soll der rund 500 Millionen Euro teure Neubau des Klinikums 2029 in Betrieb gehen.
SPRECHER:
Laut Plan sollen in dem Neubau medizinische Bereiche, die interdisziplinär zusammenarbeiten, auch räumlich nah beieinander liegen. Auf den knapp 35.000 Quadratmetern Nutzfläche mit 480 stationären Betten in Ein- und Zweibettzimmern soll eine "Wohlfühlatmosphäre für Patienten und Mitarbeiter" entstehen. Es gibt eine Pandemiestation mit 28 Betten, mit separatem Zugang und eigenem Aufzug. Und Pufferflächen für den Fall, dass Operationssäle und Funktionsräume erweitert werden müssen.
SPRECHERIN:
Auch das Kantonsspital in Baden bei Zürich gehört bereits zu einer neuen Generation von Krankenhäusern – Anfang 2025 wurde es eröffnet. 360 Betten, die komplette Versorgung. Im Fokus des zentralen Baus, geplant ab 2015: die „Lebenswelt und die Arbeitswelt Krankenhaus“.
13 Zsp. Heilsame Architektur
„Wir haben alle Betten nach außen, also demokratisch nach außen. Und die Erschließungen sind von innen und in diesen inneren Bereichen gibt’s dann eben die Arbeitswelten, die Welt der Ärzte und die Versorgungswelt. Das hat also erstmalig nicht mehr nur gerade Flure, hat innen eine Vielzahl von Höfen. Die aber immer mit einer Biegung versehen sind. In den Bettenhäusern sind sechs unterschiedliche Hof-Typen, auch unterschiedlich bepflanzt, die Licht bis in die Untergeschosse bringen, unten enger, nach oben sich weiten.“
SPRECHER:
Viel Licht, viel Grün. Gänge und Höfe, die Orientierung schaffen, zum Verweilen einladen und Kommunikation ermöglichen. Die eine Perspektive in die Welt da draußen bieten, wohin sich jede und jeder Genesende sehnt. Ferner brauche es mehr Privatsphäre und Schutz vor Ansteckungen durch Einzelzimmer für die Patienten. Auch das Personal soll sich wohlfühlen, gerne „sein“ Krankenhaus betreten.
SPRECHERIN:
Dazu eine exzellente medizinische Versorgung, räumlich gut angeordnet mit kurzen Wegen, Verbindungen und Trennmöglichkeiten. Variabel für aktuelle und neue Herausforderungen, die – Stichwort Pandemie – mit Sicherheit kommen werden.
Musik 11: On the Shores of Lake Zurich – siehe vorn – 1.15 Min
SPRECHER:
„Festigkeit, Nützlichkeit, Schönheit“ – diese drei Kriterien guter Architektur hat bereits vor 2.000 Jahren der römische Architekt und Ingenieur Vitruv postuliert. Ein Bauwerk habe gut gebaut und stabil zu sein, es solle den Nutzern dienen und auch schön sein.
Dass gute Architektur im Fall eines Krankenhauses auch die Heilung unterstützen kann, hat bislang noch keiner ernsthaft verlangt. Die beiden Architektinnen Birgit Dietz und Christine Nickl-Weller formulieren es so:
14 Zsp. Heilsame Architektur Birgit Dietz und Christine Nickl-Weller
Alles, was man handfest tun kann, kann ich tatsächlich zusagen, dass wir das auf dem Schirm haben. Dass wir es versuchen, dass wir das bestmöglich machen. Ich hoffe einfach, dass wir in fünf Jahren, in zehn Jahren dann sagen können, „schaut her, so haben wir es erreicht, so haben wir es gemacht“ und wir haben Krankenhäuser, die vielleicht nicht heilen, aber die unterstützende Architektur für die Heilung anbieten, gebaut.
Also per se kann Architektur überhaupt nicht heilen, das ist ja völlig klar. Aber es kann helfen, gesund zu werden. Das ist etwas ganz was anderes.“
Sie wurde mit Freiheitspathos aufgeladen, für Nationalismus und Kriegspropaganda genutzt, erweitert und gekürzt: Die deutsche Nationalhymne. Sie ist ein Spiegelbild unserer Geschichte der letzten 200 Jahre. Von Christian Schuler
Credits
Autor dieser Folge: Christian Schuler
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Gabi Hinterstoißer, Carsten Fabian
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Katharina Hübel, Karin Becker
Im Interview:
Dr. Jörg Koch, Historiker und Autor
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Linktipps:
Jörg Koch: Die Gedanken sind frei. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Ein Dichterleben. Lau Verlag, Reinbek 2024
Jörg Koch, Einigkeit und Recht und Freiheit. Die Geschichte der deutschen Nationalhymne, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2021
Clemens Escher: "Deutschland, Deutschland, Du mein Alles!" Die Deutschen auf der Suche nach ihrer Nationalhymne 1949-1952, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2017.
Jürgen Zeichner: Einigkeit und Recht und Freiheit – Zur Rezeptionsgeschichte von Text und Melodie des Deutschlandliedes seit 1933, PapyRossa – Hochschulschriften 76, Köln 2
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Erzählerin
Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Deutschland in Schwarz-Rot-Gold. Fähnchen flattern aus Autofenstern, große und kleine Flaggen hängen von Fenstern und Balkonen. Ein Meer von Nationalfarben auf Fanmeilen und in den Stadien. Und aus den Kehlen von zigtausenden Fans erschallt vor dem Anpfiff die deutsche Nationalhymne: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland ...“, mit einer Inbrunst, wie man sie aus England oder Italien kennt, aber bis dahin weder im geteilten noch im wiedervereinigten Deutschland erlebt hat. Das Wort „Patriotismus“ macht die Runde. Zitat:
Zitator
Ein fröhlicher Patriotismus, der angemessen ist, andere Länder haben das
auch ... Fröhlicher Patriotismus ist was Gutes.
Erzählerin
So äußerte sich der damalige ZDF-Intendant Markus Schächter vor der Presse. Ermunterung kommt auch aus dem Ausland, etwa vom ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger, einem gebürtigen Fürther, der 1938 mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland floh und Folgendes formulierte: Zitat:
Zitator
Es ist gut, wenn die Deutschen wieder stolz auf ihr Land sind ... Es wurden schreckliche Dinge gemacht, aber nicht von dieser Generation.
Erzählerin
Eine „Mikro-Welle des Patriotismus“ habe Deutschland erfasst, schreibt der „Stern“ im Sommer 2006: Die Deutschen, heißt es, gehen auf einmal zwanglos mit ihren Nationalsymbolen um, und allein die Tatsache, dass dies kaum noch jemanden erschrecke, erschrecke einige.
Zum Beispiel die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“, GEW. Die lässt kurz vor der WM eine 17 Jahre alte Handreichung zum Geschichtsunterricht nachdrucken: „Argumente gegen das Deutschlandlied - Geschichte und Gegenwart eines furchtbaren Lobliedes auf die deutsche Nation“, so der Titel. Die Gewerkschaft arbeitet sich darin nicht nur, aber vor allem an der ersten Strophe des Liedes ab: „Deutschland, Deutschland über alles“. Die Broschüre des GEW stammt aus den späten 1980er Jahren. Damals galten in der alten Bundesrepublik formell alle drei Strophen des Deutschlandliedes noch als Hymne, allerdings wurde bei offiziellen politischen und sportlichen Anlässen nur die dritte Strophe gesungen. Die erste Strophe war aber nicht vergessen, im Gegenteil: sie sorgte immer wieder für Diskussionen. Die Veröffentlichung des GEW hatte also ihren Platz im Debattenumfeld der alten Bundesrepublik. Im Jahr 2006 wirkte sie etwas aus der Zeit gefallen. Denn in den Stadien der Fußball-WM war die erste Strophe nicht zu hören. „Deutschland, Deutschland über alles“ war Geschichte und seit August 1991 nicht mehr Teil der Nationalhymne des nun wiedervereinigten Deutschland, weder offiziell noch inoffiziell.
kurzer Musikakzent
Erzählerin
Nach 1990 hatte sich die Frage gestellt, welches Lied Deutschland zu seiner Nationalhymne bestimmen sollte. Die Frage war, ohne größeren Widerspruch, bald entschieden: durch einen Brief des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker an Bundeskanzler Kohl im August 1991.
Zitator:
Die 3. Strophe ... hat sich als Symbol bewährt. Sie wird im In- und Ausland gespielt, gesungen und geachtet. Sie bringt die Werte verbindlich zum Ausdruck, denen wir uns als Deutsche, als Europäer und als Teil der Völkergemeinschaft verpflichtet fühlen. Die 3. Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn ist die Nationalhymne für das deutsche Volk.
Erzählerin
In seinem Antwortschreiben bekräftigte Helmut Kohl diese Auffassung. Damit war die Hymnenfrage entschieden - und ist es bis heute. Von Weizsäcker hatte das Datum seines Schreibens mit Bedacht gewählt: fast auf den Tag genau 150 Jahre zuvor hatte der Dichter Heinrich Hoffmann von Fallersleben das Deutschlandlied geschrieben, während eines Urlaubs auf der damals zu England gehörenden Insel Helgoland.
Zsp 3, Jörg Koch
Und dort hat er erlebt, wie Gäste aus Frankreich mit der französischen Hymne und Gäste aus England mit „God save the Queen“ begrüßt wurden.
Englische Hymne
Erzählerin
So der Wormser Historiker Jörg Koch, Autor eines Buches über die Geschichte der deutschen Nationalhymne.
Zsp 3 (Forts.)
Da kamen ihm diese Gedanken und verfasste dann das uns bekannte dreistrophige Lied der Deutschen: „Deutschland, Deutschland über alles“. Damit ist natürlich gemeint nicht ein überheblicher Anspruch Deutschlands gegenüber anderen Ländern, sondern ein Deutschland gegenüber den vielen kleinen Deutsch-Ländern, die Überwindung der Kleinstaaterei fordert er in seinem Lied.
Erzählerin
Hoffmann von Fallersleben war Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Breslau. Um von Breslau nach Helgoland zu reisen, musste er als Bewohner des „Deutschen Bundes“ 700 Kilometer zurücklegen, zu Fuß, mit der Kutsche, teilweise mit dem Zug, zuletzt mit dem Schiff. Das dauerte. Auch deshalb, weil viele, meist autoritär regierte Kleinstaaten zu durchqueren waren, in denen unterschiedliche Regeln galten.
Zsp 4 Jörg Koch
Der Deutsche Bund ... bestand aus 35 souveränen Staaten und vier freien Städten, ... also ein sehr heterogenes Gebilde ... und Hoffmann reiste sehr viel. ... Immer wenn er reiste durch Deutschland, passierte er Grenzen. ... und überall musste der Pass vorgezeigt werden an jeder Grenze.
Erzählerin
Hoffmanns Gedicht – gerade auch die erste Strophe „Deutschland, Deutschland über alles“ - war also zunächst nach innen gerichtet, als Aufruf an die Deutschen zur Einigkeit, für politische Freiheitsrechte und gegen kleinstaatliche Fürstenwillkür. Zum historischen Hintergrund gehört allerdings auch die außenpolitische Situation, wie Jörg Koch erläutert.
Zsp 5 Jörg Koch
1840 kam es zur sogenannten Rhein-Krise, das heißt: Frankreich hatte ja vorher und auch später in der Geschichte immer das Bestreben, den Rhein als natürliche Grenze seines Landes im Osten zu haben.. Und jetzt reagieren einige Dichter, Politiker hier in den deutschen Landen mit sogenannten Rheinliedern, das bekannteste Lied, 1840 gedichtet von Max Schneckenburger, ist die „Wacht am Rhein“, und in dieser Stimmung entsteht natürlich auch das Deutschlandlied ... Es erhebt zwei Forderungen, einmal Überwindung der Kleinstaaterei und dann natürlich die Abgrenzung zu Frankreich.
Erzählerin
Hoffmann hat sein „Deutschlandlied“ von Anfang an als Hymne verstanden und es dezidiert auf eine Melodie gedichtet, die Joseph Haydn 1796 komponiert hat: als Trost- und Stärkungslied angesichts französischen Revolutionstruppen, die Wien bedrohten, und als Huldigungslied zu Ehren von Franz II., dem letzten Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“.
„Gott erhalte Franz den Kaiser“ einblenden oder unterlegen, Archiv-Nr. 88038540 101
Erzählerin
Diese Kaiserhymne - „Gott erhalte Franz den Kaiser“ - wird später österreichische Nationalhymne und bleibt es bis 1918. Im Gegensatz zu dieser Huldigung an einen absolutistischen Herrscher wirkt Hoffmanns Text eher volkstümlich, geradezu volksliedhaft.
Zitator
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern
Unser ganzes Leben lang –
Zsp 7, Jörg Koch
Ja, das ist natürlich auch die Erfolgsgeschichte dieses Liedes, eine sehr eingängige, einfache Textstruktur, mit einigen Stilmitteln, Alliterationen, Wiederholungen, das kann sich jedes Kind leicht merken
Erzählerin
Hoffmanns Lied wird bereits wenige Tage nach seiner Entstehung durch Julius Campe in Umlauf gebracht, jenen Verleger, der auch die Werke anderer Freiheitsdichter wie Heinrich Heine und Ludwig Börne publiziert. Das Deutschlandlied erscheint im Umfeld des sogenannten „Vormärz“, einer Bewegung, die eine Einigung Deutschlands unter liberalen, republikanischen Vorzeichen anstrebt. Wenige Wochen nach der Entstehung 1841 wird das „Lied der Deutschen“ bereits erstmals öffentlich aufgeführt. Es erscheint in den folgenden Jahrzehnten in vielen studentischen Liederbüchern, in Sammlungen für Chöre und den musikalischen Hausgebrauch, bleibt aber zunächst ein patriotisches Lied unter vielen. Daran ändert sich zunächst auch nach der Reichsgründung 1871 nichts.
„Heil dir im Siegerkranz“ ab hier dem Text unterlegen, 88038540 103 oder instrumental
Das Deutsche Reich ist nun zwar ein Nationalstaat mit Berlin als Hauptstadt, einer Reichsflagge und Kaiser Wilhelm I. als Staatsoberhaupt. Aber bei der Proklamation des neuen Staates im Spiegelsaal von Versailles erklingt nicht das Deutschlandlied, sondern die preußische Hymne „Heil dir im Siegerkranz“, das von nun an als „Kaiserhymne“ bei offiziellen Anlässen gesungen wird, auf die Melodie der englischen Nationalhymne „God save the King“.
Zsp 8, Jörg Koch
Hoffmann von Fallersleben hat sehr bedauert, dass sein Lied 1871 nicht zur Nationalhymne wurde. Da ist er enttäuscht, tatsächlich sehr enttäuscht, er meinte, jetzt sei doch die Stunde gekommen, dass das „Lied der Deutschen“ für alle Deutschen Nationalhymne werde. Das hat sich nicht erfüllt. Er hat den Erfolg, den großen Erfolg seines Liedes nicht mehr erlebt.
Erzählerin
Hoffmanns Lied auf Haydns Melodie hat für eine Nationalhymne gleich mehrere Makel: musikalisch betrachtet, ist es alles andere als schneidig-stramm. Sein Text ist zudem nicht kriegerisch, stachelt nicht zum Opfertod an. Und: das Lied besingt keinen Regenten. Dennoch gerät es während des Kaiserreiches immer stärker in den Bann des Militärischen. Bei der Einweihung von Kriegerdenkmälern und an sogenannten Heldengedenktagen ist es schon bald nicht mehr wegzudenken. „Deutschland, Deutschland über alles“ bekommt nun einen anderen Klang als noch zu Hoffmanns Zeiten.
Zsp 10 Jörg Koch
Jetzt schon beginnt lange nach Hoffmanns Tod 1874 die Vereinnahmung des Liedes, insbesondere der ersten Strophe, ja jetzt mit einer ganzen anderen Intention: Deutschland, Deutschland siegt über andere Länder!
Erzählerin
Eine kriegerische Aura erhält das Lied dann endgültig im Ersten Weltkrieg, in dem es mit dem sogenannten Langemarck-Mythos verknüpft wird. In einem offiziellen Bericht der Obersten Heeresleitung zu den Kämpfen in Flandern im November 1914 heißt es:
Zitator
Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie ein. Etwa 2000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangengenommen und sechs Maschinengewehre erbeutet.
Erzählerin
Was der Langemarck-Mythos verschweigt: die Schlachten in Belgien 1914 und 1915 sind für das deutsche Heer ein Fiasko. Was bleibt, ist der Mythos vom opferbereiten Kampf, der sich fortan mit dem Deutschlandlied verbindet und später im Nationalsozialismus wieder auflebt. Das Lied gilt nach dem Krieg als belastet, erlebt aber dennoch in den ersten Jahren der Weimarer Republik eine Renaissance.
Zsp 11 Jörg Koch
Schon 1920 beginnen erste Überlegungen einer Nationalhymne. Ganz klar, Ende 1918, Ende der Monarchie, da hatte man an nationale Symbole natürlich nicht gedacht. Dann kommt aber tatsächlich schon bald die Frage aus dem Ausland, aus England. Welche Hymne habt ihr denn? Denn Hymnen, das sieht man daran, waren notwendig bei Staatsbesuchen, etwa. Da hat sich bis heute nichts geändert.
Erzählerin
Die Regierung lässt das Deutschlandlied 1920 prüfen, ob es als Hymne eines demokratischen Deutschland in Frage kommt. In einer Kabinettsvorlage sammelt sie Argumente pro und contra. Am 11. August 1922 schließlich wird der Verfassungstag gefeiert, eine Art inoffizieller Nationalfeiertag der Weimarer Republik. Er wird unter das Motto gestellt: „Einigkeit und Recht und Freiheit.“ Gastgeber ist Reichspräsident Friedrich Ebert.
Zsp 12 Jörg Koch
Auf Drängen seiner Umgebung, verschiedener politischer Richtungen, proklamiert Ebert dann, ausgerechnet ein SPD-Politiker, die drei Strophen zur Nationalhymne, weil ihm dieser Dreiklang „Einigkeit und Recht und Freiheit“ so wichtig ist. Er will Versöhnung schaffen zwischen den Konservativen und den Linken ...
Erzählerin
Schon in der Weimarer Republik erkannte man also – wie später in der Bundesrepublik – einen Gegensatz zwischen der ersten und der dritten Strophe: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“, das klang nach dem verlorenen Weltkrieg nach nationalistischer Anmaßung. Dennoch hielt der SPD-Politiker Friedrich Ebert formell an allen drei Strophen fest. Warum?
Zsp 13 Jörg Koch
Denn die Zeiten sind natürlich zwei Jahre nach Erlass das Versailler Vertrags sehr unsicher. Es kommt zu politischen Morden, die Weimarer Republik ist politisch und wirtschaftlich sehr instabil, und jetzt soll ein Lied zumindest eine gewisse Einheit parteiübergreifend schaffen. Das war seine Absicht.
Erzählerin
In der offiziellen Praxis scheint sich der Akzent während dieser Jahre auf die dritte Strophe zu verschieben. Ausschließlich sie wird gesungen auf dem Verfassungstag 1922, ebenso in den Jahren darauf bei den Trauerfeiern für Präsident Ebert und Außenminister Stresemann: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ wird mehr und mehr zum Motto der Weimarer Republik. Ein Prozess, der 1933 abrupt endet:
Erzählerin
Am 30. Januar wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Am selben Abend ziehen SA-Kolonnen durch Berlin. Sie singen die erste Strophe des Deutschlandliedes, anschließend das Marsch- und Kampflied von Horst Wessel. Horst Wessel, ein junger SA-Führer, war 1930 von einem KPD-Mitglied in Berlin erschossen worden und galt als ein Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“, so sein Text. Deutschlandlied und Wessel-Lied werden zu Siegeshymnen des Nationalsozialismus. Bis 1945 erklingen sie bei allen offiziellen Anlässen, bei Parteitagen, Gedenkfeiern, Amtseinführungen, beim Stapellauf von Schiffen, bei der Einweihung von Konzentrationslagern. Die Reihenfolge ist festgelegt:
Zsp 14 Jörg Koch
Erst mal „Deutschland, Deutschland über alles“, ... jetzt natürlich mit dem Anspruch: Hitler-Deutschland regiert über die Welt ... Und dann ertönt im Marschrhythmus ja was völlig anderes. Ein Riesengegensatz, dieses SA Kampflied „Die Fahne hoch“, das sogenannte Horst-Wessel-Lied, wobei die erste und vierte Strophe identisch sind. Beim Absingen gerade dieser Strophen musste auch der Hitlergruß gezeigt werden.
Erzählerin
So der Historiker Jörg Koch. Auch wenn in NS-Lieder- und Schulbüchern das Deutschlandlied in der Regel dreistrophig abgedruckt wird, scheinen die nationalsozialistischen Politiker und Verbände in der Praxis nur an der ersten Strophe interessiert zu sein: „Deutschland, Deutschland über alles“, das war in ihrem Sinne; „Einigkeit und Recht und Freiheit“ weniger. Allerdings gibt es Aufnahmen von NS-Chören aus den ersten Jahren der Diktatur, auf denen alle drei Strophen des Liedes zu hören sind, ebenso auf Schallplatten, die für den internationalen Markt produziert werden. Vollkommen „unschuldig“ mag also die dritte Strophe des Deutschlandliedes, unsere heutige Nationalhymne, nicht sein. Allerdings scheint sie in der Zeit des „Dritten Reiches“ und auch in den ersten Jahren nach dem Krieg weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein, so dass Politiker der jungen Bundesrepublik, die sie bei Wahlkampfveranstaltungen singen lassen wollen, ihren Text vorsichtshalber auf ausgelegte Blätter drucken lassen. Die Marginalisierung während der Nazijahre verschafft der dritten Strophe um 1950 jedenfalls eine neue, letzte Chance als Nationalhymne.
Zsp 15 Jörg Koch
Als der Bundestag sich zunächst traf zur konstituierenden Sitzung oder auch als der Bundespräsident gewählt wurde, das sind ja auch wie heute Anlässe mit feierlicher Musik... man wich auf Werke von Beethoven vor allem aus. Aber Beethoven und sportliche Ereignisse, das passt auch nicht. Und da wurden vielfach im Rheinland Karnevalsschlager gespielt und gesungen. Und der Überlieferung nach soll 1952 Adenauer in Chicago mit „Heidewitzka Herr Kapitän“ begrüßt worden sein.
„Heidewitzka“
Erzählerin
Bundeskanzler Konrad Adenauer, der ein Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung hat, lässt eine Umfrage in Auftrag geben, um herauszufinden, wie die Westdeutschen in der Hymnenfrage denken. Das Ergebnis ist eindeutig: 73 Prozent wollen das Deutschlandlied, auch unter SPD-Anhängern stimmen zwei Drittel dafür.
Zsp 16 Clemens Escher
Ja, es war für die Menschen ein Bedürfnis, eine Hymne zu haben.
Erzählerin
Sagt der Historiker Clemens Escher, der ein Buch über die Hymnenfrage in den ersten Jahren der Bundesrepublik geschrieben hat.
Zsp 16 Forts. Clemens Escher
Es gab ja viele Radioübertragung ... Und es gab dann - nach Sportveranstaltungen etwa - eben nicht den feierlichen Abschluss. Und in dieses hymnenlose Zeitfenster haben dann die Bundesbürger selbst an Adenauer und Heuss Hymnenvorschläge geschrieben. Keiner von diesen Vorschlägen hatte schließlich eine Chance, genommen zu werden, und in einem doch sehr langen, schmerzhaften Prozess – wurde dann schließlich, wie es Heuss formulierte, aus Traditionalismus und Beharrungsverlangen der Bundesdeutschen in einem Briefwechsel zwischen Adenauer und Heuss die dritte Strophe festgelegt als Nationalhymne, ohne dass diese im Grundgesetz etwa ist.
Erzählerin
So Escher 2022 in der Bayern2-Radiowelt im Gespräch mit Moderator Rolf Büllmann. Im Mai 1952 ist es dann so weit: das Deutschlandlied wird wieder zur Nationalhymne erklärt. Gesungen werden soll bei offiziellen Anlässen aber ausschließlich die dritte Strophe. Dabei bleibt es bis 1991. Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Kanzler Helmut Kohl 1991 „Einigkeit und Recht und Freiheit“ zur Hymne des wiedervereinigten Deutschland erklären, sind die beiden anderen Strophen des Deutschlandliedes Geschichte. Das gilt auch für die Hymne der DDR, der der Historiker Jörg Koch durchaus etwas abgewinnen kann.
Zsp 18 Jörg Koch
Lothar de Maiziere etwa, der letzte Ministerpräsident der DDR, hatte vorgeschlagen, die erste Strophe der DDR-Hymne, ... „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“, zu kombinieren mit der dritten Strophe des Deutschlandliedes. Es ist schade. Also ich finde inhaltlich und was die Melodie anbelangt, die Hymne der DDR auch erhaltenswert ... Inhaltlich, lässt sich gut singen, natürlich auch auf die Melodie von Haydn.
Erzählerin
Hätte man also 1990 nicht die Chance nutzen und eine neue gemeinsame Hymne für das vereinigte Deutschland schaffen sollen? Clemens Escher:
Zsp 19 Clemens Escher, Archiv:
Diese Diskussion gab es, es war aber schon damals eigentlich eine Diskussion, die vor allem im Feuilleton geführt worden ist. Also eine, wenn man so will, intellektuelle Wolkenschieberei. Wolf Biermann machte sich damals stark für die Kinderhymne von Bertolt Brecht, andere taten es ihm gleich. Also, es gab diese Diskussion, aber es war nicht wirklich eine Massenbewegung. Insofern gab es diese Bewegung von unten für eine neue Hymne nicht. Und „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sind ja auch Begriffe, unter denen man sich sehr gut nach 1990 versammeln konnte.
Verlangsamte Bewegungen, starrer Gesichtsausdruck, Zittern: Parkinson ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems. Dabei sterben spezielle Zellen im Gehirn ab. Medikamente können die Symptome lindern, heilbar ist die Krankheit nicht. Von Claudia Steiner (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Günter Höglinger (Professor, Direktor der Klinik für Neurologie an der Medizinischen Hochschule Hannover);
Thomas Köglsperger (Dr., Privatdozent, Leiter der Ambulanz für Tiefe Hirnstimulation an der Neurologischen Klinik Großhadern München);
Luisa Bußmann (Logopädin im Klinikum Großhadern München);
Gerhard Schumann (Deutsche Parkinson Vereinigung Regionalgruppe München)
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Deutsche Parkinson Vereinigung e.V.
Selbsthilfevereinigung mit 19 000 Mitgliedern und gut 450 Regionalgruppen. Mehr Infos unter:
EXTERNER LINK | https://www.parkinson-vereinigung.de/
Deutsche Gesellschaft für Parkinson und Bewegungsstörungen
In der Fachgesellschaft sind Ärzte und Grundlagenforscher organisiert. Mehr Infos unter:
EXTERNER LINK | https://parkinson-gesellschaft.de
„Parkinson: Über 200 Experten-Antworten zu den wichtigsten Fragen“, Reiner Thümler und Björn Thümler, Trias
„Parkinson-Syndrome kompakt: Diagnostik und Therapie in Klinik und Praxis“, Günter u. Höglinger, Thieme
Wer und wie bin ich? Das eigene Selbstbild wird durch Erfahrungen geprägt. Eingeübte Denk- und Handlungsmuster verstärken sich wechselseitig. ?So bin ich eben!? Unser Selbstbild begrenzt uns und es gibt gleichzeitig Halt. Aber es kann sich durch neue Interaktionen, andere Erlebnisse und Therapie auch verändern. Von Justina Schreiber (BR 2024)
Credits:
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Martin Trauner
Es sprach: Susanne Schroeder
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. Johannes Heßler-Kaufmann, Psychologe und Psychotherapeut
Dr. Cécile Loetz, Psychoanalytikerin und Podcasterin
Dr. Daniela Renger, Sozialpsychologin
Podcasttipp:
"Moby Dick oder Der Wal" Hörspiel Adventure-Cut von Herman Melville
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Literaturtipps:
Cecile Loetz und Jakob Müller, "Mein größtes Rätsel bin ich selbst", entlang lebensnaher Geschichten erklärt das Autorenpaar den Prozess der Psychoanalyse.
Daniela Renger und Sophus Renger: "Die Suche nach Selbstrespekt: Wie Anerkennung unser Selbstbild formt". Informatives, aber eher abstraktes Buch über Rengers sozialpsychologisches Modell des Selbstbilds mit Schwerpunkt auf Selbstanerkennung.
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ZUM PODCAST
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Sein Leben ändern - Wie ihr einen Neuanfang wagt und meistert
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People Pleaser: Stoppt eure Harmoniesucht
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Der Untergang der Titanic ist "Kult". Kitschige Schneekugeln mit dem untergehenden Schiff, Titanic-Tassen und sogar buchbare Tauchexpeditionen zum versunkenen Wrack haben als Resultat eines modernen Mythos in den Hintergrund gedrängt, dass hier über 1.500 Menschen starben. Von Frank Halbach (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Laura Maire, Stefan Wilkening, Sven Hussock
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Linda Maria Koldau, Kulturhistorikerin, Autorin von „Titanic. Das Schiff, der Untergang, die Legenden“, München 2012.
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Walter Lord: Die Titanic-Katastrophe. München 2002.
Wolf Schneider: Mythos Titanic. Hamburg 1987.
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Vom 14. März 2025 bis 6. Januar 2026 sehen Sie im Lokschuppen Rosenheim die Ausstellung Titanic - Ihre Zeit. Ihr Schicksal. Ihr Mythos
mit Originalartefakten, einer immversiven Multimedia-Installation und dramatischen Passagiergeschichten, die den Untergang des berühmten Schiffes lebendig werden lassen.
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Sattgrün, makellos und weich - der perfekte Rasen ist eine Wissenschaft für sich und sogar Studienfach! Seine Zukunft ist jedoch prekär: Wilde Wiesen mit Klee, Kräuterblumen und Moos sind für die Folgen der Klimakrise besser gewappnet. Von Kirsten Zesewitz
Credits
Autorin dieser Folge: Kirsten Zesewitz
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Benjamin Stedler
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Norbert Kühn, Leiter des Fachgebietes Vegetationstechnik und Pflanzenverwendung an der Technischen Universität Berlin;
Prof. Iris Lauterbach, Zentralinstitut für Kunstgeschichte München;
Steven Wagner, Greenkeeper Golfclub Hauptmoorwald Bamberg e.V.
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WDR 5 Das philosophische Radio
Ein Austausch mit anderen nachdenklichen Menschen in einer einzigartigen öffentlichen philosophischen Diskussion
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Linktipps:
Deutsche Rasengesellschaft e.V. Website
Studiengang an der Hochschule Osnabrück Website
Zentralinstitut für Kunstgeschichte Website
Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen Website
TU Berlin, Fachgebiet Vegetationstechnik und Pflanzenverwendung Website
Golfclub Hauptsmoorwald Bamberg e.V. Website
Literatur:
Gothein, Marie Luise: Geschichte der Gartenkunst
Hennebo, Dieter: Geschichte der deutschen Gartenkunst
Uerscheln, Gabriele: Kleines Wörterbuch der europäischen Gartenkunst
Grzimek, Günther: Die Besitzergreifung des Rasens (zum Thema Rasen im Olympiapark in München)
Noll, Thomas: Albrecht Altdorfer in seiner Zeit (zum Thema Rasenbänke in der Kunst des Mittelalters)
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Stellen wir uns ein Kind vor, das im Garten spielt. Einen Fußballer, der im Stadion den Fußball kickt. Eine Golferin, die elegant zum entscheidenden Schlag ausholt. Und vielleicht noch einen Mann, der in seinem Vorgarten einen Rasenmäher vor sich herschiebt.
All das passiert auf einem Rasen.
Wikipedia schreibt dazu:
ZITATOR
„Rasen bezeichnet eine anthropogene Vegetationsdecke aus Gräsern, die durch Wurzeln und Ausläufer mit dem Boden verbunden ist, im Siedlungsgebiet der Menschen liegt und nicht landwirtschaftlich genutzt wird.“
SPRECHERIN
Für die einen ist er heilig – wie der Tennisrasen von Wimbledon – für andere ein Statussymbol.
Musik Fantasie für Cembalo C-Dur 0‘26
Nirgendwo auf der Welt aber erreicht der Rasen jene Schönheit und frische grüne Farbe wie in England, wo er seinen Ursprung nahm.
OT 1 Iris Lauterbach
England war schon im 17. Jahrhundert dafür berühmt, muss man sagen, dass dort der perfekte Rasen gedieh. Das lag natürlich am feuchten Klima und dann auch an bestimmten Pflegemaßnahmen, die man in England offenbar bereits seit dem 17. Jahrhundert ergriffen hat, um den die Rasenfläche auch so schön zu erhalten.
SPRECHERIN
Prof. Iris Lauterbach. Sie forscht am Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte zur Entwicklung der Gartenkunst in Europa. Und die Gartenkunst sei ohne den Rasen gar nicht vorstellbar, sagt Lauterbach... Die Farbe Grün spiele dabei eine entscheidende Rolle: Die Schönheit des frischen grünen englischen Rasens habe zeitgenössische Besucher aus Deutschland und Frankreich nachhaltig beeindruckt:
OT 2 Iris Lauterbach
Dass diese grünen Flächen so bedeutend waren und als schön empfunden wurden damals, hat man auch wirklich schon formuliert! Es heißt explizit: die Farbe Grün ist entspannend für das Auge und deswegen wirkt das so angenehm und natürlich. In Barockgärten, in Frankreich und Deutschland hat man dann versucht, das zu imitieren, und hat schnell angefangen, seit dem frühen 18. Jahrhundert solche Rasenflächen auch aufzunehmen. Die hießen dann immer „auf englische Art“ und dienten dazu, auch in Barockgärten eine solche natürliche Note einzubringen.
Musik: What is it 0‘22
SPRECHERIN
Aber was genau macht die Faszination des Rasens aus? Dazu muss man zunächst einmal festhalten: Rasen ist nicht Wiese: Ein Rasen dient ästhetischen Zwecken, man kann auf der weichen, ebenmäßigen Grasfläche hervorragend Ballspielen, picknicken oder sich sonnen. Sie ist aber – landwirtschaftlich betrachtet – eine unproduktive Fläche; ein Stück grünes Land, das der Lebensmittelherstellung entzogen wurde. Im Gegensatz zur Wiese, sagt der Pflanzenökologe Prof. Norbert Kühn von der Technischen Universität Berlin.
OT 3 Norbert Kühn
Ursprünglich sind Wiesen mal dazu da, um Futter zu erzeugen, das heißt, in einer Wiese ist alles Mögliche drin und wenn ich eine Wiese 20-mal schneide, dann wird alles herausselektiert, was hoch und groß wächst. Und es bleibt im Grunde genommen nur das niedrige übrig, was diesen Schnitt übersteht. Und wenn ich davon wieder die Kräuter wegnehme, dann komme ich zu niedrigen Gräsern. Und aus diesen niedrigen Gräsern besteht üblicherweise der Rasen.
SPRECHERIN
Rasen ist also das, was übrigbleibt. Eine Monokultur, die entsteht, wenn man all die Vielfalt der Blumen und Kräuter runter mäht und raus spachtelt.
Musik: First steps 0‘29
Aber: Diese Monokultur ist perfekt. Sie ist unglaublich dicht und weich und sanft – und fühlt sich einfach gut an. Norbert Kühn hockt auf einer Rasen-Versuchsfläche der Technischen Universität in Berlin Dahlem und streicht mit den Fingern über den grünen Golfrasenteppich.
OT 4 Norbert Kühn
Das ist schon auch etwas Besonderes. Und der hat eine ganz andere Textur wie das, was man normalerweise hat, wenn man seinen eigenen Rasen im Einfamilienhaus- Bereich hat, der ist wesentlich höher. Hier ist es wirklich, als ob man über einen Teppich drüber geht.
SPRECHERIN
Auftragsforschung nennt Norbert Kühn das, was die Technische Universität Berlin hier macht. Sie untersucht die Qualität von Rasensorten.
Denn es gibt nicht „den“ „einen“ Rasen. Die Bandbreite geht vom gewöhnlichen Gebrauchsrasen für den Hausgarten über zarte, nur zum Anschauen gedachte Zierrasen bis hin zu hoch spezialisierten Sportrasen: wie dem für Golf.
Und für jede dieser Anwendungen gibt es eine standardisierte Samenmischung: die so genannte „Regel-Saatgut-Mischung“.
OT 5 Norbert Kühn
Und wenn man eben entsprechend eine solche „Regel-Saatgutmischung“ kauft, dann will ich davon ausgehen, dass diese Mischung auch funktioniert für den Zweck, den ich haben will. Und da kommen eben die entsprechenden, vorher geprüften Sorten rein und die müssen eben so gut sein, dass sie dieser Regel-Saatgut-Mischung dann auch genügen.
SPRECHERIN
Die meisten Saatgutmischungen bestehen vom Grundsatz her aus: Deutschem Weidelgras, Wiesenrispe und Rotschwingel. Sie sind sowas wie die Standardgräser im deutschen Rasen.
Atmo: Rasenmäher
SPRECHERIN
Auf dem Versuchsgelände in Berlin Dahlem kümmern sich zwei Universitätsgärtner um die wissenschaftlichen Rasenflächen: Sie mähen und walzen den Rasen, malträtieren ihn – wie im Falle des Fußballrasens mit einer speziellen „Scherstollenwalze“ – und am Ende der Testzeit gibt Professor Kühn eine Auswertung seiner Untersuchungen an das Bundessortenamt.
Musik: Eco statistics red 0‘20
SPRECHERIN
In Sachen Fußballrasen ist Norbert Kühn im Laufe der Jahre zu so etwas wie einem wissenschaftlichen Experten für das Berliner Olympiastadion geworden. Der Professor muss schmunzeln bei der Frage, was denn nun das Geheimnis des „perfekten“ Fußballrasens sei.
OT 6 Norbert Kühn
Also, das Geheimnis ist natürlich, dass er sich strapazieren lässt, dass er gleichmäßig aussieht und dass er auch mit den relativ schlechten Belichtungs-Verhältnissen in den Stadien gut zurechtkommt. Der muss während des Spiels topfit sein und nach dem Spiel ganz schnell sich wieder in eine gute Form bringen lassen. Ein Fußballrasen ist schon ziemlich eine hohe Kunst. Dafür gibt es dann extra Greenkeeper, um eben diese Rasen auch entsprechend herzustellen.
SPRECHERIN
Wenn der Fußballrasen die hohe Kunst ist, dann ist der Golfrasen wohl die Königsdisziplin.
OT 7 Steven Wagner
Ist es auf alle Fälle. Ich habe ja 20 Jahre als Gärtner gearbeitet und dachte, ich kenne mich mit Rasen recht gut aus, hab dann meine Meisterausbildung zum Greenkeeper gemacht und habe gemerkt, da steckt doch einiges mehr dahinter als einfach nur Rollrasen zu verlegen oder Rasen zu mähen.
Musik: Good reasons 1‘11
SPRECHERIN
Steven Wagner betreut den Golfplatz im Bamberger Hauptsmoorwald. Ein kleiner 9-Loch Platz, gut 13 Hektar hat Wagner zu mähen – nicht viel im Vergleich zu großen Golfplätzen. Trotzdem sitzt der Mittfünfziger mit dem kahl geschorenen Kopf im Sommer jeden Tag mehrere Stunden auf dem Ansitzmäher. Es gibt einiges zu mähen: Der äußere Rasen des Golfplatzes, das so genannte „Rough“, ist zwischen 3 und 7 Zentimeter hoch. Das „Fairway“, also die großen Rasenflächen, auf denen die Golfer den Ball weiter schlagen, wird auf 1,6 bis 2 Zentimeter Höhe geschnitten – und das „Vorgrün“ in Sichtweite des Loches auf 1 Zentimeter. Spannend wird es dann am „Grün“ oder Englisch „Green“: Hier, wo der Golfball ins Loch geputtet wird, darf das Gras gerade einmal 4 Millimeter (!) aus dem Erdboden herausschauen. Und hier liegt die Kunst.
OT 8 Steven Wagner
Wir bewegen uns im Millimeterbereich, das heißt, wenn dort einfach mal Wasser oder Nährstoffe fehlen oder eine Krankheit kommt, das muss man sehr früh erkennen. Und deswegen braucht man ein geschultes Auge und auch ein Gefühl für die Natur.
ATMO Golf
Und beim Golf ist ja gewünscht – ich spiele selber Golf, deswegen weiß ich’s – dass der Ball auf dem Grün wie auf einem Spiegel läuft, ohne zu hoppeln. Ganz ruhig und sehr spurtreu. Spurtreu heißt bei uns, so ein Grün ist natürlich nicht immer eben. Es hat Ondulierungen, also Berge und Täler, nach links und rechts geneigt, und das sollte dieser Ball annehmen.
SPRECHERIN
Im Klartext: Wenn sich der Boden nach links neigt, soll der Ball auch nach links rollen.
Tut er das nicht, ist der Greenkeeper „schuld“. Auch deshalb muss Wagner stets ein waches Auge auf seinen Rasenteppich haben und ihn hegen und pflegen: Vertikutieren und Aerifizieren, damit Luft an die Wurzeln kommt. Wässern und Düngen zur Nährstoffversorgung. Mähen und Walzen für das perfekte Erscheinungsbild. Das Schlimmste, was einem Greenkeeper passieren kann, ist ein filziger Rasen. Es schüttelt ihn fast bei dem Gedanken:
OT 9 Steven Wagner
Wenn wir mähen und düngen, sterben Pflanzenteile ab, die Bodenlebewesen schaffen das nicht, das so schnell wegzuarbeiten und es entsteht eine hydrophobe, nicht homogene Schicht, sagen wir mal. Das nennt man Rasenfilz. Da kommt dann weniger Wasser durch und die ist ja fest und die versuchen wir zu durchbrechen und aufzulockern, dass wir einen gesunden Rasen und gesunde Wurzeln haben.
Musik: Green aspects red 0‘21
SPRECHERIN
Steven Wagner kann sich richtig hineinversetzen, in die zarten Wurzeln, die all das stemmen müssen: Eine Graspflanze müsse man sich vorstellen wie einen Baum, sagt er: Mit einer weit verzweigten Wurzel, einem kurzen Stamm und vielen Blättern, das sind die Halme. Weil die aber so kurz sind und wenig Photosynthese betreiben, muss die Energie aus der Wurzel kommen. Sie ist das Geheimnis eines makellosen Golfrasens, sagt Wagner.
OT 10 Steven Wagner
Man muss wirklich das von Herzen lieben und mit der Natur eins werden, um es um zu verstehen, was da im Boden passiert, von der Wurzel, die Nährstoffe, die Mikroorganismen, die Luft, was da alles stimmen muss. Deswegen muss man da ein gutes Gleichgewicht finden, nicht zu viel, nicht zu wenig Dünger, nicht zu viel, nicht zu wenig Wasser. Also, da spielen so viele Sachen zusammen…
SPRECHERIN
(Eben) Eine Kunst... Für viele Menschen auch eine Obsession, ein Statussymbol.
Aber… wie kam es zu dieser menschlichen Faszination für das kurzgeschnittene Grün?
OT 11 Iris Lauterbach
Aus meiner Sicht ist die Gestaltung eines sterilen, perfekten Rasens ein Zeichen für mangelnde Naturnähe. Das kann man als Phänomen das 20. und 21. Jahrhunderts generell sagen, dass für viele Menschen die Natur immer weiter in die Ferne rückt. Natürlich kann ich mir vorstellen, wie so ein perfekter grüner Rasen ein Statussymbol ist, weil er die Illusion erweckt, man verfüge über ein großes Anwesen, habe Personal, das einen solchen Rasen pflegen kann.
Musik: The ancient natural world 0‘34
SPRECHERIN
Bereits in der Antike sind die Villen reicher Bürger von einer Art Rasen umgeben. Im Mittelalter werden Rasenflächen zum festen Bestandteil der Kloster- und Ziergärten.
SPRECHERIN
Obgleich sich die Anlage eines Rasens mit Hilfe von Grassoden, Walzen und Striegeln bis ins 19. Jahrhundert kaum veränderte, sahen die mittelalterlichen Rasenflächen etwas anders aus als das, was man heute unter einem „perfekten“ Rasen versteht, sagt Iris Lauterbach.
OT 12 Iris Lauterbach
Das Gras ist durchwachsen mit Kräutern, beispielsweise mit Raute, Salbei, Basilikum... Und im Rasen findet man auch einzelne Wiesenblümchen, also Veilchen, Gänseblümchen, Primeln, Akelei. Man muss sich vor Augen halten, dass gerade im Mittelalter es nicht so viele Orte gab, an denen Gärten angelegt werden konnten. In den Städten gab es dafür überhaupt keinen Platz. Und deswegen ist der Rasen in der Natur ein ganz wichtiges Thema. Wie viele Texte des Mittelalters sprechen vom Rasenbett?
SPRECHERIN
Das Rasenbett oder vielmehr: Die Rasenbank gewinnt auch in der Kunst des Mittelalters weitreichende Bedeutung: Maria mit dem Jesuskind auf einer Rasenbank sitzend, wird in der Zeit um 1500 zu einer eigenen Bildgattung. Künstler wie Albrecht Dürer und Martin Schongauer zeigen die Muttergottes in Ruhe und Abgeschiedenheit; die Blumen auf der Rasenbank symbolisieren Eigenschaften wie Reinheit, Frömmigkeit, Liebe und Demut.
MUSIK: Greenwich Palace 0‘36
SPRECHERIN
Während in den italienischen Gärten der Renaissance aufgrund des heißen, trockenen Klimas nur sehr wenig Rasen zu finden war, nahm die Rasenkultur in England im 16. Jahrhundert richtig Schwung auf. Und das hatte auch mit der englischen Begeisterung für den Sport zu tun. Frühformen des Tennis und des Crickets erfreuten sich großer Beliebtheit und allen voran: Rasen Bowling, eine Art Boule-Spiel.
OT 13 Iris Lauterbach
Man hat dann vertiefte Rasenflächen in den Gärten angelegt. Vertieft, damit die Kugeln dieses Spiels nicht wegrollen – finde ich auch sehr praktisch – und das hat man als Bowling Green bezeichnet. Diese Bezeichnung Bowling Green wurde dann auch ins Französische übersetzt, als Boulingrin, und das ist eine der ganz charakteristischen Methoden zur Bodenmodellierung von Barockgärten des frühen 18. Jahrhunderts.
SPRECHERIN
Da wiederum waren die Engländer längst dem Landschaftsgarten verfallen – der mit seinen ausgedehnten Wiesenflächen wieder mehr Blühaspekte und Natur in die Graslandschaft brachte.
OT 14 Iris Lauterbach
Man muss sich das so vorstellen, dass Landschaftsgärten ja in der damaligen Vorstellung Bilder der Natur waren, also Gemälde im Grunde, Landschaftsgemälde, die halt in der Natur ausgeführt wurden.
SPRECHERIN
Wiesen- und Rasenflächen dienten dazu, die Größe des Gartens zu betonen, sie wurden zu Landschaft. Das betraf auch die Pflege der Flächen. Denn: Bevor der Brite Edwin Beard Budding um 1830 den mechanischen Rasenmäher erfand und wenig später auch dampfbetriebene Mähmaschinen durch die englischen Parklandschaften tuckerten, wurden eben jene Wiesenflächen mit Schafen beweidet; die mit ihren Hinterlassenschaften tatsächlich alles andere als einen „perfekten englischen Rasen“ erzeugten.
MUSIK: Close to nature 0‘24
SPRECHERIN
Und heute? Viele Menschen würden sich genau das auch wieder wünschen: Die Rückkehr der Wiese, nicht nur in städtischen Parkanlagen, sondern auch in privaten Gärten.
MUSIK nochmal hoch
SPRECHERIN
Denn: Nicht zuletzt wegen seiner intensiven Pflege und des enormen Wasserverbrauchs steht der Rasen – egal, ob auf Golfplätzen oder im kleinbürgerlichen Hausgarten – in der Kritik: Rasen gilt als die größte bewässerte Kultur außerhalb des Nahrungsmittelanbaus weltweit. In den USA macht die Bewässerung der Vorgärten drei Viertel (!) des privaten Wasserverbrauchs aus. Von Düngern und Pflanzenschutzmitteln ganz zu schweigen. Und: Rasen ist praktisch ohne Leben.
OT 15 Norbert Kühn
Was lebt auf einem Rasen? Unter einem Rasen leben zumindest Würmer. Das sieht man sehr schön, wenn die Häufchen dann nach oben kommen… Im Boden dann schon Collembolen und solche Dinge. Aber auf der Rasennarbe gibt es eigentlich so gut wie keine höheren Lebewesen.
SPRECHERIN
Noch einmal Norbert Kühn von der TU Berlin. Der Wissenschaftler hat vor 30 Jahren zur Renaturierung von Wiesen promoviert und forscht heute zur ökologischen Gestaltung der Stadtlandschaft. Das Thema ist hoch aktuell: Wie geht es weiter mit städtischen Parks und Grünanlagen? Wenn die Sommer immer heißer und trockener werden, lohnt es sich auch, über die „Renaturierung“ von Rasenflächen nachzudenken. Dafür braucht es einige Maßnahmen. Einen Rasen einfach sich selbst zu überlassen, sei nicht die Lösung, sagt Norbert Kühn.
OT 16 Norbert Kühn
Weil die Schwierigkeit ist, dass die Pflanzen eindringen müssen, also andere Pflanzen müssen eindringen. Das heißt, es muss erstmal ein Umgebungs-Potenzial da sein, und es müssen sich Lücken auftun, wo die sich dann etablieren. Das heißt, ich habe dann vielleicht zum paar zusätzliche Unkräuter drin, was ganz schön sein kann.. Aber so richtig artenreich bekomme ich ihn nicht. Wenn ich also wirklich will, dass ich einen bisschen artenreicheren Bestand habe, dann müsste ich den aufbrechen und auch was einsäen.
Musik: New ideas 0’28
SPRECHERIN
Samenmischungen für artenreiche Wiesen, idealerweise mit gebietstypischen, also an die jeweilige Region angepassten Blumen, Kräutern und Gräsern gibt es heute in jedem Gartenmarkt zu kaufen. Die könne man dann auch noch anreichern, rät der Pflanzenökologe, mit frühblühenden Zwiebelpflanzen.
OT 17 Norbert Kühn
Und selbst da, wo ich vielleicht Verbindungswege brauche, kann ich immer noch in eine Wiese Rasenwege reinmachen – also die Wiesen sind eigentlich die Alternative dazu.
SPRECHERIN
Aber… Da ist er wieder, der Wermutstropfen im Widerstreit von Wiese und Rasen: Eine Wiese funktioniert nur für wenig genutzte Grasflächen. Dort, wo getreten, gejoggt, gesprintet und gehüft wird, kommt die Wiese an ihre Grenzen. Und vielleicht versteht so mancher grummelnde Hobby-Kicker nun auch, warum das Fußballspielen im Münchner Englischen Garten von der Bayerischen Schlösserverwaltung nicht gern gesehen wird: Tatsächlich leiden die vom Gartenarchitekten Friedrich Ludwig Sckell ursprünglich als „artenreiche blühende Wiesen“ angelegten Grasflächen massiv unter den Torturen eines intensiven, regelmäßigen Fußballspiels. Das erträgt eben nur: ein gut gepflegter Rasen.
OT 18 Norbert Kühn
Für Fußball – oder für Sport allgemein – gibt’s keine Alternativen, weil der Sport einfach sehr hohe Beanspruchung des Rasens hat. Dazu brauche ich die entsprechenden Gräser, und ich muss auch die entsprechenden Pflegemaßnahmen: Ich muss düngen, ich muss wässern, ich muss aerifizieren, ich muss besanden… Was auch immer dort passiert, da brauche ich diese hohe Notwendigkeit der Pflege. Sonst schaffe ich das nicht bei Fußballrasen.
Musik: Live better 0‘21
SPRECHERIN
Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Rasen, wo Rasen hingehört.
Und… irgendwie besitzt er schon eine gewisse Faszination, so ein frischer, grüner, weicher Rasen. Der Pflanzenökologe Norbert Kühn zögert keine Sekunde bei diesem Gedanken:
OT 19 Norbert Kühn
Rasen hat natürlich eine Faszination, weil es eben die extremste Form einer Nutzung ist. Und das kennen wir in der Natur ja auch: Wenn extreme Standortverhältnisse da sind, dann entsteht eine artenarme Pflanzengemeinschaft, weil nur wenige Pflanzen so hoch spezialisiert sind, um dort zu überleben. Also, im Grunde genommen kann man das wunderbar in so eine ökologische Theorie einbeziehen, zu sagen: Ein Fußballrasen ist ein extrem gestörter Rasen, extrem beanspruchter Rasen, und deshalb wächst da nur sehr wenig. Und das sind eben den Spezialisten.
SPRECHERIN
Steven Wagner hat seine Leidenschaft für den grünen Teppich zum Beruf gemacht. Kein Tag im Leben des Greenkeepers, an dem ihn sein Rasen langweilt:
OT 20 Wagner
Es ist auf alle Fälle eine Faszination, sich mit diesen verschiedenen Gräsersorten auseinanderzusetzen, mit der Ernährung der Pflanzen, mit den Krankheiten, das ganze insgesamt. Und natürlich bewege ich mich liebend gerne in der Natur. Ja, für mich gibt es nichts Schöneres.
SPRECHERIN
Und die Kunsthistorikerin? Privat findet Iris Lauterbach einen makellosen Rasen abwegig und unnatürlich. Beruflich aber kann sie sich der Faszination für das Phänomen Rasen auch nicht entziehen:
OT 21 Iris Lauterbach
Der Rasen ist extrem wichtig für die Geschichte der Gartenkunst, weil er wirklich ein ganz prägendes, gestaltendes Element ist. Nicht nur im Landschaftsgarten, sondern bereits im Barockgarten, aber auch in den großen öffentlichen Volksparks des 19. Jahrhunderts. Da ist der Rasen, durch den die schönen Wege für die Bevölkerung der Stadt verlaufen, ein ganz wichtiges Gestaltungselement. Ohne Rasen gäbe es gar keine Geschichte der Gartenkunst.
Musik: All good 0‘24
SPRECHERIN
Und plötzlich leuchtet die zarte, grüne Rasenfläche in Nachbars Garten in ganz anderem Licht… Wobei, hier wäre eine blühende Wiese eigentlich so viel schöner.
Robert Oppenheimer hat mit der Atombombe eine Massenvernichtungswaffe entwickelt, die die gesamte Menschheit bedroht. In seiner Person verdichtet sich die Frage nach den Grenzen der technischen Machbarkeit und der Verantwortung des Wissenschaftlers. Von Brigitte Kohn
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Birnstiel, Peter Weiß, Christian Baumann
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Dr. Alexander Blum, Physikhistoriker, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin
Literaturtipps:
Kai Bird und Martin J. Sherwin: J. Robert Oppenheimer. Die Biographie. Ullstein Verlag Berlin 8. Auflage 2023.
Heinar Kipphardt: In der Sache J. Robert Oppenheimer, suhrkamp Verlag Frankfurt, 1. Auflage 2005.
James A. Hijiya: The Gita of J. Robert Oppenheimer. Proceedings oft he American Philosophical Society, Band 144, No.2, June 2000.
Robert Oppenheimer: Ausblicke auf Kunst und Wissenschaft, Physikalische Blätter 11. Jahrgang Heft 10, 1955.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik: Coming closer 0‘34
ERZÄHLERIN:
Aus dem Protokoll der Anhörung des Physikers Julius Robert Oppenheimer durch die US-amerikanischen Atomenergiekommission im Jahr 1954:
FRAGESTELLER – Zitator 1
Mr. Oppenheimer. Sie hatten schreckliche moralische Skrupel?
OPPENHEIMER – Zitator 2
Ich kenne niemanden, der nach dem Abwurf der Atombombe nicht schreckliche moralische Skrupel gehabt hätte.
FRAGESTELLER: Zitator 1
Ist da nicht ein bisschen schizophren?
OPPENHEIMER: Zitator 2
Was? Moralische Skrupel zu haben?
Musik: Legende für Klavier zu 4 Händen 0‘38
ERZÄHLERIN
50 Jahre zuvor. Robert Oppenheimer wird am 22. April 1904 in New York geboren.
Beide Eltern, ein Textilingenieur und eine Malerin, sind Juden und haben deutsche Wurzeln. Der Vater ist mit 17 Jahren nach New York gekommen und hat es hier zu Reichtum gebracht. Robert ist der ältere von zwei Söhnen, ein sensibles und ungeheuer aufgewecktes Kind mit dichten schwarzen Locken und ausdrucksvollen wasserhellen Augen. Beide Eltern vergöttern ihn und fördern ihn nach Kräften. Ihre Ansprüche an Roberts Leistungsbereitschaft und auch an die innerfamiliäre Harmonie sind hoch, und das erzeugt manchmal Druck.
ERZÄHLER:
Er sei ein gehorsamer und grässlich guter Junge gewesen, sagt Oppenheimer später von sich selbst. Was ihm gefehlt habe, sei die gesunde Möglichkeit gewesen, sich auch mal danebenzubenehmen.
ERZÄHLERIN:
Die Eltern sind fortschrittlich eingestellt und nicht religiös. Sie schicken ihren Sohn auf die Schule der Society for Ethical Culture, Gesellschaft für ethische Kultur, die sich einem weltlichen jüdischen Humanismus verpflichtet fühlt, sagt Alexander Blum, Physikhistoriker am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.
01 O-TON DR. BLUM
Seine Eltern wollten sich assimilieren in der amerikanischen Haute Volee. Die religiösen Traditionen waren nicht wichtig, aber gewisse kulturelle Elemente des Judentums kann man durchaus wiedererkennen. Es ist ein sehr optimistisches Weltbild, ein Weltbild, wo auch der Verstand und die Wissenschaft als positive Kräfte gesehen werden, die, wenn der Mensch sie zu gebrauchen weiß, die Welt zu einem besseren Ort machen können.
Musik: This one question 0‘28
ERZÄHLERIN:
Die Schule betont die Handlungsfähigkeit und die moralische Verantwortung des Einzelnen. Vom Menschen hänge alles ab, der Mensch dürfe sich viel zutrauen, er müsse sich aber auch stark in die Pflicht nehmen. Die Erwartungen sind also auch hier sehr hoch. Der Glaube an eine übergeordnete, göttliche Instanz, die lenkt oder schützt, spielt kaum mehr eine Rolle.
ERZÄHLER:
Oppenheimers enger Freund, der Physiker Isidor Isaac Rabi, überliefert in späteren Jahren, Oppenheimer habe skeptisch auf seine Schulzeit zurückgeblickt. Die übermittelten Moralvorstellungen hätten seine Fragen nach der Stellung und Aufgabe des Menschen im Universum nicht zufriedenstellend lösen können.
ERZÄHLERIN:
Aber es gibt viele engagierte Lehrer an dieser Schule, die Robert vor allem für die Naturwissenschaften begeistern, aber auch für alles andere: moderne Literatur, Sprachen, Philosophie, Psychologie. Seine vielseitigen Begabungen verführen ihn oft dazu, sich zu zerfleddern, sich zu viel zuzumuten und sich von Gleichaltrigen, die ihn manchmal hart schikanieren, zu isolieren.
ERZÄHLER:
Auch an der Universität Harvard bedeuten ihm Bücher mehr als Freunde, und sein ruheloser Geist probiert sich ohne festen Plan in zahlreichen Fächern aus. Aber die Physik fesselt ihn auf Dauer am meisten, denn sie bietet mehr Neuland als jede andere Wissenschaft.
02 O-TON DR. BLUM
Da hat sich wahnsinnig viel getan um die Jahrhundertwende. Paul Dirac, einer der Pioniere der Quantenmechanik, beschreibt die Zeit als das Goldene Zeitalter der Physik, in der jeder mittelmäßige Physiker erstklassige Entdeckungen machen konnte, weil mit der Quantenmechanik ein ganz neuer mathematischer Rahmen gegeben war, mit der man die Welt in einem ganz neuen Blickwinkel betrachten konnte.
ERZÄHLERIN:
Nach seinem Abschluss in Harvard geht Oppenheimer nach Europa, denn dort lehren die führenden Kapazitäten.
03 O-TON BLUM:
Anders als bei der Relativitätstheorie, die man auf einen Menschen, letztlich auf Einstein, zurückführen kann, war die Quantenmechanik wirklich ein kollaboratives Projekt, zu dem Wissenschaftler in verschiedenen Zentren, die über Europa verstreut waren, beigetragen haben. Und Oppenheimer hat die eigentlich alle abgehakt. Er ist von Cambridge nach Leiden zu Ehrenfest, war dann in Göttingen bei Max Born, in Zürich bei Wolfgang Pauli. Diese Generation, etwas älter als er, die die Quantenmechanik begründet haben, da hat er wirklich bei allen vorbeigeschaut.
ERZÄHLERIN:
Oppenheimers Lehrer finden ihn begabt und kreativ, aber auch sprunghaft und arrogant. Und ungeschickt. Beim Experimentieren im Labor gehen ihm oft die Instrumente zu Bruch. Von Einsamkeit und Versagensängsten gequält, gerät er in eine tiefe seelische Krise.
Musik: Secret proofs 0‘30
ERZÄHLER:
Manchmal fühlt er sich wie versteinert, dann wieder kochen die Aggressionen hoch. Dem Laborleiter will er mal einen vergifteten Apfel aufs Pult gelegt haben, so kolportiert er es selbst – doch sicher belegt ist das nicht, manche führen die Geschichte auf seine überhitzte Phantasie zurück.
ERZÄHLERIN:
Langsam findet Oppenheimer wieder in die Spur, dank seiner wachsenden Liebe zur theoretischen Physik. Quantentheoretisch und mathematisch, bisweilen auch philosophisch orientiert, bietet sie ihm den Zufluchtsraum des abstrakten Denkens und bringt ihm die Geheimnisse des Universums näher. Wenige Jahre später wird sie ihm die Grundlagen für den Atombombenbau liefern – mit verheerenden Folgen.
04 O-TON Dr. BLUM:
Alles, was Oppenheimer gemacht hat, von seinen ersten Arbeiten zu Molekülen bis hin zur Atombombe, das war alles Quantenphysik, letztlich.
ERZÄHLERIN:
1929 tritt er eine Stelle an der Universität von Berkeley in Kalifornien an und macht die Quantenphysik auch in Amerika bekannt. Seine Studenten verehren ihren jungen exzentrischen Lehrer, der immer mit seinem geliebten breitkrempigen Hut und einer Zigarette im Mundwinkel vor der Tafel steht und gern auch mal privat ein paar Drinks ausgibt. Neben seiner Lehrtätigkeit schreibt Oppenheimer viel beachtete Aufsätze, unter anderem zur Zusammenführung von Quantentheorie und Relativitätstheorie.
Musik: This is strange 0‘35
ERZÄHLER:
Allerdings ist er oft zu ungeduldig und sprunghaft, um alle Probleme im Detail zu durchdenken. Eigenschaften, die er wohl auch ab dem Jahr 1942, als er für das so genannten „Manhattan-Projekt“, die Entwicklung der Atombombe arbeitet, auch nicht ganz ablegen kann.
Der Physiker Oppenheimer hätte im Laufe seines Lebens eigentlich gerne, wie so einige seiner damaligen Kollegen, einen Nobelpreis gewonnen, doch die zeitaufwändige Leitung des „Manhattan-Projekts“ hat ihm das möglicherweise auch vermasselt. Dazu der Physikhistoriker Alexander Blum:
05 O-TON DR. BLUM:
Wenn man das Manhattan-Projekt rausschneidet und sich nur die Arbeiten anguckt, die er letztendlich geschrieben hat, dann ist er ein solider, aber nicht herausragender Physiker im 20. Jahrhundert. Er hat sich mit Fragen beschäftigt, die dann sehr wichtig wurden, und die Frage ist immer: Wenn er nicht der Leiter des Manhattan-Projekts gewesen wäre, sondern sich der reinen Wissenschaft hätte widmen können, ob er dann nicht gewisse Entdeckungen gemacht hätte, die andere dann stattdessen gemacht haben.
Musik: Immer mehr (reduced 2) 0‘34
ERZÄHLERIN:
Entspannung findet der ehrgeizige junge Dozent in der Wüste von New Mexico, eine Landschaft, in die er sich verliebt hat und die er oft besucht, um sie auf langen Ausflügen auf dem Pferderücken zu erkunden. Reiten ist seine Passion, außerdem die Literatur und das Studium des Sanskrit. Die Bhagavad Gita, eine jahrtausendealte heilige Schrift des Hinduismus, zieht ihn sein Leben lang in ihren Bann.
ERZÄHLER:
Die Bhagavad Gita lehrt die Menschen unter anderem, die Pflichten ihres Standes zu erfüllen und die Pflichten anderer Stände zu respektieren, ohne sich einzumischen. Die Konsequenzen von Handlungen seien abhängig vom Zusammenwirken der Stände und vom Wirken einer höheren Macht, aber nicht vom Willen und den ethischen Maßstäben eines Einzelnen.
ERZÄHLERIN:
Der Gedanke der Pflichterfüllung gibt Oppenheimer innere Ruhe. Er kann nun die Fragen nach Gut und Böse und individueller Verantwortung, die seine Jugend geprägt haben, zugunsten der Frage zurückstellen, was er selbst zum Gesamtzusammenhang beitragen kann. Und da liegt für ihn die Antwort auf der Hand: Es sind seine wissenschaftlichen Fähigkeiten, die die Gesellschaft braucht; für andere Bereiche gibt es andere Experten.
Musik: In der Finsternis 0‘27
Doch die Weltwirtschaftskrise verursacht seit Anfang der Dreißigerjahre viel Not und stört den Gesamtzusammenhang erheblich. 1933 ergreift Hitler in Deutschland die Macht.
ERZÄHLER:
Das erfüllt Oppenheimer mit Wut und Sorge um das Schicksal der deutschen Juden. Aber es gibt für ihn eine andere Lehre, die verspricht, Gerechtigkeit herzustellen und die verstörte Welt zu heilen: Das ist der Kommunismus. Oppenheimer interessiert sich dafür wie viele andere junge Intellektuelle auch. Zwar tritt er nie in die Kommunistische Partei der USA ein, aber er beteiligt sich an vielen Aktivitäten und knüpft viele Freundschaften, auch zu Frauen. Er ist selbstsicherer und geselliger geworden und gilt sogar als sehr charmant.
Musik: Recalling the trauma 0‘31
ERZÄHLERIN:
Die Medizinerin Jean Tatlock, (sprich: Schien Tätlock) ist Oppenheimers erste große Liebe. Sie ist oft schwermütig, melancholisch. Sie setzt
ebenfalls Hoffnungen auf den Kommunismus. Die beiden fühlen sich eng verbunden, aber es ist kompliziert, und Jean schreckt vor einer Ehe zurück.
ERZÄHLER:
1940 heiratet Oppenheimer eine andere, die Botanikerin Katherine Puening Harrison, genannt Kitty. Sie bekommen einen Sohn und eine Tochter. Seit 1942 lebt die Familie in Los Alamos, New Mexico, denn der inzwischen 38jährige Oppenheimer hat die Stelle des wissenschaflichen Leiters des Manhattan-Projekts bekommen, das die erste Atombombe der Welt entwickeln soll. Man will schneller sein als Hitlerdeutschland, wo man ähnliche Aktivitäten vermutet.
07 O-TON BLUM:
Die sehr reelle Möglichkeit einer Nazibombe war für die meisten das Hauptargument, da mitzumachen, und ich würde auch sagen, ein völlig legitimes Argument.
ERZÄHLERIN:
Mehrere Hundert Menschen arbeiten in Los Alamos, darunter exzellente Physiker aus verschiedenen Ländern. Oppenheimer ist ein guter Leiter, der die Leute motivieren, Ergebnisse zusammenführen und die Arbeit zügig vorantreiben kann.
ERZÄHLER:
Wenn man ein Wissenschaftler sei, so glaube man, dass es gut sei, herausfinden, wie die Welt funktioniert, sagt er später. Wenn man auf reizvolle technische Herausforderungen stoße, dann packe man sie an und arbeite so lange an ihnen, bis man Erfolg habe. Und so sei es auch bei der Atombombe gewesen.
08 O-TON DR. BLUM:
Man sitzt da in der Wüste, während draußen die Welt brennt und man weiß, man ist dabei, das alles zu entscheiden, und das würde die Welt dann auch grundlegend verändern, das ist schon alles sehr aufregend.
Musik: Dark operation 0‘35
ERZÄHLERIN:
Kitty Oppenheimer ist mit ihrem isolierten Hausfrauendasein im Schatten einer bedrohlichen Zukunft unzufrieden und trinkt viel zu viel. Robert magert ab und raucht ununterbrochen. Als er sich einmal eine Stippvisite nach Berkeley mit Übernachtung bei seiner Ex-Geliebten Jean Tatlock gestattet, beschatten Agenten der US-Armee ihr Treffen. Es wird das letzte sein, denn Jean geht es schlecht. 1944 bringt sie sich um.
ERZÄHLER:
Sie sei froh, einer kämpfenden Welt die Last ihrer gelähmten Seele abnehmen zu können, schreibt sie in ihrem Abschiedsbrief.
ERZÄHLERIN:
Auch im Labor gibt es Konflikte. Hitlerdeutschland steuert seinem Untergang entgegen, auf die Existenz einer Nazibombe deutet nichts hin, und immer mehr Physiker von Los Alamos zweifeln an Sinn und Zweck ihres Tuns. Aber Oppenheimer ist ziemlich gut darin, ihnen die Skrupel auszureden. Im Mai 1945 kapituliert Deutschland, und Präsident Harry Truman beschließt, die Bombe über Japan abwerfen zu lassen, einem Mitglied der feindlichen Achsenmächte, das sich gegen die Kapitulation sinnloserweise noch sträubt.
ERZÄHLER:
Truman wird den Abwurf der Atombombe sein Leben lang mit dem Argument verteidigen, sie habe den Krieg abgekürzt und „das Leben Abertausender junger Amerikaner“ gerettet. Viele Projekt-Mitarbeiter damals und Historiker heute vermuten eher, die Bombe sei eingesetzt worden, um den Anteil der Sowjetunion am Sieg und damit auch den Einfluss der kommunistischen Großmacht in der Nachkriegszeit zu schmälern.
ERZÄHLERIN:
In Los Alamos finden damals jedoch viele, das sei kein ausreichender Grund, um eine Massenvernichtungswaffe mit unkalkulierbarer Zerstörungskraft gegen die japanische Zivilbevölkerung zu richten, noch dazu ohne Vorwarnung und ohne letztes Ultimatum. Sie wollen Präsident Truman dazu bewegen, sich auf einen demonstrativen Test zu beschränken.
ERZÄHLER:
Oppenheimer wehrt das Ansinnen heftig ab. Leute, die nichts von der japanischen Mentalität verstünden, sollten die Entscheidung besser militärischen Experten überlassen, hält er dagegen und setzt sich durch.
Musik: Nuclear division (b) 0‘30
ERZÄHLERIN:
Und so berät er das Militär bei der Auswahl der zu bombardierenden Städte und versorgt die Piloten mit genauen Anweisungen zu Wetterlage und Flughöhe, damit der zu erwartende Schaden möglichst groß ausfällt. Die Welt soll sehen, welche Risiken das nukleare Zeitalter bereithält, und das Kriegsführen im Zukunft einstellen. Alexander Blum geht davon aus …
09 O-TON BLUM:
… dass er mehr wollte, als einfach nur der Vater der Atombombe zu sein, sondern er wollte der Vater des durch die Atombombe entstandenen Weltfriedens sein. Da hat er sich wohl auch zurechtgelegt, dass, wenn die Atombombe wirklich das Ende aller Kriege darstellen sollte, dann werde sie wohl auch einmal im Krieg eingesetzt werden müssen.
Nuclear plant (2) 0‘32
Atmo Atombombe
ERZÄHLERIN:
Am 6. August 1945 legt die Atombombe Hiroshima in Schutt und Asche, drei Tage später fällt eine weitere auf Nagasaki. Zehntausende Menschen sterben in Sekunden, Zehntausende Monate und Jahre später an den Folgen ihrer Verletzungen oder der Strahlung. Das Trauma dieser ungeheuren Zerstörung wirkt in Japan und in der Welt bis heute nach.
ERZÄHLER:
Nun bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten. So heißt es, frei übersetzt, in der Bhagavad Gita.
ERZÄHLERIN:
Die amerikanische Öffentlichkeit feiert ihn als den neuen Prometheus, der den Menschen das atomare Feuer gebracht und den Krieg beendet habe.
Musik: Cold shimmer (reduced 2) 0‘34
Doch Oppenheimer selbst fällt in eine Depression. Die zahllosen Toten belasten ihn unendlich, und dass die Atombombe nötig gewesen sei, um den Frieden herbeizuführen, daran zweifelt er irgendwann auch.
ERZÄHLER:
Sein Zustand sei schrecklich gewesen, überliefert seine Frau Kitty. Sie habe nicht gewusst, wie es weitergehen solle.
ERZÄHLERIN:
Doch eine Hoffnung bleibt Oppenheimer: dass die Menschheit des nuklearen Zeitalters die Gefahr ihrer atomaren Vernichtung ernst nehmen und lernen könne, in Frieden zu leben. 1947 wird er Direktor des Institute for Advanced Study in Princeton und setzt sich als Berater der Regierung und der amerikanischen Atomenergiebehörde für internationale Waffenkontrollabkommen ein. Die Wissenschaftsgemeinde unterstützt ihn, doch viele Kollegen finden ihn zu nachgiebig und schwach im Umgang mit Politikern.
ERZÄHLER:
Im Gespräch mit dem US-Präsidenten legt er seine Schuldgefühle offen: Er habe Blut an seinen Händen, sagt er. Peinlich berührt befiehlt Truman seiner Sekretärin, ihm Oppenheimer, das Cry-Baby, künftig vom Hals zu halten.
Musik: War is coming 0‘47
ERZÄHLERIN:
Seit 1949 verfügt auch die Sowjetunion über eine Atombombe. Das Wettrüsten des Kalten Krieges beginnt, die Atomwaffenarsenale wachsen. Die US-Regierung beschließt die Entwicklung einer Wasserstoffbombe mit noch sehr viel höherem Vernichtungspotential. Oppenheimer steuert ein paar wissenschaftliche Ratschläge bei, aber das Sofortprogramm geht ihm zu schnell, er plädiert für Verhandlungen mit den Sowjets. Damit macht er sich die Atomenergiebehörde zum Feind – die zudem von der antikommunistischen Hysterie der McCarthy-Ära befeuert wird.
ERZÄHLER:
Man wirft Oppenheimer Folgendes vor: erstens, dem Kommunismus zugeneigt zu sein, was die Möglichkeit einschließt, Spionage zugunsten der Sowjets in Los Alamos zumindest nicht verhindert zu haben. Zweitens, und das wiegt noch schwerer: durch seinen Widerstand gegen die Wasserstoffbombe nationale Interessen zu beschädigen.
ERZÄHLERIN:
Man will Oppenheimer politisch kaltstellen. Dazu muss man ihm seine Sicherheitsfreigabe streitig machen, also die Berechtigung, Zugang zu geheimen Regierungsinformationen zu haben. 1954 wird der Sicherheitsausschuss der Atomenergiebehörde einberufen, der Oppenheimer auf den Zahn fühlen soll.
ERZÄHLER:
Es ist nur eine interne Überprüfung, keineswegs ein juristisches Verfahren. Aber sie gerät zum öffentlichen Tribunal, weil die Presse Zugriff auf die Protokolle der Anhörung bekommt. Der Mann, der nur wenige Jahre zuvor als „Amerikas Prometheus“ gefeiert wurde, steht nun unter extremem Druck.
10 O-TON DR. BLUM:
So wird das Ganze eben wirklich zu einer Bewertung seines ganzen Lebens und seiner gesamten Karriere. So was, und dann noch in einer feindseligen Atmosphäre, das ist für jeden anstrengend, wenn man sich für alles, was man je gemacht hat, rechtfertigen muss. Sowohl auf politischer als auch auf persönlicher Ebene, weil diese Sachen bei ihm sehr verquickt sind dadurch, dass seine Frauengeschichten sehr eng mit der kommunistischen Partei verbunden waren.
Musik: Coming closer 0‘35
FRAGESTELLER – Zitator 1
Sie hatten schreckliche moralische Skrupel?
OPPENHEIMER – Zitator 2
Ich kenne niemanden, der nach dem Abwurf der Atombombe nicht schreckliche moralische Skrupel gehabt hätte.
FRAGESTELLER: Zitator 1
Ist da nicht ein bisschen schizophren?
Das Ding zu machen, die Ziele auszusuchen, die Zündhöhe zu bestimmen und dann über den Folgen in moralische Skrupel zu fallen? Ist das nicht ein bisschen schizophren, Doktor?
OPPENHEIMER: Zitator 2
Ja. Es ist die Art von Schizophrenie, in der wir Physiker seit einigen Jahren leben.
ERZÄHLERIN:
Der deutsche Dramatiker Heinar Kipphardt hat aus den Protokollen der Sicherheitsanhörung ein Theaterstück verfertigt. Für ihn ist Oppenheimer keine rundweg positive Figur, sondern jemand, der sich oft herauswindet und sich in Allgemeinplätze flüchtet.
Musik: Coming closer 0‘15
OPPENHEIMER: Zitator 2
Die Welt ist auf die neuen Entdeckungen nicht eingerichtet. Sie ist aus den Fugen.
FRAGESTELLER: Zitator 1
Und Sie sind ein bisschen gekommen, sie einzurenken, wie Hamlet sagt?
OPPENHEIMER: Zitator 2
Ich kann es nicht. Sie muss das selber tun.
ERZÄHLERIN:
Oppenheimer ist mit Kipphardts Theaterstück übrigens nicht einverstanden, denn der Autor legt dem Hauptdarsteller eine fiktive Schlussrede in den Mund, die seine Reue zum Ausdruck bringt. Aber der wirkliche Oppenheimer bereut seine Rolle im Manhattan-Projekt durchaus nicht – allen Skrupeln zum Trotz.
ERZÄHLER:
Er sei als Physiker dem wissenschaftlichen Fortschritt verpflichtet und habe seine Aufgabe erfüllt. Die Gesellschaft müsse lernen, mit den Ergebnissen umzugehen, das ist sein Standpunkt. Alexander Blum findet ihn nicht sehr überzeugend.
11 O-TON ALEXANDER BLUM:
Er ist berühmt, weil er sich als erster diesem Dilemma hat stellen müssen, der Verantwortung des Wissenschaftlers, aber er ist nicht dafür berühmt, dass er es besonders elegant gelöst hat. Letztlich war die Lösung, die er versucht hat anzubieten, eben dieses Fortschrittsnarrativ. Dass letztlich Wissen nicht verhindert werden kann und auch nicht schlecht sein kann und letztlich nur dazu dienen kann, die Menschheit voranzubringen und einer rosigen Zukunft zuzuführen. Diese Fortschrittsnarrativ war schon damals am Kippen und ist heute unpopulärer denn je.
Musik: Everyone sleeps 0‘45
ERZÄHLERIN:
Zum Schluss wird ihm die Sicherheitsfreigabe aberkannt, und das ist das Ende seiner Laufbahn als Politikberater. Oppenheimer nimmt die Entscheidung fast demütig an. Zwar freut er sich, als man ihm später in der Kennedy-Ära hohe Preise zukommen lässt. Aber inzwischen ist er schwer an Kehlkopfkrebs erkrankt. Dem Tod sieht er mit Ruhe und Würde entgegen. Robert Oppenheimer stirbt am 18. Februar 1967 im Alter von 62 Jahren.
Rassismus ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Beim Thema Gesundheit kann er im schlimmsten Fall lebensgefährlich sein. Vorurteile aufgrund von Herkunft oder Hautfarbe und eine Ausrichtung der medizinischen Forschung am weißen, männlichen Körper führen zu Benachteiligung und ungenauen oder falschen Diagnosen. Von Lena Sauerer
Credits
Autorin dieser Folge: Lena Sauerer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Xenia Tiling, Friedrich Schloffer, Julia Cortis
Technik:
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Janice Owen-Aghedo, Betroffene
Cihan Sinanoğlu, DeZIM-Institut
Ephsona Shencoru, Dermatologin
Theda Borde, Empowerment für Diversität
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZSP_1 O-TON JANICE - Methoden
Meine Endometriose war oder ist sehr, sehr schlimm ausgeprägt gewesen. Ich habe alle möglichen Formen von Methoden versucht, um irgendwie besser durch den Alltag zu kommen.
SPRECHERIN
Janice Owen-Aghedo hat Endometriose, eine Krankheit, bei der Gewebe, das der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, außerhalb der Gebärmutter wächst. Viele Betroffene haben chronische Schmerzen und müssen versuchen, so gut es geht, damit zu leben. Auch Janice Owen-Aghedo. Vor gut fünf Jahren recherchiert sie nach Methoden, um ihre Schmerzen erträglicher zu machen und vereinbart danach einen Termin bei ihrem Gynäkologen …
ZSP_2 O-TON JANICE - Yoni
… und habe dann auch meinem Arzt erzählt, dass in, ich sage mal, eher in der nicht westlichen Medizin auch eine Form von Yoni-Steaming, nenne ich das mal, gilt, um Schmerzen zu lindern, um Krämpfe zu lindern.
SPRECHERIN
Yoni-Steaming, ein Dampfsitzbad, dessen Wirkung zwar nicht wissenschaftlich belegt ist, aber den Unterleib entspannen soll.
ZSP_3 O-TON JANICE - Buschmedizin
… und er hat mir dann gesagt, von welcher Buschmedizin ich jetzt hier reden würde, und, ja.
SPRECHERIN
„Buschmedizin“. Ein Begriff, der Janice Owen-Aghedo weh tut. Sie fühlt sich als Schwarze Frau von ihrem Arzt einkategorisiert und rassistisch angegriffen. So und so ähnlich geht es ihr bei einigen Arztbesuchen, erinnert sie sich.
ZSP_4 O-TON JANICE - dramatisch
Ich wurde sowieso auch mit meinen Symptomen nie ernst genommen und ich sage mal, wenn ich dann noch irgendwie mit, ja als schwarze Frau in eine Praxis gekommen bin, wurden sehr oft so Sachen gesagt wie, ja ihr, ihr seid immer so dramatisch.
SPRECHERIN
Ihr, die Anderen. Aussagen, die Janice Owen-Aghedo abgrenzen, weil sie Schwarz ist. Als Frau hat sie es im Gesundheitssystem ohnehin schwerer, ernst genommen zu werden: Studien aus den USA und Israel zeigen zum Beispiel, dass Frauen seltener und weniger starke Schmerzmittel bekommen als Männer und länger auf die Behandlung warten müssen. Forschende aus Schweden fassen in einer Übersichtsstudie zusammen, dass chronische Schmerzen von Frauen eher als psychisch abgetan werden.
ZSP_5 O-TON JANICE – von allen Seiten
Man geht als Frau dahin, dann geht man als schwarze Frau dahin, dann hat man vielleicht noch eine chronische Erkrankung und es kann von allen Seiten kommen und man weiß halt nicht, von welcher Seite gerade die Person einen diskriminiert.
SPRECHERIN
Mit rassistischen Äußerungen ist Janice Owen-Aghedo beim Arzt auch unabhängig von ihrer Erkrankung konfrontiert. Als sie vor einiger Zeit wegen Migräne beim Neurologen ist, läuft erstmal alles gut…
ZSP_6 O-TON JANICE - Neurologe
Und dann immer noch zum Schluss muss ja kommen: Ja wissen Sie, wo kommen Sie denn eigentlich her? Wo ich mir denke: Was hat das denn jetzt mit meinen Kopfschmerzen zu tun? Und dann habe ich halt die Frage auch nett abgewunken und gesagt: Ja, ich komme aus dem Ruhrgebiet, bin nach Düsseldorf gezogen. Nee, aber bei Ihnen, da ist doch noch irgendwas anderes drin… Wo ich mir denke: Ich bin keine Mischung, ich bin kein Tier oder so und habe dann gesagt irgendwann: Ja, mein Dad kommt aus Nigeria. Ah, Nigeria, ja, habe ich sofort gesehen. Wo ich mir denke: Bitte, was soll das und warum ist das jetzt unbedingt wichtig für meine Behandlung? Und das habe ich halt ständig
MUSIK/TRENNER
SPRECHERIN
Janice Owen-Aghedo ist mit ihren Erfahrungen nicht allein. Das belegt der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor, kurz NaDiRa, zum Thema Gesundheit. Unter dem Titel „Rassismus und seine Symptome“ haben die Forschenden 2023 ihre Ergebnisse veröffentlicht.
ZITATOR (aus NaDiRa)
Frauen geben am häufigsten an, negative Erfahrungen im Gesundheitsbereich zu machen. So sagen etwas mehr als zwei Drittel der muslimischen Frauen, sie seien schon einmal von Ärzt*innen oder sonstigem medizinischem Personal „ungerechter oder schlechter behandelt“ worden als andere. […] Mehr als zwei Drittel der Schwarzen Frauen geben an, im Gesundheitswesen ungerechter und schlechter als andere behandelt worden zu sein. […] Unter asiatischen Frauen geben knapp zwei Drittel an, dass sie im Gesundheitsbereich eine ungerechte und schlechte Behandlung erfahren haben. […] Auch knapp zwei Drittel der Schwarzen Männer geben an, im Gesundheitswesen diskriminiert worden zu sein.
SPRECHERIN
Die Ergebnisse des NaDiRa sind wichtig, denn zuvor gab es in Deutschland keine belastbaren Daten zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Trends in Bezug auf Rassismus und Diskriminierung. Bei der Rassismusforschung hinkt Deutschland hinterher.
ZSP_7 O-TON CIHAN – Rassismusforschung1
Natürlich gibt es in Deutschland Rassismusforschung seit dem Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, aber die wird eher an den Rändern des Wissenschaftsbetriebes gemacht. Und es rückt jetzt langsam immer mehr in die Mitte, ins Zentrum. Und man sieht das ja auch in den öffentlichen Debatten.
SPRECHERIN
Sagt Cihan Sinanoğlu. Der Sozialwissenschaftler leitet am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung die Geschäftsstelle für den Rassismusmonitor.
ZSP_8 O-TON CIHAN – Rassismusforschung2
Also Rassismus ist durchaus ein Thema, was immer mehr diskutiert wird, aber wurde halt in der Geschichte dieses Landes immer wieder entweder an die sozialen Ränder verschoben, also Rassismus wurde gleichgesetzt mit so Rechtsextremen, Nazis, Springerstiefel und so weiter. Dann wurde Rassismus quasi in die Geschichte verschoben, so was wie, das gab es vielleicht noch nur vor 1945, nach 1945 gab es das alles nicht mehr. Und dann wurde Rassismus auch immer wieder verschoben, und zwar territorial. Man hat immer gesagt, ja Rassismus gibt es in Frankreich, in den USA, in England, aber nicht bei uns.
MUSIK/TRENNER
SPRECHERIN
Zur Forschungslücke kommt im Bereich der Medizin noch ein strukturelles Problem: Es gilt die Norm eines weißen Mannes. Konkret heißt das, Medikamente werden auf einen „weißen Mann“ abgestimmt, Geräte auf ihn eingestellt. Frauen, Schwarze Menschen, People of Color und alle anderen, die von der Norm abweichen, haben dann möglicherweise eine schlechtere Chance auf eine adäquate Gesundheitsversorgung. Oft wird ihnen darüber hinaus auch vorgeworfen, bei Schmerzen zu übertreiben:
ZSP_9 O-TON CIHAN – Morbus Mediterraneus
Es gibt in der Forschung einen Begriff, der tatsächlich nicht gelehrt wird an den Universitäten, der aber quasi trotzdem noch benutzt wird in Kliniken. Und zwar der Morbus Mediterraneus oder Morbus Bosporus genannt oder Mamma Mia-Syndrom. Also alle diese Worte beschreiben eigentlich, dass die Frauen aus dem globalen Süden oder aus dem Mittelmeerraum in ihrem Schmerzempfinden übertreiben würden. Und das wollten wir empirisch überprüfen, ob das denn stimmt, ob wirklich die Patientinnen diese Erfahrungen machen. Und sie machen sie. Und zwar vor allen Dingen die von Rassismus betroffenen Frauen. Die geben zwischen 30 und 40 Prozent an, dass ihre Symptomatiken von Ärzt*innen nicht ernst genommen werden.
[[SPRECHERIN
Die Ergebnisse der Studie passen zu den Erfahrungen, die Janice Owen-Aghedo, die Endometriose-Patientin, gemacht hat, als sie in der Praxis mit ihren Schmerzen als „dramatisch“ abgestempelt wurde. ]]
SPRECHERIN
Paradoxerweise kursiert gleichzeitig unter Medizinern die Annahme, dass Schwarze Menschen weniger Schmerzen empfinden bzw. diese besser aushalten würden.
ZITATORIN Lilliane - NaDiRa
Im Gesundheitswesen denken viele, dass Schwarze Menschen viele Schmerzen aushalten können, weil sie kommen aus Ländern, wo viele arm sind und wo man nicht viel hat, wo man mit Schmerzen umgehen lernen musste, wo medizinische Versorgung eh total schlecht ist, deswegen kann man die lange warten lassen – also wie in meinem Fall.
SPRECHERIN
Das sagt Lilliane im Rahmen einer Befragung des NaDiRa. Medizinische Fachkräfte verbinden ihr Bild von Schwarzen Patienten und Patientinnen mit stereotypen Annahmen über die Gesundheitsversorgung in ökonomisch schlechter gestellten Ländern, erklärt die Studie.
MUSIK/TRENNER
SPRECHERIN
Rassismus setzt sich – ob bewusst oder unbewusst – im Wissen der Ärzte fest, was wiederum Folgen für die Diagnostik haben kann.
ZITATORIN Rose – NadiRa (aus dem Englischen)
Du gehst zum Frauenarzt, und sie fragen dich: ‚Haben Sie schon einen HIV-Test gemacht?‘ Nur weil du Schwarz bist, wollen sie dich testen.
SPRECHERIN
Das sagt Rose in einer Befragung des NaDiRa, dem Rassismus-Monitor. Während Schwarze Frauen berichten, dass sie in der Gesundheitsversorgung hypersexualisiert werden und ihnen deshalb häufig Tests für sexuell übertragbare Krankheiten oder HIV-Infektionen angeboten werden, ist es bei muslimisch gelesenen Frauen genau andersherum: Ihnen wird eine eigenständige Sexualität abgesprochen und Tests auf Geschlechtskrankheiten nicht durchgeführt. Aufgrund von bestimmten äußerlichen Merkmalen wie Hautfarbe, Name oder Kleidung werden Menschen mit einem Herkunftsland, speziellen Krankheiten oder Verhaltensweisen assoziiert. Janice Owen-Aghedo hat erlebt, zu was so eine Stigmatisierung führen kann. Eine Schwarze Person in ihrer Familie erkrankt vor einigen Jahren schwer an Krebs und muss im Krankenhaus behandelt werden.
ZSP_10 O-TON JANICE – afrikanischer Mann
Ich habe es live mitbekommen, wie gesagt worden ist, ein wilder afrikanischer Mann würde hier um sich schlagen, obwohl dieser Person einfach ein falsches Medikament verabreicht worden ist, wo die Person darauf reagiert hat.
SPRECHERIN
Dass Janice Owen-Aghedos Familienmitglied Halluzinationen aufgrund des Medikaments bekommen haben könnte, wird erstmal nicht in Erwägung gezogen. Stattdessen wird die Person ans Bett gefesselt, erzählt sie.
ZSP_11 O-TON JANICE – furchtbare Erfahrung
Also das war für uns als Familie einfach nur grauenhaft. Eine furchtbare Erfahrung und ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, wenn da eine Person gelegen hätte, die männlich weiß und mit Nachnamen Meier-Schmitz keine Ahnung wie heißen würde, wäre das nicht passiert.
MUSIK
[[SPRECHERIN
Was bei einer Behandlung erschwerend hinzukommen kann, ist eine mögliche Sprachbarriere. Darüber macht sich auch Janice Owen-Aghedo Gedanken.
ZSP_12 O-TON JANICE – akzentfrei Deutsch
Ich muss dazu noch sagen, ich habe das Privileg, dass ich hier geboren worden bin, ich bin hier zur Schule gegangen, ich spreche akzentfrei Deutsch und kann mich sehr gut selbstständig artikulieren und auch für mich einstehen, aber ganz häufig können das andere Menschen, die hier hinkommen und Hilfe brauchen, nicht.]]
SPRECHERIN
Politologin und Gesundheitswissenschaftlerin Theda Borde forscht seit 30 Jahren zu Migration und Gesundheit. In einer früheren und in einer 2024 veröffentlichten Studie haben die Wissenschaftlerin und ihr Team herausgefunden, dass Frauen, die nicht gut Deutsch sprechen, weniger häufig eine Periduralanästhesie, kurz PDA, zur Linderung ihrer Geburtsschmerzen bekamen.
ZSP_13 O-TON THEDA – pauschale Vorurteile
Und da war jetzt dann die Annahme, dass es daran liegt, dass die Patientinnenaufklärung, die dafür erforderlich ist, nicht durchgeführt wurde und dass man gleichzeitig natürlich auch Vorannahmen hat über bestimmte Bevölkerungsgruppen, dass sie Schmerz besser aushalten oder was auch immer. Also auch da sehen wir ganz deutlich, dass hier die Medizin, die ja eigentlich individuell agiert, mit pauschalen Vorurteilen agiert und nicht den Menschen selber in seinen Wünschen, in diesem Fall dann respektiert.
SPRECHERIN
Von den Menschen, die neu nach Deutschland kommen, bräuchte eigentlich die Hälfte eine Sprachmittlung, sagt Theda Borde. Dafür gebe es in Deutschland aber keine zuverlässige Struktur, Finanzierung und Ausstattung. Bedeutet: Sie werden strukturell ausgegrenzt. Eine Sprachbarriere kann im Krankenhaus, wo unter Zeitdruck gearbeitet wird und eventuell zu wenig Personal da ist, dazu führen, dass Patienten und Patientinnen vernachlässigt werden: Die, die leichter zu versorgen sind, werden eher versorgt. Das hat auch eine Befragung unter geflüchteten Frauen gezeigt. Theda Borde erinnert sich an die Aussage einer Mutter, die aus Afghanistan stammt und in Berlin lebt:
ZSP_14 O-TON THEDA – Kind schon da
Sie sagte, ich war im Krankenhaus und habe mein Kind ganz allein bekommen. Ich habe die Reinigungsfrau gebeten, den Arzt zu holen. Als sie schließlich kamen, war mein Kind schon da. Das ist also ein gravierendes Beispiel von einer Vernachlässigung und Unterversorgung von einer Frau, die im Krankenhaus war.
SPRECHERIN
Ausgrenzung und Rassismus sind gesamtgesellschaftliche Probleme, die nicht plötzlich vor der Medizin Halt machen. Gesundheitswissenschaftlerin Theda Borde:
ZSP_15 O-TON THEDA - Spektrum
Das fängt an von Ausgrenzung, Vernachlässigung oder auch von tatsächlich rassistischen Übergriffen oder auch, sage ich mal, verbalen Übergriffen. Und es ist ein breites Spektrum, es geht im Grunde los von Zugangsbarrieren. Und wir haben festgestellt in verschiedenen Studien, dass sowas wie gesellschaftlicher Rassismus sich natürlich in Institutionen fortsetzt und dann auch auf der interpersonellen Ebene eine Auswirkung hat. Das heißt, wir können das Gesundheitssystem oder die Medizin nicht losgelöst sehen von den gesellschaftlichen Verhältnissen.
ATMO (Tastatur tippen)
ZITATORIN Terminanfrage
„Sehr geehrte Damen und Herren, Ich möchte gerne einen Termin als Patientin in ihrer Praxis ausmachen. Ich habe viele Muttermale und würde die gerne mal wieder untersuchen lassen. Ich bin bei der Allianz versichert. Ich bin zeitlich flexibel und würde mich über einen Vorschlag für einen baldigen Termin freuen. Ich werde diesen dann zeitnah bestätigen. Vielen Dank für Ihre Mühe. Mit freundlichen Grüßen Elif Yilmaz“
SPRECHERIN
Eine ganz normale Terminanfrage. Und ein Beispiel von knapp 6800 fiktiven Anfragen, die Forscher des Rassismusmonitors an verschiedene Praxen geschickt haben. Mit dem Experiment fanden sie heraus: Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen und Männer mit einem Namen, der in Nigeria oder der Türkei verbreitet ist, eine positive Antwort auf ihre Terminanfrage erhalten, ist deutlich niedriger als bei Frauen und Männern mit einem in Deutschland verbreiteten Namen. Besonders deutlich sind die Unterschiede bei psychotherapeutischen Praxen.
MUSIK/TRENNER
SPRECHERIN
Das Problem ist: Wer erst nach etlichen Anfragen einen Termin bekommt, verliert Zeit. [[Wer sich mit seinen Symptomen nicht ernst genommen fühlt, wechselt womöglich häufig die Praxis oder geht irgendwann überhaupt nicht mehr hin – auch das kostet Zeit.]]
ZSP_16 O-TON CIHAN - lebensbedrohlich
Wir wissen auch aus der Forschung, dass diese Verzögerungen natürlich lebensbedrohliche Ausmaße annehmen können. Manchmal zählt jede Minute, jede Sekunde. Und das ist, finde ich, auch ein Befund, der uns aufhorchen lassen sollte.
MUSIK
ZSP_17 O-TON CIHAN – Leben und Tod
… weil Gesundheit über Leben und Tod natürlich entscheidet, vor allem die Gesundheitsversorgung, entscheiden kann.
MUSIK
[[SPRECHERIN
Daten aus den USA zeigen zum Beispiel, dass Schwarze Frauen ein knapp 3,5-mal so hohes Risiko haben als weiße Frauen, in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder danach zu sterben. Während der Corona-Pandemie starben Schwarze US-Amerikaner überdurchschnittlich oft. Janice Owen-Aghedo macht das wütend.
ZSP_18 O-TON JANICE – tötet
Also ich sage das immer und ich meine genauso wie ich das sage, Rassismus in der Medizin tötet. Menschen gehen nicht mehr zu Ärztinnen, weil sie Angst haben, dort schlecht behandelt zu werden und daraufhin erleiden sie vielleicht Erkrankungen, die man hätte vorher erkennen können oder bekommen einfach nicht die Hilfe, die sie brauchen.]]
MUSIK/TRENNER
SPRECHERIN
Eine ungleiche Behandlung von Patienten und Patientinnen steht eigentlich den ethischen Prinzipien ärztlichen Handelns entgegen. So heißt es im Gelöbnis der Deklaration von Genf, das Teil der Berufsordnung für Ärztinnen und Ärzte in Deutschland ist:
ZITATOR Ausschnitt Genfer Gelöbnis
Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.
SPRECHERIN
Sozialwissenschaftler Cihan Sinanoğlu findet diesen Grundsatz erstmal gut, sagt aber, dass die Gleichbehandlung nicht Praxis, sondern eher ein Ziel sei.
ZSP_19 O-TON CIHAN - Eid
Also es wäre schön, wenn es die Praxis gäbe, dann hätten wir diese Studie nicht machen müssen, weil wir gesagt hätten, nein, die haben doch alle den Eid geschworen, also gibt es kein Problem. Wir wissen aber, dass Rassismus so nicht funktioniert. [[Also er wirkt auch dann, wenn diese Selbstverständnisse so artikuliert werden.]] Welcher Mensch sagt denn, ich bin ein Rassist, ich behandle Menschen ungleich? Sondern es hat was damit zu tun, dass dieses rassistische Wissen eingeschrieben ist in die Institution. Nicht der Eid ist das Problem, aber quasi die kritische Auseinandersetzung damit. Ist es denn wirklich so, dass ich alle Menschen gleichbehandle? Dieser Eid manchmal wie so ein Schutzschild. Man sagt, nein, warum, ich habe doch ein Eid geschworen, ich behandle alle gleich, Deckel drauf, Problem gelöst.
MUSIK/TRENNER
SPRECHERIN
Rassismus ist in den Institutionen des Gesundheitswesens verankert. Und das fängt schon bei der Ausbildung an, denn Stigmatisierung findet sich auch in den medizinischen Lehrmaterialien. Cihan Sinanoğlu und sein Team haben sich angeschaut, wie Menschen, die von Rassismus betroffen sind, bebildert und beschrieben werden: Einerseits fanden sie heraus, dass von Rassismus betroffene Gruppen überproportional häufig mit Drogen und Alkoholkonsum bebildert wurden. Andererseits waren sie auch unterrepräsentiert:
ZSP_20 O-TON CIHAN - Unterrepräsentation
Zum Beispiel bei Hautkrankheiten, vor allem schwarze Haut dort, im Grunde genommen fast gar nicht bebildert wurde. Das könnte man sagen, naja, ist ja egal, dann werden die halt nicht, dann werden die so oder so bebildert. Aber bei den Hautkrankheiten, das wissen wir auch aus der Forschung, zum Beispiel Gerätschaften, die Hautscreenings machen und die feststellen wollen, ob Hautkrankheiten oder Hautkrebs vorliegen, bei schwarzer Haut nicht funktionieren, weil sie auf weiße Haut geeicht wurden.
SPRECHERIN
Das bedeutet: Mediziner sind mitunter nicht genügend ausgebildet, um Symptome auf allen Hauttönen zu erkennen – einfach, weil sie kein ausreichendes Bildmaterial dazu im Studium gesehen haben. Dieses Problem kennt auch Ephsona Shencoru. Sie ist Dermatologin und hat sich auf „skin of color“, spezialisiert. Dass dunklere Hauttypen viel seltener in Lehrbüchern abgebildet sind, sei aber nicht nur für die Dermatologie problematisch – denn auch Ärzte anderer Fachrichtungen müssen beurteilen, was sie auf der Haut sehen.
ZSP_21 O-TON EPHSONA - Hautröte
Das Wichtige oder so eine Sache, die wir alle früh lernen, ist das Erythem, das heißt die Erkennung von Hautröte. Und da ist ja auch schon der erste wichtige Unterschied, dass einfach Rötung was sehr Subjektives ist, und Rötung einfach bei jedem anders aussehen kann. Das heißt, umso dunkler der Hautton ist, dann kann ich nicht erwarten, dass ich ein lachsfarbenes Rot oder Rosa vorfinde, sondern eher vielleicht eine dunklere Pigmentierung oder etwas, was in dieses gräulich-bräunliche, bläuliche übergeht. Und das sind natürlich die wichtigen Sachen, die man wissen muss, um sie zu erkennen, um dann auch vielleicht zu erkennen, dass der Patient eine Infektion hat, um dann auch anschließend behandelt zu werden.
SPRECHERIN
Werden Alarmzeichen nicht erkannt und die Diagnose falsch oder verspätet gestellt, kann es gefährlich für Patienten werden. Zum Beispiel beim Schwarzen Hautkrebs: Eine Studie aus den USA, die Melanom-Patienten untersucht hat, fand heraus, dass die Latino- und Schwarze Bevölkerung insgesamt zwar seltener schwarzen Hautkrebs hatte, aber wenn, waren sie beim Zeitpunkt der Diagnose schon in einem sehr fortgeschritteneren Stadium.
ZSP_22 O-TON EPHSONA - Outcome
Bedeutet, dass das Outcome des Patienten auch schlechter ist. Das heißt, die Prognose schlechter, die Therapie ist viel, viel größer, viel aufwendiger und bedarf auch wahrscheinlich mehr.
SPRECHERIN
Für eine gleich gute Behandlung aller Patienten braucht es also mehr Wissen, das heißt auch mehr Repräsentation in den Lehrmaterialien.
MUSIK/TRENNER
ZSP_23 O-TON EPHSONA - aufarbeiten
Das Schöne ist ja auch da, dass die Studierenden das auch wirklich einfordern. Ich glaube, dass viele Studierende uns auch als Lehrende fragen, wie sieht das auf dunkler Haut anders aus? Was ja auch immer ein schöner Anreiz ist für die Dozierenden, nächstes Mal die Folien dann doch aufzuarbeiten.
SPRECHERIN
Bis die Wissenslücke vollständig geschlossen ist, sind extra Angebote und weitere Aufklärung nötig. Ephsona Shencoru richtete 2022 etwa eine Spezialsprechstunde an der Charité Berlin für Patienten mit „Skin of Color“ ein. Sie erinnert sich besonders an einen Patienten, der schon bei mehreren Hautärzten war und über sieben Jahre Symptome hatte.
ZSP_24 O-TON EPHSONA - Patient
[[Und diverse Diagnostik eigentlich auch schon lief, was super war, Therapie auch schon bekommen hat, aber nichts hat so richtig geholfen.]] Und der hatte letzten Endes wirklich eine Erkrankung, die ein ganz anderes Kaliber, sozusagen. Also das war eine Mykosis funguides, also das ist eine Art von Lymphom, das gehört zu der großen Gruppe. Und ist eigentlich was ganz anderes als das, auf was er bisher die ganzen Jahre behandelt worden ist. Und das war natürlich irgendwie ein sehr, sehr schönes Gefühl. Und nochmal für mich und ich glaube für mein Team auch so eine Bestätigung für die Sprechstunde, dass wir einfach Patienten den Raum geben können, die Möglichkeiten geben können, sich vorzustellen, wenn sozusagen bis dato sie noch nicht wirklich weitergekommen sind mit ihrer Hauterkrankung.
SPRECHERIN
Solche kleinen Erfolge lösen aber nicht das grundsätzliche Problem.
ZSP_25 O-TON EPHSONA - Ziel
Also ich sage immer, mein Ziel ist eigentlich, diese Sprechstunde gar nicht zu haben. Weil ich finde, das ist ja was, was jeder machen soll. Ich möchte auch nicht das Gefühl haben, dass dann nur manche Leute dann dafür zuständig sind. Es ist ja einfach Teil der Gesellschaft und unsere Gesellschaft ist einfach nun mal divers. Ich sehe es aber eigentlich als eine Chance, dieses Thema einfach rauszutragen.
SPRECHERIN
Dieses Ziel verfolgt auch das Projekt „Empowerment für Diversität“ an der Charité Berlin. Wissenschaftlerin Theda Borde ist dort Co-Leiterin. Seit 2022 arbeitet das Projekt mit sieben Frauenkliniken und zehn Bildungseinrichtungen in Deutschland zusammen. Die Kliniken wollen herausfinden, wo Risiken für Diskriminierung bestehen und praktische Lösungen dafür erarbeiten. Die Bildungspartner entwickeln Lehrmodule und Strategien, um rassismuskritische Inhalte in Ausbildungen, Fortbildungen und Studiengängen des Gesundheitspersonals zu verankern. 2025 soll eine für alle frei zugängliche Plattform mit dem Material gelauncht werden. Das Projekt will auch vernetzen: Kräfte bündeln, nachhaltig viele Menschen für mehr Chancengerechtigkeit erreichen.
ZSP_26 O-TON THEDA – was nützt
Was nützt der bestqualifizierte Mensch, wenn sie auf Strukturen kommt, die diese Kompetenzen gar nicht zum Zuge kommen lassen, weil Aufklärungsmaterialien nicht in verschiedenen Sprachen verfügbar sind, weil keine Sprachmittlerinnen eingesetzt werden, weil vielleicht die Kollegen nicht mitziehen. Und andererseits, was nützen uns die besten Strukturen in der Gesundheitsversorgung, wenn die Kompetenzen fehlen? Also von daher ist es sehr, sehr wichtig, dass wir hier verschiedene Ebenen berühren und die auch die Synergien dazwischen weiterbeleben.
MUSIK/TRENNER
SPRECHERIN
Rassismus und damit auch Rassismus in der Medizin betrifft jeden und jede– nicht nur die, die unmittelbar darunter leiden.
ZSP_27 O-TON CIHAN - Demokratie
Und da geht es nicht nur darum, dass es jetzt quasi verändert werden muss, damit es einer Minderheit in dieser Gesellschaft besser geht, sondern die Art und Weise, wie wir mit Rassismus umgehen, ist ein Maßstab von demokratischer Entwicklung. Wenn wir es nicht schaffen, allen Gruppen, allen Menschen in dieser Gesellschaft einen gleichwertigen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, dann stimmt was mit unserer Demokratie nicht.
KURZER TRENNER
ZSP_28 O-TON JANICE – fair und gleich
Ich würde mir einfach wünschen, dass es eine faire und gleiche
Behandlung für alle Menschen gibt. Also egal, was eine Person mitbringt, sei es aufgrund ihrer Familiengeschichte, aufgrund der geschlechtlichen Identität oder anderen Themen, dass Ärzte einfach ihren Job machen und das ist, Menschen zu helfen und nicht Menschen zu diskriminieren und damit grob fahrlässig zu handeln.
Gefahren, Action und unbekannte Gefilde zogen sie unwiderstehlich an. Kaum etwas hingegen stieß sie mehr ab als Langeweile und Stillstand: die US-amerikanische Kriegsreporterin Martha Gellhorn. Von Susanne Hofmann (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Berenike Beschle, Christian Schuler
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Elisabeth Bronfen, Professorin für Anglistik und American Studies an der Universität Zürich
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
KRIEG UND (DES)INFORMATION
Alles Geschichte - History von Radiowissen hat eine spannende Staffel zum Thema:
KRIEG UND (DES)INFORMATION - Beispiel Kosovo
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KRIEG UND (DES)INFORMATION - Kriegsberichterstatterinnen
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KRIEG UND (DES)INFORMATION - Im Ersten Weltkrieg
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
In der traditionellen japanischen Kunst werden Risse im Porzellan mit Gold verziert - um die Unvollkommenheit hervorzuheben. Die "Narben aus Gold" sind auch eine Metapher. Im richtigen Leben ist das weitaus schwieriger: Rissen in der Biografie etwas Wertvolles abzugewinnen, kann zum Kraftakt werden. Doch wenn es gelingt, kann ein Mensch über sich hinauswachsen. Von Karin Lamsfuß
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Carolin Ebner
Technik: Christine Frey
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Sandra Stelzner-Mürköster, hat früh ihren Mann verloren
Peter, spielsüchtig und verschuldet
Verena König, Traumatherapeutin
Dr. Michael Schonnebeck, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter einer Tagesklinik
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literatur:
Sandra Stelzner-Mürköster: Zurück ins Leben finden. Gütersloher Verlagshaus, 2024
Doris Wolf: Einen geliebten Menschen verlieren. Begleitung durch die Trauer. PAL Verlag 2001
Claus Eurich: Die heilende Kraft des Scheiterns. Ein Weg zu Wachstum, Aufbruch und Erneuerung. Vianova Verlag, 2006
Linktipps:
Website von Sandra Stelzner-Mürköster Come-Back-Life
Website von Verena König HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘13“):
Ja, wir waren ein ganz glücklich-jung verheiratetes Paar, wir hatten zu der Zeit ein Baby und hatten uns auf unser erstes gemeinsames Weihnachten als kleine Familie gefreut. Und dann kam alles ganz anders.
O-Ton 2 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘06“):
Dieser Horror begann am 26. November, da ging mein Mann zum Laufen.
O-Ton 3 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘07“):
Ich wartete und wartete und hab das Essen fertig gemacht, und er kam und kam nicht.
O-Ton 4 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘13“):
Und irgendwann klingelte es, und unsere Nachbarin stand ziemlich aufgelöst vor unserer Tür und sagte nur, in der Waldstraße hätte man einen toten Jogger gefunden.
Erzählerin:
Am 26. November zieht sich ein tiefer Riss durch das Leben von Sandra Stelzner-Mürköster. Der Mensch, den sie liebt, den sie sicher an ihrer Seite glaubt, hat einen schweren Herzinfarkt. Er bricht im Wald zusammen und ist klinisch tot. Und obwohl er zunächst reanimiert wird, stirbt er einige Zeit später im Klinikum. Dabei hatten sie noch so viel miteinander vor.
O-Ton 5 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘06“):
Ich war eingefroren. Ich war wirklich eingefroren. In dem Moment, wo er gegangen ist, bin ich innerlich eingefroren.
Musik: Sad and heavy (reduziert) 0‘28
Erzählerin:
Die junge Mutter war plötzlich Witwe. Mit gerade mal 30 Jahren. Von einem Tag auf den anderen stand sie alleine da: mit ihrem Säugling, mit all ihren zerstörten Hoffnungen und Zukunftsplänen. Ein Absturz ins Nichts. Der Bruch bedeutete eine tiefe Zäsur in ihrem Leben.
O-Ton 6 Verena König (0‘10“):
Das Wort „Bruch“ deutet ja schon darauf hin, dass ein Ereignis eine so große Wirkung hat, dass man das Gefühl hat, danach ist das Leben, die Welt anders als zuvor.
Erzählerin:
Verena König ist Traumatherapeutin. In ihre Praxis kommen viele Menschen, die ähnlich schmerzhafte Einschnitte in ihr Leben erlebt haben wie die junge Mutter. Und diese schweren Brüche – so sagt sie, zeichnen sich auch dadurch aus, dass die bisherigen Fähigkeiten im Umgang mit Krisen nicht mehr funktionieren. Ein Absturz ins Nichts sozusagen. Ohne Netz und doppelten Boden.
O-Ton 7 Verena König (0‘20“):
Also die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten versagen zu sehen führt uns ja in Zustände der Hilflosigkeit und der Ohnmacht. Nichts ist mehr wie zuvor! Das ist wirklich so erschütternd und allumfassend, auch wenn es schwer greifbar ist. Weil wir eben nicht wissen, wie wir damit umgehen können oder wer uns dabei helfen könnte.
Erzählerin:
Während es natürlich auch positive tiefe Zäsuren im Leben gibt - etwa Heirat, die Geburt eines Kindes oder die erträumte Unternehmensgründung – fordern unfreiwillige Brüche den Menschen aufs Äußerste heraus. Das Fundament ist erschüttert – von jetzt auf gleich. Das kann die unerwartete Kündigung sein, die Trennung, eine schwere Krankheit, ein Unfall oder eben der Verlust des geliebten Menschen.
Musik Murder chronicles 0‘26
Erzählerin:
Sandra Stelzner-Mürköster verbrachte die Wochen und Monate nach dem Tod ihres Mannes als „Marionette in einer Seifenblase“ – wie sie es beschreibt. Als würde sie über der Erde schweben. Ohne Bodenhaftung. Einzig ihr kleiner Sohn hielt sie am Leben.
O-Ton 8 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘18“):
Ich war total abgemagert, hab ja fast nicht mehr geschlafen. Ich konnte nichts essen. Aber es war auch nicht so, dass ich Schmerz empfunden habe. Ich hab einfach nichts empfunden. Ich wollte immer wissen: Wie kann ich denn jetzt mal trauern, damit wir weitergehen können? Aber dazu war ich am Anfang nicht in der Lage.
Erzählerin:
Diese Reaktion sei völlig normal, sagt Dr. Michael Schonnebeck, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er leitet eine Tagesklinik für Psychosomatik. Fast alle Patienten, die dorthin kommen, haben tiefe Einschnitte erlebt.
Der Mediziner kennt die Phasen nach dem Riss im Leben. Und obwohl sie nie prototypisch und in genauer Reihenfolge verlaufen, beginnen sie bei den meisten Menschen mit dem Zustand der Betäubung. So als seien alle Gefühle ausgeschaltet.
O-Ton 9 Michael Schonnebeck (0‘19“):
Emotionales Numbing wird das genannt, Betäubung, ich krieg das alles erst mal gar nicht so mit, es fühlt sich an wie unter Zeitlupe oder unwirklich, und wichtig ist einfach Wärme, basale körperliche Fürsorge, unaufdringliche Anwesenheit, das reicht dann schon so.
Musik: Behind the curtain (reduced 2) 0‘30
Erzählerin:
In dieser Phase sind vertraute Menschen im Umfeld besonders wichtig. Menschen, die einfach da sind. Unaufdringlich und trotzdem präsent. Kochen einen Tee, bieten eine Decke an, bringen einen Topf warme Suppe vorbei. Das klingt nach wenig und ist dennoch viel. In einer Zeit, in der der Mensch, der unter Schock steht, keinen klaren Gedanken fassen kann. Sandra Stelzner-Mürköster war nicht allein. Familie und Freunde standen ihr zur Seite. Trotzdem schlief sie keine Nacht länger als zwei Stunden. Funktionierte nur für ihren kleinen Sohn.
O-Ton 10 Michael Schonnebeck (0‘37“):
Dann kommt die nächste Phase, und die kann dann ganz unterschiedlich aussehen von hektischer Betriebsamkeit bis emotionalem Zusammenbruch, langes Tränenfließen, und dann kommt der Moment der Besinnung, und der ist vielleicht der allerschwerste: Was fange ich mit meinem Restleben an? Jetzt liegt das in Trümmern, es tut schrecklich weh, meine Seele ist im Grunde völlig aufgerissen, wie unter einem Brennglas kommen da die Strahlen der Sonne ungehindert rein und verbrennen mich noch weiter, und da wäre die Idee, eine gewisse Aktivität zu entwickeln.
Erzählerin:
Was fange ich mit meinem Restleben an? Das ist schon eine große Frage. Die junge Mutter fragte sich vor allem: Wie kann ich überhaupt weiterleben? Eine Antwort darauf fand sie zunächst nicht. Ihrem Mann fühlte sie sich nach wie vor tief verbunden. Kommunizierte viel mit ihm. Irgendwie hatte sie das diffuse Gefühl, dass sie weitergehen sollte im Leben:
O-Ton 11 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘13“):
Es muss einen Sinn haben, auch wenn ich den noch nicht entziffern kann, und auch das Versprechen, das ich ihm am Sterbebett gegeben habe: „Wir lassen uns nicht unterkriegen. Ich weiß nicht, wie ich es schaffe, aber das werden wir schaffen!“
Erzählerin:
Der Wunsch, dem Schweren, dem zunächst Unerträglichen einen tieferen Sinn abringen, ist durchaus verständlich, sagt die Traumatherapeutin Verena König. Und gleichzeitig ist es etwas, das schnell überfordernd sein kann. Vor allem dann, wenn es nicht dem eigenen Bewusstsein entspringt, sondern von der Außenwelt herangetragen wird.
O-Ton 12 Verena König (0‘35“):
Ganz häufig wird Menschen vermittelt, dass das, was ihnen widerfahren ist, doch für sie irgendeinen höheren Sinn haben müsste. Manchmal wird ihnen sogar unterstellt, dass das was mit ihnen persönlich zu tun hat, was ihnen geschieht. Und Menschen werden natürlich sehr unter Druck gesetzt, wenn sie einerseits verantwortlich gemacht werden für das ‚Schicksal‘, ich nenne das jetzt einfach mal so, und wenn man ihnen dann die Aufgabe aufbürdet, sie wollten in dem, was ihnen geschehen ist, einen höheren Sinn erkennen, kann auch das sehr belastend sein.
Erzählerin:
„Krise als Chance“, „Krankheit als Chance“ - So lauten Buchtitel und Artikel-Schlagzeilen in Hochglanzmagazinen. Als läge darin ein Zwang zur Chance. Zu einer positiven Wendung.
Für den Mediziner Michael Schonnebeck ist das Ringen um Sinn nicht selten allein das Bedürfnis eines überforderten Umfeldes:
O-Ton 13 Michael Schonnebeck (0‘18“):
Wenn man dem einen Sinn gibt, dann wird es plötzlich relativiert. Dann klingt ein bisschen mit: Wenn du dich dem zuwendest, hast du ja gute Chancen, damit umzugehen und ich kann mich zurückziehen. Das wäre eine Vermeidungsstrategie. Und da muss man kritisch sagen „Machst du es dir da nicht zu leicht?“
Musik: Was bleibt (reduced 1) 0‘24
Erzählerin:
Und dennoch: Irgendetwas muss dran sein. Die Frage: „Wer bin ich, wenn alle äußeren Sicherheiten wegbrechen“ fordert den Menschen aufs Tiefste heraus. Und führt manchmal auch zu innerem Wachstum.
Musik: Futen god oft he wind (b) 0‘36
Erzählerin:
Die Idee der tiefen Schönheit von Brüchen liegt dem japanischen ästhetischen Konzept des Wabi-Sabi zugrunde. Eine Philosophie, die die Schönheit in der Vergänglichkeit und dem Unvollständigen wertschätzt. Wabi- Sabi heißt sinngemäß übersetzt: Die Schönheit der Unvollkommenheit und der Vergänglichkeit. Ein zentraler Bestandteil von Wabi-Sabi ist die Akzeptanz von Brüchen. Gerade die Gebrochenheit ,kann eine tiefe Schönheit und Wahrheit offenbaren.
Erzählerin:
Peter, der nur seinen Vornamen nennen möchte, arbeitete im Vertrieb eines mittelständischen Unternehmens. Alles lief rund, er war erfolgreich. Innerlich ging es ihm schon lange nicht mehr gut. Statt sich dem zuzuwenden, machte er einfach weiter und verlor sich irgendwann.
O-Ton 14 Peter (0‘27“):
Ich hatte eine Angststörung, wusste nicht, woher das kam, diese Angststörungen und Panikattacken haben mich auf der Arbeit und Zuhause begleitet und dann kam es aber so, dass ein lieber Mensch gestorben war, ich fühlte mich etwas isoliert und alleine, und begann dann nach Kompensationsmechanismen zu suchen, und auf diesem Wege hatte ich mich dann in die Glücksspielsucht verloren, was meine Kompensation für meine Probleme war: also Roulette spielen, hab oft Kasinos besucht und hab natürlich auch sehr viel Geld investiert.
Musik: Murder of crows 0‘32
Erzählerin:
Der Riss durch Peters Leben ging tief und hatte mehrere Verästelungen: Diese zogen sich durch seinen Job, sein Privatleben, seine Seele. Und nicht zuletzt auch durch sein Bankkonto. Das Endergebnis seiner Spielsucht war ein höherer fünfstelliger Schuldenberg. Die Banken mahnten, Inkasso-Institute schalteten sich ein. Der Arbeitgeber durfte nichts von alledem wissen. Überhaupt niemand durfte davon erfahren!
Erzählerin:
Peter verlor sich selbst. Weil er dachte, sich seinem Umfeld nicht anvertrauen zu können in seiner inneren Not.
Musik: Futen god oft he wind (b) 0‘6
Musik: Sumiyoshi shrine 0‘17
Erzählerin:
Im weiteren Sinne betrachtet Wabi Sabi Brüche als natürlichen Bestandteil des Lebens, das seine eigene Ästhetik und Weisheit besitzt. Der Bruch selbst wird zu einem Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens und die Akzeptanz der Unvollkommenheit.
Erzählerin:
Die Schönheit in der Unvollkommenheit – sie erschloss sich Peter erst viel später. Noch befand er sich in einem tiefen Loch. Einsam und isoliert. Bis er eine neue Partnerin kennenlernte. In einer Zeit, in der er einen Antrag auf Privatinsolvenz gestellt hatte:
O-Ton 16 Peter (0‘33“):
Dass es mir finanziell schlecht ging, das hab ich die ersten Monate für mich behalten, weil ich das auch erst mal regeln wollte, das war meine Aufgabe. Da hatte ein neuer Mensch in meinem Leben nichts mit zu tun… Den absoluten Tiefpunkt hatte ich für mich wo ich wirklich die Buxe auf gut deutsch runterlassen musste im August, wo ich meiner Partnerin dann bekannt habe, so sieht’s mit mir aus, so ist meine Situation, da hab ich gedacht: ich weiß nicht, was mich erwartet, ich hab also ne super Reaktion erfahren und muss auch heute noch sagen: Hut ab!
Erzählerin: Für die Partnerin waren Peters Schuldenberg und seine Spielsucht kein Problem. Sie blieb – obwohl Peter große Angst hatte, sie deshalb zu verlieren.
Musik: Far our 0‘21
Erzählerin:
Durch die Risse in Peters Leben – seine Angststörung, seine Spielsucht und seine Insolvenz – öffnete sich ein neues Fenster in seinem Leben. Er machte zum ersten Mal eine ganz neue Erfahrung: Er wurde akzeptiert – trotz seines vermeintlichen Scheiterns.
O-Ton 17 Verena König (0‘24“):
Also solche Brüche können uns auch in unserem Selbstwertempfinden zermürben oder zerbröseln und sie haben dann aber auch je nach Umfeld auch die Möglichkeit, eine viel tiefere Wahrheit vor Augen zu führen: nämlich dass wir trotz allem liebenswert sind und dass wir eingebunden sind in etwas, das uns willkommen heißt.
Musik: Far our 0‘27
O-Ton 18 Peter (0‘32“):
Der nächste Punkt war übrigens auch, dass ich in der Firma Farbe bekennen musste. Ich hab dann auch meinen Chef informiert. Es war mir ganz wichtig, festzustellen: Du kannst nur nen Neuanfang machen, wenn du wirklich offen drüber sprichst. Und auch da muss ich feststellen, war die Reaktion natürlich auch erst mal ein Schlucken, etwas Verwunderung, und ich fand die Reaktion dann auch höchst generös, dass eben gesagt wurde: „So isses, regeln Sie das, aber es steht hier nichts in der Firma gegen Sie“ und ich kann auch meinen Job weiter behalten.
Erzählerin:
Peter hat etwas erfahren, das man in der Fachsprache „posttraumatisches Wachstum“ nennt. Also ein über sich Hinauswachsen in der schweren Krise. Eigenschaften entwickeln, die man zuvor nicht besaß.
Michael Schonnebeck, der Facharzt für psychosomatische Medizin sagt aber auch: Posttraumatisches Wachstum kann passieren, doch es sollte nicht das primäre Ziel und keinesfalls ein Anspruch sein. Das Wichtigste sei zunächst einmal, das schwere Ereignis irgendwie zu überstehen und nach dem Bruch weiterzuleben.
O-Ton 19 Michael Schonnebeck (0‘24“):
Es gibt auch das Erleben, dass an diesen übergroßen Herausforderungen ich scheitere! Also ich verzage. Dass ich ausweiche. Dass ich Angst habe, abzustürzen. Dass ich wirklich abstürze. Und dann gibt’s keine Entwicklung, dann gibt’s halt Absturz oder Niederlage, oder auch ein Zusammenkauern, ein Erstarren, ein Freezen, so das ich glaube, das hält sich so die Waage.
Musik: Unimagined course 0‘37
Erzählerin:
Scheitern, verzagen, abstürzen. Auch das kann passieren, wenn sich ein tiefer Riss durchs Leben gezogen hat.
Ein Jahr war vergangen nach dem plötzlichen Tod des Ehemannes von Sandra Stelzner-Mürköster.
„So langsam muss es doch mal gut sein“, fanden Menschen aus dem Umfeld. Doch es war nicht gut. Auch im zweiten Jahr war es noch nicht gut. Im dritten Jahr kehrte ansatzweise so etwas wie Normalität in ihr Leben zurück. Schon länger ging sie wieder arbeiten in ihrem Beruf als Gymnasiallehrerin.
O-Ton 20 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘26“):
Und das war der Zeitpunkt, wo ich dann richtig zusammengeklappt bin. Ich hab dann eine Lungenentzündung nach der anderen gehabt, hab noch 46 Kilo gewogen bei 1,74 und hab das dann aber nicht für mich erkannt. Ich hatte immer noch kein Gefühl für mich, bin dann immer noch brav in die Schule, mit fast 40 Fieber und wär dann fast im Schwimmbad umgekippt. Und das war der Auftakt, wo ich dann für mich erkennen musste: Ich bin jetzt wirklich in nem Burnout.
Erzählerin:
Drei Monate verbrachte sie in einer psychosomatischen Klinik. Und obwohl sie dort Hilfe erfuhr und ein wenig Stabilität und Zuversicht entwickeln konnte, meldete sich ihr Körper immer wieder:
O-Ton 21 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘27“):
Und hatte dann nicht nur eine Gürtelrose, sondern mehrere Gürtelrosen, die mir dann aufs Auge geschlagen sind und die Gefahr bestand, dass ich vielleicht erblinde, hatte dann einen Tumor in der Hand, wo ich nicht wusste, ob die Hand amputiert werden musste, und als meine Mutter dann verstarb, das war dann so der Punkt, wo ich gesagt habe: „Wie lange soll ich jetzt noch warten? Was soll noch alles in mir kaputtgehen? Ich darf jetzt diesem inneren Ruf lernen zu folgen.
Musik: Ray of light 0‘35
Erzählerin:
Der innere Ruf. Das war der zweite Bruch. Diesmal ein schöner, kraftvoller, freudvoller: Sandra Stelzner-Mürköster folgte ihrem Herzen, kündigte den Job an der Schule, machte zahlreiche Ausbildungen und entwickelte sich in die Richtung, die ihr das Schicksal aufzeigte:
Sie arbeitet seitdem als Trauermentorin und gibt anderen Menschen neben ihrem Fachwissen das weiter, was sie selbst so schmerzlich erfahren musste.
O-Ton 22 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘27“):
Ich kann ihnen vor allen Dingen Halt, Struktur, Ordnung geben, und ich kann ihnen auch in den Momenten, in denen sie selbst nicht mehr klar mit ihren Gefühlen sind, genau sagen, was mit ihnen los ist! Und das ist eine Qualität von mir, hier eine Sprache für die Dinge zu finden, die dem anderen unbewusst sind. Und die Feinfühligkeit, die ich immer schon hatte, ja… heute damit dienen zu können.
Musik: Flute and Koto 0‘36
Erzählerin:
„Kintsugi“ (Aussprache: Kint-Sugi, Betonung auf 2. Silbe) ist – genau wie Wabi Sabi – ein Begriff in der japanischen Kultur. Kintsugi bezeichnet eine Kunstform, bei der zerbrochene Keramikstücke mit Gold- oder Silberlack wieder zusammengefügt werden. Die glänzenden Pinselstriche setzen den Bruch deutlich in Szene. Sie verbinden die einzelnen Scherben miteinander, verschönern und vervollkommnen sie. So entsteht etwas Neues, Schönes. Der vermeintliche Makel wird zum einzigartigen Teil der eigenen Geschichte.
O-Ton 23 Sandra Stelzner-Mürköster (0‘32“):
Und diese Teile einzeln wieder zusammensetzen, das ist dieses Kennenlernen von sich selbst. Den eigenen Gaben und Talenten. Und auch wieder Visionen vom Leben zu finden und auch sich selbst Träume zu erlauben. Und das ist der Weg! Und der ist verdammt schmerzhaft!
O-Ton 24 Verena König (0‘25“):
Die Menschen, die zu mir in die Praxis kommen, sind für mich in den allermeisten Fällen Menschen, die ich bewundere für ihre Tiefe. Bei denen ich das Gefühl habe: Sie sind anders verbunden mit dem Leben, als Menschen, die bisher vielleicht ganz unbeschwert durch ihr Leben gehen konnten. Also dass sie z.B. eine größere Wertschätzung haben für Schönes im Leben, für das Leben selbst.
Musik: Accurate timing (red.) 0‘26
Erzählerin:
Brüche zwingen Menschen, neue Wege einzuschlagen. Oft verändern sich dabei Werte und Prioritäten. Ein Wendepunkt kann dazu führen, dass man stärker wird. Kann. Aber nicht muss. Manche Menschen zerbrechen auch an allzu schweren Schicksalsschlägen, so die Traumatherapeutin Verena König:
O-Ton 25 Verena König (0‘34“):
Krisen können auch lebensbedrohlich sein. Also ein Bruch im Leben kann Menschen an die Grenze des Tragbaren und des Möglichen bringen. Und deswegen sind auch Suizide nicht selten ein Ausweg für Menschen. Es gibt auch Bilanz-Suizide, so genannte, oder Suizide im Affekt, die häufig aus Momenten der vollkommenen Überforderung entstehen oder der ganz großen Beschämung. Also Krise kann auch sehr bedrohlich sein und sollte nicht romantisiert werden.
Erzählerin:
Es kann also in beide Richtungen gehen: Wachstum oder Absturz. Keinesfalls jeder Mensch steigt empor wie Phoenix aus der Asche. Die Forschung zeigt: Viele erholen sich irgendwann nach der Krise, andere hingegen werden nie wirklich damit fertig.
Musik: A beginning 0‘22
Erzählerin:
Peter, der zunächst spielsüchtig und dann hochverschuldet war, sortierte sein Leben von Grund auf neu. Machte eine Psychotherapie, entdeckte das Meditieren für sich und die Natur als Kraftquelle. All das wäre ohne den Absturz wahrscheinlich nicht passiert.
O-Ton 26 Peter (0‘20“):
Ich bilde mir ein, ruhiger geworden zu sein, kann auf das schauen, was mir gut tut, im Umgang mit meiner Partnerin und anderen Menschen ist mir Achtsamkeit und gegenseitige Wertschätzung sehr wichtig, und dazu gehört auch, dass man offen miteinander umgeht und Dinge nicht hinterm Berg hält, weil sonst auch dieses Vertrauen, was notwendig ist, um auch ne Krisensituation zu überstehen, nicht entstehen kann.
Erzählerin:
Und noch etwas hat sich aus seinem Scheitern entwickelt: Peter engagiert sich bei den anonymen Insolvenzlern, einem Netz aus Selbsthilfegruppen, die Menschen in ihrer privaten- oder Firmenpleite unterstützen.
Musik: Consistend method (reduziert) 0‘28
Erzählerin:
Bei Sandra-Stelzner-Mürköster hat der Riss in ihrem Leben fast alles verändert: Als Trauermentorin begleitet sie Menschen nach Verlusten, und als Buchautorin möchte sie ihr Wissen weitergeben. Sie hat einen neuen Partner gefunden und mit ihm eine Tochter bekommen. Mindestens genau so wichtig ist ihre innere Wandlung:
O-Ton 28 Stelzner-Mürköster (0‘29“):
Dass ich das Leben mit einer ganz tiefen Intensität leben kann, indem ich sehr intensiv fühle, und durch dieses intensive Fühlen eine ganz enge und liebevolle Beziehung zu allen Menschen hab, die in meinem Feld sind. Das ist einfach die Liebe und auch die Aufmerksamkeit wie ich Menschen begegnen kann heute. Und dass ich wirklich dadurch so vieles mitfühlen kann. Und das schafft ja auch Verbindung.
Erzählerin:
Letztlich gehören Brüche im Leben wie kaum etwas anderes zum Menschsein dazu – und gleichzeitig wird kaum etwas anderes so oft schamhaft verborgen.
Am Ende wäre es doch eine schöne Vision: So wie die Risse im zerbrochenen Porzellan sorgsam mit goldener Farbe verziert und somit sichtbar gemacht werden, wäre es vielleicht heilsam, wenn sich auch Menschen mehr zeigen würden: in ihrer Gebrochenheit, ihrer Verzagtheit, aber auch in ihrer gewonnenen Stärke. Sie könnten Vorbild sein für andere, deren Leben gerade in tausend Scherben zerspringt.
Musik: Timeline 0‘37
O-Ton 29 Verena König (0‘35“):
Es wäre wunderschön, wenn in unserer Gesellschaft unsere Verletzlichkeit Platz hätte und auch unsere Verletzungen, die wir mit uns tragen. Es ist so schade, dass wir Verletzlichkeit mit Schwäche gleichsetzen. Weil das nichts miteinander zu tun hat! Und wenn wir Verletzlichkeit anerkennen als eine absolute Gemeinsamkeit aller Menschen, dann würden wir uns tatsächlich sicherer fühlen können. Weil wir achtsamer mit uns selbst und mit anderen umgehen würden.
"Die große Welle vor Kanagawa" ist eines der bekanntesten Kunstwerke der Welt. Der Farbholzschnitt des Japaners Katsushika Hokusai inspirierte schon die Künstler der klassischen Moderne, heute findet man sie auf Tassen, T-Shirts und Tapeten. Aber was ist so Besonderes an einem Bild von einer Welle? Von Julie Metzdorf (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Christiane Klenz
Es sprach: Xenia Tiling
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Karin Becker, Andrea Bräu
Im Interview:
Dr. Thomas Tabery, Leiter der Orient und Asienabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Farben Japans - Holzschnitte aus der Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek
Jahresausstellung 2025 vom 27. März bis 6. Juli 2025 in München HIER gehts zur Website
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Im Vordergrund: Eine riesige Welle. Vom linken Rand aus rollt sie in das Bild hinein, nimmt die gesamt linke Bildhälfte ein, oben reicht sie bis knapp unter den Rand des Bildes. Wir sehen genau den Moment, in dem die Welle zu brechen beginnt, am Wellenkamm hat sich weißer Schaum gebildet, Gischt spritzt und gleich wird dieser Wasserberg in sich zusammenstürzen: „Die große Welle vor Kanagawa“ ist ein Farbholzschnitt aus dem Jahr 1830, geschaffen vom japanischen Künstler Katsushika Hokusai. Thomas Tabery, Leiter der Orient und Asienabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek:
1 OT Welle
Ob sie tatsächlich realistisch ist, das ist die Frage. Sie wurde immer wieder auch als ein Tsunami dann später interpretiert. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um einen Tsunami handelt, ich glaube nicht, dass Hokusai das darstellen wollte. Durch verschiedene gegenläufige Wellenbewegungen in einem Meer können wohl in der Bucht von Tokio solche Wellen entstehen.
MUSIK 2 ( Ryuichi Sakamoto: Rain (I Want A Divorce) 0‘34)
ERZÄHLERIN
Das tiefe Wellental gibt den Blick auf den Hintergrund frei. Dort erhebt sich, in aller Ruhe, ein schneebedeckter Berg. Die Ruhe, die er ausstrahlt, hat etwas mit seiner Form zu tun: die Hänge bilden ein gleichschenkliges, absolut symmetrisches Dreieck. Der Berg liegt in der rechten Bildhälfte, mit viel Himmel über sich, als große cremefarbene Fläche. Im Vergleich zur Welle ist er winzig klein, in Wahrheit handelt es sich um den höchsten Berg Japans: den Fuji.
2 OT Fuji
Ein Vulkanberg, mit knapp 3800 Metern Höhe, und dieser Kontrast zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen diesem dramatischen Geschehen und diesem fern entrückten Heiligenberg im Hintergrund, gibt dem Bild eine gewisse Spannung.
ERZÄHLERIN
Im Rahmen der japanischen Shinto-Religion wird der Fuji als heiliger Berg verehrt, mehr als 1300 Schreine am Fuß und am Hang des Bergs sollen die in ihm wohnende Gottheit besänftigen. Auch im japanischen Buddhismus gilt eine Besteigung des Bergs als Ausdruck des Glaubens. Und selbst Nichtgläubige können dem Fuji einiges abgewinnen: wegen seiner symmetrischen Kegelform gilt er als schönster Berg der Welt.
Erst bei genauerer Betrachtung von Hokusais Farbholzschnitt, entdeckt man die Boote im Wasser:
3 OT Boote
Boote, die von Wind und Wellen hin und her geworfen, unter dieser Welle sich befinden. Der Wellenkamm scheint förmlich nach den Booten und den winzigen Menschen darin zu greifen. Bei den Booten handelt es sich übrigens wohl um Boote, die die Märkte in Edo, der Hauptstadt, mit Fischen und anderen Gütern versorgen.
MUSIK 3 ( Damian Scholl: Japan 1‘05)
ERZÄHLERIN
Offiziell heißt das Kunstwerk übrigens nicht „Die große Welle“, sondern „Unter der Welle im Meer vor Kanagawa“. Die originale Bezeichnung lenkt den Blick stärker auf die Boote und die Situation der Menschen. Die große Welle ist direkt über ihnen. Trotzdem ist an Bord keine Panik zu spüren. Die Menschen sind nur schwer zu erkennen, in jedem Boot befinden sich vier, vielleicht auch acht Personen in einheitlich dunkelblauer Kleidung, sie liegen oder kauern dicht und wohlgeordnet nebeneinander jeweils am Ende des Boots, als wollten sie es stabilisieren. Vielleicht kennen sie solche großen Wellen schon. Das Rudern haben die Menschen an Bord längst aufgegeben, sie überlassen die Boote der Naturgewalt und schlingern damit wie Treibholz durch die Wellen.
4 OT keine Panik
Also vielleicht ist die Situation nicht so dramatisch, wie sie sich für uns jetzt darstellt. Und vielleicht ist auch der Berg Fuji im Hintergrund ja das Element in diesem Bild, das Hoffnung gibt und sozusagen die Aussicht auf das Happy End bei dieser Geschichte oder bei dieser Unternehmung nahelegt.
MUSIK 4 (SINE: Ocean Dreams 0‘34)
ERZÄHLERIN
Wellen, Berg, Boote: aus nur drei Elementen hat der Japaner Katsushika Hokusai eines der berühmtesten Kunstwerke der Welt geschaffen. Nachahmungen der Welle zieren nicht nur die üblichen Tassen und T-Shirts, sondern auch Turnschuhe, Golfbälle, Unterhosen und ganze Tapeten. Ja es gibt sogar ein Emoji, das eindeutig von Hokusais Welle inspiriert ist und das man am Smartphone in eine Textnachricht einfügen kann, wenn man irgendwas mit Wasser ausdrücken möchte.
Aber Warum ist ausgerechnet dieses Bild so berühmt geworden? Was fasziniert die Menschen verschiedener Epochen und Kulturkreise so sehr an der Darstellung einer Welle?
Laut Thomas Tabery liegt das unter anderem an der Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten:
5 OT mehrere Deutungen (zusammenschneiden)
Also wir sehen zum einen die Natur in ihrer Schönheit, zum anderen aber auch in ihrer Zerstörungskraft. Und das gilt nicht nur für die Welle, sondern natürlich auch für den Fuji als Vulkanberg. Zum anderen ist hier auch der Gegensatz zwischen Flüchtigkeit, Vergänglichkeit einerseits und Ewigkeit andererseits sichtbar, das bedrohte menschliche Leben im Vordergrund, der als heilig verehrte Berg Fuji im Hintergrund.
MUSIK 5 ( Kevin Shields: Goodbye 1‘07)
ERZÄHLERIN
„Unter der Welle im Meer vor Kanagawa“ ist ein Bild voller Kontraste: Mensch und Natur, nah und fern, flüssig und fest, bewegt und statisch. Zugleich ist alles miteinander verwoben und verzahnt. Die Boote zum Beispiel schmiegen sich in ihrer Sichelform perfekt ins Wellental. Eine kleinere Welle ganz vorn im Bild entspricht mit ihrer Dreiecksform fast eins zu eins dem Berg Fuji. Der Schnee auf seiner Kuppe sieht genauso aus wie die weißen Schaumkronen der Wellen. Und die sprühende Gischt gleicht Schneeflocken, ja es sieht aus, als würde es am Gipfel des Fuji gerade schneien. Alles ist miteinander verbunden. Auch der vermeintlich so ruhige Fuji ist immer noch ein Vulkan: Im Zentrum der Ruhe ballt sich das Magma.
Katsushika Hokusai ist der berühmteste Künstler Japans. Geboren wurde er 1760 in der Hauptstadt Edo, dem heutigen Tokio. In seinem langen Leben – Hokusai wurde 90 Jahre alt – soll er an die 5.000 Werke geschaffen haben, darunter Gemälde, Zeichnungen, Buchillustrationen und unzählige Vorlagen für Farbholzdrucke.
6 OT Charakter
Hokusai war einfach ein herausragender Künstler, war zu Lebzeiten schon bekannt. Er war ungeheuer produktiv und hat ein unstetes Leben geführt, unzählige Male den Wohnsitz gewechselt, verschiedene Künstlernamen angenommen … er muss auch eine exzentrische Seite besessen haben.
ERZÄHLERIN
Diese exzentrische Seite zeigt sich etwa in einer Anekdote über einen Malwettbewerb am Hof des Shoguns, des Herrschers im vormodernen Japan:
7 OT Malwettbewerb
Der Kontrahent von Hokusai bei diesem Wettbewerb, … hat also lange an seinem Werk vor sich hingemalt, wohingegen Hokusai einfach eine Papierrolle Blau gefärbt hat, Blau angemalt hat, dann ein Huhn, ein lebendes Huhn aus einem Korb genommen hat, die Füße des Huhns in rote Farbe getaucht hat und das Huhn dann über diese blaue Rolle hat laufen lassen. Genannt hat er das Ganze „Ahornblätter treiben auf dem Fluss“. Vom Genie des Malers, des Künstlers Hokusai beeindruckt, hat der Shogun ihm dann den Preis zugesprochen.
MUSIK 6 ( Ryuichi Sakamoto: Picking Up Brides 0‘45)
ERZÄHLERIN
Die große Welle schuf Hokusai als erfahrener Künstler von 70 Jahren. Das Blatt ist 25 x 37 cm groß, also genau zwischen einem DIN A4 und einem DIN A3-Blatt. Es ist Teil einer ganzen Serie von Holzschnitten mit dem Titel „36 Ansichten des Bergs Fuji“.
Solche Serien von Holzschnitten waren in Japan seit Mitte des 18. Jahrhunderts sehr populär. „Die 36 Ansichten des Berges Fuji“ hatten solchen Erfolg, dass Hokusai weitere Blätter hinzufügte, am Ende waren es 46 Ansichten des Fuji, am Titel der Serie änderte sich aber nichts. Jedes Blatt zeigt den Vulkan aus einer anderen Perspektive und zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten: Mal im Nebel, mal in der Abendsonne. Mal in leuchtendes Rot getaucht, mit weißen Linien, die wie Lavastreifen vom Krater aus herunterlaufen. Mal mit Handwerkern im Vordergrund, die ein Haus bauen, oder Reisenden, die sich auf den Schultern kräftiger Männer durch einen Fluss tragen lassen. „Die große Welle vor Kanagawa“ war bereits zur Entstehungszeit besonders beliebt. In mancherlei Hinsicht sticht diese Darstellung des Fuji unter den anderen Blättern der Serie heraus:
9 OT Serie
Eine Besonderheit dieses Blattes ist, dass er halt so klein im Hintergrund ist und trotzdem natürlich sich auch einfügt harmonisch, durch die Farben, durch die Formen, die man sonst auf diesem Blatt sieht.
ERZÄHLERIN
Die Drucke wurden einzeln als Souvenir für Reisende verkauft, aber auch an die lokale Bevölkerung. Sie galten als Gebrauchskunst und waren nicht besonders teuer. Es waren ja keine Unikate. Üblicherweise gab es mehrere hundert Abzüge, von der beliebten großen Welle vielleicht sogar mehrere Tausend. Doch Gebrauchskunst hin oder her: Die Qualität der Drucke war herausragend.
Die Herstellung eines Mehrfarbendrucks ist eine komplexe Angelegenheit und gelangte in Japan zu höchster Blüte.
10 OT Druckvorgang
Die Herstellung eines Farbholzschnitts war ein arbeitsteiliger Prozess. Ein Verleger finanzierte das ganze Vorhaben. Ein Künstler entwarf eine Vorzeichnung, eine genaue Vorlage, die dann an die Holzschneider übergeben wurde. Die haben dann in eine Holzplatte diese Vorlage geschnitten und somit einen Druckstock hergestellt.
ERZÄHLERIN
Hokusai hatte selbst ursprünglich eine Lehre als Holzschneider gemacht. Später arbeitete er in der Werkstatt eines Malers und Zeichners von Farbholzschnitten, bis er sich schließlich als Künstler selbständig machte. Idee und Komposition der Großen Welle stammen also von ihm, den Druckstock schnitten andere. Durch seine Ausbildung aber kannte Hokusai die Tücken und Möglichkeiten des Holzschnitts sehr gut, er wusste, welche Effekte möglich waren und konnte dieses Wissen in seine Vorlage einfließen lassen. Die Schaumkronen der Wellen zum Beispiel sehen aus wie Adlerklauen, die nach den Booten greifen. Die Schnitzer mussten dazu Hunderte sichelförmig geschwungenen Stege aus dem Druckstock herausarbeiten.
11 OT
Und schließlich kamen die Drucker ins Spiel, die dann mit Pinseln die Farben auf den Druckstock aufgetragen haben. Dann wurden die Papierbögen auf diesen Druckstock aufgelegt und angedrückt. Das heißt, in Japan wurde von Hand gedruckt, Druckerpressen kannte man nicht, und dieser Vorgang wurde jetzt für jede Farbe, für jeden Druckstock wiederholt, bis schließlich dann ein fertiger Mehrfarbendruck entstanden war.
ERZÄHLERIN
Bis zu 15 verschiedene Farben pro Farbholzschnitt wurden auf diese Weise gedruckt.
Die Farben der großen Welle sind besonders bemerkenswert. Hokusai verwendet hier ausgiebig sogenanntes Preußischblau, in Japan auch als Berliner Blau bekannt.
12 OT Preußischblau
Preußischblau wurde Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in einem Berliner Labor entdeckt Und Hokusai verwendet diesen Farbstoff in dieser Serie „36 Ansichten des Berges Fuji“ wirklich, ja, exzessiv kann man sagen und ganz bewusst. Denn dieser Farbstoff hat es ihm ermöglicht, ein unglaublich kräftiges Kolorit zu erzielen mit Blautönen, die mit anderen blauen Farben wie zum Beispiel Indigo so nicht zu erzielen waren. Und auch die Kombination zwischen den verschiedenen Blautönen hat einfach bei der großen Welle hier diesen fast dreidimensionalen, ja plastischen Effekt erzielt. Denn wenn man sich das jetzt anschaut, sieht man, dass zunächst mit Preußischblau die hellen Passagen der Wellen gedruckt wurden, dann wurde ein dunkleres Preußischblau drüber gedruckt, und darüber wurde als dritte blaue Farbschicht noch einmal Indigo gedruckt.
MUSIK 7 ( SINE: Full Moon 0’55)
ERZÄHLERIN
Durch die Farbabstufungen gelingt es Hokusai, dem Blatt mehr Tiefe zu verleihen: die Wölbungen der Wellen werden stärker spürbar, die Welle wirkt dynamischer und kraftvoller. Überhaupt hat das Blatt eine große Raumtiefe: die große Welle im Vordergrund, der weit entfernte Fuji ganz klein im Hintergrund – das ist die Logik der europäischen Zentralperspektive. Japanische Holzschnitte sind eigentlich für ihre Flächigkeit bekannt. Hokusai aber hatte sich intensiv mit westlicher Malerei auseinandergesetzt. Er verwendet hier also nicht nur eine europäische Farbe, sondern auch die Konstruktion des Bildraums trägt europäische Züge. Typisch japanisch hingegen ist das Motiv – der Fuji – und die Technik des Farbholzdrucks mit seinen Konturlinien.
13 OT Umrisslinien
Also eine Besonderheit das Farbholzschnitts ist es ja, dass wir überall Umrisslinien haben, was sich ja vom europäischen Holzschnitt, auch vom chinesischen, unterscheidet, wo das eigentlich so aquarellartig, dann so ein bisschen ausläuft. Wir haben hier immer Umrisslinien, und das ist natürlich auch ein Merkmal des Comics, dass es diese Umrisslinien gibt, deswegen vielleicht diese Assoziation.
ERZÄHLERIN
Auch klassische Comics haben Konturlinien und sind meist mit wenigen gleichmäßigen Farbflächen gedruckt. Das könnte einer der Gründe dafür sein, dass auch junge Menschen Die große Welle schätzen: Die Ästhetik ist ihnen von Comics vertraut.
Dank der Umrisslinien und der reduzierten Farben lässt sich die Große Welle übrigens auch sehr gut reproduzieren. Auch das hat sicher zur Verbreitung beigetragen.
MUSIK 8( Kevin Shields: Ikebana 1‘04)
In Japan war Hokusai bereits zu Lebzeiten hochverehrt und sehr populär. Viele seiner Werke könnte man als Volkskunst bezeichnen, er zeigte, was das Publikum liebte: berühmte Schauspieler zum Beispiel oder Szenen aus den Vergnügungsvierteln Tokios. „Bilder der fließenden Welt“ nannte man dieses Genre:
14 OT Bilder der fließenden Welt
Eigentlich ursprünglich ein Begriff aus dem Buddhismus, ukiyo, das Vergängliche, das mit Sinn gefüllt werden muss, hat sich der Begriff gewandelt, hin zu der Bedeutung, ja, die Freuden der vergänglichen, der fließenden Welt, die genossen werden wollen und die dann auf diesen Holzschnitten dargestellt worden sind. Also Szenen aus dem Theater, Kurtisanen, Darstellungen von Sumo-Wettkämpfen und so weiter und so fort.
ERZÄHLERIN
Die „36 Ansichten des Fuji“ schlagen da vollkommen aus der Reihe. Trotzdem war die Serie extrem beliebt:
15 OT Genre Landschaft
Das Besondere ist, dass diese Serie tatsächlich Landschaftsdarstellung in den Mittelpunkt stellt, das gab es vorher so noch nicht. Landschaft wurde natürlich in der Malerei im Holzschnitt auch immer dargestellt, aber gerade im Holzschnitt in Japan war Landschaft vor allem ein dekoratives Element im Hintergrund bei der Darstellung von Personen. Jetzt in den 1830ern, durch Künstler wie Hokusai, wird Landschaft zu einem eigenen Genre.
MUSIK 9 ( KENGYO: Natsu no kyoku 0‘43)
ERZÄHLERIN
Die Entwicklung dieses Genres hing eng mit der Zensur zusammen: Ab dem späten 18. Jahrhundert mussten in Japan alle Drucke der staatlichen Zensurbehörde zur Prüfung vorgelegt werden. Politische Anspielungen waren untersagt, auch historische Ereignisse wurden oft zensiert, außerdem durften die Darstellungen nicht zu viel Luxus zeigen. Landschaften waren da per se unverdächtig.
Zudem interessierte sich Hokusai wirklich für die Natur. Dem Vorwort zu einem seiner Bücher ist zu entnehmen, wie sehr ihm die möglichst lebendige Nachahmung von Vögeln, Fischen und Pflanzen am Herzen lag.
Die große Welle sorgte in Europa schon früh für Wirbel. Und das, obwohl sich Japan zu Hokusais Lebzeiten in einem Zustand der Abschottung gegenüber dem Rest der Welt befand: Als Reaktion auf das aggressive Eindringen portugiesischer Händler und christlicher Missionare hielt Japan seine Grenzen von 1640 bis in die 1850er Jahre geschlossen. Es war kaum möglich, das Land zu verlassen oder zu besuchen, internationaler Handel war ausschließlich
mit China und den Niederlanden erlaubt. Über diesen Weg kam Hokusai an sein Preußischblau, und so kamen auch die Drucke von Hokusai nach Europa. Mit der Öffnung des Landes ab den 1850er Jahren brach in Europa dann ein regelrechtes Japan-Fieber aus, der „Japonismus“.
16 OT Öffnung
Es ist relativ schnell zu einem engen wirtschaftlichen und kulturellen Austausch gekommen. Auch im Zuge der Weltausstellungen in Paris von 1867 zum Beispiel ist Japan plötzlich ganz anders in den Fokus gekommen. Und die Kunstgegenstände, die jetzt aus Japan nach Europa gekommen sind, haben in Künstlerkreisen regelrechte Begeisterung ausgelöst und auch als Inspirationsquelle gedient. Die Maler haben sich inspirieren lassen von der Farbigkeit, von den ungewöhnlichen Blickwinkeln oder Bildausschnitten.
MUSIK 10 (SC018010W04 Claude Debussy: La Mer 0‘55)
ERZÄHLERIN
Claude Monet etwa erwarb 250 japanische Drucke, darunter auch ein Exemplar der großen Welle von Hokusai. Der Maler Edgar Degas nutzte die Bilder ebenfalls als Quelle der Inspiration und Henri Rivière huldigte der Welle mit „36 Ansichten des Eiffelturms“. Aber nicht nur bildende Künstler inspirierte die Darstellung: Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Berg“ bezieht sich direkt auf den Fuji, den Komponisten Claude Debussy regte die Welle zu seiner berühmten Komposition „La Mer“ an – auf die Partitur ließ er einen Ausschnitt der Welle drucken – den Fuji und die Boote ließ er dabei einfach weg.
MUSIKENDE La Mer
ERZÄHLERIN
Abzüge der „Großen Welle“ gibt es heute auf der ganzen Welt, zum Beispiel im Metropolitan Museum of Art in New York oder im British Museum in London – und auch in der Bayerischen Staatsbibliothek in München: Im Sommer 2023 kaufte das Haus einen sehr frühen und besonders gut erhaltenen Abzug aus einer Privatsammlung für eine Summe im unteren siebenstelligen Bereich.
17 OT Universalbibliothek
Die Bayerische Staatsbibliothek ist … eine große wissenschaftliche Universalbibliothek mit einem sehr breiten Sammlungsspektrum und so gibt es bei uns im Haus eben auch eine große Ostasiatische Sammlung…
ERZÄHLERIN
Es gibt viele Gründe, Hokusais Welle zu lieben: Die ewig gültigen und für jedermann nachvollziehbaren inhaltlichen Aussagen etwa, dass die Natur schön und gefährlich zugleich sei, oder das menschliche Leben angesichts der Ewigkeit der Natur nur ein Wimpernschlag. Viele Menschen sind von der Welle auch einfach spontan und emotional berührt. Die Darstellung spricht sie ästhetisch an. Auch dafür gibt es eine Erklärung. Die große Welle bietet genau das richtige Verhältnis zwischen Fremdem und Vertrautem, sagt Thomas Tabery:
18 OT Konklusion
Sie ist fremdartig genug, um spannend und inspirierend zu wirken, aber auch nicht zu fremdartig. Vertraut für das westliche Auge war zum Beispiel die perspektivische Darstellung, die Hokusai von Darstellungen aus Europa übernommen hat, die in Japan spätestens ab dem achtzehnten Jahrhundert auch bekannt waren, also Darstellungen in europäischer Zentralperspektive.
MUSIK 11 (CD 523110006 Ryuichi Sakamoto: Rain (I Want A Divorce) 0‘54)
ERZÄHLERIN
In der „Großen Welle vor Kanagawa“ treffen westliche und östliche Themen und Ästhetiken aufeinander. Kunstwerke an denen wir uns nicht sattsehen können, haben oft etwas Rätselhaftes und ein bisschen Fremdes an sich. Im Fall der Welle sind das jeweils die Elemente der fremden Kultur. Der britische Kunsthistoriker Neil MacGregor hat es einmal auf den Punkt gebracht: Die große Welle ist nichts ganz und gar Fremdes. Sie ist ein exotischer Verwandter.
Starke Regenfälle, milde Winter, heiße Sommer, lange Trockenphasen - das Klima ändert sich und das merkt man auch an der Verschiebung der Jahreszeiten. Iska Schreglmann spricht mit Ismeni Walter, Professorin für Umweltjournalismus an der Hochschule Ansbach über die weitreichenden Folgen für Tiere und Pflanzen. (BR 2023)
Credits:
Autorin: Iska Schreglmann im Gespräch mit Ismeni Walter
Technik: Peter Riegel
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Prof. Dr. Ismeni Walter ist Biologin und Wissenschaftsjournalistin. Im Studiengang Ressortjournalismus an der Hochschule Ansbach ist sie verantwortlich für den Schwerpunkt „Umwelt“. Die Studierenden bekommen bei ihr Einblicke in wichtige Themen wie Biodiversität, Mensch und Umwelt, Klimawandel und Klimapolitik.
Hochschulpage Ismeni Walter:
EXTERNER LINK | https://www.hs-ansbach.de/personen/walter-ismeni/
Mehr Infos zum Bachelorstudiengang Ressortjournalismus:
EXTERNER LINK | https://www.hs-ansbach.de/bachelor/ressortjournalismus/
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Autor dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Christian Schuler
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
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ERZÄHLERIN
Na, die Musik kennt man doch und die Szene kennt man vielleicht auch irgendwie. Die stammt aus dem Kultfilmmusical „Rocky Horror Picture Show“. - Da steht also Dr. Frank N. Furter vor dem etwas naiven Brautpaar Janet und Brad …. und Dr. Frank N. Furter lüftet sein Geheimnis.
MUSIK hoch
Don't get strung out by the way that I look
Don't judge a book by its cover
ERZÄHLERIN
„Lasst Euch von meinem Aussehen nicht verunsichern … -
Beurteilt ein Buch nicht nach seinem Einband“, singt „Er“ oder „Sie“ und dann: reißt sich Dr. Frank N. Furter seinen Satin-Bademantel vom Leib …
MUSIK hoch
I'm just a sweet transvestite
From Transexual, Transylvania, ha ha
MUSIK
ERZÄHLERIN
„Er“ oder „Sie“ hat Korsett und Strapse an, „Er“ oder „Sie“ ist wild geschminkt. „Ich bin einfach nur ein süßer Transvestit, aus Transsexual, aus Transsilvanien…“ - Dr. Frank N. Furter bemüht den Begriff „Trans“ wirklich oft - sagt oder besser: singt davon. Offensichtlich ist er ein Mann in erotischer Frauenkleidung und in Stöckelschuhen.
MUSIK hoch und aus
ERZÄHLERIN
Bei Dr. Frank N. Furter weiß man wirklich nicht, was oder wer er ist. Gut: Er ist offensichtlich ein Mann, der sich weiblich gibt. Also ein „Transvestit“ Er ist ein Hedonist. Aber ist er schwul? Ist er hetero? Oder ist er irgendwas dazwischen? Ist er, wie man heute sagt: „Trans“? - Die Rocky Horror Picture Show brachte jedenfalls Mitte der 1970er Jahre ein Phänomen in die Kinos und damit in die Populärkultur, das man zwar irgendwie kannte, aber wo man nicht so genau wusste, was es damit auf sich hat und was man damit anfangen sollte: Damals nannte man das Phänomen noch „Transvestismus.“ -
MUSIKAKZENT
ZITATOR (Dr. Wegner)
Wo kommt das Wort Transvestit her und was bedeutet es?
ERZÄHLERIN
Fragt bereits in den 1930er Jahren ein Autor namens Dr. Wegner in einer Zeitschrift Namens „Das dritte Geschlecht“. Und er beantwortet seine Frage gleich selbst:
ZITATOR (Dr. Wegner)
Das Wort „Transvestit“ ist aus den lateinischen Worten „trans = entgegengesetzt und vestitus = gekleidet“ gebildet …
ERZÄHLERIN
Aber mal kurz nachgefragt, was hat es mit der Zeitung „Das dritte Geschlecht“ auf sich?
01 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Das ist überhaupt die allererste Transvestitenzeitschrift, die es je gegeben hat …
ERZÄHLERIN
Sagt Rainer Herrn. Medizinhistoriker. Er hat diese Zeitschrift im Reprint neu veröffentlicht ….
02 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Die große Überraschung: Die erste Auflage war in Windeseile vergriffen und wir haben jetzt gerade die zweite Auflage dieser Zeitschrift, weil: das Transthema heute ein sowohl politisches, als auch, bei der Transcomunity selbst eine solche Konjunktur und eine solche Politisierung erfahren hat, dass es ein großes Interesse an der Geschichte von „Trans“ gibt. Also von Transpersonen ...
MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN
Aber nochmals zurück zum Begriff der „Transvestiten“ in den 1930er Jahren. - Der Volksmund, so fährt Dr. Wenger in seinem Artikel in der Zeitung „Das dritte Geschlecht“ fort, bezeichnet solche Menschen in seiner Zeit, also in den 1930er Jahren, als „pervers“ Aber, so vermutet er, nur mangels besseren Wissens …
ZITATOR (Dr. Wenger)
Unter Transvestiten versteht man nun solche Personen, die den inneren Drang in sich fühlen, die Kleidung des anderen Geschlechts anzulegen, also Männer, die gerne Frauenkleider tragen und Frauen, die am liebsten Männerkleidung tragen …
MUSIKAKZENT
03 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Also wir haben eine große Vielfalt heute von „Sexuell diversity“, die mit diesen alten Begriffen eigentlich gar nicht mehr zu fassen sind. (…)
ERZÄHLERIN
Heutzutage sei „Transvestismus“ wohl kein passender Begriff mehr, meint der Medizinhistoriker Rainer Herrn …
04 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Diese ganzen Begriffsentwicklungen kommen eigentlich um 1910 …
ERZÄHLERIN
Anfang des 20. Jahrhunderts etabliert sich, wie soll es auch anders gewesen sein, in Berlin, die Sexualwissenschaft. Und die junge Sexualwissenschaft findet Begriffe für die ihrer Zeit als „abnormales Verhalten“ geltende sexuelle Praktiken, Begriffe wie etwa „Sadismus“, „Fetischismus“, „Homosexualität“, „Bisexualität“ oder eben auch die Bezeichnung „Transvestismus“
05 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Ja, das ist eigentlich ein Wortungetüm und ein Wort, das in die Welt gesetzt wurde und zugleich ganz harsche Kritik erfahren hat, nämlich von der Community, die es betroffen hat, nämlich von den Transpersonen, die gesagt haben: „Wir sind keine Transvestiten. Also sagen, es geht nicht um „Trans“, sondern es geht im Sinne von dem Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts, also nicht zum Verkleiden, sondern dass sie die Personen, die Kleidung, die ihrer Psyche entspricht, anziehen möchten. Also es ist kein Transvestismus und es gibt eine ganze Reihe dann von neuen Begriffsschöpfungen, die dafür gebraucht wurden. Traditionell wird in der englischsprachigen Literatur „Crossdressing“ verwendet.
ERZÄHLERIN
Was der Begriff „Transvestismus“ also nicht unterschieden hat, ob es da um heterosexuelle oder homosexuelle Personen geht, meist Männer. Oder geht es gar um jemanden, der seine Geschlechtsidentität anders fühlt oder gar nicht binär sieht … Seiner Zeit, so Rainer Herrn, galten alle Männer, die Frauenkleidung trugen, als Homosexuelle.
06 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Traditionell wurden Transpersonen eigentlich zu den Homosexuellen gezählt. Also es wurde im Grunde nicht unterschieden zwischen Homo und Trans …
MUSIKAKZENT (evtl. Mundell Lowe)
ZITATOR (Woody Allen)
Are transvestites homosexuals? –
ERZÄHLERIN
Fragt Woody Allen in einer Episode seines Films „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten“. Wieder ein Film aus den 1970er Jahren. In sieben Episoden parodiert Woody Allen die Aufklärungswelle der 1960er Jahre. Und Woody Allen stellt Fragen. Etwa: Was passiert bei der Ejakulation? Was ist ein Perverser? Was ist Sodomie? Aber er fragt auch:
ZITATOR (Woody Allen)
Sind Transvestiten Homosexuelle?
ERZÄHLERIN
Die Geschichte dieser Episode ist schnell erzählt. Das ältere Ehepaar Sam und Tess sind bei Bekannten eingeladen. Sam schleicht sich heimlich in das Schlafzimmer der Gastgeberin und zieht ihre Kleider an. Als er in seinem roten Rock, seiner weißen Bluse und dem roten Hut droht, entdeckt zu werden, türmt er aus dem Fenster auf die Straße. Und mischt sich unter die Leute draußen, die ihn als „Lady“, als „Dame“ ansprechen. – Obwohl er einen Schnurrbart hat. Den verdeckt er geschickt mit einem Finger und behauptet, eine Verletzung an der Oberlippe zu haben … .
MUSIK aus
07 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Nun liefen also Frauen in Männerkleidung, Männer in Frauenkleidung immer Gefahr, durch das Auge der Öffentlichkeit, also des kleinen Mannes oder kleinen Frau, entdeckt zu werden, in der Öffentlichkeit, hopps genommen zu werden, angeklagt zu werden, zu Wiederholungstätern zu werden …
ERZÄHLERIN
Sagt Rainer Herrn. –
Doch Woody Allens Film spielt ja in den 1970er Jahren, in den Vereinigten Staaten, und da war man schon irgendwie aufgeschlossener als im Deutschland des Kaiserreichs. –
MUSIK
ERZÄHLERIN
Also: Tess, die Ehefrau, sie sieht ihren Mann, mit dem roten Hut, der Bluse und dem Röckchen auf der Straße und ist irritiert:
„Mein Gott! Sie ist mein Mann!“
MUSIK
ERZÄHLERIN
Doch die Ehefrau zeigt Verständnis. „Du hättest es mir sagen sollen. Ich hätte es verstanden“ – Und sie schmunzelt:
… „Du hättest ihre Gesichter sehen sollen“. –
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Was man nicht unterschätzen sollte, sei es die „Rocky Horror Picture Show“ oder Woody Allens „Was sie über Sex wissen wollten“, jeder dieser Filme hat auf seine Art und Weise halt um Verständnis geworben für das „Crossdressing“. Oder wie man eben früher sagte: für den „Transvestismus“…
08 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Was man auch vergisst in der Geschichte … die Hauptfraktion der frühen Transvestiten sind heterosexuelle Männer gewesen …
ERZÄHLERIN
Sagt Rainer Herrn. – Sogenannte ‚Transvestiten‘ waren also heterosexuelle Männer, oft verheiratet, meist Kinder, bürgerliches Leben. Sie trugen gerne Frauenkleider. Das meist heimlich. - Doch zu Anfang des 20. Jahrhunderts war die Situation für Transvestiten nicht so amüsant wie bei Woody Allen in den 1970er Jahren. Crossdresser galten – wie gesagt - als Homosexuelle …
09 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Sie müssen wissen, Homosexualität ist ein Stigma gewesen, wenn das ruchbar geworden ist, war das der soziale Tod. Erpressung war an der Tagesordnung und Suizide waren keine Seltenheit. Und deshalb die starke Abwehrbewegung von Crossdressern, um nicht als homosexuell zu gelten …
ERZÄHLERIN
Alle von der Norm der gesellschaftlichen Konventionen abweichenden Personen wurden von Seiten des Staates kriminalisiert …
10 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Und nun waren die Homo- und Transpersonen irgendwie aneinander gekettet. Aber Transpersonen fühlten sich missverstanden, dass ihnen ein homosexuelles oder homoerotisches Begehren zugeschrieben wurde. Und die wendeten sich an die junge Sexualwissenschaft, unter anderem an Magnus Hirschfeld und sagten unter anderem, wir sind aber gar nicht homosexuell …
ERZÄHLERIN
Magnus Hirschfeld, von ihm wird gleich noch die Rede sein, gründet 1919 in Berlin das erste Institut für Sexualwissenschaft.
11 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Aber auch in der homosexuellen Bewegung gab es sehr viele, die sich als echte Männer begriffen haben, als Supermänner, als hyperviril, als so genannte Maskulinisten. Und die haben gesagt, wir haben gar nichts am Hut mit diesen Crossdressern, die Frauenkleider tragen, das ist für uns etwas ganz Abscheuliches.
MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN
Der Mediziner Magnus Hirschfeld schreibt 1910 eine wissenschaftliche Arbeit. Titel: „Die Transvestiten. - Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb.“ Eine Monografie …
12 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
… mit 17 Fallbeschreibungen, wie es damals hieß. 16 Männer und eine Frau. Das sind sozusagen kleine autobiografische Vignetten, die quasi exemplarisch zeigen, wie das Leben von Transpersonen verläuft – mit der typischen Kindheit, wo der Wusch nach dem Tragen der Kleidung des – Gänsefüsschen – anderen Geschlechts aufkam (…)
ERZÄHLERIN
Hirschfelds Buch ist komplex. Ganz im Sinne der Zeit versucht er auf fast 600 Seiten, den „Transvestismus“ zu katalogisieren, zu systematisieren aber auch zu psychologisieren … Also unterscheidet er etwa:
ZITATOR (Magnus Hirschfeld)
- Zeitpunkt des ersten Auftretens der Verkleidung
- die sonstigen Lebensgewohnheiten der Transvestiten
- die Ehefrauen der Transvestiten
- die Kleidung als Ausdrucksform seelischer Zustände
ERZÄHLERIN
Und Magnus Hirschfeld begibt sich auch in die Geschichte. Er untersucht den Transvestismus von der …
ZITATOR (Magnus Hirschfeld)
… Geschlechtsverkleidung bei den Naturvölkern …
ERZÄHLERIN
… Bis zur …
ZITATOR (Magnus Hirschfeld)
Geschlechtsverkleidung auf der Bühne
ERZÄHLERIN
Rainer Herrn ergänzt:
013 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Ein wichtiges Medium, wo, sagen wir, „trans“ gelebt wurde, ist natürlich auch die Bühne gewesen … Wir haben eine ganze Reihe von Theatern (…) wo die Frauenrollen von Männern gespielt wurden. Also das war auch ein Austragungsort von diesem Begehren …
ERZÄHLERIN
Nur, und das ist wichtig, auf Bühnen nennt man diesen, wie Magnus Hirschfeld es genannt hat, „Verleidungstrieb“ anders … Er heißt „Travestie.“ – In der Zeit von Shakespeare etwa, also im späten 17. Jahrhundert schlüpften Männer in Frauenkostüme, um weibliche Rollen darzustellen. Aber im 19. Jahrhundert, etwa in der Operette „Die Fledermaus“ von Johann Strauß gibt es eine so genannte Hosenrolle. Hier stellt eine Frau, eine Mezzosopranistin, den Prinz Orlofsky dar ….
14 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Das, was wir heute als Travestie bezeichnen. Das ist aber schon im ernsten Sinne von dem, was Transvestismus im traditionellen Sinne bedeutet, wo also ein psychischer Wunsch besteht, ich will jetzt das Wort „Trieb“ nicht gebrauchen, das ist wirklich ein altmodischer Begriff, also wo ein inneres Bedürfnis entsteht, diese Kleidung zu tragen, das ist davon zu unterscheiden. Also: Travestie und dieser Wusch des Crossdressings, das sind zwei unterschiedliche Ebenen.
MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN
Zurück zu Magnus Hirschfeld. Ihn interessierte also, warum trägt „man“ oder „frau“ die Kleidung des anderen Geschlechts? Aus sexuellen Gründen? Um sich wohlzufühlen? - Interessant sind seine Fallbeschreibungen der Menschen, die sich „crossdressen“. Magnus Hirschfeld berichtet zum Beispiel von einem gewissen „Herrn E.“, der ihm seine Aufzeichnungen überlasen hat …
MUSIKAKZENT
ZITATOR (Magnus Hirschfeld)
Herr E., im Kunstgewerbe tätig, ca. 40 Jahre alt, stammt von gesunden Eltern. Abweichende Anlagen oder Degenerationszeichen sind in der Verwandtschaft nicht nachzuweisen. Die körperliche Kindheitsentwicklung verlief normal.
ERZÄHLERIN
Mädchen gegenüber sei er schon in frühester Jugend an „höchst schüchtern“ gewesen. Zu Hause sei er streng erzogen worden. Und jetzt?
ZITATOR (Magnus Hirschfeld)
Status praesens: Breite der Hüften etwas geringer als die der Schultern. Körperlinien rundlich, leichter Panniculus adiposus. Oberarme und Oberschenkel mehr gerundet als abgeflacht. Füsse von mittlerer Größe, Hände von der Arbeit etwas mitgenommen.
ERZÄHLERIN
Ganz nüchtern beschreibt Hirschfeld die Physiognomie vom Herrn E. Aber wann begann sein Drang, wie es Hirschfeld nennt, nach „Geschlechtsverkleidung“?
ZITATOR (Magnus Hirschfeld)
Vita sexualis: Im Alter von vier Jahren versuchte er zuerst, das Kleid seiner Schwester anzuziehen ...
ERZÄHLERIN
Im Karneval habe er sich gerne als Frau verkleidet, opferte dafür den Schnurrbart. Und bedauerte es, die Frauenkleider wieder ablegen zu müssen. Freilich:
ZITATOR (Magnus Hirschfeld)
Lange Strümpfe und Korsett trägt er fast immer unter seiner Männerkleidung. ln dieser raucht er gern, was er im Frauenkostüm nie tut. - Der Trieb war immer auf den „coitus cum femina“ gerichtet; erste Betätigung Anfang der Zwanziger. „In actu“ ist er gern „succubus“. Triebstärke: durchschnittlich zwei Ejakulationen in der Woche. Von Homosexualität ist keine Spur vorhanden.
MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN
Ein bisschen fühlt man sich an Woody Allens Film „Was sie immer über Sex wissen wollten …“ erinnert … Ein Mann, der seinen Schnurrbart verbirgt, um als Frau durchzugehen. Aber bleiben wir ernst. Magnus Hirschfeld hat für die Geschichte der Transmenschen gewirkt … Und er hat viele Biografien gesammelt, die eine schwierige Situation im Leben beschreiben.
15 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
So haben wir eine ganz große Melange unterschiedlicher Transbiografien eigentlich, also punktueller, passaschärer oder permanenter „Transvestismus“, um dieses Wortungetüm noch einmal zu gebrauchen – also: gibt es ganz unterschiedliche Formen – und genauso erleben wir es heute, wie sich Transpersonen empfinden.
MUSIK („Rocky Horror“)
It's beyond me
Help me, mommy
I'll be good, you'll see
Take this dream away
ERZÄHLERIN
Zurück zum Film Rocky Horror Picture Show, zurück zum Film, wo der Transvestismus oder das Crossdressing wohl nur als Spiel funktioniert. … Der biedere Ehemann „Brad“ steht plötzlich, verkleidet als Frau, also genauer gesagt, eingekleidet mit Strapsen, Korsett und High Heels auf der Bühne. Er wurde von Dr Frank. N. Furter in einen Transvestiten verwandelt. Und Brad erlebt plötzlich neue Gefühle, er empfindet sich als „sexy“ …
MUSIK hoch
What's this, let's see
I feel sexy
MUSIK (Rocky Horror) aus
MUSIKAKZENT
ERZÄHLERIN
Und jetzt mal kurz innehalten, Sexualität ist etwas Besonderes: Natürlich gibt es auch heutzutage noch den „Transvestismus“, so hat man das früher genannt, oder wie es jetzt heißt, das Crossdressing“, oder die „Feminisierung“, wie es Kolja Nolte nennt, es gibt das Ganze einfach heute auch als sexuelles Spiel … Meist wird das Spiel nicht daheim mit der Ehefrau ausgelebt, sondern vielleicht bei Sexarbeiter*innnen. Wie eben bei Kolja Nolte vom „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“. In der Szene nennt er sich „der Dominus“:
16 ZUSPIELUNG (Kolja Nolte alias „der Dominus“)
Also prinzipiell liegt der Lustgewinn ein Stück weit in der Ächtung. Man muss sich das so vorstellen, als Mann, ist es immer noch nicht saloonfähig, Frauenkleider anzuziehen.
ERZÄHLERIN
Der Medizinhistoriker Rainer Herrn ergänzt, dass die Ächtung des Kleidertauschs ja wirklich schon sehr früh begann:
17 ZUSPIELUNG (Rainer Herrn)
Nun müssen sie wissen, dass die Geschlechtsordnung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit eine unglaublich strenge gewesen ist. Wenn eine Frau auf der Straße Hosen trug, und als Frau erkannt wurde, wurde sie sofort „Hopps“ genommen von der Polizei, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und groben Unfugs. Paragraf 184 und 360 Strafgesetzbuchs. Das gleiche galt für Crossdresser, für Männer in Frauenkleidung.
ERZÄHLERIN
Zwar wird heute wohl keiner mehr „Hopps“ genommen, wenn „Er“ oder „Sie“ als Crossdresser auftritt, aber eine gesellschaftliche Etikette besteht trotzdem noch:
18 ZUSPIELUNG (Kolja Nolte alias „der Dominus“)
Und im Übrigen ist es auf der anderen Seite nicht so, wenn man die weibliche Emanzipation anschaut, hat sich da eine ganze Menge getan, also Frauen können Hosen und anderes tragen, während das männliche Geschlecht das immer noch nicht darf …. Also ich erinnere mal an die Skandale, die jetzt wüten, dass die Männer sich jetzt die Nägel lackieren. Ich finde das alles ganz großartig. Und ich finde auch, dass sich die Männer da emanzipieren dürfen, um da auch mehr Rechte zu bekommen …
ERZÄHLERIN
Sagt Kolja Nolte alias der „Dominus“, vom „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“. Aber, natürlich, in dem immer noch immer tabuisierten Verhalten liegt auch ein Lustgewinn. „Ich darf das halt nicht …“
19 ZUSPIELUNG (Kolja Nolte alias „der Dominus“)
Und in dem Sinne liegt der Lustgewinn da dran, dass wenn ein Mann halt Frauenkleider anzieht, sich da natürlich ein Stück weit erniedrigt fühlt. Und diese Erniedrigung kann natürlich damit gefestigt werden, dass die Rollen zum Beispiel getauscht werden, dass der meist weibliche dominante Part dann in die Penetration geht …
ERZÄHLERIN
Bei diesem Spiel gibt es sehr oft stereotype Rollenmodelle:
20 ZUSPIELUNG (Kolja Nolte alias „der Dominus“)
Wir hätten da die „Sissy“, das ist so ein bisschen der „Funnytyp“, das wissen die Menschen auch ein Stück weit … Das ist ja, wenn man in höherem Alter, jetzt will ich ein Frauenkostüm, dann sitzt das am aller wenigsten … Und das ist aber in dem Augenblick gar nicht so wichtig, es geht einfach darum in eine gewisse Rolle reinzuschlüpfen …
ERZÄHLERIN
Und da gibt es die „Zofe“. Ein Mann, der sich als „Maid“, als „Magd“ verkleiden lässt. - Aber es gibt auch den Fetischisten. Eigentlich ein Begriff aus dem frühen 20. Jahrhundert-
21 ZUSPIELUNG (Kolja Nolte alias „der Dominus“)
Das ist jemand, der also wirklich über die Kleidung einfach einen Lustgewinn erfährt, ohne dass da eine psychische Komponente dabei ist. Ich glaube eines der größten Beispiele ist das Thema Strapse tragen, Nylons auf der Haut fühlen, da ist das Material eine Entscheidung und das weibliche Verhalten ist gar nicht so das, wo der Reiz daran liegt …
MUSIKAKZENT (evtl. Rocky Horror Picture Show“)
ERZÄHLERIN
Zurück zu Magnus Hirschfeld, dem Sexualwissenschaftler aus dem frühen 20. Jahrhundert. Er erkannte, seine „Transvestiten“ haben auch ein glückliches Leben …
ZITATOR (Magnus Hirschfeld)
Nicht minder beredt berichtet einer, wie ihn seit seinem 15. Jahre ein Verlangen nach Frauenkleidern beherrschte, das „wie Hunger und Durst Befriedigung heischte“. Endlich mit 24 Jahren, als er krankheitshalber vom Lehramt beurlaubt im elterlichen Hause weilte, bietet sich die ersehnte Gelegenheit. Er zieht sich ein vollständiges Ballkostüm seiner Schwester an. „Ein nie gekanntes Gefühl des Wohlbehagens durchrieselte mich“, „das Wunderbarste war, dass ich mich jetzt rasch erholte, während ich vorher sechs Wochen lang vergeblich ein Sanatorium besucht hatte.“
ERZÄHLERIN:
Und der Dominus, also Kolja Nolte meint:
22 ZUSPIELUNG (Kolja Nolte alias „der Dominus“)
Ich finde, „Sexualität“ ist ein wunderschönes Beispiel, um sich selber zu sortieren in seinem Leben. Und da gibt es viele Möglichkeiten: Andere Menschen reden sehr viel, der nächste liest sehr viel, ja, oder treibt einfach Sport und kann sich darüber sehr gut sortieren … und andere Menschen schaffen das über Sexualität … Sexualität kann ein Weg sein, um Dinge klar zu ziehen. Um vielleicht die eine oder andere Lebenssituation besser zu meistern oder ein schönes Ventil zu haben für aufkeimende Gefühle …
Freundliche Menschen gelten oft als schwach, naiv, nachgebend. Dabei braucht jeder Mensch und jede Gesellschaft Freundlichkeit ? und zu Verlierern macht diese Eigenschaft den Einzelnen auch nicht. Von Marie Schoeß (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Marie Schoeß
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Peter Weiß, Katja Amberger
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Claudia Hammond, Journalistin, Dozentin für Psychologie
Prof. Dr. Hans Bernhard Schmid, Professor für Philosophie an der Universität Wien
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Die Lösung - Der Psychologie Podcast von Puls
Was ist da manchmal los in unserem Kopf? Verhaltenstherapeutin Maren Wiechers und Host Verena „Fiebi“ Fiebiger gehen dieser Frage jede Woche auf den Grund. Mit Empathie und Sachverstand sprechen sie über die großen und kleinen Themen der Psychologie, die uns umtreiben: Was macht der Alltagsstress in der Rushhour des Lebens mit uns? Wie ist da mit unserer Persönlichkeit: Bleiben wir ein Leben lang gleich? Wie sehr prägen unsere Eltern uns – und wir damit wiederum unsere Kinder? „Die Lösung“ ist der Psychologiepodcast für alle, die ein wenig Ordnung ins Gefühlschaos bringen wollen. Denn gemeinsam grübeln ist immer besser als alleine. Und klar: Die eine große Lösung gibt es selten – aber jeder Schritt zählt!
ZUM PODCAST
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Beginnen wir mit einer Wette: Wenn Sie heute das Haus verlassen, wenn Sie jetzt gleich einkaufen gehen, zur Arbeit fahren, den Hund spazieren führen, ihre Kinder von der Schule abholen, dann werden Ihnen überall kleine freundliche Taten begegnen.
Hier wird die Tür einen Moment lang aufgehalten, damit noch zwei Fremde durchschlüpfen können. Da hilft jemand der Mutter mit dem Kinderwagen. Oder dort, dort hebt einer dem Sitznachbarn in der U-Bahn den Regenschirm auf, weil der seinen Verlust gar nicht bemerkt hatte.
Ich wette also mit Ihnen: Sobald Sie Ihr Haus verlassen, begegnen Sie der Freundlichkeit!
01 - ZUSPIELUNG Claudia Hammond
OVERVOICE:
Wer einmal anfängt, auf Freundlichkeit zu achten, entdeckt sie immer häufiger. Ich empfehle, es mit Freundlichkeit zu halten, wie einige es mit Vögeln machen, also: Vogelbeobachter zu werden – nur für Freundlichkeit. Psychologische Studien belegen, dass negative Sachen sichtbarer sind: Einen Löwen hinter dir auf der Straße bemerkst du. Aber das Kind, das dir allein folgt, nicht unbedingt. Der Löwe kann dir schließlich gefährlich werden, den musst du sehen. Die negativen Dinge fallen uns also auf, an sie erinnern wir uns. Und in den Nachrichten sehen wir, dass überall auf der Welt schreckliche Dinge passieren. All das lässt uns glauben, dass es in der Welt nur grausam zugeht. Aber das stimmt nicht. Die meisten Leute sind freundlich zueinander.
SPRECHERIN
Keine Sorge: Claudia Hammond ist niemand, der die Augen vor Kriegen und Krisen verschließt. Sie ist Journalistin, geschult darin, kritisch auf die Welt zu blicken. Sie ist aber auch Dozentin für Psychologie und hat als solche Studien gelesen, selbst welche durchgeführt, die belegen, dass Freundlichkeit kein Mythos aus der Antike ist, der in pluralen demokratischen Gesellschaften ausgedient hat. Sondern etwas, das sich gut anfühlt, das – bis heute – zum Zusammenleben unbedingt dazugehört und: den Einzelnen erfolgreich macht.
Denn wenn es einen Mythos in Sachen Freundlichkeit gibt, ist es dieser hier: Wer freundlich ist, kann nur verlieren.
02 - ZUSPIELUNG Claudia Hammond
OVERVOICE:
Es gibt diese Idee, dass man gerade als Chef eher gemein, streng sein muss, weil die Leute sonst nicht richtig arbeiten. Aber Belege gibt es keine dafür: In einer groß-angelegten Studie nahm sich Joe Folkman, ein Psychometriker aus den USA, Feedback-Bögen von über 50.000 Führungskräften vor und fand heraus, dass unsympathische Chefs selten erfolgreich sind. Diejenigen, die gemocht werden, sind dagegen zugleich die effektivsten. Erfolgreich und unsympathisch zu sein: Dafür stehen die Chancen bei 1 zu 2.000.
Musik 1
"00:26" - Künstler und Komponisten: Ólafur Arnalds & Nils Frahm - Album: Trance Frendz - Länge: 1'39
SPRECHERIN:
Dass Freundlichkeit ein so ausschlaggebender Faktor für Erfolg ist – davon gehen sicher die wenigstens aus. Aber die Studie zeigt genau das: Unsympathische Chefs oder Chefs, die sich nicht um ein freundliches Klima in ihrem Unternehmen sorgen, haben bloß eine winzige Chance auf Erfolg. Was nur beweist: Freundlichkeit ist nicht so schlicht, wie sie zu sein scheint, eigentlich ist sie sogar ein ziemlich komplizierter Fall und unser Verhältnis zu ihr ebenfalls. Freundlichkeit prägt unser Leben jeden Tag, entscheidet übers Vorankommen, über Gesundheit und Geborgenheit. Und trotzdem ist umstritten, was genau sie ist, wann sie wem guttut und welche Form freundliches Verhalten konkret annimmt.
Hans Bernhard Schmid ist Professor für Philosophie – ihn interessiert die große Frage, was das eigentlich ist, Freundlichkeit? Ihn interessiert, warum einige Philosophen der Spätmoderne den Menschen als unfreundliches Wesen beschreiben, als konkurrenzgetrieben, egoistisch von Natur aus, und warum gerade ihre Texte so überzeugend waren, dass Freundlichkeit bis heute vielen als etwas Randständiges, fast schon Kurioses gilt. Ihn interessiert, ob es – dieser Vorstellung zum Trotz – gerade die Freundlichkeit ist, die menschliches Leben ausmacht. Und zwar mehr noch als Sprache, Denken, Fühlen. Hans Bernhard Schmid kennt auch die alltäglichen Fallstricke von Freundlichkeit. Schauplatz: Flugzeug, kurz vorm Abheben.
03 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Meine Eltern empfinden es als sehr unfreundlich, wenn man in dem Flugzeug einfach mit dem Finger auf den eigenen Platz weist – da beim Fenster. Und die Leute, die beim Gang schon sitzen, durch den Fingerzeig dazu auffordert, einem Platz zu machen. Meine Eltern beginnen dann ein Gespräch mit den Personen. Ich als häufiger Flieger bin sehr froh, dass nicht viele Menschen auf diese Weise freundlich sind. Denn Freundlichkeit wird sehr schnell zur Aufdringlichkeit.
SPRECHERIN
Hier zeigt sich, was Freundlichkeit in ihrer einfachsten Form ist: Etikette, vergleichbar mit der Höflichkeit. Aber hat es historisch in puncto Höflichkeit klare Normen gegeben, nicht selten aufgeschrieben in Ratgebern, herrscht bei Freundlichkeit Unsicherheit:
MUSIK 3
"Seven Fizzles: III" - Komponist: Barry Guy - Album: Symmetries - Länge: 1'22
SPRECHERIN
Wie viel Freundlichkeit ist angemessen, wann wirke ich aufdringlich, wann abweisend? Das ist immer kontextabhängig und selten selbsterklärend. Claudia Hammond kennt das Problem und die Konsequenz:
04 - ZUSPIELER Claudia Hammond
OVERVOICE:
In der großen Recherche, die ich mit Kollegen an der University of Sussex gemacht habe, dem Freundlichkeits-Test, bei dem 60.000 Menschen teilgenommen haben, war eine Frage: „Was hindert Sie daran, freundlicher zu sein?“ Und 2/3 der Teilnehmer sagten, sie hätten Angst, fehlinterpretiert zu werden. Das war die größte Angst von Menschen in UK und Europa. Die Leute wollten also freundlich sein, wussten aber nicht, ob es falsch rüberkommt. Die Angst, sich peinlich zu machen, hindert uns daran, freundlicher zu sein.
SPRECHERIN
Kennen Sie, oder? Da müht sich ein Fremder ab, Kisten ins Haus zu schleppen, kann Hilfe gut gebrauchen, aber bis Sie sich durchgerungen haben, die Initiative zu ergreifen, bis Sie überzeugt sind, dass das schon nicht aufdringlich wirkt, ist die Situation vorbei. Eine verpasste Chance, sagt Claudia Hammond. Denn eigentlich ist das Risiko, dass spontane Freundlichkeit Grund für Unbehagen ist, gering:
05 - ZUSPIELER Claudia Hammond
OVERVOICE:
Belegt ist, dass wir es lieben, wenn Menschen freundlich sind. In unserem Freundlichkeits-Test haben wir die Teilnehmer gefragt, wie sie sich fühlten, wenn man ihnen freundlich begegnete. Und sie fühlten sich verbundener mit anderen, sie fühlten sich gesehen, haben es genossen. Wir mögen es also, wenn man freundlich zu uns ist, und wir mögen freundliche Menschen. Insofern sollte uns das keine Angst machen.
SPRECHERIN
Alle psychologischen Studien, die Claudia Hammond kennt, belegen: Das Risiko von Freundlichkeit ist minimal. Der Nutzen dagegen enorm – psychische und physische Gesundheit werden von Freundlichkeit derart gestärkt, dass Hammond sie als „Schutzschirm gegen Burnout und Stress“ beschreibt. Die positiven Effekte greifen dabei gerade bei denen, die freundlich handeln. Selbst freundlich zu sein trägt nämlich noch mehr zum Wohlbefinden bei, als Freundlichkeit zu empfangen.
Musik 4
Bobby Laurence Crane Album: Lush Laments for Lazy Mammal - Länge: 0'15
SPRECHERIN
Nur fangen mit dem Nutzen der eigenen Freundlichkeit die philosophischen Fallstricke an – und die spüren nicht bloß spitzfindige Philosophie-Nerds, sondern jede und jeder von uns.
Musik 5
"Friends Theme" Länge: 0'40
SPRECHERIN
Selbst „Friends“, die Kultserie aus den USA, hat dieses philosophische Problem einmal durchgespielt: Phoebe Buffay, diejenige unter den New Yorker Freunden, die sehr freundlich und zugleich eine Spur verrückt ist, Phoebe also will den Beweis antreten, dass sie auf ganz und gar selbstlose Art freundlich sein kann. Und scheitert. Es gelingt ihr einfach nicht, gegen ihren Willen zu helfen, egal, was sie tut, um andere zu unterstützen, egal auf welche Art sie also ihre Freundlichkeit zeigt: Immer genießt sie selbst das Miteinander. Eine Pattsituation, die nicht erst die Popkultur, sondern schon Friedrich Schiller umtrieb:
Musik 6
Bobby Laurence Crane Album: Lush Laments for Lazy Mammal - Länge: 0'15
ZITATOR
Gerne dien ich den Freunden, / doch thu ich es leider mit Neigung, /
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
SPRECHERIN
Wirklich tugendhaft ist nämlich nur, das weiß Phoebe, das parodiert Schiller, wirklich tugendhaft ist nur, wem die eigene Freundlichkeit ein bisschen Kraft kostet. Oder immerhin Überwindung. Ein reiner Akt muss Freundlichkeit sein und ‚rein‘ heißt: ein Akt, der ausschließlich dem anderen dient, nicht der eigenen Lust folgt.
Diesen Floh hat uns Immanuel Kant ins Ohr gesetzt – der sich wiederum auf Aristoteles stützen konnte: Der antike Philosoph hatte sich Gedanken über etwas gemacht, das er „eunoia“ nannte: Mit „kindness“ wird das ins Englische und mit „Wohlwollen“ wurde es lange ins Deutsche übersetzt. Heute würden wir wohl eher von „Freundlichkeit“ sprechen: „Eunoia“ jedenfalls definiert Aristoteles in der Nikomachischen Ethik als eine Gefälligkeit …
Musik 7
Bobby Laurence Crane Album: Lush Laments for Lazy Mammal - Länge: 0'15
ZITATOR
Ohne Gegenleistung und nicht zu dem Zwecke, daß der Wohltäter selbst einen Vorteil daraus hat, sondern der Bedürftige.
SPRECHERIN
Lesen wir das heute, haben wir bewusst oder unbewusst eine reine Tat im Sinne Kants im Kopf. Psychologisch unrealistisch, das wird sich gleich noch zeigen. Aber die Zuspitzung ist auch nicht in Aristoteles’ Sinne:
06 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Aristoteles liegt es fern, etwas Reines im Ethischen zu suchen. Er ist interessiert an den empirischen Bedingungen, die gutes Handeln und zwar dauerhaftes, verlässliches gutes Handeln und den damit verbundenen guten Willen unterstützen.
SPRECHERIN
Heißt: Für Aristoteles wäre Phoebes Pattsituation keine Pattsituation. Aristoteles sah den Menschen als ein geselliges Wesen und – wer in einer Gemeinschaft leben, gut leben will, der hilft eben. Dass der Gebende sich dabei gut fühlt, hätte Aristoteles nicht zusammenzucken lassen. ((Der Gedanke, wie sich der Gebende fühlt, ist bei ihm überhaupt nicht zentral – auch weil die Idee, die eigene Lust stehe dem tugendhaften Handeln permanent im Weg, Aristoteles fremd ist.))
Aber es ist Kants strenge Vorstellung, die sich in unsere Zeit übersetzt hat: Phoebes Selbstversuch ist ein Beweis dafür, die latente Skepsis gegenüber Freundlichkeit ein anderer.
07 - ZUSPIELER Claudia Hammond
Wir sollten uns darüber nicht so viele Gedanken machen, finde ich. Wenn es sich so entwickelt hat, dass Freundlichkeit belohnt wird: Warum sollten wir das bekämpfen? Sex zum Beispiel ist ja auch nützlich im Sinne der Fortpflanzung. Und trotzdem dürfen wir ihn genießen. Warum ist es bei Freundlichkeit anders, was ist falsch daran, von Freundlichkeit zu profitieren?
SPRECHERIN
Das sagt die Psychologin Claudia Hammond und weiß, dass wir kulturell anders geprägt sind:
Musik 8
"Runaway" - Komponist: Ólafur Arnalds - Album: Gimme Shelter - Länge: 0'41
SPRECHERIN
Dass häufig gerade den Menschen mit Misstrauen begegnet wird, die besonders freundlich sind und daraus ganz offensichtlich selbst Genuss ziehen.
Hat der Prominente nicht bloß deshalb eine enorme Summe gespendet, weil es sein Image aufpoliert? Wollte sich dieser junge Mann nicht als Wohltäter aufspielen, als er einem Fremden seine Niere spendete, einfach so, ohne äußeren Anlass? Keine fiktive Reaktion auf Freundlichkeit übrigens, sondern eine aus Claudia Hammonds Erfahrungsschatz, die viel von Kants Vorbehalten erzählt.
Musik 9
"00:26" - Künstler und Komponisten: Ólafur Arnalds & Nils Frahm - Album: Trance Frendz - Länge: 1'19
SPRECHERIN
Nur ist dieses Ideal der reinen Tat papiern, wie die psychologische Forschung mittlerweile weiß. Fakt ist, dass sich Freundlichkeit für beide gut anfühlt, auch für den Gebenden:
08 - ZUSPIELER Claudia Hammond
Gehirnuntersuchungen zeigen, dass das Belohnungszentrum, das aktiviert wird, wenn man zum Beispiel Schokolade oder Geld bekommt, auch aktiviert wird, wenn Leute unter dem Gehirnscanner Geld verschenken. Also: Man kann die Leute befragen, welcher wohltätigen Organisation sie Geld geben würden, oder ob sie ihr Geld lieber behalten würden. Und wenn sie das Geld geben, werden andere Gehirnregionen aktiviert, als wenn sie das Geld behalten. In diesem Sinne belohnt uns das Gehirn also, wenn wir freundlich sind. Und das ergibt Sinn: Menschen hatten Erfolg, weil sie kooperierten. Und insofern ergibt es nur Sinn, dass das Gehirn uns für Freundlichkeit belohnt – weil Freundlichkeit Basis für Beziehungen ist. Was ist eine Beziehung schon anderes als das Einverständnis, freundlich zueinander zu sein?
SPRECHERIN
Claudia Hammond spricht etwas aus, das in der Antike immerhin viele Philosophen unterschrieben hätten. Ein wenig runtergebrochen galt Freundlichkeit lange Zeit als etwas Selbstverständliches, fast schon Natürliches. Oder immerhin als etwas, das man sich aus pragmatischen Gründen antrainieren sollte. Jeder dürfte schließlich selbst mal auf Freundlichkeit angewiesen sein.
Aristoteles hat die „eunoia“, die Freundlichkeit also, oder: den guten Willen, das Wohlwollen, in seiner Nikomachischen Ethik nicht klar definiert. Sie steht bei ihm in der Nähe zu Freundschaft und Liebe. Man könnte die Passage so verstehen, dass „eunoia“ die Tugend ist, die uns im rechten Maß lieben lässt, nicht zu viel, nicht zu wenig. Aber ausdrücklich formuliert Aristoteles das – anders als bei anderen Emotionen – nicht.
Hans Bernhard Schmid glaubt: Sein Schweigen zum Verhältnis zwischen „eunoia“ und der Freundschaft, Liebe hat einen Grund.
09 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Vielleicht ist der Grund der, dass die „eunoia“ eine Stufe tiefer liegt, dass es da um etwas geht, das nicht eigentlich eine Emotion ist, sondern unserem ganzen emotionalen System zugrunde liegt.
SPRECHERIN
Das hieße: „Eunoia“ – die Haltung, die Liebe und Freundschaft beigestellt ist – wäre eine Art Grunddisposition des Menschen, die Beziehung überhaupt erst möglich macht, Grundlage von Sprechen, Denken, Fühlen, von Ethik und letztlich: von Gesellschaft überhaupt.
Bis heute ist das eine Sicht auf die Dinge: Dass Freundlichkeit Voraussetzung ist für jede Form des kooperativen Zusammenlebens. Hans Bernhard Schmid denkt dabei etwa an den US-amerikanischen Verhaltensforscher Michael Tomasello:
10 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Tomasello sagt, um miteinander reden zu können, um überhaupt einen Grund zu haben, sprachliche Zeichen zu verbinden in der Kommunikation, brauchen wir so etwas wie ein wechselseitiges, partnerschaftliches Verhältnis, ein Offensein füreinander und genau das ist die Freundlichkeit.
SPRECHERIN
Freundlichkeit – so verstanden – ist ganz weit weg von Freundlichkeit als Etikette. Stichwort: Gespräche im Flugzeug.
Freundlichkeit wäre – in diesem Sinne – eine grundlegende Offenheit für andere, die es braucht, um Gemeinschaft überhaupt zu wagen.
11 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Tomasello vertritt die Ansicht, dass Freundlichkeit im Grunde das ist, was uns Menschen als Tiere von unseren Verwandten im Tierreich unterscheidet. Es ist das Humanum. Das, was uns zum Menschen macht. Und Freundlichkeit ist in diesem Zusammenhang unsere Fähigkeit, partnerschaftlich, kollegial, freundschaftlich gemeinsame Ziele zu verfolgen. Das sei die Eigenschaft, die Fähigkeit, die es uns erlaubt, Kultur, Sprache, Moralität etc. zu entwickeln.
SPRECHERIN
Nicht wenige Philosophen gehen übrigens die Wette ein, von der am Anfang die Rede war: Sie sehen Freundlichkeit und setzen auf sie, um den Menschen zu beschreiben, verstehen den Menschen als ein im Kern freundliches, kooperatives Wesen.
Musik 10
"Massage" - Album: The Haunted Airman (Soundtrack) - Komponist und Ausführender: 0'35
Jean-Jacques Rousseau ist der wirkmächtigste unter den Optimisten: Er stellt sich den Menschen als einen freundlichen vor – bei seiner Geburt immerhin, bevor er also Gefahr läuft, von einer Gesellschaft verdorben zu werden, die sich gegen Freundlichkeit entschieden hat. Den Naturzustand des Menschen prägt – folgt man Rousseau – gegenseitige Sympathie, eine Neigung zum Mitleiden, zu Anteilnahme, Hilfe, Unterstützung.
Musik 11
"Double-bass Improvised Commentary" - Komponist: Barry Guy - Album: Folio - Länge: 0'41
12 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Auf der anderen Seite gibt es ein anderes und in den vergangenen 100 Jahren wahrscheinlich dominant-gewordenes Konkurrenzmodell von Thomas Hobbes, das den Naturzustand des Menschen sehr, sehr unfreundlich schildert. Nach diesem Modell sind Menschen bewegt von Eigeninteressen, die zu verfolgen sie in Konflikte bringt mit anderen Menschen. Diesen anderen Menschen gegenüber dominiert dann ein Gefühl – und das ist nicht die Sympathie, nicht die Zuneigung, es ist die Furcht.
Musik 12
"Kingston" - Komponist und Ausführender: Dickon Hinchliffe - Album: Yardie (The Original Score) - Länge: 1'26
SPRECHERIN
Als Hobbes seinen Leviathan schreibt – Schlüsseltext des unfreundlichen Menschenbildes –, steht er unmittelbar unter dem Eindruck des englischen Bürgerkrieges. Egoismus, Konkurrenz, Hedonismus sind zentral für den Menschen, so die Hobbes’sche Sicht der Dinge, wobei er das entsprechende Verhalten nicht als Fehler des Einzelnen begreift oder als verunglückte Erziehung, sondern: als menschliche Natur.
Der Radikalität seines Ansatzes wurde oft widersprochen, und doch übersetzten sich verschiedenste Spielarten seiner Gedanken in unsere Zeit: Die Idee vom individuellen Genuss, der nicht Hand in Hand geht mit dem Genuss anderer und sicher nicht die Großzügigkeit, die Sorge für den anderen als Quelle hat. Der persönliche Ehrgeiz, zu dem ein gewisses Konkurrenzdenken eben dazugehört. Die Notwendigkeit, sich abzugrenzen vom anderen, um sich selbst nicht zu verlieren.
13 - ZUSPIELER Hans Bernhard Schmid
Die Entwicklung, die mit Hobbes eingesetzt hat, hat in mancher Hinsicht schon sehr recht gegen Aristoteles. Denn Hobbes hat begonnen, über Soziales nachzudenken aus der Perspektive des Einzelnen. Die Grundprämisse seiner Staatskonstruktion ist, dass der Staat legitimiert sein muss aus der Perspektive des Einzelnen. Und Hobbes hat gesehen, dass die Ziele der Einzelnen nicht notwendigerweise immer harmonieren in Hinblick auf ein konzertiertes oberstes höchstes Gut. Diese Hinwendung zur Perspektive des Einzelnen ist sicher etwas, was wir nicht verlieren wollen, da scheint mir Hobbes völlig recht zu haben, aber ich glaube, dass er einen Fehler macht, wenn er die Freundlichkeit einfach über Bord wirft.
SPRECHERIN
Womit er unser Verhältnis zur Freundlichkeit allerdings nachhaltig geprägt hat – könnte man hinzufügen. Überhaupt haben verschiedene philosophische Traditionen der westlichen Welt Freundlichkeit einen Bärendienst erwiesen. Sie sind es, die – entgegen den psychologischen Studien – dafür sorgen, dass freundliche Menschen heute so oft als eine Spur naiv oder fast schon heilig angesehen werden, jedenfalls nicht als einfach normal-menschlich.
Kant und seine Strenge ist eine Etappe, Hobbes und sein Pessimismus eine andere. Und ebenfalls nicht unbeteiligt ist die Philosophie des Christentums. Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Güte – eigentlich sind alle Schlüsselbegriffe des Christentums ohne Freundlichkeit nicht zu denken. Aber die großen Autoren der christlichen Kirche entwarfen eben auch das Bild eines Menschen, der nur durch Gott zur Liebe findet. Der Mensch ist also – wieder – kein von sich aus freundlicher, sondern einer, der durch Selbstzucht, Selbstopfer dazu diszipliniert wird.
((Jean-Jacques Rousseau spürte dieses Paradox ganz konkret – in den Predigten, mit denen er selbst aufwuchs.
ZITATOR
Das Außerordentlichste … ist …, dass dieser selbe Prediger uns auffordert, unsere Nächsten, das heißt diese ganze Schurkenbande zu lieben, gegen die er uns zuvor mit solchem Grauen erfüllte.))
SPRECHERIN
Claudia Hammond erfährt dieses zwiespältige philosophische Erbe in jeder Studie, die sie durchführt. Und wünscht sich: ein neues Image der Freundlichkeit.
14 - ZUSPIELER Claudia Hammond
OVERVOICE:
Freundlichkeit braucht ein Rebranding. Ich wäre für eine Freundlichkeits-Revolution, ich hätte es gern, dass Freundlichkeit als erstrebenswert und nicht als schwach gilt, dass du stark und freundlich, erfolgreich und freundlich sein kannst. Dass Freundlichkeit Stärke bedeutet.
Musik 13
"00:26" - Künstler und Komponisten: Ólafur Arnalds & Nils Frahm - Album: Trance Frendz - Länge: 0'43
SPRECHERIN
Vielleicht bräuchte es dabei gar keinen neuen Namen für Freundlichkeit. Denn eigentlich steckt in den Begriffen, die wir heute verwenden, das ganze Wissen der Psychologie. Im Englischen hat „kindness“ Karriere gemacht, läuft „friendliness, den Rang ab. kindness“. bindet die Haltung, an „kind“, an die Art oder Gattung Mensch. Während die deutsche "Freundlichkeit" den Freund ganz ins Zentrum rückt.
Es ist dem Menschen gemäß, anderen Menschen ein Freund zu sein – das verraten diese beiden Sprachen im Zusammenspiel.
Polarlichter haben die Fantasie der Menschen schon immer angeregt. Heute ziehen sie Touristen und Wissenschaftler nach Nordnorwegen. Auch wenn ihre Entstehung weitgehend klar ist, gibt es viel zu forschen: Wie beeinflusst die Aurora die digitale Technik auf der Erde? Andreas Pehl ist dem Nordlicht auf der Spur. Von Andreas Pehl (BR 2024)
Credits
Autor: Andreas Pehl
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Caroline Ebner, Thomas Loibl und Benedikt Schregle
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Magnar Gullikstad Johnsen;
Gunnar Hildonen;
Theresa Rexer;
Kristian Schlegel;
Birgit Schlegel;
Juka Vierinen
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Literaturtipps:
Birgit und Kristian Schlegel, „Polarlichter zwischen Wunder und Wirklichkeit. Kulturgeschichte und Physik einer Himmelserscheinung. Spektrum, 2011.
Der Königsspiegel. Aus dem Altnorwegischen übersetzt von R. Meissner, 89–91, Halle/Saale, 1944.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin
Aus aller Welt zieht es die Menschen ins nordnorwegische Tromsø, wenn nach der langen Mitternachtssonne die Nächte im Herbst wieder länger werden. Urlaub in der Polarnacht?
M Missing fragments unter: 0´44´´
Unbedingt! Denn hier geht es um ein Naturschauspiel, für das es dunkel sein muss: das Nordlicht.
01 OT Hildonen 923
…
OV Hildonen
Das kann an einem Abend mal ganz ruhig beginnen und dann wird es plötzlich ganz wild und die Menschen weinen und schreien. Andere werden ganz still. Das ist wirklich unglaublich mächtig, wenn der ganze Himmel explodiert.
Sprecherin
Gunnar Hildonen ist als ‚Nordlichtjäger‘ eine Institution in Tromsø. Seit rund 20 Jahren ist er Gästen unterwegs, auf der Jagd nach dem „grünen Gold des Nordens“.
((02 OT Hildonen 906
…
OV Hildonen
Wir haben hier viele Berge und Fjorde, deswegen ist das Wetter regional sehr verschieden. Tromsø an sich ist keine gute Nordlicht-Destination. Aber wir haben die Möglichkeit, hinauszufahren. Wir jagen also kein Nordlicht, das ist ja fast immer da. Wir jagen den klaren Himmel.))
Sprecherin
Anbieter von Nordlicht-Safaris sind in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen und machen ein gutes Geschäft. In der Saison von Oktober bis März sind die Touren fast immer ausgebucht.
03 OT Hildonen 905
…
OV Hildonen
Anfangs waren die Menschen in Tromsø total schockiert, dass man dafür bezahlen soll, Nordlicht zu sehen. „Wir müssen ja nur vor die Haustür gehen, um das Nordlicht anzuschauen!“ haben sie gesagt. Nordlicht ist für die Menschen hier ja genauso gewöhnlich wie für Spanier die Sonne.
04 OT Rexer 705a
Nun arbeite ich schon seit vielen Jahren mit dem Nordlicht. Aber jetzt, wenn schönes Wetter ist – begeistern tut einen das trotzdem, egal wie oft man es gesehen hat.
Sprecherin
Nicht nur Touristen sind in Tromsø auf der Jagd nach dem Nordlicht. Auch für Wissenschaftlerinnen wie Theresa Rexer ist Tromsø „the place to be“. Theresa Rexer ist Astrophysikerin. Die Deutsch-Norwegerin arbeitet an der Universität Tromsø. Ihr Forschungsgebiet: das Nordlicht.
05 OT Rexer 701
Aus der Wissenschaft gesehen ist das Nordlicht wie eine Signatur von den Prozessen, die im Weltraum passieren. Zufälligerweise können wir es sehen, was eigentlich ziemlich cool ist. Die meisten Sachen, die im Weltraum passieren, können wir nicht wirklich sehen. Wir haben Satelliten, wir haben Kameras und wir haben Radar – das sind alles winzige Messungen an kleinen Stellen von einem riesigen System. Das ist wie mit einem Fischerboot versuchen, das Meer zu beschreiben. Das ist schwierig.
M Northern lights unter: Länge 0 50´´
Sprecherin
Nordlicht hingegen lässt über einen größeren Bereich des Firmaments hinweg Rückschlüsse zu auf das, was im Weltraum über unseren Köpfen geschieht. Doch woher kommen die grünen Bänder und Vorhänge, die über den Himmel tanzen, manchmal ins Violette und Rote wechseln? Dank der Weltraumforschung ((und vielen einzelnen klugen Ideen von Wissenschaftlern in den letzten drei Jahrhunderten)) wissen wir heute ziemlich genau, wie das Nordlicht tatsächlich entsteht, erzählt Theresa Rexer. Doch schon immer haben sich die Menschen Gedanken gemacht, die diese Himmelsphänomene beobachtet haben. Sind unter dem Nordlicht gezeugte Kinder wirklich besonders klug und schön? Sind Nordlichter die leuchtenden Seelen der Vorfahren? Sind es die schimmernden Rüstungen der Walküren? Göttliche Botschaften an die Menschen?
Musik
Jacob Shea: Arctic Suite. II Aurora. Eldbjørg Hemsing ZW001192 W01 immer wieder bis S. 11 Länge ingesgesamt: 6´00´´
Zitator
Am Fünften des Monats [...] öffnete sich der Himmel. [...] Vom Norden kam ein [...] flackerndes Feuer, und rings um [...] war ein Glänzen, und darin, im Feuer, sah es aus wie Bernstein.
Sprecherin
Prophet Ezechiel, Kapitel 1
Zitator
Mitten darin war die Gestalt von vier Wesen [...] Was sich zwischen den Wesen hin und her bewegte, hatte das Aussehen von Fackeln.
Musik aus
06 OT Rexer 703
Was oft als schönstes Nordlicht beschrieben ist, ist ja, wenn wir diese großen geomagnetischen Stürme haben, die von der Sonne kommen, in das Magnetfeld der Erde eintreten und dann sieht man auch weiter im Süden Nordlicht. Das dauert einen Tag oder zwei oder drei, je nachdem was für ein geomagnetischer Sturm das ist. Und dann ist es vorbei.
Musik
Jacob Shea: Arctic Suite. II Aurora. Eldbjørg Hemsing
Zitator
Manchmal kann man am Himmel in klaren Nächten verschiedene Erscheinungen beobachten, Spalten und Rinnen und blutrote Farben.
Sprecherin
Aristoteles: Meteorologica
Zitator
Der Grund für die kurze Dauer dieser Erscheinungen ist, dass die Kondensierung flüchtig ist. (S. 40)
Musik
aus
07 OT Rexer 724
Wenn man weit im Süden ist, dann kuckt man von der Seite rein und sieht das Nordlicht, was etwas höher in der Atmosphäre ist. Und das rote Nordlicht ist einfach höher, über dem grünen drüber. Wenn man genau drunter stehen würde, würde man das grüne und das rote sehen.
Musik
Jacob Shea: Arctic Suite. II Aurora. Eldbjørg Hemsing
Zitator
Die Himmelsfeuer gibt es in verschiedenen Formen: wie ein Komet, wie glühende Lichter, mal still an einem Ort, mal wirbelnd in der Luft.
Sprecherin
Seneca: Naturales Questiones (I, 14.1–15.5):
Zitator
Sie erscheinen in vielen verschiedenen Farben. Manche sind tiefrot, andere blass wie substanzloses Feuer, manche funkeln, andere leuchten orange
Musik
aus
08 OT Rexer 708a
Plasmapartikel – es gibt den Zustand der Dinge:
fest: Eis.
dann gibt es flüssig: Wasser.
Gas gibt es: Wasserdampf.
Und der nächste Zustand ist Plasma. D.h., man geht von Gas zu Plasma. Dann sind die Atome nicht mehr zusammen, sondern teilen sich in Elektronen und Ionen, positiv und negativ geladene Partikel.
Musik
Jacob Shea: Arctic Suite. II Aurora. Eldbjørg Hemsing
Zitator
In diesem Jahr erschien nach Sonnenuntergang ein rotes Kreuz am Himmel; [...] In Sussex beobachtete man wundersame Schlangen
Sprecherin
Anglosaxon chronicle, 774 n. Chr.
Musik
aus
09 OT Rexer 708a
Es fängt an mit Explosionen auf der Sonne. Und wenn so eine Explosion auf der Sonne ist, wird Plasma im Weltraum verteilt. Und manchmal trifft uns das.
[--Musik
Jacob Shea: Arctic Suite. II Aurora. Eldbjørg Hemsing
Zitator
Einige sagen, [...] das Licht nehme seinen Schein von dem Feuer, das rings um die äußersten Meere sich windet.
Sprecherin
Königsspiegel, mittelalterliches Lehrwerk, Norwegen um 1250
Zitator
Andere haben auch behauptet, dass zu der Zeit, wenn der Lauf der Sonne unter der Erde in der Nacht vor sich geht, dass ein gewisser Schimmer von ihren Strahlen auf den Himmel fallen könne.
Musik
Aus--]
10 OT Rexer 708b
Wenn dieses Plasma das Magnetfeld der Erde trifft, dann kann es in unser Magnetfeld eintreten. Und dann fliegt das Plasma durch unser Magnetfeld, entlang an den Magnetfeldlinien und wird dadurch in unsere Atmosphäre geschleudert. Und zwar den Punkten, wo das Magnetfeld in die Erde reingeht. D.h., am Nordpol und am Südpol.
Musik
Jacob Shea: Arctic Suite. II Aurora. Eldbjørg Hemsing
Zitator
Ein grausamb und erschröcklich wunderzeychen: Am 28. Tag des Christmonats [Dezember] AD 1560 hat sich [...] ein grosser breytter lenger Feurflammen vom Hymmel herunnter gelassen.
Sprecherin
Flugblatt, gedruckt von Georg Merckel, Nürnberg 1561
Zitator
Der liebe Gott [...]lest [...] die straffe durch Zeychen verkündigen/ die Gottlosen dardurch zur Buß zu reytzen
Musik
aus
11 OT Rexer 709a
Wenn diese Plasmapartikel, die ursprünglich von der Sonne in unser Magnetfeld und dann in unsere Atmosphäre kommen, die Atome und Moleküle in unsere Atmosphäre treffen, dann geben die ihre Energie ab. Man kann sich das ein bisschen vorstellen wie beim Billard. Man schießt die eine Kugel, trifft die andere und dann fängt die andere an zu rollen. D.h., die Plasmapartikel treffen Atome und Moleküle in unsere Atmosphäre, und dann nehmen die die Energie auf.
Musik
Jacob Shea: Arctic Suite. II Aurora. Eldbjørg Hemsing
Zitator
Warhafftige und erschröckliche Neue Zeyttung so sich am Himmel erzeyget hat den 6. Martii Anno 1582.
Sprecherin
Flugblatt, gedruckt von Hans Schulte, Augsburg 1582
Zitator
Es hat unser Herr Gott der nit ein Gott ist dem Gottloß wesen gefelt sonder hasset alle Ubelthäter große Zeichen am Himmel vorgehen lassen, um die Menschen zu warnen.
Musik
aus
12 OT Rexer 709b
Atome und Moleküle können aber solche Energien nicht unendlich lange halten. Die müssen sie wieder abgeben. Und diese Energie wird wieder abgeben in Form von Licht. In unserer Atmosphäre ist Sauerstoff und Stickstoff die zwei häufigsten Atome und Moleküle da oben, von 80-300 km oder mehr. Und diese Energie ist genau so viel Energie wie man für grünes Licht braucht oder rotes Licht, je nachdem, ob es Sauerstoff oder Stickstoff ist. Und so entstehen die Farben.
Musik
Jacob Shea: Arctic Suite. II Aurora. Eldbjørg Hemsing
Zitator
Als [...] 17. Martii [...] 1716 [...] des Abends [...] bei uns in Halle ein ungewöhnliches Licht gegen Norden am Himmel erschienen und viele in der Erkänntniß der Natur Unerfahrne in grosse Bestürzung versetzet, so hat man sich vielfältig erkundiget, ((was ich von diesem sonderbahren phaenomeno hielte und)) [...] ob man [...] ihm eine gewisse Deutung zueignen könne.
Sprecherin
Christian Wolff, Professor in Halle und Mitglied der Königlich Preußischen Societät der Wissenschaften, 1716.
Musik
aus
13 OT K. Schlegel 509a
Man kann fast den 17. März 1716 als Ausgangspunkt der Nordlichtforschung sehen. Damals erschien ein Polarlicht in ganz Europa bis runter in den Mittelmeerraum. ((Und man hat das zum ersten Mal richtig beobachtet, weil es vorher 70 Jahre keine Polarlichter gab. Dann haben sich auch Wissenschaftler daran gemacht, das zu erforschen.))
Sprecherin
Kristian Schlegel ist Physiker und zusammen mit seiner Frau, der Kulturanthropologin Birgit Schlegel, Autor des Buches „Polarlichter zwischen Wunder und Wirklichkeit“.
14 OT K. Schlegel 509a
Schon eine Woche später hat Christian Wolff einen öffentlichen Vortrag gehalten. Er wollte diese Erscheinung unter das Volk bringen und hat betont, dass es kein Zeichen Gottes ist, sondern dass es eine natürliche Erscheinung ist, die man wissenschaftlich untersuchen kann.
M ARD-Labelmusik Mysterious ice flowers Z8034768129 Länge 0´44´´
Sprecherin
Der Name dieser Erscheinung: Polarlicht, Nordlicht oder Aurora borealis. Ein Name, der auf Galileo Galilei zurückgeht. Denn starkes Nordlicht ist nicht nur im Hohen Norden zu sehen. Von Süden aus wirken die höheren, roten Bereiche des Nordlichts wie ein flammender Himmel – eben wie Aurora borealis, Nördliche Morgenröte. Haben also Aristoteles, Seneca oder der Prophet Ezechiel also tatsächlich die Aurora gesehen?
16 OT B. Schlegel 512
Wenn Aristoteles das so genau beschreibt, kann man glauben, dass er es selber gesehen hat oder auf Vorgängerbeobachtungen zurückgreift. ((Wahrscheinlich hat er nicht nur in Athen, sondern auch in Mazedonien diese Polarlichter beobachtet.))
17 OT K. Schlegel 510-511
Der magnetische Nordpol, der wandert im Laufe der Jahrhunderte. Heute liegt er in der Nähe von Nordkanada. Damals lag er etwas östlich von Spitzbergen. Dann ist es aber auch so, dass das Magnetfeld damals etwas stärker war. Das konnte man aus paleomagnetischen Messungen herausfinden. Und das dritte Argument ist, dass die Sonnenaktivität hoch war. Auch das kann man aus C14 Messungen feststellen, dass in den Jahren eine erhöhte Sonnenaktivität war. Wenn man das genau analysiert, kommt man zu dem Schluss: Ezechiel hat wirklich ein Polarlicht gesehen.
Sprecherin
Ähnliches gilt für die Flugblätter aus der frühen Neuzeit.
Im Zuge der Aufklärung begannen Wissenschaftler, nach und nach die Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln und kamen dem mysteriösen Nordlicht mehr und mehr auf die Spur.
19 OT K. Schlegel 518
1741 haben Celsius und Hjorter, schwedische Forscher, festgestellt: Immer, wenn ein Polarlicht auftritt, bewegt sich auch die Magnetnadel. D.h., die haben den Zusammenhang hergestellt zwischen geomagnetischem Feld und Polarlicht. Und noch später hat der Astronom Ångström, das war im 19. Jahrhundert, erkannt, dass das Licht von einem selbstleuchten Gas stammt. Und dann noch mal 100 Jahre später hat man erkannt, dass das letztlich Teilchen sind, die von der Sonne gesteuert in die Erdatmosphäre einfallen und die das dann zum Leuchten anregen.
Sprecherin
Wegweisend war dabei der norwegische Forscher Kristian Birkeland. Ohne von der Existenz von Sonnenstürmen und Elektronen zu wissen, vermutete Birkeland, dass kleine Teilchen aus der Sonne der Grund für das Nordlicht sein könnten. Doch es sollte noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts dauern, bevor mit Hilfe von Satelliten Birkelands Sonnenteilchen-Theorie bewiesen werden konnte.
20 Atmo
EISCAT-Radar – Schüssel fährt – Computer tippen
Sprecherin
Astrophysiker Juka Vierinen von der Universität Tromsø ist solchen Sonnenteilchen auf der Spur. Er forscht unter anderem mit einer der leistungsstärksten Radaranlagen der Welt in der EISCAT-Forschungsstation Ramfjordmoen bei Tromsø.
21 OT Vierinen 601
…
OV Vierinen
Wenn man Plasma studiert, wird diese Technik benutzt, um die ionisierte obere Atmosphäre zu untersuchen: ((wie viele Elektronen sind dort pro Volumeneinheit, wie schnell und in welche Richtung bewegen sie sich.))
Sprecherin
Ähnlich wie bei einem Schiffsradar schicken die Antennen Signale aus und messen die Reflexion. Während allerdings ein Schiffsradar recht große Boote anpeilt, misst und untersucht Juka Vierinen mit stark gerichteten Radar-Impulsen winzig kleine Plasmateilchen in über hundert Kilometern Höhe.
22 OT Vierinen 603
…
OV Vierinen
Was wir untersuchen, ist die Physik der ionisierten oberen Atmosphäre. Und was wir untersuchen, ist: wie interagieren die Sonne und der Sonnenwind, der aus der Sonne hervorgeht, mit der Erde und der Magnetosphäre der Erde. Das ist sozusagen eine magnetische Blase um die Erde herum. Und welche Energien fließen in diesem System als Ergebnis dieser Interaktion.
Sprecherin
Juka Vierinen schaut eigentlich nur in seiner Freizeit in den Himmel und bewundert das Nordlicht. In seiner Forschung arbeitet er mit langen Zahlenreihen auf dem Bildschirm, die nur selten in zauberhaften Grüntönen schimmern. Die Wissenschaftler messen hier in der EISCAT-Forschungsstation nicht nur, was sich über unseren Köpfen tut, sondern sie erforschen auch, welche Folgen Sonnenstürme auf die Ionosphäre der Erde haben. Um das herauszufinden, versetzen sie Elektronen in der Ionosphäre mit großen Radar-Antennen künstlich in Schwingung – ein kleiner Sonnensturm, künstlich von der Erde aus erzeugt.
23 Atmo
Heating-Experiment
Sprecherin
Ein Plasmaphysik-Experiment, das natürliches Plasma verwendet. Wenn die Moleküle in der Ionosphäre zum Schwingen angeregt werden – egal ob durch Sonnenstürme oder durch die elektromagnetischen Wellen aus der Forschungsstation – dann entsteht: Nordlicht!
24 OT Vierinen 622b
…
OV Vierinen
Wir können künstliche Aurora erzeugen, indem wir die Elektronen beschleunigen und mit den neutralen Atomen kollidieren lassen. Das ist nicht so spektakulär wie die natürliche Aurora, aber wir können immerhin Aurora damit simulieren.
Sprecherin
Mit dem künstlichen Nordlicht könnte Nordlichtjäger Gunnar seine Gäste jedenfalls nicht beeindrucken, es ist mit dem bloßen Auge nicht erkennbar.
Musik
Jacob Shea: Arctic Suite. V Polar Winds. Eldbjørg Hemsing
26 OT Johnsen 819
…
OV Johnsen
Wir haben soweit verstanden, was das Phänomen ist und wie es generiert wird. Aber es ist mit der Nordlichtforschung wie mit der Mikroskopie: wenn du eine neue Kamera bekommst, dann sieht man Dinge, die man vorher nie gesehen hat und für die man keine Erklärung hat. Da liegt noch sehr viel Grundlagenforschung vor uns.
Sprecherin
Am Ufer des Sees Prestvannet in Tromsø liegt das traditionsreiche Nordlichtobservatorium. Hier arbeitet Magnar Gullikstad Johnsen in der Tradition der Nordlichtforscher der letzten Jahrhunderte. Er ist unter anderem dafür verantwortlich, dass die über hundert Jahre langen Nordlicht-Messreihen weitergeführt werden. Er holt alte Bücher aus einem Schrank.
28 OT Johnsen 817
…
OV Johnsen
Hier sind Observationsbücher von 1902, 1903. Das ist die große Expedition von Birkeland. Die aller seltensten Teile des Archivs, habe ich hier im Büro stehen.
29 Atmo
blättern
Man habe hier eine lange und stolze Geschichte, sagt er und meint:
32 OT Johnsen 820
…
OV Johnsen
Das Nordlicht ist nicht nur ein schönes Phänomen, sondern es ist auch ein gefährliches Phänomen. Wenn das Nordlicht am Himmel flackert, dann bedeutet es ja, dass Partikel aus der Sonne herausströmen. Und manchmal gibt es Sonnenstürme, da gibt es dann besonders kräftiges Nordlicht. Da gibt es viel mehr Dynamik in der Magnetosphäre. Und das Ganze hat natürlich Einfluss auf die moderne Infrastruktur und die Technologie. Die Liste der Effekte ist sehr lange.
Sprecherin
Die Elektronik an Bord von Satelliten kann gestört werden. Flugzeuge müssen umgeleitet werden.
33 OT Johnsen 827-834
…
OV Johnsen
Kommunikation und Navigation, GPS, wenn du zentimetergenaue Präzision brauchst und kräftiges Raumwetter hast, dann verlierst du das. Gar nicht zu sprechen von den Zeitsignalen, die alle Banken und die Eisenbahn brauchen.
Sprecherin
Wenn das Nordlicht flackert und das Magnetfeld vibriert, entsteht eine Art riesiger Dynamo über der Erde – und der beeinflusst Leitungen auf dem Boden, induziert Spannungen in das Stromnetz. 1998 brach die Stromversorgung im kanadischen Québec zusammen, 2003 im schwedischen Malmö. Auch Norwegen ist immer wieder betroffen.
34 OT Johnsen 821
…
OV Johnsen
Man hört nicht so viel davon, aber das zeigt, wie verwundbar wir sind. Wir wissen eigentlich noch gar nicht, welche Effekte ein kräftiger Sonnensturm wirklich haben wird.
Sprecherin
1859 gab es einen schweren Sonnensturm, das sogenannte Carrington-Ereignis, benannt nach dem Sonnenforscher Richard Carrington.
35 OT Johnsen 822
…
OV Johnsen
Eines Tages hat er eine kräftige Explosion auf der Sonne beobachtet. Und zwei Tage danach ist das Nordlicht aufgeflammt und man konnte Nordlicht in Ägypten und Florida und Hawaii sehen, sogar in Indien. 1921 gab es ein ähnliches Geschehen. Viele Telegrafenstationen sind niedergebrannt und die Telegraphisten haben Verbrennungen an den Ohren bekommen.
Sprecherin
Seither wurde kein so heftiges Ereignis mehr aufgezeichnet – doch gleichzeitig sind unser Stromnetz und unsere Abhängigkeit von Energie enorm gewachsen. Der Schaden ist kaum vorherzusagen, den ein solches Raumwetterereignis verursachen würde. Im schlimmsten Fall könnten die Energienetze in ganz Europa betroffen sein. Nur eines ist sicher: wir hätten dann für einige Zeit genug Nordlicht, um wenigstens teilweise die ausgefallene Straßenbeleuchtung zu ersetzen.
37 OT Johnsen 824
…
OV Johnsen
Wenn die Gemeinschaft den Strom verliert, dann verlieren wir die Möglichkeit zu kommunizieren. Die gesamte Logistik, der Informationsfluss wird stillstehen. Krankenhäuser, öffentliche Einrichtungen können nicht mehr arbeiten, weil man keinen Strom mehr hat. In besonders dramatischen Situationen könnte die Gesellschaft im Chaos versinken.
Musik
Jacob Shea: Arctic Suite. II Aurora. Eldbjørg Hemsing ZW001192 W01 immer wieder bis S. unter: Länge 2´10´´
Sprecherin
Die Touristen aus aller Welt, die nach Tromsø kommen, um sich vom Nordlicht bezaubern zu lassen, kümmert das alles wenig. Sie freuen sich auf Selfies mit den tanzenden grünen und violetten Bändern und buchen eifrig ihre Nordlicht-Expeditionen. Nordlichtjäger Gunnar Hildonen freut’s.
38 OT Hildonen 925
…
OV Hildonen
Ich kann mit meinen Gästen immer noch schreien. Man sieht ja immer wieder etwas Neues. Das ist immer noch faszinierend.
Sprecherin
Und auch Astrophysikerin Theresa Rexer freut sich über richtig schönes Nordlicht am Himmel über Tromsø.
39 OT Rexer 705b
Das alltägliche Nordlicht, das wir fast jeden Tag haben, da geh ich nicht mehr raus. Aber wenn ich weiß, da kommt ein substorm, dann zieh ich die Kinder an und wir gehen raus und gucken.
Sprecherin
Dann bleibt eigentlich nur noch zu klären, was es mit dem Mythos auf sich hat, dass unter dem Nordlicht gezeugte Kinder besonders klug und schön seien. Magnar Gullikstad Johnsen, Direktor des Nordlicht-Observatoriums, kann dazu mit fast wissenschaftlichen Ergebnissen aufwarten.
40 OT Johnsen 833 [umgestellt]
…
OV Johnsen
Ich glaube, dass das ein Mythos ist, ausgehend von einem Missverständnis zwischen Guides und Touristen. ((Und dann wurde es zu einer Erzählung, die es bis nach Asien geschafft hat. Und dort wurde es zu dem Mythos.)) Es ist sozusagen eine moderne Urban Legend. Ich hab allerdings eine empirische Grundlage und kann sagen: meine Kinder, die unter dem Nordlicht geboren sind, die sind sehr schöne Kinder!
Sprecherin
Na dann! Und so lange noch nicht alle Rätsel um die geheimnisvollen Lichter in der Polarnacht gelöst sind, darf man sich auch weiterhin wundersame Geschichten erzählen. Vielleicht kommen nicht umsonst so viele junge Paare im Winter nach Tromsø!
Musik
In Burgen, Schlössern und auch Bauernstuben gab es sie nicht: Die Zimmerpflanze. Sie musste erst erfunden werden. Erst im 16. Jahrhundert startete ihre rasante Mode-Geschichte vom Statussymbol in der europäischen High Society bis zur Ware neben der Supermarktkasse und zum Istagram-Star. Von Anja Mösing (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christian Baumann
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Dr. Patricia Rahemipour, Institut für Museumsforschung Staatliche Museen zu Berlin;
Dr. Andreas Gröger, Biologe, Botanischer Garten München
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Literaturtipp:
Kathrin Grotz u. Patricia Rahemipour: „Geliebt, gegossen, vergessen. Phänomen Zimmerpflanze“, Katalog und Essayband zur Ausstellung Botanisches Museum Berlin 2019.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK „La valse des monstres“, ZEIT: 00:49, mit ATMO 1(Archiv) Schritte im Kies
ERZÄHLER
Gummibäume, Orchideen, Yuccapalmen – die gesund und kräftig sprießende Verwandte der eigenen, oft kümmernden Zimmerpflanzen: In Botanischen Gärten kann man sie besuchen. Hier werden sie artgerecht gepflegt und wachsen fast so, wie es in freier Natur ihre Art wäre.
ATMO 2 öffnen einer Gewächshaustür (Archiv) weiter über ATMO 3 Palmenhaus
In vielen Büros, in Wohnungen, sogar in Treppenhäusern steht ein Topf mit einem Benjamini. Seine Zweige mit den vielen dunkelgrün-glänzenden, esslöffelgroßen Blättern reichen den Besitzern gern mal bis zur Schulter. Birkenfeige sagen einige zu dieser Zimmerpflanze; Botaniker nennen sie lateinisch: Ficus Benjamini.
MUSIK ENDE
ZSP 1 Gröger
Also hier unser Exemplar ist wahrscheinlich so zehn Meter hoch, das werden richtig große Bäume. Es haben nicht nur kleine Pflanzen Eingang in die Zimmerpflanzen-Kultur gefunden, sondern auch größere.
Weiter über ATMO 3 Palmenhaus
ERZÄHLER
Andreas Gröger ist promovierter Biologe und stellvertretender Leiter des Botanischen Gartens in München-Nymphenburg. Im 21 Meter hohen Palmenhaus aus Glas und Eisen ist die Luft feucht und es hat 20 Grad. Hier wachsen tropische Pflanzen, die es gern warm haben:
ZSP 2 Gröger
Und wenn sie die hier anschauen, unsere Birkenfeige, fällt ihnen auf, dass die aus vielen Dutzenden von einzelnen Stämmen besteht, so ein Geflecht von Stämmen entsteht. Das deutet ein bisschen darauf hin, was die biologische Eigenart der Birkenfeige ist: die gehört zu den Baumwürgern. In freier Natur würde sie im Regenwald oben an irgendeiner Astgabel keimen, schickt dann so ganz unschuldig kleine fadenförmige Wurzeln nach unten. Und wenn die den Urwaldboden erreicht, dann umspinnt sie ihren Träger mit einem Gewirr von solchen Wurzeln und erstickt letztendlich ihren Trägerbaum, der dann abstirbt. Und anstelle vom Trägerbaum steht dann dieser Schlot aus zusammengeflochtenen Stämmen der Birkenfeige.
ERZÄHLER
Andreas Gröger kennt nicht nur erstaunliche Eigenheiten von Tropenpflanzen, er hat auch dazu geforscht, wie wir Menschen uns die Tropen in unsere Wohnzimmer geholt haben. Den Benjamini plötzlich mit ganz anderen Augen zu sehen, findet er gut!
ZSP 3 Gröger
Das heißt aber nicht, dass sie deswegen Angst vor einer Birkenfeige haben müssen. Wenn es der Birkenfeige bei ihnen gut geht, dann wird sie auch ab und zu mal so fadenförmige Wurzeln entwickeln. Aber dann freuen Sie sich darüber!
ERZÄHLER
Angesichts dieses tropischen Riesen fast absurd, ihn im Topf zu halten. Wann sind wir Menschen nur auf die Idee verfallen, uns draußen in der Natur Pflanzen auszugraben und in einen Topf zu setzen, um sie mit nach drinnen ins Zimmer zu nehmen?
ZSP 4A Gröger
Also, wenn man geschichtlich zurückschaut: Schnittblumen haben sich die Leute immer, haben sich Römer auch schon in die Wohnung geholt! Aber Zimmerpflanzen, das ist ein relativ modernes Phänomen.
ZSP 4B Rahemipour
Die Geschichte der Zimmerpflanzen ist nämlich sehr-sehr eng verbunden auch mit der Geschichte des Wohnens insgesamt.
ERZÄHLER
Professorin Patricia Rahemipour ist Historikerin und Direktorin des Instituts für Museumsforschung in Berlin. Dort hat sie für das Botanische Museum im Jahr 2019 eine Ausstellung zum Phänomen Zimmerpflanze kuratiert.
MUSIK „Le compteur”; ZEIT: 00:55
ZSP 5 Rahemipour
Ich würde sagen, wir fangen vielleicht erst mal mit einer kleinen Definition an, was wir eigentlich unter Zimmerpflanzen verstehen: Zimmerpflanzen sind tatsächlich Pflanzen, die ganzjährig eingetopft in einer Wohnung stehen.
ZSP 5B Gröger
Also generell ist Zimmer nicht draußen! Im Zimmer herrschen andere Bedingungen als draußen in freier Natur.
ZSP 5C Rahemipour
Also Zimmerpflanzen brauchen Licht. Das ist eine sehr simple Tatsache, die ist für uns auch relativ leicht zu lösen. Aber für mittelalterliche Wohnverhältnisse war das überhaupt nicht so trivial, weil Fenster: Es gab nur sehr-sehr kleine, um die Kälte nicht in die Häuser hineinzulassen. Und die waren mit Tierhäuten abgedeckt. Das heißt, man hatte im Prinzip überhaupt kein Licht in den Zimmern, so wie wir das kennen.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Fenster mit Glas zu verschließen war sehr kostspielig und die ersten Fenstergläser waren noch sehr dick, ähnlich den Böden von Weinflaschen und gar nicht durchsichtig, sondern grünstichig. Bis es klares Fensterglas gab, das genügend Sonnenlicht hindurch ließ und zwar für einen Preis, den sich zumindest reichere Privathaushalte leisten konnten: Das hat sehr lange gedauert und den Einzug der Pflanzen in die Wohnumgebung verzögert.
ZSP 6A Rahemipour
Und der zweite Aspekt ist die Frage nach dem Klima in diesen Räumen. Die Zimmer waren ja früher relativ kalt. Viele Zimmerpflanzen sind aber Importe aus wärmeren Klimazonen. Das heißt, sie haben auch erst dann wirklich in die Wohnstuben Einzug gehalten, als die Temperaturen stimmten. Das war erst relativ spät in der Geschichte des Wohnens überhaupt der Fall.
ZSP 6B Gröger
Also hier, nördlich der Alpen, hat man geschlossene Räume gehabt mit dem Kachelofen oder offenem Feuer in einer Ecke, also punktuelle Hitze. Dann kalte Ecken, richtig kalte Zimmer. Das packen extrem wenige Pflanzen: Da war höchstens mal ein Rosmarin-Stöckchen oder Myrthen-Pflänzchen am Fensterbrett gestanden. Das war also das Maximum, was man so hatte.
ZSP 6C Rahemipour
Ein anderer Aspekt: Zimmerpflanzen pflegen sich ja nicht selber. Also wenn ich mir angucke, wie in einem mittelalterlichen Kontext die Menschen gelebt haben und wie wenig Freizeit sie hatten: Man hatte auch gar keine Zeit, sich um so etwas zu kümmern! Und wenn man jetzt alles zusammennimmt, also sagt okay, wir brauchen Licht, wir brauchen ne Heizung und wir brauchen den Zugang zu Wasser, weil das war natürlich nicht überall gleichermaßen verfügbar. Dann kann man sagen: So Mitte des 19. Jahrhunderts sind sie zunächst einmal in die repräsentativen Zimmer eingezogen.
ERZÄHLER
Zuvor standen eingetopfte Pflanzen schon in Orangerien. Gebäuden für kostbare Pflanzen, wie sie seit dem Barock in hohen Adelskreisen zur standesgemäßen Ausstattung ihrer Schlösser gehörten. Orangerien waren reich verglast und damit heller als Wohngebäude. Pflanzen aus den subtropischen Gebieten konnten hier in großen Kübeln untergebracht werden. Zitrusbäumchen mit ihrem schönen Duft waren aber nur im weitesten Sinn die ersten Zimmerpflanzen, meint Gröger:
ZSP 7A Gröger
Heißt ja nicht umsonst Orangerien! Da ging es um die Nutzpflanzen erstmal: Orangen, Zitronen waren begehrte, exotische Früchte, die heutzutage selbstverständlich im Supermarktregal liegen. Aber die damals hier nördlich der Alpen kultiviert werden mussten für die Aristokratie. Und dann war halt vielleicht auch noch eine Ananas dabei. Das war natürlich die Krönung schlechthin, eine Ananasfrucht zu haben.
ZSP 7B Rahemipour
Absolut, absolut. Also mein Lieblingsbeispiel ist immer die Ananas! Die ersten Ananasfrüchte, die in Europa weiterverkauft wurden, waren so teuer wie eine Kutsche. Und das war das mehrfache Jahresgehalt eines einfachen Bauern.
ZSP 7C Gröger
Also am Anfang der Zimmerpflanze stand die Nutzpflanze: Der Zitronenbaum oder die Ananaspflanze. Und dann kamen Schmuckpflanzen dazu, wie zum Beispiel die Kamelien oder die Agaven und so weiter.
MUSIK „Movement introductif“ ZEIT:00:37
ERZÄHLER
Kamelien mit ihren prächtig rotgefüllten Blüten waren lange Zeit begehrte Modepflanzen der europäischen High Society. Mitte des 18. Jahrhunderts kamen die ersten Pflanzen aus Asien, wo sie in freier Natur bis zu 11 Meter groß werden. Die immergrünen Kameliensträucher vertrugen das Klima in den kühlen aber frostfreien Orangerien Europas gut. Zu besonderen Anlässen holte man sie in ihren Töpfen in die repräsentativen Schlossräume. Blühend natürlich!
MUSIK ENDE
ZSP 8A Gröger
Blumenschmuck! Natürlich! Bei den Kamelien, das ist so ein klasse Beispiel: Im Winter, im Januar, Februar, ist die Zeit der Kamelienblüte. Im Winter mit Blumenpracht zu protzen, das war natürlich eine Aussage!
ZSP 8B Rahemipour
Das war natürlich Prestige, das war Macht. Man wollte zeigen, dass man sich was leisten kann. In der Zeit, als man begann, mit Zimmerpflanzen sich zu umgeben, war das wesentlicher Aspekt. Das ist heute ganz weit in den Hintergrund gerückt. Aber zu Beginn der Zierpflanzen in den Zimmern war das sicherlich ein wichtiger Aspekt.
ERZÄHLER
Mitte des 19. Jahrhunderts erlaubten neu entwickelte Konstruktionen aus Glas und Eisen lichtdurchflutete Anbauten ans Haus - So genannte Wintergärten. Entfernt erinnerten diese Zimmer an Orangerien: Auch in ihnen spielten exotische Pflanzen die Hauptrolle. Im Wintergarten empfing man nun Gäste zum Tee an zierlichen Tischen, stickte oder las in einer Zeitung. Eine Konsequenz des Industriezeitalters, sagt Andreas Gröger:
ZSP 9 Gröger
Plötzlich ist die Bürgerschicht finanziell erstarkt. Nicht nur mehr die Fürsten und Herzöge und Könige, auch das Bürgertum, das plötzlich viel Geld hatte und repräsentieren wollte. Und die haben repräsentiert mit einem Musiksalon, mit einer Bibliothek und eben auch mit speziellen Pflanzensammlungen: Eine Kakteensammlung zu haben oder eine Orchideensammlung, das war natürlich schon ziemliches Prestige.
ERZÄHLER
Mit den Orchideen verlor die naturbegeisterte und repräsentationssüchtige High Society Europas den Kopf. Die Blüten der Orchidee stellten alles in den Schatten, was man in Europa kannte: an langen Rispen hingen ihre Blüten wie bunte Schmetterlinge. Exotik pur!
ZSP 10A Gröger
Genau! Im neunzehnten Jahrhundert, vor allem in England, da gab es einen richtigen Orchideen-Hype. Da gab es einzelne Gärtnereien, die haben manchmal bis zu 20 Pflanzenjäger gleichzeitig losgeschickt, um in den Tropen Orchideen zu sammeln, die dann auf Auktionen recht teuer versteigert worden sind.
ZSP 10B Rahemipour
Das führte so weit, dass man sogar aus Silber Broschen hergestellt hat, die die Form von Orchideenblüten hatten. Weil einige Menschen sich eben nicht das Original leisten konnten. Sondern da war es billiger, eine silberne Brosche zu erwerben als eine Blüte.
ZSP 10C Gröger
Es waren tatsächlich die Gärtnereien, die damit einen kommerziellen Gewinn machen wollten. Es war ein richtiger Goldrausch auf neue Orchideen damals. Es hieß damals, England, das ist das große Orchideen-Grab. Weil viele Orchideen dahin kamen. Dann kamen sie in Privatsammlungen, wo sie wenige Wochen überlebt haben und dann eingegangen sind.
ERZÄHLER
Gröger räumt ein, dass Orchideenkultur wirklich kompliziert ist. Allein schon, weil es über 30.000 Arten mit unterschiedlichen Ansprüchen gibt. Aber wie hemmungslos aus den damaligen Kolonien immer neuer Nachschub geholt wurde, ist heute unvorstellbar. Dass lebende Pflanzen überhaupt wochenlange Seereisen von fernen Kontinenten nach Europa überlebten, ermöglichte eine Erfindung von Nathaniel Ward Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Wardschen Kisten.
ZSP 11 Rahemipour
Das sind Kisten, die hermetisch abgeschlossen sind mit Glasfenstern und in denen am Boden Erde ist. Und in die Erde sind die lebenden Pflanzen eingepflanzt worden und zu Beginn der Reise zugemacht. Und durch die Verdunstung des Wassers, das die Pflanzen selber abgeben, sammelt sich dann Kondenswasser an den Fenstergläsern, läuft wieder nach unten in das Substrat hinein und bewässert sozusagen als hermetisch abgeschlossenes System die Pflanzen, die in dieser Kiste sind.
MUSIK „La valse des monstres“, ZEIT: 00:38
ERZÄHLER
Kostbar waren Zimmerpflanzen zu Beginn, weil sie tatsächlich am weit entfernten Ursprungsort ausgegraben wurden, oder bei Aufsitzerpflanzen, so genannten Epiphyten zu denen auch Orchideen gehören, einfach von den Urwaldbäumen abgenommen, dann eingetopft, verschifft und erst in Europa verkauft wurden: Entweder direkt an einen reichen privaten Pflanzenliebhaber, oder an eine Gärtnerei, die versuchte, die exotischen Pflanzen zu vermehren.
MUSIK ENDE
ZSP 12 Gröger
Ganz banal! Die Geschichte der Zimmerpflanzen ist eine lange Geschichte des Sammelns und des Züchtens.
ERZÄHLER
Und sie dreht sich vor allem um Tropenpflanzen, weil die mit ihrer Blüten- und Blattvielfalt nicht nur schmückende Qualitäten besitzen. Vor allem sind Tropenpflanzen an ein Klima angepasst, in dem permanentes Wachstum möglich ist. Pflanzen Nordeuropas eignen sich nicht fürs Zimmer, sie können bei gleichbleibenden Zimmertemperaturen nicht überleben, sie brauchen einen Winter. Tropische Pflanzen sind ideal, sie ziehen sich nicht monatelang zurück. Aus welchen Weltregionen überhaupt neue Zimmerpflanzen kamen, bestimmten zunächst Schiffrouten:
ZSP 13 Gröger
Wenn Sie sich anschauen, so geschichtlich, wo die meisten Zimmerpflanzen herkamen in der Anfangszeit, dann stammen viele aus Südafrika, eben grad wegen diesen günstigen Schiffsverbindungen. Oder aus der direkten Umgebung von Rio de Janeiro stammen viele entscheidende wichtige Zimmerpflanzen!
ERZÄHLER
Das Usambaraveilchen mit seinen Samtblättern, der Philodendron, der Weihnachtskaktus, das flammende Käthchen: Lauter Pflanzen, die gut erhalten in Europa ankamen. Natürlich ging es ihren reichen exzentrischen Besitzern in Europa dann auch darum, diese Kostbarkeiten am Leben zu erhalten. Wieviel Wasser braucht das neue Prachtstück und wie oft? Will es in sandiger oder in lehmiger Erde eingetopft sein, oder nur in einem Körbchen hängen und ab und zu gebadet werden wie die schöne Orchidee? Nur wenige grundsätzliche Bücher gab es zur Stubengärtnerei und die konnten nicht aktuell bleiben, weil immer Neues eingeführt wurde. Das bedeutete, man musste direkt mit den großen Spezialitäten-Gärtnereien Kontakt halten.
ZSP 14 Gröger
Und die hatten dann Gärtner mit viel Know-how, die wussten dann über die Sammler in welchen Bedingungen im natürlichen Lebensraum Pflanzen wachsen. Es war echt was für Spezialisten, nicht für das allgemeine, breite Publikum. Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es die Verbreitung im Bürgertum. Aber die Arbeiterschaft, die hat den maximal ein Blumensträußchen auf dem Tisch stehen aber keine Zimmerpflanzen.
ATMO 4 Kakteenhaus mit Schritten unter Erzählertext
ERZÄHLER
Unter den Zimmerpflanzen war der Kaktus eine frühe Modepflanze, die in Haushalte aller Schichten einzog. Auch auf Gemälden tauchten Kakteen schon Mitte des 19. Jahrhunderts auf, bei Carl Spitzweg zum Beispiel. Kakteen passten perfekt zur Temperatur damaliger Wohnräume: Denn im Winter haben es ein Kaktus bei uns gern kühl, im Sommer gefällt es ihm am sonnigen Fenster. Wirklich eine gute Zimmerpflanze für Anfänger, meint Gröger. Unter den artgerecht gepflegten Verwandten im großen Kakteenhaus des Botanischen Gartens in München sind einige Kakteen viele Meter hoch:
ZSP 15 Gröger
Kakteen-Kreuzung geht ganz einfach, hat man auch schon vor 150 Jahren gemacht. Und deswegen gibt es viele Kaktushybriden auch auf dem Markt. Die Kakteen sind natürlich das Sinnbild für Wüstenklimate. Aber das darf man nicht vergessen: Es gibt auch Kakteen in Regenwaldgebieten. Die leben dort nämlich im Kronendach. Denken Sie mal an den Osterkaktus oder Weihnachtskaktus oder die verschiedenen Blattkakteen, die sind alle epiphytische Kakteen, die im Kronendach leben! Die können zwar schon mit Wasserarmut umgehen, weil sie oben im Kronendach auch begrenzt Zugang zu Wasserreserven haben, aber sie vertragen durchaus Luftfeuchte!
MUSIK „Mein kleiner grüner Kaktus“; ZEIT: 00:53
ERZÄHLER
Im Zimmer wirkt ein Kaktus oft wie eine kleine lebende Skulptur. Das gefiel noch in den 1920er Jahren, der Zeit der Weimarer Republik, den Bauhaus-Architekten um Walter Gropius, erklärt Historikerin Rahemipour:
ZSP 16 Rahemipour
Da war ja ein unglaublich minimalistischer Lebensstil forciert, und da mussten die Zimmerpflanzen auch zu passen. Also es gibt ein Foto, auf dem Gropius einen Kaktus irgendwo stehen hat. Ansonsten wurde sogar in Pamphleten formuliert: Zimmerpflanzen passen nicht zu unserem Stil. Also bitte keine Zimmerpflanzen. Das war natürlich in der Zeit eine avantgardistische Mode und auch spezielle Menschen, die ihre Bauhauseinrichtungen pflegten. Aber die Mode der Zimmerpflanzen sollte sich eben auch danach richten.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Nicht nur Kakteen auch andere Zimmerpflanzen tauchen in den 1920er 1930er Jahren immer mehr in einfachen Wohnungen auf. Auch im Kleinbürgertum und bei den Bauern gehörten sie zur Ausstattung der repräsentativen guten Stube. Die waren meist recht kühl und nur zu besonderen Anlässen geheizt. Pflanzen wurden in diesen Kreisen aber selten teuer gekauft:
ZSP 17 Gröger
Tauschbörsen von Stecklingen gibt's jede Menge und ist bei Pflanzenliebhabern gang und gäbe, schon immer gewesen und auch heute noch. Klassiker ist zum Beispiel die Grünlilie. Die Grünlilie können sie fast nicht kaufen! Weil die sich so leicht daheim vermehrt, dass die einfach so untereinander privat weitergegeben wird und deswegen eine kommerzielle Vermehrung uninteressant ist.
ERZÄHLER
In das Geschäft mit Zimmerpflanzen stiegen in den 1930er 1940er Jahren immer mehr Gärtnereien ein. Sie mussten klug auswählen, welche Pflanzen sich nicht ganz so leicht von Laien vermehren ließ, damit die Gärtnerei am Gewinn beteiligt blieb. Und auf der anderen Seite durfte die Pflanzen nicht zu kompliziert sein, damit die Gärtnerei es selbst einigermaßen hinbekam, mit der massenhaften Vermehrung. So richtig los ging es für die Branche erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 50er 60er-Jahren.
ZSP 18 Rahemipour
Das heißt: mit Erfindung der Heizung der Zentralheizung
zogen dann nach und nach Pflanzen ein, die heute auch noch sehr bekannt sind und sehr beliebt: Die Monstera zum Beispiel, oder Sukkulenten zogen in die Wohnzimmer ein, um dann dort zu leben.
ERZÄHLER
Monstera Deliciosa, das Fensterblatt mit seinen herzförmigen, gern mal DIN A 4 großen Blättern und den dekorativen Einschnitten darin, den Fenstern, bekam nun auch in der breiten Bevölkerung ihren großen Auftritt. Erschwingliche Möbel für Zimmerpflanzen kamen auf den Markt: Gestelle mit nierenförmigen bunten Podesten, auf denen ein ganzes Arrangement tropischer Pflanzen Platz hatte. Dazu Stäbe, an denen herabhängende Pflanzen aufgehängt werden konnten und an denen rankende Pflanzen wie die Monstera Halt fanden.
ZSP 19 Rahemipour
Mit Beginn der 60er-Jahre hat sich sogar die Architektur ein wenig nach den Zimmerpflanzen gerichtet. Plötzlich wurde etwas erfunden, so ein Zimmerpflanzen-Fenster: Ein Fenster, das sehr groß war, eine sehr breite Fensterbank hatte, wo dann alle Zimmerpflanzen Platz drauf fanden.
ERZÄHLER
Zimmerpflanzen wie Gummibaum, Alpenveilchen oder Azalee wurden ab den 1950er Jahren für jedermann erschwinglich und ein beliebtes Mitbringsel zu Festen aller Art. Gärtnereien boomten! Neue mit Erdöl und Erdgas betriebene Heizanlagen erleichterten das Erwärmen immer größerer Treibhäuser. Der Zimmerpflanzenhandel wurde ein Riesengeschäft und ist es bis heute: knapp 1,5 Milliarden Euro wurden im Jahr 2023 in Deutschland allein für Zimmerpflanzen ausgegeben. Und das sind nur 17 Prozent vom gesamten Markt für Blumen und Pflanzen in Deutschland.
ZSP 20 Rahemipour
Das heißt der Zierpflanzenmarkt als solcher war noch viel-viel größer. Also mit Pflanzen kann man einfach richtig reich werden.
MUSIK „Frida“
ERZÄHLER
Und die Gärtnereien verstehen es, Zimmerpflanzen auf den Markt zu bringen, die zum jeweilig modernen Wohnstil passen - auch Ende des 20. Jahrhunderts:
MUSIK ENDE
ZSP 21 Rahemipour
Es gab vermehrt WGs, die Menschen ziehen öfter um, ziehen auch mal ins Ausland. Und auch hier hat sich die Mode der Zimmerpflanzen ein wenig angepasst als robuste Arten, wie zum Beispiel Ficus Benjamini und so weiter plötzlich in Mode gekommen sind. Die haben es wirklich toleriert, dass man alle zwei Jahre mal das Zimmer gewechselt hat und dann nur das Bäumchen mitgenommen hat.
ERZÄHLER
Die Yucca-Palme war so ein extrem robustes Mode-Gewächs der 1980er 1990er Jahre. Gern wurde sie so eingetopft, dass ein handliches Stück Stamm aus der Erde wuchs, der jederzeit wieder eingekürzt werden konnte, falls mal was schiefging mit dem Gießen. Oft waren es nun Hydrokultur-Kübel, in denen Zimmerpflanzen gezogen wurden: gefüllt mit kleinen braunen Kügelchen aus Ton, angereichert mit Nährflüssigkeit. Heute werden Pflanzenmoden in noch viel kürzerer Taktung eingeläutet als zu Beginn. Influencerinnen und Influencer auf Youtube oder Instagram zeigen sich gern mit ihren tropischen Pflanzensammlungen.
MUSIK „La valse des monstres“, ZEIT: 00:51
ZSP 22 A Rahemipour
Und weil ich vorhin schon mal von der Ananas gesprochen habe. Es gibt gerade eine Neuzüchtung, wo eine Ananaspflanze im Prinzip die Frucht halb ausbildet, die dann quasi wie so eine Medaille auf der Pflanze selber sitzt. Sie ist wirklich ästhetisch sehr schön. Sie passt eben zu einer Wohnzimmereinrichtung.
ZSP 22 B Gröger
Man muss sich immer klarmachen: auch heutzutage bei Zimmerpflanzen geht es immer um was Neues! Die Gärtnereien versuchen immer, etwas Neues auf den Markt zu bringen: nicht den Gummibaum, den schon jeder kennt, Birkenfeige. Sind so Modewellen auch bei den Zimmerpflanzen. Es war schon immer so und es ist auch immer noch so.
Hecken sind Grenzen der besonderen Art, sie verbinden Schönheit und Funktion. Die Hecke schirmt unliebsame Blicke ab, hält Feinde fern, schützt Vögel, Kleinsäuger und Feldfrucht. Von Christiane Seiler
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Susanne Schroeder, Thomas Birnstiel
Technik:
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Cornelia Priefert, Leiterin Landschaftspflegeverband Uckermark-Schorfheide
Janna Einöder, Biologin beim NABU-Berlin, zuständig für Stadtgrün
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Linktipps:
Göttinger Rebhuhnschutzprojekt HIER geht es zur Website
Steckbriefe der wichtigsten heimischen Gehölze der bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft HIER geht es zur Website
Literatur:
Heinrich E. Weber: Gebüsche, Hecken, Krautsäume. Stuttgart, Ulmer Verlag, 2003: Ein umfassendes, wissenschaftliches Standardwerk zu allen Aspekten der Hecke; Kulturgeschichte, Straucharten, Strauchgesellschaften.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher
Hartriegel, Hagebutte, Haselnuss, …
Sprecherin
Wer über Hecken spricht, muss sich mit Sträuchern beschäftigen. Wie die Biologin Janna Einöder:
02 O-Ton Hecke Einöder
Ein Strauch ist ja im Gegensatz zu einem Baum eine Pflanze, die mehrere Stämme hat. Eine Hecke ist meistens eine Begrenzung auch. Man nennt es auch ‚lebender Zaun‘. Ein langgezogener Zusammenschluss aus Sträuchern.
Sprecher
Brombeere, Himbeere, Hundsrose, …
03 O-Ton Hecke Priefert
Hundsrosen ist auch eine wichtige Strauchpflanze. Und einfach typisch auch.
Sprecherin
Carolin Priefert ist Naturschützerin.
04 O-Ton Hecke Priefert
Früher hat man ja damit auch noch viel mehr gemacht, man hat natürlich die ganzen Beeren, auch vom Weißdorn, gesammelt, sich Tee, Marmelade und Salben und Kräuter Tinkturen hergestellt.
Sprecher
Thuja, Buchsbaum, Kirschlorbeer, …
05 O-Ton Hecke Einöder
Wir haben es‚ Sträucher des Schreckens‘ genannt, weil viele Sträucher nur als Sichtbarriere oder ähnliches gepflanzt werden. Aber auf den ökologischen Wert und wie das ästhetisch aussieht, da wird relativ wenig Acht gegeben. Da geht es darum, dass man die schnell und gut pflegen kann, keine Früchte und sowas, sondern dass das schön pflegeleicht in der Stadt herumsteht.
Sprecher
Kornelkirsche, Forsythie?
06 O-Ton Hecke Priefert
Die sieht wahnsinnig interessant erstmal aus. Die blüht ja auch sehr früh. Aber das ist für die Insekten eine totale Falle. Die fliegen dahin, bringen Energie auf, um dann weiß ich wie spät festzustellen, dass sie da gar nicht satt werden. Und es gibt ein paar andere Pflanzen, wie die Kornelkirsche zum Beispiel. Die hat ähnliche gelbe Blüten. So ein bisschen technohaft sieht sie auch aus. Manche nennen sie Technostrauch, weil die so ein bisschen wild auch ist. Und die blüht fast zeitgleich, hat ähnliche Blüten und die bietet dann eben den Insekten tatsächlich Nahrung.
Sprecher
Faulbaum und Kreuzdorn, …
07 O-Ton Hecke Einöder
Das sind zwei Sträucher, die ja eher schlicht daherkommen, nicht so dolle blühen. Aber der Zitronenfalter, die Raupen des Zitronenfalters, essen nur an diesen zwei Sträuchern und wenn diese zwei Sträucher fehlen, dann fehlt auch der Zitronenfalter. Das heißt, man kann sagen, wenn man diese zwei Sträucher pflanzt, dann pflanzt man quasi Zitronenfalter.
Sprecher
Kätzchenweide, Schlehdorn, Weißdorn, …
01 AT Hecke Hecke mit summenden Insekten
Sprecher
„Für mich erhob sich summend darüber der Duft der Weißdornhecken.“
Sprecherin
Der Erzähler von Marcel Prousts Roman „In Swanns Welt“ erinnert sich an einen Sonntagsspaziergang mit seinen Eltern, auf einem Weg gesäumt von Weißdornhecken. Duft und Schönheit der Blüten, Summen der Insekten, der Windhauch, der Arme und Gesicht berührt. Eine umfassend sinnliche, sogar spirituelle Erfahrung:
Sprecher
„Diese Hecken bildeten in meinen Augen eine unaufhörliche Folge von Kapellen, die unter dem Schmuck der wie auf Altären dargebotenen Blüten verschwanden; unter ihnen zeichnete die Sonne auf den Boden ein lichtes Gitterwerk, so als fiele ihr Schein durch ein Kirchenfenster; ihr Duft strömte sich so voll und überquellend aus, wie ich ihn vor dem Altar der Muttergottes stehend verspürt hatte und die ebenso geschmückten Blüten trugen eine jede mit gleicher gedankenloser Miene ihr schimmerndes Strahlenbündel aus Staubgefäßen.“
Sprecherin
Auch ich erinnere mich an eine Szene aus meiner Kindheit, Anfang der 70er Jahre muss es gewesen sein. Ich fuhr mit meinen Eltern im Auto, saß auf der Rückbank und sah mir die Landschaft an. Wir durchquerten die Ebene zwischen Köln und den ersten Ausläufern des Mittelgebirges. Ich sah Felder, Wiesen, Obstanbau, Industrie, Dörfer. Und schnappte ein Gespräch meiner Eltern auf. Es ging um Flurbereinigung, ein kompliziertes Wort, das mir rätselhaft vorkam. Vor allem mein Vater schimpfte, übrigens auf Bayrisch. Man zerstöre die Schönheit der Landschaft, meinte er. Wo seien die schönen kleinen Felder geblieben, die gewundenen Bächlein, die Gebüsche. Alles abrasiert und begradigt. Und, das fand er besonders schlimm, was war mit den Hecken geschehen?
01 AT Hecke und Gesumm
Ich verstand, dass man aus mir unverständlichen Gründen ausgerechnet den blühenden, beerenreichen Hecken den Garaus machen wollte. Was ich nicht wusste: es bildete sich bereits Widerstand. Im Jahr 1986 gründete der fränkische Förster und CSU-Politiker Josef Göppel den Landschaftspflegeverband Mittelfranken. Es ging ihm um die Erhaltung der Kulturlandschaft, dafür brachte er mitunter verfeindete Naturschützer, Landwirte und Kommunalpolitiker an einen Tisch. Seitdem werden in Deutschland sogar wieder neue Hecken angelegt. Etwa von dieser jungen Frau:
08 O-Ton Hecke Priefert
Carolin Priefert vom Landschaftspflegeverband Uckermark-Schorfheide.
09 AT Hecke in Peetzig
Sprecherin
Mit ihr stehe ich Ende Februar vor einer Hecke am Rande einer Wiese in der Uckermark. Einen sanften Hang hinauf erstreckt sie sich zwischen Feldweg, Wiese und Acker.
10 O-Ton Hecke Priefert
Das sind die Hecken, die jetzt schon über 30 Jahre fast alt sind. Also gerade in den 90ern vom Landschaftspflegeverband angelegt wurden. Auch mit den Landwirten zusammen. Also mehrere Kilometer, dann auch teilweise im rechten Winkel. Und man sieht ja die Hänge hier, die Ackerflächen sind ziemlich exponiert auch. Und umso besser ist es natürlich, dass sie dann als Windschutz gleichzeitig dienen, auch für die Landwirte und eben auch vor Wassererosionen schützen. Und natürlich für die Tierarten, die hier alle vorkommen, ist das natürlich einfach das Biotop...
Sprecherin
Denn eine Hecke ist nicht nur schön, sondern auch nützlich, sogar für die Landwirtschaft. Und ein unverzichtbares Element in der Vernetzung der Biotope. Denn Tiere benutzen diese Strukturen als Orientierungslinien in der Landschaft. Dank der miteinander verbundenen Hecken, Gebüsche und Wiesen können sie sich geschützt in der Landschaft bewegen, auch über längere Strecken. Und finden dort zusätzlich Nahrung.
11 O-Ton Hecke Priefert
Es kann natürlich aus verschiedenen Strukturen bestehen. Man kann im Garten eine Hecke haben, auch nur aus einer Strauchart oder Baumart. Aber in der freien Landschaft ist es natürlich wichtig, dass wir einerseits auf standortheimische Straucharten achten, was die Tiere dann wirklich auch benutzen können an Beeren und Insekten wirklich an Blühpflanzen, nicht dass es nur so na Pseudo-Blüten sind, die sie gar nicht benutzen können, sie sollte ausreichend breit sein wirklich eine gute Funktion hat sie, wenn sie zehn Meter breit ist, weil man dann große Einzelbäume auch in der Mitte pflanzen kann. Und man hat links und rechts immer noch eine breite Strauchschicht. Dass da die Tierarten wirklich genug Unterschlupf finden können. Und am Rand immer auch immer noch so ein Kraut, Blühpflanzen oder einfach Grassaum auch noch im Stehen bleibt, ne.
Sprecherin
Zehn Meter breit? Damit wäre die Hecke schon breiter als mancher Garten.
12 O-Ton Hecke Einöder
Also wenn man Hecken und Sträucher natürlich wachsen ließe, dann können die natürlich sehr üppig werden.
Sprecherin
Janna Einöder ist beim NABU Berlin für das Stadtgrün zuständig. Und macht die Erfahrung, dass zum Beispiel Hecken auch ein Störfaktor sein können.
13 O-Ton Hecke Einöder
Je nachdem, wo sie stehen, können die eben zur Beeinträchtigung der Sicht führen. Verkehrssicherheit ist ja in der Stadt ein ganz großes Thema. Wir haben auch mit der Kriminalprävention gesprochen. Hecken sind ja auch zum Beispiel werden dafür genutzt, auch Drogen zu verstecken. Da geht es auch um Angsträume und Co. Also auch von den Aspekten können Hecken im Stadtbild zum in Anführungsstrichen Problem werden.
Sprecherin
Der Standort einer Hecke, ob in der Agrarlandschaft, in der Stadt oder im Garten beeinflusst ihre Größe, ihr Erscheinungsbild und auch die Straucharten, die sie bilden. Eins aber haben sie alle gemeinsam: Wie so viele Elemente der Natur, die wir lieben, ist die Hecke menschengemacht, eine linienförmige Struktur der Kulturlandschaft.
14 O-Ton Hecke Einöder
Also, das muss schon angepflanzt werden. Klar gibt es vegetative Vermehrung, aber dass das in einer akkuraten Heckenstruktur passiert, ist sehr unwahrscheinlich. Die Natur ist eben wild.
Sprecherin
Wild entstehen in der Landschaft Strukturen wie Gestrüpp, Gehölz, Gebüsch und Waldsaum, in denen sich ähnliche Sträucher wie in Hecken spontan zusammenfinden. Auch das aber geschieht in größerer Zahl erst, seit Menschen Wälder roden, Siedlungen anlegen und Vieh halten. Im Laufe von mehreren tausend Jahren hatten Menschen durch ihre Wirtschaftsweise in Mitteleuropa eine spezifische kleinteilige, artenreiche Landschaft aus Ackerflächen, Wiesen, Heidelandschaften, Gehölzen, Streuobstwiesen, Moore und eben Hecken geschaffen. Heute sind in Mitteleuropa etwa 550 Bäume und Sträucher an der Bildung von Hecken beteiligt, davon gehören wiederum etwa 475 Arten zu den Rosaceae, also den Rosengewächsen. Sehr viele dieser Sträucher haben Stacheln oder Dornen, zur Abwehr von Herbivoren, also Vieh und wilden Grasfressern.
01 AT Hecke Summen in der Hecke
Sprecherin
Eine Hecke bietet also Schutz, sie hält den Wind ab, hält Tiere von Feldern fern. Sie markiert auch eine Grenze und hindert Feinde am Eindringen. Der Römische Kaiser Julius Cäsar beschreibt in „De bello Gallico“ die kunstvoll angelegten Hecken der belgischen Nervier, die seiner Reiterei im Weg standen, zu einer Zeit, als von Natodraht und Panzersperren noch keine Rede war:
Sprecher / Zitator
„Sie sägen junge Bäume an, biegen sie herunter und bewirken durch die vielen in die Breite nachwachsenden Aste, auch mit zwischengepflanztem Brombeer- und Dorngesträuch, daß diese Gehege Befestigungen mit der Wirkung von Mauern bilden, die nicht nur ein Durchkommen, sondern selbst einen Durchblick unmöglich machen.“
Sprecherin
Die Wörter Hecke, englisch „hedge“, französisch „haie“ niederländisch heg, dänisch haek gehen alle auf das althochdeutsche Wort „hag“ zurück. Das bedeutet, so steht es im Grimmschen Wörterbuch, schlagen, einzäunen, einhegen. Noch heute findet sich dieses Wort in zahllosen Ortsnamen wie Den Haag oder Hagen. Neben dem Schutz menschlicher Siedlungen dienten Hecken in früheren Zeiten dazu, das Vieh von den Ackerflächen fernzuhalten. Denn noch bis in’s 18. Jahrhundert wurden Weiden, Ackerflächen und Wälder, die sogenannte Allmende oder Mark, meist gemeinschaftlich genutzt, Vieh wurde nicht eingezäunt, sondern gehütet. Hecken hielten etwa Kühe und Schweine von den Feldern fern. Die dafür nötigen Sträucher entnahm man wilden Gebüschen und Gehölzen in der unmittelbaren Umgebung und bearbeitete sie zum Beispiel in der von Caesar beschriebenen Art, um sie möglichst undurchdringlich zu machen. Die Sträucher lieferten außerdem Beeren und Obst, Hagebutten für Tee oder Marmelade, Schlehen für den Likör, Brombeeren für den Kuchen. Selbst der Heckenschnitt war keine lästige Pflicht. Carolin Priefert:
15 O-Ton Hecke Priefert
Da haben sie es von sich aus gemacht für Brennholz. Oder man hat es eben benutzt für Korbherstellung, alles Mögliche. Und ja, wer macht das heute schon? Natürlich in bestimmten Bereichen, dass man dann mal Zäune, auch mit den kleinen Zweigen, dann wieder baut…
Sprecherin
Im 18. und 19. Jahrhundert führte man in vielen Fürstentümern die Markenteilung durch, das bis dahin gemeinschaftlich genutzte Land wurde privatisiert und die Hecken änderten ihre Funktion. Nun dienten sie als sichtbare Markierung und Umfriedung des neuen Privatbesitzes an Acker- und Weideland. Gebüsche auf Weiden und Wiesen wurden gerodet, damit man die Flächen besser bearbeiten konnte. Es entstanden Landschaften, wie sie zum Beispiel in Südengland oder Schleswig-Holstein noch heute bewundert werden können. Bis dann mit der Industrialisierung und Intensivierung der Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg viele dieser Hecken. Sehr zum Nachteil der Tiere, die auf Schutz und Nahrung angewiesen sind.
16 O-Ton Hecke Priefert
Die Kleintiere haben alle, auch so Igel oder so, haben alle nur ein paar 100 Meter Radius. Also gerade bei uns in Brandenburg haben wir ja, im Vergleich zu Bayern, immer noch wahnsinnig große Schläge, auch wenn wir schon Hecken angelegt haben. Es ist natürlich ein Unterschied, ob jetzt, ja, wir hier nur ein paar kleine Hektar haben oder die Fläche, wo wir drauf gucken, jetzt mehrere 100 Hektar fast sind, wo wir draufgucken können. Und nur am Rand dann eben mal so ein paar Bäume stehen und der Wald doch auch noch zwei Kilometer entfernt. Ist das für die Tiere auch wichtig, dass sie umso mehr Gebüsche oder Hecken wirklich zur Verfügung haben.
17 AT Hecke Gesang der Goldammer fehlt
Sprecherin
Während wir sprechen, lässt sich ein kleiner Schwarm aus Gold- und Grauammern in der Hecke nieder. Erste Frühlingsboten. Andere Gäste bleiben im Dickicht verborgen.
18 O-Ton Hecke Priefert
Kröten, die auch gerade hier unten Winterschlaf machen können. Also wir sehen ja auch das Laub und schon auch eine Streuschicht, auch vom vertrockneten Gras. Eidechsen, die überwintern können.
Sprecherin
Je mehr Hecken nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost- und Westdeutschland durch Zäune ersetzt, Acker und Weideflächen vergrößert und Feldwege asphaltiert wurden, desto mehr Tiere verschwanden aus der Landschaft. Prominentes Beispiel: der Feldhase. Einige Exemplare haben die Landflucht aus Brandenburg nach Berlin angetreten, wo sie mehr Schutz und Nahrung finden als in der Agrarlandschaft. Seit ca. 20 Jahren vermehren sie sich vor allem im Plattenbaubezirk Marzahn-Hellersdorf. Janna Einöder:
19 O-Ton Hecke Einöder
Die Jungtiere werden oft eben dann von den Eltern unter den Hecken versteckt und dann halt so ungefähr tatsächlich an Ostern liegen dann Feldhasenjungen oft unter Hecken. Das ist ganz wichtig.
Sprecherin
Feldhasen werden in Deutschland auf der roten Liste der bedrohten Tierarten als gefährdet gelistet. Ein anderes traditionelles Jagdwild gilt inzwischen als stark gefährdet, stellenweise sogar vom Aussterben bedroht: Das Rebhuhn. Sein Bestand in Deutschland ging seit Anfang der 80er Jahre um 85% zurück.
20 O-Ton Hecke Priefert
In einem Bereich in der Uckermark, wo wir noch die letzten, ja, Rebhuhn Vorkommen nachweisen konnten in den letzten Jahren haben wir auch Hecken gepflanzt, weil gerade diese Tierart wird auch ganz stark von Füchsen, Waschbären und anderen Feinden werden die Rebhühner eben leider eben gefangen, also getötet und daher gehen die Zahlen zurück, und die Jäger freuen sich auch, wenn wir da Schutzmaßnahmen irgendwie gemeinsam initiieren. Gerade diese Tiere brauchen dann im Winter so ein bisschen Unterschlupf, dass, ja, ihre Spuren sozusagen verwischt werden und auch die Jungtiere eben unterkommen. Auf dem großen Acker oder auf der großen Wiese sind sie natürlich leichtere Beute für den Fuchs. Der findet sie ziemlich schnell …
Sprecherin
Der Niedergang der Rebhuhnpopulation in Deutschland hat also essenziell mit dem Strukturverlust der Agrarlandschaft zu tun.
21 AT Hecke Lockruf des Rebhuhns (mp3)
Dabei war das kleine Wildhuhn mit dem charakteristischen Ruf einst ein beliebtes Wildbret. Der etwa taubengroße, maximal ein Pfund schwere Vogel braucht zum Überleben Gebüsche, Blühwiesen und Stoppelfelder. Die Henne legt ihre Gelege von durchschnittlich 15 Eiern bevorzugt in Bodenmulden unter Sträuchern oder in Blumenwiesen. Forschende der Georg-August-Universität Göttingen haben untersucht, in welchen Habitaten Rebhühner am häufigsten Beute der Füchse werden. Ergebnis: Hecken bieten den in ihnen liegenden Gelegen weniger Schutz als erwartet. Weil nämlich Füchse gerne an Feldrändern und entlang der Wege und Hecken auf Beutesuche gehen. Andererseits schützen diese Hecken sehr wohl jene Rebhuhnnester, die sich in Erdmulden auf den von Hecken begrenzten blühenden Wiesen befinden. Und dieser Schutz ist umso wirksamer, je länger und dichter die Hecken sind. Auch hier wirkt die Hecke also als Barriere, die Füchse und andere Raubtiere vom Eindringen auf die Wiese abhält. Eine weitere Bedingung dafür, dass viele Küken überleben ist, dass in der unmittelbaren Umgebung viele Insekten als Futter vorhanden sind. Und auch hier kommen wieder die Hecken in’s Spiel. Solange sie aus heimischen Sträuchern gebildet sind. Carolin Priefert:
22 O-Ton Hecke Priefert
Man könnte jetzt sagen, naja, warum dann immer nur Standort-heimisch? Hört sich so ein bisschen trocken, altbacken an, aber darum geht es halt, dass die wirklich für die Insekten, die hier bei uns vorkommen, Nahrung bietet.
Sprecherin
Denn gerade bei Insekten hat eine Jahrtausende lange Koevolution mit Pflanzen dazu geführt, dass sie oft sehr spezialisiert sind, was Nahrungsquellen und Orte für die Eierablage angeht. So der schon erwähnte Zitronenfalter, der seine Eier ausschließlich in Faulbaum und Kreuzdorn platziert. Weißdorn, Vogelbeere und Kätzchenweide bieten allein hunderten von Insekten Nahrung, vom Laub der Hundsrose ernährt sich der glänzende Rosenkäfer. Und der Schneeballkäfer könnte ohne den Schneeball-Strauch gar nicht existieren. Bei nicht heimischen Sträuchern fehlt diese Koevolution. Das betrifft auch den bei Kindern so beliebten, allerdings giftigen, Knallerbsen-Strauch. Janna Einöder:
23 O-Ton Hecke Einöder
Das ist die Schneebeere. Die wächst ja auch überall. Es ist ein invasiver Strauch. Tatsächlich. Invasiv heißt ja, dass sie sich relativ explosionsartig ausbreitet und wenig Platz für andere Arten lässt. Also sie ist eben keine gute Raupenfutterpflanze. Mittlerweile sieht man schon auch an den Blüten relativ viele Bienenarten, nicht nur Generalisten wie die Honigbiene oder die Hummel, sondern tatsächlich auch Wildbienenarten und Wespenarten, da hat sich die Fauna schon ein bisschen dran angepasst. Aber an die Blätter, die sind weiterhin noch relativ steril.
Sprecherin
Ein ganz anderer Fall ist der gewöhnliche Liguster, auf englisch „Privet“. Bei Harry Potter ist er der Inbegriff von Spießigkeit. Dass der Strauch überhaupt blüht und Beeren trägt, ist vielen nicht bewusst, weil er oft rabiat zurechtgestutzt wird. Manchmal aber gelingt es einem Berliner Liguster, seine Gärtner auszutricksen, sehr zur Freude der Stadtgrün-Spezialistin.
24 O-Ton Hecke Einöder
Liguster wird hier viel, ist ja auch sehr pflegeleicht, viel geschnitten und im letzten Jahr war es sehr früh sehr warm und da hatte die Blüte dann nach dem Schnitt noch Zeit, nach dem Radikaloschnitt, Zeit sich zu entwickeln. Und dann hatten wir jetzt im Frühling total tolle Ligusterblüte und auch im Herbst jetzt eben die ganzen Beeren. Für Vögel ist es auch wichtig, dass Sträucher dann eben zur Blüte kommen und dann eben die Beeren machen. Man denkt an die Zugvögel, die zurückkommen und dann eben Hunger haben und Nahrung brauchen.
Sprecherin
Denn der gewöhnliche Liguster ist eine sehr wertvolle heimische Pflanze, bietet er doch reichlich Nahrung für Insekten und Vögel. Wenn er blühen und Früchte tragen darf. Wie diese vielfältige 30 Jahre alte Hecke, angelegt vom Landschaftspflegeverband. Carolin Priefert:
02 AT Hecke
25 O-Ton Hecke Priefert
Wir haben immer Zweige, die sind mehr rötlich. Auch hier bei den Hundsrosen und dann eben auch mal ein Hellgrün oder ein Braun. Das helle Grün oder Türkisgrün der Flechten. Dann im Frühjahr treiben natürlich die jungen Blätter aus, dann haben wir ein strahlendes Grün und dann bald im März haben wir dann die Blüten, die weißen Blüten der Schlehe, des Weißdorns. Im Sommer ist es dann natürlich wahnsinnig dicht belaubt. Die großen Bäume haben ja auch verschiedene Blattformen. Die kleinen Flatterblättchen der Birken, oder die dicken Blätter der Linden, Wildbirne, Wildapfel haben dann langsam ihre Früchte. Weißdorn auch im Jahresverlauf. Pfaffenhütchen, das hat doch diese ganz pinken, exotisch aussehenden Früchte. Und dann im Herbst natürlich haben wir die verschiedenen Laubverfärbungen. Also gerade auch teilweise dunkelrote Blätter, das ist schon ein richtiges Farbenspiel aus gelb, dunkelrot, was man auch aus dem Wald kennt, aber in der Hecke ist es eher typisch, dass man so viele verschiedene Straucharten, Baumarten nebeneinander hat.
Sprecherin
So bietet die Hecke Nahrung, Deckung und Nistplätze für die Tierwelt, und Windschutz für die Ackerflächen. Und sie erfreut zu jeder Jahreszeit Augen und Ohren der Spaziergänger.
Pflanzen, Tiere oder Menschen können von Viren befallen werden. Diese Winzlinge brauchen Lebewesen, um zu überleben und sich zu vermehren. Sie können krank machen, aber auch sehr nützlich sein. Von Daniela Remus (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Christiane Klenz
Es sprach: Ditte Ferrigan
Technik: Peter Preuss
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Prof. Thomas Gramberg, Virologe, Universitätsklinikum Erlangen-Nürnberg
Prof. Adam Grundhoff, Virologe, Leibniz Institut für Experimentelle Virologie, Hamburg
Dr. Eva Herker, Virologin, Philipps Universität Marburg
Prof. Ulrike Protzer, Virologin, Technische Universität + Helmholtz Zentrum, München
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Die Nase läuft, die Augen jucken: So äußert sich ein Heuschnupfen beziehungsweise eine Pollenallergie. Diese allergischen Erkrankungen sind nicht nur extrem lästig für die Betroffenen, sie können die Gesundheit sogar dauerhaft schädigen. Behandelt werden sollten sie daher auf jeden Fall. Von Daniela Remus (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger
Technik: Bernd Schreiner
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Prof. Karl-Christian Bergmann, Allergologe, Stiftung Deutscher Pollenflugdienst und Charité, Berlin;
Prof. Jeroen Buters, Toxikologe, Technische Universität München;
Prof. Ana Zenclussen, Immunologin, Helmholtz Zentrum für Umweltforschung, Leipzig;
Prof. Torsten Zuberbier, Allergologe, Charité Berlin
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Institut für Allergieforschung, Berlin:
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Helmholtz Zentrum für Umweltforschung, Leipzig:
EXTERNER LINK | https://www.ufz.de/index.php?de=47352
Zentrum für Allergie und Umwelt (ZAUM); TU München
EXTERNER LINK https://www.helmholtz-munich.de/en/iaf/pi/pi-jeroen-buters
Forschungen unserer Interviewpartner/innen
Auswahl an neuen Forschungen des Instituts für Allergieforschung / Prof. Zuberbier:
Asano, Koichiro; Tamari, Mayumi; Zuberbier, Torsten et al.
Diversities of allergic pathologies and their modifiers: Report from the second DGAKI-JSA meeting.
Allergol Int. 2022;71( 3):310-7.
Maurer, Marcus; Zuberbier, Torsten; Metz, Martin
The Classification, Pathogenesis, Diagnostic Workup, and Management of Urticaria: An Update.
Handb Exp Pharmacol. 2022;268:117.
Jappe, Uta; Beckert, Hendrik; Bergmann, Karl-Christian et al.
Biologics for atopic diseases: Indication, side effect management, and new developments.
Allergol Select. 2021;5:1-25.
Forschungen von Prof. Bergmann:
Bergmann, Karl-Christian; Kugler, Sebastian; Zuberbier, Torsten et al.
Face masks suitable for preventing COVID-19 and pollen allergy. A study in the exposure chamber.
Allergo J Int. 2021;30( 5):176-82. 16.
Bergmann, Karl-Christian; Krause, Linda; Hiller, Julia et al.
First evaluation of a symbiotic food supplement in an allergen exposure chamber in birch pollen allergic patients.
World Allergy Organ J. 2021;14( 1):100494.
Forschungen von Prof. Zenclussen:
Fischer, F., Ermer, M.R., Howanski, J., Zenclussen, A.C., Schumacher, A. (2023):
Bisphenol A and benzophenone-3, two ubiquitous endocrine disruptors, may interfere with tolerance pathways by disturbing the T cell equilibrium
Am. J. Reprod. Immunol. 89 (S1), 83 - 83.
EXTERNER LINK | https://www.ufz.de/index.php?de=20939&pub_id=27023
Forschungen von Prof. Buters:
EXTERNER LINK | https://www.tum.de/aktuelles/alle-meldungen/pressemitteilungen/details/34799
Meteorological conditions, climate change, new emerging factors, and asthma and related allergic disorders. A statement of the World Allergy Organization
G D’Amato, ST Holgate, R Pawankar, DK Ledford, L Cecchi, M Al-Ahmad, ...
World Allergy Organization Journal 8 (1), 1-52.
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Mit Putins Machtpolitik erfuhr er eine ungeahnte Renaissance: Der russische Philosoph Iwan Iljin (1883-1954). In Artikeln beschreibt er dezidiert den umbau eines postkommunistischen Russlands in ein autoritäres großrussisches Reich. Von Christine Hamel (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Christine Hamel
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürckle, Christian Baumann, Oliver Stokowski, Jerzy May, Constanze Fennel, Andreas Neumann
Technik: Christine Frey
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Ilya Budraitskis, Historiker an der University of California in Berkeley
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
Rossija- Russland. Unermüdlich umkreist Iwan Iljins Denken Russland.
Zitator:
Ich lebe nur für Russland. (..) Russisch sein bedeutet nicht nur, Russisch zu sprechen. Es bedeutet, Russland mit dem Herzen wahrzunehmen, mit Liebe seine kostbare Originalität und seine absolute Einzigartigkeit in der gesamten Weltgeschichte zu sehen, zu verstehen, dass diese Einzigartigkeit ein Geschenk Gottes ist, das dem russischen Volk persönlich gegeben wurde.
Musik 2
"From My Youth" - Künstler: Andrei Vasilyevich Malutin & Akafist Male Chamber Choir - Album: Famous Russian Choral Works - Komponist: Traditional - Länge: 0'41
Sprecher:
Die Russen, ein von Gott auserwähltes Volk - auserwählt zur Rettung und Befreiung der gesamten Menschheit. Diese Idee ist fester Bestandteil großrussischer Ideologie.
Sprecherin:
Iwan Iljin begeistert sich für den Glauben, den er in Russland als besonders schöpferisch empfindet, hebt Russlands „geschichtliche Tragik“ hervor, ihm imponiert die „nationale Zähigkeit“ und unermüdlich geht er der russischen Seele auf den Grund. Russland, schreibt Iljin – und die Ukraine gehört für ihn selbstverständlich dazu - sei ein lebendiger Organismus.
Musik 3
"Dekalog VIII, Pt. 4" - Komponist: Zbigniew Preisner - Album: Dekalog (Original Film Soundtrack) - Länge: 1'01
Zitator:
Wenn man mit Ausländern über Russland spricht, muss jeder loyale russische Patriot ihnen klar machen, dass Russland kein Zufall ist, dass Russland kein zufälliger Haufen von Territorien und Stämmen und kein künstlich koordinierter "Mechanismus" von Regionen ist, sondern ein lebendiger, historisch gewachsener und kulturell begründeter ORGANISMUS. Dieser Organismus ist eine geographische Einheit, deren Teile durch wirtschaftliche gegenseitige Ernährung verbunden sind; dieser Organismus PAUSE ist eine geistige, sprachliche und kulturelle Einheit, die das russische Volk mit seinen nationalen und jüngeren Brüdern historisch verbunden hat - durch geistige gegenseitige Ernährung; er ist eine staatliche und strategische Einheit, die der Welt ihren Willen und ihre Fähigkeit zur Selbstverteidigung bewiesen hat.
Sprecherin:
Iljin ist ein großer Kritiker des Intellektualismus und hält nicht viel von Analyse und Argumentation
Sprecher:
Er will zeigen statt beweisen. Daher sein blumiger Stil.
Sprecherin:
Lange war das etwa 40 Bücher umfassende Werk des Philosophen in der Mottenkiste der „Ideologeme“ des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verschwunden. Während der gesamten Sowjetzeit war Iljins Werk mit einem Bann belegt. Schließlich hatte er rechten, faschistischen Ideen das Wort geredet.
Sprecher:
Aber dann entdeckte Putin-Russland den Philosophen – als Gewährsmann für eine propagierte Einzigartigkeit der russischen Kultur, für den starken Staat, den russischen „Sonderweg“ und als Ideenstifter einer orthodoxen-neokonservativen Ideologie, der sogenannten „Traditionellen Werte“.
Sprecherin:
Der Historiker, Politik- und Sozialtheoretiker Ilya Budraitskis hat sich lange mit Iwan Iljin auseinandergesetzt. Zu seinem Forschungsgebiet gehören der Konservatismus und der Aufstieg des Rechtspopulismus. Er war Dozent an der Moskauer Hochschule für Sozial und Wirtschaftswissenschaften. Seit 2022, dem Einfall Russlands in die Ukraine, arbeitet er an der University of California in Berkeley.
VOICE OVER
Das derzeitige Regime in Russland wird nicht von einer bestimmten Philosophie geleitet, auch nicht von der Philosophie Iwan Iljins. Aber es ist nicht zu übersehen, dass Iljin ein wichtiger Autor für das Regime ist. Es gibt beispielsweise viele Reden von Wladimir Putin, die sich auf Iljin beziehen. Auch andere Staatsfiguren sprechen ständig über ihn. Man fühlt sich Iljin durchaus verbunden, sowohl seinen Moralvorstellungen als auch seinen politischen Konzeptionen.
Sprecher:
Bei der Zeremonie der illegalen Angliederung der besetzten Gebiete in der Ukraine sagte Putin:
(O-Ton Putin)
VOICE OVER PUTIN
Ich möchte meine Rede mit den Worten eines wahren Patrioten - Iwan Alexandrowitsch Iljin – schließen. „Wenn ich meine Heimat als Russland betrachte, bedeutet das, dass ich auf Russisch liebe, überlege und denke, singe und spreche; dass ich an die geistigen Kräfte des russischen Volkes glaube und sein historisches Schicksal mit meinem Instinkt und Willen akzeptiere. Sein Geist ist mein Geist, sein Schicksal ist mein Schicksal, sein Leid ist mein Leid, seine Blüte ist meine Freude.
Musik 4
"Dekalog IX, Pt. 12" - - Komponist: Zbigniew Preisner - Album: Dekalog (Original Film Soundtrack) - Länge: 0'58
Sprecherin:
Iwan Iljin wird am 28. März 1883 in Moskau geboren. Seine Mutter Karolina Luisa Schweikert von Stadion ist Russlanddeutsche, deshalb wächst Iwan zweisprachig auf. Der Vater Aleksander Iljin ist ein renommierter Moskauer Rechtsanwalt aus einer aristokratischen Familie, Zar Alexander II. war sein Taufpate. Iwan hat drei Brüder. Nach einem glänzend bestandenen Abitur schreibt er sich an der Fakultät für Rechtswissenschaften an der Moskauer Universität ein
Sprecher:
Sein Interesse gilt aber der Philosophie. Nur gibt es im Russischen Reich keine eigenständigen Philosophiefakultäten, denn Philosophie gilt als gefährliche Disziplin im Zarenreich. Ein Grund, warum er während seines Studiums viel Zeit in Deutschland verbringt.
2. Zsp.: (Ilya Budraitskis)
VOICE OVER
Den größten Einfluss auf ihn hat Hegel. Hegel ging davon aus, dass die Geschichte letztlich eine positive Wendung nimmt. Das heißt, der Mensch vereinigt sich mit Gott. Iljin glaubte, dass eine solche Wiedervereinigung unmöglich ist. Deshalb gehört es zum Schicksal des Menschen, dass Vollkommenheit oder eine perfekte Gesellschaft IHM zufolge nicht erreichbar sind, sie bleiben immer Utopie.
Musik 5
"Chase - Apartment to Subway" - Jóhann Jóhannsson - Länge: 1'05
Sprecher:
Über den Charakter Iwan Iljins ist wenig bekannt, Fotografien zeigen einen ernsten, streng blickenden Mann, tiefliegende Augen, Halbglatze und Oberlippen- sowie Kinnbart. Es gibt eine frappante Ähnlichkeit zu Lenin. Die Cousine seiner Frau, die Dichterin Ewgenija Gerzyk erinnert sich wenig schmeichelhaft an ihn.
Zitatorin:
(…) Die Fähigkeit, ideologische Gegner zu hassen, zu verachten, zu beleidigen war bei Iljin besonders ausgeprägt, und von dieser Seite kannten ihn die Moskauer in den damaligen Jahren.
Sprecher:
Ein aggressiv-polemischer Einzelgänger, der die russische Intelligenzija als „geistig sittenlos“ empfindet. Sie habe Russland – Zitat - „Verwesung“ und „Niedergang“ gebracht, und den Bolschewiki, also den kommunistischen Revolutionären damit den Weg geebnet.
Musik 6
"Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Künstler: Alexei Aigui - Länge: 0'30
Sprecherin:
Nach seiner Rückkehr nach Russland nimmt Iljin eine Lehrtätigkeit an der Fakultät für Rechtsphilosophie auf. Seine akademische Laufbahn wird jedoch von den politischen Ereignissen überrollt. Die Oktoberrevolution, bei der die kommunistischen Bolschewiki unter Führung Wladimir Lenins gewaltsam die Macht an sich rissen, ist Iljin von Anfang an verhasst. Die Gründe schlüsselt Ilya Budraitskis auf.
3. Zsp.: (Ilya Budraitskis) –
Voice Over
Die Rechtfertigung des Leidens und des Todes sind für Iljin sehr wichtig. Denn nur durch den Tod, durch das Leiden, erreicht der Mensch höhere Sphären. Deshalb ist der Bolschewismus für ihn inakzeptabel. Er lehnt alle sozialen Utopien ab, weil sie seines Erachtens eine falsche Vollkommenheit anbieten. Vollkommenheit ist für Iljin nicht erreichbar.
Sprecher:
Iwan Iljins Denken verrät vielmehr die Sehnsucht nach Kampf und Bewährung, nach Härte und Schwere. Er bewundert den Faschismus Benito Mussolinis, der das Leben als einen einzigen Kampf darstellt.
Zitator
Im Leiden wird die Menschheit weise
Sprecher:
ist Iljin überzeugt.
4. Zsp. (Ilya Budraitskis)
Voice Over
Der Weg des Menschen, der Weg der politischen Bewegung ist bei Iljin ein ständiger Kampf um höhere, geistige Werte. Das heißt, der Mensch offenbart sich nur in extremen Situationen, im Leiden und im Angesicht des Todes.
Sprecherin:
Selbst die bolschewistische Revolution versteht Iljin letztlich als schicksalhaften Leidensweg, aus dem die Russen, das gotterwählte Volk abermals geläutert hervorgehen werden. 1925 schreibt er:
Musik 7
"Chase - Apartmen to Subway" - Jóhann Jóhannsson -
Komponist und Ausführender: McCanick (Josh C. Waller's Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 1'05
Zitator
Schreckliche und schicksalsbestimmende Ereignisse, die unsere wunderbare Heimat heimgesucht haben, jagen mit versengendem und reinigendem Feuer durch unsere Seelen. In diesem Feuer brennen alle falschen Grundlagen, Verirrungen und Vorurteile, auf denen die Ideologie der ehemaligen russischen Intelligenz errichtet wurde.
Sprecherin:
Iljin meint hier die Orientierung vieler russischer Intellektueller am Westen, ihren Pazifismus, ihren – wie er es nennt - „sentimentalen Moralismus“. Ihn stört vor allem der Atheismus der Liberalen, ihre angebliche „Willenlosigkeit“, ihr Kampf um Freiheit und Demokratie, ihre Freizügigkeit.
Zitator:
Auf diesen Grundlagen durfte man Russland nicht erbauen, die Verirrungen und Vorurteile führten es zu Verwesung und zum Niedergang.
Sprecher:
Aber, so fährt er fort:
Musik 8
"Girl Theme (From “Girl” Original Motion Picture Soundtrack)" - Künstler und Komponist: Valentin Hadjadj - Album: Girl (Themes & Variations / Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'30
Zitator:
In diesem Feuer (der Revolution) wird unser religiöser und staatlicher Dienst erneuert, werden unsere geistigen Augen geöffnet, werden unsere Liebe und unser Wille geläutert. Und das erste, was dadurch in uns wiedergeboren wird, wird die religiöse und staatliche Weisheit (…) der russischen Orthodoxie sein.
Sprecher:
Auch wenn Iljin die Revolution als stählendes Schicksal für das russische Volk und die Orthodoxie begreift, engagiert er sich doch aktiv, ihr so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten. Er sammelt Geld für die Kampfverbände der konterrevolutionären „Weißen Bewegung“, gerät aber auch mit seinen aufrührerischen Artikeln ins Visier der sowjetrussischen Obrigkeit.
Sprecherin:
Wegen antibolschewistischer Tätigkeit wird er zwischen 1918 und 1922 sechs Mal verhaftet, sogar zum Tode verurteilt.
Sprecher:
Da Lenin aber Iljins Dissertation über Hegel schätzt, wird das Urteil nicht vollstreckt.
Sprecherin:
Vielmehr wird der Philosoph 1922 zusammen mit seiner Frau und vielen anderen Schriftstellern, religiösen Denkern und Wissenschaftlern auf einem der beiden berühmten Philosophenschiffe zwangsabgeschoben. Iljin bleibt in Weimardeutschland, arbeitet am Russischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin und versucht vom Ausland aus, die Konterrevolution zu unterstützen.
Sprecher:
Iwan Iljin wird zu dem wichtigsten Propagandisten der Weißen Bewegung, eines Sammelbeckens von Bolschewismusgegnern aller Couleur.
Sprecherin:
1925 erscheint sein Schlüsselwerk „Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse“.
5. Zsp.: (Ilya Budraitskis)
Voice Over
Das heißt, dem Bösen muss aktiv widerstanden werden. Hier ist es wichtig zu sagen, dass Iljin nicht die Gewalt verteidigt, es geht ihm vielmehr um die Kraft. Aus seiner Sicht ist die Gewalt schlecht, denn sie ist willkürlich und ja nicht mit den höheren göttlichen Werten verbunden. Aber um dem Bösen entgegenzuwirken, muss Kraft aufgeboten werden.
Sprecher:
Diese Kraft kann dann allerdings sehr gewalttätig werden – nur dass Iljin das „kämpfende Liebe“ nennt.
Musik 9
"Dekalog VIII, Pt. 4" - Komponist: Zbigniew Preisner - Album: Dekalog (Original Film Soundtrack) - Länge: 0'55
Zitator:
Folglich bleibt eine einzige, universelle Regel: dem Bösen aus Liebe zu widerstehen –(…) aus Liebe zu nötigen und zu unterdrücken, wo es nötig ist, aus Liebe zu überreden, aus Liebe hinzurichten (…) Ja, der Weg der Kraft und des Schwertes ist kein gerechter Weg. Doch gibt es einen anderen, gerechten Weg? Doch nicht etwa der sentimentale Weg der Widerstandslosigkeit, der Weg des Verrats der Schwachen. (…) Natürlich hat dieser Weg etwas weitaus „Ruhigeres“, etwas weitaus „Anständigeres“ und dem äußeren Anschein nach ein Aussehen, das weniger Blutvergießen fordert, jedoch nur Leichtsinnigkeit und böse Torheit können nicht wahrnehmen, um welchen Preis diese „Ruhe“ und „Anständigkeit“ erkauft wurden.
Sprecherin:
Den moralischen Folgen seiner Handlung, seiner Schuld muss sich der Kämpfer bei Iljin wiederum stellen. Etwa durch religiöse Askese. Darin besteht - so Iljin – recht eigentlich dann sein Heldentum.
Sprecher:
Die religiös unterfütterte Kampfansage sorgt natürlich für viel Diskussionsstoff und Häme. Maxim Gorkij spricht von einem
Zitator 2
„Evangelium der Rache, in dem er beweist, dass man Menschen nicht töten darf, außer sie sind Kommunisten.“
Sprecher:
Iljins Kollege Nikolaj Berdjajew, der nach Paris weitergezogen war, nennt Iljin einen „Tschekisten im Namen Gottes“, wiederum andere erkennen in dem Buch die „Predigten des Faschismus.“
Sprecherin:
Dem Faschismus steht er tatsächlich nahe, auch er plädiert für einen straff einheitlich hierarchisch gegliederten Staatsaufbau. Diese „Nationale Diktatur“ solle im Verbund mit der Orthodoxie Russland für die Rückkehr des Zarentums vorbereiten.
6. Zsp.: (Ilya Budraitskis)
Voice Over
Das heißt, im Prinzip ist sein Ideal eine autokratische Monarchie. Wie viele andere Emigranten und Monarchisten hat er erkannt, dass es keine Rückkehr zur vorrevolutionären Ordnung geben wird, dass ein neues System notwendig geworden ist. Ein System einer aktiven Erziehung des Volkes. Denn das Problem der alten Monarchie war es, so Iljin, dass es das Volk nicht erziehen, die Gesellschaft nicht aktiv beeinflussen konnte. Und das hat zur Revolution geführt. Deshalb ist es notwendig, die Aufgaben einer russischen konservativen Bewegung neu zu überdenken. Iljin redet vor diesem Hintergrund manchmal einem „russischen Faschismus“ das Wort.
Zitator:
Politik
Sprecherin:
definiert er 1948
Zitator:
ist die Kunst, den Feind zu erkennen und auszuschalten.
Sprecherin:
Iljin glaubt, dass andere Staaten an einem schwachen Russland interessiert seien und an seinem Zerfall arbeiten.
Zitator
Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass die Zersplitterer Russlands auch im postbolschewistischen Chaos versuchen werden, ihr absurdes Experiment durchzusetzen, sie werden es betrügerisch als den Triumph der Freiheit, Demokratie und Föderalismus darstellen.
((Sprecherin:
Für ein paar Jahre ist Iljin Herausgeber der Zeitschrift „Russkij Kolokol“ – „Russische Glocke“. Die Publikation hat sich dem Ziel verschrieben, „dem urwüchsigem und großen Russland zu dienen
Sprecher:
Neun Nummern können erscheinen, eine davon widmet sich dem „Russischen Faschismus“, dann muss die Zeitschrift wegen ausbleibender Finanzierung eingestellt werden.))
Sprecherin:
1933 begrüßt Iwan Iljin erwartungsgemäß die Machtergreifung Hitlers. Nicht nur aus Gründen des Antibolschewismus.
Sprecher:
Das moderne Leben mit seinem Pluralismus, aller Liberalität und die bürgerliche Gesellschaft sind ihm verhasst. Herzlichkeit? Eine Sache der Kleinbürger für einen, der, wie er sagt, „das Schwert der Liebe“ in Händen hält. In jedem aufrichtigen Nationalsozialisten, schreibt er in glühender Verehrung, brenne
Zitator:
Patriotismus, Glaube an die Identität des deutschen Volkes und die Kraft des deutschen Genies, Ehrgefühl, Opferbereitschaft, Disziplin, soziale Gerechtigkeit und klassenübergreifend brüderlich-volkstümliche Einheit. Solange Mussolini Italien und Hitler Deutschland führt, wird der europäischen Kultur eine Gnadenfrist gewährt.
Sprecher:
Er bedauert allerdings die Gottlosigkeit der Nationalsozialisten, das Nichtreligiöse des Nationalsozialismus.
Sprecherin:
Im Frühjahr 1934 wird Iljin trotz seiner offenen Sympathie für die Nationalsozialisten die Leitung am Russischen Wissenschaftlichen Institut entzogen.
7. Zsp.: (Ilya Budraitskis)
Voice Over
Ich denke, das Hauptproblem mit Hitler war, dass Iljin ein russischer Nationalist war, ein russischer Monarchist, kein deutscher Nazi. Hitler sympathisierte ja nicht sonderlich mit der Idee der Wiederherstellung eines starken monarchischen Russlands. Zudem war Iljin kein aktiver Antisemit, es gibt nur sehr selten Bemerkungen gegen Juden in seinem Werk. Antisemitismus ist bei weitem kein Eckpfeiler seiner Weltanschauung.
Sprecherin:
1938 beschlagnahmt die Gestapo Iljins Werke und verbietet alle öffentlichen Auftritte. Einen Urlaub im Tessin nutzen Iwan Iljin und seine Frau im selben Jahr dazu, erfolgreich ein Aufenthaltsgesuch für die Schweiz zu stellen. Jede politische Tätigkeit ist fortan verboten, doch Iljin gründet voller zähem Eifer noch 1938 im Tessin die Geheimgesellschaft „Weißer Kongress“. Vor ihren Mitgliedern stellt der Monarchist im Untergrund seine Grundlagen zu einer neuen Verfassung für ein russisches Imperium vor.
Sprecher:
Gewissermaßen sein Vermächtnis für Russlands Zukunft. So wünscht er sich das.
8. Zsp.: (Ilya Budraitskis)
Voice Over
Den Staat begreift Iljin als die Kraft, die dem göttlichen Anfang im Menschen trotz seiner bösen, unbewussten Natur zur Entfaltung verhilft. Der Staat zielt nicht darauf ab, eine perfekte Gesellschaft zu schaffen. Aber er wirkt aktiv auf den Menschen ein, um in ihm, auch mit Gewalt, mit Zwang, mit Unterdrückung diesen echten göttlichen Anfang zu wecken.
Musik 10
"Chase - Apartmen to Subway" - Jóhann Jóhannsson -
Komponist und Ausführender: McCanick (Josh C. Waller's Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'42
Sprecher:
Der Staat stellt die höchste Vollendung menschlichen Strebens dar und hat uneingeschränkten Verfügungsanspruch über die Beherrschten. In „Unsere Aufgaben“ schreibt er für ein Russland nach dem Sozialismus:
Zitator:
Und da der Staat eine Institution ist, regieren sich die Menschen in ihm nicht selbst und verfügen nicht über sich selbst, sondern werden erzogen, unterrichtet und gehorchen. (…) Der Staat ist seinem Wesen nach verbindlich, imperativ und zwingend.
Sprecherin:
Putin ließ das Buch im Januar 2014 an Staatsbeamte verteilen.
Sprecher:
Die russische Kultur, argumentiert Iljin, erzeuge automatisch „brüderliche Einheit“ überall dort, wo sich die Macht ausbreitet. Ein Satz, den Wladimir Putin als Erfolgsrezept für die russische Okkupationspolitik in der Ukraine versteht – und so tauchen in den besetzten Städten immer wieder Plakate mit Puschkin auf, dem russischen Nationaldichter. Russische Kultur, zitiert Putin Iwan Iljin, sei
Zitator
die kontemplative Betrachtung des Ganzen.
Sprecherin:
In der Schweiz arbeitet Iwan Iljin unermüdlich weiter.
Musik 11
"Dekalog IX, Pt. 12" - - Komponist: Zbigniew Preisner - Album: Dekalog (Original Film Soundtrack) - Länge: 0'51
Sprecherin:
Iljins Denken richtet sich jetzt vor allem auf eine strahlende Wiedergeburt Russlands, auf eine Zukunft nach dem Sozialismus.
Zitator
Wer seinen nationalen Führer nicht von ganzem Herzen liebt und ihm nicht vertraut, nicht an ihn glaubt, sendet ihm nicht seinen von Herzen gewollten Strahl der Loyalität, der Kraft und Inspiration, der sammelt keine Energien für ihn und in ihm und verliert ihn deshalb mit seiner vitalen und schöpferischen Kraft. Deshalb versuchen die Feinde des Führers und Souveräns immer, ihn durch Verdächtigungen, Spott und Verleumdungen zu erschöpfen und seine Macht zu untergraben.
Sprecherin:
1954 stirbt Iwan Iljin in Zollikon. Bis 1991 geraten er und seine Werke in Vergessenheit. Erst nach dem Kollaps der Sowjetunion werden seine Schriften in einigen engen Interessenkreisen wiederentdeckt.
Sprecher:
Philosophen und ewige Monarchisten interessieren sich für Iljins detaillierten Aufbauplan eines religiös-totalitären Einheitsstaates.
Sprecherin:
Doch nach Putins Machtantritt im Jahr 2000 nimmt die Iljin-Rezeption richtig Fahrt auf. Im Oktober 2005 wird Iwan Iljins Urne aus seinem Grab in der Schweiz ausgegraben und nach Moskau gebracht. Russlands amtierender Präsident Waldimir Putin nimmt persönlich zusammen mit dem Patriarchen an der feierlichen Beisetzung auf dem Friedhof des Moskauer Donskoj Klosters teil. Iljins Nachlass wird aufgekauft und der Moskauer Universität übergeben. Seither gehört der rechtsorthodoxe Denker zu den kanonisierten Autoren russischer Geistesgeschichte, sein Staatsverständnis wird im russischen Abitur abgefragt.
Zitator:
Macht kommt von ganz allein zum starken Mann
Sprecherin:
erklärt er und begründet damit seine Ablehnung des
Zitator
blinden Glaubens an die Zahl von Wählerstimmen und ihre politische Bedeutung.
Musik 12
"Dekalog VIII, Pt. 4" - Komponist: Zbigniew Preisner - Album: Dekalog (Original Film Soundtrack) - Länge: 0'53
Sprecherin:
Iljins Schriften sind wenig konzis, sie sind verwirrend und widersprüchlich, sie verbinden patriotische Leidenschaft mit spirituellen Dimensionen und autoritären Zügen. Dieses Amalgam verbindet Iljins Denken mit dem Putin-Regime, das sich der Begrifflichkeit Iljins bedient: Russland, Liebe, Geist, Recht, äußere Feinde, Einheit sind die Schlagwörter. Aus ihnen konstruiert der Putinismus eine Erzählung, die dem ebenso klaren wie brutalen Vorgehen der Machthabenden einen leuchtenden, unschuldigen Rahmen verpasst. Und in diesem Rahmen kann die Propaganda der russischen Patrioten den Angriffskrieg gegen die Ukraine als „Krieg der Liebe“ darstellen.
Im Hier und Jetzt zu sein, klingt attraktiv, ist aber schwierig. Denn der Mensch macht gern Pläne und hängt an Vergangenem. Doch es kann hilfreich sein, den Fokus - zumindest ab und zu - auf die gegenwärtige, sinnliche Erfahrung zu lenken. Bestenfalls öffnet sich dann ein kleiner Freiraum ohne Zwänge und Not. Von Justina Schreiber (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Martin Trauner
Es sprach: Irina Wanka
Technik: Regine Elber
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. Daniela Blickhan, Psychologin und Coach
Dr. Michael Huppertz, Psychiater, Psychotherapeut und Achtsamkeitstrainer
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Ein Podcast-Tipp für alle, die gerne authentische Geschichten hören: „Ein Zimmer für uns allein“ – zwei Frauen, zwei Generationen und die Frage „Wie hast du das erlebt?“
Hier trifft Paula Lochte immer zwei Frauen aus verschiedenen Generationen und sie sprechen offen und ehrlich über ein Thema, das sie verbindet. Was waren die Kämpfe damals, was sind sie heute? „Ein Zimmer für uns allein“ findet ihr in der ARD-Audiothek und überall, wo’s Podcasts gibt – oder gleich HIER
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Wie kleine Schlösser wirken viele Dorf- und Kleinstadt-Häuser an und in den Alpen. Auf den zweiten Blick wird klar: Alles ist "nur" aufgemalt. Es sind Lüftlmalereien, typisch für die Gegend mindestens seit der Barockzeit. Von Bettina Weiz.
Credits
Autorin dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Irene Schuck
Es sprach: Katja Amberger
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Ludwig Felber, Auftraggeber, Lüftlmalerei
Bernhard Ludwig Rieger, Lüftlmaler
Helga Stuckenberger, Gästeführerin
Prof. Dr. Andrea Gottdang, Kunsthistorikerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Linktipps:
Erlebe Bayern - Lüftlmalerei
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN:
Es ist ein stattliches Haus, das sich Ludwig Felber mit seiner Familie hat bauen lassen. Solide aufgemauert. Die Balkone und das Dach fachmännisch gezimmert. Der Blick geht auf das Zugspitz-Massiv.
1. Zsp. /Ludwig FELBER
Ja, wir sind stolz darauf und freuen uns jeden Tag, dass man da wohnen können und dürfen.
ERZÄHLERIN:
Doch kaum ist die Familie eingezogen, da geschieht es:
2. Zsp. /FELBER
Dann fahrt man in die Arbeit, fahrt wieder hoam und schaut das Haus von verschiedenen Perspektiven an, da sagt man: „irgendwas geht ab. Es ist - wie mir sagen – z’nackert.“
ERZÄHLERIN:
Zu nackt. Die Wände zwischen den moosgrünen Fensterläden: weiß.
Musik 2
"Baletto Detto L'Imperiale" - Ausführender: Christian Zimmermann - Komponist: Pietro Foscarini - Album: Lauten- und Gitarrenmusik aus dem Barock - Länge: 0'35
ERZÄHLERIN:
Dagegen prangen nebenan, am Pfarrhof, unter der Jahreszahl „1748“ der Herrgott als strahlendes Auge und darunter wiederum der Tod als Sensenmann. Dazu ist ein üppiges Barockportal aufgemalt. Am Rathaus gegenüber hebt Formputz die Gebäudekanten hervor. Am Haus vis à vis zieren üppige Akanthusranken die Fenster. Auf der Nachbar-Fassade führt ein kräftiger Mann ein Pferd. Alles: Lüftlmalerei.
3. Zsp. /FELBER
Dann denkt man nach und grübelt, dann hat man ja Gespräche in der Familie und dann sagt mer – „wollen wir Farbe ans Haus ranbringen?“ Und dann kommt man über an Fernsehsendung, Lüftlmalerei, hammer an Rieger Bernhard gesehen. Da sagen wir, „Mensch, den Bernhard kenne ich doch, den rufen mer doch an.“
Musik 3
"Sonnenaufgang am Golmer Joch" - Album: Volksmusik aus Bayern - Länge: 1'00
ERZÄHLERIN:
Bernhard Ludwig Rieger wohnt im Nachbartal und kommt mit seinem Kleinbus angefahren. Er hat eine Haartolle und einen Bart wie König Ludwig II, der „Kini“. Den verkörpert er gerne auch mal auf Bühnen. Wenn er nicht malt oder sich mit Lüftlmalerei beschäftigt.
4. Zsp. /Bernhard Ludwig RIEGER
Die Lüftlmalerei ist eine Art, Fassaden oder Gebäude zu verschönern, die eine Region prägt und die es so sonst nirgends auf der Welt eigentlich gibt. Nur hier. In der Region.
ERZÄHLERIN:
Mit „Region“ meint Bernhard Ludwig Rieger die zwischen dem Berchtesgadener Land, dem Arlberg und Südtirol, vor allem aber die eigene. Da, wo früher mal eine Handelsroute zwischen Augsburg und Italien durchging.
5. Zsp. /RIEGER
Wir sind hier Meltingpot, Oberammergau, Mittenwald, Partenkirchen, da ist wirklich die aussagekräftigste Lüftlmalerei, weil es tatsächlich auf dieser Handelsstraße beruht.
ERZÄHLERIN:
Oberammergau ist 15 Kilometer vom Haus der Familie Felber in Farchant entfernt, dort sind noch viel mehr Häuser mit Lüftlmalerei verziert. Die Hauptstraße ist ein begehbarer Bilderbogen. In Oberammergau wohnte im 18. Jahrhundert auch einer der bedeutendsten Lüftlmaler, die es je gab: Franz Seraph Zwinck. Manche meinen sogar, dass auf ihn der Begriff „Lüftlmalerei“ zurückgehe, erklärt die Gästeführerin Helga Stuckenberger.
6. Zsp. /Helga STUCKENBERGER
Es heißt ja auch, dass der Franz Seraph Zwinck den Hausnamen „Lüftl“ hatte, da gab es eine Geschichte, es hieß nämlich also „Lüftl“, weil es bei ihm beim Haus recht schlecht gerochen hat, weil halt da a Misthaufen neben dem Haus war.
ERZÄHLERIN:
Tatsächlich glaubt Helga Stuckenberger diese verbreitete Geschichte selbst nicht – wenn sie auch ein Licht auf den Meister und sein Umfeld wirft.
7. Zsp. /STUCKENBERGER
Nachdem er nicht der einzige war, der einen Misthaufen neben dem Haus hatte, denke ich, ist es nicht richtig, sondern das kommt tatsächlich von dieser an der frischen Luft arbeitenden Tätigkeit. lacht
ERZÄHLERIN:
„Im Freien“, „an der frischen Luft“ heißt auf italienisch „al fresco“. Zugleich nennt sich die Maltechnik, die Franz Seraph Zwinck und andere Lüftlmaler seiner Zeit anwandten, „Fresko“, ohne „al“. Das bedeutet auf deutsch „frisch“. Die Farbe wird dabei auf den frischen, also noch feuchten Putz, gemalt. Wenn sie gemeinsam mit ihm trocknet – besonders gut, wenn ein Lüftchen weht – wird sie gewissermaßen eins mit der Wand und kann Jahrhunderte halten.
8. Zsp. /STUCKENBERGER
Ich denke, in Oberammergau oder überhaupt in der Gegend im achtzehnten Jahrhundert hat man nicht unbedingt Italienisch gesprochen und hat dann die Freskomalerei, weil es kommt ja aus Italien, diese Mode, als solche bezeichnet, sondern kam sicher sehr schnell diese Bezeichnung auf, „eh, san sie wieder an der frischen Luft, die Lüftl-Maler“. Lacht
Musik 4
"Geht leicht (a)" - Komponist und Ausführender: Thomas Binegger - Album: A Hund auf der Geign - Länge: 0'44
ERZÄHLERIN:
Dass die Herkunft des Wortes „Lüftlmalerei“ wissenschaftlich nicht geklärt ist – für Ludwig Felber und den Lüftlmaler Bernhard Ludwig Rieger spielt das keine Rolle. Sie wollten Farbe an das stattliche, neue Haus der Felbers bringen.
9. Zsp. /FELBER
Der Eingangsbereich, haben wir gesagt, muss hervorgehoben werden. Das muss a bissl was Besonderes werden. Das man aa siehcht, da ist der Eingang.
ERZÄHLERIN:
Die schwere Haustür aus Eichenholz liegt in einer Nische. Aus der Ferne betrachtet geht sie in der Fensterfront fast unter. Doch dabei, ein bisschen Zierat um die Haustür herum zu pinseln, will es der Lüftlmaler nicht belassen.
10. Zsp. /FELBER
Sagt er, ja gut, das kann man realisieren, aber da fehlt ja mehr. An dem Haus.
ERZÄHLERIN:
Denn Bernhard Ludwig Rieger weist Ludwig Felber darauf hin, wo sein Haus steht: an erster Adresse in Farchant, zwischen Rathaus, Pfarrhof, Feuerwehr und Kirche, direkt am Dorfplatz mit seinen schattigen Sitzbänken unter alten Kastanien, gepflegten Blumenrabatten, dem Dorfbrunnen, Mitteilungstafeln der Vereine und der örtlichen E-Auto-Ladestation.
11. Zsp. /RIEGER
Du hast in der Lage nicht nur die Aufgabe, für dich zu bauen, sondern du hast auch die Verantwortung. Oder Verpflichtung gegenüber einem Dorf.
ERZÄHLERIN:
Er rät Ludwig Felber zu mehr: Zu Farbe auch rund um die Fenster. Zu einer Fassadengliederung.
12. Zsp. /FELBER
Da haben wir natürlich solche Augen kriegt, weil er von was gesprochen hat, was wir uns ja nicht ihm im Vorfeld Gedanken gemacht haben. Da hammer gesagt „Mensch, ja, das war ja was!“. Und so ist es entstanden, dass der Bernhard gesagt hat, er macht sich Gedanken, und er kommt dann mit einem Vorschlag vorbei.
ERZÄHLERIN:
Bernhard Ludwig Rieger macht es wie Generationen von Lüftlmalern vor ihm: er lässt sich von Beispielen aus seiner Umgebung inspirieren.
13. Zsp. /RIEGER
Fassadengliederung heißt für mich, dass da, wo eigentlich eine Decke ist, wo früher vielleicht die Balkenkonstruktion vorgeschaut hat, wo man aber auch aus der Städtearchitektur, wie es in Augsburg war, eben große dreistöckige Gebäude gegliedert hat, durch Linierung und durch Absetzungen, dass man a große Wandfläche, a weiße, gliedert, um optisch a Struktur zu schaffen.
Musik 5
"Venezia Renaissance Canzon II" - Künstler: Capriccio Stravagante Renaissance Orchestra & Skip Sempé - Album: Venezia stravagantissima (Alpha Collection) - Komponist: Giovanni Gabrieli - Länge: 1'20
ERZÄHLERIN:
Augsburg: Ob sich auch der Lüftlmaler Franz Seraph Zwinck dort inspirieren ließ? Es ist nicht bekannt – aber möglich. Die Kunsthistorikerin Andrea Gottdang nennt die Stadt „ein Zentrum der Fassadenmalerei“.
14. Zsp. /Andrea Gottdang
Augsburg hat eine sehr lange Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht und die im sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert wirklich sehr stark gewesen ist.
ERZÄHLERIN:
Auch dort profitierte man von großen Handelsrouten und von Migration.
14a. Zsp. /GOTTDANG
Die Augsburger waren inspiriert von Italien, oder es kamen tatsächlich auch Italiener über die Alpen nach Augsburg, um hier Fassadenmalereien auszuführen. Licinio zum Beispiel am Rehlinger-Haus in Augsburg. Das ist dann im sechzehnten Jahrhundert. Den hat man sicherlich auch wegen seiner italienischen Provenienz angeheuert. Wenn man sich einen Italiener leisten konnte, dann war das auch schon was.
ERZÄHLERIN:
Giulio Licinio aus Venedig bemalte um 1560 Häuser des Kaufmanns Hieronymus Rehlinger komplett mit Fabelwesen, üppigen Pflanzen, Vasen, dazu muskulösen Männern und schönen Frauen aus der Mythologie der Antike. Aber, betont die Kunsthistorikerin Andrea Gottdang von der Universität Augsburg:
15. Zsp. /GOTTDANG
Es ist auch nicht so, dass man hier in Augsburg gesessen hat und gesagt hat „also nur die Italiener kommen in Frage“, wir haben hier auch einen Breu zum Beispiel, der das Fuggerhaus bemalt hat, oder dann im achtzehnten Jahrhundert hat Augsburg eine eigene Akademie, und Künstler wie Bergmüller oder Holzer, die die Fassaden in der Maximilianstraße wirklich prachtvoll ausgestalten.
ERZÄHLERIN:
Wind, Wetter und Weltkriege haben viel von der einstigen Farbenpracht an Augsburgs Edelmeile verschwinden lassen. Aber alte Aufnahmen zeigen, dass zum Beispiel die Fuggerhäuser einst vor allem in den Obergeschossen über und über bebildert waren. Das alles nennt Andrea Gottdang „Fassadenmalerei“ – und unterscheidet es genau von „Lüftlmalerei“.
16. Zsp. /Gottdang
Da muss man auch auf die Auftraggeber schauen. Wer gibt das eine, wer gibt das andere in Auftrag, diese großen historistischen Programme, wie man sie dann auch in Augsburg am Fuggerhaus hat. Das sind entweder Auftragswerke der Stadt oder reicher Bürger der Stadt, die sich das leisten können, und die Lüftlmalerei haben wir dann eher im ländlichen Raum auch oft nur kleine Motive oder einer eine einzelne Madonna auf einer Wolke oder wie auch immer, ein Heiliger, ein Hausheiliger, und das konnten sich dann auch natürlich begüterte, aber ja, die kleineren Bürger vielleicht leisten.
ERZÄHLERIN:
Hinter den Fuggerhäusern stand Großkapital. Jakob Fugger, der sie in der Renaissance errichten ließ, war Bankier, Großhändler und Bergbauunternehmer. Er finanzierte den Kaiser und den Papst. Man nannte ihn „der Reiche“. Er war einer der mächtigsten Menschen, die es je gab.
16a. Zsp. /GOTTDANG
Es geht darum zu repräsentieren, denn wer lässt sich Fassadenmalerei an sein Haus malen? Das sind die Leute, die sich das leisten können. Und wenn man dann noch einen Künstler wie Bergmüller oder Holzer in Augsburg engagiert, das ist also die alleroberste Maler Liga, wenn sie so mögen, dann dokumentiert man natürlich auch nach außen, dass man es zu etwas gebracht hat.
Musik 6
"Geht leicht (a)" - Komponist und Ausführender: Thomas Binegger - Album: A Hund auf der Geign - Länge: 0'32
ERZÄHLERIN:
Ludwig Felber, der Mann mit dem stattlichen Anwesen mit Zugspitzblick, der mit dem Gedanken spielt, Farbe ans Haus zu bringen und der dafür einen Lüftlmaler angerufen hat – er stammt aus einer alteingesessenen Familie aus Farchant. Ein Schwarzweißfoto seiner Eltern hängt im Hausflur. Darauf scheren sie ein Schaf. Sie hatten eine Landwirtschaft. Doch die alleine reichte nicht. Im Sommer räumten sie ihr Ehebett und vermieteten das Zimmer und ein paar andere an Urlauber, erinnert sich Ludwig Felber. Er selbst hat ein Handwerk gelernt.
17. Zsp. /FELBER
Weil wir fleißig waren, 25 Jahre als Installateur, Landwirtschaft immer im Nebenerwerb gmacht haben, dann ist die Musik dazukommen, ich hab 1976 mit der steirischen Ziehharmonika angfangt.
ERZÄHLERIN:
Auch mit Musik-Auftritten hat er Geld verdient, vor allem aber mit seiner Firma:
17a. Zsp. /FELBER
Dann hat man noch a Firma aufbaut, in Deutschland haben wir eine Marke geprägt, sind in sehr vielen großen namhaften Projekten beteiligt.
Erzählerin:
Weit über tausend Tonnen Stahl hat seine Firma zuletzt im Jahr verarbeitet und die von ihr entwickelte Technik kommt rund um den Globus zum Einsatz: In der Elbphilharmonie steckt sie ebenso wie in einer Forschungsstation in der Antarktis. Denn, so sagt Ludwig Felber mit Blick auf sein stattliches Haus, dessen Wohnzimmer allein so groß ist, dass eine ganze Blaskapelle darin Platz hätte:
18. Zsp. /FELBER
Um das Ganze aber zu realisieren, braucht man natürlich einen background, das heißt sehr viel Geld.
ERZÄHLERIN:
...zumal wenn die Malerei mehr Fläche umfassen soll als nur die Haustürnische. Und genau dazu entscheidet sich die Familie Felber.
19. Zsp. /FELBER
Und dann hat man das durchgesprochen, und dann ist man immer weiter, auf die ganze Wandfläche.
Musik 7
"A Piece without Title" - Künstler: Göran Söllscher - Album: The Renaissance Album - Komponist: John Dowland - Länge: 0'20
ERZÄHLERIN:
Die ganze Wandfläche gestalten – und mehr noch: die platte Fläche auch so bemalen, dass sie aussieht als wäre sie gar nicht platt: das ist eine besondere Spezialität der Fassadenmalerei bis zur Barockzeit, erklärt die Augsburger Kunsthistorikerin Andrea Gottdang.
20. Zsp. /GOTTDANG
Ja, da wurden in der Tat große Scheinfassaden entworfen, die gebaut so niemals funktioniert hätten. Da hat man seiner Fantasie schon auch freien Spielraum gelassen,
Musik 8
"A Piece without Title" - Künstler: Göran Söllscher - Album: The Renaissance Album - Komponist: John Dowland - Länge: 0'45
ERZÄHLERIN:
Auch in die Lüftlmalerei haben solche sogenannten Trompe l’oeil-Darstellungen Einzug gehalten. Das Paradebeispiel ist das sogenannte Pilatushaus in Oberammergau, bemalt von Franz Seraph Zwinck. Auf den ersten Blick fällt das Portal auf, das sich zum Barockgarten mit seinen streng geometrisch getrimmten Buxbaumhecken öffnet. Sechs Säulen tragen das vorspringende Dach. Rechts und links davon führen geschwungene Treppenaufgänge zu hochgelegenen Terrassen. Noch weiter oben folgen weitere Treppen und Plateaus bis zu einer Art Loggia, ebenfalls von Säulen bestanden. Deren Schäfte glänzen in der Sonne, das Vordach wirft einen Schatten auf die Hauswand. Nur zum Schein, denn: Tatsächlich ist nur der Garten im Barockstil echt. Alles andere ist täuschend naturalistischer Fake. Und das vor Alpenpanorama.
21. Zsp. /STUCKENBERGER
lachend Wir sind hier in Oberammergau. Da gibt es viel Theater! Rundum sogar die Natur!
ERZÄHLERIN:
...schwärmt die Gästeführerin Helga Stuckenberger, und vergleicht die Scheinarchitektur auf dem Oberammergauer Pilatus-Haus mit der Kulissen-Welt auf der Passionsspielbühne um die Ecke. Und nicht nur die, sondern auch die zahlreichen Figuren, die sich auf den aufgemalten Terrassen, Treppen und dem Thron tummeln.
22. Zsp. /STUCKENBERGER
Auf den meisten Häusern in Oberammergau, die Freskomalereien, also diese Lüftlmalereien, sind meistens Heiligen-Figuren oder Szenen aus Heiligen-Legenden gewesen, und da ist es die Szene des Pilatus, der Jesus grad zum Tod verurteilt, also die Geschichte, die wir im Passionsspiel ja auch alle zehn Jahre erzählen.
ERZÄHLERIN:
Etwas erzählen – das will schließlich auch der Farchanter Ludwig Felber mit der Lüftlmalerei auf seinem neuen, stattlichen Haus.
23. Zsp. /FELBER
Nicht – wie es so oft ist – mit an Erzengel Gabriel, sondern da könnten wir zum Eingangsbereich noch die Geschichte des Hauses abbilden.
ERZÄHLERIN:
Der Lüftlmaler Bernhard Ludwig Rieger macht entsprechende Skizzen. Ohne Heilige.
24. Zsp. /RIEGER
Die Zeit ist heute a andere, wir wollen, eher drauf Wert legen, was uns ausmacht. Unsere Wurzeln.
MUSIK 9
"'s Gartl" - Künstler: Das Bloacherbach-Trio Album: Die vierte von vier - Komponist: Klaus Karl - Länge: 1'00
ERZÄHLERIN:
Doch auch die Heiligen, die die Lüftlmaler der Barockzeit auf den Häusern darstellten, hatten viel mit deren Bewohnern zu tun.
25. Zsp. /STUCKENBERGER
Da ist der Heilige Leonhard, also der fürs Vieh zuständige Heilige, drauf, oder die heilige Notburga, die für die Dienstboten da ist, dann ist der Heilige Florian drauf, wegen dem Feuer. Aber das brauchten alle, weil damals gab es offene Feuerstellen, also es war eh schwierig, und interessanterweise auch noch der Heilige Rochus. Pestheiliger. Wir sind in Oberammergau! Lacht Warum spielen wir Passion? Wegen der Pest! Also man findet immer wieder heraus, wenn man ein bisschen drüber nachdenkt, warum jetzt die Leute sich gerade so a Motiv ausgesucht haben. Das hatte sicher auch immer einen Grund. Nicht nur, weil es ihnen vielleicht gefallen hat oder so, sondern es hatte schon auch den Hintergrund, äh, sozusagen einen kleinen Deal mit Gott zu machen, wir stehen Dir nahe, hilf uns bitte.
ERZÄHLERIN:
Später schöpften die Lüftlmaler die Ideen für ihre Figuren auch aus anderen Quellen. Helga Stuckenberger weist auf ein Kinderheim in ihrer Gemeinde hin, das im 20. Jahrhundert eine Lüftlmalerei bekam – mit Rotkäppchen und dem Wolf, den Bremer Stadtmusikanten und Hänsel und Gretel. Und sie zeigt das Gebäude einer großen Schnitzerei im Ortskern, das in den 70er Jahren bemalt wurde, anlässlich des 200. Firmenjubiläums.
26. Zsp. /STUCKENBERGER
Da sind jetzt tatsächlich Leute drauf, die da in der Firma damals als Schnitzer tätig waren, ja, wirklich auch der Chef der Firma, der Bayernfahne in der Hand lacht...
ERZÄHLERIN:
Er sitzt an einem Esstisch, neben ihm zechen drei Männer und eine Frau. Eine Kapelle spielt auf, ein Paar tanzt, eine Frau brät ein Huhn über einem offenen Feuer, ein Händler döst am Weg. Hühner, Esel, Katzen, Pferd, Hund – alles ist vertreten. Am Schnitzen sind zwei, eher am Rand. Aber die Gesichter sind alle eindeutig.
27. Zsp. /STUCKENBERGER
Wenn man die Leute kennt oder gekannt hat, viele sind ja schon gestorben, weiß man: ja ja, das ist der oder der...
Musik 10
"Geht leicht (a)" - Komponist und Ausführender: Thomas Binegger - Album: A Hund auf der Geign - Länge: 1'00
ERZÄHLERIN:
In Farchant entscheidet sich die Familie von Ludwig Felber dafür, auf ihren stattlichen Neubau das alte, dafür abgerissene Elternhaus malen zu lassen, dazu Menschen aus drei Generationen, vom Bub bis zum Großvater.
28. Zsp. /FELBER
Mit dem Opa, der die Sense schwingt und führt, und dann noch die Familie im Verbund, die Heu ernten tut, alle helfen z’samm, und dass man eben des widerspiegelt, dass man sagt: nur wenn man z’sammenhelft, gehts weiter.
ERZÄHLERIN:
Ludwig Felbers Credo. Bernhard Ludwig Rieger zeichnet die geplante Lüftlmalerei in seinem Atelier zuhause vor, um sie dann mit Hilfe eines Rasters auf die Fassade des Hauses Felber übertragen zu können. Keine einfache Aufgabe, weiß die Augsburger Kunsthistorikerin Andrea Gottdang.
29. Zsp. /GOTTDANG
Sie müssen sich als Künstler über die Größenverhältnisse, über die Proportionen klar werden. Denn wenn man mal sich für eine Figurengröße entschieden hat, dann sollte man die auch nach Möglichkeit durchhalten, insbesondere dann, wenn man vielleicht ein illusionistisches Programm schaffen will, das so aussieht, als wäre es wirklich ganz echt, das funktioniert nur, wenn man wirklich genau Rücksicht nimmt auf den Betrachter-Standpunkt oder auf, ja, vielleicht sogar auf den Lichteinfall, wann er zu welcher Tageszeit von wo kommt.
ERZÄHLERIN:
Bernhard Ludwig Rieger löst das pragmatisch – etwa wenn es darum geht, den Opa mit der Sense so zu malen, dass er von unten, also vom üblichen Betrachter aus gesehen, gut aussieht.
30. Zsp. /RIEGER
Da habe ich mein Bruder dann ins Spiel geholt und habe den positioniert und habe den von unten mit dem Handy fotografiert, wie er auf der Garage steht und kann sagen okay, die Anatomie oder so, die muss aa a bissel passen. Es muss nicht perfekt sein bei der Lüftelmalerei, aber es sollte annähernd sein.
Musik 11
"'s Gartl" - Künstler: Das Bloacherbach-Trio Album: Die vierte von vier - Komponist: Klaus Karl - Länge: 0'40
31. Zsp. /GOTTDANG
Lüftlmalerei ist eher in den volkskundlichen Bereich zu verorten, also nicht nur von Künstlern ausgeführt, sondern von Kunsthandwerkern, Kunstmalern, auch Handwerksbetrieben, die sich vielleicht darauf spezialisiert haben, während wir unter Fassadenmalerei doch eher die klassischen Kunstwerke bis ins achtzehnte Jahrhundert und darüber hinaus natürlich auch verstehen, aber in Unterscheidung zur Lüftlmalerei.
ERZÄHLERIN:
…So die Kunsthistorikerin Andrea Gottdang. Als Künstler versteht sich Bernhard Ludwig Rieger aber auch, selbst wenn er nie Kunst studiert und auch keine Malerlehre gemacht hat. Seinem Auftraggeber ist wichtig, dass der Lüftlmaler und er eine gemeinsame Sprache sprechen.
32. Zsp. /FELBER
Wenn ich jetzt an Architekten, an Preußen, da hob, den muss ich weiß Gott was erklären, was eine Geschichte vom Haus mit der Landwirtschaft zu tun hat. Und so ist des sofort a ganz andere Basis.
ERZÄHLERIN:
Außerdem ist Ludwig Felber mit seiner Familie Schritt für Schritt dabei, wie Bernhard Ludwig Rieger die Lüftlmalerei für ihn entwickelt.
Für Familie Felber steht einiges auf dem Spiel. Nicht nur der Geldbetrag für den Künstler und die Farben, über dessen Höhe sich beide ausschweigen. Ludwig Felber und seine Familie müssen schließlich am Ende auch mit der Malerei auf ihrem Haus leben. Sie prägt ihr Image im Ort – und auch den Ort selbst.
34. Zsp. /RIEGER
Ja, man ist da schon aufgeregt, ein bissl nervös, weil die Problematik ist: Wenn i jetzt grad bei so am Bild anfang, wie geht sich’s raus? Im Hintergrund fängt man an, ist man jetzt schon zu kräftig, wirds zu blass? Da ist dann auch so, dass der Ludwig schon einer ist, der aa kritisch ist und...
FELBER: Freili!
RIEGER: ...ja, der dann einfach die Schneid hat und sagt „also das Blau gefällt mir nicht“, sag ich „das ist jetzt zu früh, das Bild ist noch gar nicht fertig!“, das war schon ein paar Mal so, dass ich gesagt hab „Also noch ein Kommentar, und ich lasse alles liegen und stehen und mische ihm die Farben, er solls selber malen.“ Aber das gehört mit dazu. Die Spannung also. Er kann damit umgehen. Er hat aa die Menschenkenntnis, dass er gewusst hat, mit mir kann er das machen und kann da bissl so - so triezen.
Musik 12
"Sonnenaufgang am Golmer Joch" - Album: Volksmusik aus Bayern - Länge: 0'40
ERZÄHLERIN:
Drei Monate lang, einen gesamten Sommer über, ist Bernhard Ludwig Rieger am Werk. Nicht mit Fresko-Technik, die wäre heutzutage zu aufwändig, sondern mit modernen Farben auf trockenem Putz. Aber auch das ist viel Arbeit. Erst malt er die Zierde rund um die vielen Fenster, dann die an der Haustür. Stets unter den Augen der Familie Felber. Fassadenmalerei ist anders als ein Bild, das jemand alleine im Atelier malt und dann nur vor Ort aufhängt. Es ist eine sehr persönliche Angelegenheit.
35. Zsp. /RIEGER
I war jeden Tag zum Mittag eigentlich mit am Tisch gesessen, man ist wirklich da mit eingebunden, und das prägt auch das Bild.
ERZÄHLERIN:
Von Felbers Firma oder seinem Installateurberuf ist auf der Lüftlmalerei nichts zu sehen. Die Figuren ernten Heu mit Sense und Mistgabeln und tragen Dirndl oder Beinkleider mit ledernen Hosenträgern über weißen Hemden. Dahinter erhebt sich das Bergpanorama und der Kirchturm von Farchant.
Musik 13
"Sonnenaufgang am Golmer Joch" - Album: Volksmusik aus Bayern - Länge: 0'30
ERZÄHLERIN:
Ludwig Felber ist glücklich.
36. Zsp. /FELBER
Auf der Hauswand hat er das umgesetzt und a schiene Jahreszeit noch dazu, es ist grün mit Blumen, und alle Leit sind fleißig, und das ist ja a Freid, wenn man darauf schauen kann, gä.
ERZÄHLERIN:
Über der Tür des nagelneuen Hauses steht „1799“, darunter ein Willkommensgruß in Frakturschrift, darüber das Dorfwappen und noch darüber, in einer kleinen, goldenen Kartusche, der Name des Künstlers.
Farbig gestaltete Hauswände – die gibt es nicht nur im Alpenraum, sagt die Augsburger Kunsthistorikerin Andrea Gottdang.
37. Zsp. /GOTTDANG
Fassadenmalerei war eigentlich in ganz Europa, wo die Witterung es zuließ, denkbar und wurde ausgeführt.
Musik 14
"Sonnenaufgang am Golmer Joch" - Album: Volksmusik aus Bayern - Länge: 0'37
38. Zsp. /RIEGER
Aber so, wie es bei uns ist. Die Kombination aus Fensterrahmungen, Architekturmalerei, Schriftzügen, Motive, Landschaften, Figuren, das gibt es tatsächlich nur hier bei uns so.
ERZÄHLERIN:
...sagt der Lüftlmaler und:
39. Zsp. /RIEGER
Das Haus ist jetzt vollendet.
ERZÄHLERIN:
Nur eins muss er vielleicht noch nachbessern: Der Auftraggeber findet, auf dem Gesicht des Kindes auf dem Bild liege ein Schatten. Der soll noch weg. Denn bei der Lüftlmalerei soll alles harmonisch sein.
Laut Umfragen ist fast jeder Dritte schon mal fremdgegangen. Evolutionsbiologen betonen, der Mensch sei gar nicht für die Monogamie geschaffen. Warum also nicht ehrlich sein und die Beziehung öffnen? Es gibt Paare, für die passt dieses Modell. Sie scheinen weniger von Verlustangst geplagt zu sein. Andere hingegen stimmen nur zähneknirschend zu aus der Angst, den Partner oder die Partnerin zu verlieren. Von Karin Lamsfuß (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Caroline Ebner, Sven Hussock
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Wolfgang Krüger, Psychotherapeut;
Anouk Algermissen, Psychologin und Paarberaterin;
Friedemann Karig, Wissenschaftsjournalist und Autor;
Verena König, Traumatherapeutin
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Literaturtipps:
Friedemann Karin: Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie. Atb-Verlag, 2018.
Wolfgang Krüger: Treue: der Konflikt zwischen Vertrauen und Begehren. BoD – Books on Demand 2019.
Holger Lendt und Lisa Fischbach: Treue ist auch keine Lösung. Ein Plädoyer für mehr Freiheit in der Liebe. Piper 2014.
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ZUM PODCAST
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Steffen (0‘01“):
Ich liebe sie beide.
O-Ton 2 Wolfgang Krüger (0’11“):
Dass wir viele andere Menschen lieben können, glaube ich nicht, ich glaube, dass die Liebe immer etwas Exklusives hat, zumindest, was Erotik anbetrifft.
O-Ton 3 Steffen (0‘12“):
Warum nur eine? Sag mir einen ordentlichen Grund, warum man nur eine Freundin haben sollte. Ich denke nicht, dass ein Herz eine mechanische Größe hat.
O-Ton 4 Anouk Algermissen (0‘07“):
Die meisten Menschen, die sich mit dem Thema Offene Beziehung beschäftigen, die machen das aus dem Grund, dass sie mehr Freiheit wollen.
O-Ton 5 Nicole (0‘07“):
Wir haben so ne hohe Scheidungsrate: Warum bieten man seinem Partner nicht einfach die Möglichkeit an, offen und ehrlich zu sein?
Atmo Sektkorken, Party + Musik 2: Shameless - 44 Sek
Sprecherin:
Es passiert auf der Weihnachtsfeier, an Karneval oder auf dem Oktoberfest. Fremdgehen ist fast schon Normalität. Jeder zweite bis dritte – je nach Studie – ist schon einmal fremdgegangen. In der Folge wird gelogen, verheimlicht, manchmal gebeichtet. Ganz oft mündet das in einer großen Katastrophe für die Partnerschaft. Weil der Vertrauensbruch nicht mehr zu kitten ist.
Sprecher:
Jede zweite Ehe in Deutschland wird geschieden. Mit zunehmender Beziehungsdauer sinkt die sexuelle Zufriedenheit. Viele Paare reden nicht mehr miteinander. Irgendwann angeblich nur noch sieben Minuten am Tag. Ist die Monogamie am Ende?
O-Ton 6 Wolfgang Krüger (0‘31“):
Die Konstruktion, die wir heute haben von Partnerschaften, die ist ausgesprochen anspruchsvoll. Also wir wollen, dass wir mindestens zehn, 20 Jahre mit jemandem zusammen sind, dass man den Alltag miteinander verbringt, dass man Konflikte klärt, dass man sich möglicherweise ein Haus baut, dass man also so was ist wie ne Wirtschaftsgemeinschaft, dass man die Kinder zusammen hat, dass man Vertrauen hat, und dann wollen wir auch noch, dass man immer wieder in den anderen verliebt ist und eine lebendige Erotik hat!
Sprecher:
Dr. Wolfgang Krüger, Psychotherapeut.
Sprecherin:
Nicht selten entsteht in eingeschlafenen langjährigen Beziehungen und Ehen eine heimliche Sehnsucht: nach mehr Lebendigkeit, nach Aufregung, nach intensivem Fühlen.
O-Ton 7 Wolfgang Krüger (0‘18“):
Und wenn man dann noch Herzklopfen haben will, muss man tendenziell fremdgehen, und 60% der Seitensprünge gehören diesem Muster an, dass man merkt: Die Beziehung hat eigentlich kein wirkliches Liebespotential mehr, man will sich aber nicht trennen, also geht man fremd.
Musik 3: Clouds up aus: The virgin suicides - 35 Sek
Sprecher:
Warum nicht mal anders mit dem Thema umgehen? Warum nicht die Beziehung öffnen – und zwar offen und ehrlich?
Sprecherin:
Vielleicht ist das ja die Lösung für ein bislang ungelöstes Dilemma: Nämlich, dass einerseits viele Beziehungen auf Dauer an Lebendigkeit verlieren. Andererseits heimliche Seitensprünge einen hohen Preis haben: zerbrochene Beziehungen und Verrat an den eigenen Werten.
Doch gibt es beides gleichzeitig: Treue UND Freiheit?
O-Ton 8 Anouk Algermisssen (0‘23“):
Ich glaube, viele Paare versuchen zu navigieren, eine langfristige, stabile Partnerschaft zu haben, und gleichzeitig einen Weg zu finden, ihr Freiheitsbedürfnis, Experimentierbedürfnis auszuleben, und ich glaube, das ist für viele Menschen sehr spannend, sich überhaupt die Freiheit rausnehmen zu können, das monogame Modell überhaupt hinterfragen zu dürfen.
Sprecher:
Sagt die Psychologin und Paartherapeutin Anouk Algermissen.
Sprecherin:
Sie begleitet Paare dabei, ihre Beziehung zu öffnen. Im Durchschnitt sind ihre Klientinnen und Klienten um die 30.
Sprecher:
Laut einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage im Auftrag des Partnervermittlers ElitePartner hatten bereits 14 Prozent aller Männer und sieben Prozent aller Frauen zumindest eine Zeit lang eine offene Beziehung. Unter den 18- bis 39-Jährigen waren es sogar 19 Prozent der Männer und zehn Prozent der Frauen.
O-Ton 9 Algermisssen (0‘32“):
Was auch häufig ist, ist, dass man unterschiedliche sexuelle Vorstellungen hat oder auch Vorlieben, dass das z.B. schwer vereinbar ist, und es gibt auch manche Menschen, da geht es gar nicht so sehr um die Sexualität, die im Vordergrund steht, sondern tatsächlich um das Konzept der Beziehungsform. Also da kommen die sozusagen rein und sagen „Wir wollen selber noch mal überlegen, wie wir Beziehung führen möchten und machen das sozusagen im Kontext der offenen Beziehung. Um uns das noch mal neu anzugucken und zu schauen, wie wir Beziehung leben wollen.
Sprecherin:
Die neuen Beziehungsmodelle jenseits der klassischen Monogamie werden gerne in Lifestyle-Magazinen als Zeitgeist-Phänomen präsentiert. Offen, unkonventionell, experimentell. So dass sich jeder, der treu lebt fragt:
Musik 4: Conundrum – 12 Sek
Sprecher:
Hab ich irgendwas verpasst? Bin ich vielleicht einfach zu spießig?
Sprecherin:
Eine Frau lebt mit zwei Männern, ein Mann mit vier Frauen, mal lieben sich die Männer und Frauen auch untereinander, mal nicht. Erleben wir gerade eine Beziehungsmodell-Revolution?
O-Ton 10 Friedemann Karig (0‘20“):
Monogamie ist nicht das eine natürliche Modell, nach dem wir alle leben müssen. Es war sozusagen mal eine schlaue Idee der menschlichen Kultur, sich darauf festzulegen, aber natürlich so wie unsere Sexualität entstanden ist, ist wahrscheinlich eher eine serielle Monogamie, die wir heute auch leben, oder sogar polygame Formen des Zusammenlebens.
Sprecher:
Friedemann Karig. Wissenschaftsjournalist und Autor des Buchs „Wie wir lieben“. Er hat viele Paare zur Treue, zur Ehrlichkeit und zum Miteinander befragt. Und Studien und Berichte ausgewertet: von Biologen, von Evolutionspsychologen, Genetikern, Soziologien, Anthropologen und Sexualwissenschaftlern.
O-Ton 11 Friedemann Karig (0‘17“):
Es gibt so viele Liebesmodelle, wie es Menschen gibt. Es lohnt sich für jeden einzelnen, nach dem für ihn passenden Leben und Lieben zu suchen. Jenseits der Monogamie und jenseits einer Kultur, die uns heute immer noch vorschreiben will, dass eins plus eins genau das Richtige ist.
Sprecher:
Religiöse und gesellschaftliche Normen bröckeln schon länger. Das lässt mehr Raum für individuelles Experimentieren, mehr innere Freiheit.
Sprecherin:
So scheint es, als befänden wir uns gerade in einem Selbstbedienungsladen der unterschiedlichen Beziehungsmodelle. Monogam, polyamor, offen, heimliche Affäre, Freundschaft plus,– um nur einige zu nennen. Jeder und jede kann ins Regal greifen und sich das passende Modell heraussuchen. Ist das wirklich so einfach?
O-Ton 12 Verena König (0‘27“):
Aus der therapeutischen Haltung betrachtet, glaube ich, dass es sehr wichtig ist, dass wir uns bewusst machen, dass die anderen Beziehungsformen wie beispielsweise Polyamorie oder Polygamie oder offene Beziehungsmodelle, dass die nicht unbedingt weniger Reife und weniger Selbstreflexion von uns erfordern als die herkömmlichen Beziehungsmodelle, sondern im Gegenteil eher mehr.
Sprecher:
Verena König, Traumatherapeutin.
O-Ton 13 Verena König (0‘15“):
Es geht ja im Grunde bei Beziehungen immer um tiefe Bindung, es geht um Bindung. Es geht darum, dass sich zwei Menschen, zwei Herzen, zwei Körper, zwei Nervensysteme begegnen und verbinden. Zwei oder mehrere.
Musik 5: Silver lining title – 59 Sek
O-Ton 14 Nicole (0‘26“):
Christian und ich waren in einer offenen Beziehung, ganz am Anfang, ich hab es ihm vorgeschlagen, weil er hatte mir gesagt, er hatte vor mir nur eine Beziehung, und da ist bei mir tatsächlich auch so der Gedanke gekommen: ‚Oh Gott, wenn das jetzt für immer ist … wird er sich fühlen, dass er was verpasst hat in seinem Leben, und da hatte ich tatsächlich das Gefühl, ich möchte ihm das anbieten, weil wenn das von beiden Seiten okay ist – warum nicht?
Sprecher:
Nicole, Fabian und Christian leben eine polyamore Beziehung. Das heißt: Eine feste Liebesbeziehung mit mehr als zwei Menschen.
Sprecherin:
Bei den Dreien heißt das konkret: Nicole hat sowohl mit Fabian als auch mit Christian eine innige Beziehung. Körperlich sowie seelisch. Christian ist ihr Ehemann und Fabian ihr zweiter Partner. Die beiden Männer haben jedoch keinen Sex miteinander, erklärt Fabian:
O-Ton 15 Fabian (0‘27“):
Wir haben das mal so hinterfragt und sind drauf gekommen, dass wir uns auf eine asexuelle Weise lieben. Also wir sind auch in einer vollen Beziehung miteinander, das ist halt auch der Punkt, den viele übersehen: Vielen denken: ‚Aha, Sex ist gleich Beziehung, Nicole hat zwei Beziehungen, Christian und Fabian jeweils nur eine Beziehung, d.h. Nicole hat mehr vom Leben, Christian und Fabian weniger. (…) Und das ist halt bei uns nicht der Fall, vor allem auch, weil wir auch ne Triade sind.
Sprecherin:
Christian und Nicole führten schon immer eine offene Beziehung. Das heißt: Jeder durfte fremdgehen. Dann kam Fabian hinzu. Zunächst als ein guter Freund des Paares. Und dann verknallte sich Nicole in Fabian. Nun sind sie zu dritt.
O-Ton 16 Nicole (0‘23“)
Also für mich ist das Schönste, dass immer jemand für einen da ist. Das ist tatsächlich bei uns Dreien so: Tatsächlich egal, wer mal ausfällt, es passiert sehr, sehr selten, dass einer alleine ist, (…) als ich krank war, hat der Fabi was zu tun gehabt und zum Christian gesagt: „Machst du heute Teedienst für die Nicole?“ Also es ist wirklich immer einer für einen da!
O-Ton 17 Fabian (0‘06“)
Deine Familie wird einfach größer. Je mehr Menschen füreinander da sind, desto mehr Halt hast du auch! Und mehr Sicherheit!
Musik 6: Romantics – 23 Sek
Sprecherin:
Halt und Sicherheit. Begriffe, die Außenstehende erst mal nicht mit offenen oder polyamoren Beziehungen verbinden würden. Diese Lebens- und Liebesformen klingen eher nach Anarchie und Instabilität.
Sprecher:
Nicht unbedingt, sagt die Psychologin und Paartherapeutin Anouk Algermissen:
O-Ton 18 Anouk Algermissen (0‘17“)
Wenn die offene Beziehung gelingt, dann kommt damit häufig auch eine größere Tiefe einher. Weil man dann nicht etwas rausnimmt, sondern ich muss ja noch mehr Kraft in die Beziehung investieren, damit ich die schön halten kann und gleichzeitig auch mein Bedürfnis befriedigt bekomme.
Sprecher:
Wie viele Menschen in Deutschland zumindest zeitweise polyamor leben, ist nicht bekannt. Zahlen – allerdings auch nur geschätzte - aus den USA gehen von fünf Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Sprecherin:
Polyamorie ist von der Idee her kein wildes Bäumchen-wechsel-dich, sondern ein tiefes sich Einlassen auf mehrere Menschen. Wer so lebt, sieht sich mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Die gehen von
Sprecher: „kann nicht klappen“
Sprecherin: …über…
Sprecher: „ist sowieso der Anfang vom Ende!“
Sprecherin: …bis hin zu…
Sprecher: „Ich würde umkommen vor Eifersucht!“
O-Ton 19 Christian (0‘17“):
Am Anfang war schon etwas Eifersucht da, aber das hat sich aber ziemlich schnell gelöst, weil wir uns sowieso schon vorher sehr gut kannten. Dass wir Freunde waren, vorher. Und dadurch, dass wir viel geredet haben, um abzuklären und zu besprechen, ist die Eifersucht eigentlich ziemlich schnell verschwunden.
O-Ton 20 Nicole (0‘14“)
Ich glaub, am Anfang haben beide so ein bisschen Eifersucht gespürt, das hab ich auch so gemerkt, wir haben darüber gesprochen, das ist ja auch ein normales Gefühl, was dazu gehört, aber mit der Zeit verliert man ja die Eifersucht, weil man kennt diese Situation.
Sprecherin:
Einfach reden, und schon schwindet die Eifersucht?
Sprecher:
Psychologin Anouk Algermissen macht oft andere Erfahrungen:
O-Ton 21 Algermissen (0‘29“):
Menschen in offenen Beziehungen sind ebenfalls eifersüchtig, verlustängstlich, und denen tut das ebenfalls weh. Also das ist keine andere Gattung von Mensch! Aber die Menschen in offenen Beziehungen, die das aushalten, wollen das ja! Also es gibt ja für sie irgendnen Nutzen, nen Vorteil! Vielleicht ist es für sie auch aufregend, davon zu hören! Dann gibt es vielleicht die Möglichkeit, dass das weh tut, dass das nicht so einfach ist zu hören, aber irgendwo hat es auch was Aufregendes, was Kribbelndes!
Sprecherin:
Damit das Ganze überhaupt eine Chance hat, sollten Paare feste Regeln vereinbaren, so die Psychologin:
O-Ton 22 Algermissen (0‘15“):
Also wie möchte ich informiert werden über die Außentreffen zum Beispiel? Wie soll da der Austausch passieren? Möchte ich wissen, wer das ist? Möchte ich vorher ein Foto sehen, möchte ich, dass wir danach darüber sprechen? Möchte ich, dass wir nicht darüber sprechen?
Musik 7: Explain – siehe M1 – 15 Sek
Sprecherin:
Liebe nach festen Regeln. Liebe, die gönnt.
Sprecher:
Der Berliner Psychotherapeut Dr. Wolfgang Krüger sieht das Ganze kritisch:
O-Ton 23 Wolfgang Krüger (0‘26“):
In der Literatur wird manchmal beschrieben, man solle die Großzügigkeit haben: „Ich wünsche dir viel Vergnügen bei deinen Erlebnissen!“ und das halte ich schlicht und ergreifend für eine dreiste Zumutung, ich will, wenn ich mit einem Partner, einer Partnerin zusammen bin und habe dort eine gute und erfüllte Sexualität, dann will ich, dass ich der Einzige bin und dass es exklusiv ist. Und ich würde eher Sodbrennen kriegen, wenn ich wüsste, dass dieser Partner, diese Partnerin mit anderen schläft.
Sprecherin:
Wolfgang Krüger, der auf 40 Jahre Erfahrung als Psychotherapeut zurückblickt, ist ein Verfechter der Treue. Er stellt das Modell der offenen Beziehung grundsätzlich infrage. Denn – so seine Meinung - es verkenne die Komplexität der menschlichen Seele. Und das filigrane Wechselspiel zwischen Körper und Seele.
O-Ton 24 Wolfgang Krüger (0‘42“):
Erotik ist im Grunde Leidenschaft, ist von der Tendenz her etwas, was immer eine Verschmelzung beinhaltet, und das ist die Absicht. Wenn ich miteinander schlafe, dann will ich, dass sich die Grenzen zwischen mir und dem anderen, dass ich die aufhebe! Das ist der Sinn von Sexualität! Der Sinn von Sexualität ist Verschmelzung. Das bedeutet Kontrollverlust. (…) Und man tut immer so in der Sexualität als wären das einfach Liegestütze, die Spaß machen. Aber Sexualität ist ein hoch emotionaler, sinnlicher Prozess, wo viel passieren kann, man kann sich eben auch in den anderen verlieben, obwohl man das am Anfang nicht wollte. Und das können Sie nicht vereinbaren, und da können Sie nicht irgendwelche Regeln aufstellen, das ist im Grunde alles Kinderei.
Musik 8: Highschool... aus: The virgin suicides – 35 Sek
Sprecherin:
In seinen Augen liegt ein weiteres Problem darin, dass Paare – sobald sie die Beziehung öffnen – permanent diskutieren müssen:
Sprecher: Wie viel Nähe wollen wir, wie viel Autonomie?
Sprecherin: Wer darf wie oft mit anderen Partnern zusammensein?
Sprecher: Wollen wir uns davon erzählen?
Sprecherin: Bleibt das gemeinsame Schlafzimmer eine Tabuzone?
Sprecher:
Klingt anstrengend.
Doch für Anouk Algermissen liegt genau darin die ganz große Qualität von offenen Beziehungen:
O-Ton 25 Anouk Algermissen (0‘29“)
Da gibt’s auch einige Studien zu, die ganz interessant sind: Paare in offenen Beziehungen, wenn die funktioniert, müssen die eben ne sehr hohe Kommunikationskompetenz haben. Und das hilft ihnen eben auch in vielen anderen Lebensbereichen. Also sei es, wenn man über Finanzen spricht, über Lebensplanung spricht, wenn es viel Stress von außen gibt: Das ist ja eine Kompetenz, die man auf viele unterschiedliche Lebensbereiche anwenden kann. Und wenn man die einmal gelernt hat und diese Fähigkeit ausgebaut hat, dann hat man da auf jeden Fall nen großen Vorteil.
Sprecherin:
In jedem Fall müssen Begriffe wie „Vertrauen“ und „Treue“, die ja bis dato ganz hohe Werte in Beziehungen waren, neu definiert werden.
O-Ton 26 Anouk Algermissen (0‘40“):
Ich kann natürlich auch Vertrauen anders aufbauen: indem ich merke, dass da jemand ist, der mein Interesse im Blick hat, der auf mich achtgibt, der dennoch sich weiterhin an die Absprachen hält, die wir auch ausgemacht haben, auch wenn die innerhalb einer offenen Beziehung passieren, aber dann können das eben Absprachen sei wie ‚Du meldest dich, nach dem Treffen‘ oder ‚wir besprechen das nach‘ oder ‚ich weiß vorher, wenn du triffst‘ (…) Wenn man merkt, dieses stetige ‚Ich weiß, worauf ich mich verlassen kann‘ fällt weg, weil jetzt sehr viel Unsicherheit und Neues mit reinkommt, da muss man sich ganz bewusst nach neuen Quellen des Vertrauens und der Sicherheit umsehen.
O-Ton 27 Wolfgang Krüger (0‘20“):
Dass man über alles redet und dass man auf diese Weise auch wieder Vertrauen hat, durch die Offenheit usw., das ist im Grunde gut und schön, ich finde nur: Solche Regelungen sind am Rande der Albernheit, weil ich Leidenschaften und Gefühle nicht durch irgendwelche Regeln bestimmen darf, wer das versucht, hat meines Erachtens vom Wesen der Leidenschaft nichts verstanden.
Musik 9: We move lightly 1:12 Min
Sprecherin:
Es ist wahrlich kein einfacher Weg, alternative Beziehungsmodelle auszuprobieren und zu leben. Vom Umfeld oft misstrauisch beäugt ist es auch intern ein fortlaufender Prozess des Klärens und Diskutierens. Des Probierens und des Experimentierens. Regeln werden aufgestellt, Regeln wieder verworfen. Es gibt ja kaum Vorbilder.
Traumatherapeutin und Paarberaterin Verena König gibt zu bedenken: Die Sache ist komplexer als man denkt – und zwar auf einer viel tieferen Ebene: Gerade Menschen mit unsicheren, instabilen frühen Bindungserfahrungen fühlen sich womöglich hingezogen zu einer offenen Beziehung, in der sie – vermeintlich – niemanden wirklich nah an sich ranlassen müssen. Gleichzeitig kann diese Unsicherheit auch alte Wunden aufreißen:
O-Ton 28 Verena König (0‘30“):
Also ich würde zur Vorsicht mahnen oder einladen wollen, wenn Beziehungen ein grundlegend angstbesetztes Thema ist. Also wenn Menschen zum Beispiel immer wieder grundlegend das Gefühl haben, sie laufen Gefahr, verlassen zu werden. Sie sind vielleicht nicht gut genug, wenn sie sich gewohnheitsmäßig übermäßig anpassen und solche Beziehungsmuster leben, dann würde ich sagen, ist die Gefahr recht hoch, dass man etwas tut oder sich auf etwas einlässt, was man nicht wirklich möchte und was einen dann sehr belasten kann.
Sprecherin:
Ein weiteres Problem: Die Ehrlichkeit zu sich selbst. In der Regel ist es so: Einer von beiden will die Beziehung öffnen. Der andere stimmt vielleicht zu. Allerdings nicht immer aus tiefer Überzeugung, sondern manchmal aus reiner Verlustangst:
O-Ton 29 Verena König (0‘34“):
Ich würde auch zur Vorsicht mahnen wollen oder einladen wollen, wenn das Ganze sich überfordernd anfühlt und man es nicht gut differenziert kriegt. Es ist vielleicht noch mal auch hilfreich, sich zu fragen: Geht es da wirklich um Polyamorie? Ist es unser beider Bedürfnis? Ist es das Bedürfnis des Einen? Wer ist hier vielleicht im Hintertreffen? Wer wird vielleicht übergangen? Geht es eigentlich um Sexualität? Geht es wirklich um Bindung? Was für Probleme sind vielleicht ausschlaggebend, die dann zu dieser Idee führen ‚Wir könnten unsere Beziehung öffnen‘?
Sprecher:
Eine Beziehung zu öffnen und Dritte oder gar Vierte hinzuzuholen – sei es offen gelebt oder im Rahmen eines „Stillschweigeabkommen“ – ist immer ein Wagnis. Niemand weiß, wohin die Reise geht. In jedem Fall aber ist es ein sehr anspruchsvoller Weg, sich selbst kennenzulernen. Alles in allem ein ziemlich herausforderndes Experiment.
Musik 10: Clouds up – siehe vorn – 38 Sek
Sprecherin:
Um auf die Ursprungsfrage zurückzukommen: Ist die offene Beziehung denn nun das Ende der Monogamie? Bedingt. Sie ist durchaus eine Alternative zum heimlichen Fremdgehen. Zum Lügen, Betrügen und dem Schmerz, wenn alles ans Tageslicht kommt.
Sprecher:
Weniger ist die offene Beziehung eine Alternative für zwei Menschen, die sich gerne, bewusst und aus tiefstem Herzen füreinander entscheiden.
Sprecherin:
Gerade das, so der Psychotherapeut Wolfgang Krüger habe in unsicheren Zeiten wie die, in denen wir leben, eine ganz hohe Qualität.
O-Ton 30 Wolfgang Krüger (0‘29“):
Ich glaube, dass Treue eher etwas Modernes ist. Das hat immer im Laufe der Geschichte geschwankt, wir haben immer dann eine Mehrheit derer gehabt, die sich eine offene Beziehung gewünscht haben, in Zeiten von Sicherheit, und mittlerweile schlägt das Pendel eher etwas in die Richtung dass Treue wieder sehr viel mehr angesagt ist, weil der Wunsch nach Verlässlichkeit, der wird momentan stärker.
Sprecher:
Treue hat für viele nach wie vor eine große Bedeutung. Das gaben laut einer Studie des Institutes für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 90% aller befragten Menschen an.
Über Musik 11: We move lightly – siehe vorn – 1:06 Min
Sprecherin:
Am Ende ist es immer eine Entscheidung:
Sprecher:
Zwischen Sicherheit und Stabilität auf der einen Seite.
Und Aufregung, Freiheit und Abwechslung auf der anderen Seite.
Sprecherin:
Die Frage ist immer, was man vom Leben will. Und welchen Preis man bereit ist zu zahlen.
Für Wolfgang Krüger ist die Sache klar: Er will blind vertrauen können.
O-Ton 31 Krüger (0‘25“):
Wir wollen neben dem anderen liegen und morgens wach werden und haben noch den Schlaf in den Augen und wollen quasi unsere Hand ausstrecken und bevor wir den Verstand einschalten können, haben wir fast eine kindliche Form des Vertrauens, und diese Form des Vertrauens ist uns unendlich wichtig, weil wenn wir in einer Krise sind, wenn wir krank sind, wenn wir seelisch irgendwie schwanken, dann wissen wir: Auf diesen einen Menschen ist im Grunde Verlass.
Musik aus.
Die große Samstagabend-Show versammelte seit den 1950er Jahren die ganze Familie vor dem Fernseher, wie "Wetten, dass...?", "Einer wird gewinnen" in Westdeutschland oder "Ein Kessel Buntes" in der DDR. Inwiefern waren diese Shows für lange Zeit Spiegel der Gesellschaft und Bildungsanker? Von Florian Kummert
Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Marcus ter Haerst
Technik: Christine Frey
Redaktion: Katharina Hübel und Karin Becker
Im Interview:
Christian Stöffler, Dokumentarfilmer
Klaudia Wick, Journalistin/Deutsche Kinemathek Berlin
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Im Interview-Podcast "Die Blaue Couch" gehen die Hosts Dominique Knoll und Thorsten Otto in den langen Gesprächen ganz einfühlsam auf die Geschichten ihrer Gäste ein, die mal Ärztinnen, mal Promis sind, aber auch Psychologen und ganz viele Menschen mit besonderen Geschichten, beispielsweise Weltreisende. Pro Folge ein Gast. Die Gespräche auf der Blauen Couch sind intensiv, oft bewegend und unterhaltend, ehrlich und tiefgehend.
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Linktipps:
Infos zu Dokumentarfilm „70 Jahre Samstagsabend-Show“ von Christian Stöffler finden Sie hier auf der WEBSITE
Planet Wissen: Die Geschichte der Fernsehshows in Westdeutschland
finden Sie HIER
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Diese Melodie hat Millionen vor den Fernseher gelockt: die Anfangsmusik von „Wetten, dass…?“, Europas erfolgreichste Fernsehshow, über Jahrzehnte hinweg. 1981 erfunden von Moderator und Showmaster Frank Elstner. Einer DER TV-Stars aus der Ära der großen Samstag-Abendshows. Sein Konzept: Stars, Showacts und reichlich Glamour, aber als Beiwerk. Im Zentrum stehen die Wettkandidatinnen und -kandidaten. Menschen - scheinbar wie du und ich - die Außergewöhnliches leisten wollen. Top, die Wette gilt!
ZITATOR (im Showmaster-Modus)
Schaffen sie es, einen acht Tonnen schweren Lkw auf vier Gläser zu stellen, ohne dass diese zerbrechen?
Schaffen Sie es, durch pure Lungenkraft eine Wärmflasche wie einen Ballon zum Platzen zu bringen?
Schaffen Sie es, mit einem 15 Tonnen schweren Bagger einen 15 Meter hohen Turm hochzuklettern?
ERZÄHLERIN
Alle drei Wetten glücken. Bei der Baggerwette sind 1997 selbst die Spice Girls als Wettpatinnen sprachlos.
OTON Christian Stöffler 1
Diese Talente, die Verrückten, die sich da extra originelle Wetten überlegen und monatelang proben, das ist eine ganz große Besonderheit. Das auf der einen Seite und dann natürlich die Weltstars auf dem Sofa. Die ganz große Welt kam nach Hause und diese Begegnung zwischen den bekannten Menschen in der Show und den unbekannten Menschen, das hat einen ganz eigentümlichen Reiz.
ERZÄHLERIN
Findet Christian Stöffler. Der Journalist und Dokumentarfilmer ist nicht nur begeisterter Fernsehshow-Konsument, sondern hat über die Sternstunden der deutschen Fernsehgeschichte etliche Dokumentarfilme gedreht, darunter eine Hommage an „70 Jahre Samstagabend-Show“. Die Königsklasse der Unterhaltungsformate. Das Lagerfeuer der Nation, das Jung und Alt vor den TV-Apparaten versammelte und kollektive Momente ganzer Generationen schuf. Was am Samstagabend lief – war DER Gesprächsstoff, das, was alle gesehen haben mussten, die mitreden wollten.
OTON Christian Stöffler 2
Es ging immer am Samstagabend darum, eine möglichst große Reichweite zu erzielen und ein Programm anzubieten, das alle Generationen anspricht und möglichst eine große Mehrheit der Fernsehzuschauer. In den Hochzeiten der klassischen Fernsehunterhaltung waren das ja immer weit über 20 Millionen Zuschauer. Das sind Zahlen, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann als Fernsehmacher. Das gibt es ja nur noch bei Endspielen der Fußball-Weltmeisterschaft.
MUSIK Eurovisionsmelodie
ERZÄHLERIN
Bereits der Einstieg in die Shows ist ein erhabenes Ritual und wird für viele zum Gütesiegel: die Eurovisions-Fanfare. Dazu als Bild kreisrund das Wort „Eurovision“, eingebettet in einen Strahlenkranz. Im Zentrum die beteiligten Sender aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
OTON Klaudia Wick 1a
Es war ja eben eine sehr große Sehgemeinschaft. Also wir begrüßen auch die Zuschauerinnen und Zuschauer aus Österreich, der Schweiz und Benelux oder sowas. Ja, da kamen immer solche Sätze. Rosenthal sagte immer noch auch unsere Brüder und Schwestern aus der DDR. Das habe ich gar nicht verstanden als Kind aus Westdeutschland.
ERZÄHLERIN
Erinnert sich Klaudia Wick, die Leiterin der Abteilung Fernsehgeschichte in der Deutschen Kinemathek – einem Museum für Film und Fernsehen in Berlin.
OTON Klaudia Wick 1b
Diese Eurovisions-Hymne ist ein Ritual wie vieles andere. Mir geht es heute noch so, wenn ich eben die Fanfare der Tagesschau höre, dann mache ich den Rücken gerade und denke, jetzt wird es wichtig. Und so war eben diese Eurovision: jetzt wird es spannend, jetzt wird es lustig, jetzt wird es unterhaltsam. Die hat es ja auch zu anderen Ereignissen gegeben, aber wir verbinden das sehr stark mit der Spielshow.
MUSIK Einer wird gewinnen – Erkennungsmelodie
ERZÄHLERIN
Keine andere Sendung verkörpert den Gedanken von Europa so sehr wie der erste wirklich große Klassiker unter den bundesdeutschen Spielshows: „Einer wird gewinnen“. Auch bekannt unter der Abkürzung EWG, eine Anspielung auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Vorläuferin der Europäischen Union. Ab 1964 wird „Einer wird gewinnen“ in der ARD zum Straßenfeger am Samstagsabend.
(kurz Musik wieder frei)
Nach der Titelmelodie kommt sein Auftritt: Showmaster Hans-Joachim Kulenkampff, Spitzname „Kuli“. Bei ihm treten Menschen aus verschiedenen europäischen Nationen gegeneinander an, alle sprechen gut deutsch. Vier Kandidatinnen und vier Kandidaten messen sich paarweise in Themen der bildenden Kunst, in Geografie und Musik. Das klassische bildungsbürgerliche Programm. Fragen allerdings noch ohne Multiple-Choice-Antworten, wie man es heute aus Formaten wie „Wer wird Millionär?“ kennt.
ZITATOR (als Showmaster)
Wer ist der Schöpfer der modernen Olympischen Spiele?
Antwort: Pierre de Coubertin.
ERZÄHLERIN
Gerne schlüpft Kuli - ein leidenschaftlicher Theater- und Film-Schauspieler - in diverse Rollen. Als Diogenes in der Tonne will er etwa wissen:
ZITATOR
Welche berühmte Person soll mir aus der Sonne gehen?
Antwort: Alexander der Große.
ERZÄHLERIN
In der Show selbst ist er Kuli der Große. Kulenkampff wirkt als Zeremonienmeister, macht zweideutige, anzügliche Witze über das Kostüm und die Figur der Assistentin - heute undenkbar - und genießt das Rampenlicht. Lange Monologe und ausuferndes Überziehen der Sendezeit gehören zum EWG-Standard.
OTON Christian Stöffler 3
Das hatte ja was fast schon was von James Bond. Dieses Sich-souverän-darüber-Hinwegsetzen über alle Schranken, über alle Begrenzungen. Die Sendezeit war ihm ja auch egal. Dieses Überziehen der Sendezeit war ein ganz wichtiges Signal, dass er sich jetzt über diese Vorschriften und die Erbsenzähler, die Bedenkenträger, die Nein-Sager hinwegsetzt. Und genau das will man ja sehen am Samstagabend. Wir haben alle immer nie Zeit. Unsere Arbeitswoche ist getaktet. Und da jemanden zu sehen, der sich über dieses Korsett hinwegsetzt, das war natürlich toll.
ERZÄHLERIN
Sein Showtalent konnte Kulenkampff zuvor im Radio testen. Viele der frühen Fernsehshows der 1950er Jahre sind vom Hörfunk inspiriert. Damals laufen, gerade am Samstagabend, im Radio viele Unterhaltungssendungen, mit Orchester, diversen Bands, Gästen und Spielen. Das Konzept wird zunächst eins zu eins fürs Fernsehen übertragen und nach und nach ans neue Medium angepasst. Am 7. November 1953 feiert die erste Ausgabe einer Samstagabend-Show Premiere: „Wer gegen wen“. Angekündigt in Zeitungsanzeigen als:
ZITATOR (50er-Jahre-Werbesprech)
Preisraten zwischen den Mannschaften aus zwei deutschen Großstädten und dem Frankfurter Publikum. Quiz-Meister: Hans-Joachim Kulenkampff!
ERZÄHLERIN
Der teilt sich in den 1950er und 60er Jahren die Unterhaltungsarena mit weiteren Showmastern. Etwa Peter Frankenfeld, der ebenfalls zuvor im Radio moderiert hat, und bereits als junger Mann in Varietés und als Zauberkünstler aufgetreten war. Oder Hans Rosenthal, der beim Sender RIAS Berlin Rate- und Unterhaltungssendungen entwirft, ehe er im Fernsehen Erfolge feiert, mit „Gut gefragt ist halb gewonnen“, „Rate mal mit Rosenthal“ und vor allem - ab 1971 - „Dalli Dalli“.
MUSIK Dalli Dalli
ERZÄHLERIN
Für Klaudia Wick ist es eine besondere Generation an Kreativen, die die deutsche Fernsehshow in ihren Ursprüngen formte.
OTON Klaudia Wick 2
Hans Rosenthal war eigentlich Radiomoderator. Wim Thoelke kam vom Sport, Kulenkampff kam eigentlich vom Theater. Und was diese Generation so eint, ist, glaube ich, das Angebot zu sagen, wo immer wir herkommen, was immer wir machen - Hans Rosenthal war Jude und verfolgt, Kulenkampff war im Krieg gewesen - wir schieben das alles zur Seite und wir unterhalten euch. Und es ist auch nichts anderes wichtig, als dass ihr die richtige Antwort auf unsere Fragen habt. Und diese Antwort ist auch sozusagen unhinterfragt. Da gibt es ein richtig oder falsch. Das hatte natürlich viel mit der Vorgeschichte zu tun in Deutschland. Das war ein Teil des Vergessens und ein Teil des „Wir rücken wieder zusammen“. Und wenn jetzt eben die Antwort Kairo ist, dann ist die Antwort Kairo. Punkt. Fertig.
MUSIK Max Greger Vergissmeinnicht (Aus Medley: Vergissmeinnicht/Bonanza/Der goldene Schuss)
ERZÄHLERIN
In den Shows wird die heile Welt im Wirtschaftswunderland gepriesen. Unterhaltung zur puren Entspannung. Sich berieseln lassen, mitraten, mitlachen. Aufreger? Fehlanzeige, zunächst.
(Musik hallt aus)
Doch mit den 1968er-Revolten, Studentenprotesten, Generationenkonflikten, mit freizügiger Mode und liberalen Erziehungsmethoden formiert sich ein Wandel in der Gesellschaft, der bald auf den Bildschirmen zu spüren ist. So werden auch Fernsehshows wild, sexy, experimentierfreudig. Allen voran „Wünsch dir was - Das große Familienspiel“. Zum ersten Mal moderiert eine Frau gleichberechtigt neben einem Mann: Vivi Bach und Dietmar Schönherr werden das erste Show-Ehepaar im deutschen Fernsehen.
MUSIK Vivi Bach und Dietmar Schönherr „Wünsch dir was“
„Wünsch dir was, my darling, wünsch dir was! Wünsche sind so wunderschön…“
OTON Klaudia Wick 3
Das ist vielleicht das größte Experiment, das sich das Fernsehen geleistet hat in diesem Spielshow-Bereich: „Wünsch dir was“ von 1969 bis 1972. Also schon der Zeitraum zeigt ungefähr den Zeitgeist. Es ist entwickelt worden mit André Heller, ein bekannter Name, den man da nennt. Aber es waren halt Psychologen und Sozialarbeiter, die hinter den Kulissen auch Spiele entwickelt haben. Es ging gar nicht so sehr darum, dass jemand etwas richtig oder falsch machte, sondern dass er gut diskutierte, dass es Übereinstimmungsspiele gab, dass eben zum Beispiel die Eltern wissen, was die Tochter sich wohl für Klamotten aussucht.
ERZÄHLERIN
Bühne frei für einen der großen Skandale der deutschen Fernsehunterhaltung. November 1970. Die Töchter der Familie haben die Wahl aus fünf Outfits. Sie sollen sich für eins entscheiden, das sie persönlich gerne anziehen würden. Vater, Mutter und Bruder müssen dann erraten, welche Garderobe sie sich wohl ausgesucht hat. Moderator Dietmar Schönherr präsentiert auf einem Laufsteg Mannequins, die die Modelle vorführen, darunter eines mit schwarzer Hose und einer transparenten Bluse. Daraufhin betritt eine der Töchter, damals 17, die Bühne. Sie hat sich - wie von den Eltern und ihrem Bruder korrekt getippt - in der Tat für den Look mit dem durchsichtigen Oberteil entschieden, ohne BH. Mit wippendem Busen schreitet sie an den Kameras vorbei und stellt sich selbstbewusst und stolz zu ihren lächelnden Eltern. Doch über der Nation ziehen Gewitterwolken auf. Beim ZDF in Mainz stehen die Telefone nicht mehr still, es hagelt Beschwerden und Protestbriefe. Die Boulevardpresse überbietet sich mit Skandalartikeln, Kirchenverbände erregen sich über die – in ihren Augen - „Obszönität“. Es gibt Schmäh- und Drohbriefe, sogar Bombendrohungen. Und beste Einschaltquoten.
nochmals kurz Ausschnitt MUSIK Vivi Bach und Dietmar Schönherr „Wünsch dir was“
„Wünsch dir was, my Darling, wünsch dir was!“
((ERZÄHLERIN
Jede Folge bietet Stoff für Diskussionen, in Zeitungen, auf Schulhöfen, in Büros. Die Show wird zu einer Art Versuchslabor, das Innovation und Provokation mischt, bei einem eigentlich simplen Konzept. Drei Familien aus Deutschland, Österreich und der Schweiz treten im Wettstreit gegeneinander an und müssen sich bewähren: über dünnes Eis robben, im Theaterstück als Laien neben Profis auftreten, Phobien überwinden und Schlangen anfassen, aber auch: über Feminismus diskutieren.))
SOUND Wasserhahn aufdrehen
ERZÄHLERIN
Wünsch dir was gilt als eine der ersten interaktiven Spielshows. Am Ende darf das Publikum vor den TV-Geräten über den Sieg oder Niederlage der Familien abstimmen, mit aus heutiger Sicht höchst verschwenderischen Tests.
OTON Klaudia Wick 4
Es gab zwei Tests. Es gab den Wassertest oder den Stromtest. Entweder man musste loslaufen und die Klospülung drücken und alle Wasserhähne anmachen, was ja aus heutiger Sicht genauso absurd ist. Oder eben den Stromverbrauch in die jeweils ausgewählten Regionen hochtreiben.
ERZÄHLERIN
Das Fernsehpublikum einer bestimmten Region wird aufgerufen, ruckartig den Strom- oder Wasserverbrauch zu erhöhen, um damit einer Familie die Stimme zu geben.
ZITATOR
Hat Ihnen die Leistung von Familie X besser gefallen hat als die von Familie Y? Dann schalten Sie, wenn der Gong ertönt, bitte bei Ihnen zu Hause für 20 Sekunden alle verfügbaren Lichtquellen ein!
SOUND Gong
ERZÄHLERIN
So werden alle Familien geprüft. Anschließend gibt ein Vertreter des zuständigen Elektrizitätswerks oder Wasserwerks über das Telefon durch, bei welcher Kandidatenfamilie der Verbrauch am meisten gestiegen ist.
OTON Klaudia Wick 5
Es hat dann nochmal ein Revival gegeben in den 80er Jahren. Nochmal eine Spielshow „Wünsch dir was“. Da hat man es dann umgedreht und hat gesagt, bitte schalten Sie alles außer dem Fernseher aus. Wir wollen jetzt mal die Reduktion des Stroms messen. Da merken Sie wieder, wie viel auch Spielshows immer mit Zeitgeist zu tun haben. Es ist grundsätzlich immer die Idee gewesen, wie wir diese Panzerglasscheibe des Bildschirms weicher machen können. Wie können Leute in diese Show reinkommen und mitbestimmen? Das war eben ein ganz früher Versuch der Mitbestimmung.
MUSIK Rudi Carrell-Lied „Showmaster ist mein Beruf“
„Showmaster ist mein Beruf, ein Beruf, ein Beruf, den der Teufel schuf. Ich frag Sie jetzt ganz banal, halten sie den für normal? …“
ERZÄHLERIN
Rudi Carrell, der Niederländer, der mit seiner unnachahmlichen Art das deutsche Showfernsehen geprägt hat. Er bringt Humor, sanften Witz und eine scheinbare Leichtigkeit in seine Auftritte. Dabei ist bei ihm jedes Wort, jede Geste bis in Detail getestet, geprobt und zugeschliffen. Carrells Ziel: alles soll beiläufig wirken, mühelos, wie aus dem Ärmel geschüttelt. Doch von ihm stammt auch der Satz:
ZITATOR
Wenn man etwas aus dem Ärmel schütteln will, dann muss man vorher was reintun.
ERZÄHLERIN
Wie kaum ein anderer hat Rudi Carrell zur Demokratisierung des Fernsehens beigetragen. In seinen Shows - wie etwa „Am laufenden Band“ - bietet er den unbekannten Kandidatinnen und Kandidaten die große Bühne. Sie sind nicht das Beiwerk zu den Stars, sondern werden selbst die Stars, müssen in Sketchen mitspielen, Gags zum Besten geben, und bekommen die Möglichkeit, sich in Gesprächen mit Carrell ausführlich vorzustellen. Imitatoren berühmter Sängerinnen und Sänger dürfen ihre Gesangskünste unter Beweis stellen.
frei MUSIK Rudi Carrell „Lass dich überraschen“
„Lass dich überraschen, schnell kann es geschehen, dass auch deine Wünsche in Erfüllung gehen. Lass dich überraschen (ausfaden)
ERZÄHLERIN
Und in der „Rudi-Carrell-Show - Lass dich überraschen“ bringt er Menschen zusammen, die sich seit Jahren oder Jahrzehnten aus den Augen verloren haben.
frei MUSIK Rudi Carrell „Lass dich überraschen“
„Lass dich überraschen, schnell kann es geschehen, dass auch deine Wünsche in Erfüllung gehen. Lass dich überraschen (ausfaden)
OTON Christian Stöffler 4
Jedes Land entwickelt seine eigene Fernsehkultur, eigene Fernsehtraditionen. Und einen vergleichbaren Kult um die Samstagabend-Show wie in Deutschland gibt es eigentlich nicht. Selbstverständlich gibt es Unterhaltungssendungen überall. An jedem Wochentag. In allen Ländern. Aber dieses Phänomen Samstagabend-Show gibt es tatsächlich nur in Deutschland.
ERZÄHLERIN
Und zwar - wie der Dokumentarfilmer und TV-Experte Christian Stöffler betont - in West- und in Ostdeutschland, diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs.
darunter einblenden: MUSIK „Die Blasmusik…" (Entrée Ein Kessel Buntes, instrumental)
ERZÄHLERIN
Das TV-Ereignis in der DDR: „Ein Kessel Buntes“, live gesendet aus den großen Hallen der Republik, allen voran der Friedrichsstadtpalast in Ost-Berlin, das größte Revue-Theater Europas. Ein Mix aus Musik, Comedy, Oper, Tanz, Artistik und Talk und natürlich den Auftritten des Deutschen Fernsehballetts, die mit wechselnden Kostümen und aufwändigen Choreographien in jeder Show ihr Können zum Besten geben. Und als Bonus dürfen Stars aus dem Westen auftreten, etwa Udo Jürgens, Mireille Matthieu, oder ABBA. Bis 1977 wird „Ein Kessel Buntes“ von Kabarettisten präsentiert, die sich einen durchaus spöttischen, wenn auch milden Blick auf den Alltag und die Politik der DDR erlauben. Im streng kontrollierten Fernsehen höchst ungewöhnlich und daher enorm populär.
OTON Christian Stöffler 5
Im „Kessel Buntes“ gab es Kabarett, Satire in homöopathischen Dosen. Ganz wenig, ganz gezielte kleine Spitzen durften dort platziert werden. Jeder Text, jedes Wort, das gesagt wurde in dieser Sendung war vorher natürlich abgenommen. Das war auch wichtig, als Signal: Wir erlauben auch Kritik. Es war sozusagen das Ventil, der Narr, der dem König auch mal den Spiegel vorhalten darf.
ERZÄHLERIN
1977 werden die Kabarettisten aus der Show gestrichen, auf Geheiß der Staatsführung. Die DDR-Unterhaltung - und damit auch „Ein Kessel Buntes“ - wird entschärft, lieblicher gemacht - oder wie es offiziell hieß: „modernisiert“. Im „Kessel“ führen fortan Stars aus Fernsehen, Film und Bühne durchs Programm und prägen jede Ausgabe mit ihrer Persönlichkeit, darunter Helga Hahnemann, Gunther Emmerlich und Wolfgang Lippert. Anders als im Westfernsehen gibt es im DDR-Fernsehen keine Showformate, in der Kandidaten direkt gegeneinander antreten, betont Klaudia Wick.
OTON Klaudia Wick 6
Das Fernsehen der DDR war ja politisch gelenkt, es sollte auch mit edukativ sein. Und deswegen ist der Wettbewerb, der eben bei uns ein Wettbewerb um den Besten war, im Kapitalismus, war eben im Sozialismus der sogenannte „sozialistische Wettbewerb“, so hieß das auch. Und der musste eben auf jeden Fall gleichberechtigt sein. Und Glücksspiele waren eigentlich das allerbeste, weil es dann eben nicht darum geht, dass der eine Leistung erbracht hat und der andere nicht. Und da gibt es ein Format, „Glück muss man haben“, mit Wolfgang Lippert, wo dann ein Trabi verlost worden ist oder ähnliche Sachen, wo man schätzen musste und nicht wissen.
MUSIK Auf los geht’s los – Titelmelodie von Jürgen Franke
ERZÄHLERIN
Und die Shows im Westen? Die setzen vor allem in den 1980ern auf eine immer höhere Promi-Dichte. Etwa bei Joachim Fuchsberger in „Auf los geht’s los“, oder bei „Wetten dass…?“, wo gerade in der Moderations-Ära von Thomas Gottschalk ab 1987 die Couch vor Weltstars überquillt, auch wenn viele von ihnen oft während der Sendung wieder dringend zum Flieger müssen. Andere Formate setzen auf Schabernack und das rechte Maß an Schadenfreude, insbesondere „Verstehen Sie Spaß?“, in Deutschland durch das Schweizer Moderatoren-Ehepaar Kurt Felix und Paola einer der großen Publikumslieblinge. Oder die Shows werden - durch das Aufkommen des Privatfernsehens Mitte der 1980er Jahre - frecher, gemeiner, sarkastischer. Bestes Beispiel: „Vier gegen Willi“, mit Mike Krüger. Hier müssen sich wieder mal Familien abrackern, gegeneinander antreten und Punkte sammeln. Aber sie werden weniger auf Leistung als auf ihre Leidensfähigkeit getestet. So muss ein Vater in einem Film mitansehen, wie das Familienauto verschrottet wird, und im Studio entscheiden, welcher der vor ihm stehenden Metallklötze mal sein geliebtes Auto war. Und die Toten Hosen dürfen die Wohnung einer Kandidatenfamilie verwüsten, die per Live-Schalte im Studio zusieht.
OTON Klaudia Wick 7
Das war so der Vorgriff einer gemeinen Unterhaltung, wie es dann im Privatfernsehen viel häufiger auch vorgekommen ist.
OTON Christian Stöffler 6
Die Privatsender wollten sich profilieren durch Shows, die frecher, freier, noch boshafter, noch hinterlistiger waren als die Shows der Öffentlich-Rechtlichen. Aber damit waren sie nicht Vorreiter, sondern haben eine gesellschaftliche Entwicklung weitergeführt, die ohnehin schon vorhanden war. Die Gesellschaft wurde freier, offener, vielleicht auch ein bisschen boshafter, zynischer, aber auf jeden Fall ironischer in den 80ern.
ERZÄHLERIN
Und heute? Ist nicht nur die Gesellschaft zersplitterter, auch die Mediennutzung bei Fernsehshows hat sich radikal gewandelt, in Zeiten von Handys, Streamingdiensten und Mediatheken. Die Topquoten von einst sind Geschichte. Der Zwang, um Punkt 20:15 Uhr der Eurovisions-Hymne zu lauschen und dann eine stundenlange Show zu sehen, um ja nichts zu verpassen: alles passé. Ein breites Angebot an Shows gibt es weiterhin, von Musikevents für Schlager-Fans bis hin zu Quizsendungen in allen Facetten. Die ganze Familie versammelt sich jenseits von Sport-Großereignissen nur noch selten gemeinschaftlich vor dem Fernseher, ((auch wenn es entsprechende, generationenübergreifende Formate immer noch gibt, so wie „Klein gegen Groß“.)) Das Lagerfeuer der Nation, ((so ist sich Christian Stöffler sicher,)) brennt weiterhin, nur eben auf kleinerer Flamme.
((OTON Christian Stöffler 7
Was es nicht mehr gibt, ist, dass man einfach ohne Weiteres eine Handvoll Weltstars auf dem Sofa versammeln kann, in einer Taktung drei, vier, fünf, sechs Mal im Jahr. Du kriegst bestimmte Leute nicht mehr so einfach mal, dass sie für eine Fernsehsendung um die halbe Welt fliegen. Weil Social Media natürlich diesen Leuten andere Möglichkeiten bietet, sich zu präsentieren oder bestimmte Produkte zu bewerben. Ich glaube aber trotzdem, dass es immer noch eine große Sehnsucht nach dem Lagerfeuer gibt. Nach dem einen Ereignis, das wirklich die ganze Nation vereint und über das man dann auch lange noch spricht, Inhalte, über die man wirklich lange noch diskutieren kann.))
MUSIK Rudi Carrell – Showmaster ist mein Beruf (Finale)
(Trommelwirbel)
Ich möcht immer singen, Sie zum Lachen bringen, Showmaster bleibt mein Beruf!
Einst dehnten sich die Graslandschaften Nordamerikas über Millionen Quadratkilometer aus. Heute ist von diesem einzigartigen Ökosystem nur ein Bruchteil übrig. Doch selbst auf diesen oft kleinen Prärie-Inseln zeigt sich bisweilen noch die unglaubliche Vielfalt einer Tier- und Pflanzenwelt. Von Susi Weichselbaumer
Credits
Autorin dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Herbert Schäfer, Katja Bürkle, Jenny Güzel, Carsten Fabian
Technik:
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Jessica Hindl, Museumsführerin Exploration Place, Wichita Kansas
Alan Molumby, Biologe, University of Illinois Chicago (James Woodworth Prairie Preserve)
Linktipps:
Das sind die Links zu den Preserves
https://www.nps.gov/tapr/index.htm
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Durch die Ritzen in den Holzwänden der verwitterten Scheune fällt orange-
goldenes Sonnenuntergangslicht. Staubflusen schweben in der Luft. Es riecht nach Heu und Stroh –
SPRECHER
Und nach Anstrengung.
SPRECHERIN
Es ist Prärietanzabend im Tallgrass Prairie Preserve, einem Landschaftsschutzgebiet nördlich von Strong City in Kansas. Zur Fiddle-Musik haken sich Square-Dance-erfahrene Anwohner und lernwillige Touristen unter –
SPRECHER
Es wird reichlich auf Füße getreten.
SPRECHERIN
Was okay ist. Denn altes Prärie-Motto: Alles findet seinen Platz.
ATMO Dance ENDE// ATMO PRÄRIE
SPRECHER
Früher vielleicht. Da konnte man nahezu unendlich viel Platz finden in der Prärie. Da dehnten sich die Graslandschaften Nordamerikas über 2,7 Millionen Quadratkilometer weit aus. Von den Laubwäldern des östlichen Tieflands bis zu den Rocky Mountains im Westen und den dichten Nadelwäldern im Osten. Im Wind wogendes Gras –
SPRECHERIN
Bis zum Horizont: Gelblich-grün geringeltes Stachelschweingras, elegantes Weizengras, krautiges Büffelgras –
SPRECHER
Dazwischen leuchten Prärieblumen in knalligem Blau, Grellgelb –
SPRECHERIN
Oder zartem Rot.
SPRECHER
Wuselige Zikaden – schillernd in allen Farben – hüpfen hierhin und dahin.
SPRECHERIN
Massige, dunkelbraun-zottelige Bisons ziehen gemächlich ihre Runden.
SPRECHER
Wendige Kojoten schleichen sich lautlos an –
ATMO Präriehunde
SPRECHERIN
Milchkaffeebraune Präriehunde warnen die Nachbarschaft per Alarmruf und sind flink im Erdloch verschwunden.
SPRECHER
In einer Prärie ist es bunt.
SPRECHERIN
Und: Alles findet in diesem einzigartigen Ökosystem irgendwo seinen Platz, schwärmt Alan Molumby. Er ist Biologe an der Universität Chicago und forscht zu Graslandschaften.
1 ZU Alan 3.28 Prairies are heterogenous… + 4.30 In a real prairie…
OVm
Die echte Prärie ist heterogen. Läuft man drei Meter, setzt sich die Vegetation anders zusammen. Nochmal drei Meter: Wieder neu. Das gilt auch für verschiedenen Insekten, für bestimmte Tiere. Diese winzigen Mikrohabitate bilden eigene Ökosysteme in einem großen Ökosystem, das durchlässig ist für Austausch hierhin und dahin. Das sieht man nur in einer echten Prärie.
MUSIK
SPRECHERIN
Kurzer Rückblick: Entstanden ist die „echte“ Prärie in der letzten Eiszeit.
SPRECHER
Die beginnt vor rund 2,6 Millionen Jahren und endet vor 12.000 Jahren.
SPRECHERIN
In dieser Zeitspanne formen Gletscherbewegungen und daraus entstehende Erosionsprozesse die weiten, leicht welligen Flächen, die charakteristisch sind für die Prärie.
SPRECHER
Schmelzwasserflüsse lagern Sedimente ab. Dadurch wird der Boden fruchtbar.
SPRECHERIN
Ideal für Präriegräser, die sofort anfangen zu sprießen.
SPRECHER
Und nie mehr aufhören –
SPRECHERIN
Wenn man sie lässt. Denn:
MUSIK ENDE
SPRECHER
Viele „echte“, also ursprüngliche Prärie gibt es heute in Nordamerika nicht mehr.
SPRECHER
Von der ehemaligen Opulenz und Größe ist kaum etwas erhalten.
SPRECHERIN
In Fläche ausgedrückt: Gerade mal noch vier Prozent! Von besagten eine Million Quadratkilometern.
MUSIK
SPRECHER
Der Grund: Ab den 1860er Jahren drängen Einwanderer aus Europa in diese fruchtbaren und weitläufigen Gebiete. Sie bauen Dörfer, gründen Städte, legen großzügig Acker- und Weideflächen an. Die Technisierung der Landwirtschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt der Prärie fast komplett den Rest. Riesige bewässerte Agrarareale dehnen sich bald kilometerweit aus.
SPRECHERIN
Die Hügel, vormals üppig bewachsen von verschiedensten Präriegrasarten, zig bunten Blumensorten –
SPRECHER
Bewohnt von Säugetieren, Reptilien, Insekten –
SPRECHERIN
Vögeln -
SPRECHER
Diese Hügel macht man platt. Begradigt sie.
SPRECHERIN
Zum Wohle der Landwirtschaft. Denn: Die boomt ab den 1920er Jahren dank brandneuer Riesenmaschinen und leistungsfähiger Traktoren. In Oklahoma, Kansas, Texas, New Mexico, Colorado reiht sich Feld an Feld. Das Motto der meisten Landwirte: Größer, schneller, mehr! Anbauen, ernten, anbauen, ernten… Bis man es geschafft hat: Vom kleinen Farmer zum Millionär!
MUSIK ENDE
SPRECHER
Der typische amerikanische Pioniertraum.
SPRECHERIN
Allerdings wohl nur der Traum des eingewanderten weißen Mannes. Die Native Americans, die amerikanischen Ureinwohner, werden in diesem Prozess schon immer verdrängt, verjagt, getötet. Mit ihnen verschwindet das natürliche und ressourcenschonende Zusammenleben von Mensch und Natur.
ATMO PRÄRIE Preserve Anfahrt Auto/ MUSIK
SPRECHER
Wer heute noch „echte“ Prärie erleben will, setzt sich in den USA ins Auto.
SPRECHERIN
In den Vereinigten Staaten nimmt man für ziemlich alles das Auto: Zum nächsten Supermarkt. Zur Apotheke, zur Schule, zum Kindergarten, ins Fitnessstudio: Auto!
SPRECHER
Zum nächsten Prärieerlebnisse auch. Gut zwei Stunden dauert die Fahrt von Kansas City nach Südwesten auf der Interstate 35, links und rechts der Fahrbahn: Unendliche Felder. In der Nähe des 400-Einwohner-Örtchens Strong City zeigt ein Schild die Abfahrt an zum Tallgrass Prairie Preserve.
ATMO Tallgrass PRÄIRIE
SPRECHER
In den Flint Hills gelegen umfasst das Schutzgebiet gut 45 Quadratkilometer.
SPRECHERIN
Das klingt kompakt. Tatsächlich ist es aber einer der größten noch existierenden „echten“ Prärieabschnitte Nordamerikas.
MUSIK
SPRECHERIN
Ins Tallgrass Prairie Preserve mit seinen insgesamt rund 60 Kilometer Wanderwegen in unterschiedlichen Längen und Schwierigkeitsstufen, von der ebenen Schotterpiste bis zum steil ansteigenden Trampelpfad, kommen Besucherinnen und Besucher vor allem aus nostalgischen Gründen. Man wirbt mit Cowboy- und Pionierromantik. Es „john-wayned“ ziemlich.
SPRECHER
Es fühlt sich richtig an wie im Film „Der mit dem Wolf tanzt“. Gäste haben hier die Chance ein echtes Bison zu treffen. Nicht hintern Gittern im Zoo, sondern in der Natur –
SPRECHERIN
Neben Schotterpiste und Trampelpfad.
2 ZU Alan 11.44 In the USA we like it big… little things.
OVm
In den USA mögen wir große Tiere. Überhaupt muss alles groß sein. Also schützen wir in den Vereinigten Staaten das amerikanische Bison, den Florida Panther oder den Kalifornischen Condor.
SPRECHER
Erklärt Biologe und Prärieexperte Alan Molumy, warum es gut funktioniert mit einem Bison auf Plakaten, Flyern und Broschüren zu werben für das Schutzgebiet.
MUSIK
SPRECHERIN
Tatsächlich sind amerikanische Bisons BIG (evtl. aus ZU). Die schwarz-braunen Zottelkolosse werden fast drei Meter lang. Höhe bis zu den Hörnern: Zwei Meter. Männliche Bisons bringen bis zu einer Tonne auf die Waage. Die Weibchen rund die Hälfte.
SPRECHER
Bis in die 1870er Jahre bevölkern sie Million-fach die weiten Ebenen Nordamerikas. Knapp zwei Jahrzehnte später aber sind weniger als 100 Tiere übrig. Die - meist - friedfertigen Wiederkäuer sind leicht zu jagen, ihr Fleisch macht viele lange satt. Ihre Felle lassen Jäger reich werden.
SPRECHERIN
Aufwendige Wiederansiedlungsprojekte retten die Bisons. Im Tallgras Prairie Preserve startet man Anfang der 1990er Jahre mit 300 Tieren.
SPRECHER
Weil sie so eindrucksvoll und per se schützenswert sind, aber auch weil die Prärie sie braucht. Als Grasfresser –
SPRECHERIN
Als Rasenmäher -
SPRECHER
Ein Bison putzt schon mal an die 15 Kilo Grünzeug weg pro Tag und schafft damit Platz für frische, nachwachsende Pflanzen. Ist eine Stelle kahlgefressen, marschieren Bisonherden weiter.
SPRECHERIN
Die einzige Regel dabei: Immer der Nahrung nach.
SPRECHER
Wenn es mal schnell gehen muss, pesen Bisons mit bis zu 55 Kilometern pro Stunde über die Prärie. Schwimmen können die Tiere auch. Und hüpfen, bis zu zwei Meter hoch. Aber nur, wenn es sein muss.
SPRECHERIN
Denn: Bisons mögen es pragmatisch: Kühe, also weibliche Bisons, sind die Anführerinnen der Familiengruppen. Die Männchen schneien nur zur Paarungszeit im Frühling herein.
SPRECHER
Nehmen sich dann aber durchaus Zeit auch für mehrere Kühe.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Übrigens die dicken Nacken der Männchen, diese charakteristischen Stiernacken –
SPRECHERIN
Alles Muskeln…
SPRECHER
Ja, das sind Muskeln!
ATMO PRAIRIE Tallgrass Gatter
SPRECHERIN
Heute leben etwa 2000 Bisons im Tallgrass Prairie Preserve in Kansas. In einem eingezäunten Bereich. Mutige Besucherinnen und Besucher dürfen das Gatter öffnen und reinspazieren.
SPRECHER
Aber Achtung, steht auf dem Schild am Elektrozaun: „Ab hier Bisons. Falls ein Tier herankommt, gehen sie ihm aus dem Weg!“
SPRECHERIN
So viel Nähe zu den Touristen mit ihren Kameras und Brotzeitrucksäcken suchen die Tiere hier aber gar nicht. Wie schwarze Berge ragen sie ab und an aus dem hohen, dichten Präriegras. Bisweilen setzen sie sich langsam in Bewegung. Kraftvoll und erhaben sieht das aus. Nach Urgewalt und als ob die Welt schon immer so gewesen ist. In aller Ruhe, fließend. Alles eins und Platz für jedwedes.
SPRECHER
Meinen manche vielleicht. Andere werden eher unerhaben ungeduldig: Bitte wie soll man ein ordentliches Foto schießen, wenn die Tiere dauernd im meterhohen Gras manövrieren wie U-Boote, von denen man nur den Kommandoturm sieht?
SPRECHERIN
Naja, es heißt ja auch Tallgrass Prärie. Also Hochgras-Prärie.
MUSIK
SPRECHERIN
Um das zu erklären, muss man grundsätzlich anfangen, und da gilt: Graslandschaft ist nicht gleich Graslandschaft. Die nordamerikanische Prärie unterscheidet sich von anderen Graslandschaften wie den Savannen in Afrika oder den Steppen Afrikas und Europas durch das stark wechselnde Klima. Die Sommer in der Prärie sind glühend heiß. Die Winter frostig kalt.
SPRECHER
Was wächst, sind hauptsächlich Gräser. Oft über 60 verschiedene Arten an einem Fleck. Die stecken solche enormen Temperatursprünge weg.
SPRECHERIN
In den eher niederschlagsreichen Gegenden, beispielsweise in östlichen Regionen der USA, gibt es vor allem Tallgrass – Hochgras. Robust ragen Tallgrassvertreter gut zwei Meter auf. Ihre Halme sind teils fingerdick.
SPRECHER
Die langen filigranen Halme des Big Bluestem mit den zarten lila Puscheln oben dran stehen in struppigen Büscheln zusammen. Indian Grass kommt eher einzeln vor, an den gelben Blüten wachsen winzige gold-braune Ministachel wie Indian Grass-Spikes.
SPRECHERIN
Nach Westen hin wird das Klima zunehmend trockener. Je weniger Niederschlag, desto niedriger die Vegetation. Für sogenanntes Kurzpräriegras, das zwischen 20 und 30 Zentimeter hoch wird, sind die Great Plaines bekannt. Sie erstrecken sich von Texas im Süden der Vereinigten Staaten bis in den Norden, nach Alberta in Kanada.
SPRECHER
Buffalo Grass mit den satthellgrünen, breiten Blättern. Blue Grama Grass – dessen Spitzen aussehen, als hätte man einen lila Zahnbürstenkopf angeschraubt -
MUSIK ENDE
SPRECHERI
Viel Prärie-Gefühl stellt sich in besagten Great Plaines jedoch nicht mehr ein. Riesige Landwirtschafts- und Weideflächen, zum Großteil eingeebnet und mit künstlichen Bewässerungssystemen durchzogen, haben längst monoton und gleichförmig gemacht –
SPRECHERIN
Was einst divers war und bunt.
3 ZU Jessi 3.00 As tall as…
OVw
So hoch das Präriegras auch ist, die Wurzeln gehen noch dreimal so tief. Sie halten die Erde, verhindern einen Abtrag durch Wind. Das Ökosystem an der Oberfläche ist riesig. Im Boden ist es noch viel komplexer.
ATMO PRÄRIE
SPRECHERIN
Erklärt Jessica Hindel. Sie ist Flugingenieurin in Wichita, im südlichen Kansas. Dort wo etliche große amerikanische Flugzeugunternehmen Airbus und Co. fertigen.
SPRECHERIN
Ehrenamtlich arbeitet Jessica im Exploration Place Center, Wichitas interaktivem Museum. Dort erklärt sie den Gästen unter anderem, wie die Prärie funktioniert.
SPRECHER
Und wie eben nicht.
SPRECHER
Vieles dabei ist Familiengeschichte.
MUSIK
SPRECHERIN
In den 1930er Jahren überstehen Jessicas Großeltern die sogenannte „Dust Bowl“ – die „Staubschüssel“. Weite Teile der Prärie in Kansas sind damals bereits Äckern und Viehweiden gewichen. Das robuste Präriegras, dessen Wurzeln den Boden festigen und Wasser binden, ist weg.
SPRECHER
Solange es ausreichend regnet –
SPRECHERIN
Egal. Als 1930 aber klimabedingt eine Dürre einsetzt, Niederschläge ausbleiben, Stürme übers Land fegen –
SPRECHER
Bläst es - ohne eben dieses Präriegras - den Menschen im Wortsinn die Lebensgrundlage davon. Die Felder verdorren. Bewässerungssysteme versagen. In die Häusern dringt schwarzer Staub und brauner Sand in jede Ritze. Lungenkrankheiten breiten sich aus.
SPRECHERIN
Hilfe bleibt aus.
SPRECHER
Es ist die Zeit der Großen Depression. Staatliche Subventionen? Fehlanzeige! Unter dem republikanischen Präsidenten Herbert Hoover hätte so etwas dort schon fast gegolten als erster Schritt zum Kommunismus.
SPRECHERIN
Zeitungen rund um die Welt bringen Fotos von verzweifelten Müttern vor verfallenden Farmhäusern, an der Hand verdreckte Kinder.
SPRECHER
Im Hintergrund vertrocknete Felder.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Irgendwann setzt der Regen wieder ein –
SPRECHER
Nach Jahren des Elends.
SPRECHERIN
Und: Die US-Regierung unter dem nächsten Präsidenten Franklin D. Roosevelt lässt mehr als 200 Millionen Bäume pflanzen. Die sollen Schutz bieten gegen Wind, Stürme, Erosion und die Bewässerung verbessern.
SPRECHER
Aber: Bäume in die Prärie setzen? Wo sie ursprünglich überhaupt nicht wachsen, weil es in den Kurzgraspräiren seit jeher zu trocken ist für Baumwuchs? Und in den Langgras-Prärien tiefwurzelnde und konkurrenzstarke Gräser eine so dichte Krautschicht bilden, dass Bäume gar nicht erst keimen?
ATMO Prärie
SPRECHERIN
Die Maßnahmenpakte der Politik funktionieren schließlich auch mehr so mäßig.
SPRECHER
Was aber passiert: Die Prärie tut das, was sie am besten kann –
SPRECHERIN
Zumindest auf Flächen, wo man sie lässt:
SPRECHER
Sie bildet neue, bunte und vielfältige Mikroökosysteme aus.
4 ZU Jessi 3.38 I like the dizzels…7 0006
OVw
Ich mag die Diestel, die sehen fast aus wie Blumen mit dieser lila Farbe. Und: Sie stechen. So nach dem Motto: Oh, ich bin wunderschön. Aber fass mich bloß nicht an! Das ist ein natürlicher Schutz gegen Fressfeinde. Rehe würden da nicht abbeißen wollen.
SPRECHER
Erzählt Museumsführerin Jessica Hindel. Sie rät Besucherinnen und Besuchern rauszufahren an den Stadtrand von Wichita. In ein Naherholungsgebiet im Präriestil, angelegt vor knapp vierzig Jahren. Etwa anderthalb Quadratkilometer groß.
5 ZU Jessi 6.64 And the natural sun flowers…
Die wilden Sonnenblumen liebe ich am meisten. Weil sie nicht kultiviert sind, haben sie nicht so viele Samen und diese großen Blüten, die man aus den Blumenläden kennt. Sie sind kleiner, aber sie wachsen bis zu fünf Meter hoch. Ein gigantischer Blumenbaum!
SPRECHER
Die wilden Sonnenblumen sind das Wappensymbol ihres Heimatstaates Kansas. Für Jessica ist die Prärie der Ort, an den sie geht, wenn sie ausspannen möchte nach der Arbeit in der Flugzeugfabrik oder dem ehrenamtlichen Job im Museum. Als kleines Mädchen hat ihr Vater sie häufig mit genommen auf Ausflüge ins rund 120 Kilometer entfernte Tallgrass Prairie Preserve.
6 ZU 7.50 As a kid I would basically swim in the grass and hang out.
OVw
Als Kind schwamm ich da richtig durchs hohe Gras und wartete endlos darauf, Rehe zu sehen. Stinktiere und Waschbären können ja aufdringlich werden, aber Rehe halten Abstand. Und wenn man eines bemerkt in der Entfernung, selbst hier in der angelegten Prärie in Wichita - das ist wie ein Einhorn sehen. Seit ich Kind bin, möchte ich einmal nach Wyoming und wilde Mustangs in der Prärie laufen sehen. Weite und nur Geschwindigkeit. Das muss majestätisch sein. In der Stadtprärie haben wir Habichte und andere Beutegreifer – das ist schon auch so ein Gefühl: Toll, dass es die noch gibt und dass sie zumindest in diesem kleinen Bereich den Himmel beherrschen.
MUSIK
SPRECHER
Kleiner Bereich. Nett, aber überschaubar. Das scheint inzwischen das Schicksal der Prärie zu sein.
SPRECHERIN
Variantenreich, auch für Kleingärten bieten bei uns in Deutschland zahlreiche Bau- und Gartenmärkte die Prärie an für daheim vor die Terrasse.
SPRECHER
Die meisten Präriestauden blühen im Sommer. Wiesensalbei, Prachtscharte, Seidenblume, Scheinsonnenhut. Im Herbst folgen Fetthenne, Sonnenbraut, Eisenkraut oder Gaura.
SPRECHERIN
Im Bau- und Gartenmarktkatalog sieht das Bild zur Heimprärie immer aus wie eine bunt zusammengewürfelte Mischung.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Was Prärie ja im Grunde auch ist. Das Wort haben die französischen Einwanderer nach Nordamerika mitgebracht: Prairie. Das bedeutet schlicht Wiese oder Weide.
SPRECHERIN
Von dieser Prairie – der einst größten zusammenhängenden Wiese des Kontinents - ist kaum etwas geblieben. Verstreute Reste „echter“ Prärie finden sich in Schutzgebieten, entlang von Schnellstraßen oder Eisenbahntrassen.
SPRECHER
Friedhöfe aus der Pionierzeit, die niemand auflösen oder bebauen wollte, sind oft auch noch kleine Prärie-Biotope.
ATMO John Woodworth Preserve
SPRECHER
Oder das John Woodworth Prairie Preserve in Chicago, ein fünf Hektar großes Areal, zwischen Wohnblocks und Bürogebäuden. Hier erforscht Biologe Alan Molumby das Ökosystem Prärie.
7 ZU Alan 0.00 It is about… special for that
OVm
Von den Abmessung kann man sich das in etwa so vorstellen wie den Parkplatz eines Einkaufszentrums. Aber das ist noch echtes Grasland. Aktivisten in den 1960er Jahren haben hunderte von Briefen geschrieben, bis die Behörden endlich eingewilligt haben, dieses Stück Land nicht zu bebauen, sondern zu erhalten. Allerdings ist das schwierig – so als winzige Insel umgeben von jeder Menge menschlicher Entwicklung.
SPRECHERIN
Im einkaufszenterparkplatzgroßen John Woodworth Prairie Preserve in Chicago ist für typische Präriebewohner wie Kojoten, Präriehunde, Füchse, Falken oder Adler erheblich zu wenig Platz.
SPRECHER
Zwergmaus, Prärietaschenmaus, nördliche Grashüpfermaus kämen raumtechnisch schon irgendwie hin. Problem bloß – und das haben genauso etliche Insekten, Reptilien, Amphibien: Man sitzt –
SPRECHERIN
Aufeinander.
SPRECHER
Für immer.
8 ZU Alan 8.11 Size really matters… habitats
OVm
Die Größe ist bei Graslandökosystemen das A und O. Viele Spezies haben sich in der Evolution spezialisiert auf weite Flächen, nicht geschlossene Habitate.
SPRECHERIN
Erklärt Biologe Alan Molumby.
9 ZU Alan 5.00 In Chicago …
OVm
In Chicago haben wir jede Menge gemeine Zikaden, manche vermehren sich jedes Jahr. Es gibt hier auch die weltbekannten Zikaden, die nur alle 17 Jahre aus der Erde kommen, um sich zu paaren. Sie alle nutzen das Wurzelwerk von Bäumen für ihre Larven. Die Prärie-Zikaden hier im John Woodworth Prairie Preserve pflanzen sich alle zwei Jahre fort. Ihre Nachkommen werden im Wurzelwerk von Präriegras groß.
MUSIK
SPRECHERIN
Aber: Genetisch vermischt sich da irgendwann nichts mehr.
SPRECHER
Was auch daran liegt, dass diese Zikaden schlechte Flieger sind. Wenn sie abheben, dann kurz, für ein, zwei langsame Meter Luftlinie. Über den Highway kommt damit nicht.
10 ZU Alan 5.00 So when females emerge …
OVm
Wenn jetzt also die Larven, die lange in der Erde gelebt haben, zu adulten Tieren werden und die Weibchen aus der Erde schlüpfen und sie hören, wie die auch eben erst an der Oberfläche angekommenen Männchen diesen markanten Gesang anstimmen – dann paaren die sich. Und 15 Minuten später legen sie ihre Eier im Präriegrass ab und das wird die nächste Generation. Wenn ich als Biologe verhelfen will zu mehr genetischer Durchmischung, muss ich direkt nach der Paarung ein Weibchen fangen, rein ins Auto, sämtliche örtlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen brechen, zum nächsten Stückchen Prärie fahren – nur, das ist erheblich weiter entfernt als 15 Minuten. Diese Zikaden stecken hier fest.
SPRECHERIN
Und sterben auf nicht ganz lange Sicht unweigerlich aus.
11 ZU Alan 16.50 Live survived…
OVm
Das Leben in der Prärie ging immer weiter. Ob Eiszeit oder Hitzeperiode, weil es sich austauschen konnte. Heute müssen wir damit zurechtkommen, dass wir diese winzigen Inseln geschaffen haben.
MUSIK
SPRECHERIN
Bilanziert Biologe Alan Molumby. Er plädiert für den Erhalt wenigstens dieser Prärie-Inseln.
SPRECHER
Auch für Jessica Hindl, Flugzeubauerin und ehrenamtliche Museumsführerin in ihrer Heimatstadt Wichita in Kansas muss die Prärie bleiben.
12 ZU Jess 0011
There are people who are so proud…
OVw
Die Menschen hier sind stolz auf diese Landschaft. Wenn wer meint: In der Prärie gibt es nichts zu sehen, das ist langweilig – da wäre man sehr beleidigt. Nirgendwo ist der Himmel weiter, das Gras grüner, manchmal sogar neon.
ATMO PRÄRIEFEUER
SPRECHER
Und nirgendwo brennen die berühmten Präriefeuer eindrucksvoller für Jessica als jeden Frühling in den Flint Hills. Flammen lodern in den Himmel, wenn das Feuer das trockene, zu dichten Matten verwachsene Gras auffrisst, und den fruchtbaren Boden frei macht für kommende Pflanzengenerationen.
SPRECHERIN
Früher entstanden diese notwendigen Präriefeuer durch Blitzschlag oder zu große Trockenheit. Heute kümmern sich Farmer und Ökologen um kontrollierte Brände.
SPRECHER
Damit wieder neues Leben einziehen kann.
MUSIK
SPRECHERIN
In den wenigen verbleibenden „echten“ Prärien Nordamerikas ist es räumlich eng geworden.
SPRECHER
Schuld daran ist der Mensch, der damit eine gewaltige Chance verspielt: Prärielandschaften könnten große Mengen an Kohlenstoff im Boden fixieren, Treibhausgase in der Atmosphäre binden und helfen, den Klimawandel zu abschwächen.
SPRECHERIN
Prärien könnten als eines der vielfältigsten Ökosysteme der Welt zig Tier- und Pflanzenarten Lebensraum bieten.
SPRECHER
Und dem Menschen das Gefühl geben–
ATMO Dance 2 12 ZU 13:16 + 20:45
Announcer: Start with the music, and see how we do! MUSIK (runterziehen) And come on home …
SPRECHERIN
Dem Menschen das schöne Gefühl geben eins zu sein mit der Natur. Wie beim alljährlichen Scheunentanz im Tallgrass Prairie Preserve. Draußen geht über den grasbewachsenen Hügeln goldorange die Sonne unter. Drinnen haken sich zur Fiddle-Musik Square-Dance-erfahrene Anwohner und lernwillige Touristen unter –
SPRECHER
Und treten sich auf die Füße.
SPRECHERIN
Macht nichts. Es riecht nach Präriegras und Weite und man: Alles eins - In der Prärie kommt man zusammen voran.
SPRECHER
Nur, wenn ein Bison im Weg steht –
SPRECHERIN
Sollte man schleunigst umdrehen.
Punkte sammeln, Level aufsteigen, Abzeichen gewinnen: Was in Computerspielen funktioniert, soll nun auch den Alltag optimieren. Doch die Übertragung von Spielemechaniken in die reale Welt hat ihren Preis. Ein Feature über Chancen und Risiken der Gamification-Gesellschaft. Von Christian Schiffer
Credits
Autor dieser Folge: Christian Schiffer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Bürkle, Katja Schild, Clemens Nicol
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Paula Bräuer (Universität Kiel)
Benjamin Strobel (Podcast "Behind the Screens")
Marcos Kalinowski (Universität Rio De Janeiro)
Christian Huberts (Kulturwissenschaftler)
Jörg Friedrich (Paintbucket Games)
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Linktipps:
TED-Talk von Jane McGonigal: "Gaming can make a better world"
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Podcast "Behind the Screens" von Benjamin Strobel
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Workification: Warum sich Games immer mehr wie Arbeit anfühlen
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Welche Gamification motiviert? Ein Experiment zu Abzeichen, Feedback, Fortschrittsanzeige und Story
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Negative effects of gamification in education software: Systematic mapping and practitioner perceptions
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Üppige Wälder, schneebedeckte Berggipfel, uralte Elfenruinen, epische Kämpfe: Das hier ist World of Warcraft, ein Online-Rollenspiel, das im November 2004 erschienen ist. Zwischen den weiten Ebenen, verwunschenen Wäldern und gefährlichen Dungeons tummeln sich Spieler aus aller Welt, die als mutige Krieger, geschickte Jäger, geheimnisvolle Magier oder listige Schurken diese digitale Spielewelt durchstreifen.
ZUSPIELUNG Atmo 1, World of Warcraft
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Zu seinen Hochzeiten Anfang der Zehnerjahre hatte World of Warcraft 13 Millionen Abonnenten. Heute sind es weniger, aber immer noch verirren sich jeden Monat Millionen Spieler in diese kunterbunte Fantasywelt. Hier treffen sie auf Gleichgesinnte, mit denen sie gemeinsam Quests, also Abenteurer, bestehen, gefährliche Dungeons – sprich: Kerker - durchstreifen oder epische Schlachten gegen mächtige Drachen und finstere Dämonen schlagen. Für jedes erschlagene Wildschwein, für jede erledigte Quest, für jeden erbeuteten Schatz gibt es eine Belohnung: Erfahrungspunkte, neue Waffen, mächtige Rüstungen oder wertvolle Goldmünzen. Und so gibt es immer etwas zu erreichen: Nur noch diese eine Mission und der Charakter steigt im Level auf!
ZUSPIELUNG
World of Warcraft Soundeffect
SPRECHERIN
Nur noch dieses eine Wildschwein und die Questbelohnung ist gesichert!
ZUSPIELUNG World of Warcraft Soundeffect
SPRECHERIN
Nur noch dieser eine Dungeon und vielleicht gibt’s dann endlich das lang ersehnte Schwert!
ZUSPIELUNG World of Warcraft Soundeffect
ZUSPIELUNG ATMO (Musik 2) - World of Warcraft
SPRECHERIN
World of Warcraft ist eine ausgeklügelte Karotte, die dauernd vor der Nase des Spielers herumwedelt. Und so dürfte die Anzahl von erschlagenen World of Warcraft-Wildschweinen in die Millionen, wenn nicht gar Milliarden gehen. Bereits zehn Jahre nach dem Start hatten World of Warcraft-Spieler mehr als 6 Millionen Jahre im Spiel verbracht. Viele verlieren sich in dem Spiel. Schnell werden aus Minuten Stunden und aus Abenden Nächte. Nicht umsonst wurde World of Warcraft oft als "digitales Opium" bezeichnet – und trat eine große Diskussion über Computerspielesucht los.
Musik 2: The right way round – 32 Sek
SPRECHERIN
Und jetzt stellen wir uns folgendes vor: Was, wenn die ausgeklügelte World of Warcraft-Karotte, die Spieler nicht dazu motivieren würde, noch mehr Schwerter zu finden, den eigenen Kampfmagier aufzuleveln oder, genau, Wildschweine umzuhauen? Sondern dazu, gesünder und nachhaltiger zu leben, Sprachen zu lernen und effizienter zu arbeiten? Genau diese Frage stellt sich 2011 die Gamedesignerin Jane McGonigal.
ZUSPIELUNG 01 O-Ton 1
Right now we spend 3 billion hours a week playing online games. Some of you might be thinking, that's a lot of time to spend playing games, maybe too much time considering how many urgent problems we have to solve in the real world, but actually according to my research at the Institute for the Future, it's actually the opposite is true. 3 billion hours a week is not nearly enough gameplay to solve the world's most urgent problems.
Overvoice weiblich
Die Menschheit verbringt derzeit drei Milliarden Stunden pro Woche mit Online-Spielen. Das klingt nach viel - gerade angesichts der drängenden Probleme unserer Zeit. Aber meine Forschung am Institute for the Future zeigt: Das Gegenteil ist der Fall. Drei Milliarden Stunden Spielzeit pro Woche reichen bei weitem nicht aus, um die wichtigsten Herausforderungen unserer Welt zu bewältigen.
SPRECHERIN
Die These von Jane McGonigal, die sie damals in einem Buch und einem vielbeachteten TED-Talk ausbreitet: Wir spielen nicht zu viel, wir spielen zu wenig. Um die Welt zu retten, muss die Welt von Computerspielen lernen. Denn Spiele, wie etwa World of Warcraft nutzen psychologische Tricks, um uns bei der Stange zu halten. Und diese psychologischen Tricks könne man doch auch für produktive Dinge einsetzen.
ZUSPIELUNG 02 O-Ton 2
I really hope that we can come together to play games that matter, to survive on this planet for another century, and that's my hope, that you will join me in making and playing games like this. When I look forward to the next decade, I know two things for sure, that we can make any future we can imagine, and we can play any games we want. So I say, let the world-changing games begin. (Applaus Atmo dran)
Overvoice weiblich
Ich hoffe, dass wir uns zusammentun und Spiele entwickeln, die uns dabei helfen, die nächsten hundert Jahre auf diesem Planeten zu überleben. (..) Also: Lasst uns mit den Spielen beginnen, die die Welt verändern werden.
SPRECHERIN
Spielerisch die Welt retten! „Gamification“, so heißt das Konzept, das McGonigal damals in einer größeren Öffentlichkeit populär macht. Was das genau ist, erklärt Paula Bräuer, die an der Universität Kiel zu Gamification forscht:
ZUSPIELUNG 03 O-Ton 3
Gamification wird im wissenschaftlichen Bereich definiert, normalerweise als die Verwendung von Spieldesignelementen in einem spielfremden Kontext. Und was dabei wichtig ist aus meiner Perspektive ist immer zu beachten, dass es hierbei also nicht darum geht, dass wir uns mit einem Spiel oder Spielen befassen, sondern wirklich mit Elementen aus Spielen. Das heißt, wir wollen, auch wenn wir etwas gamifizieren, nicht versuchen, ein Spiel zu entwickeln, sondern wir wollen diese Elemente verwenden, um etwas ansprechender, etwas motivierender zu gestalten.
SPRECHERIN
Diese Elemente aus Computerspielen haben eine lange Geschichte. Und mit jedem neuen Spiel kommen neue Motivationswerkzeuge hinzu.
ZUSPIELUNG Atmo 2, Pong
SPRECHERIN
1972. Am Anfang der Geschichte der kommerziellen Computerspiele steht Pong. Zwei Schläger, ein Ball und eine Punkteanzeige. Die Punkteanzeige ist damals das, was programmiertechnisch am aufwändigsten war.
ZUSPIELUNG Atmo 3, Space Invaders
SPRECHERIN
1978 dann Space Invaders. Ein Computerspiel in dem es darum geht, eine Alien-Invasion abzuwehren. Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, in Japan seien die Yen-Münzen knapp geworden, weil sie dauernd in Space-Invaders-Spielautomaten gesteckt wurden. Ein Grund für die Space Invaders-Manie: Das Spiel zeigt den Highscore. Endlich weiß man, ob man am Joystick wirklich besser ist, als der Angeber aus der 8b.
Musik 3: Theme of Tetris – 25 Sek
SPRECHERIN
1984: Tetris. Ein Spiel, das wie kein anderes den sogenannten "Flow" erzeugt - jenen Zustand völliger Versunkenheit, in dem Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen. Während die bunten Blöcke vom oberen Bildschirmrand herabfallen, vergessen die Spieler alles um sich herum.
Musik 4: A picture in motion – 34 Sek
SPRECHERIN
Im Laufe der Zeit wird das Arsenal der Psychotricks immer größer und ausgeklügelter: Fortschrittbalken, Levelaufstiege, Missionen, Abzeichen, Storytelling. Viele dieser Methoden haben nicht die Computerspiele selbst erfunden. Abzeichen gibt es auch im Sport oder im Militär, genauso wie Highscores, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts übrigens auch schon in der Arbeitswelt eingesetzt werden. Aber Computerspiele perfektionieren das Ganze.
ZUSPIELUNG 04 O-Ton 4
Grundsätzlich ist das menschliche Gehirn so aufgebaut, dass wir Handlungen gerne wiederholen, wenn sie im Ergebnis Reize produzieren, die für uns belohnend sind. Belohnend sind sie in der Regel dann, wenn sie innere Bedürfnisse befriedigen.
SPRECHERIN
Das ist Benjamin Strobel. Er ist Psychologe und betreibt den Podcast Behind the Screens, in dem er sich mit Psychologie und Computerspielen beschäftigt. Er sagt, das einfachste Bedürfnis kennen wir alle. Und jeder weiß, wie es befriedigt wird.
ZUSPIELUNG 04 weiter O-Ton 4 Teil 2
Hunger oder Durst? Ja, wenn ich etwas esse oder trinke, dann würde das sozusagen ein natürliches Belohnungssystem aktivieren, weil ich damit ein wichtiges Bedürfnis befriedigt habe, das ich verspüre. Es gibt aber auch psychische Grundbedürfnisse, die unsere Handlung antreiben. Die sind ein bisschen komplizierter als Hunger und Durst. Insbesondere sind es, die Bedürfnisse nach Selbstwirksamkeit und Kompetenz erleben. Ja. Also dass man etwas erreicht, dass man etwas schafft, dass man etwas abschließt, auch, dass man selber sehen kann: Meine Handlungen haben eine Auswirkung in der Welt. Das mag der Mensch, das möchte er spüren.
ATMO World of Warcraft
SPRECHERIN
Auf World of Warcraft übertragen heißt das: Für jedes Wildschwein, das wir umhauen, gibt es Erfahrungspunkte, das fühlt sich toll an, denn es signalisiert uns: Wir kommen voran! Und wenn es Erfahrungspunkte hagelt, weil wir Quest beendet und einen finsteren Dämonen-König ins Jenseits befördert haben, dann sagt unser Hirn: Gut gemacht, aber jetzt bitte mehr davon! Denn unser Gehirn schüttet bei solchen Erfolgserlebnissen Dopamin aus - denselben Neurotransmitter, der auch bei anderen belohnenden Tätigkeiten freigesetzt wird.
ZUSPIELUNG 05 O-Ton 5
Wenn wir auch diesen einfachen Mechanismus der Highscores zum Beispiel nehmen, spielen dann auf der Klaviatur unseres Bedürfnisses nach Kompetenz erleben viele Punkte gemacht. Das heißt, ich war gut, ich kann sehen, ich habe was erreicht. Ich bekomme erstmal ein Feedback. Ja, das ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass ich überhaupt feststellen kann, ob meine Handlung eine Wirkung erzielt haben.
SPRECHERIN
Viele Spiele kombinieren die verschiedenen Elemente auch. Tetris zum Beispiel appelliert an das grundmenschliche Bedürfnis Ordnung zu schaffen in einem Chaos und belohnt uns gleichzeitig mit Punkten und dem befriedigenden Geräusch einer verschwindenden Reihe.
ZUSPIELUNG ATMO 6 Duolingo
SPRECHERIN
Dieses Prinzip der mehrfachen Belohnung nutzt auch die populäre Sprachlern-App Duolingo. Auch hier geht es darum, Ordnung ins Chaos zu bringen - nur dass wir statt fallender Tetris-Blöcke Wörter und Sätze richtig zusammenfügen müssen. Für jede gemeisterte Lektion gibt es Punkte, eine befriedigende Fanfare und einen grünen Haken.
ZUSPIELUNG
Atmo 6, Duolingo nochmal kurz frei
SPRECHERIN
Streaks für tägliches Lernen, Bestenlisten und kleine Auszeichnungen tun ihr Übriges - die Grenze zwischen Lernen und Spielen verschwimmt. Duolingo ist vielleicht das beste Beispiel, um zu zeigen, wie Gamification funktionieren kann, sagt Paula Bräuer:
ZUSPIELUNG 06 O-Ton 6
Die haben das perfektioniert, da das ja verschiedenste Formen von Spieldesignelementen eingebaut. Also man hat einmal diese Eule, die immer den Streak vorgibt, dass man immer schön am Ball bleiben soll. Und wenn man es nicht schafft, den täglichen Duolingo Aufgaben zu erfüllen, dann ist die Eule traurig und der Streak geht kaputt. Aber genau so ist das, was man auch häufig hat. Als Beispiel die Smartwatches. Dass wir da irgendeine Form von Tracker für die Gesundheit mit drin haben, der versucht uns zu motivieren, mehr Schritte zu laufen.
SPRECHERIN
Aber nicht nur beim Sprachelernen oder beim Morgensport kommt Gamification zum Einsatz, sondern vor allem auch in der Arbeitswelt. In Call-Centern werden Leaderboards aufgehängt, die zeigen, wer die meisten Anrufe erfolgreich abgeschlossen hat. Lieferfahrer sammeln Punkte für pünktliche Zustellungen. Verkäufer erhalten virtuelle Abzeichen für erreichte Umsatzziele. Die psychologischen Mechanismen, die uns in World of Warcraft motivieren, Wildschweine zu jagen, sollen nun also auch die Produktivität am Arbeitsplatz steigern. Und da fangen die Probleme an. Benjamin Strobel.
ZUSPIELUNG 07 O-Ton 7
Also das Interessante am Spiel ist ja, dass es freiwillig passiert. Ja. Wenn wir uns das vorstellen. Spieldefinition Wir betreten einen magischen Kreis, in dem andere Regeln gelten. Und wir tun es immer freiwillig. Was nicht freiwillig passiert, das kann definitionsgemäß kein Spiel sein. Deswegen ist Gamification eigentlich auch ein Widerspruch.
SPRECHERIN
Statt intrinsischer Motivation entsteht mit Hilfe von Gamification also eine Art süßer Zwang. Wie Brokkoli mit Schokoladenüberzug - der Brokkoli selbst wird dadurch nicht schmackhafter. Im Gegenteil: Wenn die spielerischen Elemente irgendwann wegfallen, hat man noch weniger Lust auf die eigentliche Arbeit als zuvor.
ZUSPIELUNG 08 O-Ton 8
Das heißt, die Tätigkeit selber tritt eigentlich umso weiter in den Hintergrund für mich. Sie wird keinesfalls interessanter dadurch. Interessant ist dann vielleicht nur noch der Highscore. Und hier wissen wir auch wenn wir solche extrinsischen Motivatoren einführen, ja dann wird die Handlung das Verhalten auch nur noch dann gezeigt, solange auch diese Belohnung noch passiert. Wenn jetzt diese Belohnung irgendwie schlechter wird oder vielleicht wegfällt, weil man sich entscheidet, dieses System nicht mehr zu benutzen. Dann falle ich quasi in ein Loch und habe auf die eigentliche Tätigkeit noch viel weniger Lust als zuvor, weil die extrinsischen Motivatoren die intrinsische Motivation, von der ich vielleicht noch ein bisschen übrig hatte, zerstören können.
Musikbreak für Sendung
SPRECHERIN
Während wir in unserer Freizeit selbst entscheiden können, ob wir Dämonen umhauen oder Tetris-Blöcke stapeln wollen, wird Gamification am Arbeitsplatz sogar oft als manipulativ empfunden. Die Punktesysteme und Leaderboards schaffen zwar kurzfristig Motivation - aber der aufgesetzte Spielcharakter erschöpft sich rasch. Was übrig bleibt, ist oft nur noch mehr Stress und Leistungsdruck. Und manchmal sogar weniger Freude an der eigentlichen Arbeit als zuvor. Ein Dilemma, das auch Marcos Kalinowski von der Universität Rio De Janeiro beobachtet. Der Professor für Software Engineering hat erforscht, wie sich Gamification beispielsweise auf die Motivation der Schüler auswirkt, wenn sie lernen
ZUSPIELUNG 09 O-Ton 9, Marcos Kalinowski
one of the effects that we observed is exactly related to this. It's called the novelty effect, which refers to a behavior when the when there's something that is, uh, there's a new feature and people start using it, and then people get motivated because it's new, but after some time, it just it's not new anymore. And people kind of get bored to, okay, why do I have to do this? Why do I need a badge? Why do I need an avatar? Or to configure my. So these kind of elements, the novelty effect was one of the observed things that people engaged at the beginning, that at some point they think, oh, just these game elements, I just want to do my job.
Overvoice männlich
Wir beobachten oft den sogenannten Neuheitseffekt: Am Anfang sind die Leute begeistert von den spielerischen Elementen, sie sind motiviert, weil alles neu und spannend ist. Aber mit der Zeit lässt diese Begeisterung nach. Sie fragen sich dann: Wozu brauche ich eigentlich diese ganzen Abzeichen und Avatare? Das wird schnell zur lästigen Pflicht.
Musik 5: A picture in motion – siehe vorn – 53 Sek
SPRECHERIN
Was die Forscher beobachten, kennt jeder Spieler: Irgendwann nutzt sich auch die spannendste Spielmechanik ab. Was am Anfang noch Spaß machte, wird zur Routine. Und dann kippt das Spiel und wird zu, nunja, Arbeit. Und dann kommt noch ein weiteres Problem hinzu - ein Phänomen, das man "Gaming the System" nennt: In World of Warcraft suchen Spieler nach Wegen, die Spielmechanik zu ihrem Vorteil zu nutzen: Sie finden versteckte Abkürzungen in Dungeons oder Methoden, besonders starke Gegner ohne Gefahr zu besiegen. Tricksen ist bei Computerspielen von jeher an der Tagesordnung. Aber in der gamifizierten Arbeitswelt oder beim Lernen kann das zum Problem werden.
ZUSPIELUNG 11 O-Ton 11, Marcos Kalinowski
It's also some some ethical issues like trying to gain gaming the system, trying to do things just to get the points in the gamified aspect, but not doing the job itself or the work that has to be done, or the the educational tasks that have to be done. But trying to cheat in a way to to get more points so that you, um, score well in the gamified system, but in the end you get not. You do not achieve the main objectives. You might not achieve the main objective, which. In the case of the systems that we have investigated was educational systems. So. Learning the learning aspects. You might cheat just to get the points, but you might not learn what you had to learn.
Overvoice männlich
Sie tun dann Dinge nur noch, um im Gamification-System Punkte zu bekommen, aber erledigen ihre eigentlichen Aufgaben nicht mehr richtig. In den Bildungssystemen, die wir untersucht haben, war das besonders deutlich zu sehen: Die Schüler sammelten zwar fleißig Punkte, aber lernten nicht das, was sie eigentlich lernen sollten.
SPRECHERIN
Während die Gamification-Experten noch über Vor- und Nachteile diskutieren, zeigt sich noch ein grundsätzliches Problem: Was für den einen motivierend ist, kann für den anderen völlig uninteressant sein. Manche Menschen lieben Highscores und Wettbewerb, andere bevorzugen ruhiges Puzzeln. Manche spornen Abzeichen an, andere fühlen sich dadurch bevormundet. Ein System, das für alle funktioniert, gibt es nicht. Und manchmal kann gutgemeinte Gamification sogar kontraproduktiv sein - etwa wenn erfahrene Mitarbeiter mit simplen Belohnungen abgespeist werden sollen.
ZUSPIELUNG 12 O-Ton 12 Bräuer
Es kommt ganz stark auf den Kontext an, in dem wir das einsetzen wollen. Da kommen auch so Effekte mit rein, wie dass man weiß, wenn ich Leute belohne, also durch Feedback immer sehr starkes positives Feedback gebe für etwas, was sie schon gut können, dann funktioniert das am Ende nicht so gut, sondern hat eher einen gegenteiligen Effekt. Das heißt, das muss an das Erfahrungslevel und Leistungslevel der jeweiligen Person angepasst sein. Sonst machen wir eigentlich das, was wir erreichen wollen, kaputt.
SPRECHERIN
Gamification ist also kein Wundermittel, das die Welt automatisch besser macht. Es kann uns manchmal helfen, den inneren Schweinehund zu überwinden - sei es beim Sprachenlernen oder beim Sport. Aber die spielerischen Elemente können auch missbraucht werden, etwa um aus Mitarbeitern noch ein paar Prozent mehr Produktivität herauszuquetschen und um schlechte Bezahlung und miese Arbeitsbedingungen mit ganz viel Gamifizierung-Glitter zu übertünchen. Doch seine düstersten Seiten zeigte Gamification 2019, bei den Terroranschlägen in Christchurch und in Halle.
Musik 6: Somber Secrets – 1:07 Min
ZUSPIELUNG
Tagessschau-Ausschnitt Halle
SPRECHERIN
In einschlägigen Online-Foren wurden die Opferzahlen wie Highscores behandelt, die es zu überbieten galt. Aus Mordopfern wurden Punkte, aus Grausamkeiten wurden "Achievements", also digitale Auszeichnungen, wie sie Spieler sonst für besondere Leistungen bekommen. Die gleichen Mechanismen, die uns sonst zum Sport oder zum Lernen motivieren sollen, wurden hier zur Inspiration für weitere Gewalttaten missbraucht, sagt der Kulturwissenschaftler Christian Huberts. Vor allem die Kommunikation rund um Terror wurde nach Spieleprinzipien organisiert.
ZUSPIELUNG 13 O-Ton 13
Also auch, dass dann Onlineportale sich mehr oder weniger darauf spezialisiert haben, eben auch den modernen Terrorismus als Highscore Liste zu betrachten und dort eben Opferzahlen sammeln. Vergleichen auch mit dem Ziel eben so im im Sinne eines stochastischen Terrorismus, um eben auch so Anreize zu schaffen und zu sagen, wer kann diese Highscore jetzt vielleicht noch brechen?
Musik 7: The right way round– siehe vorn – 36 Sek
SPRECHERIN
Gamification alleine macht die Welt also nicht zu einer besseren, wie Jane McGonigal 2011 prophezeit hat. Wie so oft in der Menschheitsgeschichte ist es ein Werkzeug, das nur so gut ist, wie die Intention derjenigen, die es benutzen. Zugleich zeigt sich ein interessantes Phänomen: Während die Arbeitswelt immer spielerischer werden soll, werden manche Computerspiele immer arbeitsähnlicher. "Workification" nennen Beobachter diesen Trend.
ZUSPIELUNG 14 O-Ton 14
Arbeit spielt eben auch als Thema eine große Rolle in Computerspielen. Und das ist ja jetzt grundsätzlich erstmal nicht falsch. So, Arbeit ist ja auch was Spannendes und ein Teil unseres Lebens, der sich auch spielerisch erkunden lässt. (…) Das hat, denke ich, auch eine entlastende Funktion, wenn sonst der Arbeitsalltag geprägt ist von von Druck, von existenziellen Druck und der Notwendigkeit, eben Geld zu verdienen.
SPRECHERIN
In Computerspielen arbeiten wir gerne, weil wir dort eigentlich nicht arbeiten müssen. Und umgekehrt wollen wir in der Arbeit möglicherweise gar nicht spielen, weil wir dann dort spielen müssen. Aber vielleicht können Computerspiele ja trotzdem einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten, wenngleich anders, als sich das Jane McGonigal damals vorgestellt hat. Und hier kommen sie dann doch wieder in Spiel, all die Abzeichen, die Punkte, die Levelaufstiege und Highscores.
ZUSPIELUNG 15 O-Ton 15
Also es gehört halt alles dazu. So ein bisschen wie wie Salz in der Suppe. Wenn es. Wenn es fehlt, ist es schlecht. Wenn es zu viel ist, schmeckt es nicht auch nicht gut.
ZUSPIELUNG ATMO 7 Beholder 3
SPRECHERIN
Jörg Friedrich ist Chef des Spielestudios Paintbucket Games. Eines seiner Spiele, through the darkest of times“ erzählt die Geschichte des zivilen Widerstandes im Nationalsozialismus. Ein anderes, Beholder 3, thematisiert Bespitzelung in einem autoritären Regime.
ZUSPIELUNG 15 weiter O-Ton 15, weiter
Es kommt echt immer drauf an, was man erzählen möchte und ob es dazu passt, finde ich. Also nicht überall passen Punkte dazu, nicht überall passen Abzeichen dazu. Man kann aber auch, finde ich, ganz interessante Sachen mit Punkten und Abzeichen erzielen an Orten, wo sie die Leute nicht erwarten. Oder man kann mit so klassischen Progressions und Punktesystem Leute etwas erzählen, was also was funktioniert, weil es in einem Game ist, aber eigentlich was erzählt, was vielleicht aus der realen Welt stammt.
ZUSPIELUNG Atmo 7, Beholder 3
SPRECHERIN
In Beholder 3 beispielsweise kann man Missionen erfüllen, ganz so wie in World of Warcraft und vielen anderen Spielen. Man schlüpft in die Rolle eines Spitzels in einem totalitären Staat, der seine Nachbarn ausspioniert und verpfeift. Und wie in jedem guten Rollenspiel bekommt man auch hier Erfahrungspunkte und steigt im Level auf - nur dass man diesmal keine Wildschweine jagt oder Drachen besiegt, sondern das Leben seiner Mitmenschen zerstört.
ZUSPIELUNG 16 O-Ton 16
Und das Ganze ist aber eben übertragen auf so ein totalitäres System und eigentlich ist es halt alles scheiße. Also du kriegst diese Punkte, du wirst die ganze Zeit belohnt. Ah gut, ich habe wieder Punkte bekommen, aber eigentlich ist es scheiße, weil du ... am Ende irgendwie total üble Dinge tust. Und das ist so diese Diskrepanz finde ich halt ganz, ganz spannend. Und deswegen mag ich so Systeme. Auch weil sie weil Leute einfach was damit anzufangen wissen und man sie dann anders verwenden kann, um interessante Dinge zu tun.
ATMO (Spielmusik aus World of Warcraft)
SPRECHERIN
Interessante Dinge tun - vielleicht liegt genau hier der Schlüssel. Nicht die spielerischen Elemente selbst sind gut oder schlecht, sondern was wir daraus machen. Sie können uns antreiben, mehr Sport zu treiben oder eine neue Sprache zu lernen. Sie können aber auch missbraucht werden, um Menschen zu manipulieren oder sogar zu Gewalt anzustacheln. Und manchmal können sie uns sogar helfen, die Welt besser zu verstehen: Wenn wir in einem Spiel wie Beholder 3 Punkte für moralisch verwerfliche Handlungen bekommen, spüren wir am eigenen Leib, wie Belohnungssysteme uns zu Dingen verführen können, die wir eigentlich ablehnen. (Atmo 1 World of Warcraft dazu) Am Ende ist es wie mit dem Wildschwein in World of Warcraft: Jeder Klick bringt uns Erfahrungspunkte - aber wohin die Reise geht, das entscheiden nicht die Punkte, sondern wir selbst.
In den weiten Steppengebieten Zentralasiens lebten über Jahrtausende Reiternomaden, die von Zeit zu Zeit auch in den Westen vorrückten. Vom 5. bis ins 10. Jahrhundert nach Christus gründeten Hunnen, Awaren und Ungarn in Europa drei aufeinander folgende frühmittelalterliche Reiche. Autor: Thomas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Loibl, Christopher Mann
Technik: Laura Picerno
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Arnold Muhl, Kurator am Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 (Hosoo und Transmongolia: Sankhnu ayalguu 0’16) / MUSIK 2 (Hosoo und Transmongolia: Temuulel 0’30)
Erzähler
„Ex oriente lux“ – lautet ein lateinisches Schlagwort: „Aus dem Osten kommt das Licht!“ Gemeint ist das Tageslicht der aufgehenden Sonne. Manchmal aber erschienen am östlichen Horizont auch dunkle Wolken. Staubwolken, aus denen urplötzlich furchteinflößende, schreiende Gestalten auf kleinen Pferden heraus stürmten.
Zitator
„Gedrungene“ Figuren mit „starken Gliedern“ und „muskulösen Nacken“, „entsetzlich entstellt und gekrümmt“, sodass man sie für „zweibeinige Bestien“ halten könnte.
Erzählerin
Schreibt der römische Historiker Ammianus Marcellinus im späten vierten Jahrhundert nach Christus. Die berittenen Fremdlinge, die Ammianus in seiner Römischen Geschichte dämonisiert, kommen aus den Weiten Zentralasiens. Es sind die Hunnen, die als erstes Steppenvolk bis nach Mittel- und Westeuropa vorstoßen.
Erzähler
Für die Römer sind sie nur wilde „Barbaren“ ohne festen Wohnsitz. Auf dem Rücken ihrer Pferde lebend, ziehen sie – stets gierig nach Gold – plündernd, mordend und brandschatzend durch die Lande.
Erzählerin
Was die Historiker der Spätantike über die Hunnen berichten, ist nicht völlig falsch, aber voller Klischees und Stereotype. Und genau dieses Bild vom grausamen Steppenkrieger hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben und lange nachgewirkt.
MUSIK 3 (Hannes Treiber: Mongolian Mystery 0‘39)
Erzähler
Denn nach den Hunnen kamen in den folgenden Jahrhunderten weitere Reiternomaden: Awaren, Magyaren, Mongolen. Dass diese zähen und kampferprobten Steppenreiter mehr waren als nur marodierende Invasoren und blutrünstige Krieger, belegen heute viele archäologische Befunde und wertvolle Kunstschätze. Als Hirten, Handwerker und Händler brachten sie ihre eigenen Moden, Bräuche und Technologien mit nach Europa.
ATMO MUSEUM GERÄUSCHE
Erzähler
Im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale waren 2023 zahlreiche Nomaden-Schätze zu bewundern. Prunkvolle Anhänger aus Gold und Granate, reich verzierte hunnische Gürtelschnallen und Fibeln oder eine künstlerisch gestaltete Schale mit einem gehörnten Löwen aus einem awarischen Schatz. „Reiternomaden in Europa“ hieß die Ausstellung, die ihre Besucher in eine schillernde Welt entführte:
MUSIK 4 (Christophe Delabre: Nomade 0’30)
Erzählerin
Die Welt der Hunnen, Awaren und Ungarn. Vom 5. bis ins 10. Jahrhundert nach Christus gründeten sie in Europa drei aufeinander folgende frühmittelalterliche Reiche. Ihre Basislager schlugen sie am westlichsten Rand der eurasischen Steppenzone auf. Diese unendlich weite Landschaft erstreckt sich über 7000 Kilometer, von der Mongolei und dem Nordwesten Chinas bis ins heutige Ungarn und an die Ostgrenze Österreichs.
Erzähler
In der pannonischen Tiefebene, dem sogenannten Karpatenbecken, fanden die Nomadenvölker vertrautes Terrain, sagt Arnold Muhl, Kurator am Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle. Denn Klima und Vegetation waren hier ganz ähnlich wie in den kargen Gegenden Innerasiens. Dort war es oft sehr heiß, aber auch sehr kalt, in jedem Fall aber trocken und für Ackerbau ungeeignet.
ZSP 1 Muhl Halbwüsten 0,17
Also verlegt man sich auf die Viehwirtschaft, und zwar anspruchslose Tiere. Und damit das überhaupt trägt, muss das auch eine gewisse Anzahl sein. Aber dafür muss ich halt die verschiedensten Weideplätze aufsuchen und wenn irgendwas abgegrast ist, dann muss ich halt dann wirklich schon mehrere Dutzend Kilometer weiterziehen.
Erzähler
Die Reiterhirten waren also ständig unterwegs mit ihren Herden – mit Kamelen, Schafen, Ziegen, Rindern, vor allem aber mit Pferden. Bevor Kleinkinder richtig laufen konnten, saßen sie schon auf dem nicht allzu hohen Ross. Gut reiten zu können, das war für Hirten überlebenswichtig. Denn auch inner-nomadische Konkurrenzkämpfe um gute Weideplätze waren keine Seltenheit.
ZSP 2 Muhl Pferd 0,16
Nicht umsonst ist das Pferd das verehrteste Tier bei den Reiternomaden. Wir wissen schon, dass im vierten Jahrtausend vor Christus die Leute dort Pferdewirtschaft betrieben, und das Pferd ist aus dieser Art der des Wirtschaftens nicht herauszudenken.
MUSIK 5 (A Girl’s Dream. Traditional 0’40)
Erzählerin
Wer als Hirte ständig unterwegs ist, reist besser mit leichtem Gepäck. Auch dauerhafte Behausungen wären hinderlich. Deshalb haben sich bei den Reitervölkern die Jurten durchgesetzt. Jene traditionellen Nomaden-Zelte, die in Kasachstan, Kirgisien und der Mongolei bis heute weit verbreitet sind.
Erzähler
Die in Halle ausgestellte kirgisische Jurte hat einen Durchmesser von etwa acht und eine Höhe von vier Metern. Ihre runde Form bietet wenig Angriffsfläche für den kalten Wind der Steppe. Vor allem aber lässt sich so eine Jurte leicht auf- und abbauen.
ZSP 3 Muhl Jurte 0,15
Diese geniale Konstruktion, die hat sich über die Jahrtausende bewährt. Ein Scherengitter, das sie zusammenklappen können. Dann einzelne Spanten, die auch sehr leicht sind, und sofort haben sie, wenn sie noch viel Filz haben, eine wunderbare, warme Behausung.
MUSIK 6 (Michail Ignatieff: Kasachisches Lied 0’22)
Erzählerin
Pferd und Jurte haben eine lange Tradition. Bereits 1000 Jahre vor dem Einzug der Hunnen berichtet der antike griechische Historiker Herodot im fünften vorchristlichen Jahrhundert von den Kimmeriern und den Skythen. Die Kimmerier – eine Föderation von einzelnen Stammesgruppen – tauchten im zehnten Jahrhundert vor Christus am östlichen Rand Europas auf.
ZSP 4 Muhl Kimmerier 0,13
Es gibt einige wenige Spuren, aber das waren eben auch Reiternomaden. Und die wollten hier gar nicht siedeln. Das wäre auch gar nicht ihr Lebensraum gewesen, sondern man suchte schon Profit zu schlagen, vor allem durch Sklaverei, Sklavenhandel.
Erzählerin
Mitte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts werden die Kimmerier vertrieben, von den Skythen, die in den Steppengebieten der Ukraine und Südrusslands das erste Nomadenreich Europas errichten. Auch für diese Reiternomaden ist der Menschenhandel ein lukratives Geschäftsmodell.
ZSP 5 Muhl Sklaven 0,16
Bei den Skythen ist es haargenau das Gleiche. Und letztendlich wissen wir das auch von den Awaren und den Magyaren, also die sogenannten Ungarn. Und später auch die Mongolen. Das war ein festes Budget, das schon eingeplant ist, dass man Leute versklavt und verkauft.
MUSIK 7 (Kudabay Abyshev: Koychulardyn kongur küü 0’31)
Erzählerin
Tausend Jahre, nachdem Kimmerier und Skythen aus der Weltgeschichte verschwunden waren, tauchten die Hunnen in Europa auf. Über ihre genaue Herkunft und Ethnizität streiten die Gelehrten. Eine direkte Abstammung von den chinesischen Reiternomaden der Xiongnu (sprich Schungnu) hält die neuere Forschung für unwahrscheinlich. Eventuell könnte der prestigeträchtige Name „Hunnen“ von anderen, ethnisch heterogenen Reiternomaden-Gruppen übernommen worden sein.
ZSP 6 Muhl Hunnen 0,24
Wir wissen aber nur, dass diese Hunnen tatsächlich aus der Mongolei kamen und dann nach dem Prinzip einer Wanderlawine viele Völker mit sich gerissen haben. Zum Schluss tauchten die irgendwo auf und haben gesagt: Passt mal auf, entweder ihr werdet Hunnen oder ihr sterbt. Da haben die meisten gesagt: Ja, machen wir halt mit. Und es gab hier natürlich auch viel zu verdienen. Also der Khan der Hunnen der hat nur damit zu tun gehabt, alle Leute zufriedenzustellen.
Erzähler
Vielleicht rührt daher jene „schreckliche Begierde“, „fremdes Gut zu rauben“, wie der Historiker Ammianus klagt. Für ihn waren die Hunnen, die seit 375 nach Christus das Abendland aufmischten und eine zweihundert Jahre dauernde Völkerwanderung auslösten, die furchtbarsten aller Krieger,
Zitator
weil sie im Fernkampf mit Pfeilen kämpfen, die mit spitzen Knochen anstelle von Pfeilspitzen (…) zusammengefügt sind.
Erzähler
In der Halleschen Ausstellung war ein Lendenwirbelknochen zu sehen, durchschlagen von einer hunnischen Pfeilspitze. Eine tödliche Verletzung, die nicht selten war. Denn die geschwungenen Reflexbögen der Hunnen schleuderten die Pfeile mit enormer Wucht, sagt Kurator Muhl.
ZSP 7 Muhl dreikantig 0,13
Das durchschlägt alles. Und das Problem ist, die Pfeile sind nicht normal wie bei uns, zweikantig, sondern dreikantig. Und das ist ein Problem, denn dreikantige Wunden, die wachsen nicht von alleine zu. Die kann ich auch ganz schlecht nähen. Also das ist absolut tödlich.
Erzählerin
Vor allem, wenn hunderte solcher Geschosse auf die Gegner niedergehen. Wie man sich so einen Pfeilhagel vorstellen muss, zeigte ein Videofilm in der Ausstellung. Der ungarische Bogenbauer Lajos Kassai, Jahrgang 1960, ist ein Meister des traditionellen Pferdebogenschießens. Ohne Sattel reitet er im vollen Galopp und schießt seine Pfeile im Sekundentakt ab – nach vorne, nach hinten, zur Seite. Selbst im Sprung trifft Kassai noch ein ums andere mal ins Ziel.
ZSP 8 Muhl Video 0,15
Mit einer Frequenz schießt er da und trifft jedes Mal. Also das ist irre. Und die konnten das alle. So was gab´s in Europa gar nicht. Und wenn davon 300 Leute auf einen zukommen, dann machen sie gar nichts mehr. Dann nützt ihr kleiner Schild und ihr kleines Kettenhemdchen gar nix.
Erzähler
Kein Wunder, dass die Steppenkrieger gefürchtet waren. Zumal sie auch recht exotisch aussahen. Allerdings waren nur 20 Prozent der hunnischen Krieger vom Phänotyp erkennbar asiatisch, sagen Wissenschaftler. Viele hunnische Verbündete waren nämlich Germanen, Alanen oder Sarmaten. Ein buntes Völkergemisch also, allerdings nur an der Basis.
ZSP 9 Muhl hunnischer Kern 0,20
Die Hunnen haben immer die Oberschicht gestellt. Die Familie um Attila beispielsweise und seine Söhne und seine Brüder, die stellten den Kern. In dieses beratende Gremium, in diesen Generalstab konnten natürlich dann auch germanische Häuptlinge und sarmatische Häuptlinge mit aufsteigen. Das ist kein Problem. Aber die Zügel in der Hand hatte immer dann tatsächlich die asiatische Familie.
MUSIK 8 (B. Ashra: Dark Nature 0’53)
Erzählerin
Der legendenumrankte, charismatische Hunnenkönig Attila ging als „Geißel Gottes“ ins kollektive Gedächtnis ein. Seit 444 Alleinherrscher der Hunnen, führte er sein Heer bei Kriegszügen gegen Ost- und Westrom bis nach Mittel- und Westeuropa. Zum militärischen Showdown mit Westrom kam es dann im Nordosten Frankreichs.
Erzähler
Dort traf Attilas Heer im Juni 451 auf den einstigen Verbündeten Flavius Aëtius. Der war zwischenzeitlich der mächtigste Mann Westroms. Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern verlief für beide Seiten sehr verlustreich und endete ohne klaren Sieger. Attilas Nimbus aber war danach zerstört, sagt Arnold Muhl.
ZSP 10 Muhl Attila 0,31
Die Hunnen sind nur so lange erfolgreich, wie Attila es schafft, andere zu besiegen, sich genügend Gold oder Besitztümer anzueignen, die er verteilen kann. Jetzt kommt er dann aber auf die Katalaunischen Felder, trifft auf Aëtius, der selber auch bei den Hunnen eine Zeit lang gelebt hat. Der kennt die Taktik. Und dann passiert eines: Attila gewinnt nicht. Es wird zwar immer gesagt, er hätte verloren. Stimmt nicht. Es ging unentschieden aus, aber Attila zog sich zurück, weil er gemerkt hat: Da kommt er nicht weiter. Und da hieß es: Oh, der ist ja doch nicht unschlagbar.
Erzählerin
Im Jahr nach der unentschiedenen Schlacht stirbt Attila. Seine Söhne können nicht an die Erfolge des Vaters anknüpfen. Es folgen militärische Niederlagen und bald auch inner-hunnische Konflikte. Das Konstrukt ihrer Herrschaft zerfällt. Und die Clans ziehen mit ihren Herden zurück in die Steppe.
MUSIK 9 (Christophe Delabre: Nomade 0’31)
Erzähler
Die Geschichte der Hunnen in Europa dauert nur 80 Jahre. Entsprechend gering sind die Siedlungsspuren, die sie hinterlassen haben. Aber das Bild vom blutrünstigen Steppenkrieger prägen sie höchst nachhaltig. Jahrhundertelang wird es in den Köpfen der Europäer herumspuken.
Erzählerin
Teils zu Unrecht, wie Wissenschaftler der englischen Universität Cambridge zeigen konnten. Viele der ehemaligen Reiternomaden waren nämlich sesshaft geworden und trieben Viehzucht. Die angeblich so wilden Hunnen lebten mit den lokalen Bauern friedlich zusammen, sie waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden.
MUSIK 10 (Kudabay Abyshev: Koychulardyn kongur küü 0’41)
Erzähler
Ein Jahrhundert nach den Hunnen tauchen wieder Reiternomaden in Europa auf – das Turkvolk der Awaren. Ihre ethnischen Wurzeln sind unklar, fest steht nur: Auch sie kamen aus der Mongolei. In den Steppen Asiens war der Name „Awaren“ damals weit verbreitet. Gleich mehrere nomadische Gruppen nannten sich so.
Erzählerin
Als Mitte des sechsten Jahrhunderts in der Mongolei das Steppenreich der Róurán zerfiel, machte sich einer dieser Stammesverbände auf den Weg nach Westen. An die 20.000 Awaren-Krieger mit ihren Familien zogen in kleineren Gruppen nach Europa und siedelten zunächst an der unteren Donau. Im Jahr 568 nahmen sie das Karpatenbecken in Besitz.
Erzähler
Ihr Reich sollte 250 Jahre bestehen. Zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung erstreckte es sich vom heutigen Niederösterreich bis weit nach Rumänien hinein. Dort hatten die Awaren ihre Verwaltungs- und Machtzentren. Aber sie blieben weiterhin mobil, sagt Arnold Muhl.
ZSP 11 Muhl mobil 0,16
Man weiß zum Beispiel von den Awaren, dass sie auch ihre Kontakte bis weit bis 3000 oder 4000 Kilometer in die Steppe zurückhalten. Also da gibt es Heiratsverbindungen, das heißt, die bleiben nicht hier, sondern das ist wie die Seidenstraße auf und ab. Man kommuniziert miteinander. Und das wissen wir übrigens durch die genetischen Untersuchungen.
MUSIK 11 (Slagr: Lyngdalen0’47)
Erzähler
Die Krieger der awarischen Oberschicht zeigten sich traditionsbewusst. Selbst wenn sie schon sesshafter geworden waren, verstanden sie sich weiter als Nomaden, die ihre Tracht und Umgangsformen bewahrten. In der Ausstellung von Halle stand gleich am Eingang die Rekonstruktion eines höchst eindrucksvollen Awarenreiters auf seinem Pferd.
Erzählerin
Stolz und wild entschlossen dreinblickend, mit langen, geflochtenen Haaren und zotteligem Vollbart, in seiner Rechten eine Lanze, so als wolle er den kostbaren Goldschatz in der Vorhalle des Museums verteidigen. Dieser awarische Panzerreiter, sagt Kurator Muhl, verkörpert auf perfekte Weise den Steppenkrieger des Frühmittelalters.
ZSP 12 Muhl awarischer Reiter 0,13
Man sieht an ihm alles, was ein Reiternomade braucht. Seinen Bogen, sein Schwert, seine Lanze, ein sehr fittes Pferd, einen Sattel. Und als Aware natürlich Steigbügel. Damit hat er alles, was er braucht.
Erzählerin
Und was dem Gegner Angst einjagt. Kein Heer, nicht einmal das byzantinische, war damals in der Lage, sich diesen Panzerreitern erfolgreich zu widersetzen. Was auch an der Rüstung der Awaren lag.
ZSP 13 Muhl Lamellen 0,12
Das sind Lamellen aus Eisen, kleine Lamellen, die man zu einem ganz beweglichen Panzer zusammengeschnürt hat und die viel besser gegen Pfeile helfen als Kettenhemden. Damit war man doch relativ gut geschützt.
Erzähler
Als Angriffswaffe diente den Awaren der sogenannte Kompositbogen. Zusammengesetzt aus einem Holzteil, das auf der Innenseite mit Sehnen zusammengeleimt und auf der Rückseite mit einem dünnen Horn verstärkt ist, entwickelt er eine hohe Durchschlagskraft. Der untere Bogenteil ist kürzer als der obere. Dadurch werden die awarischen Kämpfer zu Pferd beweglicher.
Erzählerin
Sie überraschen den Feind mit blitzschnellen Attacken, schießen reitend ihre Pfeile ab und fechten mit gekrümmten Säbeln. Entscheidend für diese Art des Kämpfens ist ein kleines Utensil, das dem Reiter Halt gibt: der eiserne Steigbügel. Erst die Awaren haben diese revolutionäre Erfindung nach Europa gebracht, sagt Arnold Muhl.
ZSP 14 Muhl Steigbügel 0,20
Das ist eine tatsächlich entscheidende Änderung, weil das verändert das Reiten völlig. Vorher gab es diesen Steigbügel nicht. Heute erscheint uns das völlig selbstverständlich. Aber wenn man bedenkt: Römer, Griechen, die hatten keinen. Und erst mit dem Steigbügel ist ein Reiten, wie man es dann später bei der Kavallerie oder beim Rittertum sieht, erst möglich.
Erzähler
Panzerrüstung, Steigbügel, Säbel – das Erbe der Steppe besteht vor allem aus militärischen Neuerungen, die die Armeen des Westens später übernommen haben. Ohne die Awaren wäre also das europäische Rittertum des Mittelalters gar nicht denkbar.
MUSIK 12 (Hosoo und Transmongolia: Temuulel 0’36)
Erzähler
Die Schätze der Awaren sind fast sprichwörtlich. Das meiste Gold aber haben sie nicht durch Kampf und Raub eingeheimst, sondern durch Schutzzahlungen und diplomatische Geschenke. Denn die Awaren waren in Europa schnell zum politischen Player aufgestiegen, zu einem Faktor im Machtgefüge.
Erzählerin
566 hatten sie die Franken besiegt und im Jahr darauf die ostgermanischen Gepiden in Pannonien unterworfen. Um ihren Machtbereich auch auf dem Balkan zu erweitern, wandten sich die Awaren schließlich gegen Byzanz und belagerten im Jahr 626 die schwer befestigte Hauptstadt Konstantinopel. An deren Mauern aber bissen sich die awarischen Panzerreiter und Bogenschützen letztlich die Zähne aus, sagt Arnold Muhl.
ZSP 15 Muhl Verlust 0,23
Also die holen sich da eine ziemlich blutige Nase, sind dann ziemlich geschwächt. Auch Teile ihrer unterworfenen Slawen lösen sich dann auf, ein Teil ihrer Macht geht flöten. Und die Franken nutzen die Situation und greifen die ein paar Mal an. Das führt zu einem gewissen Substanzverlust letztendlich. Aber erst tatsächlich, als sie untereinander zerstritten sind, sind die dann so schwach, dass sie dann einzeln aufgerieben werden.
Erzähler
Ende des 8. Jahrhunderts erobert und plündert Frankenkönig Karl, der spätere Kaiser Karl der Große, das wohlhabende Awarenreich im Donau-Theiß-Zwischenstromland. Nur zwei Jahrzehnte später sind die Awaren aus den Annalen verschwunden. Ihr 250 Jahre währendes Reich ist Geschichte. Und die Reste der awarischen Bevölkerung gehen in anderen Volksgruppen auf.
MUSIK 13 (Hosoo und Transmongolia: Sankhnu ayalguu 0’28)
Erzähler
Aber es dauert keine hundert Jahre, da tauchen aus den Steppen Asiens erneut Reitervölker auf. Die Ungarn oder Magyaren, wie sie sich selbst nennen. Ihre Urheimat lag östlich des Urals, und ihr Idiom, das zur finno-ugrischen Sprachenfamilie gehört, klang in europäischen Ohren reichlich fremd. Auch sie lassen sich in der pannonischen Tiefebene nieder. Und starten von hier aus ihre Raubzüge.
Erzählerin
Wie ein Wirbelsturm fegen die Ungarn Ende des 9. Jahrhunderts über Mitteleuropa hinweg. Leicht gerüstet und äußerst wendig, führen sie blitzschnelle Reiterattacken aus. Die schwerfälligen gepanzerten Fußsoldaten des bayerischen Heeres erleiden im Jahr 907 vor Pressburg eine vernichtende Niederlage gegen diese pfeilschnellen Madjaren. Die werden zur permanenten Bedrohung. Sie zerstören Dörfer und plündern Klöster. In ihre Pfeilspitzen bohren sie Löcher. Dadurch entsteht im Flug ein heulendes, pfeifendes Geräusch, das die Gegner in Angst und Schrecken versetzt.
Erzählerin
Die ostfränkische Landbevölkerung verschanzt sich hinter hohen Erdwällen und tiefen Gräben. Oft genug vergeblich. Wie schon die Hunnen ein halbes Jahrtausend zuvor werden auch die magyarischen Reiternomaden zum Alptraum Europas. Als blutsaufende Bestien verschrien, galten sie als Vorboten einer drohenden Apokalypse. Die schriftkundigen Mönche sahen in den schamanistischen Heiden den personifizierten Satan. Aber waren diese Ungarn wirklich so grausam wie sie beschrieben werden?
ZSP 16 Muhl erfolgreich 0,22
Nicht grausamer als die anderen. Das hat sich damals nicht viel gegeben. Ein Menschenleben zählte nicht so besonders viel. Aber sie waren halt erfolgreich wieder durch ihre Reiterei, auch mit ihren Säbeln waren sie ein bisschen besser ausgerüstet. Also das war für die Leute kein Spiel, wenn die hier anrückten. Weil auch die wieder militärisch so erfolgreich waren, dass man dem wenig entgegenzusetzen hatte.
Erzählerin
Mitte des 10. Jahrhunderts enden die Ungarneinfälle. König Otto I. kann 955 auf dem Lechfeld vor den Toren Augsburgs das militärisch weit überlegene ungarische Heer vernichtend schlagen. In den Jahrzehnten danach wird das Nomadenvolk langsam sesshaft. Und gut katholisch. Fürst Stephan christianisiert seine heidnischen Magyaren und gründet im Jahr 1000 das Königreich Ungarn. Als einziges der bedeutenden Steppenvölker können sich diese Ungarn in Mitteleuropa bis heute behaupten.
MUSIK 14 (Hosoo und Transmongolia: Sankhnu ayalguu 0’49)
Erzähler
Aber schon Mitte des 13. Jahrhunderts tauchten erneut Reiternomaden auf. Die mongolischen Stämme der Goldenen Horde unter Batu Khan dringen bis Niederschlesien, Ungarn, Mähren und Niederösterreich vor.
Erzählerin
Hunnen, Awaren, Ungarn, Mongolen. Die Geschichte der Reiternomaden auf dem europäischen Kontinent ist lang, auch wenn manche ihrer Reiche nur kurz bestanden. Als Krieger, aber auch als Hirten und Händler haben die eurasischen Steppenvölker Spuren hinterlassen. Sie sind Teil unserer europäischen Geschichte.
Kreuzottern sind die einzigen Giftschlangen Bayerns. Angst müssen Menschen aber nicht haben: Weil ihre Lebensräume immer kleiner werden, sind die Schlangen mit dem typischen Zickzackmuster inzwischen selten. Von Claudia Steiner
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Irina Wanka
Technik: Anton Wunder
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Paul Hien, Reptilienexperte und Tierfilmer
Max Prietzel vom Bayerischen Artenschutzzentrum am Bayerischen Landesamt für Umwelt
Tobias Windmaißer Bund Naturschutz in Bayern
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Linktipps:
Die Alpenkreuzotter aus der Zeitschrift für Feldherpetologie HIER
Kreuzottern - faszinierend und gefährdet - Website des Bayerischen Landesamt für Umwelt HIER
Lebensräume der Kreuzotter kennen und schützen Website NABU Baden-Württemberg HIER
Scheue Sonnenanbeterin - Die Kreuzotter im Porträt Website NABU HIER
Kreuzotter - Vipera berus Website Herpetofauna.at HIER
Achtung Kreuzotter - ARD Mediathek HIER
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ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO Wald
01 Zsp Kreuzotter Paul Hien
Kreuzottern sind in mehrerlei Hinsicht Schlangen der Superlative. Also, es fängt schon mal an, dass sie die größte Verbreitung aller Landschlangen der Welt hat. Das reicht von Schottland quer durch Eurasien bis hinter fast bis nach Japan. Und in Europa geht sie zum Beispiel in Norwegen sogar über den nördlichen Polarkreis raus – als einzige Schlange der Welt. Und im Süden bis zum Balkan. Und in ihrem Riesengebiet hat man mittlerweile schon mehrere Unterarten beschrieben.
MUSIK „Nomad Theme“; ZEIT: 01:16
SPRECHERIN
… sagt der Reptilienexperte und Tierfilmer Paul Hien. Er berät den Nationalpark Bayerischer Wald und gibt dort Kreuzotter-Führungen. In Deutschland begegnet man Kreuzottern unter anderem in der Norddeutschen Tiefebene und in den östlichen Mittelgebirgen. In Bayern kommen die Schlangen mit dem typischen Zickzackmuster auf dem Rücken vor allem im Norden, im Voralpenland und in den Alpen vor, sogar bis auf eine Höhe von über 2.200 Metern, in der Schweiz sogar bis auf 3.000 Höhenmeter.
MUSIK kurz hoch
SPRECHERIN
2024 war die Kreuzotter in Deutschland „Reptil des Jahres 2024“. Doch die einzige Giftschlange Deutschlands wird immer seltener. Inzwischen wird sie bundesweit auf der Roten Liste geführt. Sie gilt als stark gefährdet. Im Freistaat ist die Schlange in Gebieten außerhalb des Alpen- und Alpenvorlandes sogar vom Aussterben bedroht. Sie zu töten, steht unter Strafe. Das war nicht immer so. Die gut getarnte Kreuzotter war lange gefürchtet, denn beim Torfstechen, bei der Heuernte oder bei Waldarbeiten kam es immer wieder zu Begegnungen zwischen Tier und Mensch und manchmal auch zu schmerzhaften Bissen. Der Amphibien- und Reptilienexperte Max Prietzel vom Bayerischen Artenschutzzentrum am Bayerischen Landesamt für Umwelt.
MUSIK ENDE
02 Zsp Kreuzotter Max Prietzel
Es wurden tatsächlich auch Kopfgeldprämien auf erschlagene Tiere ausgezahlt. Das lief tatsächlich auch noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts, also nach dem Zweiten Weltkrieg.
SPRECHERIN
Im 19. Jahrhundert wurden allein um Baiersbronn im Schwarzwald pro Jahr rund 100 getötete Schlangen abgeliefert. Laut NABU Baden-Württemberg sind auf diese Weise im Nordschwarzwald die Bestände in nur 100 Jahren um etwa 90 Prozent zurückgegangen. Hinzu kommt, dass der Lebensraum der Schlangen immer kleiner wird. So wurden zum Beispiel in Bayern zahlreiche Flüsse wie der Lech und die Isar begradigt. Flussauen verschwanden. Auch viele Moore wurden trockengelegt, riesige Flächen versiegelt. Max Prietzel:
03 Zsp Kreuzotter Max Prietzel
Und natürlich kam dann auch noch die land- und forstwirtschaftliche Intensivierung mit dazu, also die Umwandlung gerade von diesen Standorten und Lebensräumen, die davor nicht ganz so in der Nutzung waren.
SPRECHERIN
So sind nach und nach wichtige Strukturen für die in Bayern etwa 50 bis 70 Zentimeter lange Schlange verlorengegangen.
MUSIK „Natural Harmony“; ZEIT:. 00:49
SPRECHERIN
Die zur Familie der Vipern gehörenden Reptilien sind wechselwarm. Das heißt, ihre Körpertemperatur hängt von der Umgebungstemperatur ab. Besonders agil sind die Schlangen, wenn es warm ist. Morgens suchen sie gerne lichte Stellen zum Beispiel in der Nähe von Heidelbeersträuchern auf, um sich dort ungestört in die Sonne zu legen. Sie können ihre Rippen abspreizen: Dadurch wird ihre Körperoberfläche größer und sie können noch mehr wärmende Sonnenstrahlen einfangen. Sonst mögen Kreuzottern aber eher kühle und feuchte Lebensräume wie Heide, Torfmoore und Grasland mit Tümpeln. Paul Hien:
MUSIK ENDE
04 Zsp Kreuzotter Paul Hien
Kreuzottern haben relativ hohe Ansprüche an ihren Lebensraum. Ich nenne sie immer den Mercedes unter den Kriechtieren, also da wo es die Kreuzotter noch gibt, da gibt es eigentlich die anderen Arten auch noch alle und eine Kreuzotter braucht halt richtige Wildnis.
SPRECHERIN
Als Unterschlupf – auch im Winter - suchen sie sich frostsichere Steinhaufen, Felsspalten, Totholzhaufen, Mäusegänge oder Lücken im Wurzelwerk großer Bäume. Im Bayerischen Wald zum Beispiel wurden früher aus Äckern Steine und Felsbrocken gelesen, um Flächen für die Landwirtschaft nutzbar zu machen. Die Steine wurden entlang der Felder und Äcker aufgeschüttet – diese Haufen waren ideale Sonnenplätze und Rückzugsorte für die Ottern. Doch diese Strukturvielfalt gibt es inzwischen nur noch in wenigen Regionen.
ATMO Wald
SPRECHERIN
Deshalb braucht die Kreuzotter inzwischen Unterstützung. Ein großes Naturschutzprojekt in Deutschland, das auch der Viper zugutekommt, ist das Grüne Band entlang der etwa 1.400 Kilometer langen, ehemaligen Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland. Hier – entlang des Eisernen Vorhangs – wurde der Grenzstreifen 40 Jahre lang aus militärischen Gründen offengehalten und nicht landwirtschaftlich genutzt. Naturschützer versuchen, den Artenreichtum dort zu erhalten.
MUSIK „Roof of the world”; ZEIT: 00:52
SPRECHERIN
Und dann gibt es noch das Grüne Band Europa, das vom Eismeer im Norden bis zur Adria und dem Schwarzen Meer reicht. Im Grenzbereich zwischen Bayern und heute Tschechien gab es viele Jahre ein absolutes Sperrgebiet auf tschechischer Seite, in dem die Natur sich selbst überlassen wurde. Der Innere Bayerische Wald wiederum war lange und ist vielerorts immer noch von kleinbäuerlicher Landwirtschaft geprägt. Die Region ist bekannt für ein artenreiches Mosaik aus Kultur- und Naturlandschaften, doch auch hier verändert sich die landwirtschaftliche Nutzung. Deshalb versuchen Naturschützer, die Vielfalt zu bewahren oder wieder aufzubauen. Tobias Windmaißer ist beim Bund Naturschutz in Bayern für die Vernetzung des Grünen Bandes im Inneren Bayerischen Wald zuständig.
MUSIK ENDE
05 Zsp Kreuzotter Tobias Windmaißer
Wir konnten auf mehreren Flächen die Attraktivität für die Kreuzotter erhöhen, dadurch dass wir Totholzhaufen und Lesesteinriegel angelegt haben. Viele Flächen werden extensiv beweidet und Teilbereiche nur sporadisch gemäht. Das alles führt zu einer höheren Strukturvielfalt auf der Fläche. Und zum Beispiel brauchen junge Kreuzottern als Nahrung die Hüpferlinge, also die Larven von Amphibien wie dem Grasfrosch. Die kommen natürlich nur vor, wenn auf der Fläche auch Tümpel oder kleine Gewässer vorliegen. Und die haben wir aktiv reaktiviert oder neu angelegt. Und das in der Summe führt dann dazu, dass die Flächen für die Kreuzotter besser geeignet sind.
SPRECHERIN
Solche Maßnahmen zeigen Wirkung: Auf einigen wenigen, besonders abwechslungsreichen Flächen im Bayerischen Wald können Experten zuletzt zur Paarungszeit mehrere Tiere auf einmal beobachten. Tobias Windmaißer:
06 Zsp Kreuzotter Tobias Windmaißer
Und mittlerweile ist dieses Gebiet in Anführungszeichen eine Paarungsarena geworden für die Kreuzotter. Und dort wurden schon einmal über zwei Dutzend Exemplare auf einmal gezählt. Sowas ist allerdings wirklich eine Seltenheit.
SPRECHERIN
In Bayern kommen die Schlangen inzwischen nur noch in abgegrenzten Gebieten vor. Ziel der Umweltschützer ist es, die Lebensräume zu erhalten und falls möglich - die Gebiete wieder zu vernetzen, so dass es zu einem genetischen Austausch kommt. Oft sind die Populationen aber so stark isoliert, dass dies schwierig ist. Max Prietzel vom Bayerischen Artenschutzzentrum:
07 Zsp Kreuzotter Max Prietzel
Kleine, stark isolierte Populationen, denen fehlt natürlich der genetische Austausch und das kann natürlich durch genetische Prozesse zu einer Verarmung (…) und dementsprechend zu geringerer Reproduktion bis hin zum Aussterben der Population führen. (…) Es laufen tatsächlich Studien, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, unter anderem in Schweden gibt es ein sehr ausführliches Beispiel, da wurde eine Population (…) über mehrere Jahre untersucht und die war eben stark verarmt und man hat dann aus einer nahen Population einzelne Tiere, in dem Fall männliche Tiere, in diese Population eingebracht und konnte eben relativ schnell Erfolge sehen.
SPRECHERIN
Die Reproduktionsrate stieg, heißt: es gab wieder mehr Jungtiere. Aber auch die Zahl der Tiere insgesamt nahm zu. In Bayern greift man noch nicht zu solchen Maßnahmen, sagt Max Prietzel.
08 Zsp Kreuzotter Max Prietzel
Da ist ein weiteres Problem natürlich, dass wir aktuell tatsächlich noch zu wenig zur Genetik der Art selber wissen, also erst vor relativ kurzer Zeit, (…) ist eine neue genetische Unterart, die Alpenkreuzotter, auch in Bayern festgestellt worden und da ist es natürlich so, dass man, wenn man da Tiere aus sehr stark unterschiedlichen Regionen miteinander verbringt, dass dann natürlich da auch Effekte auf die genetische Diversität wirken, also dass das natürlich auch zu Nachteilen führen kann. Dementsprechend brauchen wir da eigentlich erstmal noch deutlich fundiertere Daten, um in diese Richtung denken zu können.
ATMO Donner & Regen, Wind
MUSIK privat Take 009 „Dusty Rain”; Album: Mind of Tesla; Label: CD Baby; Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino; ZEIT: 00:29
SPRECHERIN
Je nach Witterung suchen sich die Schlangen im Herbst oder Spätherbst ein Winterquartier – zum Beispiel frostsichere Höhlen oder Hohlräume unter Steinhaufen. Etwa von Oktober bis März verbringen die Tiere, die sonst als Einzelgänger unterwegs sind, dann oft zusammen mit Artgenossen. Sie müssen etwa ein halbes Jahr ohne Nahrung auskommen. Völlig regungslos sind sie aber auch im Winter nicht.
MUSIK ENDE
MUSIK „Particle“; ZEIT: 01:20
SPRECHERIN
Im Frühjahr kommen dann zunächst die Männchen aus ihren Winterquartieren. Sie legen sich in der Nähe ihres Schlafplatzes zum Aufwärmen in die Sonne. In diesen Wochen reifen ihre Spermien. Ab April häuten sich die Reptilien dann. Da die Haut nicht mitwächst, muss die zu klein gewordene Haut regelmäßig abgestreift werden. Dies geschieht vier bis fünf Mal im Jahr, indem die Tiere zum Beispiel über Steine oder Baumstümpfe kriechen. Dabei wringen sie sich aus der zu eng gewordenen Haut wie Menschen aus einer zu engen Jeans. Zurück bleibt das sogenannte Natternhemd. Im neuen, silber-schwarzen Hochzeitskleid steht dann im April und Mai die Paarung an. Kreuzottern werden im Alter von drei bis vier Jahren geschlechtsreif. Die paarungsbereiten Weibchen sondern Pheromone ab. Die etwas kleineren Männchen folgen dem Duft. Sinneszellen auf ihrer gespaltenen Zunge ermöglicht es ihnen, räumlich zu riechen und die Weibchen zu finden. Wenn auch andere Männchen um das Weibchen buhlen, findet ein Ringkampf statt. Dazu richten die konkurrierenden Männchen ihre Vorderkörper auf und umschlingen sich. Jeder versucht, seinen Kopf über den des anderen zu schieben und den Gegner auf den Boden zu drücken. Das unterlegene Männchen bei den ritualisierten Kommentkämpfen ergreift die Flucht. Der Sieger kommt zum Zug. Paul Hien:
MUSIK ENDE
09 Zsp Kreuzotter Paul Hien
Also die setzen niemals ihre Giftzähne ein. (…) Das sind so rituelle Kämpfe. Da wird nur kurz geschaut, wer ist der Stärkere, ohne dass man jemanden wirklich verletzen will. (…)
SPRECHERIN
((Bei der Paarung kriecht das Männchen mit zuckenden Bewegungen über das Weibchen und berührt es immer wieder mit der Zunge. Dann erfolgt die Begattung, indem die sogenannten Kloaken aneinandergepresst werden.)) Der Paarungsakt kann mehr als zwei Stunden dauern, erzählt Reptilienexperte Paul Hien.
10 Zsp Kreuzotter Paul Hien
Und es ist so, dass sich ein Weibchen mit mehreren Männchen paaren kann. Und da kann sogar der Wurf mehrere Väter (…) haben. (…) Nach dem Paaren versucht das Männchen, sein Weibchen dann noch eine Weile zu beschützen vor anderen Männchen. Weil je mehr sich damit paaren, desto weniger Chancen hat das erste Männchen, dass seine Gene dann tatsächlich weitergegeben werden.
MUSIK „Natural Harmony“; ZEIT: 01:04
SPRECHERIN
Kreuzottern gehören zu den ovoviviparen Reptilien. Ovovivipar bedeutet Ei-Lebend-Geburt. Das heißt: Die Weibchen brüten die Eier acht bis zehn Wochen im Körper aus und legen sich dazu jeden Tag in die Sonne. Zwischen August und Oktober kommen dann mehrere Jungschlangen lebend zur Welt, umhüllt von einer dünnen, durchsichtigen Eihülle. Diese müssen die neu geborenen, bis zu zwölf Zentimeter langen Schlangen zerreißen. Kurz darauf häuten sie sich zum ersten Mal. Die Jungtiere sind sofort selbstständig. Sie ernähren sich hauptsächlich von jungen Gras- oder Moorfröschen. Dafür bewegen sie ihren kleinen Schwanz hin- und her. Für die Frösche sieht der winkende Schlangenschwanz wie ein fetter Wurm aus. Wenn die Hüpferlinge in Reichweite sind, beißen die kleinen Jungvipern, die bereits Gift haben, zu. Doch es gibt immer weniger Frösche, sagt Max Prietzel.
MUSIK ENDE
11 Zsp Kreuzotter Max Prietzel
Wir haben jetzt in den letzten Jahren, auch klimawandelbedingt, sehr starke Rückgänge, vor allen Dingen von Grasfrosch und diese frisch metamorphierten Hüpferlinge, die spielen eben eine wichtige Rolle bei den jungen Kreuzottern und durch den Rückgang eben des Grasfrosches sind langfristig auch Auswirkungen auf die Kreuzotterbestände zu befürchten.
SPRECHERIN
Ein weiterer Grund für den Rückgang der Amphibien wie dem Grasfrosch: Sie reagieren sehr empfindlich auf Umweltgifte oder auch Pflanzenschutzmittel wie Glyphosat. ((Kreuzotter-Experte Paul Hien:
12 Zsp Kreuzotter Paul Hien
Amphibien geht es gerade richtig schlecht weltweit. Und wenn es den Amphibien schlecht geht, geht es leider auch den Kreuzottern schlecht. ))
SPRECHERIN
Adulte, also ausgewachsene Schlangen jagen Eidechsen, Frösche, Feld-, Wald- oder Spitzmäuse. Paul Hien:
13 Zsp Kreuzotter Paul Hien
Und die ausgewachsenen Ottern, die sind dann auf Mäuse spezialisiert und dieser langgestreckte Körper von einer Schlange, der ist natürlich perfekt dazu geeignet, dass man in ein Mauseloch hineinschlüpft und die Maus da drin direkt fangt. Das kann natürlich ein anderer Beutegreifer in der Form nicht, wie zum Beispiel ein Fuchs oder der Bussard. Der muss eben warten, bis die Maus rauskommt oder danach graben.
SPRECHERIN
Über ihre gespaltene Zunge können die Ottern räumlich Geruchsspuren erfassen und potenzielle Beutetiere verfolgen. Max Prietzel:
14 Zsp Kreuzotter Max Prietzel
Und dann, wenn sie die Tiere aufgespürt haben, sind sie eigentlich ein Lauerjäger. Also sie warten eigentlich, dass das Tier in Reichweite kommt, um dann eben zum Giftbiss anzusetzen und das Tier zu beißen.
SPRECHERIN
Dazu werden die beiden im Oberkiefer im Ruhezustand nach hinten geklappten Giftzähne nach vorne aufgestellt. Die beiden hohlen Zähne sind am Kiefer mit einer Giftdrüse verbunden. Von dort fließt das Gift in Sekundenbruchteilen durch die Zähne in die Bisswunde. Nach dem Biss lassen die Schlangen die Beute los und warten einige Sekunden oder Minuten, bis das Gift auf das Herz-Kreislaufsystem des Opfers gewirkt hat. Die Schlangen verfolgen das mit letzter Kraft flüchtende Tier und verschlingen es dann vom Kopf aus im Ganzen. ((Damit die Schlange beim Schlingen atmen kann, stülpt sie ihren Kehlkopf nach vorne.)) Pro Jahr frisst eine ausgewachsene Kreuzotter etwa 20 bis 30 Kleintiere.
ATMO (Laubrascheln, Schritte, Menschen im Wald)
MUSIK privat Take 003 „Children of Pizzicato”; Album: Perfect Fith Intervals; Label: 2018 Hoshow Mitani; Interpret: Hoshow Mitani; Komponist: Hoshow Mitani; ZEIT: 00:50
SPRECHERIN
Menschen werden selten gebissen. Weil die scheuen Kriechtiere Erschütterungen wahrnehmen können, sind sie in der Regel längst geflohen, wenn Menschen in ihre Nähe kommen. Nur wenn man versucht, das Reptil anzufassen, beim Beerensammeln oder bei Waldarbeiten aus Versehen auf sie tritt oder sich die Schlange bedroht fühlt, beißt sie auch bei Menschen zu. Das Gift der Kreuzotter ist zwar stark und bis zu dreimal so giftig wie das der Klapperschlange - aber sie verfügt nicht über große Giftmengen. Für einen gesunden Erwachsenen ist ein Kreuzotterbiss vor allem schmerzhaft. ((Je nach abgegebener Giftmenge und Gesundheitszustand kann es auch zu Übelkeit, Schwindel und Atemnot kommen.)) In der Regel ist ein Biss aber nicht lebensgefährlich. Paul Hien:
MUSIK ENDE
15 Zsp Kreuzotter Paul Hien
So wie alle anderen Giftschlangenarten auch, kann die Kreuzotter ihr Gift beim Biss dosieren. Es kann sein, dass überhaupt kein Gift eingesetzt wird, das ist dann ein sogenannter Trockenbiss oder man bekommt eine volle Dosis ab oder irgendwas dazwischen. Normalerweise wird eine Kreuzotter immer versuchen, ihr Gift sparsam, so sparsam wie möglich einzusetzen und nicht an den Menschen zu verschwenden, weil den kann sie ja letztendlich nicht fressen.
SPRECHERIN
Bei den meisten Patienten kommt es nur zu einer Rötung und Schwellung an der Bissstelle. Ein Antiserum, also Gegengift, muss nach einem Kreuzotterbiss nur sehr selten eingesetzt werden, zum Beispiel wenn schwere Herz-Kreislauf-Probleme auftreten. Dennoch empfehlen Mediziner, das betroffene Körperteil nach einem Biss zu schienen und sich nicht anzustrengen. Denn je niedriger die Herzfrequenz, desto langsamer verteilt sich das Gift im Körper. Auch sollten Menschen, die gebissen wurden, zur Sicherheit zum Arzt gehen. Abbinden oder die Wunde auszusaugen wird nicht empfohlen – im Gegenteil, dies kann die Symptome eher verschlimmern. Manchmal kommt es auch zu Bissen, weil die Kreuzotter verwechselt wird, zum Beispiel mit der ungiftigen Ringelnatter. Dabei hat die Ringelnatter kein Zickzackmuster und anders als die Kreuzotter runde und nicht schlitzförmige Pupillen. Doch die sehr unterschiedlichen Färbungen von Kreuzottern führen dazu, dass sie oft nicht erkannt wird. Es gibt silbergraue, hell- und dunkelgraue, braune, blau-graue, orangene, rotbraune oder kupferrote Exemplare. Einfarbig kupferfarbene Tiere werden Kupferottern genannt. Und es gibt auch schwarze Kreuzottern – auch bekannt unter dem Namen Höllenotter oder Bergviper. Paul Hien:
16 Zsp Kreuzotter Paul Hien
Die Kreuzotter ist eine polymorphe Art, das heißt, die sind individuell sehr unterschiedlich gefärbt und gezeichnet. Also bei Tieren ist sowas generell sehr selten, weil normalerweise sind die Tiere halt farblich perfekt an ihre Umgebung angepasst und die Kreuzotter besticht aber da durch eine Vielfalt, die ist unglaublich und es gibt kaum eine andere Schlangenart auf der Welt, die derart variabel ist. ((Also die meisten haben ja dieses namensgebende Zickzackband am Rücken, aber auch da gibt es unglaublich viele Varianten, da schauen wirklich keine zwei gleich aus.))
SPRECHERIN
Vor allem vor der schwarzen Kreuzotter war die Furcht groß. Lange Zeit glaubten die Menschen fälschlicherweise, dass die schwarzen Exemplare giftiger seien als heller gefärbte Tiere.
Atmo (Schrei von Greifvogl)
SPRECHERIN
Trotz ihres potenten Gifts hat auch die Kreuzotter natürliche Fressfeinde. So werden die Schlangen von Greifvögeln wie dem Mäusebussard oder dem Schwarzmilan, aber auch von Raben erlegt. Auch Marder, Dachse, Füchse und Fischotter fressen die Schlangen. Die Liste der Prädatoren ist lang, sagt Max Pritzel vom Bayerischen Artenschutzzentrum:
18 Zsp Kreuzotter Max Pritzel
In letzter Zeit häufen sich auch die Hinweise, dass die erhöhte Schwarzwilddichte lokal sehr stark auf die Kreuzotter-Populationen wirkt. Die Wildschweine können die Kreuzottern vor allen Dingen in den Winterquartieren aufspüren durch ihren guten Geruchssinn und dann natürlich auch ausgraben und fressen ((und dementsprechend ist es vor allen Dingen auch wichtig, dass Kirrungen in kreuzottersensiblen Gebieten natürlich entsprechend verlegt werden.
SPRECHERIN
Unter Kirrung versteht man einen Ort, an dem Futter ausgebracht wird, um Wild anzulocken und zu bejagen. Kirrungen in offenere Waldbereiche oder an Waldränder sollten deshalb vermieden werden, weil diese Bereiche Hotspots für Kreuzottern sind. Durch die erhöhte Frequenz der Wildschweine aufgrund der Kirrungen steigt die Gefahr, dass die Tiere im Umkreis aus den Winterquartieren ausgebuddelt werden.)) Unter anderem durch den Maisanbau hat sich Schwarzwild, also Wildschweine, stark vermehrt. Wie viele Wildschweine in Bayern in den Wäldern leben, ist unklar. Klar ist nur, dass ihre Zahl über die Jahrzehnte deutlich zugenommen hat und durch Jagd immer wieder reduziert werden muss. Hinzu kommen neue Feinde, sagt Paul Hien:
19 Zsp Kreuzotter Paul Hien
Der Mensch hat Waschbär oder Marderhund eingeführt, die gab es vorher überhaupt nicht und es werden auch immer mehr Hauskatzen, Freigängerkatzen, die den Tieren draußen das Leben schwer machen.
MUSIK „Wave“; ZEIT: 00:53
SPRECHERIN
Weniger Lebensräume, mehr Feinde, mehr Landwirtschaft, mehr Umweltgifte – für die Kreuzotter bei uns wird es eng – und das wirkt sich nicht nur auf das Überleben der Schlangen aus. Paul Hien:
20 Zsp Kreuzotter Paul Hien
Reptilien und vor allem Amphibien sind wie eine Art Frühwarnsystem. (...) Das ist wie mit dem Kanarienvogel, den man früher in Kohleminen mit reingenommen hat. Allerdings haben viele Menschen nicht verstanden, dass es dabei eigentlich gar nicht um den Kanarienvogel geht. Also im übertragenen Sinne geht es halt bei dem Schutz von Reptilien und Amphibien eigentlich um unsere eigene Zukunft. Also ohne Tiere funktionieren halt keine Ökosysteme und ohne funktionierende Ökosysteme haben wir ein massives Problem irgendwann.
Reagiert Wasserstoff mit Sauerstoff, setzt das jede Menge Energie frei. Weil dabei als "Abfall" nur Wasser entsteht, gilt Wasserstoff als wichtiger Baustein für die Energiewende. Welche Chancen bietet Wasserstoff? Von David Globig
Credits
Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Rahel Comtesse, Clemens Nicol
Technik: Moritz
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Susanne Rehn-Taube, Kuratorin für Chemie am Deutschen Museum
Johannes Gehret, Chemielaborant
Dr. Felix Matthes, Forschungskoordinator für Energie- und Klimapolitik am Öko-Institut, Mitglied im Nationalen Wasserstoffrat
Prof. Michael Sterner, "Energiespeicher, Energiewirtschaft, Wasserstoff, Erneuerbare Energien", Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Die Weiteste Reise - ins Universum
In diesem Zweiteiler suchen wir den am weitesten entfernten Punkt im Universum, den wir überhaupt erreichen können. Eine spannende Hör-Reise ins All. Ein Podcast von IQ Wissenschaft und Forschung
Die Weiteste Reise Teil 1 - ins Universum
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BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Er ist das häufigste Element im gesamten Universum: Wasserstoff. Ohne ihn hätte sich das "Sternenfeuer" nie entzündet, gäbe es auch unsere Sonne nicht. Die sogenannten "Gasplaneten" wie Jupiter und Saturn bestehen ebenfalls überwiegend aus Wasserstoff.
Bei der Erde sieht das allerdings anders aus: Hier liegt der Anteil weit unter dem Durchschnitt des restlichen Weltalls. Und das meiste von diesem Wasserstoff steckt – was beim Namen "blauer Planet" nicht weiter verwundert – im Wasser: als das "H" in der Verbindung H2O.
MUSIK hoch, dann darüber: (2")
SPRECHERIN
Der Hoffnungsträger Wasserstoff, die saubere Alternative zu fossilen Brennstoffen, von der viele träumen: Ausgerechnet bei uns auf der Erde ist er nicht so einfach in großen Mengen verfügbar. Der britische Naturwissenschaftler Henry Cavendish hatte deshalb fast schon ein bisschen Glück, als er 1766 das Element Wasserstoff entdeckte. Die "brennbare Luft", wie er das Gas damals nannte, bildete sich bei einem seiner Experimente, erklärt die Chemikerin Dr. Susanne Rehn-Taube. Sie ist Kuratorin für Chemie am Deutschen Museum.
MUSIK ENDE
O-TON Rehn-Taube 2: (11")
"Der Versuch ist eigentlich sehr einfach: Sie nehmen ein Metall, Zinn oder Zink z.B., und tropfen Säure drauf. Und dann entsteht ein Gas. Das sieht man sehr schön, da entstehen so Gasblasen."
SPRECHERIN:
Cavendish nahm zunächst an, dass es aus dem Metall stammt. Erst später verstand die Wissenschaft, dass das Gas bei diesem Versuch aus dem Wasser kommt – dem Wasser, das in der Säure steckt.
ATMO Besucherlabor, darüber: (2")
Wasserstoff produzieren wie Cavendish: Das versuchen auch die Schülerinnen und Schüler einer siebten Klasse aus Vilsbiburg im Besucherlabor des Deutschen Museums in Nürnberg. Unter der Anleitung von Chemielaborant Johannes Gehret füllen sie Magnesium-Körnchen in ein Reagenzglas und geben Essigsäure drauf. Es beginnt zu sprudeln. Durch ein abgewinkeltes Glasröhrchen strömt das Gas in weiteres Reagenzglas, das Kopfüber in einem Wasserbehälter steht.
O-TON Gehret 3: (23")
"Okay, hat jetzt jeder ein Reagenzglas, wo er glaubt, dass Wasserstoff drin ist? Super. Dann nehmt Ihr jetzt bitte die Streichhölzer. Einer hält das Reagenzglas vor sich – nicht umdrehen, ja, die Öffnung nach unten halten – und der anderen taucht von unten ein brennendes Streichholz einfach rein. Kann nix passieren, probiert es einfach aus. - PLOPP! - Auspusten, nicht die Finger verbrennen, und da das reinschmeißen."
SPRECHERIN:
Die Mischung aus Wasserstoff und Sauerstoff verbrennt explosionsartig. Im Reagenzglas sorgt das für ein charakteristisches Pfeifen:
GERÄUSCH Knallgasprobe (2")
SPRECHERIN:
Das ist die berühmte Knallgasprobe.
O-TON Gehret 5: (6")
"Im Wasserstoff, da steckt sehr viel Energie drin. Und wenn man den anzündet oder oxidieren lässt, dann kommt die Energie raus."
SPRECHERIN:
Die Energie, die den Wasserstoff so attraktiv macht. Besonders, weil dabei aus Wasserstoff und Sauerstoff nur reines Wasser wird.
O-TON Gehret 4: (3")
"Da siehst Du auch richtig schön, dass da Wasserdampf entsteht."
SPRECHERIN:
...und ansonsten kein weiteres Treibhausgas. Genau deshalb soll Wasserstoff in Zukunft eine wichtige Rolle als Energieträger spielen, erklärt der Fachmann für Energie- und Klimapolitik Dr. Felix Matthes. Er ist Forschungskoordinator für dieses Gebiet am Öko-Institut und Mitglied im Nationalen Wasserstoffrat. Für ihn ist Wasserstoff besonders in solchen Bereichen wichtig, in denen sich Klimaneutralität kaum anders verwirklichen lässt.
O-TON Matthes 1: (18")
"Erstens bei Industrie, zweitens bei Flug und Schiffsverkehr, drittens für den Bereich Auspendeln eines auf Sonne und Wind basierenden Energiesystems. Und vielleicht noch ein bisschen für Schienenverkehr und so weiter." (SUMME 3'40")
MUSIK privat Take 001 „ Tesla's Engine”; Album: Mind of Tesla, Label: CD Baby - Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino; ZEIT: 00:28
SPRECHER:
Ein Element mit viel Potential – Wofür sich Wasserstoff nutzen lässt
MUSIK kurz hoch, dann darüber:
SPRECHERIN:
Die günstigen Eigenschaften von Wasserstoff haben den Energieexperten Prof. Michael Sterner schon vor Jahren davon überzeugt, auf diesen Energieträger zu setzen. Sterner lehrt an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg.
MUSIK ENDE
O-TON Sterner 3A: (17")
"Ja, den Wasserstoff können wir direkt in Reinform einsetzen, wenn wir Wasserstoff-ready Kraftwerke haben, wenn wir Brennstoffzellenfahrzeuge haben in Form von Lkws, das ist so die Hauptform; oder halt zur Reduktion von Eisenerz in der Stahlerzeugung."
SPRECHERIN:
Wasserstoff ist nämlich in der Lage, das Eisenoxid im Erz in Eisen umzuwandeln. Man nutzt dafür bislang meist Koks - wodurch jede Menge CO2 freigesetzt wird. Das ließe sich mit Hilfe von Wasserstoff einsparen. Und es gibt noch einen wichtigen Einsatzbereich für reinen Wasserstoff: als Stromspeicher.
O-TON Sterner 2: (17")
"Wir brauchen ihn <auch> ganz dringend in der Stromversorgung, zum Ausgleich von Dunkelflauten, von den Zeiten, wo kein Wind und keine Sonne da sind, europaweit. Also auch der Netzausbau nichts hilft und die Kurzzeitspeicher, also die Batterien und Pumpspeicher, leer sind."
SPRECHERIN:
Wie sich Strom mit Hilfe von Wasserstoff speichern lässt, dazu später mehr.
Die Liste, wo überall Wasserstoff bei der Energiewende helfen kann, ist lang. Für viele Anwendungen kommt allerdings kein reiner Wasserstoff in Frage. Man muss ihn vorher umwandeln: in sogenannte Wasserstoff-Derivate.
O-TON Sterner 3B: (20")
"Und zwar in Kombination mit CO2 oder Stickstoff. Und dann können wir daraus E-Fuels machen, Methanol, Kerosin, Benzin, Diesel, aber auch Gas und das dann verwenden im Flug- und Schiffsverkehr. Und, ja, in der Industrie neben der Stahlerzeugung eben auch für die Chemie."
SPRECHERIN:
Z.B. für die Kunststoff-Herstellung. Die dafür notwendigen Kohlenwasserstoffe stammen heute größtenteils aus Erdöl und Erdgas. Man kann sie aber auch aus Wasserstoff und Kohlenstoff "zusammensetzen". Den Kohlenstoff gewinnt man etwa aus Kohlendioxid, das ohnehin aus der Atmosphäre verschwinden muss. Wasserstoff lässt sich aber ebenso mit Stickstoff aus der Luft verbinden: zu Ammoniak – der Basis z.B. für Düngemittel, aber auch für Sprengstoff.
Die entscheidende Frage ist dabei allerdings immer: Aus welchen Quellen stammt der Wasserstoff?
MUSIK privat Take 001 „ Tesla's Engine”; Album: Mind of Tesla, Label: CD Baby - Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino; ZEIT: 00:28
SPRECHER:
Von weiß bis schwarz, aber möglichst grün – Die Farbpalette des Wasserstoffs
MUSIK kurz hoch, dann darüber:
SPRECHERIN:
In der Industrie spielt Wasserstoff schon lange eine Rolle. Und an diesen Wasserstoff kann man auf verschiedenen Wegen herankommen. Von ihrer Umweltbilanz her sind die allerdings sehr unterschiedlich. Um den Wasserstoff, was das angeht, unkompliziert einstufen zu können, hat man ihm Farben zugeordnet.
MUSIK ENDE
Wobei das Gas selbst in allen Fällen selbstverständlich farblos ist.
MUSIK privat Take 011 „ Endorphium”; Album: Mind of Tesla, Label: CD Baby - B00P4D49MS; Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino; ZEIT: 00:08
SPRECHER:
Weißer Wasserstoff.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN:
Das ist Wasserstoff, der direkt aus natürlichen Lagerstätten in der Tiefe stammt. Vermutet wird er z.B. in den Pyrenäen. Hinweise gibt es aber auch in Australien und selbst in Deutschland. Wie viel Wasserstoff sich auf diese Weise weltweit fördern ließe, ist allerdings unklar. Oft wäre man dabei wahrscheinlich auch auf das umstrittene Fracking angewiesen. Da erscheint es sinnvoller, erst einmal davon auszugehen, dass auch in Zukunft der Wasserstoff hergestellt werden muss. Bislang nutzt man dafür fast ausschließlich fossile Energieträger.
MUSIK privat Take 011 „ Endorphium”; Album: Mind of Tesla, Label: CD Baby - B00P4D49MS; Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino; ZEIT: 00:08
SPRECHER:
Wasserstoff: schwarz, braun und grau.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN:
So ganz eindeutig ist die Zuordnung hier nicht. Aber schwarzer oder brauner Wasserstoff wird das Wasserstoff-Gas in der Regel genannt, wenn es mit Hilfe von Kohlevergasung erzeugt wird. Ist die Basis Steinkohle, spricht man von schwarzem Wasserstoff, bei Braunkohle von braunem. Den größten Anteil hat allerdings bislang grauer Wasserstoff. Für dessen Herstellung nutzt man überwiegend Erdgas. In allen Fällen wird jede Menge CO2 freigesetzt.
MUSIK privat Take 011 „ Endorphium”; Album: Mind of Tesla, Label: CD Baby - Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino; ZEIT: 00:08
SPRECHER:
Farbwechsel - Aus grau mach blau
MUSIK ENDE
SPRECHERIN:
Die Treibhausgas-Emissionen bei der Wasserstoff-Herstellung lassen sich unter anderem dadurch verringern, dass man besonders das Kohlendioxid, das bei der Produktion von grauem Wasserstoff entsteht, auffängt. Und zwar, bevor es in die Atmosphäre gelangt. Anschließend muss dieses CO2 dauerhaft unterirdisch eingelagert werden - etwa im Meeresboden, in ausgebeuteten Öl- und Gasfeldern. Auf Englisch spricht man von "Carbon Capture and Storage", kurz CCS. Das Kohlendioxid wird dazu in Gesteinsschichten in mehreren tausend Metern Tiefe verpresst. Sobald man dieses Prinzip bei der Herstellung von Wasserstoff aus Erdgas einsetzt, ändert sich die Bezeichnung: aus "grauem" Wasserstoff wird "blauer". Michael Sterner glaubt allerdings, dass man diesen Ansatz höchstens für eine Übergangszeit nutzen sollte - und nicht auf Dauer.
O-TON Sterner 27: (15")
"Ich bin der Ansicht, dass wir die wenigen Lagerstätten, die wir unterirdisch haben für CO2, dass wir wirklich die für die nicht vermeidbaren Emissionen nutzen sollten - aus Zement und anderen Quellen - und nicht für eine Technologie, die letztendlich doch fossiles Erdgas verstetigt."
SPRECHERIN:
Sinnvoller sei deshalb ein ganz anderer Ansatz.
MUSIK privat Take 011 „ Endorphium”; Album: Mind of Tesla, Label: CD Baby - Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino; ZEIT: 00:08
SPRECHER:
Elektrolyse - Wasserstoff von rot bis grün
MUSIK ENDE
ATMO Besucherlabor, darüber:
O-TON Gehret 6b, 2. Teil:
"Kommt mal hier nach vorne, da habe ich einen Apparat aufgebaut, da machen wir aus Strom die Gase."
SPRECHERIN:
Zurück im Besucherlabor des Deutschen Museums in Nürnberg. Johannes Gehret zeigt den Schülerinnen und Schülern ein Gefäß mit Wasser, in das zwei Metallelektroden getaucht sind. Über Stromkabel sind sie mit einem Netzteil verbunden: eine Elektrode mit dem Pluspol, die andere mit dem Minuspol. Sobald Strom fließt, steigen an den Elektroden Gasbläschen auf.
O-TON Gehret 7:
"D.h., wenn ich jetzt Strom in Wasser reinpumpe, dann baue ich das Wasser auseinander, okay. Ich kann das Wasser kaputtmachen. Wasser ist H2O, das besteht aus zweimal Wasserstoff und einmal Sauerstoff
SPRECHERIN:
An der Elektrode, die am Minuspol angeschlossen ist, bilden sich deshalb mehr Bläschen, denn hier wird der Wasserstoff freigesetzt. An der anderen Elektrode, an der Sauerstoff nach oben perlt, ist die Gasmenge geringer. Der Vorgang nennt sich "Elektrolyse". Je nachdem, wo der Strom herkommt, der das Wasser zerlegt, bezeichnet man den Wasserstoff wieder mit unterschiedlichen Farben. Rot, pink, rosa oder violett heißt er etwa, wenn der Strom aus Kernkraftwerken stammt. Liefern hingegen erneuerbare Energiequellen den Strom, spricht man von "grünem" Wasserstoff. Und genau der könnte auch das Problem mit den Dunkelflauten lösen. Denn in Form von grünem Wasserstoff lässt sich Wind- und Solarstrom speichern.
O-TON Gehret 6a: (12")
"Ich kann den Strom durch den Raum, also von A nach B mitnehmen, den Strom. Und ich kann den Strom auch von gestern nach heute mitnehmen, oder von heute nach morgen. Dafür sind Speicher da."
SPRECHERIN:
Steht z.B. mehr Strom aus erneuerbaren Quellen zur Verfügung als gerade gebraucht wird, erzeugt man mit Hilfe eines großen Elektrolyseurs Wasserstoff. Können Windkraft- und Solaranlagen zwischenzeitlich nicht genügend Strom liefern, wird der gespeicherte Wasserstoff in eine sogenannte Brennstoffzelle geleitet. Das ist eine Art Gefäß, in dem sich Wasserstoff auf der einen Seite befindet und Sauerstoff bzw. Luft auf der anderen Seite. Dazwischen: eine spezielle Schicht, die die beiden Gase voneinander trennt, aber für positiv geladene Wasserstoff-Atome durchlässig ist. Vom Aufbau her ähnelt die Brennstoffzelle einer Batterie. Was dann passiert? Das können die Schülerinnen und Schüler im Besucherlabor ebenfalls ausprobieren.
O-TON Gehret 8:
"Was machen denn diese Gase, wenn man sie lässt? Habt Ihr vorhin beim Anzünden gemacht. Hier muss man das jetzt nicht anzünden, aber es passiert die gleiche Reaktion. Was passiert mit Wasserstoff und Sauerstoff, wenn die miteinander reagieren? H2O – H2O, was ist denn das? Wasser, genau. Also, Wasserstoff und Sauerstoff, wenn man die miteinander reagieren lässt, reagieren die wieder zu Wasser und dann kommt die Energie da wieder raus."
SPRECHERIN:
In diesem Fall aber nicht in Form einer Stichflamme, sondern langsam und kontrolliert: die Energie kommt als ein bisschen Wärme raus und – das Entscheidende – als elektrischer Strom. Reaktionsprodukt ist, wie bei der heißen Verbrennung, wieder nur Wasser. Allerdings verliert man durch die Umwandlungsschritte - Wasser zu Wasserstoff und zurück zu Wasser - momentan noch gut die Hälfte der elektrischen Energie, die ursprünglich einmal zur Verfügung gestanden hat. Es ist also besser, den Strom aus erneuerbaren Quellen direkt zu nutzen – ohne einen "Umweg" über Wasserstoff. Doch wenn das nicht geht, oder wenn man den Wasserstoff eben als Substanz benötigt, dann lässt sich die grüne Variante annähernd klimaneutral herstellen.
Das klingt nach einer perfekten Lösung – weshalb auch die Politik in vielen Ländern auf grünen Wasserstoff setzt, um die Energiewende voranzutreiben.
MUSIK privat Take 001 „ Tesla's Engine”; Album: Mind of Tesla, Label: CD Baby - Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino; ZEIT: 00:14
SPRECHER:
Notwendige Unterstützung – Wo sich Wasserstoff noch schwertut
MUSIK ENDE
O-TON Habeck 1: (15")
"Also die Faustformel ist: Wir fördern grün, und nehmen alles. Und das ist auch richtig so. Wir müssen ja den Hochlauf organisieren. Die Leitungen werden gebaut, und irgendwas muss ja da durchgehen. Die Kraftwerke werden umgestellt, irgendetwas muss da reinkommen. Und mit dem Hochlauf des grünen Wasserstoffs wird er günstiger werden."
SPRECHERIN:
Das verkündete der damalige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ziemlich optimistisch im Sommer 2023. Er und andere Politiker sahen Deutschland schon auf einem guten Weg zu so etwas wie einer "Wasserstoffgesellschaft". Tatsächlich ist dieser Weg wohl wesentlich steiniger als gedacht. Das zeigt sich schon bei der Menge von grünem Wasserstoff, die hierzulande gegenwärtig aus den Elektrolyseuren kommt, meint Michael Sterner. Man gibt diese Menge häufig in Terawattstunden an, einer Maßeinheit für Energie.
O-TON Sterner 4 + 5: (21")
"Wir sind, wenn man das hochrechnet, irgendwo bei zwei Terawattstunden an grünem Wasserstoff, den wir überhaupt erzeugen. Und alleine den grauen Wasserstoff zu ersetzen, den wir heute schon aus Erdgas herstellen, alleine das wäre schon das Zwanzigfache. Also da sind noch Welten dazwischen zwischen dem, was man so liest und diskutiert in der Politik, und was tatsächlich auch umgesetzt ist." STIMME OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHERIN:
... Wobei die Sache auch mittelfristig nicht einfacher werden dürfte. Alle Schätzungen gehen davon aus, dass der Bedarf an grünem Wasserstoff bzw. an grünen Wasserstoff-Derivaten in Deutschland bis 2045 extrem steigen wird. Um diesen Bedarf zu decken, müsste man die Elektrolyse-Kapazitäten in den kommenden Jahren mindestens um gut das Dreihundertfache erhöhen. Unwahrscheinlich, dass das allein hier vor Ort passiert. Allein schon wegen der Kosten, erklärt Felix Matthes.
O-TON Matthes 10: (24")
"Wir werden vermutlich nur einen kleineren Teil im Land produzieren an Wasserstoff. Wir haben Marktindikatoren, die zeigen zum Stand von heute für deutsche Produktion irgendetwas zwischen acht und zehn Euro pro Kilogramm. Wir haben einen Marktindikator von der iberischen Halbinsel, da betragen die Kosten sechs."
SPRECHERIN:
Es dürfte also darauf hinauslaufen, dass Deutschland große Mengen von grünem Wasserstoffgas importiert – per Pipeline aus Spanien oder auch aus Marokko. Über entsprechende Allianzen wird längst verhandelt. Wobei der Umstieg auf grünen Wasserstoff anfangs wohl subventioniert werden müsste. Denn selbst der aus Erdgas gewonnene Wasserstoff, bei dem man das freiwerdende, klimaschädliche CO2 auffängt und unterirdisch einlagert, ist ein gutes Stück günstiger. Dieser blaue Wasserstoff kostet nur knapp vier Euro pro Kilogramm. Reines Wasserstoffgas, das durch große Röhren zu uns strömt, wird aber nicht das einzige grüne Wasserstoffprodukt sein, das Deutschland bezieht. Auch Für weiterverarbeiteten Wasserstoff wird es wohl importieren – hier denkt man über andere Wege nach.
O-TON Matthes 11: (28")
"Wenn es um Wasserstoff-Derivate geht. Also, das heißt synthetischen / Kraftstoff oder Ammoniak oder Methanol für Schiffe oder ein paar wenige Chemie-Prozesse, dann werden wir die vermutlich nicht aus Europa bekommen, sondern aus weiter entfernten Regionen, wo einerseits / die Produktion von erneuerbarem Strom deutlich billiger ist, wo aber andererseits die Transportkosten vergleichsweise gering sind."
SPRECHERIN:
Infrage kommen dafür z.B. das südliche Afrika und Südamerika, wo die Wetterbedingungen für Windkraft- und Solaranlagen geradezu ideal sind, sagt Michael Sterner.
O-TON Sterner 8: (13")
"Natürlich ist es so, dass, wenn Sie eine Windkraftanlage in Chile aufstellen, in den besten Wind-Gebieten, wo die Bäume wirklich schräg wachsen, weil die ganze Zeit der Wind weht, an diesen Stellen haben Sie mit der gleichen Windkraftanlage den dreifachen Ertrag."
SPRECHERIN:
Chile will zu einem der weltweit größten Produzenten von grünem Wasserstoff und den darauf basierenden Wasserstoff-Derivaten werden. Besonders europäische Politiker und Unternehmen verhandeln bereits über entsprechende Projekte. Den Transport sollen Tankschiffe übernehmen. Umweltschützer sehen den Aufbau gewaltiger Windkraftanlagen in Chile allerdings mit Sorge. Und wo in sonnigen, trockenen Gegenden genügend reines Wasser für die Elektrolyseure herkommen soll: Das ist ebenfalls eine wichtige Frage. Jedenfalls existieren die Konzepte für einen Umstieg auf Wasserstoff - aber es hakt gerade an vielen Stellen. So ist ein politisches Instrument weggefallen, mit dem Wasserstoff verstärkt in die Treibstoffproduktion gebracht werden sollte. Außerdem hat in Deutschland das Aus der Regierungskoalition im November 2024 vorerst verhindert, dass die "Kraftwerksstrategie" umgesetzt werden kann. Bestehende Gaskraftwerke sollten für einen Betrieb mit Wasserstoff umgerüstet werden. Und es sollten neue, wasserstofftaugliche Kraftwerke entstehen. Was nun aus dieser Strategie wird, ist offen.
O-TON Matthes 4C (ab 6:15): (12")
"Das dritte große Instrument waren die Subventionen für die Industrie mit dem sogenannten Instrument der Klimaschutzverträge und manch anderen Dingen. Und die sind uns durch die Haushaltskrise abhandengekommen."
SPRECHERIN:
Es fehlt also die Förderung auf der Nachfrageseite – die aber angesichts der sehr viel höheren Kosten für grünen Wasserstoff unabdingbar ist, will man seine Nutzung vorantreiben.
Auch wenn bereits erste Wasserstoff-Infrastruktur entsteht, und obwohl etwa die Stahlindustrie schon konkrete Pläne für die Produktion von grünem Stahl entwickelt hat: Es klemmt beim Wasserstoff-Hochlauf gerade massiv. Und da wäre noch ein Punkt, der die Sache schwieriger macht, sagt Michael Sterner.
O-TON Sterner 24: (14")
"Wasserstoff hat auch ein Treibhausgaspotenzial. Das ist noch nicht ausreichend erforscht, aber es liegt irgendwo bei 15, also im Vergleich. CO2 hat als Normungs-Basis den Wert eins, also, das ist nicht so ohne mit dem Wasserstoff."
SPRECHERIN:
Wasserstoff ist demnach rund 15-mal klimaschädlicher als CO2. Doch solange das Gas nicht in die Atmosphäre gelangt, ist es auch nicht klimawirksam. Aber: Wasserstoff-Moleküle sind so winzig, dass sie selbst durch kleinste Lecks entweichen. Das macht den Umgang mit Wasserstoff anspruchsvoll. Für Felix Matthes ist das aber kein K.O.-Kriterium, was den Umstieg auf Wasserstoff angeht.
O-TON Matthes 20: (16")
"Man darf das nicht ignorieren, aber es ist jetzt auch nichts, was die Strategie insgesamt auf sozusagen in Frage stellen würde. Aber es ist wieder ein Grund dafür, dass man sagt überall, wo es irgendwie anders geht, sollten wir es auch ohne Wasserstoff machen.
MUSIK privat Take 009 „Dusty Rain”; Album: Mind of Tesla, Label: CD Baby - Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino; ZEIT: 00:53
SPRECHERIN:
Auch wenn grüner Wasserstoff eine spürbare Rolle bei der Energieversorgung spielen soll, er fossile Brennstoffe ersetzen kann - und auch wenn man für Wasserstoff eine wachsende Bedeutung in der Industrie plant: Er wird nur eine Säule der Energiewende sein – nicht die entscheidende. Da sind sich Expertinnen und Experten wie Michael Sterner und Felix Matthes einig.
O-TON Matthes 1A (z.B. Kombi mit 14B): (14")
"Das heißt, der ist wichtig, der bringt die letzten zehn bis 15 Prozent der Emissionen.
SPRECHERIN:
Aber selbst, diese – in Anführungsstrichen – "nur" zehn bis 15 Prozent der Treibhausgas-Emissionen mit Hilfe von Wasserstoff loszuwerden, bleibt eine Herausforderung.
Verpackungen leisten uns seit Tausenden von Jahren gute Dienste: Sie machen Lebensmittel haltbar, schützen Fragiles beim Transport und bieten Platz für wichtige Informationen über ihren Inhalt. Julie Metzdorf über Mogelpackungen und Sollbruchstellen, aber auch über Schiffsreisen, Eroberungskriege und Geschenkpapier.
Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Susanne Schroeder, Thomas Birnstiel
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Hans-Georg Böcher, Leiter Deutsches Verpackungsmuseum Heidelberg
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GERÄUSCHE öffnen: Honigglas, Chipstüte, Vakuum-Espresso-Dose, Joghurtfolie abziehen, Tablettenblister, Zahnpastatube = Geräusche Tube auf Glas legen in halligem Badezimmer, Papierumschlag aufreißen, Geschenkpapier knistern, Korken…
SPRECHER und SPRECHERIN abwechselnd, beginnend mit SPRECHER:
Goldgelber Honig, knusprige Kartoffelchips, der Duft gemahlenen Kaffees, ein frischer Joghurt, eine erlösende Kopfschmerztablette, die tägliche Portion Zahnpasta, ein lang ersehnter Brief, ein Überraschungspaket zum Geburtstag, ein Schluck Wein am Abend:
SPRECHERIN
Verpackungen begleiten unser Leben. Sie machen Lebensmittel haltbar, schützen Zerbrechliches beim Transport, informieren über Gebrauch und Gefahren eines Produkts. Egal ob Nahrungsmittel, elektronische Geräte oder Kosmetikprodukte: Es sind die Verpackungen, die viele Produkte überhaupt erst für alle Menschen verfügbar machen. Für Hans-Georg Böcher, den Leiter des Deutschen Verpackungsmuseums in Heidelberg, ist die Verpackung deshalb ein wichtiges Kulturgut:
OT 1 Hans-Georg Böcher
Sie hat immer eine menschheitliche Bedeutung gehabt, und sie ist sozusagen Grundlage unseres Zusammenlebens, unserer Kultur, vor allen Dingen unserer Zivilisation. Und sie war immer schon sehr, sehr wichtig, schon in allen Epochen.
Musik 2: Aufbruch – 1:25 Min
SPRECHER
Verpackungen bieten in erster Linie Schutz. Sie machen Dinge unempfindlicher gegenüber äußeren Einflüssen, seien es Stöße, Sonneneinstrahlung, Feuchtigkeit oder auch einfach Sauerstoff. Oft macht die Verpackung Dinge überhaupt erst transportierbar. Das zeigt sich im gemeinsamen Wortstamm von „Verpackung“ und „Gepäck“: „Pack“ heißt soviel wie „Bündel“. Was soll man auch anfangen mit Sonnencreme, Motoröl oder Parfum ohne Dose, Flasche oder Flakon?
SPRECHERIN
Verpackungen schützen aber nicht nur ihr Inneres, sie schützen andersherum auch die Welt vor ihrem Inhalt, man denke nur an Fett- oder Farbflecken. Manchmal sind Verpackungen sogar ein lebenswichtiger Schutz: Stichwort Abflussreiniger, Rattengift, Atommüll.
SPRECHER
Klar, manches kann man auch lose kaufen: Schrauben, Äpfel, Kaffeebohnen oder, in speziellen Unverpacktläden, auch mal Nudeln und Bohnen. Doch in irgendeiner Verpackung sind auch diese Dinge erst einmal in den Laden oder Baumarkt geliefert worden und um sie von dort nach Hause zu bekommen, verpackt man sie auch wieder in einer Dose oder Tüte. Kurz gesagt: Erst Verpackungen machen Transport und damit Handel möglich.
OT 2 Hans-Georg Böcher
In dem Moment, wo sich Menschen niederlassen und dann miteinander Handel treiben oder sich bewegen als Nomaden oder was auch immer, da kommen natürlich logistische Herausforderungen auf die Menschen zu. Sie wollen dann Waren womöglich tauschen. Sie wollen, was ja auch logisch ist, miteinander in Handel treten. Der eine hat vielleicht ein Saatgut, das er irgendwie gewinnen konnte, der andere hat vielleicht gerade irgendein Tier erlegt. Und in dem Augenblick geht dann schon die Frage los wie bringe ich das von A nach B.
ATMO Wald / Natur
SPRECHERIN
Besonders wichtig waren Verpackungen von jeher für Nahrungsmittel. Statt von der Hand in den Mund, bzw. vom Feld in den Mund, kann Verpacktes transportiert, gesammelt und aufbewahrt werden.
SPRECHER
Das große Vorbild ist die Natur. Bananenschalen, Haselnüsse, Kastanien: Die Natur weiß, wie sie ihr Wertvollstes – ihren Samen – während des Reifungsprozesses vor Fressfeinden und Austrocknung schützt.
Musik 3: Achlys red alt – 1:07 Min
SPRECHERIN
Das Wichtigste für den Menschen war von Anfang an Wasser, Nahrung und Feuer. Um diese Dinge zu transportieren, brauchte es geeignete Verpackungen. Das Material dazu kam aus der Natur. Zum Transport von Wasser wurden beispielsweise Kalebassen verwendet. Lässt man den Flaschenkürbis trocknen, wird er extrem hart und wasserundurchlässig. Auch die Blase von Tieren konnte als Trinkbeutel verwendet werden. Im Mittelalter waren Lederbeutel und Schläuche üblich, Reisende trugen sie einfach am Gürtel. Schildkrötenpanzer dienten zum Transport von Parfums und anderen Kosmetika, Blätter und Rinden zum Einwickeln oder Flechten. Ötzi zum Beispiel hatte bei seiner Alpenüberquerung vor mehr als 3000 Jahren zwei ultraleichte Behälter aus Birkenrinde bei sich. Darin befand sich glühende Kohle, eingewickelt in frische Ahornblätter. Die Blätter hielten die Glut warm.
SPRECHER
Bis heute werden manche Lebensmittel in Naturmaterialien verpackt, Würste zum Beispiel gibt es noch immer im Naturdarm. Auch geflochtene Verpackungen sieht man immer mal wieder:
OT 3 Hans-Georg Böcher
Ich erinnere an die Lambrusco-Flasche, die zum Beispiel zur Hälfte von einem Korbgeflecht umgeben ist, das war früher Produktschutz. Also hat man zwei Packstoffe miteinander verbunden, den Flechtkorb, in dieser Tradition der handwerklichen Flechtkunst und dann die Glasflasche, die genau reingepasst hat. Die Glasflasche hat den Aromaschutz geboten und der Flechtkorb den Bruchschutz.
Musik 4: Byzantinische Ruine - 17 Sek +
Musik 5: Überreste der Römer - 58 Sek +
Atmo Schiff auf Meer
SPRECHERIN
Mit dem Aufkommen großer Städte wurde der Transport von Lebensmitteln – und damit ihre Verpackung – immer wichtiger. Rom etwa hatte in der Spätantike mehr als eine Million Einwohner, hier ernährte sich niemand mehr vom eigenen Feld vor der Haustür, Lebensmittel wurden importiert. Über den Tiber kamen sie aus dem gesamten Römischen Reich per Schiff in die Stadt. Öl, Oliven und Wein, aber auch Honig, Milch, Getreide oder Datteln wurden in sogenannten Amphoren transportiert.
SPRECHER
Eine Amphore ist ein bauchiges Gefäß aus Ton, mit langem schmalem Hals und zwei Henkeln an der Seite. Nach unten hin läuft der Körper spitz zu, die Standfläche ist klein. Die Form zielt voll und ganz darauf ab, gestapelt zu werden, man steckte die schmalen Gefäße einfach zwischen die Schultern der unteren Reihen. Herkunftsstempel zeigen noch heute, wie weit die Amphoren damals reisten, Schweinefleisch zum Beispiel kam bis aus Gallien und Spanien nach Rom, die Deckel wurden luftdicht mit Pech verschlossen.
OT 4 Hans-Georg Böcher
Also die frühen Amphoren, die man sicherlich als Verpackungen betrachten kann, die haben schon relativ viele Auskünfte gegeben über ihre Herkunft. Und wir müssen uns den frühen ich sage jetzt mal Welthandel im Römischen Reich beispielsweise oder vorher bei den Griechen durchaus schon sehr ausgereift vorstellen.
Musik 6: secret agenda – 50 Sek
SPRECHERIN
Keramik kommt als Verpackungsmaterial heute kaum noch zum Einsatz. Wohl aber ein anderes, sehr altes Material: Glas. Etwa ab 1500 v. Chr. stellten die Ägypter Gefäße aus Glas her. Anfangs waren das Luxusgefäße für Salben, Öle, Parfüms und Schminke. Doch in den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich Glas zum beliebten Behältnis für Flüssigkeiten. Denn im Gegensatz zu den üblichen Ton-, Holz-, Metall- oder Lederbehältnissen ist Glas geschmacksneutral, gasdicht und geruchlos. Es geht keinerlei Wechselwirkung mit anderen Stoffen ein, gibt keine Schadstoffe ab und ist somit aus gesundheitlicher Sicht das beste Verpackungsmaterial für Lebensmittel.
Musik 7: Beethoven – 40 Sek
SPRECHER
Eines aber kann auch Glas nicht: Es kann Lebensmittel nicht dauerhaft haltbar machen. Genau das aber wünschte sich einer der mächtigsten Männer im Europa des 18. Jahrhunderts: Napoleon Bonaparte. Seine Eroberungskriege wurden zur treibenden Kraft für die Entwicklung von verpackten Lebensmitteln. Bis ins 18. Jahrhundert hinein versorgten sich Armeen im Krieg nicht zuletzt durch Plünderungen. Für Napoleons riesiges Heer aber reichte das nicht.
OT 5 Hans-Georg Böcher
Und Napoleon war ein hochgeachteter Feldherr, der als einer der führenden, sagen wir mal Kriegsführer Europas vor allen Dingen auf technologische Mittel gesetzt hat. Und er hat festgestellt, dass ihm einen Teil seiner Soldaten verhungert ist auf den Feldzügen ... und wenn es dumm lief, denkt man nur mal an den Russlandfeldzug und so weiter, dann konnten mehr Menschen an Hunger sterben als durch Geschütze oder Geschützhagel.
SPRECHERIN
1795 lobte Napoleon deshalb einen Ideen-Wettbewerb aus. Wer es schaffen würde, Lebensmittel dauerhaft haltbar zu machen, sollte die enorme Summe von 12.000 Goldfranken bekommen. Jahrelang zerbrachen sich die renommiertesten Wissenschaftler Frankreichs die Köpfe über dieser Aufgabe.
SPRECHER
Der entscheidende Durchbruch gelang einem Mann der Praxis: dem Konditormeister Nicolas Appert. Appert erhitzte die Lebensmittel, füllte sie in Glasflaschen und verschloss sie luftdicht mit Korken und Draht, wie bei einer Sektflasche. Heute würde man von Einkochen oder Einwecken sprechen. Nach einem kurzen Test durch die Marine gingen die Flaschen an die Front:
OT 6 Hans-Georg Böcher
Aber diese Glasgefäße, in denen Aprikosen oder irgendwelche Früchte eingedampft waren oder eingekocht waren, so muss man es sagen. Die haben natürlich logistische Nachteile gehabt. Die sind zerbrochen, die waren instabil, teilweise auch durch den Lichteinfall nicht mehr gut
Musik 7: Pierrot’s Dream Part 1 – 1:28 Min
SPRECHERIN
Glasflaschen an der Front: die Idee war verbesserungswürdig. Am Ende war es ein Brite, der zwar Apperts Konservierungsmethode nutzte, aber ein anderes Material dafür verwendete: Weißblech. Die erste Konservendosenfabrik der Welt entstand deshalb in England.
SPRECHER
Die Dosen blieben zunächst ein Nischenprodukt, ihre Herstellung war aufwändig und teuer, ihre Nutzung bisweilen sogar gefährlich: Konservendosen wurden anfangs mit Blei verschlossen, im schlimmsten Fall konnte das zu Bleivergiftung führen. ((Lange glaubte man, die Franklin-Expedition in die Arktis sei 1848 an solch einer Konservendosen-Bleivergiftung gescheitert, aber das hatte auch noch andere Gründe.))
SPRECHERIN
Auch sonst war der Umgang mit den Dosen anfangs gar nicht so einfach: Nach dem Öffnen musste das Essen sofort umgefüllt werden, denn der Sauerstoff konnte eine Reaktion zwischen dem Metall der Doseninnenseite und dem eventuell sauren Doseninhalt auslösen. Heutige Dosen sind auf der Innenseite meist mit Kunststoff überzogen, der steht allerdings im Verdacht, gesundheitsschädliche Stoffe abzusondern.
SPRECHER
Die ersten Konservennutzer hatten Anfang des 19. Jahrhunderts ganz andere Probleme: Es gab noch keine Dosenöffner:
OT 7 Hans-Georg Böcher
Die ersten appertschen Konservendosen sind von den napoleonischen Truppen mit den Lanzettmessern an ihren Gewehren aufgestoßen und aufgedrückt worden.
SPRECHER
Mittlerweile haben die meisten Dosen eine Lasche.
Musik 8: Mike Krüger – Der Nippel - 16 Sek
(Refrain: „Sie müssen nur den Nippel durch die Lasche zieh’n / und mit der kleinen Kurbel ganz nach oben dreh’n / da erscheint sofort ein Pfeil / und da drücken Sie dann drauf / und schon geht die Tube auf!“)
SPRECHERIN
Entscheidend an einer Verpackung ist, dass man sie öffnen kann. Wieder hat es die Natur vorgemacht: Blätter, Früchte, aber auch Mineralien oder Tiere - bei Eidechsen zum Beispiel der nachwachsende Schwanz - haben eine Sollbruchstelle. Meist handelt es sich um eine dünnere Stelle, eine Kerbe oder Perforation, die das Material so schwächt, dass es genau dort bricht, wo es brechen soll.
SPRECHER
Doch nicht immer gibt es solch eine Stelle. Ohne Hilfsmittel wie Scheren oder Messer lassen sich manche Verpackungen gar nicht öffnen. Einer Studie zufolge verbringen die Deutschen mehr als 31 Tage ihres Lebens mit dem Öffnen von Verpackungen. Besonders schlimm ist es an Weihnachten. Gelingt es nicht, den Kabelbinder, der das Kuscheltier an seine Unterlage fesselt schnell genug zu lösen, kullern im Angesicht der Erdrosselung des neuen Lieblings schon mal die Tränen. Doch zurück zum Lebensmittel...
OT 8 Hans-Georg Böcher
Und dann, 1864-65, komplettiert sich die Idee mit der Konservendose durch die Erfindung der Pasteurisierung. Und in der Kombination dieser sagen wir mal ... Hygiene-Kompetenz, da entstehen auf einmal Lebensmittel, die sich von vom Entstehungsort komplett ablösen können. Und was das bedeutet, können wir uns in unserer Zeit mit unseren Supermärkten nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn Sie ein Lebensmittel zur Hand haben, dass Sie Tage oder auch Wochen .... noch essen können. ... Das war ein wahnsinniger Technologieschub, das entspricht ungefähr so etwas wie bei uns dem Internetzeitalter oder sowas.
Musik 9: Aufbruch – siehe vorn – 55 Sek
SPRECHERIN
Es ist der Beginn der Industrialisierung der Lebensmittelproduktion. Nahrung wurde haltbar, ortsunabhängig und günstiger. Denn je haltbarer ein Produkt ist, desto massenhafter kann man es herstellen und lagern, und das senkt den Preis. Egal ob Fleisch oder Käse: Verpackte Produkte sind preiswerter als das Angebot an der Frischetheke.
SPRECHER
Doch je mehr Lebensmittel an jedem einzelnen Ort zur Verfügung standen, desto wichtiger wurde es für Unternehmer, ihre Produkte attraktiv zu machen. Man musste sich von der Konkurrenz abheben. Was steht ihnen dazu zur Verfügung: Die Verpackung.
OT 9 Hans-Georg Böcher
Die Markenartikelindustrie bemächtigt sich der Verpackung, sie hatte ja vorher keine anderen Werbeflächen. Das Radio gab es ja nicht, genauso wenig wie das Internet oder das Werbefernsehen. (Es gab Zeiten, in denen es nicht mal eine farbige Anzeige gab in der Zeitung.)
SPRECHERIN
Die Verpackung vermittelt den ersten Eindruck, das Produkt selbst sehen wir oft gar nicht. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bekommen Verpackungen eine neue Aufgabe: Kommunikation.
SPRECHER
Auf der eine Seite sind da die Informationen: Fakten über Inhalt, Gebrauch und Gefahren der Produkte. Auf der anderen Seite stehen die Emotionen. Hier kommen Grafiker und Designer ins Spiel. Mit Comicfiguren bedruckte quietschbunte Verpackungen japanischer Süßigkeiten vermitteln andere Emotionen als eine französische Seifenschachtel mit lavendelblütenfarbenem Schnörkelrand. Die Verpackung wird zur Werbefläche.
OT 10 Hans-Georg Böcher
Die Verpackung ist ein wesentliches Transportmittel, nicht nur für Waren und Güter, sondern auch für geistige Ideen, für Werbung, für Botschaften, die sich mit diesen Produkten verbinden. Wir müssen immer verstehen, dass Produkte Botschafter sind und natürlich die Verpackungen begleitende Botschaften sind.
Musik 10: Coca-Cola Commercial - 41 Sek
SPRECHER
Es ist die Geburtsstunde der Marken und Verpackungen sind die Grundlage des Marketings. Beispiel Coca-Cola: Weil das Getränk immer wieder kopiert wurde, erteilte das Unternehmen den Auftrag, „eine unverwechselbare Flasche zu entwerfen, die selbst im Dunkeln oder in zerbrochenem Zustand ertastbar und erkennbar ist“.
OT 11 Hans-Georg Böcher
Und dann haben Sie sich inspirieren lassen von den Rillen der Kakaofrucht und die Urform ...steht tatsächlich wie eine zum Stehen gebrachte Kakaofrucht. Und die wird dann noch mal so ein bisschen gestreckt, bis sie dann als Mae West Bottle sozusagen ein Designklassiker wird.
SPRECHERIN
Nicht nur Farbe und Schriftzug auf dem gedruckten Etikett, sondern auch die Form der Verpackung sind für Coca-Cola bis heute markenbildend. Ähnliche Beispiele gibt es auch in Deutschland: die sogenannte Seitenhalsflasche von Odol.
SPRECHER
Die milchweiße Flasche erinnert entfernt an einen Schwan, ihr Hals macht einen Knick. Wie bei der Colaflasche ist das Design der Odol-Flasche nicht nur ein Marketing-Gag, um die Flasche unverwechselbar zu machen, sondern erfüllt eine wichtige technische Funktion: die Dosierung.
OT 12 Hans-Georg Böcher
Wenn Sie das Produkt verwenden, dann schütteln sie sozusagen einen Tropfen ins Glas. Es darf nicht zu viel rauskommen. ... Das ist alles ausgerechnet, dass die Anwendung möglichst optimal funktioniert, und es soll sozusagen beim Schütteln ein Tropfen ins Glas kommen. Wenn sie es heftiger haben wollen, können sich auch zwei rein machen. Aber es darf kein Rinnsal herauslaufen.
Musik 11: Pierrot’s Dream Part 1 – siehe vorn – 25 Sek
SPRECHERIN
Solchen einzigartigen Ausnahme-Verpackungen zollen Verbraucher gern Respekt. Ansonsten aber sind Verpackungen eher ein Ärgernis: die Tube, aus der die Creme plötzlich hinten austritt; die Lasche am Milchkarton, die sich nur mit viel Kraft öffnen lässt und einen Schwung Milch mit nach draußen befördert; der Foliendeckel am Sahnebecher, der im Einkaufbeutel mal wieder kaputt geht.
SPRECHER
So richtig geliebt werden Verpackungen eigentlich nur an Feiertagen: als Geschenkverpackung. Geschenke schön einzuwickeln ist fest in unserer Kultur verankert.
OT 13 Hans-Georg Böcher
Bei der Geschenkverpackung geht es auch um Verunklarung. Es geht darum, bis zum letzten Moment noch den Beschenkten zu überraschen. Und diese Überraschung spielt eine ganz große Rolle für die Freude beim Schenken.
SPRECHERIN
In der Verschönerung liegt Wertschätzung: eine schöne Verpackung mit edlem Papier und Stoffschleife ist ein Versprechen: sie steigert die Erwartungen an den Inhalt. Ursprünglich hatte die Schleife übrigens mal die Funktion, das Papier zu fixieren. Heute nimmt man dafür Klebestreifen, die Schleifen sind nur noch Deko. Aufbügeln und Wiederverwenden ist out. Denn für die meisten Menschen ist das Geschenkpapier wie jede andere Verpackung auch: vor allem Müll.
Musik 12: Müll – Lied – 21 Sek
SPRECHER
Verpackungs-Experte Hans-Georg Böcher ärgert sich über den schlechten Ruf der Verpackung.
OT 14 Hans-Georg Böcher
Die Verpackung leistet, bis es zu dem Entsorgungsthema kommt, sehr viel Gutes. Sie stellt die Hygiene des Produkts sicher, sie senkt die Preise, sie klärt den Verbraucher auf über Inhaltsstoffe. Sie erfüllt alle politischen Botschaften, die auf ihr abgedruckt werden sollen zugunsten einer veränderten Welt. Das heißt also die Verpackung hat sehr, sehr viel zu leisten. Dass sie am Ende mal tot ist, ist klar. Das ist wie bei jedem Produkt.
SPRECHERIN
Fast 20 Millionen Tonnen Verpackungsmüll entstehen jedes Jahr allein in Deutschland. Als besonders böse gilt Kunststoff, eines der jüngsten Verpackungsmaterialien. Dabei haben Kunststoffe gerade als Verpackung viele Vorteile: Sie sind leicht, aber stabil und gegebenenfalls elastisch. Sie sind resistent gegen Feuchtigkeit und können den Kontakt mit schädlichen Stoffen verhindern. Aber genau das kann auch zum Problem werden: Petrochemische Kunststoffe verrotten nicht oder nur sehr langsam.
SPRECHER
Doch an der Verschmutzung der Meere ist nicht die Chipstüte schuld, sondern der Mensch und sein Konsumverhalten, sagt Hans-Georg Böcher:
OT 15 Hans-Georg Böcher
Wir müssten, wenn wir wirklich weniger Verpackungen haben wollten, auf den Joghurt verzichten und nicht den Joghurtbecher schuldig machen.
SPRECHERIN
Die Antwort der Konsumgesellschaft aber lautet nicht Verzicht, sondern Recycling: Verpackungsmaterial wiederverwenden. Eine gute Verpackung sollte also eine sein, die man entweder mehrfach verwenden oder wiederverwerten kann. Doch das ist nicht so einfach.
SPRECHER
Glas zum Beispiel lässt sich sehr gut recyceln, doch um es wiederzuverwerten braucht es hohe Schmelztemperaturen, also viel Energie. Und auch als Mehrwegprodukt hat es einen Haken: Glas ist schwer, der Energieverbrauch beim Transport damit hoch.
OT 16 Hans-Georg Böcher
Ich warne vor diesen ganzen Greenwashing-Diskussionen, vor irgendwelchen Ökobilanzen, die sich natürlich diese Branchen dann gegenseitig immer, ja kritisieren oder sich ihre eigene zurechtrechnen. Ich meine, das weiß jeder, dass wir Mehrweg haben. Aber dann weiß man auch, dass es schwer ist, dass damit Lastwagen auf der Straße sich bewegen müssen, die natürlich auch Energie verbrauchen.
SPRECHERIN
Greenwashing von Verpackungen ist nicht nur verlogen, es schadet der Umwelt. Beispiel Verbundstoffe: Durch bräunliche Packpapierfarbe und ein aufgedrucktes grünes Blatt suggerieren die Hersteller, ihre Verpackungen seien umweltfreundlich. Müslimischungen, Salatboxen, Gewürze oder Bonbontüten: immer mehr Lebensmittelverpackungen sehen aus – und fühlen sich von außen auch so an – als seien sie aus Papier. Verbraucher halten sie wahlweise für kompostierbar, recyclingfähig oder bereits recycelt. Nichts davon stimmt.
SPRECHER
Die Innenseite von Verbundverpackungen ist mit Kunststoff beschichtet, manche enthalten auch Aluminium. Zur Herstellung wird viel Energie benötigt, außerdem Wasser, Holz, Erdöl und Chemikalien. Recyceln kann man solche Verbundstoffe kaum bis gar nicht.
OT 17 Hans-Georg Böcher
das ist etwas, womit natürlich im Marketing gearbeitet wird, der sogenannte ungestrichene Karton, also wenn sie Produkte sozusagen als grün inszenieren wollen. Aber der Verbraucher assoziiert sozusagen eine grüne Lebensphilosophie des Herstellers mit ungestrichenen braunem Karton.
SPRECHERIN
Seit 2022 sind kostenfreie Plastiktüten an der Supermarktkasse verboten. Stattdessen gibt es relativ stabile Papiertüten zu kaufen. Diese Tüten sind unbeschichtet, sie bestehen wirklich aus Altpapier und können recycelt werden. Der Energieaufwand dafür ist allerdings hoch. Um ökologischer zu sein als die früheren Plastiktüten müsste man sie etwa vier oder fünf Mal verwenden.
Musik 13: Mit dir in der Gegend – siehe M1 – 35 Sek
SPRECHER
Eines ist jedenfalls klar: Verpackungen sind nicht nur Drumherum. Es sind Hüllen, die es in sich haben, Wundertüten der Technik, eng mit dem Produkt in ihrem Inneren verbunden. Es lohnt sich, ihnen ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
Priester, Spieler, Freimaurer, Geiger, Scharlatan, Dramatiker, Erfinder der französischen Staatslotterie und noch vieles mehr: Der Europa-Reisende Giacomo Casanova war nicht nur der Frauenheld, zu dem ihn die Legende gemacht hat. Seine Memoiren geben uns heute einen seltenen und umfassenden Einblick in die Sitten des 18. Jahrhunderts. Von Karin Becker (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Becker
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Irina Wanka, Andreas Neumann, Stefan Wilkening
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Andrea Bräu
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Ein Podcast-Tipp für alle, die gerne authentische Geschichten hören: „Ein Zimmer für uns allein“ – zwei Frauen, zwei Generationen und die Frage „Wie hast du das erlebt?“
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
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Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum - Die Gesellschaft wird immer älter - In den Städten dominieren Ein-Personen-Haushalte. Das Unbehagen wächst. Sind generationsübergreifende Wohnformen eine Alternative? Welche Motive und Wünsche haben die Gemeinschaftssuchenden und welche Herausforderungen gibt es? Von Sylvia Schopf (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Sylvia Schopf
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Christopher Mann, Diana Gaul
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Andrea Bräu
Interviewpartner/innen:
Susanne Schmid (Innenarchitektin, Mitglied in einem Schweizer Architektenbüro und Mitherausgeberin des Buches „Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens“);
Frühschütz. Leo (Journalist und Vorstandsmitglied der Genossenschaft und Mitbegründer und Mitbewohner der „Gemeinschaft Sulzbrunn“ im Allgäu);
Christian Dibbern (Mitbegründer und Bewohner des Mehrgenerationenprojekts „Tocklerhof“ in Bamberg);
Diverse (Mathilda, Imke, Margareta, Zoe und weitere Mitglieder der „Gemeinschaft Sulzbrunn“);
Anna Nagler (Mitglied der "Gemeinschaft Sulzbrunn");
Alfons Fischer (Mitglied der "Gemeinschaft Sulzbrunn");
Beate Gillhaus (Mitglied der "Gemeinschaft Sulzbrunn");
Christine Kohler (Mitglied der "Gemeinschaft Sulzbrunn");
Rolf Ebenhoch (Mitglied der "Gemeinschaft Sulzbrunn")
Linktipps:
Stiftung Trias - eine Gemeinnützige Stiftung für Boden, Ökologie und Wohnen:
EXTERNER LINK | https://www.stiftung-trias.de
Koordinationsstelle „Wohnen im Alter – Konzepte, Initiativen und Visionen“ - eine Initiative des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen:
EXTERNER LINK | https://www.wohnen-alter-bayern.de/Die-Koordinationsstelle.html
Deutsches Zentrum für Altersfragen:
EXTERNER LINK | www.neue-wohnformen.de
Literaturtipps:
„Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens - Modelle des urbanen Zusammenlebens“, Susanne Schmid (Hrsg.), Birkhäuser Verlag Berlin/Basel 2019.
„Gemeinschaftsbildung – Der Weg zu authentischer Gemeinschaft“, M. ScottPeck, Eurotopia, Verlag Schloss Oberbrunn 2021.
Seit der Wikingerzeit ist Stockfisch, getrockneter Kabeljau, ein wichtiges Handelsprodukt. Von den Küsten des Nordens bis zu den Märkten Südeuropas und Amerikas prägte er Wirtschaft, Kultur und Küche vieler Länder. Von Andreas Pehl
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Pehl
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Julia Fischer
Technik: Adele Meßmer
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Klaus Adelt (Stockfischhändler, Selbitz)
Sören Affeldt (Kommunikationsleiter Europäisches Hansemuseum, Lübeck)
Bart Holterman (Wissenschaftlicher Mitarbeiter FGHO, Lübeck)
Hans Christian Küchelmann (Archäozoologe, Bremen)
Bjørg Helen Nøstvold (Stockfischproduzentin, Torsvåg/ Vannøya)
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Linktipps:
Europäisches Hansemusem Lübeck HIER
Forschungsprojekt über Stockfischhandel des Deutschen Schifffahrtmuseum - Leibniz-Institut für maritime Geschichte HIER
Genussregion Franken: Stockfisch in Bayern HIER ENTDECKEN
Blog "Fish and Ships" HIER ENTDECKEN
Literatur:
Küchelmann, Hans Christian (2023): „Men schall ock berger, yslander, und hidlander vysch, elcken under synen namen unde vor syne werde, vorkopen“. Zur hansischen Versorgung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Städte mit Stockfisch. in: Benecke, Norbert (Hrsg.): Leben in der mittelalterlichen Stadt. Neue archäobiologische Forschungen, Archäometrische Studien 2, 111-158, Berlin (https://www.knochenarbeit.de/berger-yslander-und-hidlander-vysch/) – wissenschaftlicher Artikel zum Stockfischhandel
Magra, Christopher P.: The Fisherman's Cause: Atlantic Commerce and Maritime Dimensions of the American Revolution, 2009. Hintergründe zur Amerikanischen Revolutuion und der Fischindustrie.
Kochbücher aus Bayern mit Stockfischrezepten: "Buoch von guoter Spise" Würzburg (ca. 1350), "Kochbuch des Meister Eberhards" Landshut (1404-1450) "Kochbuch des Meister Hannsen" Amberg (1460), „Kuchenmeisterey" Passau (1487), "Kochbuch der Sabina Welserin" Augsburg (1553) Kochbuch des Balthasar Staindl Augsburg (1569).
Prilloff, Ralf-Jürgen (2022): Frühneuzeitliche Tierreste von der Herreninsel im Chiemsee. Einblicke zur Tierhaltung, -nutzung und Ernährung in einem Chorherrenstift. in: Dannheimer, Hermann (ed.): Kloster und Stift Herrenchiemsee – Archäologie und Geschichte (um 620–1803). Band 2: Historische und Naturwissenschaftliche Beiträge, Abhandlung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Neue Folge 148, 291-325, München
Mark Kurlansky: Kabeljau. Der Fisch, der die Welt veränderte. Claassen Verlag, 1999. – Schwerpunkt auf Klippfisch und Bedeutung des Kabeljaus für Amerika.
Holterman, Bart: The Fish Lands. German Trade with Iceland, Shetland and the Faroe Islands in the late 15th and 16th Century. De Gruyter Oldenbourg, 2020. https://doi.org/10.1515/9783110655575 - Stockfischhandel zwischen Deutschland und Island/ Shetland und den Faröern
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 Zsp. Stockfisch ATMO 200
Zugansage: „Nächster Halt Selbitz. Ausstieg in Fahrtrichtung links“
ERZÄHLERIN
Selbitz in Oberfranken. Ganz im Norden Bayerns.
02 Zsp. Stockfisch ATMO 200
Aussteigen, Schritte am Bahnsteig, Begrüßung
ERZÄHLERIN
Die Heimat von Klaus Adelt. Hier beginnt die Reise zu einer fast vergessenen geschichtsträchtigen Delikatesse: dem Stockfisch.
03 Zsp. Stockfisch O-TON Adelt 736a
Ich persönlich nehme eine starke Astschere. Wenn ich das geschäftlich machen würde, müsste ich so eine große Schere nehmen, wie es die Orthopäden beim Operieren von der Hüfte nehmen.
ERZÄHLERIN
Auf der Küchenzeile liegt etwas, das aussieht wie eine überdimensionale Trockenpflaume in Fischform. Nicht ganz Fischform, der Kopf fehlt. Es ist ein getrockneter Kabeljau, von Klaus Adelt aus Norwegen nach Franken importiert.
04 Zsp. Stockfisch ATMO aus 737
Flossen abschneiden
05 Zsp. Stockfisch O-TON Adelt 736b
Der Fisch wird meistens in drei Teile geteilt und kommt dann mindestens acht Tage ins Wasser. Im Wasser nimmt er noch mal das Doppelte an Gewicht an und muss dann irgendwann mal von seiner Haut befreit werden.
06 Zsp. Stockfisch ATMO aus 738
Haut vom Fisch ziehen
ERZÄHLERIN
Mit einer Zange beginnt Klaus Adelt, die Haut vom Fisch zu ziehen. Darunter: das helle, trockene Fleisch.
07 Zsp. Stockfisch O-TON Adelt 712a
Stockfisch hat es gegeben um Karfreitag. Mit all den Dingen, die dem Stockfischessen vorausgehen, sprich der Geruch im Haus, wo er gelagert war. Das Einwässern und all die Geschichten.
08 Zsp. Stockfisch ATMO aus 738
Haut vom Fisch ziehen
09 Zsp. Stockfisch O-TON Adelt 717
In jedem Haushalt wird der Stockfisch etwas anders zubereitet. Grundbestandteil ist immer der getrocknete Kabeljau, der Stockfisch, Speck, Zwiebeln, und dann kommt es auf die Brühe an, auf die Sauce: Weiße Brühe mit Milch, Eierbrühe. Jede Familie schwört auf ihr Rezept: Unser Rezept ist das beste. Und so hat es die Oma und die Uroma gemacht und so sollen es die Enkel auch mal machen.
10 Zsp. Stockfisch ATMO aus 739
Wasser in einen Eimer
11 Zsp. Stockfisch O-TON Adelt 720
Ludwigstadt, Teile von Kronach. Und dann geht es rüber in den Münchberger Raum. Der Hofer Raum vollständig. Das sind die typischen Stockfischgebiete.
ERZÄHLERIN
Ein Eimer Wasser, ein Löffelchen Natron über den Fisch, damit er beim Kochen schön weiß bleibt, viel Fischaroma im Keller von Klaus Adelt.
12 Zsp. Stockfisch ATMO aus 739
Fisch herrichten
13 Zsp. Stockfisch O-TON Adelt 711
Durch das, dass die Eltern das Lebensmittelgeschäft hatten und der Stockfisch in der Osterzeit eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat, er wurde damals in Ballen angeliefert, mit Draht fest verbunden, in Jute eingenäht und war für unsere Leute der ideale Fisch für die Fastenzeit. Und als wir das Geschäft aufgegeben haben, haben wir keinen Stockfisch mehr verkauft. Es gab auch eine Zeit lang, in der der Stockfisch etwas in Vergessenheit geraten ist.
Musik: Time traveller red 0‘42
ERZÄHLERIN
Mitte der 1990er Jahre hat Klaus Adelt dann die alten Traditionen wieder aufleben lassen und eine Karriere als nebenamtlicher Stockfischhändler begonnen. Er trat in die Fußstapfen vieler Kaufleute, an deren Ware sich in Bayern heute kaum mehr jemand erinnert.
Um im Frankenwald oder im Fichtelgebirge auf den Tellern zu landen, hatte der Fisch eine lange Reise hinter sich. Eine der wichtigsten Etappen auf seiner Route von Nord nach Süd war die Hanse, ein Bund von Städten rund um die Nord- und Ostsee, der im 13. bis 17. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte.
14 Zsp. Stockfisch O-TON Adelt 715
Es gab die Handelswege über die Hansestädte. Von dort aus ging dann der Fisch weiter über die Handelsrouten nach Mitteldeutschland, nach Franken. Hansestädte, über Magdeburg, Leipzig und die Händler hierher, die dann auch nach Nürnberg geliefert haben.
15 Zsp. Stockfisch ATMO 200
Zugansage: „Nächster Halt Lübeck“
ERZÄHLERIN
Die Reise auf den Spuren des Stockfischs geht gut 500 Kilometer nach Norden. Lübeck, eine der führenden Hansestädte, spielte eine Schlüsselrolle beim Stockfischhandel.
16 Zsp. Stockfisch ATMO 854
Museumsführung
17 Zsp. Stockfisch O-TON Affeldt 855
Hanse – der Wortursprung ist nur „Schar“: eine Gruppe von Leuten, die unterwegs sind. Das kommt aus dem Althochdeutschen. Und ursprünglich ist es so, dass die Hansen von niederdeutschen Kaufleuten sich in Europa umtun und Handel treiben, Privilegien aushandeln, Sonderrechte mit Grafen vereinbaren, um ihren Handel voranzubringen.
ERZÄHLERIN
Sören Affeldt ist Kommunikationsleiter im Europäischen Hansemuseum in Lübeck. Für Händler aus Oberdeutschland, also Süddeutschland war es fast unmöglich, ohne die Hanse an deren privilegierte Handelsgüter zu kommen, etwa an den Stockfisch.
18 Zsp. Stockfisch O-TON Affeldt 852
Handelsverbindungen gibt es natürlich zu den oberdeutschen Städten. Da handelt man, aber die werden nie Hanseprivilegien nutzen können an anderen Orten. Bei Hanse ist es so, dass wir Kaufleute haben, die haben Freundschaften, Verwandte. Und die tauschen Informationen aus: wo kann ich was gut einkaufen oder teuer verkaufen.
19 Zsp. Stockfisch O-TON Holterman 864
Das Spätmittelalter, die frühe Neuzeit ist eine Zeit, wo eine gewisse Urbanisierung in Europa sich durchsetzt. Die Städte werden im Laufe des Hochmittelalters gegründet und die wachsen. Es gibt eine größere Bevölkerung, die sich selbst nicht mehr ernähren kann. Da müssen Produkte gehandelt werden, um sie zu ernähren. Und dann gibt es nur ein paar Produkte, die infrage kommen, die man so lange haltbar machen kann, dass man sie über Tage oder Wochen oder Monate transportieren kann, ohne dass sie schlecht werden.
ERZÄHLERIN
Bart Holterman ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse und des Ostseeraums am Lübecker Hansemuseum.
Musik: Needle and twine 0‘35
ERZÄHLERIN
In Küstenstädten wie dem norwegischen Bergen entwickelte sich eine blühende Wirtschaft rund um den Kabeljau. Fischer, Hafenarbeiter, Schiffsbesatzungen und Kaufleute verdienten ihren Lebensunterhalt mit dem Stockfischhandel. Der Wohlstand, der dadurch erwirtschaftet wurde, floss in den Bau von Kirchen, Schulen und öffentlichen Gebäuden, was das Stadtbild vieler Handelszentren bis heute prägt.
Doch was ist dieser Stockfisch denn eigentlich?
21 Zsp. Stockfisch O-TON Holterman 860
Der Stockfisch ist getrockneter Fisch, meistens Kabeljau, der rein luftgetrocknet ist. Das geht eigentlich nur im hohen Norden, in Polargebieten. Und da reden wir über Nordnorwegen aber auch Island. Da sind die Lofoten ein sehr berühmtes Gebiet, wo das produziert wurde, aber auch in anderen Regionen.
22 Zsp. Stockfisch ATMO 200
auf der Fähre Bugwelle
ERZÄHLERIN
Die Reise geht weiter nach Norden. Viel weiter. In den Küstenregionen Nordnorwegens lebten unzählige Menschen von der Kabeljaufischerei und der Stockfischproduktion. Auf den Lofoten trafen sich in der Kabeljausaison im Winter viele tausend Fischer aus ganz Norwegen.
Die heute bei Touristen so beliebten Rorbuer, Holzhäuser, die auf Stelzen ins Meer hinausgebaut sind, boten den saisonal tätigen Fischern aus ganz Norwegen ein Dach über dem Kopf.
23 Zsp. Stockfisch ATMO 200
auf der Fähre mit Ansage auf Norwegisch
ERZÄHLERIN
Rund 2.500 Kilometer nördlich von Lübeck liegt die Insel Vannøya. Schneebedeckte Berge ragen steil aus dem grauen Meer. Die tiefstehende Wintersonne färbt den Himmel rosa.
24 Zsp. Stockfisch ATMO 200
Fähre legt an
ERZÄHLERIN
Ein paar sturmgewöhnte Holzhäuser, ein Leuchtturm auf rundgewaschenen, schwarzen Felsen, baumlose, tiefverschneite Landschaft, ein Kai mit kleinen Fischerbooten.
25 Zsp. Stockfisch ATMO 200
Schiffsbeladung und Produktion
26 Zsp. Stockfisch O-TON Nøstvold 902
Musik: Tradition 0‘30
ERZÄHLERIN
Im Fischerdorf Torsvåg entlädt ein kleines Boot seinen Fang in der Fischverarbeitung von Norfra. Bjørg Helen Nøstvold ist Firmenchefin.
Der Kabeljau werde an Bord der Boote geschlachtet und müsse sofort ausbluten, das sei sehr wichtig für die Qualität und die Haltbarkeit. Rund 120 selbstständige Fischer liefern hier ihren Fang ab.
27 Zsp. Stockfisch O-TON Nøstvold 903
OV weiblich
Die haben bessere Qualität als die großen Schiffe. Weniger Fang ist leichter zu hantieren und sie können auf die Qualität achten. Die meisten Fischer wohnen hier auf der Insel, sie fahren nicht weit raus, maximal zwei Stunden zu den Fischgründen. Dadurch bringen sie täglich frischen Fisch, der liegt nicht ewig an Bord.
28 Zsp. Stockfisch ATMO 200
Meeresrauschen am Strand
ERZÄHLERIN
Hier im Norden Norwegens spielt die natürliche Wanderung des Kabeljaus den Fischern gewissermaßen in die Netze, erzählt Bjørg Helen Nøstvold.
29 Zsp. Stockfisch O-TON Nøstvold 912
OV weiblich
Ganz vereinfacht: Der Kabeljau schlüpft auf den Lofoten. Dann schwimmt er mit der Meeresströmung nach Norden, Richtung Russland, wo er aufwächst. Wenn er größer wird, schwimmt er in die Barentssee, und wenn er dann geschlechtsreif wird, geht seine Reise zurück auf die Vesterålen und die Lofoten. Auf diesem Weg kommt er zuerst hier bei uns vorbei.
ERZÄHLERIN
An Land wird der Fisch komplett verarbeitet. Aus der Leber wird Fischöl hergestellt, aus den Rogen Kaviarersatz. Kinder schneiden die Zungen heraus, die hier im Norden als saisonale Spezialität gebraten auf den Tellern landen. Die Schwimmblase ist in Asien eine Delikatesse, der getrocknete Kopf gilt in Nigeria als Spezialität. Aus den Därmen wird Dünger hergestellt.
30 Zsp. Stockfisch O-TON Nøstvold 906
OV weiblich
Den Fisch selber können wir entweder frisch verschicken oder wir können ihn salzen, dann wird es Klippfisk, Klippfisch, der als Bacalao vor allem nach Portugal geliefert wird, oder wir hängen ihn auf, dann wird es Stockfisch, der geht vor allem nach Italien und Kroatien.
31 Zsp. Stockfisch ATMO 200
Trockengestelle
ERZÄHLERIN
Hinter dem Fabrikgebäude steht eine fast endlose Reihe von Holzgestellen. Ein bisschen erinnert das Ganze an ein überdimensionales Klettergerüst.
32 Zsp. Stockfisch O-TON Nøstvold 937
OV weiblich
Hier sind unsere Gestelle zum Trocknen der Fische. Oben drüber haben die ein Netz, damit die Vögel die Fische nicht fressen. Möwen sind nicht so klug, aber Krähen finden schnell raus, wie man Fisch stehlen kann.
Musik: Cold spell (b) 0‘53
ERZÄHLERIN
Die geköpften und ausgenommenen, ansonsten aber unbehandelten Fische werden zwei und zwei am Schwanz zusammengebunden und über die Holzstangen gehängt. Vielleicht hat der Stockfisch von diesen Trockenstangen seinen Namen. Eng an eng baumeln die Fische im arktischen Wind. Die Temperaturen rund um den Gefrierpunkt trocknen den Fisch langsam aus. Schnee beeinträchtigt in diesem Prozess nicht, nur zu starker Frost zerstört das Fleisch. Doch den gibt es hier am Meer so gut wie nie. Insekten sind hier im hohen Norden im Winter kein Thema, nur zu hohe Feuchtigkeit und Regen sind eine Gefahr für den künftigen Stockfisch: dann könnten sich Stockflecken bilden oder der Fisch faulen.
33 Zsp. Stockfisch O-TON Nøstvold 943
OV weiblich
Wir hängen ihn raus und dann klopfen wir auf Holz, dass es nicht zu warm und nicht zu kalt ist und es nicht zu viel regnet. Und dann warten wir drei Monate und holen ihn wieder rein. Dann sehen wir, wie das Ergebnis ist.
ERZÄHLERIN
Nach rund drei Monaten wird geprüft, ob der Fisch trocken genug ist. Das übernehmen erfahrene Mitarbeiter wie Ola.
34 Zsp. Stockfisch ATMO 200
Klopfprobe
35 Zsp. Stockfisch O-TON Ola 945
Erklärung auf norwegisch
ERZÄHLERIN
Ola nimmt zwei Fische, die genau so aussehen wie die in Selbitz, in der Küche von Klaus Adelt, und klopft sie gegeneinander – gut getrockneter Stockfisch müsse klingen, wie wenn man zwei Holzstücke gegeneinanderschlägt, zwei Stöcke.
34 Zsp. Stockfisch ATMO 200
Klopfprobe
ERZÄHLERIN
Aus rund 1.200 Kilo fangfrischem Fisch sind nach dem Ausnehmen und Trocknen rund 300 Kilo Stockfisch geworden. Die Qualitätskontrolle steht an: ist das getrocknete Fleisch weiß und fest, frei von Stockflecken oder Moosansatz?
36 Zsp. Stockfisch ATMO 200
Trockenfisch umräumen, knackt, schön!
37 Zsp. Stockfisch O-TON Nøstvold 951
OV weiblich
Dann wird nach Gewicht sortiert, nach Länge und Qualität.
ERZÄHLERIN
Und dann macht sich der Stockfisch auf die Reise.
38 Zsp. Stockfisch ATMO 200
auf der Fähre, Bugklappe schließt
Musik: Time traveller red 0‘20
ERZÄHLERIN
Zurück nach Deutschland. Rund 3.000 Kilometer hat der Stockfisch auf dem Rücken, bevor er in Franken ankommt, heute im Kühlanhänger von Klaus Adelt – früher per Schiff über Bergen und die Hansestädte. Bart Holtermann vom Europäischen Hansemuseum in Lübeck:
39 Zsp. Stockfisch O-TON Holterman 880
Sobald der Fisch getrocknet ist, wird er vor den norwegischen Kaufleuten von Nordnorwegen nach Bergen gebracht. Da waren die Hanse-Kaufleute sehr dominant. Die hatten dort ihr Kontor, ihre Niederlassung. Und die Hanseaten haben es dann gekauft und dann weiter auf die britischen Inseln, aber auch auf den Kontinent exportiert.
ERZÄHLERIN
Von den Hansestädten im Norden Deutschlands und der Niederlande aus führte der Weg des Stockfischs über Flüsse oder über Land in den Süden.
40 Zsp. Stockfisch O-TON Holterman 872
In den Süden, das geht sehr weit, dass dieser Stockfisch weiter transportiert wird. Es gibt einige Quellen, die sogar explizit sagen, dass Stockfisch typisch etwas für Schwaben ist oder für Süddeutsche.
41 Zsp. Stockfisch O-TON Küchelmann 806
Stockfisch hat eine sehr standardisierte Herstellungsgamemethode. Und an den Produktionsorten findet man deswegen andere Dinge als an den Orten, wo er verhandelt und konsumiert wurde. Konkret werden bei der Produktion die Köpfe abgetrennt. Die findet man in Skandinavien.
ERZÄHLERIN
Hans Christian Küchelmann aus Bremen ist Archäozoologe. Er beschäftigt sich mit der Beziehung von Menschen und Tieren über die verschiedenen Kulturen und Zeiten. Neben schriftlichen oder bildlichen Quellen untersucht er archäologische Funde von tierischen Überresten.
42 Zsp. Stockfisch O-TON Küchelmann 807
Ein Hinweis auf Stockfisch ist tatsächlich, wenn man relativ große Kabeljauknochen hat und eine Ungleichverteilung der Skelettelemente. Also wenn man zum Beispiel überhaupt keine Kopfelemente hat und nur Knochen von großen Individuen. Es gibt Fundstellen an der Nordseeküste, wo man sowohl frischen Kabeljau als auch Stockfisch hat. Der frische Kabeljau zeichnet sich dadurch aus, dass er meistens kleiner ist. Wenn die groß werden, wandern sie in den Norden ab. Da findet man dann auch die Kopfelemente von kleineren Individuen. Und um das abzusichern, kann man biomolekulare Methoden anwenden wie DNA-Analysen. Mit denen kann man nachweisen, aus was für einer Population der Kabeljau stammte.
ERZÄHLERIN
Mit solchen Methoden können Archäozoologen untersuchen, wann die Erfolgsgeschichte des Stockfischs begann.
43 Zsp. Stockfisch O-TON Küchelmann 809
Seit ungefähr 2.000 Jahren – also um Christi Geburt findet man in Nordnorwegen Veränderungen in der Nahrungszusammensetzung der Menschen. Man kann sehen, dass da eine Standardisierung der Fischverarbeitung stattfindet und dass es mehr wird. D.h., es sieht so aus, als ob so circa in der Eisenzeit damals in Norwegen die ersten Anfänge dieser Methode der Stockfischherstellung beginnen.
Musik: Mystic tendency (b) 0‘17
ERZÄHLERIN
Zunächst wird der Stockfisch regional gehandelt. In der Wikingerzeit dient er den Seefahrern als gut haltbares Nahrungsmittel auf ihren langen Reisen in Richtung Island, Grönland und Vinland/ Amerika.
44 Zsp. Stockfisch O-TON Küchelmann 815
Island ist von Norwegen aus im Wesentlichen besiedelt worden. Und die norwegischen Siedler haben diese Methode mitgenommen nach Island. Die Westfjorde, die für Landwirtschaft nicht so gut geeignet sind, waren mit die am ersten besiedelten Orte. Und die Vermutung ist, dass sie gezielt ausgesucht wurden als Siedlungsplätze, weil dort auch Kabeljaupopulationen sind, die sich leicht befischen lassen. Und dann wurde auch in Island Stockfisch hergestellt.
ERZÄHLERIN
Die Nachfrage nach Stockfisch wuchs und damit auch die Professionalisierung der Produktion.
45 Zsp. Stockfisch O-TON Küchelmann 813
Ab dem Hochmittelalter, elftes, zwölftes Jahrhundert, lässt sich eine Standardisierung der Produktion feststellen und ein Handel in den Süden. Am Anfang waren auch die Engländer und schottische Händler sehr involviert, die sind dann relativ bald durch die Hanse verdrängt worden und haben nur noch eine untergeordnete Rolle eingenommen.
ERZÄHLERIN
Salz um Fisch haltbar zu machen war zu teuer. Nur wenige Orte konnten überhaupt lebensmitteltaugliches Salz liefern. Daher war die reine Trocknung die bevorzugte und billigste Methode für Kabeljau. Immer weiter in den Süden ging der Siegeszug des Stockfisches, wie archäologische Funde zeigen.
Und so landet der Stockfisch schließlich auch in Süddeutschland.
47 Zsp. Stockfisch O-TON Küchelmann 823
Es gibt mehrere Funde aus Österreich, Salzburg, zum Beispiel, da gibt es die Residenz, ein Gasthaus, da hat der Kollege Pucher Kabeljaufunde gemacht. In Mauerbach im Kloster gibt es Funde und auch historische Inventarlisten, wo Stockfisch vorkommt. Und Süddeutschland ist das neueste Fundmaterial aus Herrenchiemsee, auch ein Kloster.
ERZÄHLERIN
Stockfisch also auch auf Herrenchiemsee, nicht nur Saibling, Renke, Hecht?
48 Zsp. Stockfisch O-TON Küchelmann 828
Süßwasserfisch war damals eine relativ teure Ressource im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Und da kommt der Stockfisch ins Spiel, mit dem man Profit machen konnte, der aber immer noch bezahlbar war.
Musik: Curious question 0‘25
ERZÄHLERIN
Der Grund, warum er so reißenden Absatz fand, war wohl aber nicht unbedingt der Preis. Je weiter der Fisch transportiert wurde, desto teurer wurde er.
Von einem „Arme-Leute-Essen“ kann daher wohl nur in den mitteleuropäischen Küstenregionen die Rede sein, nicht unbedingt in Süddeutschland. Was war also der Grund für den hohen Stockfischkonsum?
49 Zsp. Stockfisch O-TON Holterman 856
Dazu gibt es immer die Theorie, dass die katholische Kirche eine Rolle spielt, weil der Verzehr von Fleisch an Fastentagen untersagt ist. Und deswegen ist man an Fastentagen, teilweise war das echt ein großer Teil des Jahres, auf Fisch umgestiegen. Ich hab persönlich ein bisschen ein Problem mit dieser Erklärung, ich weiß, dass sie sehr gängig ist. Aber mich stört immer ein bisschen daran, dass vorausgesetzt wird, als ob Leute nur Fisch essen, wenn sie dazu gezwungen werden. Wenn es die katholische Kirche nicht gegeben hätte, denke ich nicht, dass die Leute keinen Stockfisch gegessen hätten. Es ist eher die lange Haltbarkeit von tierischen Proteinen, die entscheidend ist.
ERZÄHLERIN
Erzählt Bart Holterman aus Lübeck.
50 Zsp. Stockfisch O-TON Holterman 869
Die Entwicklung von Städten, da hat man immer das Problem, dass die Leute, die da wohnen, nicht ihr eigenes Essen produzieren, weil zu viele Leute auf einer kleinen Fläche sind. Und je größer die Stadt wird, desto mehr Leute dort wohnen, desto schwieriger das Problem.
ERZÄHLERIN
Schwankungen bei der Ernte, Hungersnöte, Kriege und Seuchen erschwerten die Ernährungslage zusätzlich.
Musik: Highwaymen B 0‘30
ERZÄHLERIN
Ein Fisch, der die Welt veränderte, lautet der überspitzte Titel eines Buchs zum Kabeljau von Mark Kurlansky. Mit der Entdeckung der Neuen Welt und der Entwicklung transatlantischer Handelsrouten im 15. und 16. Jahrhundert wurde der Stockfischhandel zu einem globalen Phänomen.
52 Zsp. Stockfisch O-TON Holterman 861
Neufundland, das hat man Ende des 15. Jahrhunderts entdeckt und herausgefunden, dass es da große Fischbestände gibt, Kabeljau war sehr reich vorhanden, und da sind die Europäer selbst hingefahren und haben vor Ort gefischt. Die haben nicht nur den vorhandenen Stockfisch aufgekauft, sondern selbst produziert. Und die haben die Fische dort eingesalzen und dann auf den Stränden trocknen lassen und dann zurückgenommen.
ERZÄHLERIN
Stockfisch und mit der besseren Verfügbarkeit des Salzes auch die gesalzene Variante, der Klippfisch, wurden so auch quer über den Atlantik ein bedeutendes Handelsgut.
Der sogenannte atlantische Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und den amerikanischen Kolonien war ein zentraler Bestandteil der europäischen Expansion: getrockneter Kabeljau, Sklaven, Zucker. Stockfisch und Klippfisch waren eine preiswerte Möglichkeit, die Plantagenarbeiter und Sklaven zu ernähren. Kriege wurden um die besten Fischgründe geführt, Fischereirechte und Kabeljau spielten bei der Amerikanischen Revolution eine wichtige Rolle. Und immer noch streiten die Staaten um Fischgründe und Quoten zwischen Profit und dem Versuch, die schwindende Kabeljaupolulation zu erhalten. Der Stockfisch spielt heute dabei nur noch eine kleine Rolle. Und dennoch gehört er immer noch dazu – auch in der traditionellen Küche Frankens.
Musik Optimistic prospects (reduced 2) 0‘52
53 Zsp. Stockfisch O-TON Holterman 879
Es gibt ganz viel Essen, was entstanden ist, weil man irgendwelche Wege versucht hat, es haltbar zu machen, aber die zur Delikatesse geworden sind. So ist es mit dem Stockfisch auch: Delikatesse oder Tradition.
ERZÄHLERIN
Und auch wenn der Aufwand höher ist als bei anderen Fischgerichten: der Stockfisch ist es wert, meint Klaus Adelt aus Selbitz:
54 Zsp. Stockfisch O-TON Adelt 725
Schlemmerfilet à la Bordelaise ist viel einfacher. Raus aus der Schachtel, rein mit der Aluschale und fertig ist es. Aber der Geschmack! Und der typische Karfreitag-Geruch, wenn der Hauch von Stockfisch durchs Haus zieht. Weihnachten riecht es nach Stollen und Plätzchen und am Karfreitag nach Stockfisch!
Utopisch denken bedeutet zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Der Philosoph Ernst Bloch bezeichnet Utopien als "Inseln im Meer des Möglichen". Aber die sind im derzeitigen Dauerkrisenmodus Mangelware. Haben wir keine Lust mehr zu träumen? Von Claudia Heissenberg
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Heissenberg
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Friedrich Schloffer, Karin Schumacher
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Francesca Vidal, Präsidentin der Ernst-Bloch-Gesellschaft und Professorin für Rhetorik an der Rheinland-pfälzischen technischen Universität Kaiserslautern-Landau;
Lina Berthold, Philosophin und Mitbegründerin der Jungen Deutschen Gesellschaft für Philosophie
Gregor Schäfer, Lehrbeauftragter für die Geschichte der Philosophie an der Universität Basel und Fellow am Londoner Ernst Bloch Centre for German Thought
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Linktipps:
Möglichkeiten der Utopie heute – Ein Radiogepräch zwischen Theodor W. Adorno und Ernst Bloch im Südwestfunk, 1964. HIER zu finden
Literatur:
Thomas MORUS (Sir Thomas More), Utopia. Für alle, die keine Angst vor alten Texten haben (geschrieben wurde das Büchlein 1515) und immer schon mal wissen wollten, wie das Leben in Utopia aussieht. Diverse Ausgaben sind antiquarisch erhältlich, kostenlos ist das Buch zu lesen auf den Webseiten: www.gutenberg.org und www.zeno.org.
Francis BACON, Neu-Atlantis. Visionäre und unterhaltsame Utopie einer Wissensgesellschaft von 1624 . Verschiedene Ausgaben antiquarisch erhältlich.
Ernst BLOCH, Das Prinzip Hoffnung. Der Philosoph ist der Meinung: Die Utopie ist kein Hirngespinst sondern eine Insel im Meer der Möglichkeiten. Denn die Hoffnung auf Veränderung besteht jederzeit.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK: “Der Traum ist aus“ – (0:50)
Ich hab' geträumt, der Winter wär' vorbei, Du warst hier und wir waren frei und die Morgensonne schien...
Zitatorin:
Es könnte alles so schön sein...
Zitator: (skeptisch)
Ach wirklich?
MUSIK 1: Ton Steine Scherben, Der Traum ist aus.
Es gab keine Angst und nichts zu verlieren, es war Friede bei den Menschen und unter den Tieren, das war das Paradies.
Zitatorin:
Stell dir vor: Eine Welt ohne Ungleichheit, ohne Ungerechtigkeit und ohne Unterdrückung...
MUSIK: „Above the earth“ – (0:35)
Zitator: (ungläubig)
Das ist doch utopisch!
Zitatorin:
Eine Gesellschaft, in der die Menschen mehr Wert auf Zeitwohlstand als auf finanziellen Reichtum legen.
Zitator:
Träum weiter! Das ist doch alles total utopisch.
MUSIK: “Der Traum ist aus“ – (0:20)
Der Traum ist aus, der Traum ist aus. Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird. Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.
Zitator: (staatstragend, aufrüttelnd, überzeugend)
Die Lage ist ernst, meine Damen und Herren! Wir leben in aufgewühlten, unruhigen Zeiten. Krisen, Kriege, Katastrophen – die Welt befindet sich in einer Art kollektiver Überlastung und Erschöpfung. Es ist an der Zeit, aufzuwachen und die Zukunft neu zu denken. Wir müssen neu definieren, was Fortschritt sein soll. Wir brauchen neue Utopien.
01 Zsp. Utopien: (Francesca Vidal)
Utopie ist also etwas, was es noch nicht gibt, was ich mir aber vorstelle, wie es anders sein könnte, ... unheimlich schwierig gerade im Moment, weil wir natürlich in einer Welt leben, in der wir im Grunde die Apokalypse in Gang setzen könnten, wenn wir so weitermachen.
ERZÄHLERIN:
Francesca Vidal ist Rhetorik-Professorin an der Rheinland-pfälzischen technischen Universität Kaiserslautern-Landau und außerdem seit vielen Jahren Präsidentin der Ernst-Bloch-Gesellschaft. Ernst Bloch gehörte zu den wichtigsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er schrieb unter anderem über den Geist der Utopie und das Prinzip Hoffnung. Aber gerade im derzeitigen Dauerkrisenmodus sind Visionen Mangelware.
02 Zsp. Utopien: (Lina Bertholt)
Ja, wir sind gerade nicht in der besten Zeit für Utopien, da würde ich total zustimmen. Nichtsdestotrotz ist es die Aufgabe der Zeit. Und ich glaube, das war tatsächlich der Grund, warum ich Philosophie studiert habe, weil mich diese Frage fasziniert hat schon im Unterrichtsfach Philosophie, wie kann das gesellschaftliche Leben organisiert sein, damit es allen gut geht, was ist das gute Leben?
ERZÄHLERIN:
Um das herauszufinden hat Lina Berthold im Oktober 2024 die ‚Junge deutsche Gesellschaft für Philosophie‘ mitbegründet. Für die 35-jährige Philosophin sind Utopien in der aktuellen Philosophie eine Leerstelle. Was ihr fehlt, sind Visionen, die sich auf die heutige Lebenswirklichkeit beziehen. Visionen, die dringliche Fragen stellen und innovative Lösungen vorschlagen.
04 Zsp. Utopien:
Es ist eine Aufgabe, optimistisch zu bleiben und es ist eine Aufgabe an der Utopie weiter zu arbeiten und ich würde immer dazu appellieren, macht's Euch nicht so einfach.... Aber ja, die Zeit ist gerade nicht, dass sie uns dazu einlädt, es ist ja auch sehr schwierig, Menschen zum Träumen zu bewegen, wir haben kein positives Bild von Träumern oder Träumerinnen.
05 Zsp. Utopien: (Gregor Schäfer)
Es gibt irgendwie auch einen Widerstand dagegen, eine Gesellschaft und der Utopiebegriff hat ja wesentlich auch einen Bezug zum gesellschaftlichen Leben, eine Gesellschaft zu denken, die anders wäre zu dem, was nun einmal ist.
ERZÄHLERIN:
… sagt Gregor Schäfer, Lehrbeauftragter für die Geschichte der Philosophie an der Universität Basel.
MUSIK: „Above the earth“ – (0:55)
ERZÄHLERIN:
Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet utopisch: realitätsfremd, illusorisch, unmöglich und zu schön, um wahr zu sein. Aber wie sagte schon der französische Schriftsteller Victor Hugo:
Zitator:
Nichts trägt im gleichen Maße wie ein Traum dazu bei, die Zukunft zu gestalten. Heute Utopia, morgen Fleisch und Blut.
ERZÄHLERIN:
Wer in diesen Tagen die Zeitung aufschlägt, Nachrichten im Radio hört oder Fernsehen schaut, wer die politischen Debatten in Deutschland verfolgt oder die Lage egal wo auf der Welt, kann schnell das Gefühl bekommen, wir stünden wenige Schritte vor dem Abgrund. Die Zukunft scheint düster. Es gibt nichts worauf, man sich freut. Aber haben wir wirklich keine Lust mehr zu träumen? Wie könnten neue Utopien aussehen? Wo ist ist überhaupt noch Platz für Utopien? Und warum ist es notwendig, utopisch zu denken?
09 Zsp. Utopien: (Vidal)
Weil jeder Mensch die Möglichkeit hat, auch etwas anderes als das Bestehende zu denken, und wenn er etwas Neues erreichen will, wenn er seine Verantwortung übernehmen will, dann ist es notwendig utopisch zu denken, sich immer wieder zu überlegen, es muss nicht so sein, wie es ist.
10 Zsp. Utopien: (Berthold)
Es ist Grundvoraussetzung jedes guten menschlichen Lebens, dass man weiß, wo möchte man eigentlich hin....Aber wenn wir uns irgendwas nicht vorstellen können theoretisch, dann könne wir auch nicht dahin arbeiten, also wir müssen, glaube ich, schon einen Traum haben, um uns daran ausrichten zu können und irgendwann werden Sachen möglich, die man früher nicht für möglich gehalten hat und das beweist ja auch einfach die Vergangenheit, man hat ja nie für möglich gehalten z.B. wie unsere Realität heute ist und wir werden auch uns nicht vorstellen können, wie das Leben in 100 oder 200 Jahren ist, insofern brauchen wir auch Utopien, damit wir einen Kompass haben und wissen, in welche Richtung wir laufen wollen. ...Wo wollen wir eigentlich hin und dafür ist eine Utopie eigentlich die Grundvoraussetzung.
11 Zsp. Utopien: (Schäfer)
Utopien oder auch Ideale oder auch der Begriff der Idee, was natürlich nicht alles dasselbe ist, was aber doch irgendwie zusammenhängt, haben natürlich doch auch eine sehr wichtige Stellung bei Kant, bei Fichte bei Hegel, also in der ganzen klassischen deutschen Philosophie.
ERZÄHLERIN:
Gregor Schäfer arbeitet gerade an einer Anthologie über die Utopie im deutschen Idealismus und ihre Bedeutung in der Gegenwart. Grundlage für den Sammelband ist ein Kongress, der 2024 am Londoner Ernst-Bloch-Centre for german thought stattgefunden hat.
12 Zsp. Utopien: (Schäfer)
Darüber hinaus ist Utopie aber auch wirklich ein generelles Thema der Philosophie und man kann eigentlich da schon beim Anfang, in der griechischen Antike bei Platon anfangen, wo der Begriff der Utopie zwar nicht namentlich explizit vorkommt, wo er aber doch eine wichtige Funktion erfüllt in einem politischen sozial-philosophischen Zusammenhang.
ERZÄHLERIN:
In der „Politeia“ entwirft Platon schon um 370 vor Christus eine gerechte Gesellschaft, in der jeder seinen Platz hat und seine spezifische Aufgabe erfüllt. Privateigentum gibt es nicht, alle Güter gehören allen. Wo und wie lässt sich dieser ideale Staat verwirklichen?
13 Zsp. Utopien: (Schäfer)
Platons Antwort geht da in diese Richtung, dass das eben ein Nirgendwo ist, irgendwo, irgendwie, also etwas, das eben keinen bestimmten raumzeitlichen Ort, keine Verortung zulässt. Sondern etwas, das sich dem entzieht, was man eben nur im Denken sozusagen umkreisen oder sich ihm annähern kann.
ERZÄHLERIN:
Etymologisch ist der Begriff „Utopie“ eine Zusammensetzung aus der griechischen Vorsilbe „u“, die „nicht“ bedeutet, und „topos“ - dem Ort, übersetzt also ein Nicht-Ort oder ein Nirgend-Land. Die Wortschöpfung geht zurück auf den englischen Humanisten und Staatsmann Thomas Morus. „Von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia“ lautet der Titel seines gattungsprägenden Romans, der 1516 erscheint. In dem fiktiven Reisebericht beschreibt Morus das Leben auf der Insel »Utopia«, wo es keine Habgier gibt, weil niemand Wert auf persönlichen Besitz legt. Alle Kinder erhalten Schulbildung, es gibt gemeinschaftliche Mahlzeiten und gearbeitet wird nicht länger als sechs Stunden pro Tag.
MUSIK: „Above the earth“ – (0:35)
Zitator:
Drei Stunden Vormittags, worauf sie zur Mittagsmahlzeit gehen; nach dem Essen zwei Stunden Ruhezeit, dann wieder drei der Arbeit gewidmete, worauf sie mit dem Abendmahl Feierabend machen. Nach dem Abendessen verbringen sie eine Stunde mit Spielen, im Sommer in den Gärten, im Winter in den gemeinschaftlichen Speisesälen. Dort treiben sie entweder Musik, oder ergötzen sich im Gespräche. Die Muße-Zwischenzeiten verwenden die Meisten für die Wissenschaften. Denn es ist ein sehr schöner Brauch, täglich öffentlichen Unterricht zu halten.
14 Zsp. Utopien: (Schäfer)
Es ist bei Thomas Morus als eine geografische Utopie, im wörtlichen Sinne als eine Insel, gedacht eben doch als ein Ort, den es gibt. Es ist ein Ort, der vorhanden ist, aber der sehr weit weg und insofern uns entrückt ist oder entzogen ist, aber es ist doch so gedacht, dass es diesen Ort gibt als eine Insel.
ERZÄHLERIN
Im 18. und 19. Jahrhundert, als auch die entlegensten Ecken der Welt entdeckt sind, verlegen Utopisten ihre Visionen von einer besseren Gesellschaft vom Raum in die Zeit. Und zwar in eine nicht genau bestimmte Zukunft, wo all das möglich ist, was heute noch illusorisch erscheint. Dabei ist Vieles von dem, was früher utopisch erschien, längst Wirklichkeit oder zumindest auf dem Weg dahin. Anders als zu Morus Zeiten haben Kinder in den meisten Ländern der Welt die Möglichkeit eine Schule zu besuchen. Es gibt neue Wohnformen, wie Mehrgenerationenhäuser, Wohn- und Siedlungsgemeinschaften, die 4-Tage-Woche und andere flexible Teilzeit-Modelle werden erprobt.
16 Zsp. Utopien: (Vidal)
Wenn ich mir Gedanken mache, dass etwas anderes, etwas Neues möglich ist, dann glaube ich, ist es auch zu realisieren, da gibt es doch immer wieder Versuche von Veränderung, aber da ist etwas noch nicht geworden. Nehmen Sie die Französische Revolution, die eine Vorstellung von Gleichheit, Freiheit, Solidarität, sagen wir heute, hat, die Ideen sind doch da, die Vorstellung, ...die Vorstellung, dass die Geschlechter gleichberechtigt sein können, die ist doch da, daran können wir anknüpfen und uns überlegen, wie können wir das verwirklichen?
MUSIK: „Airlock“ – (0:35)
ERZÄHLERIN:
Wer hätte vor 300 Jahren gedacht, dass eines Tages Leibeigenschaft und Sklaverei abgeschafft und als unmenschlich verurteilt werden? Wer hätte vor 100 Jahren gedacht, dass die Menschen zum Mond fliegen werden? Wer hätte vor 60 Jahren gedacht, dass Herztransplantationen möglich sind? Utopisch denken bedeutet zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, sagt Francesca Vidal. Kommen wir nun von der Vergangenheit zu einer Umfrage, die Lina Bertholt gerade unter den Mitgliedern der jungen deutschen Gesellschaft für Philosophie gemacht hat. Gefragt wurde: Wie stellst Du Dir eine utopische Zukunft vor?
17 Zsp. Utopien: (Bertholt)
Manche jungen Philosoph:inne haben die Antwort gegeben, dass sie sich einfach Rawls Schleier des Nichtwissens wünschen als Utopie.
Zitator:
Der sogenannte ‚Schleier des Nichtwissens‘ ist ein Bestandteil der Gerechtigkeitstheorie des US-amerikanischen Philosophen John Rawls. Für ihn ist die Voraussetzung für Entscheidungen, die für alle gleichermaßen gerecht sind, dass man nicht weiß, wie sich die Entscheidung auf einen selber auswirken wird. Wer reich ist, ist befangen, wenn es um die Reichensteuer geht. Wer arm ist, urteilt anders über das Bürgergeld. Nur wenn die Menschen gar nicht wissen, ob sie wohlhabend oder mittellos sind, können sie die Frage nach sozialer Gerechtigkeit fair entscheiden. Das gilt auch für alle anderen Aspekte des Lebens.
18 Zsp. Utopien: (Bertholt)
Also sie werden nicht wissen, welche Rolle sie in der zukünftigen Gesellschaft einnehmen werden, sie werden nicht wissen, sind sie eine Frau, haben sie mit einer Behinderung zu kämpfen, in welchem Teil der Welt werden sie geboren, solche Sachen sind alle nicht festgelegt, und dann würde man sozusagen unter diesem Schleier überlegen, wie müsste man die Gesellschaft aufbauen,… die gerechtes Leben für alle ermöglichen soll.
ERZÄHLERIN:
Die jungen Philosophinnen und Philosophen haben auch noch andere utopische Wunschvorstellungen.
19 Zsp. Utopien: (Bertholt)
Nämlich ein geeintes Europa, in der Unterschiede eher gefeiert werden, ... oder eine Welt ohne Grenzen genannt oder Gendergerechtigkeit, viele Klimaziele oder Nachhaltigkeitsthemen, vor allem auch ein harmonisches Zusammenleben von der Spezies Mensch.
MUSIK: “Der Traum ist aus“ – (0:30)
Ich hab' geträumt, der Krieg wär vorbei, Du warst hier und wir waren frei und die Morgensonne schien. Alle Türen waren offen, die Gefängnisse leer, es gab keine Waffen und keine Kriege mehr, das war das Paradies
ERZÄHLERIN:
Keine Kriege, keine Waffen, kein Hass und kein Hunger, keine Missgunst, keine Angst und keine Armut – egal, ob auf einer fernen Insel oder in der fernen Zukunft, das Paradies sieht immer ähnlich aus.
20 Zsp. Utopien: (Schäfer)
Es gibt in allen Utopien eigentlich aller Zeiten, so lange es diese Gattung oder diese Form gibt, bestimmte Konstanten, bestimmte Formmerkmale, die sich immer wieder wiederholen. Bezogen jetzt auf die gesellschaftlichen Utopien sind das Motive, wie etwa die, dass in einem utopischen Staat das Allgemeinwohl über die bloßen Privatinteressen den Vorrang haben sollte, dass es da bestimmte Laster oder moralische Verwerfungen nicht mehr geben sollte, also Dinge, auf die man sich irgendwie in allen Fragen als so einen moralischen Grundkonsens wohl auch leicht einigen kann.
ERZÄHLERIN:
Dabei haben alle Utopien aber auch immer einen Bezug zu der Zeit, in der sie entstanden sind. Denn sie sind auch eine Reaktion auf herrschende Missstände und ein Gegenentwurf zum Ist-Zustand. Wer die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern will, braucht eine Idee, wie sie anders sein könnten. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob Utopien immer schön und positiv sein müssen. Denkt ein Despot wie Putin nicht auch utopisch? Hat ein Donald Trump mit seinem „Make America great again“ nicht auch eine Vision von einer besseren Welt?
21 Zsp. Utopien: (Vidal)
Nee, der hat keinen utopischen Ansatz, mit Utopie hat das doch gar nichts zu tun, das ist ein bloßes wishful thinking, ein Wunschdenken. Oder Sie können sagen, es ist eine Dystopie, wenn Trump und Putin bald die Welt beherrschen, das wäre die größte Dystopie, die ich mir vorstellen kann im Moment aktuell.
Zitator:
Die Dystopie beschreibt im Gegensatz zur Utopie keine bessere sondern eine düstere Welt, in der es keine Hoffnung mehr gibt. Die altgriechische Vorsilbe dys- bedeutet schlecht.
Erzählerin:
Was aber den Menschen für die Zukunft wünschenswert erscheint, was sie als gut oder schlecht empfinden, ist auch eine Frage der Perspektive. In Trumps Vorstellung erblüht sein Land in neuem Glanz, sobald die illegalen Migranten verschwunden sind, internationale Verpflichtungen eingeschränkt oder ausgesetzt werden und amerikanische Interessen an erster Stelle stehen. Für ihn und seine Anhänger ist das eine positive Zukunftsvision. Auch Gregor Schäfer sieht diese Ambivalenz der Utopie.
22 Zsp. Utopien: (Schäfer)
Es gibt ja ganz offiziell und explizit diese Gattung der Dystopie, eine Horrorvision, eine Welt, in der alle technischen Möglichkeiten erfüllt werden. Und diese Form der Dystopie, die hat insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Aber Sie meinen noch einen anderen spannenden Punkt, wenn ich Sie richtig verstehe, dass ja auch noch in Dingen, die man wohl als schlecht, als negativ bezeichnen kann, die aber doch eine Wirksamkeit entfalten können, vielleicht auch irgendwie etwas stecken muss, damit das für Leute überhaupt attraktiv wird.
ERZÄHLERIN:
Attraktiv und verlockend scheint derzeit nicht Immanuel Kants Idee vom Weltbürgertum sondern vielmehr Abschottung. Anstatt wie Kant jedem Menschen das Recht einzuräumen, in fremde Länder zu reisen, sich dort aufzuhalten und zu arbeiten, möchten einige die Grenzen für bestimmte Menschen schließen und lieber in einem Land ganz ohne Migranten leben.
23 Zsp. Utopien: (Schäfer)
Aber auch in diesem steckt ja irgendwie noch eine Vorstellung einer Gemeinschaft oder eines kollektiven Lebens, das vielleicht in der Gegenwart auch zu wenig erfüllt wird. So dass die Menschen auch ein bestimmtes Bedürfnis haben solchen Schein-Utopien oder solchen schlechten Utopien zu folgen.
MUSIK: „Above the earth“ – (0:35)
ERZÄHLERIN:
Katastrophen, Kriege, Kriminalität – Nicht Visionen von einem besseren Morgen stehen derzeit im Mittelpunkt sondern immer dunklere dystopische Warnungen. 70 Prozent der Eltern sind davon überzeugt, dass ihre Kinder es schlechter haben werden. Sogar der Blick in die Vergangenheit ist getrübt. Die glorreichen Eroberungen, Fortschritt und Reichtum sind ohne die Begriffe „Ausbeutung“ und „Unterdrückung“ inzwischen kaum noch denkbar. Schon 1967 verkündete übrigens der Philosoph und Politologe Herbert Marcuse das Ende der Utopie. Leben wir tatsächlich in postutopischen Zeiten? Irgendwie schon, findet Gregor Schäfer.
24 Zsp. Utopien: (Schäfer)
Der allgemeine intellektuelle Konsens geht ja schon seit einigen Jahrzehnten in diese Richtung, dass wir uns von Utopien verabschieden müssten, insofern als alles, was man sich irgendwie als utopisch ausgemalt hat, heute ohne weiteres realisierbar wäre. Also wir könnten leichter denn je in der Geschichte uns eine Welt einrichten, in der es keinen Hunger und in der es keine Armut mehr gebe, das wäre keine Utopie mehr heute sondern es wäre eine reale Möglichkeit, die eigentlich letztlich auch durchaus in einem technischen oder technokratischen Sinne umsetzbar wäre.
ERZÄHLERIN:
Die Philosophinnen Francesca Vidal und Lina Berthold sehen das anders.
25 Zsp. Utopien: (Vidal)
Nein, die Zeit der Utopien ist selbstverständlich nicht vorbei, sondern alle, die das erklären, ...die stellen sich eine gesellschaftliche Zukunft vor, in der es wirklich nur dann noch um eine Verwaltung von Beständen geht, ... und dagegen wird es immer Widerstand geben.
26 Zsp. Utopien: (Berthold)
In welcher Welt lebe ich denn dann, wenn ich meinen Optimismus aufgebe? ...Dann verliere ich ja auch die Kraft für andere zu kämpfen, wenn ich sage, das ist es eh nicht wert. Deswegen: Nein! Wir müssen weiterkämpfen.
MUSIK: Ton Steine Scherben (oder Cover-Version, z.B. Universum 25 (Heavy Metal, Punk) oder Jan Plewska und Marco Smedje (Liedermacher-Style)
Der Traum ist 'n Traum, zu dieser Zeit, doch nicht mehr lange, mach' dich bereit für den Kampf ums Paradies. Wir haben nichts zu verlieren, außer uns'rer Angst, es ist uns're Zukunft, unser Land, gib mir deine Liebe, gib mir deine Hand.
ERZÄHLERIN:
Wer die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern will, braucht eine Idee, wie es anders sein könnte. Wer Angst hat vor dem, was kommt, plant anders, als jemand, der zuversichtlich ist. Wer Angst hat, dem fehlt die Energie zum Aufbruch, die Lust, etwas Neues zu schaffen oder auch nur zu bedenken. Aber zu allen Zeiten gab und gibt es Visionäre und Utopistinnen, die an eine bessere Zukunft glauben und Projekte entwickeln, die Mut machen. Miteinander statt gegeneinander, Kooperation statt Konfrontation, gemeinsam statt einsam und allein.
27 Zsp. Utopien: (Berthold)
Es gibt ja Versuche, das zu leben. Ich kenne auch viele kleine oder größere Zusammenschlüsse von Menschen, die sich einen Bauernhof kaufen und versuchen da nach nachhaltigen Maßstäben in Frieden mit sich und der Natur und den Tieren, mit denen sie da sind zu leben. Das gibt es schon, ich glaube, die Utopie ist eher schwieriger, wenn sie auf globaler Ebene versucht zu greifen. Im Kleinen ist glaube ich utopisches Leben, gerade für uns in Deutschland sehr machbar.
ERZÄHLERIN:
Wenn wir über die Zukunft nachdenken, ist das nicht nur nutzlose Träumerei. Die Vorstellung von Morgen bestimmt unser Handeln von heute. Neue Ideen bewirken einen Wandel in den Köpfen. Aber wenn die Visionen fehlen, bleibt nur ein großes schwarzes Loch. Natürlich gibt es die unerschütterlichen Optimisten, die daran glauben, dass sich immer alles zum Guten wendet. Oder die zumindest der Überzeugung sind, dass nichts so heiß gegessen wie gekocht wird. Aber auch die verlieren düsteren Zeiten manchmal die Zuversicht.
28 Zsp. Utopien: (Vidal)
Das verstehe ich sehr gut und was machen Sie? Sie machen Interviews zum Thema Utopie. Ist das nicht eine Form zu sagen, okay, ich übernehme meine Verantwortung, es ist wichtig, dass man etwas dagegen macht, gegen dieses ich kann nichts mehr tun?
ERZÄHLERIN:
Schon vor ein paar Jahren hat die Unesco ein Konzept entwickelt, das Menschen befähigen soll, sich aktiv mit der Zukunft auseinanderzusetzen. Es heißt „Future Literacy and Foresight“, was soviel bedeutet wie „Alphabetisierung für die Zukunft und Weitsicht“. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass Menschen, die ihre Vorstellungskraft und ihr utopisches Denken trainieren, weniger fatalistisch und offener für Neues sind. Ein anderes Denken und ein erweiterter Blickwinkel sind auch nach Auffassung von Gregor Schäfer notwendige Voraussetzungen für neue Utopien.
29 Zsp. Utopien: (Schäfer)
Utopie wäre irgendwie auch doch eine Veränderung des Koordinatensystems, in dem wir leben, eine Änderung nicht bloß einzelner Inhalte oder einzelner Dinge in der Welt sondern sondern sozusagen das Koordinatensystem, in dem wir die Welt überhaupt denken. Also sozusagen auch ein Perspektivenwechsel, ein neuer Horizont. Und das ist vielleicht die Arbeit, an die man sich machen muss, also diesen Perspektivenwechsel denkbar zu machen, wenn man in einem stringenten Sinne, in einem verbindlichen Sinne heute über Utopien nachdenken möchte.
MUSIK: “Der Traum ist aus“ – (0:30)
30 Zsp. Utopien: (Berthold)
Ich glaube eine Utopie entspringt einem tiefen inneren Wunsch, ja einem Gefühl, einer Vorstellung, dass es ganz anders sein könnte. Und insofern ist jetzt glaube ich eine sehr gute Zeit, um anzufangen, sich zu fragen, wenn wir das alles, so wie es jetzt ist, nicht wollen, was wollen wir denn dann?
Wildschwein und Hausschwein ? Sie sehen verschieden aus und haben doch ähnliche Ansprüche an ihre Umgebung. Lange war das Schwein in Deutschland der beliebteste Lieferant für Fleisch. Ändert sich das gerade? Immer mehr Menschen hinterfragen die Lebensbedingungen des wandlungsfähigen Borstentiers. Von Christiane Seiler (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Wilkening, Silke von Walkhoff
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Carl Gremse, Wildtierökologe
Marianne Zenk, Stallmanagerin
Dr. Sandra Düpjan, Verhaltensbiologin, fbn
Dr. Liza Moscovice, Verhaltensbiologin, fbn
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Linktipps:
Schweinehaltung in Deutschland auf der Webseite des Landwirtschaftsministeriums HIER
Literatur:
Rudolf Buntzel: Vom Hausschwein zum globalen Massenprodukt. Oekom Verlag 2022 (Geschichte der Schweineökonomier lokal und global)
Thomas Macho, Judith Schalansky (Hg.): Schweine – Ein Portrait. Verlag Mathes und Seitz 2015 (kulturwissenschaftlicher Überblick mit Schweinerassen)
Schweinekommunikation, wissenschaftlich: Classification of Pig Calls from Birth to Slaughter: https://www.nature.com/articles/s41598-022-07174-8
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Treue in Beziehungen klingt in den Ohren mancher Menschen beinahe antiquiert. Ist der moderne Mensch doch frei, selbstbestimmt und unabhängig. Und wieso sollte er das dann nicht auch in seinen Beziehungen sein?Natürlich waren sich Menschen in allen Zeiten zeitweise oder auch grundsätzlich untreu. Aber nur weil das so ist, muss das nicht heißen, dass die Treue wertlos geworden ist. Von Andreas Hauber (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Hauber
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann, Friedrich Schloffer
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Victor Chu, Arzt und Diplom-Psychologe, Kirchzarten;
Dr. Nikolaus Buschmann, Historiker, Soziologe, Politikwissenschaftler, Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg
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Die Erfindung der deutschen Treue. Von der semantischen Innovation zur Gefolgschaftsideologie. In: Nikolaus Buschmann / Karl Borromäus Murr (Hg.): Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, S. 75-109.
Georg Simmel Treue – Ein sozialpsychologischer Versuch,In: Der Tag, Nr. 225, 10. Juni 1908, Berlin, 1908.
Dr. Chu, Victor: Von der schwierigen Kunst treu zu sein – Warum wir betrügen, was wir lieben, München, Kösel Verlag, 2008.
Krüger, Wolfgang: Treue - Der Konflikt zwischen Vertrauen und Begehren, Norderstedt, BoD 2019.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
Es gibt diese Geschichte von Hachiko (ausgesprochen: Hadschiko), einem japanischen Akita Hund. Sein Herrchen war Professor an der Universität Tokio und fuhr jeden Morgen mit dem Zug zur Arbeit. Hachiko begleitete ihn täglich bis zum Bahnhof und holte ihn dort auch wieder ab. Am 21. Mai 1925 jedoch starb der Professor während seiner Vorlesung an einer Hirnblutung und kam nicht mehr nach Hause. Hachiko aber wartete weiter. Zehn Jahre lang kam er bis zu seinem eigenen Tod jeden Tag zum Bahnhof und hoffte auf sein Herrchen. Er wurde schon zu Lebzeiten in ganz Japan bekannt. Als er gestorben war, errichtete man ihm eine Statue. Hachiko gilt als das Sinnbild für Treue.
Sprecher
Die Geschichte wurde mehrmals verfilmt. Am bekanntesten ist die anrührende Adaption „Hachi – a dogs tale“ des Regisseurs Lasse Hallström, der die Handlung in die USA verlegt hat. Der Film ist sehr bewegend und wer ihn sieht ist ergriffen von diesem Hund und seinem Verhalten.
Sprecherin
Das ist nicht sehr verwunderlich. Denn wünschen wir uns das nicht alle? Einen Gefährten, der bei uns bleibt. Der uns annimmt, wie wir sind. Der uns nicht vergisst auch über den Tod hinaus. Der eben treu ist …
Musik: The second dance 0‘20
(leichtes Zögern) Aber ... was ist das eigentlich: Treue? Geht es dabei wirklich um die bedingungslose Hingabe, die ein Hund in der reinsten Form geben kann? Oder ist es nicht etwas komplizierter und vielschichtiger? Schauen wir doch mal genauer hin...
Sprecher
Von seiner Grundbedeutung her meint das Wort Treue: „fest“, „teuer“ oder „tapfer sein“. Verwandt mit der Treue sind Wörter wie „Vertrauen“, „Zutrauen“ oder jemandem etwas „anvertrauen“. Auch das englische Wort für wahr: „true“ ist mit der Treue verwandt.
O-Ton 1 Chu
Treue hat ja den Wortstamm von Wahrheit – von true- und das bedeutet eigentlich, dass man wahrhaftig gegen sich selber und gegenüber seinem Gegenüber – Beziehungspartner/ Partnerin – ist.
Sprecherin
Der Arzt und Diplom- Psychologe Dr. Victor Chu hat sich in einigen Büchern mit der Treue beschäftigt.
O-Ton 2 Chu
Das beinhaltet also Wahrhaftigkeit, auf der anderen Seite aber auch Bindung. Bindung zu einem Verhältnis zwischen den beiden.
Sprecherin
Treue selbst und alle Bereiche, die sie berührt, betreffen zunächst einmal unser Innerstes: Wahrheit, Vertrauen, Bindung. Da geht es um Grundbedürfnisse des Menschseins. Treue ist also offenbar etwas sehr Intimes.
Musik: Loved ones 0‘29
Sprecher
Vermutlich denken wir deshalb bei dem Wort „Treue“ zuerst immer an eine Liebesbeziehung. Treue ist noch in ganz anderen Bereichen wichtig -dazu kommen wir noch- aber bleiben wir erst einmal bei der Liebe, denn hier ist Treue unmittelbar erfahrbar und spürbar.
Sprecherin
Ein Treueverhältnis hat drei Elemente: Zwei Partner und etwas drittes, das die beiden verbindet.
O-Ton 3 Chu
(Und) Treue bedeutet dann, dass man wahrhaftig ist zu sich selber und zu dem anderen und gleichzeitig eben zu dem Dritten. Zu dem dritten Sachverhalt, worauf sich beide geeinigt haben. (…) Das dritte wäre beispielhaft: wir heiraten und leben zusammen (…)
Sprecher
Zwei Menschen einigen sich auf etwas. Sie treffen eine Entscheidung und gehen ein Treueverhältnis ein. Ganz unromantisch ausgedrückt: Sie schließen einen Vertrag.
Zitator
Der Soziologe Georg Simmel hat die Treue deshalb „Pflicht aus Liebe“ genannt.
Sprecherin
Der Historiker, Soziologe und Politikwissenschaftler Dr. Nikolaus Buschmann, dessen Stimme hier nachgesprochen ist, hat über die Treue aus historisch-soziologischem Blickwinkel gearbeitet.
Zitator
Treue ist für Simmel eine Art „Beharrungsvermögen der Seele“, das auch dann noch wirksam ist, wenn der Impuls, der zu einer zwischenmenschlichen Bindung geführt hat, nicht mehr so stark ist, dass er die Bindung aufrechterhalten könnte.
Musik: Orphans 0‘21
Sprecher
Treue hängt immer mit einer bewussten Entscheidung zusammen und ist auf die Verstetigung einer Beziehung angelegt. Man bekennt sich zueinander, auch wenn es nicht gut läuft, darum heißt es ja auch bei der Hochzeit: „In guten und in schlechten Zeiten“.
Zitator
Das zeigt auch der Umstand, dass Treueverhältnisse mit einem Eid oder zumindest mit einem Versprechen begründet werden, nicht selten unter Berufung auf Gott, der gleichsam als Zeuge oder auch bestrafende Instanz fungiert.
Sprecherin
Zwei Partner entscheiden sich frei füreinander und für das gemeinsame Projekt Beziehung. Die Freiwilligkeit ist dabei entscheidend. Zur Treue kann man nicht gezwungen werden.
Sprecher
Bei einer Liebesbeziehung handelt es sich – wenn wir die emotionalen Motivationen einmal zurückstellen - also im Grunde um eine freiwillige Selbstverpflichtung. Und diese findet in einem sensiblen Spannungsfeld statt.
O-Ton 5 Chu
(...) dieses Feld ist außerordentlich differenziert und tief. Dann begibt man sich in ein Feld zwischen Liebe – Hass, zwischen Bindung und Freiheit, das sind alles Polaritäten, zwischen „sich Abgrenzen“ und „Entgrenzen“.
Musik: Home is with me 0‘25
Sprecherin
Wir Menschen haben einerseits ein tiefes Bedürfnis nach Geborgenheit, nach Sicherheit und Vertrauen. Vermutlich ist das von frühster Kindheit an in uns angelegt. Als Säugling sind wir vollkommen abhängig und auf einen geschützten Raum, in dem wir wachsen können und auf Menschen, denen wir unbedingt vertrauen können, angewiesen.
O-Ton 6 Chu
Ich glaube, es liegt an der menschlichen Natur, dass wir tatsächlich nach der Intimität suchen. Dass das eine große Sehnsucht ist, also Nähe, Verständnis, Mitgefühl, dass wir doch danach suchen und uns sehnen. (…)
Sprecherin
Andererseits haben wir – heute vielleicht mehr denn je – das Bedürfnis nach Freiheit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit.
Diese beiden Pole können leicht aus dem Gleichgewicht geraten. Wenn der eine Partner mehr Freiheit, der andere mehr Nähe braucht. Wenn Eifersucht oder Misstrauen ins Spiel kommen.
Musik: A glimmer of hope 0‘36
Sprecher
Diese Schwankungen und Konflikte kennt jeder, der schon einmal eine ernsthafte Beziehung gehabt hat. Sie sind bis zu einem gewissen Grad normal und gehören dazu. Mit der einmal getroffenen Entscheidung ist es nicht getan. Eine Beziehung erfordert auch Arbeit. Vor allem, weil wir uns verändern. Nach einer gewissen Zeit ist der Partner oder die Partnerin nicht mehr genau derselbe Mensch, der er oder sie zu Beginn gewesen ist. Es ist also wichtig, dass eine Beziehung nicht starr ist.
O-Ton 7 Chu
Und jetzt führ ich vielleicht noch einen anderen Faktor rein: Flexibilität. Also Anpassungsfähigkeit, also ob man nur ein ganz bestimmtes Konzept von Beziehung hat oder haben will, oder ob man flexibel genug ist, ob man diesen Vertrag, den man anfangs miteinander geschlossen hat, ob man diesen Vertrag abändern kann, modifizieren kann, anpassen kann.
Sprecherin
Hier zeigt sich wieder die Wahrhaftigkeit. Es ist wichtig zu wissen und zu formulieren, was ich will und brauche, dass ich meine Bedürfnisse und Wünsche kenne, und dass ich die des Partners höre und akzeptiere.
Musik Unfolding feelings (a) 0‘35
Sprecher
Das hört sich schön an und leuchtet ein. Aber es ändern sich ja nicht nur die Persönlichkeiten in einer Beziehung, sondern auch die Verhältnisse. Man hat sich etwas aufgebaut, einen gemeinsamen Freundeskreis, ganz konkret materiell vielleicht ein Haus. Vielleicht hat man Kinder, die dann auch einen Anspruch auf die Erfüllung des von den Eltern geschlossenen Vertrages haben. Die sogar davon abhängig sind, dass das elterliche Verhältnis funktioniert.
Man wächst über die Jahre immer mehr zusammen, es wird immer schwerer die eigene Persönlichkeit frei zu entfalten.
Sprecherin
Ganz besonders brisant wird es, wenn es um Sexualität geht. Sie ist der sensibelste Bereich einer Beziehung. Letztendlich ist, wenn von Treue in einer Beziehung die Rede ist, die Sexualität gemeint. Wenn jemand sagt, dass der Partner untreu ist, dann heißt das, dass er mit jemand anderem schläft.
Sprecher
Warum ist das eigentlich so? Wir haben doch festgestellt, dass alles was mit Treue zusammenhängt unser Innerstes angeht. Es geht um Sicherheit, Vertrauen, Geborgenheit. Alles Dinge, die man auch in Freundschaften finden kann.
Wieso ist man nicht untreu, wenn man einen besten Freund hat, wohl aber bei einem Seitensprung? Wozu diese Fokussierung auf die Sexualität? Ist sie nicht nur ein Aspekt von vielen?
Musik Fragile life 0‘40
Sprecherin
In der Tat gibt es immer mehr Menschen, die so denken und es gibt auch immer mehr Beziehungskonzepte, die die Sexuelle Exklusivität zwischen Partnern auflockern wollen. Es mag sein, dass der monogame Ansatz stark kulturell, besonders von Kirchlichen Wertvorstellungen geprägt ist und durchaus auch hinterfragt werden kann. Und es spricht nichts dagegen, dass zwei Partner, wenn sie es können, in ihrer Beziehung eine sexuelle Offenheit integrieren. Dennoch darf man nicht übersehen, dass in der sexuellen Untreue die größte Gefahr für eine intime Vertrauensbeziehung liegt. Dr. Victor Chu:
O-Ton 8 Chu
Sexualität kann man ja oberflächlich begreifen als Lustgewinn, als Abfuhr von sexueller Energie, oder eben, man kann in der Sexualität etwas erleben, was man sonst eben nicht oder nie erlebt, also ne Hingabe, ein sich Fallenlassen.
Sprecher
Schläft man wirklich mit jemandem, so ist man nicht nur körperlich nackt voreinander. Der Sex geht irgendwie das ganze Wesen an. Nicht umsonst spricht man hier oft von Verschmelzung, Vereinigung oder Hingabe.
O-Ton 9 Chu
D.h. wenn wir Sexualität erleben mit einem anderen, dann entsteht eine ganz neue Bindung, und zwar eine sehr exquisite, eine sehr intensive Verbindung und Bindung zu diesem Menschen. (...)
Sprecherin
Das ist etwas Wunderbares. Und man könnte fragen, warum das nicht jeder Mensch so oft wie möglich erleben sollte. Aber wenn man zugleich das Bedürfnis nach einer tiefen, geschützten und intimen Beziehung hat und in einer lebt, wird es schwierig.
O-Ton 10 Chu
Und das Gefährliche eben - wenn einer der Partner sich einlässt auf jemand anderes - ist, dass so etwas entstehen könnte, was eine ganz tiefe intime Beziehung darstellt. Und dann wird die ursprüngliche Beziehung in Frage gestellt. (...)
Musik: Sanzhi Pod City 0‘23
Sprecher
In der Sexualität liegt also tatsächlich die größte Gefahr für eine Beziehung. Vor allem, weil ein sexueller Seitensprung meist aus einer Situation der Unzufriedenheit in der bestehenden Beziehung heraus entsteht. Die ist ohnehin schon geschwächt.
Sprecherin
Egal was die Beweggründe sind, sich sexuell auf einen anderen einzulassen. Das Ergebnis ist nicht vorhersehbar. Man weiß nicht, was daraus entsteht. Nicht direkt die Befriedigung der körperlichen Lust ist das Problem.
Sondern wir haben Angst davor, dass unser Partner uns betrügt - und sind am meisten verletzt, wenn er es tut -, weil es hier am wahrscheinlichsten ist, dass er uns verlässt und das gemeinsame Vertrauensverhältnis somit zerstört wird.
Musik: Glück 0‘40
Sprecher
Die Sehnsucht nach Treue entspringt aus unserem Bedürfnis nach Sicherheit, nach Bindung und Verlässlichkeit. Sie steht in dem Spannungsfeld zwischen Geborgenheit und Freiheit, zwischen Selbstbestimmung und Unterordnung. Ein gültiges Treuebündnis kann nur auf Augenhöhe und aus freier Entscheidung heraus getroffen werden. Es ist auf Gegenseitigkeit angelegt. Das alles kann man an einer Liebesbeziehung gut ablesen. Aber Treue ist nicht nur hier relevant.
Sprecherin
Treue taucht in allen möglichen Bereichen auf. Ganz simpel zum Beispiel im Supermarkt. Überall bekommt man einen Treuebonus oder Treuepunkte. Firmen wollen ihre Kunden an sich binden.
Sprecher
Ernsthafter wird es, wenn es um große Gemeinschaften geht. Das können Firmen, Vereine, Verbände oder Parteien sein. Sie alle haben ein Interesse daran, dass ihre Mitglieder treu, oder besser: loyal sind. Ebenso wie der ganze Staat, der im Grunde auch auf ein Treueverhältnis mit seinen Bürgern angewiesen ist. Zitat: Dr. Nikolaus Buschmann:
Zitator (Buschmann)
Allgemein gesprochen benötigt jedes Gemeinwesen ein Bindemittel, das für Stabilität und Dauerhaftigkeit sorgt. Entscheidend für die politische Verfassung eines Gemeinwesens ist jedoch das, was man die implizite Normativität dieses Bindemittels nennen könnte: In einer offenen, demokratisch verfassten Gesellschaft bedarf es staatsbürgerlicher Loyalität, die von der Vorstellung getragen ist, dass Konflikte friedlich und regelgeleitet zwischen gleichberechtigten Staatsbürgern ausgetragen werden.
Musik: Complex questions 0‘19
Sprecherin
Staatsbürgerliche Loyalität kann man in unserer modernen Gesellschaft in etwa mit „Gesetzestreue“ übersetzen. Sie basiert darauf, dass sich beide Seiten, also der Staat wie seine Bürger, an den demokratisch legitimierten Rechtsstaat halten und ihm verpflichtet sind.
Sprecher
Das dritte, von dem wir eingangs bei der Beziehung gesprochen haben, ist hier also die Einigung auf den Rechtsstaat, der jeder Seite garantiert, dass ihr Recht und ihre Würde gewahrt bleiben. Konflikte werden friedlich ausgetragen und ausgehandelt.
Sprecherin
Das ist nicht so selbstverständlich und auch nicht so einfach. Treue und Loyalität sind ein hohes Gut, bewegen sich aber auf einem schmalen Grat. Gerade in den letzten Jahren hat die Protestkultur in Deutschland ganz neue Formen angenommen.
Musik: Foreboding of war (reduziert)
Vor allem Akteure aus dem rechten Spektrum treten immer mehr in Erscheinung. Sie lehnen den Staat als illegitim ab und fühlen sich ihm nicht verpflichtet. Der Ton wird rauer.
Sprecher
In Israel gingen im Jahr 2023 Millionen Menschen auf die Straße, um gegen eine geplante Justizreform zu protestieren. Weil sie die berechtigte Gefahr sahen, dass die Regierung den Rechtsstaat zu ihren eigenen Gunsten aufweicht, was einen Bruch des Treueverhältnisses zu ihren Bürgern darstellt.
Sprecherin
Von beiden Seiten kann das Treueverhältnis bedroht sein. Deshalb ist ein funktionierender Rechtsstaat, der sich bei uns in Deutschland am Grundgesetz orientiert, so wichtig und es gilt ihn zu schützen. Er gewährleistet, dass sich die beiden Partner auf Augenhöhe begegnen und Konflikte friedlich ausgetragen werden können.
Musik: Pensive pondering 0‘25
Sprecher
Ist ein demokratisch legitimierter Rechtsrahmen nicht gegeben, so kippt das ganze Gefüge: Die Augenhöhe geht verloren, das Machtgefälle ändert sich und der Begriff Treue bekommt eine ganz andere Bedeutung. Das musste die Menschheit in der Zeit des Nationalsozialismus leidvoll erfahren.
O-Ton 12 Treueeid
Wir kommen zum Eid:
Ich schwöre Dir, Adolf Hitler
Alle: Ich schwöre Dir, Adolf Hitler
Als Führer und Kanzler des Reiches
Alle: Als Führer und Kanzler des Reiches
Treue und Tapferkeit
Alle: Treue und Tapferkeit
Ich gelobe Dir und den mir von Dir bestimmten Vorgesetzten
Alle: Ich gelobe Dir und den mir von Dir bestimmten Vorgesetzten
Gehorsam bis in den Tod
Alle: Gehorsam bis in den Tod
Sprecherin
„So wahr mir Gott helfe“, so endet dieser Treueschwur, den die Mitglieder der SS auf Hitler leisten mussten. Im Führerstaat der Nationalsozialisten war alles, was wir über Treue und Loyalität gehört haben, ausgehebelt.
Zitator
Treue ist immer an wechselseitige Bedingungen geknüpft, auch wenn sie asymmetrisch ist, also ein Machtgefälle konstituiert, wie in einer Monarchie. So kann beispielsweise die Verpflichtung auf Gehorsam und Unterordnung an Schutzverpflichtungen oder Fürsorgeleistungen gebunden sein. Im nationalsozialistischen Herrschaftsverständnis wurde dagegen unter Treue bedingungsloser Gehorsam verstanden, was nichts anderes bedeutet als totale Unterordnung unter den Willen eines Führers.
Musik: Foreboding of war (reduziert) 0‘41
Sprecher
Es ist auch heute, beinahe 80 Jahre nach Kriegsende noch erschreckend, wie erfolgreich die Nationalsozialisten darin waren, den größten Teil des Volkes unter diesen Gehorsam zu stellen. Treue und Gehorsam wurden idealisiert, romantisiert und für die Ideologie der Rassegemeinschaft missbraucht. „Unsere Ehre sei Treue“ war der Wahlspruch der SS. In Propagandafilmen und Liedern wurde den Menschen der unbedingte Gehorsam immer wieder eingetrichtert. Wie in einem von Franz Baumann getexteten Lied für die Nürnberger Reichsparteitage:
O-Ton 13 Lied: Deutschland Du Land der Treue
Deutschland Du Land der Treue
Oh, Du mein Heimatland
Dir schwören wir aufs neue
treue mit Herz und Handlung
Strahlend erstehst Du wieder
Herrlich nach banger Nacht.
Jubelt ihr deutschen Brüder
Deutschland ist neu erwacht
Hakenkreuzfahnen
Schwarz, weiß und rot
Grüßen und mahnen:
Seid getreu bis zum Tod!
Sprecherin
„Seid getreu bis zum Tod“ – wenn man das heute hört, wird es einem ganz anders. Aber das war staatliches Programm und Propaganda, die verfing. Gepaart mit dem schon genannten nationalsozialistischen Rassenwahn führte der bedingungslose Gehorsam eines Großteils der Bevölkerung in den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg, der bis zu 80 Millionen Menschen das Leben kostete.
Musik: Dark operation red. 0‘22
Sprecher
Im Nationalsozialismus wurde der Begriff der ‚Treue‘ korrumpiert und missbraucht.
Und im Zusammenhang mit Staat und Gesellschaft hat er seither einen gewissen Beigeschmack. In Deutschland wird er heute hauptsächlich in Kreisen der Neuen Rechten noch - oder besser - wieder benutzt.
Zitator
Wenn heutzutage Treue gegenüber einem politischen oder militärischen Führer gefordert wird, ich denke etwa an Putin oder Trump, handelt es sich um Ideologien, die sich gegen das Prinzip des Rechts- und Verfassungsstaates richten. Um hier noch einmal auf die Unterscheidung zwischen Treue und Loyalität zurückzukommen: Ein demokratisches Gemeinwesen ist auf staatsbürgerliche Loyalität zu den grundlegenden Normen angewiesen, die das Gemeinwesen ausmachen. Treue und Gehorsam gegenüber einer Person oder einer Volksgemeinschaft einzufordern, ist dagegen ein Kennzeichen autoritärer, faschistischer oder totalitärer Gesellschaften.
Musik: Talking to my father 0‘31
Sprecherin
Die Treue geht unser Innerstes an. Das Verlangen nach ihr entspringt unserer Sehnsucht nach Geborgenheit, aber auch aus unserem Recht darauf.
Im öffentlichen Bereich geht es um Heimat und Zugehörigkeit, im Privaten um eine geschützte, intime Beziehung. Aber ob im Großen oder im Kleinen, Treue bewegt sich immer zwischen zwei Polen und kann leicht in die eine oder andere Richtung abrutschen.
Sprecher
Treue und Loyalität sind hohe Werte. Sie sind unerlässlich für das Funktionieren einer Beziehung oder einer Gesellschaft. Nur wenn man sich aufeinander verlassen kann, lässt sich etwas Gemeinsames aufbauen. Aber die Treue ist kein Selbstläufer. Sie fordert eine gewisse Anstrengung von allen ein und braucht vor allem einen Rahmen und Regeln. Das ist auf der Staatsebene nicht anders als in der Liebe.
Besonders aus der Erfahrung des Nationalsozialismus heraus hat sich in Deutschland ein funktionierender demokratisch legitimierter Rechtsstaat etabliert, in dem auch die Möglichkeit mitgedacht ist sich gegen Missstände zu wehren. Allerdings ist es wichtig darauf zu achten, wogegen sich Protest richtet.
Staatsbürgerliche Loyalität wird nicht gegenüber den jeweiligen politischen Akteuren gefordert. Sondern gegenüber einer Staatsform, die diesen Protest ermöglicht.
Musik: Treats from cate 0‘44
Sprecherin
So schön die Geschichte von Hachiko, dem treuen Akita Hund auch sein mag.
Seine Art der Treue ist sicher nicht für uns Menschen erstrebenswert.
Denn wenn wir ehrlich sind, wollen wir doch in der Liebe keinen Partner, der sich uns vollkommen unterordnet. Ebenso wenig wollen wir einen Staat, der sich zum Herren über uns aufschwingt und unsere Rechte beschneidet.
Treue ist etwas sehr Wichtiges und Grundlegendes. Aber sie muss auch auf etwas zielen, für das es sich lohnt, treu zu bleiben.
Zu Beginn der 50-er Jahre hat der Trompeter Chet Baker in Kalifornien den Cool Jazz vorangetrieben, eine Spielweise, die Techniken der klassischen Musik nutzt. Trotz schwerer Karriereeinbrüche - Baker war heroinabhängig - blieb er stets der Kunst der Ballade und den leisen Tönen treu. Von Markus Mayer (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Markus Mayer
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Kathrin von Steinburg, Thomas Loibl
Technik: Tim Höfer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Hans-Jürgen Schaal, Münchner Musikjournalist
Literaturtipps:
Als hätte ich Flügel. Verlorene Erinnerungen. Von Chet Baker. Mit einem Vorwort von Carol Baker. Aus dem Amerikanischen von Bernd Oehler. Hannibal. Wien. 1998.
Chet Baker Blue Notes – Engel mit gebrochenen Flügeln. Eine Hommage. Von Lothar Lewien. Hannibal-Verlag Wien. 1991.
All That Jazz – Die Geschichte einer Musik. Von Michael Jacobs. Reclam Leipzig. 2. Auflage 2003. Darin: Birth Of The Cool – Cool Jazz. S. 218- -247.
Jazz-Klassiker, 2 Bde. Hg. V. Peter N Wilson. Reclam 2005. Darin: Band 1. Chet Baker. Von Hans-Jürgen Schaal. S. 482 – 488.
Chet Baker – Jeroen de Valk. Oreos Jazz Collection. Schaftlach 1991. Aus dem Holländischen übertragen von Peter Niklas Wilson.
Cool Jazz – Grundzüge seiner Entstehung und Entwicklung. Von Herbert Hellhund. Mainz 1985. Schott-Verlag. Veröffentlichung des Musikwissenschaftlichen Instituts der Justus-Liebig-Universität Gießen.
That‘s Jazz – Der Sound des 20. Jahrhunderts. Eine Musik-, personen-, Kultur-, Sozial- und Mediengeschichte des Jazz von den Anfängen bis zur Gegenwart. HG. V. Klaus Wolbert. Zweitausendeins. Frankfurt a. Main 1997. Ausstellungskatalog.
Jazzgeschichten aus Europa – Von Ekkehard Jost. Wolke Verlag Hofheim. 2012.
Das Lexikon der prominenten Selbstmörder. Von Gerald Grote, Michael Völkel und Karsten Weyershausen unter Mitarbeit von Klaus Rathje und Holger Reichard. Schwarzkopf Verlag Berlin 2000. Chet Baker S. 24 – 25.
Filmographie:
Chet Baker: Let‘s Get Lost. Dokumentarfilm von Bruce Weber. 1 Stunde 49 Minuten. Auf DVD 2009.
Born To Be Blue. Spielfilm/ Bio-Picture. 1 Stunde & 33 Minuten. Auf DVD Oktober 2017.
Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion:
COSMO Iran im Herzen | ARD Audiothek
Persönliche Geschichten zur #IranRevolution aus Deutschland. Weil die Themen Feminismus, Empowerment und Kampf um Demokratie dort, uns auch hier bewegen.
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Sprecherin
Der Reisende, der an einem Donnerstag im Mai 1988 mit dem Zug in Amsterdam eintrifft, kennt die Stadt. Er hat hier schon viele Konzerte gegeben, er weiß, wie man hier an Drogen kommt, an harten Stoff wie Heroin und Kokain. Weil die Hotels, die er sonst nutzt, ausgebucht sind, versucht er es im Prins Hendrik, einer nicht ganz so eleganten Adresse. Der Mann hat Glück, im zweiten Stock ist noch ein Zimmer frei, er geht nach oben und macht es sich in Raum C-20 bequem. Er injiziert sich den Stoff, den er am Nachmittag gekauft hat.
Sprecher
Eigentlich hätte der Musiker in einem anderen Hotel absteigen sollen, so war es geplant. Ein Mitarbeiter seiner Konzertagentur sollte ihn abholen und zu einem Auftritt fahren, aber Chet Baker ist nicht aufgetaucht. Kein Mensch weiß, wo er steckt, was nicht ungewöhnlich ist für den Künstler. Irgendwann wird er sich schon melden, denkt der Leiter der Konzertagentur, nur diesmal kommt es anders.
Sprecherin
Nachts, gegen drei Uhr im Prins Hendrik. Draußen ist es ungewöhnlich warm, Chet Baker will wohl noch ein wenig spielen, wie er es früher getan hat, am offenen Fenster, zwischen Innenraum und Außenwelt. Das Schiebefenster lässt sich allerdings schwer öffnen. Baker, berauscht vom Heroin, muss viel Kraft aufwenden, um das Fenster hoch zu drücken. Als es gelingt, verliert er das Gleichgewicht und fällt hinaus - mitsamt seiner Trompete. Er stürzt und schlägt mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf.
Sprecher
Passanten, die ihn liegen sehen, halten ihn für einen Betrunkenen, bis jemand die Blutlache am Schädel bemerkt. Die Nachtglocke wird gedrückt, der Portier verständigt. Herbeigerufene Polizisten stufen die schmächtige Gestalt als die eines ungefähr 30-jährigen ein. Wahrscheinlich haben sie den Toten nicht richtig gesehen, es ist schließlich noch stockdunkel an diesem Freitag, den 13. Mai 1988.
MUSIK 2 ( Chet Baker: Let’s Get Lost 1‘01)
Sprecherin
Wer war Chet Baker, der mit 58 Jahren in Amsterdam bei einem Unfall starb? Ein schöpferischer Mensch, der dunkle Mächte herausforderte, weil er selbstbestimmt leben wollte?
Sprecher
Ein talentierter Künstler, der als James Dean des Jazz bezeichnet wird? Oder ein gefallener Engel, der uns mit unglaublich schöner Musik beschenkt hat? Nicht nur sein Tod erinnert an eine antike Sagengestalt.
ZSP Hans-Jürgen Schaal – Charakterisierung
Ich glaube, da war ein großer, positiver Kern in ihm, eine große Lebensbejahung in ihm, er ist ja mit 50 Jahren noch nach Europa gegangen und hat da praktisch ein neues Leben angefangen. Ich glaube nicht, dass er sterben wollte, als er dann aus dem aus dem Hotelzimmerfenster gefallen ist.
Sprecherin
findet Hans-Jürgen Schaal, Produzent und Jazzpublizist aus München.
MUSIK 3 ( Jack Guthrie: Oklahoma Hills 0‘41)
Sprecher
Chesney, genannt Chet, Henry Baker Jr. wird am 23. Dezember 1929 in Yale, Oklahoma geboren. In der postum erschienenen Autobiographie „Als hätte ich Flügel“ erfährt man wenig über seine Kindheit, die anfangs in einem ländlichen Idyll spielt. Chesney wird in eine Bauern-Familie geboren, auf einer Farm mit vielen Tieren. Der Vater habe seine Mutter kennen gelernt, erinnert sich Baker, weil er Gitarre spielte bei Tanzvergnügen am Samstagabend. Die Weltwirtschaftskrise am Ende der 20-er Jahre macht jedoch nicht Halt vor dem flachen Land, die Familie muss die Farm verlassen und zieht nach Oklahoma City, in die Stadt. Chesney wird zu Onkel Jim und Tante Agnes gegeben, während seine Eltern als Aufseher und in einer Eiscremefabrik schuften. Im Sommer darf er zu Opa auf die Farm. In der Schule ist der Junge gut, bis die Eltern 1940 umziehen - an die Westküste.
ATMO Meeresrauschen, Brandungswellen
Sprecherin
In der Schule von Glendale, Kalifornien läuft es anfangs noch gut für Chet, als sich seine Eltern zu einem weiteren Umzug entscheiden, verliert er jedoch das Interesse am Unterricht. Die neue Adresse liegt am Redondo Beach, einem der attraktiven Strände von Los Angeles. Seine Tage verbringt der Junge jetzt oft am Meer und zwar an dem Strand, der später der kalifornischen TV-Serie Baywatch als Kulisse dient.
Sprecher
Der Teenager schwänzt die Schule, bleibt aber einer Leidenschaft treu. Sein Vater hat ihm, als er 13 war, eine Posaune geschenkt, aber er war zu klein, um das Instrument richtig bedienen zu können, deshalb schwenkte er auf Trompete um. Die passte besser. Chet hat sich das Spielen selbst beigebracht, Notenlesen fällt ihm schwer, Melodien spielt er nach Gehör. Journalist Hans-Jürgen Schaal, der sich intensiv mit Bakers Musik beschäftigt hat, erklärt:
ZSP Hans-Jürgen Schaal - Baker als Jazzkünstler I + Autodidakt
Chet Baker war nun einer, der nicht komponiert hat, der keine Noten geschrieben hat. Aber man kann sagen, er hat in seinem Improvisieren komponiert, hat immer sehr fantasievoll und sehr melodisch und sehr stimmig improvisiert.
MUSIK 4 ( Stan Kenton & His Orchestra: Artistry In Rhythm 0‘52)
Sprecherin
Mit 16 geht Baker zum Militär. Er wird dem Musikkorps zugeteilt und 1946 nach West-Berlin versetzt. In der fast vollständig zerstörten Metropole hat sich ein florierender Schwarzmarkt etabliert, Luxusgüter wie Zigaretten, Kaffee, Seife und Schokolade dienen als Währungen. In den Unteroffiziersclubs, in denen der Trompeter spielt, läuft, wie er sagt, moderne Musik: Bebop von Dizzy Gillespie, progressiver Swing von Stan Kenton. Gierig nimmt der junge Mann die neuen Klänge in sich auf.
Sprecher
Der Kalifornier ist kein Hochgeschwindigkeitsvirtuose, kein Stratosphärentrompeter. Was Bakers Spiel von Anfang an kennzeichnet, ist, dass es leise, langsam und sanft klingt. Für Hans-Jürgen Schaal hat dieser Stil, der Chet-Baker-Sound, mit einem Verlust zu tun.
ZSP Hans-Jürgen Schaal - Chet Baker Sound auf der Trompete
… Er hat als Jugendlicher einen oberen Schneidezahn verloren, der ist eben ausgeschlagen worden. Jetzt braucht man natürlich die Schneidezähne, um einen starken Ansatz zu haben auf der Trompete. Den hatte er nicht. Seine ersten Aufnahmen wurden oft bemängelt, weil eben wegen des fehlenden starken Ansatzes, er konnte keine virtuosen Höhenflüge auf der Trompete machen, er musste sanft, leise und tief spielen auf der Trompete. Und auch später, als er dann virtuoser spielen konnte, lauter spielen konnte, hat er das einfach beibehalten als sein Markenzeichen. Das war seine Art, die Trompete zu spielen und sie entsprach wohl auch mehr seinem Temperament.
MUSIK 5 ( Chet Baker: Un poco loco 0‘45)
Sprecherin
Nach dem Militär kehrt Baker nach Kalifornien zurück. Er spielt, wo immer sich eine Gelegenheit bietet. Man wird aufmerksam auf ihn. Als der New Yorker Bebop-Saxophonist Charlie Parker nach L. A. kommt, sucht er für seine Begleit-Band einen Trompeter und verpflichtet den gerade mal 22-jährigen Nobody.
ZSP Hans-Jürgen Schaal - Charlie Parker Session
… Charlie Parker war ja auch immer auf der Suche nach Spielern, die nicht unbedingt mit ihm konkurrierten, sondern einen Gegensatz bildeten, einen Kontrast. … Charlie Parker war sich gleich sicher, er möchte mit Chet Baker spielen, hat die anderen Trompeter, die da zum Vorspielen angetanzt waren, dann nach Hause geschickt.
MUSIK 6 ( Chet Baker: Irresistible You 0‘49)
Sprecher
Charlie Parker ist die zentrale Figur des Bebop, ein Stil, der den populären Swing-Jazz der 30- und frühen 40-er Jahre ablöst. Hohe Geschwindigkeit und ungewöhnliche Tonschritte zeichnen ihn aus, genüsslich werden Melodien und Konventionen zerpflückt. Gespielt wird das hochvirtuose Idiom vor allem von kleinen Ensembles, von Bands und Combos. Entstanden ist die artistische Spielweise in den Clubs von New York, dem kulturellen Zentrum an der Ostküste der USA. Die 20-Millionen-Metropole gibt vor, was läuft in Mode, Musik, Kunst und Literatur. Wer etwas werden will als Jazzkünstler, muss sich in New York beweisen, lautet ein ungeschriebenes Gesetz.
Sprecherin
Die Westküste der USA mit Los Angeles als ausuferndem, urbanem Zentrum steht dagegen für die Sonnenseite des Lebens, weniger für Härte oder Leistungsdruck. In Kalifornien stießen die Siedler, die nach Westen zogen, auf den Pazifik - der Ozean als natürliche Barriere. Hier musste es sein, das Gelobte Land, das in der Bibel verheißen worden war, denn weiter ging es nicht. Kein Wunder, dass Hollywood in Kalifornien entstanden ist, die Traumfabrik mit unzähligen Stars und Sternchen. An der Westküste mit ihren weiten Küsten lebt es sich angenehm und entspannt, das Klima ist wesentlich milder, südlicher als das von New York, dessen bitterkalte Winter gefürchtet sind. In Kalifornien sind Körperkult, Fitness und Strandaktivitäten wie Wellenreiten angesagt.
MUSIK 7 ( Miles Davis –Moon Dreams 0‘36)
Sprecher
Der Gegensatz zwischen der Ostküste mit seiner scharfen Rationalität und der sonnenverwöhnten, lässigen Westküste spiegelt sich, meinen Kenner, auch in vielen Musikstilen. Der Bebop aus New York, der innovative Jazz der Ostküste, gilt als virtuos, kühn und herausfordernd.
Sprecherin
Wird der geographische Hinweis West Coast auf Musik angewandt, bedeutet das, dass sie modern und urban, aber auch sinnlich und locker klingt, voller angenehmer Vibrationen ist. Das Gütesiegel West Coast wird höchst unterschiedlichen Stilen verliehen – vom Surf Rock der Beach Boys und den epischen Folk-Balladen von Crosby, Stills, Nash & Young über den Countryrock der Eagles bis hin zu Warren G., einem Hiphopkünstler der Westküste. Für viele spiegelt die Musik dieser Künstler und Bands die Weite der Landschaften der Westküste wider.
MUSIK 8 ( Mulligan Quartet - Love me or leave 0‘25)
Sprecher
Der Cool Jazz, den der junge Chet Baker wesentlich mitgestaltet, wird ebenfalls oft unter West Coast subsumiert - offene, leichte Musik, die sich nicht anbiedert. Ganz so simpel, findet Hans-Jürgen Schaal, ist es allerdings nicht.
ZSP Hans-Jürgen Schaal - - West Coast Jazz vs. Cool Jazz
Also der Cool Jazz ist durchaus auch eine Erfindung der afroamerikanischen Musiker. Aber er kam natürlich den weißen Musikern sehr entgegen, weil man nicht diese enorme Virtuosität gebraucht hat, … weil das mehr in Richtung europäische Klanglichkeit ging. … und man sprach dann später von West Coast Jazz, weil dieser Cool-Jazz an der Westküste natürlich eigene Schwerpunkte gesetzt hat. Er gilt ja manchen so als besonders entspannend und besonders sonnig. Ich höre ihn eigentlich mehr als sehr verkopft. Der Westcoast Jazz hat gerne mit besonderen Kompositionstechniken gearbeitet, also viel mit Kontrapunktik, mit Kanon, Fuge, auch mit Zwölftontechnik, mit Polytonalität, Quarten, Harmonik und all das.
MUSIK 9 ( Miles Davis – Rocker 0‘53)
Sprecherin
Entstanden ist der Cool Jazz aber tatsächlich in New York, also an der Ostküste. Der Trompeter Miles Davis, ein Künstler, der für extrem reduziertes Spiel steht und sich so von der Expressionswut der Bebop-Künstler abgrenzt, gründet Ende der 1940-er Jahre für Aufnahmen die Capitalband, mit Flügelhorn und Baritonsaxophon ungewöhnlich besetzt. Die Bläser müssen umsichtig intonieren, damit alle zu hören sind. Der Rhythmus spielt bei den Aufnahmen, die später auf der Langspielplatte „Birth Of The Cool“ erscheinen, eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht der Misch-Klang der verschiedenen Blasinstrumente.
Sprecher
Davis‘ Cooljazz-Versuche werden zwar von der Kritik gefeiert, richtig populär aber sind sie nicht. Das ist anders bei der Musik, die Gerry Mulligan, der Miles Davis in der Capitolband in New York unterstützt hat, schreibt und arrangiert, nachdem er 1952 nach Kalifornien gezogen ist. Der Baritonsaxofonist gründet mit Chet Baker ein Quartett - ohne Klavier oder Gitarre, ohne schmeichelnde Harmonien. Kontrabass und Schlagzeug strukturieren die Zeit, über die Mulligan und Baker sanft Melodielinien weben.
MUSIK 10 ( Gerry Mulligan Quartet – Walkin‘ Shoes 0‘45)
Sprecherin
Cool Jazz nennen Kritiker und Fans den neuen Stil, um ihn abzugrenzen vom Bebop. Das Tempo im Cool Jazz ist ruhig und zurückgenommen, die Anmutung eher lyrisch und leise als schreiend-laut. Bebop ist hot Jazz, aggressive, feurige Musik. Cool Jazz, wie ihn Mulligan und Baker betreiben, wirkt dagegen taghell, überlegt und weltabgewandt: als würden die Musiker der Hektik bewusst den Rücken kehren und sich ganz und gar versenken in ein Artefakt aus Klängen und Tönen.
Sprecher
Als Mulligan wegen eines Drogendelikts ins Gefängnis kommt, gründet Chet Baker ein eigenes Quartett. Der Pianist Russ Freeman übernimmt jetzt Mulligans Rolle, er schreibt und arrangiert die Stücke, kümmert sich um Engagements, verwaltet die Finanzen. Chet Baker vergnügt sich derweil anderweitig.
ZSP Hans-Jürgen Schaal – über den Fall des Engels
… Baker hat eigentlich nie gelernt, für sich oder für die Band Verantwortung zu übernehmen. Er hat eigentlich nur Party gefeiert, schnelle Autos, schöne Frauen, Drogen, das war das Ding. Und es gab eben immer genug junge Leute um ihn herum, die ihn darin bestärkt haben. Das erklärt wahrscheinlich auch, warum er dann in den 50-er-Jahren diesen großen Absturz erlebt hat - nach diesem sehr schnellen Aufstieg.
MUSIK 11 ( Chet Baker – Not For Me 0‘47)
Sprecherin
Noch ist der junge Mr. Baker unverkennbar auf dem Weg nach oben. Seine Popularität steigt, als er den Rat eines Labelbetreibers befolgt und singt. Bis dahin hatte er nur aus Verlegenheit gesungen, doch Gesangs-Aufnahmen sprechen nicht nur Jazzfans an, sie werden zudem von populären Radiosendern gespielt. Die Platte Chet Sings! wird 1956 ein Erfolg. Die Ballade My Funny Valentine avanciert zu Bakers signature song, seinem Erkennungslied.
MUSIK 12 ( Chet Baker – My Funny Valentine (Live) 0‘44)
ZSP Hans-Jürgen Schaal – Über Sänger Chet B.
Also für meine Ohren singt er genauso wie er Trompete spielt: sanft, leise und in diesem Trompetenregister, das wirkt natürlich irgendwie androgyn. Ja, also, das kam gut an in den 1950er-Jahren, speziell beim weiblichen Publikum. Da wirkt er einfach jünglingshaft, ein bisschen unschuldig auch. … Wer jetzt heute diese Stimme zum ersten Mal hört, der denkt vielleicht, der klingt ja wie eine Frau. … Also er hatte sicherlich keine wirkliche Singstimme, aber er hatte natürlich eine sichere Intonation. … Und er hat natürlich auch immer nur Lieder gesungen, die zu dieser weichen, sanften Stimme gepasst haben. (Er hat also keine Macho-Songs gesungen, sondern) er hat nur sensible Balladen gesungen.
MUSIK 13 ( Chet Baker – I Get Along Without You Very Well 1‘11)
Sprecher
Ein weiterer Faktor der Ikonografie sind die Portraits, die Fotokünstler William Claxton anfertigt. Obwohl Baker auf den stilvollen Schwarz-Weiss-Fotos nie lächelt, ist er ungeheuer fotogen. Ein hübscher junger Mann, in sich gekehrt, verletzlich, etwas verloren. Der ehemalige Modefotograf Claxton weiß, wie man den Jungstar inszenieren muss, damit er Starqualitäten, oder anders gesagt, das nötige Charisma entfalten kann.
Chet Baker hat also in mehrfacher Hinsicht Glück. Er verkörpert den Zeitgeist, das weibliche Publikum findet ihn attraktiv - und der Jazz in den USA, wo im Süden die sogenannte Rassentrennung immer noch gesetzlich festgeschrieben ist, braucht saubere, weiße, junge Stars wie ihn. Für Baker-Fans ist es jedenfalls ein Schock, als der Künstler 1959, kurz vor Drehbeginn eines Spielfilms, wegen Drogen verhaftet wird. Die Dreharbeiten mit Natalie Wood und Robert Wagner als Ersatz für Baker finden trotzdem statt. Titel des Films: All The Fine Young Cannibals.
MUSIK 14 ( Chet Baker – (Somewhere) Over The Rainbow 0‘46)
Sprecher
Nach der Entlassung aus dem Strafvollzug geht Baker nach Italien. Auch hier muss er wegen Drogen-Konsums für anderthalb Jahre ins Gefängnis. 1962 nimmt er dann in Italien das Album Chet Is Back auf, es gilt als eines seiner besten.
Sprecherin
Was folgt, ist eine regelrechte Hetzjagd durch Europa. Baker, der im Sportwagen zu Auftritten braust, wird an nahezu jeder Grenze festgenommen, in Gefängnisse oder Psychiatrien gesteckt, von Boulevardblättern zum Monstrum erklärt. Die Öffentlichkeit interessiert sich anscheinend nicht dafür, dass er sich als Künstler weiterentwickelt hat, seinen Ansatz verfeinert hat. Der Musiker ist zur Negativfigur geworden.
ZSP Hans-Jürgen Schaal – Baker & die Drogen II
Das war im Grunde die Tragik seines Lebens, dass viele Leute eben nur noch über den Junkie geredet haben und nicht über den Musiker. Gerade in dieser ersten Zeit in Europa war es ja so, dass die Medien gerade die die Boulevardpresse sich darauf gestürzt hat … Dass er eine Gefahr wäre für die Allgemeinheit. Dabei hat er ja niemandem geschadet außer sich selber. … Inwieweit das jetzt in seine Musik eingegangen ist? Wenn man seine frühen Aufnahmen hört, würde ich sagen, er hat schon immer so gespielt. Er ist nur besser geworden.
MUSIK 15 ( Elvis Costello – Shipbuilding 0‘24)
Sprecher
Als der Trompeter Ende der 60er Jahre in die USA zurückkehrt, will man nichts mehr von ihm wissen. Er ist nicht mehr der strahlende junge Held, durch die Sucht sieht er abgezehrt aus, um Jahrzehnte gealtert. In den Staaten gilt er deswegen als abgehalftert, seine Musik als überholt, stigmatisiert als Junkie, als Drogenabhängiger.
Sprecherin
Hinzu kommt: Jazz wird nun verstärkt und verfremdet, junge Jazzmusiker setzen jetzt gerne E-Pianos und E-Gitarren ein, sie verbinden lauten Rock mit Jazzimprovisationen. Fusion nennt sich das - nichts für einen Leisetreter wie Chet Baker. Als man ihm weitere Zähne ausschlägt, weil er seine Drogenrechnungen nicht begleichen kann, ist der absolute Karriere-Tiefpunkt erreicht.
Sprecher
Aber Baker kämpft sich zurück. Er bekommt ein künstliches Gebiss und arbeitet mehrere Jahre daran, damit einen guten Ansatz für sein Instrument hinzubekommen. 1972 wagt er in New York ein Comeback. Im Publikum bekunden Dizzy Gillespie und Miles Davis ihre Sympathie für den Kollegen.
Sprecherin
Ende der 70-er Jahre ist er zurück in Europa. Er gastiert vor allem in Metropolen wie Paris, London, Brüssel, Berlin und Stockholm. Jahrelang verzichtet er in seinen Bands auf ein Schlagzeug. Tausend Dollar verlangt er für ein Live-Konzert, 5000 für eine Albumproduktion - auszuzahlen in bar nach der Veranstaltung, dann ab ins Hotel oder ins Auto und weiter durch die Nacht.
Sprecher
Dass ein derartiger Freigeist kein verantwortungsvoller Vater ist und auch kein zuverlässiger Liebhaber, dürfte klar sein. Gegen Ende seines Lebens hat Baker nicht einmal ein Bankkonto, er übernachtet in Hotels und fährt mit Zug oder Auto von Auftritt zu Auftritt. Luxusnomade nennen ihn seine Kinder, die er mit mehreren Frauen hat, aber nur selten sieht. Nicht alle seine Konzerte sind großartig, aber doch viele.
Sprecherin
Von Cool Jazz spricht nun kaum noch jemand, wird ein Konzert von ihm angekündigt. Modern, contemporary oder kammermusikalischer Jazz passt ja auch besser. Sein Name bürgt jedenfalls für kunstvoll vorgetragene, lyrische Balladen.
MUSIK 16 ( Chet Baker – Moon Love 1‘11)
Sprecher
Was wird bleiben von Chet Baker, dem Künstler, der 1988 im Alter von nur 58 Jahren wie ein gefallener Engel in Amsterdam aus dem Hotelfenster gestürzt ist? Hans-Jürgen Schaal fasst zusammen.
ZSP Hans-Jürgen Schaal -
Einmal ein Feeling, eine Emotion, die eigentlich in vielen Lebenslagen passt. Eine Emotion, die etwas melancholisch ist, aber nicht traurig, die etwas positiv ist, aber nicht verklärend. Und es bleibt einfach eine große musikalische Fantasie, ein wunderschöner Trompetenton, eine unglaubliche Intonationssicherheit, Ja, es wird einfach schöne Musik.
Polens Kampf um nationale Souveränität wurde über die Jahrhunderte vor allem gegen das russische Imperium geführt. Traumatische Erfahrungen der Polen mit dem imperialen Nachbarn haben sich durch den russischen Krieg gegen die Ukraine erneut ins Bewusstsein gerufen. Von Jochen Rack (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Jochen Rack
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Rainer Buck, Irina Wanka, Peter Veit
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
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Deportation und Exil - Eine polnische Odyssee im Zweiten Weltkrieg
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Literaturtipps:
Stephan Lehnstaedt, Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919-20 und die Entstehung des modernen Osteuropa, Beck 2022.
Thomas Urban, Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens. Beck 2015.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
OT 01: Atmo Protest gegen den Besuch des russischen Botschafters am Militärfriedhof Warschau
Sprecher:
9. Mai 2023: Der russische Botschafter in Polen Sergej Andrejew will den sowjetischen Militärfriedhof in Warschau besuchen, um einen Kranz für die im Zweiten Weltkrieg gefallene Rotarmisten niederzulegen. Doch eine Menge wütender Demonstranten hält ihn auf. Um das Gelände des Ehrenmals haben sie die Kulissen zerbombter ukrainischer Wohnhäuser aufgestellt und auf die Grabstellen der Soldaten der Roten Armee ukrainische Fähnchen und Kreuze gesteckt. Sie tragen die Namen ukrainischer Zivilisten, die durch russische Luftangriffe getötet wurden.
OT 01
Sprecher:
„Raschisti, Raschisti“ skandieren die Demonstranten und nehmen damit den Neologismus auf, den die Ukrainer für die russischen Invasoren geprägt haben: die Wortverbindung von Russen und Faschisten.
Sprecherin
Aber nicht erst seit Putin seinen brutalen Feldzug gegen die Ukraine begonnen hat, ist das Verhältnis der Polen zu Russland von Feindschaft, wenn nicht Erbfeindschaft geprägt. Über die Jahrhunderte wurde es von dem imperialen Nachbarn als Beute betrachtet, zeitweise annektiert, mit Deutschland und Österreich geteilt, dem zaristischen Imperium, dann dem Sowjetreich einverleibt. Erst 1989 ermöglichte der Untergang der Sowjetunion die Wiedergeburt eines freiheitlichen demokratischen Polens, das heute Mitglied der EU und der NATO ist.
MUSIK Jour de Pluie 0‘20
Sprecher
Vergessen wird im Westen freilich oft, dass Polen in Mittelalter und Barock eine europäische Großmacht und Gegenspieler Russlands war. Mit der Union von Lublin nämlich waren das litauische Großfürstentum und das polnische Königreich 1569 zu einer gemeinsamen Adelsrepublik verschmolzen, der sog. Rzeczpospolita. Das polnisch-litauische Commonwealth erstreckte sich bis ins 18. Jahrhundert weit nach Osten, umfasste Teile der heutigen Ukraine, von Belarus und Russland. Anfang des 17. Jahrhunderts hatten polnisch-litauische Truppen sogar für zwei Jahre Moskau besetzt, erklärt der Osteuropahistoriker Stephan Lehnstaedt:
OT 2 Lehnstaedt:
1611 stehen polnische Truppen im Kreml in Moskau, aber schon Ende des 17. Jahrhundert sieht man ganz deutlich, dass sich dieses Kräfteverhältnis umkehrt. Polen verliert immer mehr Grund, muss ihn abgeben an Moskau, und spätestens mit den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert, 1795 verschwindet Polen von der europäischen Landkarte, ist klar, dass Russland der Erbfeind ist.
Sprecher:
Am 4. November 1612 hatten die Russen die Polen aus Moskau wieder vertrieben – 2005 führte Putin das Datum 4. November als Feiertag der Nationalen Einheit ein - Teil seiner imperialistischen Erinnerungspolitik, die an den Expansionismus des Zarenreichs anknüpft.
MUSIK Gutenberg Galaxy 0‘30
Sprecherin
Dieses hatte sich bis zum 18. Jahrhundert immer weiter nach Westen ausgedehnt. Peter der Große eroberte Anfang des 18. Jahrhunderts im Krieg gegen Schweden das heutige Estland, schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gliederte sich Russland den Ostteil der heutigen Ukraine an, dessen kosakische Hetmanate bis dahin von Polen beherrscht worden waren. So war Polen-Litauen von Norden wie Osten her von den Russen bedroht. Unter der Herrschaft von Katharina II. kam es Ende des 18. Jahrhunderts zu den drei polnischen Teilungen, 1772, 1793 und 95. Österreich annektierte Galizien, Preußen die Gebiete um Posen, Russland die westliche Ukraine und den größten Teil Polens - insgesamt 82 Prozent des polnischen Territoriums, berechnet der Krakauer Historiker Andrzej Nowak.
OT 3 Nowak, Englisch, dt.
OV:
Katharina II. berief sich auf das Konzept der russischen Welt, das Putin heute wiederbelebt hat. Demnach gehört jeder, der die slawische Sprache spricht, zu Russland. Das war die ideologische Rechtfertigung. Wichtiger war die geopolitische Dimension: Wenn Russland eine europäische Macht sein wollte, brauchte es den Zugang zu Zentraleuropa, diese Achse führt durch Polen. Und es gab noch einen dritten Grund für die Teilung, nämlich dass Katharina Polen mit revolutionärer Freiheit identifizierte. Als die Polen sich gegen die Russen wehrten 1793/94 - kam es zu dem berühmten Aufstand unter Tadeusz Kosciuszko -, wurde das von Russland als jakobinische Revolution verstanden. Katharina benutzte das Argument gegen Polen: Wir wollten Ordnung, und die Polen stehen für revolutionäre Anarchie.
Sprecher:
Nur kurz erschien unter Napoleon das Großfürstentum Warschau als Rumpfpolen wieder auf der Landkarte, aber nach dessen Niederlage gegen Russland 1812 wurde es aufgelöst und im Wiener Kongress als sogenanntes Kongresspolen mit dem Kaiserreich Russland verbunden. Russlands Versuch, dieses konstitutionell verfasste Polen, das ein eigenes Parlament, den Sejm, und garantierte Rechte hatte, mit der zaristischen Autokratie in Übereinstimmung zu bringen, scheiterte. Das polnische Parlament kritisierte die Einschränkung von Freiheitsrechten und die Pressezensur, im November 1830 kam es zum Aufstand gegen Russland, Zar Nikolaj I. wurde für abgesetzt erklärt und schickte Truppen, die die polnische Armee 1831 besiegten. Der verhängte Kriegszustand dauerte 25 Jahre. Um die polnische Freiheitsbewegung dauerhaft zu unterdrücken, betrieben die Zaren eine Politik der Russifizierung, sagt Andrzej Nowak.
OT 4 Nowak, Englisch, dt.
OV:
Die Sprache der höheren Erziehung war polnisch. Das hat man im östlichen Teil Polens schon ab 1830 untersagt und die russische Sprache als Bildungssprache vorgeschrieben. Auf dem Gebiet des ehemaligen Kongresspolens um Warschau herum wurde die Russifizierung sehr schnell nach dem zweiten Aufstand 1863 institutionalisiert. Das bedeutete: keine höhere Bildung in Polen, keine Universitäten, Restriktionen für polnischsprachige Gymnasien, Russisch als einzige obligatorische Sprache auf jeder Stufe des Bildungssystems. Das führte dahin, dass Schüler nicht einmal in den Pausen miteinander Polnisch sprechen durften.
MUSIK Open Prayer 0‘05
OT 5 Nowak, Englisch, dt.
OV:
Nach jedem missglückten Aufstand gab es schwere Verfolgungen, z.B. wurden nach 1863 40.000 Polen nach Sibirien deportiert. Das führte zu traumatischen Erinnerungen, aber auch zum Bedürfnis nach Rache.
Sprecher:
Polen überlebte die lange Zeit von 123 Jahren der Teilung, indem es sich als Kulturnation definierte, meint der ehemalige Polen-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Thomas Urban.
OT 6 Urban:
Den Nationalgedanken haben im 19. Jahrhundert Künstler, Maler, Komponisten, Schriftsteller gepflegt und bewahrt. Ich nenne nur Adam Mickiewicz und Julius Slowacki, die großen Poeten. Ich nenne den Maler Matejko, der große historische Gemälde über die Highlights in der polnischen Geschichte gemalt hat, die jeder Pole kennt.
MUSIK Orchard 0‘32
Sprecherin:
Die Gelegenheit zur Neugründung des polnischen Staates nach über einem Jahrhundert der Teilung bot der Erste Weltkrieg. Deutschland besiegte Russland und wurde danach von der Entente besiegt, so entstand ein Machtvakuum im Osten, das die Polen für sich nutzen konnten. Vorbereitet hatten sie ihre Befreiung vom Joch der Fremdherrschaft schon in den Jahren davor.
Sprecher
Der Held der polnischen Freiheitsbewegung hieß Josef Pilsudski. Im Jahr 1887 wurde er von der russischen Polizei verhaftet, weil er sich an der Planung eines Attentats auf Zar Alexander III. beteiligt hatte. Nach fünf Jahren in der sibirischen Verbannung kehrte er ins russische Polen zurück, gründete die Polnische Sozialistische Partei und stellte paramilitärische Verbände auf, die in einem Guerillakrieg gegen die Russen kämpften. Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches und der Oktoberrevolution in Russland 1917 konnte Pilsudski die polnischen Legionen, die auf Seiten der Österreicher gegen die Russen gekämpft hatten, zu einer Armee formen. Im polnisch-sowjetischen Krieg 1919-21 eroberten seine Truppen Teile des heutigen Litauens und Teile von Belarus, besetzten Minsk und Vilnius und rückten bis Kiew vor, wurden aber von der Roten Armee im August 1920 bis vor Warschau zurückgedrängt. Stephan Lehnstaedt, der ein Buch über den polnisch-sowjetischen Krieg geschrieben hat, skizziert, wie es dann zum so genannten „Wunder an der Weichsel“ kam, dem Sieg der Truppen Pilsudskis über die Rote Armee:
OT 7 Lehnstaedt:
Im polnisch-sowjetischen Krieg ist Pilsudski der Oberkommandierende. Seine Leistung besteht darin, dass er diesen Sieg herbeiführt. Er führt ihn herbei, indem er im entscheidenden Augenblick vor Warschau auf eine Gegenoffensive setzt, als ihm seine ausländischen Militärberater raten: Eingraben, Verbarrikadieren, Abwarten, Durchhalten. Aber Pilsudski hat verstanden, dass dieser Krieg nicht mehr der Schützengrabenkrieg der Westfront ist, sondern anders geführt wird und da schafft er es, den entscheidenden Gegenstoß durchzuführen. Und das wiederum ermöglicht das Überleben des polnischen Staates.
MUSIK Celestia mechanics 0‘10
Sprecherin:
Im unabhängig gewordenen Polen begann die Entrussifizierung
OT 8 Urban
Straßennamen, Behördennamen, Schulnamen, kyrillische Inschriften wurden entfernt, es war ja die Pflicht, im polnischen Teilungsgebiet, alles müsse zweisprachig sein, Geschäfte, Fahrpläne usw. Das wurde alles abgeschafft, das wurde polnisch. Im Bildungssystem natürlich, es gab dann neue Schulbücher, es kamen polnische Klassiker auf die Theaterbühnen, es wurde alles polonisiert.
Sprecher:
Während Polen zur Republik wurde, entwickelte sich im Nachbarland Sowjetunion die stalinistische Diktatur. 140.000 Sowjetbürger polnischer Abstammung wurden in die Gulag-Lager deportiert oder erschossen. Die Sowjets fürchteten die Destabilisierung ihres Herrschaftssystems durch ein freies Polen und bereiteten mit Hilfe von Hitler-Deutschland eine erneute Annexion des Landes vor.
MUSIK shock scenes 0‘17
Sprecherin
Der 23. August 1939, das Datum des Hitler-Stalin-Paktes bzw. Ribbentrop-Molotow-Paktes ist in Polen unvergessen und heute ein Tag nationaler Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit dem Überfall Deutschlands auf Polen. Nachdem die Wehrmacht die polnische Armee schnell geschlagen hatte, rückten die deutschen Truppen bis zur sog. Curzon-Linie vor, die durch den Fluss Bug gebildet wird. Die Sowjets besetzten die Gebiete östlich davon und begannen sogleich mit der Verhaftung und Ermordung der intellektuellen Elite des Landes. „Mehr als 420.000 polnische Bürger“, schreibt Irina Scherbakowa von der NGO „Memorial“, „wurden in den folgenden eineinhalb Jahren nach Sibirien und Kasachstan deportiert.“ Zum Symbol des stalinistischen Terrors wurde die Erschießung von 20.000 polnischen Offizieren im Frühjahr 1940 in Katyn und anderen Orten. Thomas Urban hat über dieses Verbrechen ein Buch geschrieben:
OT 9 Urban:
Katyn ist sozusagen der Begriff, in dem sich alle polnischen Gefühle, was die Sowjetunion und Russland angehen, fokussieren. Warum Katyn dieses Gewicht hat? Es wurde geleugnet von der sowjetischen Seite, es wurde den Deutschen zugeschrieben.
Sprecherin:
Die Deutschen hatten bei ihrem Überfall auf die Sowjetunion Katyn erobert und erste Exhumierungen an den Massengräbern durchgeführt, Goebbels nutzte die Geschichte für antibolschewistische Propaganda. In einem 1943 veröffentlichten Dokumentarfilm werden Bilder des Waldes von Katyn gezeigt: Arbeiter bergen Leichen aus Sandgruben, der Kommentar nennt die Zahl von 12000 polnischen Offizieren, die durch Genickschüsse zu Tode kamen. In der polnischen Volksrepublik durfte später, nach dem Krieg, über Katyn nicht gesprochen werden, auch Gorbatschow, der die Wahrheit wusste, leugnete die sowjetische Verantwortung für das Verbrechen. Erst 1991 übergab er Jelzin die geheimen Dokumente über die Erschießung der polnischen Soldaten, die dieser 1992 veröffentlichen ließ.
OT 11 Urban:
Es gab ja dann auch Exhumierungen an fünf anderen Orten, es gab gemeinsame Dokumentationen von Katyn der polnischen und russischen Akademien der Wissenschaften. Und die russische Staatsanwaltschaft hat Untersuchungen eingeleitet und man hat noch ehemalige Offiziere des NKWD ausfindig gemacht und sie wurden befragt. Es kam zu keinem Prozess, weil keinem der Überlebenden die persönliche Beteiligung an den Erschießungen nachgewiesen werden konnte.
MUSIK Critical observation 0‘32
Sprecherin:
Die Russen fürchteten Entschädigungsforderungen, und die Polen sahen in Russlands Krieg gegen Tschetschenien einen Beleg dafür, dass die Russen zu friedlicher Konfliktlösung unfähig seien.
Sprecher
Dann zerschellte am 10. April 2010 das Flugzeug, das den polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski und eine Delegation von Politikern zu einer Gedenkveranstaltung nach Katyn bringen sollte, beim Anflug auf Smolensk.
OT 12 Urban:
Da gab es dann Versöhnungsgesten und Putin und der damalige Premier Tusk haben sich umarmt. Der damalige Staatspräsident Medwedjew kam zum Staatsbegräbnis für Lech Kaczynski und seine Frau nach Krakau, und paar Tage später bei der Siegesparade zum 65. Jahrestag des Kriegsendes am 9.Mai 2010 war auch eine Abteilung der polnischen Armee, die in der Ehrenformation mitmarschierte, war ein polnisches Kontingent auf dem Roten Platz dabei. Und der polnische amtierende Staatspräsident war auf der Ehrentribüne des Kremls. Aber die Stimmung kippte, als offenkundig war, ein paar Monate später, dass die Russen bei der Untersuchung des Flugzeugabsturzes manipulieren.
Sprecher:
Vermutlich hatten nicht nur die Piloten des polnischen Flugzeuges Fehler gemacht, sondern auch die Verantwortlichen des russischen Flugplatzes. Doch die polnischen Ermittler durften die Fluglotsen nicht befragen, das führte zur Entstehung von Verschwörungstheorien, erklärt der Historiker Stephan Lehnstaedt:
OT 13 Lehnstaedt:
Wenn man Anhänger der PiS ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass man sagt, in Smolenks, da haben die Russen unseren Präsidenten Lech Kaczynski ermordet. Man hat jetzt einen doppelten Opfermythos, ein doppeltes Verbrechen gewissermaßen, und es sind immer die bösen Russen.
MUSIK Beauty in motion ‘55
Sprecherin:
Als Putin 2012 ins Präsidentenamt zurückkehrte, ließ er von der Webseite des Staatsarchivs die Dokumente löschen, die den Mord von Katyn bezeugten. Die Instrumentalisierung der Geschichte für politische Zwecke setzte sich fort. Der russischen Erzählung, dass die Rote Armee Polen von den Nazis befreit hatte, stand die andere der Polen gegenüber, dass die sowjetischen Truppen tatenlos vom östlichen Ufer der Weichsel zugesehen hatten, als die Deutschen den Warschauer Aufstand im August und September 1944 niederschlugen und die Stadt in Schutt und Asche legten. Und die Erfahrung, dass sich 1945 die Sowjetunion die östlich der Curzonlinie gelegenen Gebiete einverleibt und Polen nach Westen verschoben hatte.
OT 14 Lehnstaedt:
Polen ist ein Land mit unglaublich vielen Binnenvertriebenen, mehr prozentual als in Deutschland nach 1945. Und all diese Vertriebenen haben die doppelt schlechte Erfahrung mit den Sowjets gemacht, einmal 1939-41, dann durch die Vertreibung nochmals, denn die sind ja nicht freiwillig aus Lemberg und Wilna gegangen. sondern weil sie gehen mussten. Und wer war dafür verantwortlich? Die Sowjets.
Sprecher:
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Polen zur Volksrepublik, das heißt auch, zu einem sowjetischen Satellitenstaat geworden. Als Zeichen ihrer Herrschaft hatten die Sowjets in Warschau den hoch aufragenden Kulturpalast errichtet, den die Polen als Schuh bzw. Penis Stalins verspotteten. Ihr Widerstand gegen das kommunistische System speiste sich über die Jahrzehnte bis zur Solidarnosc-Bewegung auch aus der Erinnerung an den Freiheitshelden Josef Pilsudski, sagt Andrzej Nowak:
OT 15 Nowak, Englisch, dt.
OV:
Ab dem Moment, als das totalitäre System unter Stalin in Polen installiert wurde bis zum Tauwetter 1956 bedeuteten die Erinnerungen an Pilsudski: Wir waren einmal fähig, die Russen zu schlagen. Das war eine Hoffnung auf die Wiederherstellung der Unabhängigkeit. Eine andere Quelle der Hoffnung war die katholische Kirche, die einzige Institution, die nicht völlig unter der sowjetischen Staatskontrolle stand. Und so interpretierten wir den Posener Aufstand von 1956 und die Studentenrevolte 1968 gegen die kommunistische Macht in Polen, dann besonders 1980 die Soliarnosc-Bewegung als antiimperiale und antirussische Aufstände. Es
Sprecherin:
Papst Johannes Paul II wurde zur Leitfigur des Widerstands gegen das kommunistische Regime, das im Sommer 1989 zusammenbrach. Der Warschauer Pakt löste sich auf, Polen konnte sich als demokratisches Land neu erfinden. Statt Lenin-Denkmälern gab es neue Pilsudski-Denkmäler. Und der geschichtspolitische Streit mit den Russen ging weiter. Diese wiesen nämlich, als sie mit den Verbrechen von Katyn konfrontiert wurden, darauf hin, dass die Polen verantwortlich seien für den Tod von tausenden kriegsgefangenen Russen im polnisch-sowjetischen Krieg von 1919-21, sagt Stephan Lehnstaedt.
OT 16 Lehnstaedt, ca 10.00ff:
Interessant ist, dass diese Propaganda schlacht immer weiter geht, und wenn man auf den polnisch-sowjetischen Krieg 1921 schaut, haben wir polnische Kriegsgefangenenlager für gefangene Rotarmisten, und da gibt es den Streit darüber, wie viele gestorben sind, und die sowjetische und bis heute russische Forschung beharrt ja darauf, das waren genauso viele wie in Katyn ermordet wurden, das ist das polnische Katyn, da haben die unsere armen Soldaten so misshandelt.
Sprecherin:
Konsequenterweise fanden die polnischen Unabhängigkeitsfeiern 2018-`21 ohne russische Beteiligung statt.
MUSIK Freedom of expression 0‘35
Sprecher:
Dann kam der russische Krieg gegen die Ukraine, und die Polen nahmen zwei Millionen ukrainische Flüchtlinge auf. Die Solidarität mit dem Nachbarland war nicht unbedingt selbstverständlich, denn die Polen hatten auch einen geschichtspolitischen Streit mit der Ukraine. Dieser drehte sich um die Besetzung ukrainischer Gebiete durch Polen im ukrainisch-polnischen Krieg 1920 sowie um die Massaker von Ukrainern an Polen in Wolhynien 1943.
OT 17 Lehnstaedt:
Diese ganzen Konflikte gibt es, aber gleichzeitig ist man jederzeit bereit zu sagen, Russland ist der viel größere Feind, Russland ist der gemeinsame Feind, da müssen wir zusammenstehen, da müssen wir selbstverständlich Waffen liefern.
Sprecher:
Der russische Krieg hat die Verständigung und Versöhnung zwischen Polen und Ukrainern gefördert. Als Ausdruck der Annäherung kann man die Gedenkzeremonie für die Opfer der Wolhynien-Massaker ansehen, die Präsident Wolodymir Selenski und der polnische Staatspräsident Andrzej Duda im Juli 2023 gemeinsam besuchten. Die Grenzen zwischen beiden Ländern stellt niemand mehr in Frage. Prorussische Demonstrationen wie in Deutschland gab es in Polen nicht.
MUSIK curios question 0‘35
Sprecherin
Aus der leidvollen historischen Erfahrung hat Polen gelernt, dass es seine Unabhängigkeit gegen ein imperialistisches Russland auch militärisch verteidigen muss. So gibt das Land prozentual zu seinem Bruttoinlandsprodukt mehr Geld für seine Rüstung aus als Deutschland. Der Ukrainekrieg hat Polen in seiner antirussischen Haltung bestätigt.
Wir bewerten ständig, überall und alles. Menschen, Dinge, Taten, Umstände - ohne Sterne geht nichts mehr. Likes und Dislikes, Daumen rauf und Daumen runter steuern, was wir kaufen, wohin wir reisen, wen wir daten oder haten. Von Simon Demmelhuber
Credits
Autor dieser Folge: Simon Demmelhuber
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Robert Dölle, Benjamin Stedler
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. Oliver Berli, Professor für Soziologie, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
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Berli, Oliver: Germany’s next top novel. Eine Soziologie literarischer Bewertung am Beispiel von Literaturpreisen. In: Magerski, Christine/Steuerwald, Christian (Hg.): Literatursoziologie. Zu ihrer Aktualität und ihren Möglichkeiten. Wiesbaden [Springer VS], 2023, S. 107-128.
Berli, Oliver/Nicolae, Stefan/Schäfer, Hilmar (Hg.): Bewertungskulturen. Wiesbaden [Springer VS], 2021
Jonathan Kropf/Stefen Laser (Hg.): Digitale Bewertungspraktiken. Für eine Bewertungssoziologie des Digitalen. Wiesbaden [Springer VS], 2019
Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin [Suhrkamp Verlag], 2017
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MUSIK 2 ( Ela Minus – Arbrir Monte 0’18)
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Schüler checken Lehrer, Chefs evaluieren Mitarbeiter, Paarungswillige mustern Dating-Matches. Like und Daumen rauf empfehlen den idealen Studienplatz, den einfühlsamsten Arzt, den geilsten Milchaufschäumer. Was nicht gefällt, mähen Verrisse nieder.
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Dislike! Daumen runter! Krasses Wutgesicht!
MUSIK 3 ( Ela Minus – Arbrir Monte 0’32)
SPRECHER:
Herzen und Sterne sortieren den Alltag, ohne Noten, Scores und Ratings geht scheinbar nichts mehr. Leitartikler und Zeitzeichendeuter attestieren uns daher längst einen galoppierenden Bewertungswahn, Soziologen und Kulturwissenschaftler wähnen uns auf dem Weg in die Bewertungsgesellschaft.
ZITATOR:
„Die These lautet dabei, dass Bewertungen nicht nur in nahezu jedem Winkel der Gesellschaft anzutreffen sind, sondern sich in der jüngsten Vergangenheit auch immer weiter ausbreiten, intensivieren und transformieren.“
ATMO: SOCIAL MEDIA-SOUND
SPRECHER:
Dass Bewertungsphänomene zulegen, bestätigt auch Oliver Berli, Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Von einer vorschnellen Etikettierung rät er dennoch ab:
01 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:
Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass wir in einer Bewertungsgesellschaft leben. Ich würde aber sagen, dass wir zunehmend in Situationen kommen, in denen Bewertungen relevant gemacht werden. Das kann eben sein, dass man aufgefordert wird, die Erfahrung beim Reifenwechsel zu bewerten, oder dass man sich durch Flughäfen, Bahnhöfe bewegt und überall aufgefordert wird, Dienstleistungen, Einkäufe zu bewerten. Diese quantitative Zunahme lässt sich in der Tat beobachten.
MUSIK 4 ( Blackfish – Deep Village 0‘35)
ERZÄHLERIN:
Die Hinweise verdichten sich in allen Lebensbereichen, vor allem jedoch im Handel- und Dienstleistungssektor. Kein Online-Kauf, kein Friseurbesuch, kein Reifenwechsel ohne anschließende Sternchenbettelei. Doch auch in den Sozialen Medien wird geliked und gedisst, was das Zeug hält.
SPRECHER:
Aber warum? Wieso sind plötzlich alle versessen auf Likes und Reviews? Ist das wieder so ein nerdiges Internetding, mit dem die Netzkultur den Alltag flutet? Ganz sicher nicht, sagt Oliver Berli:
02 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:
Bewerten würde ich sehen als eine ganz basale menschliche Tätigkeit, genauso wie klassifizieren, vergleichen und quantifizieren. Das sind grundlegende Techniken des Ordnens von Realität. Und natürlich gibt es dann Konjunkturen in einzelnen Teilen der Gesellschaft, dass Rankings an Popularität gewinnen und auch in andere Bereiche der Gesellschaft herüberschwappen. Aber grundsätzlich sind das ja etablierte Ordnungsformen wie das Erstellen von einer Liste.
SPRECHER:
Was auf den ersten Blick aussieht wie ein trendiges Online-Phänomen, gehört schon immer zu unserer biologischen, sozialen und kulturellen Grundausstattung.
ERZÄHLERIN:
Unser Gehirn ist eine hochkomplexe Bewertungsmaschine, die unablässig Wahrnehmungen, Personen, Ereignisse analysiert und einstuft.
MUSIK 4a ( Ela Minus – Arbrir Monte 0’32)
ZITATOR:
Was raschelt im Gebüsch? Der Wind? Ein Raubtier? Droht Gefahr oder winkt Gewinn?
MUSIK 5 ( Konstantin Gropper – Excercises 1’05)
ERZÄHLERIN:
Die Fähigkeit, zwischen Freund oder Feind, nützlich oder schädlich zu unterscheiden, war in Savanne und Dschungel ein Überlebensvorteil. Und sie bewährt sich noch heute im Job, an der Börse, im privaten und öffentlichen Miteinander. Bewerten war und ist eine grundlegende Strategie der Daseinsbewältigung, die unser gesamtes Verhalten prägt: Wir bewerten Sachen, Situationen und Chancen, wir mustern Menschen und weisen ihnen dadurch ihren Platz im Leben zu:
SPRECHER:
Wer darf studieren? Wer macht Karriere? Wer hat Klasse, wer ist Masse? Bewertungen organisieren soziale Ordnungen. Sie bestimmen, wer im Kindergarten, in der Schule, im Beruf, beim Liebesreigen in einer Hauptrolle oder als Komparse mitspielt. Anders gesagt: Sobald es nötig ist, die Verteilung knapper Ressourcen, einen Status oder Rang zu begründen, führt an Wertzuschreibungen kein Weg vorbei.
03 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:
Bewertung wird in all den Bereichen interessant, wo Orientierung notwendig ist. Ein Beispiel wäre eben die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Bewerbungen, um eine Stelle mit einer bestmöglichen Person zu besetzen.
ZITATOR:
Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.
SPRECHER:
Orientierung finden, Konflikte lösen, Entschlüsse fassen, die Wirklichkeit ordnen und gestalten – all das setzt unbewusste oder bewusste Bewertungsprozesse voraus. Einfacher wird das unverzichtbare Evaluieren, wenn wir auf vorhandene Einschätzungen und Erfahrungen zurückgreifen. Ranglisten und Werturteile beschleunigen die Urteilsfindung, weil sie die Informationsmenge reduzieren und Gehirnressourcen schonen. Deshalb vertrauen wir bei weitreichenden Entscheidungen, größeren Anschaffungen und selbst eher trivialen Vorhaben, wie der Wahl einer neuen Lektüre, auf Rankings und Rezensionen. So wie Oliver Berli:
04 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:
Ich lese gerne Romane. Es erscheint nur wahnsinnig viel auf dem deutschen Buchmarkt jedes Jahr. Wie orientiere ich mich in der großen Masse von Büchern, die ich lesen könnte? Was lese ich als nächstes? Ich könnte eine Rezension lesen. Ich könnte schauen, was gut verkauft wird. Ich könnte in der Buchhandlung meines Vertrauens nachfragen. Das sind alles gangbare Arten, diesem Entscheidungsproblem zu begegnen, ohne viel Zeit zu investieren.
MUSIK 6 ( Ziggy Has Ardeur – Me-Time 0‘38)
SPRECHER:
Bewertungen sorgen dafür, dass wir in komplexen Situationen besser zurechtkommen. Sie sortieren Sachen, Personen und Handlungen aber auch Gedanken und Haltungen nach Merkmalen, die wir als wertvoll oder wertlos einstufen. Und genau damit verwandeln sie ein ungeordnetes, potenziell bedrohliches Durcheinander in etwas, das uns geordnet, sinnvoll und beherrschbar erscheint.
ERZÄHLERIN:
Das Internet mit seinen vernetzten, direkten Kommunikationskanälen kommt diesem Bedürfnis entgegen. Zugespitzt formuliert, hat das World Wide Web eine gigantische Bewertungs- und Ratingmaschine geschaffen, die entscheidungsrelevante Informationen mit sozialem Austausch und Unterhaltung kombiniert. Für viele Menschen ist dieser äußerst psychoaktive Mix eine unverzichtbare Alltagsroutine geworden.
MUSIK 7 ( Lisa-Marie Puy – My Secret Language 0‘43)
SPRECHER:
Einfach so einen Film gucken, ein Buch lesen, eine Kaffeemaschine kaufen? Nie und nimmer! Nicht ohne Yelp, HolidayCheck, TripAdvisor, Trustpilot, Yameda und Co.
ERZÄHLERIN:
Dutzende spezialisierter Portale liefern Bewertungen für Unis, Reisen, Hotels, Restaurants, Ärzte, Handwerker und praktisch alle Branchen. Kein Online-Anbieter verzichtet auf wertende Kommentar- und Feedbackangebote. Egal, welches Produkt, welche Dienstleistung, welchen Rat wir suchen, das nächste Ranking, die nächste Empfehlung, der nächste Erfahrungsbericht ist nur einen Klick weit entfernt.
ATMO: MODEMEINWAHL 1990er JAHRE
ERZÄHLERIN:
Was heute selbstverständlich ist, beginnt Mitte der 1990er Jahre mit der Gründung erster Verkaufsplattformen im Internet. Dabei entstehen anonyme Marktplätze, die einen hohen Vertrauensvorschuss einfordern. Anbieter und Käufer kennen sich nicht persönlich, die Waren existieren nur als Bild und Beschreibung. In dieser virtuellen Umgebung schaffen ungeschminkte Kundenurteile, ehrliche Feedbacks und authentische Meinungen die beruhigende Illusion einer soliden Entscheidungsgrundlage. Das fühlt sich gut an, räumt Bedenken aus, steigert die Kaufbereitschaft und entpuppt sich rasch als wichtigster Absatzmotor im Online-Handel.
MUSIK 8 (Citokid – Focus On Money 0‘35)
SPRECHER:
Wie bedeutsam Bewertungen, Rankings und Produktzensuren inzwischen für die Branche sind, bestätigen Marktanalysen Jahr für Jahr erneut.
ZITATOR:
97 Prozent der Verbraucher geben an, dass Onlinerezensionen und Referenzen ihre Kaufentscheidungen massiv beeinflussen.
57 Prozent kaufen nur bei Unternehmen, die wenigstens vier Sterne haben.
39 Prozent haben kaum Vertrauen in Angebote oder Produkte ohne Bewertung.
ERZÄHLERIN:
Weil sich Kundenbewertungen als hochwirksame Verkaufshilfe und Wertschöpfungsfaktor herausstellen, siedelt sich schon bald ein professionelles Bewertungsgewerbe rund um Shops und Plattformen als expandierender Wirtschaftszweig an. Spezialisierte Dienstleister übernehmen auf Wunsch sämtliche Facetten des Bewertungsmanagements: Sie entwerfen Strategien zur Like-Beschaffung, entwickeln und betreiben Bewertungssysteme, lassen missliebige Kommentare löschen oder gehen juristisch gegen negative Urteile vor.
SPRECHER:
Falls alles nicht reicht und der Erfolg trotzdem ausbleibt, lässt sich der Sternensegen auch künstlich erzeugen: Spezialagenturen liefern gefälschte Rezensionen und Phantomkommentare, einige Bewertungsportale verhökern gezinktes Lob an alle, die Anzeigen schalten.
MUSIK 9 ( Martijn Konijnenburg – Money In My Head 0’22)
MUSIK 10 (Kevin Yost – These Lonely Winds 0’34)
ERZÄHLERIN:
Das klärt zumindest zwei Dinge: Erstens, warum uns Shops, Content-Anbieter und Influencer unentwegt um Likes anhauen und Kommentare schnorren. Zweitens, warum sich gekaufte Bewertungen, gefälschte Rezensionen und manipulierte Rankings häufen. Doch es erklärt noch immer nicht, warum wir dieses Spiel so gerne mitmachen und unseren Senf so bereitwillig abgeben.
SPRECHER:
Abgesehen vom Wunsch, auf gute Produkte hinzuweisen oder vor Fehlkäufen zu warnen, sehen Psychologen vier mächtige Treiber am Werk. Alles dreht sich um Anerkennung, Kompetenzerleben, Selbstbestätigung und Macht. Das Erlebnis, als gewiefter Kenner und gefragter Experte aufzutreten, schmeichelt dem Ego, verleiht Autorität, suggeriert Urteilsvermögen. Die eigene Meinung als kategorischer Imperativ – das tut gut, das will man öfter genießen. Und weil diese Online-Duftmarken viele Menschen erreichen, spendieren sie ihren Urhebern ein selbstwertstreichelndes Wohlgefühl. Einen weiteren Anreiz liefert die Vorstellung, durch Lob oder Tadel konkrete Macht über das Image eines Unternehmens auszuüben.
MUSIK 11 ( Konstantin Gropper – Excercises 1’05)
ERZÄHLERIN:
Wir benoten jedoch nicht nur Produkte. Wir bewerten auch – und das sogar besonders gern – uns selbst und andere. Genau davon leben Onlinedienste wie Facebook, Instagram, TikTok &Co. Laut Handbuch Soziale Medien unterbreiten diese Kanäle:
ZITATOR:
„Angebote auf Grundlage digital vernetzter Technologien, die es Menschen ermöglichen, Informationen aller Art zugänglich zu machen und davon ausgehend soziale Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen“.
SPRECHER:
Erfolgreich sind die einschlägigen Anbieter also deshalb, weil sie uns genau da packen, wo wir am Empfänglichsten sind, wo es menschlich ans Eingemachte geht: Wir sind soziale Wesen: Wir streben nach sozialer Anerkennung. Unsere Identität, was wir sind, wofür wir uns halten, hängt von der Anerkennung anderer ab. Wir sehen uns selbst so, wie wir glauben, dass andere uns sehen.
ZITATOR:
Bin ich schön? Bin ich gut? Bin ich wertvoll, liebenswert, witzig, klug?
ERZÄHLERIN:
Soziale Medien geben uns die Möglichkeit zur Selbstinszenierung. Wir posten Videos, Bilder, Statements, wir probieren, was ankommt, und hoffen auf Bestätigung durch positives Feedback in Form von Likes und Kommentaren. Je mehr wir punkten, je mehr Lob und Zustimmung wir einfahren, desto besser fühlen wir uns. Virtuelle Likes, das haben Studien immer wieder bestätigt, tun körperlich gut. Sie aktivieren das Belohnungszentrum des Gehirns und spülen, wie Sex, Essen oder Erfolg, einen berauschenden Glückscocktail durch den Körper.
MUSIK 12 (Lizzo – Truth Hurts 0’25)
SPRECHER:
Solange das Feedback stimmt, solange die Daumen nach oben zeigen, die Zahl der Freunde, Follower und Reposts passt, ist alles im grünen Bereich. Doch wehe, wenn die Selbstbestätigungszufuhr stockt. Die Erfahrung - oft schon allein die Befürchtung -, schlecht bewertet zu werden, schürt soziale Ängste. Die Stimmung schwankt, Selbstzweifel nagen, das Gedankenkarussell rast.
MUSIK 13 (Kieran Brunt – Boston Blue Period 0’37)
ZITATOR:
Warum hat das letzte Foto, die letzte Aktion keine Likes bekommen? Hat es niemand gesehen? Oder ist es blöd angekommen? Also warum schneiden mich plötzlich alle? Bin ich echt unten durch?
ERZÄHLERIN:
Womöglich noch fataler wirken sich abwertende Kommentare, direkte Beleidigungen und brutal provozierte Körperscham aus.
ZITATOR:
Mit dem Gesicht würde ich nur nachts rausgehen.
Iss mal weniger, du Walross!
ERZÄHLERIN:
Solche Attacken prallen nicht spurlos an ihren Opfern ab. Wissenschaftler warnen seit Jahren vor den nachweislich schweren psychischen Folgen öffentlicher Demütigungen. Die permanente Bewertung durch andere, der andauernde Beprobungsstress, der Druck, im sozialen Vergleich mitzuhalten, steht zahlreichen Studien zufolge im direkten Zusammenhang mit Ängsten, Depressivität, Essstörungen, sozialem Rückzug bis hin zu Suizidgedanken.
MUSIK 14 (Lizzo – Everything Was So Much Simpler 0’14)
SPRECHER:
Scheinbar gibt es kein Entkommen, weder on- noch offline. Ratings, Rankings, Bewertungen, Zensuren bestimmen nicht nur unser privates oder öffentliches Leben. Sie lenken auch das Geschick ganzer Länder.
ERZÄHLERIN:
Stufen Rating-Agenturen die Bonität von Staaten zurück, kollabieren Börsen und wackeln Regierungen. Werden Wissenschaftler nicht oft genug zitiert oder publizieren sie zu wenig in hochbewerteten Fachzeitschriften, trudeln Karrieren. Wenn Unis auf den hinteren Plätzen im Hochschulranking landen, bleiben Fördergelder aus; ein einziger prominenter Verriss vernichtet ein Buch, einen Film, ein Theaterstück.
SPRECHER:
Das Prinzip Evaluation ist derart allgegenwärtig, dass selbst so vorsichtig wägende Forscher wie der Soziologe Oliver Berli viele Aspekte unseres Lebens als bewertungsgetrieben charakterisieren:
05 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:
Wenn wir uns das Bildungssystem anschauen und die Relevanz von Zeugnissen und Zertifikaten für Karrieren in bestimmten Feldern, wenn wir uns anschauen, welche Relevanz und auch welches Interesse Bewertungen teilweise in kulturellen Feldern auf sich ziehen und auch welchen Unterhaltungswert die haben, hat die Rede von der Bewertungsgesellschaft eine gewisse Plausibilität für viele Bereiche unserer Gesellschaft.
MUSIK 15 (Röyksopp – Slow Fade / R 0’39)
ERZÄHLERIN:
Mit diesem Befund steht eine Problematik im Raum, die für Oliver Berli sowie viele seiner Kolleginnen und Kollegen das zentrale Forschungsfeld absteckt:
06 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:
Wie funktioniert eigentlich bewerten? Wie werden solche Sachen verhandelt, wie werden Sachen kritisiert und gerechtfertigt?
SPRECHER:
Wie kommen Bewertungen zustande? Wer entscheidet darüber, was richtig und falsch, gut und schlecht, wertvoll und wertlos ist? Welche Prozesse stecken hinter Wertzuschreibungen, wer hat die Finger im Spiel und immer wieder: Cui bono – wem nützt es?
MUSIK 16 (Blumentopf + Texta - #HMLR 0’42)
ERZÄHLERIN:
Im Sport ist die Sache relativ klar: Wo Leistung messbar ist, sind Bewertungen und Rangfolgen auf Anhieb plausibel. Weite, Höhe, Geschwindigkeit, Tordifferenz, alles, was sich wiegen, zählen, berechnen lässt, erzeugt klare Ordnungen. Schwieriger wird es, wenn subjektives Ermessen den Ausschlag gibt. Etwa bei Wertungsnoten im Eiskunstlauf, beim Turmspringen, beim Reiten. Dasselbe gilt für Wissenschaften und Künste.
SPRECHER:
Was macht das beste Buch, die beste Sinfonie, den besten Film, den besten Kandidaten aus? War Dschingis Khan ein großer Herrscher oder ein blutsaufender Egomane? Und was ist ein guter Versicherungsmakler? Einer, der möglichst viele Abschlüsse tätigt ohne Rücksicht auf den Kundennutzen? Oder einer, der zum Wohl und Nutzen seiner Kunden handelt? Alles Ansichtssache, alles muss ständig neu erwogen, gewichtet und ausgehandelt werden.
ERZÄHLERIN:
Immaterielle, weder greifbare noch messbare Wertzuschreibungen sind soziale Konstrukte, die vom jeweils kulturellen und zeitlichen Kontext abhängen. Sie entstehen durch gesellschaftliche Vereinbarungen und antworten auf die Frage, welche Fähigkeiten und Ressourcen eine Gesellschaft aktuell oder perspektivisch am meisten benötigt.
MUSIK 17 ( Röyksopp – And so … 0’50)
SPRECHER:
Eine kriegerische Gesellschaft wird in ihren kulturellen Äußerungen und ihren hierarchischen Strukturen vor allem Eigenschaften wie Kampfkraft, Mut, Körperstärke hoch bewerten und den Zugang zu Status, Rang, Lebenserfolg über diese Merkmale regeln. Autokratische Gesellschaften legen andere Bewertungsmaßstäbe an als freiheitliche Systeme, und in nomadischen Kulturen rangieren gewiss andere Werte weiter oben als in technologiezentrierten Gesellschaften.
ERZÄHLERIN:
Für den Soziologen Oliver Berli macht genau diese zeit- und gesellschaftsgebundene Dynamik das Phänomen Bewerten und Bewertung zum spannenden Untersuchungsgegenstand:
07 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:
Bewertung klingt ja so, als wenn es immer das gleiche wäre. Ist es aber natürlich nicht, weil Bewertungsmaßstäbe sich historisch wandeln. Ein Beispiel wäre eben die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Bewerbungen, um eine Stelle mit einer bestmöglichen Person zu besetzen. Also besetze ich eine Stelle mit jemandem, der mir sozial nah ist? Oder besetze ich eine Stelle mit jemanden, der eine gute Leistung auf dieser Stelle verspricht? Die Relevanz von Leistungsnachweisen in Bewerbungsunterlagen verändert sich, worauf geschaut wird, wie sortiert wird, das ist alles in Bewegung.
SPRECHER:
Damit qualifizieren sich die historisch und räumlich geprägten Kulturen des Bewertens als brauchbare Indikatoren, um Entwicklungstendenzen für Bereiche unterschiedlichster Gesellschaften aufzuspüren.
08 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:
Das ist in den Wissenschaften so, das ist auch im Sport so. Wenn wir uns den Leistungssport anschauen und Diskussionen darüber, was ist zulässig, beispielsweise zur Leistungssteigerung und was nicht. Was ist eine faire Einteilung? Brauchen wir Leistungsklassen nach Alter, Geschlecht, Gewicht?
MUSIK 18 ( Blackfish – Deep Village 0‘35)
ERZÄHLERIN:
Weil die Inhalte und Praktiken des Bewertens nicht einfach nur gesellschaftliche Wirklichkeiten spiegeln, sondern diese Wirklichkeiten auch formen und steuern, weil diese Wirklichkeiten uns alle betreffen, weil sie zu Missbrauch und Manipulation einladen, müssen wir dafür sorgen, dass die Mechanismen sozialer, politischer, religiöser oder moralischer Wertzuschreibungen transparent bleiben. Wir müssen gemeinsam darüber wachen, wie Werte und Bewertungen zustande kommen, wie sie einzuordnen sind, was sie aus- und anrichten können.
SPRECHER:
Ein profundes Verständnis für die Bedeutung, die Prozesse, Praktiken und auch die Problematik des privaten und öffentlichen Bewertens ist der beste Schutz gegen Missbrauch und Manipulation. Vor allem Heranwachsende und Jugendliche sollten ihn möglichst früh erwerben.
09 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:
Im Kontext einer allgemeinen Medienbildung, könnte es durchaus Sinn machen, darüber zu sprechen, was einzelne Formen digitaler Bewertung, wie die funktionieren, wie die einzuordnen sind. Ob es da so einfach ist, eindeutige Empfehlungen abzugeben, da bin ich eher skeptisch. Aber ab einem gewissen Alter ein Bewusstsein dafür zu schaffen, kann mit Sicherheit nicht schaden!
SPRECHER:
Das muss dann auch gar nicht immer in Sozialkunde oder im Religions- und Medienunterricht passieren. Chancen für erhellende Aha-Momente öffnen sich beispielsweise auch im Fach Deutsch:
10 Zsp. Bewertungsgesellschaft BERLI:
Wir haben so viele Preise und Wettbewerbe im Feld der Literatur, gerade im deutschsprachigen Raum. Da würde jetzt niemand auf die Idee kommen, dass das erstmal negativ zu bewerten ist. Aber es ein interessanter Zugang, um sich die Frage zu stellen Hey, was passiert da eigentlich? Lasst uns da mal drüber reden. Warum gibt es auf einmal in manchen Bereichen von Gesellschaft so viele Preise oder Wettbewerbe?
MUSIK 19 (Lisa-Marie Puy – Breathing Under Water 0‘52)
SPRECHER:
Am Ende aber hat den entscheidenden Aspekt, wenn es um Werte und Wertungen geht, hat der römische Satiriker Juvenal bereits vor fast 2.000 Jahren so auf den Punkt gebracht:
ZITATOR:
Quis custodiet ipsos custodes? – Wer bewacht die Wächter, wer kontrolliert die Kontrolleure?
SPRECHER:
Auf die Mechanismen und Akteure des Bewertens übertragen heißt das: Vorsicht! Schaut den Werteschmieden und Wertewächtern genau auf die Finger!
ZITATOR (aus dem Lautsprecher):
Herzlichen Glückwunsch! Sie sind angekommen. Wir haben das Ende unserer gemeinsamen Fahrt erreicht.
SPRECHER:
Und wenn Sie mit unserem Service zufrieden waren…
ERZÄHLERIN:
… na, Sie wissen schon: lassen Sie uns ein Like, einen Daumen, ein Herz und gern auch fünf Sterne da!
Vom Fernsehprogramm der NS-Zeit wissen die wenigsten. Zum geliebten und gescholtenen Massenmedium und Fixpunkt des Familienlebens wurde "die Glotze" dann ab der Zeit des Wirtschaftswunders. Das Fernsehen hat sich und die Gesellschaft beständig verändert und unseren Alltag entscheidend geprägt. Von Karin Becker (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Becker
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christian Baumann, Florian Schwarz
Technik: Tim Höfer
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Michaela Krützen, Professorin für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Hochschule für Fernsehen und Film München;
Klaudia Wick, Bereichsleiterin Fernsehen bei der Deutschen Kinemathek Berlin
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Linktipps:
Am 25. Januar 1949 wurde der Bayerische Rundfunk gegründet. Seitdem ist viel passiert. Ein bunter Ritt durch 75 Jahre Programm für Bayern:
ZUR JUBILÄUMS-WEBSITE
Literaturtipps:
Bundeszentrale für politische Bildung: Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West. Umfangreiches Online-Dossier, das die TV-Geschichte in beiden deutschen Staaten zuverlässig in vielen (auch einzeln lesbaren) Kapiteln abbildet.
Klaudia Wick: Je später der Abend. Über Talkshows, Stars und uns. Interessanter Beitrag zur Formatgeschichte.
Knut Hickethier, Peter Hoff: Die Geschichte des deutschen Fernsehens. Überblick über das 20. Jahrhundert.
Albert Abramson: Die Geschichte des Fernsehens. Standardwerk, insbesondere frühe TV-Geschichte, internationale Perspektive.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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ARD Audiothek | RadioWissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Geräusch TV einschalten + MUSIK „Diversity“; ZEIT: 00:15
OTON 1 WICK
„Es gibt ja auch Erzählungen noch bis in die 60er-Jahre hinein, dass Leute gesagt haben: wir waren dann ab dem Moment, wo wir einen Fernseher hatten, in der Nachbarschaft sehr beliebt. Und dann kamen die Leute und klingelten so kurz vor acht und wollten was von uns, weil sie eigentlich gerne mitgucken wollten … (…)“
MUSIK ENDE
ZUSPIELER 1 Tagesschau Spot von 1960 (15‘‘)
„Hier ist das deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Anschließend: die Wetterkarte.“
OTON 2 WICK
„Das Interessante ist in den 60er-Jahren, dass die Leute anfangen, ihre Lebensrhythmen nach dem Fernseher auszurichten. Also das, was wir in Deutschland kennen, ist ja gar nicht überall auf der Welt so, dass um 8 Uhr das Abendprogramm anfängt. Das hat einfach was damit zu tun, dass die Tagesschau um 8 Uhr angefangen hat und dass die Leute sozusagen ‚davor und danach‘ gesagt haben. Was machen wir mit dem Abend? Davor essen wir zu Abend und danach gucken wir Fernsehen.“
MUSIK „Diversity“; ZEIT: 00:32
SPRECHER
Das Fernsehen als Taktgeber des Alltags – in heutigen Zeiten rückt diese Vorstellung immer weiter in geschichtliche Ferne. Dank Internet können wir mittlerweile das Programm genau dann beginnen lassen, wenn wir Zeit dazu haben.
Klaudia Wick von der Deutschen Kinemathek Berlin spricht über die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Fernsehgerät im Wohnzimmer neu ist und sich schnell und unübersehbar im deutschen Alltag breitmacht.
MUSIK ENDE
OTON 3 WICK
„Es gibt auch viele soziologische Texte darüber, dass die Möbel im Wohnzimmer sich veränderten, dass eben plötzlich der Fernseher eigentlich das Lagerfeuer war, um das sich alle herumgruppiert haben. Dass es eben nicht mehr diese geschlossene Sitzgruppe gibt, in der wir uns anschauen, sondern: alle schauen auf diesen Fernseher.“
ZUSPIELER 2 Jingle von „Was bin ich“ (instrumental) 35‘‘ (ÜBERBLENDUNG MIT FOLGENDEM SPRECHERTEXT)
MUSIK „Diversity“; ZEIT: 00:15
SPRECHER
In diesem Fernseher gibt es schon in den Fünfzigern die ersten Spiel- und Quizshows zu sehen – in Ost wie West. Der Bayerische Rundfunk etwa produziert: „Was bin ich?“, das „heitere Beruferaten“ mit Robert Lembke, Erstsendung 1955. „Welches Schweinderl hätten’s denn gern?“ Lembkes Frage wird bald legendär.
MUSIK ENDE
Das Fernsehen als „Lagerfeuer“ der Wirtschaftswunderzeit bietet den Gemütern Abkehr vom Krieg. Es bedeutet Zukunft, Leichtigkeit und Wohlstand.
Es wird verspottet als „Pantoffelkino“, später geschmäht als „Glotze“. In der DDR ist es in Verruf als bekanntermaßen langer Arm des Politbüros der Staatspartei SED.
Dennoch: Das Fernsehen legt in ganz Deutschland ab den Sechzigern einen historischen Aufstieg hin, es wird zum wirkmächtigen Massenmedium.
ENDE INTRO
SPRECHER
Von einer „schnellen“ Erfolgsgeschichte aber kann hier nicht die Rede sein. Die ersten technischen Versuche, ein Bild zu zerlegen und an einen entfernten Ort zu übertragen, gehen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück.
Diese fernsehtechnischen Anfänge wurden von einer Vision getragen, die mit der späteren Nutzung nur bedingt zu tun hat, so Michaela Krützen, Professorin für Medienwissenschaft an der Hochschule für Fernsehen und Film München:
OTON 4 Krützen
„Die Idee, die da im neunzehnten Jahrhundert kam, ist die Direktübertragung. Nicht irgendwie, wofür wir heute das Fernsehen vielfach nutzen, um eine Kochsendung anzugucken oder Nachrichten, sondern eigentlich: mit anderen sprechen. Andere sehen. Also die Direktübertragung. Das ist der Traum, der dahintersteht. Das ist die Ur-Idee (…) des Fernsehens.“
SPRECHER
Die technische Umsetzung dieser Idee zieht sich über Jahrzehnte. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen, treiben sie die Entwicklung der Fernsehtechnik stark voran. Ihr Ziel ist Propaganda: Sie wollen den ersten, regelmäßigen Fernsehbetrieb der Welt für sich reklamieren können. Tatsächlich gelingt das: Im März 1935 beginnt der „Fernsehsender Paul Nipkow“ vom Berliner Funkturm live auszustrahlen, fast ein Jahr vor der BBC in Großbritannien. Mit entsprechend triumphalen und pathetischen Worten eröffnet Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky das Programm:
ZITATOR
„Während wir hier im Saale atemlos lauschen und schauen, hat die Zeit eines neuen, unbegreiflichen Wunders begonnen. (…) In dieser Stunde wird der Rundfunk berufen, die größte und heiligste Mission zu erfüllen: nun das Bild des Führers unverlöschlich in alle deutschen Herzen zu pflanzen.“
SPRECHER
Die Realität dieses „neuen, unbegreiflichen Wunders“ fällt dann allerdings eher karg aus. Das beginnt schon damit, dass verschwindend wenige Leute das Fernsehen überhaupt zu sehen bekommen.
OTON 5 Krützen
„Von einer nationalen Verbreitung sind wir ganz, ganz, ganz, ganz weit entfernt. Ein paar wenige Leute konnten im Dritten Reich fernsehen. Und es war eher so eine Attraktion, als wirklich ein Massenmedium.“
SPRECHER
An anfangs drei Abenden die Woche gibt es damals zwei Stunden Programm – und das zunächst nur in Berlin. Zudem stehen die Fernsehgeräte noch nicht in den Wohnzimmern. Michaela Krützen:
OTON 6 Krützen
„Zuhause hatte praktisch niemand einen sogenannten Heimfernseher. Das sind ein paar Dutzend Geräte, 75 oder so was, so ungefähr um 37. Das ist praktisch nichts. (…) Eigentlich haben die Menschen in sogenannten Fernsehstuben, ganz toller Begriff, Fernsehen geguckt. Da war freier Eintritt (…) und dann sah man halt auf so einem kleinen Bildschirm vorne so ein kleines bisschen Programm, bisschen verrauscht. Ich habe da so einen Techniker daneben, der das ab und zu so justierte, dass man es genauer sehen konnte. (…) Stellen Sie sich ein etwa Schuhschachtel-großes Bild vor, relativ klein, (…). Das ist schwarz-weiß, und (…) ne Bildqualität, die eher im bescheidenen Bereich liegt. Also, das ist schon ein armes Bild im Verhältnis zum reichen Bild des Kinos.“
SPRECHER
In seinem ersten Sendejahrzehnt ist das Fernsehen ein unausgereiftes Medium und seinen zwei nächsten Verwandten Kino und Radio deutlich unterlegen.
Das riesige Propagandaspektakel der Nationalsozialisten um die olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin bietet dem Randmedium die Chance, etwas zu glänzen. In den 16 Tagen der Spiele werden um die 100.000 Menschen durch die Fernsehstuben geschleust. Das tägliche Live-Programm aus dem Olympiastadion macht das Fernsehen populärer – eine Funktion, die Sportveranstaltungen in der deutschen TV-Geschichte noch häufiger übernehmen sollten.
ZUSPIELER 3 kurzer Schnipsel: Reportage vom 4x100m Staffellauf
„Deutschland muss vor den Amerikanerinnen laufen, das ist ein kleiner Nachteil (Startschuss), davor Kanada, davor Holland, wunderbar! Die erste Deutsche losgegangen…“
SPRECHER
Propaganda hin oder her - von führenden Nationalsozialisten ist kein einziger Auftritt im verwaschenen Fernsehbild ihrer Zeit bekannt. Ein 1939 auf der Funkausstellung vorgestellter Volksfernseher für Zuhause kommt doch nicht – die Fertigungsanlagen werden nun für die Rüstungsproduktion benötigt. Der Krieg beginnt. Für einige Jahre werden die verbleibenden Fernsehgeräte in Lazaretten aufgestellt. Im November 1943 wird der Berliner Sender durch Bomben zerstört. Das NS-Projekt Fernsehen kommt zum Erliegen.
MUSIK „Diversity“; ZEIT: 01:04
SPRECHER
Sprung ins Nachkriegsdeutschland. Der Neu-Start des Fernsehens wird wieder von einem Wettlauf vorangetrieben, diesmal zwischen den beiden deutschen Staaten. Die DDR strahlt zu Stalins 73. Geburtstag im Dezember 1952 erstmals die Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ aus. Offiziell startet der „Deutsche Fernsehfunk“ im Januar 1956, kontrolliert von der Abteilung Agitation und Propaganda des Zentralkomitees der Staatspartei SED.
Im Westen haben die Alliierten den Rundfunk dezentral und öffentlich-rechtlich angelegt: Die über die BRD verteilten Landesrundfunkanstalten sind nichtstaatlich und nichtkommerziell. Sie schließen sich 1950 in der ARD, der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten in Deutschland, zusammen und planen für das Fernsehen ein gemeinschaftliches Programm:
MUSIK ENDE
OTON 7 Wick
„Das war, glaube ich, tatsächlich den Kapazitäten geschuldet. (…) Sie müssen sich ja auch vorstellen, es musste Leute geben, die das überhaupt erst mal lernen, wie die Technik funktioniert, die Lust haben, was Neues zu machen. Viele haben gesagt: da in diesen neuen Kasten, (…) da glaube ich gar nicht dran. Es gab viele Leute, die nicht ans Fernsehen geglaubt haben. Und so hat man sehr viel improvisieren müssen.“
SPRECHER
Nach jahrelangem Testbetrieb und dem BRD-weiten Aufbau eines engen Sendernetzes wird am 1. November 1954 das ARD-Programm offiziell aufgenommen – das so genannte „Deutsche Fernsehen“ startet sein Gemeinschaftsprogramm. Der Bayerische Rundfunk bestückt seinen ersten Abend unter anderem mit dem Singspiel „Gärtnerin aus Liebe“ von Wolfgang Amadeus Mozart. Eine für die Zeit nicht untypische Wahl, so Klaudia Wick von der Deutschen Kinemathek Berlin:
OTON 8 Wick
„Das ist auch etwas, was wir, glaube ich, aus anderen Medienzusammenhängen kennen, dass man erst mal der Sache Glanz verleihen will, indem man aus einem anderen Medium entlehnt und sagt: wir machen hier übrigens Kultur.“
SPRECHER
Auch beim Radio bedient sich das Fernsehen. Formate werden übernommen, und auch Personal: große Fernsehnamen der ersten Jahre, wie Peter Frankenfeld oder Hans Joachim Kulenkampff, kommen vom Hörfunk und sollen ihr Publikum am besten gleich mitnehmen. Denn Zuschauer und Zuschauerinnen gibt es in den Fünfzigern noch nicht viele:
OTON 9 Wick
„Wenn sie geschaut haben, haben sie meistens in einer Gruppe geschaut, in einer Kneipe oder vor der Fensterscheibe. Es gibt da ja zwei wichtige Ereignisse. Das ist einerseits die Fußball-Weltmeisterschaft in Bern, die viele Leute dann gesehen haben. Und dann die Krönung von Elisabeth II., was auch so ein Event war, wo man sagte: Ah, jetzt wäre es schon ganz schön, einen Fernseher zu haben“
SPRECHER
Dieser Fernseher kam in der Zeit gleich als eigenes Möbelstück daher, genannt „Fernsehtruhe“:
OTON 10 Wick
"Die Fernsehtruhe war ein Monstrum, das war so groß wie vielleicht mein Büroschreibtisch jetzt hier. (…) Und die Mattscheibe (…) wurde versteckt in einem Schrank, den man erst mal aufmachen musste. Also (…) wie das häufig so ist: Wenn Dinge Statussymbole sind, dann sollen sie auch schön aussehen. (…) Was ich sehr lustig finde. Die Statistik weist aus, dass in den ersten Jahren vor allem besondere Berufsgruppen einen Fernseher besaßen. Das waren die Radio- und Fernsehtechniker – da ahnen wir, warum. Dann war es die Kneipen- und Gaststättenbesitzer und als dritte Gruppe die Zahnärzte. Ich denke mir, dass die Zahnärzte (lacht nett) das aus Prestige gekauft haben (…) wer es zu was gebracht hatte, der hatte dann irgendwann einen Fernseher.“
SPRECHER
Schon im Jahr 1963 konnte der damalige Intendant des Bayerischen Rundfunks, Christian Wallenreiter, den Millionsten Fernsehteilnehmer in Bayern beglückwünschen.
ZUSPIELER 4 der Millionste Fernsehteilnehmer in BY 1963 (ab Sek 41), (Gespräch zwischen Intendant, Moderatorin und Fernsehteilnehmer)
„Eine Million Fernsehgerätebesitzer in Bayern (…) bedeutet ja etwas. Und deshalb habe ich mich gefreut heute Herrn Kiessling eine Ehrengabe überreichen zu können. / Herr Kiessling, Sie haben 2000 Mark bekommen, das ist also eine ganze Menge Geld, was tun sie damit? / Ja, vorläufig kommen sie einmal auf ein Sparkassenbuch. Für die Kinder ist das gedacht, ne! / (…) Hören Sie gerne Nachrichten? / Ja, Nachrichten: alle Tage. / (…) Mich würde noch etwas anderes interessieren: in welchem Tempo wächst eigentlich die Zahl der Fernsehteilnehmer? (…) / In jedem Monat so ungefähr 10.000.“
SPRECHER
Das sich ausbreitende Fernsehen synchronisiert die Lebenswelten der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland: es drängt die Dialekte zugunsten eines einheitlichen Hochdeutsch zurück, es etabliert 20 Uhr als landesweite Grenze zum privaten Teil des Abends, und es bringt überallhin die exakt gleichen Sendungen, egal ob in die Stadt oder auf’s Land.
MUSIK „Diversity“; ZEIT: 00:56
Nach Anfangsjahren mit genau einem Programm wächst das Angebot in den 1960ern. Das Bundesverfassungsgericht untersagt 1961 die Einrichtung eines staatlichen Fernsehprogramms, das die Regierung Konrad Adenauers plant – das Fernsehen soll Ländersache und öffentlich-rechtlich bleiben. Kurz darauf gründen die Ministerpräsidenten der Länder das Zweite Deutsche Fernsehen, ZDF. Programmstart ist 1963. Zudem beginnen die Landesrundfunkanstalten jetzt in ihren Regionen, eigene Programme auszustrahlen. Bayerischer und Hessischer Rundfunk sind im Jahr 1964 die ersten. Die neuen Dritten Programme werden als Kultur- und Bildungsfernsehen angelegt. Beispiel: Das Telekolleg des Bayerischen Rundfunks:
MUSIK ENDE
ZUSPIELER 5 Telekolleg (1.12 Jingle Musik könnte über Text vorlappen)
„How do you do? Let’s learn english together! I am Paul Dine.“
SPRECHER
ARD, ZDF, Dritte: Ab Mitte der 60er gibt es Konkurrenz auf dem Fernsehmarkt und das Publikum hat die Wahl. Aber „gezappt“ wird noch nicht. Wer umschalten will, muss anfangs noch aufstehen. Denn die Fernbedienung kommt erst Mitte der 1970er Jahre.
SOUNDAKZENT UMSCHALTGERÄUSCH
SPRECHER
Im Jahr 1967 folgt ein weiterer Meilenstein der Fernsehgeschichte. Die Fernsehbilder werden farbig. In einem feierlichen Akt spricht der damalige Vizekanzler Willy Brandt auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin:
ZUSPIELER 6 Schmidt
„In der Hoffnung auf viele friedlich-farbige, aber auch spannend-farbige Ereignisse, über die zu berichten und die darzustellen sich lohnt (…) gebe ich jetzt gewissermaßen den Startschuss für das deutsche Farbfernsehen.“ (Applaus)
MUSIK „Inventions“; ZEIT: 00:56
SPRECHER
Zu diesen Worten drückt Willy Brandt auf einen Knopf, um das Fernsehbild auf Farbe umzustellen. Der Knopf allerdings ist nur eine Attrappe und ein nervöser Techniker hat das Bild schon bunt gestellt, bevor Brandt überhaupt zudrückt. Eine Panne, die kaum jemand bemerken kann – denn die wenigsten haben in dieser Zeit farbfähige Fernseher zu Hause stehen. Das sollte sich allerdings schnell ändern. Fussballmannschaften besser auseinanderhalten zu können oder die olympischen Spiele 1972 in München in Farbe zu sehen – solche Wünsche verschaffen den neuen Geräten bald guten Absatz.
Die erste Sendung, die der Bayerische Rundfunk in Farbe ausstrahlt, ist übrigens „Was bin ich?“, aufgezeichnet unmittelbar auf der Berliner Funkausstellung 1967. Wie Robert Lembke gleich zur Begrüßung ankündigt:
MUSIK ENDE
ZUSPIELER (TC 03.09)
„Das ist übrigens ein einmaliger Exzess, schon bei der nächsten Sendung kehren wir reumütig zu Schwarzweiß zurück. Der Bayerische Rundfunk hat nämlich noch keine Farbelektronik. Im Übrigen ist Farbe schon eine feine Sache, auch wenn man im Lauf der Zeit draufkommen wird, dass es Schwarzweiß Sendungen gibt, die recht farbig, und bunte Sendungen, die ziemlich fad sind. Aber noch viel wichtiger, als das farbige Sehen wäre es ja, wenn wir uns das Denken in Schwarzweiß-Kategorien abgewöhnen und ein bisschen mehr Gefühl für Zwischentöne entwickeln könnten.“
Oton 11 Wick
„Was ich auch immer noch sehr lustig finde, ist, dass das Feuilleton geschrieben hat: Man wäre sich gar nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist mit der Farbe, weil in Schwarz-Weiß, sei das doch alles konzentrierter und viel kunstvoller. Also, das ist etwas, was sich ständig wiederholt und auch an anderen Medien sich zeigt, dass man immer sagt: früher war es auf jeden Fall besser. Erst ist das Fernsehen überhaupt nicht kulturell, und dann ist es nur kulturell, wenn es schwarz-weiß ist.“
SPRECHER
Im Jahr 1970 besitzen 68 Prozent aller bundesrepublikanischen Haushalte ein Fernsehgerät. Das Fernsehen tritt in die Phase seiner größten Wirkmacht ein, es wird zum Leitmedium der BRD.
OTON 12 Wick
„Dann kam die Zeit, die würde ich sagen bis in die 90er-Jahre hineingereicht hat, dass, wenn Sie eine Platte rausbringen wollten, wenn Sie Karriere machen wollten. (…) wenn Sie als Partei eine Wahl gewinnen wollten, dann müssen sie im Fernsehen sein, weil da alle Leute es mitbekommen. Und weil am nächsten Tag darüber geredet wird und sie deswegen auch die Kultur und die Gesellschaft, den gesellschaftlichen Diskurs prägen können.“
MUSIK „Diversity“; ZEIT: 00:39
SPRECHER
Das Fernsehen der DDR genießt nicht das gleiche Vertrauen. Den Bürgerinnen und Bürgern ist der staatliche Einfluss aufs Programm des Deutschen Fernsehfunks wohlbewusst. So muss etwa das Pendant zur Tagesschau, die Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“, teils tagelang auf die Sprachanweisung aus dem Politbüro der SED warten, bis sie über ein Ereignis überhaupt berichten kann– in politisch gewollten Worten.
Doch auch das Fernsehen aus dem Westen, das in vielen Teilen der DDR empfangbar ist, beeinflusst implizit, was die Menschen im DDR-Fernsehen zu sehen bekommen:
MUSIK ENDE
OTON 13 Wick
„Weil ja Berlin mitten in der DDR lag, konnte man sehr viel Westfernsehen sehen, was dann wiederum das Fernsehen der DDR dazu gebracht hat zu sagen: das wollen wir natürlich nicht, sondern wir machen jetzt ganz ähnliche Programme. Und deswegen: es gab den Tatort. Und dann gab es den Polizeiruf im Osten. Es gab die großen Unterhaltungsshows im Westen. Es gab dann auch die großen Unterhaltungsshows aus dem Friedrichstadtpalast im Osten. Man hat schon versucht, in diesen ganzen Unterhaltungsformaten, Serien, Krimis, alles, was das Fernsehen eben populär gemacht hat, auch mitzuhalten und die Leute in den eigenen Äther zu ziehen.“
SPRECHER
Auch in der DDR wird das Fernsehen so zum Massenmedium, das die Gesprächsthemen und den Alltag der Menschen prägt. Vor der deutschen Wiedervereinigung beeinflusst es den Lauf der Geschichte sogar ganz unmittelbar.
OTON 14 Wick
„Ja, das ist natürlich auch ein eigener Bereich, nämlich die Frage, was das Fernsehen dazu beigetragen hat, dass bestimmte Ereignisse so waren und nicht anders waren. Und die Öffnung der Mauer ist ja etwas gewesen, was im Pingpong (…) zwischen DDR und BRD passiert ist. Die Leute haben das eigentlich in der Tagesschau gesehen, an diesem 9. November (…), dass die Mauer geöffnet worden ist, (…). Und wenn es diesen Tagesschau-Bericht nicht gegeben hätte, wären sie nicht an die geschlossene Mauer gegangen und hätten nicht in der Bornholmer Straße gesagt: Wir wollen jetzt aber rüber. (…) das Fernsehen, (…) hat sehr viel dazu beigetragen, dass diese friedliche Revolution so gewesen ist, wie sie gewesen ist.“
MUSIK „Diversity“; ZEIT: 01:01
SPRECHER
Im wiedervereinten Deutschland findet sich eine noch einmal stark gewandelte Fernsehlandschaft. Die Vorgeschichte: Schon 1981 lässt das Bundesverfassungsgericht kommerzielle Fernsehprogramme zu, da die neuen Verbreitungstechnologien Kabel und Satellit nun die technischen Voraussetzungen für eine Vielfalt an Programmen geschaffen haben. Der Regierung des damaligen Kanzlers Helmut Kohl kommt dies zupass – Kohl fühlt sich als Opfer eines „Meinungskartells“ der öffentlich-rechtlichen Sender und treibt den Ausbau der neuen Technik voran. 1984 nehmen dann die beiden ersten privaten Sender Deutschlands, Sat.1 und RTL plus, ihr Programm auf – können jedoch anfangs nur eingeschränkt empfangen werden. Die Umwälzungen, die das so genannte „Duale System“ aus öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern bringt, beginnen anderswo:
MUSIK ENDE
OTON 15 Wick
„Die bestehenden Sender ARD und ZDF hatten große Angst, dass jetzt etwas kommt, was sie aus Amerika ja kannten, nämlich das Privatfernsehen, das sehr laut, sehr lärmig, sehr, sehr reich auch ist, weil es ja werbegetrieben ist, und haben angefangen, ihr eigenes Programm zu verändern. Sozusagen in vorauseilendem Gehorsam und haben neue Spielkonzepte entwickelt. Haben andere Talkformate eingeführt, wurden selber, kurz gesagt, ein bisschen lärmiger.“
SPRECHER
Das „Duale“ System verändert das deutsche Fernsehprogramm tiefgreifend. So bringt es auch die Dritten dazu, sich auf das zu besinnen, was nur sie bieten können: Das Regionale. Ihr Programm beschäftigt sich nun verstärkt mit regionaler Identität und der Frage, was Heimat eigentlich ausmacht. Die Antwort darf auch kritisch ausfallen, wie die BR-Doku-Serie „Unter unserem Himmel“ beweist. Ein Ausschnitt aus ihrem legendären Architektur-Film „Der Jodlerstil“ von Dieter Wieland aus dem Jahr 1985:
ZUSPIELER 7 UNTER UNSEREM HIMMEL „Jodlerstil“
„Kennen’s das neue Bayern? Bayern im Landhausstil? Oberbayern? Hochglanzbayern? Superbayern? (…) 52Sek
Die Häuser mit der besonderen Oberweite. Unübersehbar viel Holz vor der Hüttn. Balkone wia für an Dampfer, sakrisch hergfräst, dass ma’s im Winter in Plastikfrischhaltebeutel einwickeln muss. Bayern griabig und mit viel Schmalz, Bayern rustikal. Die Häuser in der Lederhosen, Bayern im Jodlerstil.“ (1.17)
OTON 16 WICK
„Das war etwas, was man in den dritten Programmen machen konnte und was eben dann im ersten Programm schon weniger durchsetzbar war. Und das war für viele Leute ein wichtiger Hafen, um Programm zu machen, das wir heute eben in den Museen auch sammeln und das wir für Kulturerbe halten und das eben da eine Nische gefunden hat.“
SPRECHER
Das Privatfernsehen selbst wird in Deutschland dank seiner gewachsenen Verbreitung dann Anfang der 90er wirklich sichtbar:
OTON 17 Wick
„In der Zeit gab es dann „gute Zeiten. Schlechte Zeiten“, diese Daily-Soap. Hans Meiser machte die erste Talkshow. Also es gab eine ganze Reihe von neuen Formaten, und die haben dann eigentlich die Fernsehlandschaft überhaupt erst verändert. (…) Dann fingen auch die Leute an, darüber zu reden, und „Glücksrad“ gucken und „der Preis ist heiß“ gucken wurde dann auch Mode. (…) Und deswegen gab es plötzlich dann halt auch noch mal Fights zu Hause, wer eigentlich wann was gucken darf. (…) Und man konnte dann sogar als Intellektuelle auch schon diese ganzen Sachen sehen (…), das war wirklich interessant zu beobachten, wie das auch zum guten Ton gehörte, plötzlich, dass man keine Scheu vor den Programmen der Privatsender hatte.“
MUSIK „Inventions“; ZEIT: 00:23
SPRECHER
Von der veränderten Sitzordnung dank Fernsehtruhe im Wohnzimmer der 1950er Jahre bis zum Zweitfernseher im Kinderzimmer, damit jeder zappen kann, wohin er oder sie mag: Die Geschichte des Massenmediums Fernsehen hat das Leben in Deutschland stark geprägt – in den Häusern und Köpfen, in Freizeit und Politik, im Großen und Kleinen.
MUSIK ENDE
Heute muss sich das Fernsehen die Aufmerksamkeit seines Publikums wieder härter erkämpfen. Es hat durch soziale Medien und Streaming-Portale starke Konkurrenz. Auch die bedient sich bewegter Bilder, bietet aber eben kein Vollprogramm, nie das ganze, mit Bedacht kuratierte Sortiment aus Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung. Und genau deswegen bleibt die Leiterin des Bereichs Fernsehen in der deutschen Kinemathek Berlin, Klaudia Wick, ihrem Lieblingsmedium treu:
MUSIK „Diversity“; ZEIT: 00:25
OTON 18 WICK
„Für mich ist Fernsehen eben dadurch gekennzeichnet, dass es gleichzeitig unterhalten und informieren will. Das sind für mich die Streamer eben nicht. (…) Das Großartige am Fernsehen - also ich mache jetzt mal einen kleinen persönlichen Werbeblock, ist eben - dass wir ein sehr emotionales Verhältnis zu diesem Apparat haben und es gleichzeitig aber auch ein Wissensvermittler ist, das finde ich ganz großartig.“
Ein Schuh ist nicht einfach ein Schuh. Die anfängliche Schutzfunktion, zu der man sich Gras und Rinde um die Füße wickelte, wurde mit raffinierteren Aufgaben aufgeladen. Schuh erzählt von Politik und Macht, von Wahn, Obsession und Erotik - er verlangt präzises Handwerk und ist skulpturales Bauwerk für den Fuß. Von Barbara Knopf
Credits
Autorin dieser Folge: Barbara Knopf
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Friedrich Schloffer
Technik: Adele Messmer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Isabella Belting, Kunsthistorikerin
Albert Bertl Kreca – „Schuh-Bertl“
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
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Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZSP
Der Schnabelschuh stammt jetzt aus dem Mittelalter, 12., 13. Jahrhundert. Der hat sich übrigens sehr lange tatsächlich gehalten, immer wieder in verschiedenen Formen. Damals war noch nicht der Absatz das Dominante, sondern wirklich die Schuhspitze. Und die hat sich dann in einer Art verlängert, die irgendwann natürlich nicht mehr von alleine stand, sondern ans Knie gebunden werden musste, damit der Herr überhaupt mit diesen Schuhen laufen kann. Man hat es ernst genommen, weil es eben ein Symbol war für jemanden, der nicht arbeiten muss. 0.32
Erzählerin
So erzählt es die Kunsthistorikerin Isabella Belting. Sie leitet die Sammlung Mode/Textilien im – derzeit geschlossenen – Münchner Stadtmuseum. These boots are made for walking? Ein sehr funktional gedachter Satz.
MUSIK 2 ( Diamonds (Bridgerton - Season Two) 1’05)
In Wirklichkeit betreten wir mit dem Schuh sofort symbolisches Terrain. Es geht um Status. Ansehen. Macht. Reichtum. Spiel. Erotik. Und um Wahn. Ein irrationaler Faktor lauert in diesen Objekten am unteren Ende des Körpers. All diese Schnallen und Schleifchen, das noppenhäutige Krokodilleder, die pergamentene Schlangenhaut, der Samt, die Seide, der Lack, die hauchdünnen Riemchen über all den Aussparungen für die Haut, das nackte Fleisch, an Ferse, Fessel, Zehen oder anderen Wölbungen des Fußes, geformt wie ein Dekolleté. Eine Spiegelung des Körpers eigentlich, ein Abbild en miniature.
2 ZSP:
Gerade bei den Damen im Barock und Rokoko fing es dann an, dass der Absatz in dieser ganz besonders eleganten, geschwungenen Form modern wurde. Das war dann eben auch ein Absatz, der in der Mitte schmal wird und nach unten ein bisschen breiter wird. Man kann sich fast vorstellen, dass das wie so ein kleiner Körper ist, der in der Korsage steckt. Man kann sagen, dass der Fuß, der in diesen Schuh schlüpft, wie der Körper ist, der in ein Kleid schlüpft. Also der Absatz hat damit auch ein sehr erotisches Aussehen bekommen.
MUSIK 3 ( Eloise & Theo („Bridgerton“ – Season Two)
Erzählerin
Der Schuh ist eine Skulptur, an deren Ausformungen seit Jahrtausenden gefeilt wird. Gesellschaftliche Vorstellungen lassen sich darin ablesen, Konstrukte von Schönheit, auch quälerische wie im Märchen, wo die bösen Stiefschwestern des armen Aschenputtels sich Ferse und Zehen abhieben, um in den anmutig kleinen Pantoffel zu passen und den Prinzen zu bekommen. Form Follows Gewohnheiten. Den wechselnden Bedürfnissen einer Gesellschaft. So hatten Ritter, Reiter, in Sänften Getragene oder Fußgänger höchst unterschiedliche Schuhbedürfnisse. Für die Gegenwart müsste man hinzufügen: auch Radler, Bergsteiger, Sportler oder Astronauten. Eine Rückwirkung auf die Form unserer Füße blieb da nicht aus, schrieb der Architekt und Gesellschaftskritiker Adolf Loos aus Wien in seinen satirischen Essays Ornament & Verbrechen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts – der noch nichts wissen konnte von der modernen Schuhindustrie und ihren mannigfaltigen Produkten:
ZITAT:
„Die Zeiten ändern sich und wir ändern uns in ihnen. Und so tun es auch unsere Füße. Bald werden sie klein, bald groß, bald spitz, bald breit. Und der Schuster macht nun bald große, bald kleine, bald spitze, bald breite Schuhe. Das geht allerdings nicht so einfach. Von Saison zu Saison wechseln unsere Fußformen nicht. Dazu braucht es Jahrhunderte oder zum Mindesten eines Menschenalters. (…) Aber der Schuster muß sich streng an die jeweilige Fußform halten. Will er kleine Schuhe einführen, so muss er geduldig warten, bis das großfüßige Geschlecht abgestorben ist.“ (Ornament und Verbrechen, Metro Verlag, Seite 29)
MUSIK 4 ( Jane Monheit: A Shine On Your Shoes 0’10)
Erzählerin
Genau das ist der Zwiespalt: Geht es nach der konkreten Anlage des Fußes? Oder nach einer abstrakten Idee? So, wie erst ein linker und ein rechter Schuh ein Paar ergeben – und ein Fuß trotzdem nie dem anderen gleicht, so liegt in den Schuhen selbst eine Ambivalenz: Sind sie doch einerseits phantastische Schöpfungen -andererseits bodenständiges Handwerk. Selten beides gleichzeitig.
ATMO Schleifen
3 ZSP
Da mache ich jetzt gerade einen Schuh, der asymmetrisch ist, also fußkonform ist. Das ist eigentlich auch eine alte Technik. Und die meisten Schuhe sind heute nicht mehr fußkomform. Also die schaden eigentlich dem Fuß.
MUSIK 5 ( G.Rag y Los Hermanos Patchekos: Ein Mann sieht Sand 0’40)
Erzählerin
Besuch beim „Schuh-Bertl“ in München. Der Schuh Bertl hat eine gewisse Prominenz, weil er dem bayerischen Papst Benedikt seine roten Schuhe angefertigt hat. Auch der britische König bekam, als er noch Prinz Charles war, bayerische Haferlschuhe geschenkt aus Bertls Werkstatt, in der der Himmel voller Leisten hängt.
ATMO Schleifen
Erzählerin
Wenn man mit Albert Bertl Kreca, dem Schuster und Schuhmacher in der schwarzen Cordhose spricht, inmitten der alten Hämmer, Zangen, den Ambossen und Nähmaschinen, einem Chaos, in dem sich der große Mann schlafwandlerisch bewegt, bekommt man eine Vorstellung von der Sorgfalt und der Handwerkskunst, mit der aus einem Stück Leder und einer Sohle ein schöner, haltbarer Schuh entsteht, an einer Nähmaschine, angetrieben von Hand und Fuß:
ATMO Nähmaschine
4 ZSP
Ich mache Schuhe seit 40 Jahren. Meine Spezialität sind genähte Schuhe, also ich mache rahmen- und zwiegenähte Schuhe. Ein zwiegenähter Schuh, sagt ja der Name schon, ist zweifach genäht. Ein rahmengenähter ist eigentlich auch zweifach genäht, aber du siehst nur eine Naht, also die Naht hier. Ein guter Schuh ist für mich, so ist auch meine Philosophie, ein Schuh, der so regional wie möglich gebaut wird. Langlebig ist, reparabel ist. Das ist ein guter Schuh, der gut passt. Und immer noch aus Leder. Ganz klassisch. Aber reparabel sein muss.
MUSIK 6 ( Achim Zweschper: Walking Tension 0’55)
Erzählerin
Wie wird nun ein Schuh draus? Am Anfang, vor Zehntausenden von Jahren, in der späten Steinzeit, wickelte man sich Gras, Schnur oder Fell um die Füße, zum Schutz. Lange gingen die meisten barfuß, der Schuh war ein Luxusobjekt. Die Sandale gilt als die älteste erhaltene Schuhform, ihre Blütezeit lag in der griechischen Antike, aber mit der dünnen flachen Sohle und einem einfachen Riemen hat sich dieses Urmodell bis heute als Flip-Flop erhalten. Der reine Schutz wurde schnell zum Schmuck und die Fußbekleidung wechselte ihr Aussehen entsprechend nach den jeweiligen kulturellen Einflüssen der Ägypter, Assyrer, Phönizier, Perser oder Hebräer. Mal bog man die Sohle vorne hoch zum Schutz der Zehen, mal schnürte man sich Riemen die Wade entlang, mal bestickte man die neuen Schlupfschuhe, die Pantoffeln, mit denen sich in der westlichen Wahrnehmung der Reiz des Orientalismus verband. Halbschuhe boten Halt. Stiefel kamen in Mode, Postillonstiefel, Stulpenstiefel und natürlich Reiterstiefel. An ihnen lässt sich gut zeigen, wie sich in einer offenbar schon früh vernetzten Welt kulturelle Erfindungen und Einflüsse kreuzten und wie sie weiterentwickelt wurden. Als Reiter in Persien in ihren Steigbügeln Halt suchten, wurde eine Form entwickelt, um nicht abzurutschen: eine Art Absatz. Und der fand bald reißenden Absatz am französischen Hofe, erklärt Isabella Belting:
5 ZSP
Im Rokoko ist es so, und davor im Barock, dass tatsächlich der Absatz aufkommt, der die Männer erhöhen soll über die andere Gesellschaft. Dieser Absatz hat bei Männern ein gewisses Stolzieren bewirkt. Und so hat sich das dann langsam auch in die Mode entwickelt, dass der Herr bei Hofe – und die Herrscher – gerne Absätze getragen haben. Und wenn es der Herrscher direkt war, dann eben auch mit rotem Absatz. Rot war immer ein Zeichen sozusagen der ganz oberen Hierarchie und der Monarchie.
Erzählerin
Nach der Französischen Revolution war die Farbe Rot mit dem Blut der Guillotinen verknüpft, und die Epoche der hohen Schuhe für Männer, Herrscher wie Bürger, war ein für alle Mal passé. Bis heute eigentlich. Mal abgesehen von einigen Dragqueens oder auch experimentierfreudigen Männern. Und jenen die lieber versteckte Absätze im Innenschuh tragen, um größer zu wirken. Aber wie das immer so ist in der Mode und eben auch bei der Fußbekleidung: nichts verliert sich ganz. Auch das Rot ist wieder aufgetaucht. Als signalrote Schuhsohle in den Kreationen von Christian Louboutin. Sie kommunizieren: Ich bin erotisch, begehrenswert und teuer. Ein absolutes Statussymbol. Der Schnabel ist sozusagen auf die Sohle gewandert.
MUSIK 7 (Lady Gaga: Yoü And I (You And I) 0‘15
MUSIK 8 (Sign Of The Times (stripped)(„Bridgerton“ – Season Two) 1’10)
Erzählerin
Zeig mir Deinen Schuh, und ich sag Dir, wer Du bist, was Du zählst und was Du tust, ob Du Bauer bist oder Arbeiter, Handwerker, Patrizier oder Adeliger. Selbst auf der Bühne steckte jeder Rollentypus im eigenen Schuhtyp: Der Komödiant trug den sogenannten Soccus, der tatsächlich aussah wie eine heruntergerollte Socke, während der Tragödiendarsteller seine Verse auf hohen Kothurnen deklamierte. Heute lautet die Devise: Anything goes -und man wundert sich, was alles geht. Die britische Designerin Vivienne Westwood kreierte so mörderisch hohe Plateauschuhe, dass das Supermodel Naomi Campbell auf dem Catwalk herabstürzte. Und Lady Gaga, die auf ebensolchen Plateauhufen auftrat, aber ohne hinteren Absatz, die Ferse also nicht abgestützt, musste über Wadenmuskeln verfügen wie ein bayerischer Schuhplattler. Letztlich aber sind auch diese Plateau-Gebilde nur eine Variation bereits vergangener „Extrem“mode wie sie im Venedig des 16. Jahrhunderts aufkam, erläutert die Kunsthistorikerin Isabella Belting:
6 ZSP
Es gibt die Chopinen oder Zoccoli aus Venedig. Man sieht, dass der Absatz also wirklich schon eine Höhe hat. Bei diesem Modell etwa 30 Zentimeter. Diese Absätze waren oft aus Holz oder Kork und dann mit Leder praktisch umkleidet und auch schön geschmückt und bedruckt und bestickt, je nachdem. Und oben schlüpfte man einfach nur ganz oben in so eine Art Lasche wie in einem Pantoffel. Die Damen in Venedig, allen voran die Kurtisanen, sind mit denen durch Venedig stolziert. Natürlich am Arm einer Zofe, weil alleine konnte man damit nicht laufen. Man ist aufgefallen; man hat natürlich auch durch die Höhe von dem Absatz sich ein bisschen von dem Straßenschmutz geschützt…Nachttöpfe, Pferdedreck, aller Schmutz landete auf der Straße. Es hat sich eine ganze Weile erhalten, weil es eben auch ein Machtsymbol war, sich über die anderen zu erheben.
Erzählerin
Immer neue Kaprizen, Entwürfe, Zumutungen, Kunstwerke. Designer meißeln millimetergenau an ein paar Quadratzentimeter Raum. Andere schaffen für den Fuß ein Bett. Skulpteure die einen, Handwerker die anderen.
MUSIK 9 ( G.Rag y Los Hermanos Patchekos: Jazz di Monaco 0‘15)
In jedem handwerklich gearbeiteten Schuh steckt ein Universum des Wissens. Der Schuh Bertl hat vier Bücher geschriebenen, das über Haferlschuhe gilt als Standardwerk. Und er zieht alte Bücher zu Rate, 2000 hat er gesammelt:
9 ZSP (endet mit Atmo/ Blättern zum Drübergehen, hinten spielen mit dieser sehr kurzen Atmo, er ist noch mal zu hören): Original 1763, so wie das das Original von1604 ist oder diese Bücher fünfzehnhundertnochwas . Da ist die Enzyklopodie von Diderot, das ist Band C, Cordonnier… also Schuster im Französischen heißt Cordonnier.
BLÄTTERN noch mal kurz Wort
Erzählerin
Die Enzyklopädie des französischen Universalgelehrten Denis Diderot, der auch dem Schuster, dem Cordonnier, eine Seite darin gewidmet hat. Der Bertl schlägt sie auf. Originalausgabe, 18. Jahrhundert, schwerer Ledereinband, goldgeprägtes Muster, altes Papier. Eine Zukunft sieht Albert Bertl Kreca nicht für seinen Beruf:
10 ZSP
Ich glaube das Handwerk, das Schusterhandwerk wird aussterben. Es wird immer noch ein paar Schuster geben, so Edelschuster. Wenn du im Internet schaust, da gibt es einige, dann kosten auch die Schuhe 3,5,4.000 Euro. Die versuchen, Fuß zu fassen und Business zu machen. Aber allgemein, der Schuster wird aus unserem Stadtbild verschwinden.
MUSIK 10 ( Andreas Suttner: Walking 1 0’35)
Erzählerin
In den Händen eines Schusters offenbart ein Schuh nicht nur seine Stabilität oder Schönheit, sondern auch seine Fragilität. Die Lederzunge kann ihm arg beansprucht raushängen. Abgetreten und ramponiert ist er. Löchrig vielleicht. Die Ösen für die Bänder zerrissen, die Riemchen baumelnd. Das Leben hat ihm mitgespielt. Ob sein Lebenszyklus noch mal verlängert wird, hängt von der pflegenden Liebe seines Besitzers und vom Material ab.
Apropos Material: Verlagert in Billiglohnländer in Asien, unter Missachtung von Arbeitsschutz und Umweltbelastungen, kommen in der globalen Schuhherstellung immer wieder hochgiftige Chemikalien zum Einsatz – zum Beispiel beim Gerben von Leder. Arbeiter, häufig auch Kinder, sind diesen in schuhproduzierenden Ländern wie Indien oft ohne Schutz ausgesetzt. Nachhaltige Produktion in Europa oder gar der Region hilft da nur zum Teil. Pflanzlich gegerbtes Leder und Materialien wie Naturkautschuk, Fasern von Bananen, Kaktus oder Ananas, können die Schwemme von Billigprodukten nicht ausgleichen.
MUSIK 11 ( Nancy Sinatra: These Boots Are Made For Walking 0’20)
MUSIK 12 (Son Lux: Switch Shoes To The Wrong Fell 1’00)
Erzählerin
Das ist die ökologische Seite des Themas. Und dann gibt es noch die psychologischen Deutungen. Schuhe entfesseln Phantasien, kokettieren mit Schlüsselreizen, in vielen Schattierungen, vom Puderquasten-Pantöffelchen der 1950er Jahre bis zu den Schnürungen und Latexinszenierungen und auf die Spitze getriebenen Requisiten der Fetischszene. Ein Spiel um sexuelle Dominanz oder Unterwerfung. Manche Menschen erregen sich am Geruch getragener Damenschuhe. Der Übergang vom Fetisch zum modischen Accessoire ist fließend. Modedesigner frönen ihm, Künstler setzen ihn visuell in Szene. Helmut Newtons „Nudes“, die nackten Frauen in High Heels, Rudolf Schlichters Frauenakte in hochgeknöpften Stiefeln. Der Maler der Neuen Sachlichkeit soll seine Frau und Muse „Stiefelchen“ genannt haben.
Was für eine Freiheit, Schuhe zu tragen, wie man will! Männer, Frauen, ob hetero oder queer, cis, nonbinär oder trans, können hochhackige Highheels tragen oder Sandalen, deren Fußbett aussieht wie ein trockengelegtes Schlammflussbett. Und in beiden sexy aussehen. Oder eben nicht. Ganz nach Belieben. An der Absatzhöhe und dem Klackklack der Stilettos muss sich jedenfalls kein Emanzipationsstreit mehr entzünden. Und kollektive Zwänge bleiben hoffentlich historisch.
MUSIK 13 ( Michi Koerner: Glassy Drop 0’15)
12 ZSP
Also für uns jetzt aus westlichem Blick findet man das natürlich ganz schrecklich, so einen winzigen kleinen Schuh in der Hand zu haben, wie wir hier sehen, der nicht mal die Länge einer Handfläche hat – und da passte der Fuß rein, er passte natürlich nicht rein, weil auch der Fuß von Chinesinnen von Natur aus nicht so klein war, das ist natürlich ein völlig verkrüppelter Fuß. Dass ein Schuh sozusagen eine Art ist, jemanden zu unterwerfen oder zu knechten, sieht man ja dann an diesen doch ja sehr gruseligen Lotus-Schuhen.
MUSIK 14 ( Michi Koerner: Glassy Drop 0’30)
Erzählerin
Isabella Belting hält eine Art Seidentäschchen in der Hand, mit denen die Chinesinnen, denen die Füße gebunden wurden, in kleinen Schritten tippeln konnten. Sie kaschierten eine brutale Methode, die bis ins 20. Jahrhundert hinein noch praktiziert wurde: Das Binden der Füße war jahrhundertelang ein Ritual der gehobenen Gesellschaft in China. Eine Demonstration von Wohlstand, eine Frau mit gebundenen Füßen musste nicht arbeiten -sie konnte ja kaum gehen.
13 ZSP
Es ist tatsächlich eine Folter, wenn man sich das durchliest. Die 4 Zehen, wurden gebrochen und nach innen gebunden, und das einzige, das noch als stabiles Glied da war, war nur der große Zeh. Und die wurden extrem gebunden und geschnürt, es muss sehr, sehr schmerzhaft gewesen sein. Aber die Mütter haben es im besten Glauben gemacht, weil sie dachten, ihre Töchter haben dann ein besseres Leben, ein gutes Leben - also ausgewickelt hat man den Fuß nie gezeigt.
Erzählerin
Schuhe sind Lebensbegleiter. Wenn es gut läuft, baut man eine Beziehung zu ihnen auf. Sieht man irgendwo Schuhe, die liegengeblieben sind, ist das eine Irritation, die sofort Gedanken in Gang setzt, wem diese Schuhe wohl gehören mögen und warum sie da alleine stehen. Noch schlimmer, wenn es nur ein einzelner ist.
MUSIK 15 ( Giora Feidman: Main shikhelekh varfoylt – Mkh tsudieygelekh 0’45)
Und geradezu erschütternd ist der Anblick jener Fotodokumente auf denen haufenweise zurückgebliebene Kinderschuhe zu sehen sind. Sie gehörten jüdischen Kindern, die im KZ Auschwitz ermordet wurden. Hier zeigt sich am deutlichsten, dass der Schuh ein Gegenstand ist, der nahezu als ein Teil des Körpers empfunden werden kann.
Die Geschichte einer Gesellschaft lässt sich an ihrer Fußbekleidung erzählen. Soziale Entwicklungen, ästhetische Vorstellungen, Überfluss -oder auch Not, wie manche Exemplare verdeutlichen, die in die Sammlung des Münchner Stadtmuseums gewandert sind, wie Isabella Belting erklärt:
14 ZSP
Dass diese Kriegs- und Nahkriegsschuhe was ganz Besonderes sind, hat man sicher in dem Moment erkannt, wenn man es in der Hand hatte – die jetzt mal erstmal per se materiell kein Wert haben, sondern wirklich aus Resten zusammengestückt und zusammengeflickt wurden. Alte Autoreifen, Nägel, aus Gummi, aus irgendwelchen Pappedeckeln zusammen gehämmert, genäht -und wir sehen den und freuen uns riesig, weil das so ein wahnsinnig interessantes Stück Kulturgeschichte ist und eben so etwas Berührendes hat.
Erzählerin
Der Schuh ist Indikator dynamischer Veränderungen, durch die Jahrhunderte hindurch -und mit ihm unser Fuß, wie der stets zu mokanten Beobachtungen aufgelegte Wiener Architekt Adolf Loos in seinem Buch Ornament und Verbrechen um 1908 herum notiert:
MUSIK 16 ( Mortage Stomp 0’40)
ZITAT
„Aber schon im Laufe dieses Jahrhunderts begann der menschliche Fuß eine Wandlung durchzumachen. Unsere sozialen Verhältnisse haben es mit sich gebracht, dass wir auch von Jahr zu Jahr schneller gehen. (…) So langsam zu schreiten, als sich die Leute in früheren Zeiten fortbewegten, wäre uns heute unmöglich. Dazu sind wir zu nervös. (…) Also gehen wir schneller. Das heißt mit anderen Worten, daß wir uns mit der großen Zehe immer stärker vom Erdboden abstoßen. Und tatsächlich wird unsere große Zehe immer kräftiger und stärker. (…) Durch eigene Kraft vorwärts kommen heißt die Parole für das nächste Jahrhundert.“
Ornament und Verbrechen, Metro Verlag, Seite 31 ff)
Erzählerin
Adolf Loos konnte nicht ahnen, dass gut 100 Jahre nach seinen Betrachtungen die Verkörperung eines einzigen Schuhs zum Vollstrecker unserer Lebensweise geworden ist: bequem, schnell und allzeit mobil voranzukommen.
MUSIK 17 ( Dr. Der: Still D.R.E. 0’55)
Der Turnschuh, der Sneaker, hat sich in alle Bereiche hineingeschlichen. Wird zu jedem Style getragen. Jederzeit. Überall. Von allen. Der Sneaker ist Wegwerfware, Kultobjekt, Sammlerfetisch. In den Luxusboutiquen nahe der Piazza San Marco in Venedig wird er auf Säulchen und Sockeln inszeniert wie Diamantware oder die finale Goldreserve. Ein Schuh, der nicht mehr Handwerk ist und nicht mehr architektonische Skulptur. Mögen Soziologen der nahen und ferneren Zukunft herausfinden, welche Essenz unserer Zeit darin fußt.
Kurz etwas essen, dabei Mails checken, noch schnell eine SMS schreiben - und schon geht's weiter zum nächsten Termin. Viele Menschen fühlen sich ständig gehetzt, Zeit ist irgendwie immer knapp. Was genau hat unser Leben so beschleunigt? Und könnten wir etwas dagegen tun? Wollen wir das überhaupt? Von Maike Brzoska (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Benjamin Stedler
Technik: Christine Frei
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Gerhard Bosch, Arbeitssoziologe, Professor an der Universität Duisburg-Essen;
Jürgen Rinderspacher, Zeitforscher, Dozent an der Universität Münster;
Dietrich Henckel, Zeitforscher, emeritierter Professor der TU Berlin
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Literaturtipp:
Hartmut Rosa, „Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“, 2005, Suhrkamp Verlag – ein Klassiker der Zeitforschung, der die Steigerungslogik moderner Gesellschaften anschaulich macht.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Eine Fußgängerzone vormittags an einem klaren Sommertag: Viele Menschen sind unterwegs, einige flanieren, andere hasten durch die Einkaufsmeile, tragen Tüten von Geschäft zu Geschäft. Auf den ersten Blick wirkt alles wie immer – wäre da nicht die kleine Gruppe Forschender, die unauffällig am Gehsteig-Rand mit Stoppuhren hantiert. Denn die Fußgänger sind Teil eines Experiments, sagt der Zeitforscher Dietrich Henckel. Er ist emeritierter Professor der TU Berlin und war selbst nicht an dem Experiment beteiligt.
01 O-TON (Henckel)
Da haben sie bestimmte Straßen in den Innenstädten ausgewählt und haben tatsächlich gemessen, wie schnell die Leute bestimmte Strecke zurücklegen. Und das haben sie mit einer Vielzahl von Leuten gemacht und dann eben die Durchschnittsgeschwindigkeit daraus berechnet.
SPRECHERIN
Die Messung der Gehgeschwindigkeit war Teil eines größeren Projekts. Ein Forschungsteam um den amerikanischen Sozialpsychologen Robert Levine wollte wissen, wie sich das Lebenstempo in Städten weltweit unterscheidet. Dafür reiste das Team in 31 Länder, um mehrere Indikatoren zu erheben. Neben der Gehgeschwindigkeit ermittelten sie auch, wie lange es in einem Land dauert, eine Standard-Dienstleistung zu erbringen.
02 O-TON (Henckel)
Das war der Verkauf einer Briefmarke.
SPRECHERIN
Das Forschungsteam überprüfte auch, wie genau die Uhren in der Öffentlichkeit gehen. Das werteten sie als Indiz für Pünktlichkeit und Zeitspannen, die toleriert werden. Heute dürfte dieser Indikator veraltet sein.
03 O-TON (Henckel)
Weil die öffentlichen Uhren verschwinden zunehmend aus dem öffentlichen Raum. Es gibt sie immer weniger, weil jeder das Handy in der Tasche hat und an Fahrplananzeigen und so weiter und so fort ist immer die Zeit auch angezeigt und wesentlich genauer.
SPRECHERIN
Das breit angelegte Forschungsprojekt ist auch schon einige Jahre her. Es fand Mitte der 1990er Jahre statt. Dennoch gilt es in der Zeitforschung immer noch als wegweisende Studie, die immer wieder zitiert wird, weil sie einige interessante Zusammenhänge aufgedeckt hat. Es zeigte sich beispielsweise, dass die wichtigste Determinante für das Lebenstempo der Wohlstand ist. Genauer gesagt: Je höher das Tempo in den Städten, desto reicher die Menschen. So landeten auf den ersten Plätzen des Tempo-Rankings die Schweiz, Irland und Deutschland. Japan kam auf den vierten Platz – aber nur weil am Postschalter die Briefmarke noch in aller Ruhe eingepackt und hübsch umwickelt wurde. Auf den letzten Plätzen landeten Mexiko, Brasilien und Indonesien.
Rund zehn Jahre danach, also Mitte der Nuller Jahre, hat ein britisches Forschungsteam die Gehgeschwindigkeit in den Städten erneut gemessen. Das Ergebnis: Im Schnitt hat das Tempo um zehn Prozent zugenommen. Das Leben in den Städten ist also tatsächlich schneller geworden.
Obwohl schon einige Jahre alt, werden die Tempo-Studien immer wieder zitiert. Vielleicht weil sie ein Gefühl vieler Menschen bestätigen: Dass sich ihr Alltag beschleunigt, dass alles immer hektischer wird. Doch warum überhaupt? Wer oder was steckt dahinter? Und wer ist besonders betroffen?
04 O-TON (Rinderspacher)
Davon betroffen sind vor allen Dingen die, die man so als die Menschen bezeichnet, die in der Rushhour des Lebens stehen. Das sind eben Menschen, die gleichzeitig berufliches Fortkommen und Familie bewerkstelligen müssen und da natürlich in die üblichen Zeitprobleme geraten und einfach in einer Phase sind, in der sich sehr viele Anforderungen stauen. Das sind aber auch Menschen, die viele Überstunden machen müssen.
SPRECHERIN
Sagt der Zeitforscher Jürgen Rinderspacher. Er ist Dozent an der Universität Münster. Ein guter Teil des Stresses entsteht also am Arbeitsplatz. Dort jagt ein Termin den nächsten, nebenbei werden schnell Mails beantwortet, beim Mittagessen das Projekt besprochen und abends geht’s dann noch zur Weiterbildung. Man will ja beruflich fortkommen. Im privaten Bereich geht’s dann weiter: Nach der Arbeit zur Kita oder zum kranken Vater hetzen, unterwegs noch ein Geschenk besorgen, eine SMS an die Freundin wegen der Feier am Wochenende, und später zu Hause noch was kochen und die Wäsche aufhängen. Gefühlt tausend Dinge müssen an einem Tag erledigt werden. Man nennt das Zeitverdichtung.
05 O-TON (Rinderspacher)
Der Begriff der Zeitverdichtung kommt eigentlich aus dem Erwerbsbereich und das bedeutet, dass man Dinge, die man vorher mit mehr Zeit getan hat, jetzt in kürzerer Zeit tun muss. ((Also das ist das Klassische, was wir unter Rationalisierung verstehen im Erwerbsbereich. Wir haben das aber auch im Bereich der Hausarbeit, dass man Dinge, für die man früher mehr Zeit hatte, nun weniger Zeit sich nimmt oder gezwungen ist, Dinge in kürzerer Zeit zu tun.)) Das ist also eine Verdichtung sozusagen der Poren des Tages. Und die wird eben auch sehr stark als Zeitstress empfunden.
SPRECHERIN
((Eine Verdichtung des Arbeitstages gibt es in vielen Bereichen.)) Ein krasses Beispiel ist die Logistikbranche. Paketbotinnen und -boten stehen heute sehr oft unter einem enormen Zeitdruck.
06 O-TON (Henckel)
Was dann dazu führt, dass die gar nicht mehr klingeln, sondern gleich die Benachrichtigungskarte in den Briefkasten werfen oder gleich beim Nachbarn im ersten Stock klingeln und das abgeben. Weil die unter einem elenden Druck stehen und dann im fünften Stock laufen und dann ist da niemand. Und gleichzeitig haben sie eben ein unglaubliches Pensum zu erfüllen.
SPRECHERIN
Zeit ist eben Geld, das gilt auch für andere Bereiche, zum Beispiel die Forschung.
07 O-TON (Henckel)
Ich war früher in einem Forschungsinstitut. Und das, was ich damals dort an Forschung gemacht habe und die Art und Weise, wie ich das mit meinen Kolleginnen und Kollegen gemacht habe, das wäre heute nicht mehr denkbar. Wir haben damals auch schon über die Beschleunigung gesprochen und wie viel stärker der Produktionsdruck damals wurde. Also ich rede von den 80er Jahren. Und im Rückblick ist das ein Kinderspiel gegen das, was sich danach abgespielt hat.
SPRECHERIN
Dietrich Henckel gehörte hierzulande zu den ersten Hochschullehrenden, die Zielvereinbarungen bekamen. Für viele Forschende ist das heute Standard.
08 O-TON (Henckel)
Ihr müsst so und so viele Aufsätze in referierten Journals veröffentlichen in der und der Zeit. Und die ganzen Evaluationen der Institute, die funktionieren alle nach diesen Geschichten; wie viele Publikationen in referierten Zeitschriften veröffentlicht werden, wie ist der Output dieser Institution dann abteilungsweise und so weiter und so fort. Also da ist ein unglaublicher Beschleunigungsdruck überall drin.
SRECHERIN
Man kann also festhalten: In vielen Bereichen gibt es einen starken Produktions- und Leistungsdruck – und der führt dazu, dass tatsächlich immer mehr in kürzerer Zeit erledigt werden muss.
Wobei wir auf der anderen Seite heute auch sehr viele Hilfsmittel haben. Dinge, die uns Arbeit abnehmen oder schneller erledigen lassen. Zuhause übernehmen Wasch-, Spül- und Küchenmaschinen einen großen Teil der Hausarbeit. Mit Auto, Zug oder Flugzeug kommen wir sehr viel schneller ans Ziel. Und dank Computer und Internet können wir binnen Sekunden Emails schicken, komplizierte Berechnungen anstellen oder ganze Bibliotheken durchforsten. Im Prinzip „sparen“ wir also jede Menge Zeit – und haben trotzdem keine. Woran liegt das?
09 O-TON (Rinderspacher)
Ich habe das mal genannt: die infinitesimale Verwendungslogik der Zeit. Wir versuchen eben Zeit zu gewinnen, um dann in diese gewonnenen Zeiträume immer mehr reinzutun. Und das bedeutet natürlich, dass wenn ich jetzt durch eine Geschirrspülmaschine Zeit spare, dann werde ich mir in der Zeit, die ich gewonnen habe, irgendwas vornehmen. Damit wachsen dann auch die Anforderungen an uns selbst. Wir haben ja dann Zeit erspart und diese ersparte Zeit wollen wir irgendwie dann – jetzt kommt das Stichwort – sinnvoll nutzen. Das ist eben eine Folge der infinitesimalen Verwendungslogik der Zeit.
SPRECHERIN
Es sind also nicht nur die Anforderungen im Beruf, die vielerorts gestiegen sind, sondern auch die Erwartungen an uns selbst. Die Wohnung soll tiptop aussehen – man kann schließlich, während die Spülmaschine läuft, schon mal aufräumen. Oder während der Konferenz online neue Gummistiefel für den Urlaub bestellen. Wieder Zeit gespart, denken wir zumindest. Denn einige Studien zeigen, dass Multitasking oft dazu führt, dass wir letztlich sogar länger brauchen. Auch einige Haushaltsgeräte, die Zeit sparen sollten, hatten letzten Endes einen gegenteiligen Effekt.
10 O-TON (Henckel)
Also die Waschmaschine ist ein typisches Beispiel dafür, dass es den damals noch rein den Hausfrauen die Arbeit erleichtern sollte und ihnen ein hohes Maß an Zeitersparnis bringen sollte, weil sie jetzt nicht mehr die Wäsche in den Topf, nicht kochen müssen, das läuft nebenher. Damit einhergegangen sind aber völlig andere Hygiene-Vorstellungen und Sauberkeitsvorstellungen, was Kleider angeht. Man wäscht viel häufiger. Das ist mit Geschirrspülmaschinen genau das gleiche. Man verbraucht einfach auch viel mehr als früher. Man ist früher viel sparsamer mit Geschirr umgegangen, also dem Schmutzigmachen von Geschirr, als das heute der Fall ist. Und das sind so Sachen, die die Zeit, die eingespart wird, auch wieder auffressen.
SPRECHERIN
Die Teller kommen wegen ein paar Krümeln in die Spülmaschine. Die T-Shirts nach einmal Tragen in die Wäsche. Die Folge ist, dass sich die Dinge schneller abnutzen – und wir wieder schneller neue brauchen. Ein durchschnittlicher Konsument, eine durchschnittliche Konsumentin kauft heute sehr viel mehr Dinge als in früheren Zeiten, sagt der Arbeitssoziologe Gerhard Bosch. Er ist Professor an der Universität Duisburg-Essen.
11 O-TON (Bosch)
Man kauft nicht mehr das Porzellan, die Möbel fürs Leben, wie das früher mit der Aussteuer war, sondern das wird mehrfach im Leben dann neu gekauft.
SPRECHERIN
Das liegt zum Teil auch daran, dass die Dinge nicht so lange halten. Für ein zehn Jahre altes Handy gibt es oft keine Ersatzteile mehr. Das Fernsehgerät braucht einen neuen technischen Standard, also muss ein neues her. Und eine kaputte Uhr zu reparieren, lohnt sich oft gar nicht. Eine neue zu kaufen ist günstiger – und dauert auch nicht so lang. Heute bestellt, morgen geliefert – in einigen Städten sogar noch schneller.
12 O-TON (Henckel)
Amazon wirbt damit, in einer Stunde irgendwas auszuliefern. Und diese Erwartung: Wir kriegen alles sofort oder ganz, ganz schnell, das ist einerseits nachfrageseitig bestimmt, aber andererseits auch angebotsseitig, wo die Wettbewerber dann sagen: Aber wir sind noch schneller und wir liefern euch das Zeug noch schneller, und das paust sich dann auch durch auf die Fahrer.
SPRECHERIN
Man kann natürlich sagen: Das mache ich nicht mit. Man kann schließlich die Küchenmaschine auch reparieren lassen. Warten, bis der Pullover deutlich müffelt, bevor er in die Wäsche kommt. Und erst neue Hosen kaufen, wenn die alten durchgescheuert sind. Aber das machen eher wenige. Die meisten Menschen passen sich dem Tempo des modernen Lebens an. Warum?
13 O-TON (Rinderspacher)
Der Mensch ist ja ein Herdentier, sage ich mal ganz einfach. Wissenschaftlich ausgedrückt wäre das der soziale Vergleich.
SPRECHERIN
Der Nachbar hat so tolle Möbel, die Schwester schon wieder neue Klamotten und der Sohn will, wie sein bester Kumpel, auch mal nach Spanien fliegen. Das alles auszusuchen, zu vergleichen, zu probieren, zu bestellen und vielleicht zu retournieren, kostet Zeit. Wobei man den Stress im Privaten noch selbst dosieren kann. Anders ist das im Erwerbsleben, dort haben viele Menschen gar keine andere Wahl, als das zunehmende Tempo mitzumachen.
14 O-TON (Bosch)
Die wollen ihren Lebensunterhalt verdienen, die Miete muss bezahlt werden, man will vielleicht noch mehr, man hat eine Familie, man will auch seine Fähigkeiten nutzen und das kann man eigentlich nur innerhalb des Systems. Außerhalb des Systems können das ein paar Künstler machen, ein paar Aussteiger, die aber massive Einbußen des Lebensstandards dafür in Kauf nehmen.
SPRECHERIN
Deshalb machen viele das zunehmende Tempo mit. Sie hetzen durch den Alltag, versuchen Schritt zu halten, vielleicht sogar die Nase vorn zu haben im kollektiven Wettlauf gegen die Zeit. Auch wenn es einem hin und wieder so vorkommt, als finde das Rennen im Hamsterrad statt.
Aber wer dreht dieses Rad eigentlich immer schneller? Was beschleunigt unser Leben? Warum muss oder will man immer mehr erledigen?
Um das zu verstehen, hilft ein Blick zurück in die Geschichte.
In früheren Jahrhunderten gab die Natur den Rhythmus vor, und der war deutlich langsamer. Gesät wurde im Frühjahr, geerntet im Herbst, wenn das Korn reif war. Beschleunigen ließ sich das nicht. Es gab sicherlich auch damals stressige Phasen, aber auch Zeiten der Muße.
15 O-TON (Bosch)
Auch die Arbeiter in den Manufakturen hatten immer ihre Pausen, weil die Produktion hing ja ab von Windkraft und von Wasserkraft. Das lief nicht kontinuierlich. Und das hat sich dann aber geändert mit der Industrialisierung.
SPRECHERIN
Die Industrialisierung begann vor gut 250 Jahren. Damals fingen die Menschen an, Dinge mithilfe von Maschinen herzustellen. Anfangs waren das automatisierte Webstühle. Nach und nach gab es immer mehr Maschinen und automatisierte Abläufe. Das veränderte die Art zu arbeiten grundlegend.
16 O-TON (Bosch)
Es wurden große Fabriken gebaut und der eigentliche Durchbruch kam mit der Dampfkraft und der Elektrizität, weil mit diesen Energiequellen konnte man sicherstellen, dass kontinuierlich auch rund um die Uhr und ohne große Ausfälle produziert wurde.
SPRECHERIN
Statt dem Rhythmus der Natur gaben nun Maschinen den Takt vor. Und der war anfangs gnadenlos.
17 O-TON (Bosch)
Zwölf Stunden am Tag war üblich, sechs Tage die Woche auch. Am Sonntag wurde den halben Tag noch gearbeitet. Es gab keine bezahlten Feiertage, Urlaub eh nicht.
SPRECHERIN
Und noch etwas Anderes half, die Arbeit in den Fabriken zu organisieren. Eine Erfindung, die unser modernes Leben im wahrsten Sinne des Wortes „einläutete“: die Uhr. Erste Exemplare gab es schon im Mittelalter, aber mit der Industrialisierung bekamen sie eine deutlich größere Bedeutung für jeden und jede Einzelne. Denn damit konnte man zum Beispiel feste Zeiten für Arbeitsbeginn und Ende vorgegeben. Damals eine neue Erfahrung für die Menschen.
18 O-TON (Rinderspacher)
Das war zunächst ein sehr großes Problem, die Arbeitsbevölkerung so zu erziehen, in Richtung Pünktlichkeit zu erziehen, dass sie dann auch pünktlich zur Arbeit kam, dass sie dann in bestimmten Zeiten auch bestimmte Dinge erledigt haben. Das ist ein großer kollektiver Sozialisationsprozess geworden. Die Umerziehung ganzer Kulturen, kann man sagen, hin zu einer industriellen Zeit-Kultur. Und dann wird die Uhr zu einem Ordnungssystem.
SPRECHERIN
Bevor Uhren den Takt vorgaben, traf man sich zur „Zeit der größten Mittagshitze“. Oder „vor Sonnenuntergang“. Pünktlichkeit war da Ansichtssache. Man wartete halt. Die Uhren veränderten das Erwerbs- aber auch das soziale Leben. Man konnte sich nun zu einer bestimmten Zeit treffen. Wobei anfangs noch jeder Ort seine eigene Uhrzeit hatte, die sich nach dem Stand der Sonne richtete. Ende des 19. Jahrhunderts wurde das vereinheitlicht. Das Deutsche Kaiserreich schloss sich der mitteleuropäischen Zeitzone innerhalb der Weltstandardzeit an. Im Gesetzesblatt hieß es:
ZITATOR
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen, verordnen im Namen des Reichs: Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich.
SPRECHERIN
Hintergrund dafür waren die Eisenbahnfahrpläne.
19 O-TON (Henckel)
Damals war in jeder Stadt eine lokale Zeit und dann kann man natürlich die Fahrpläne nicht vernünftig aufeinander abstimmen. Und deshalb wurde die Eisenbahnzeit eingeführt, um in größeren Räumen eine Standardzeit zu haben, um das zu verbinden.
SPRECHERIN
Mit der Eisenbahn wurden damals zunehmend auch Waren und Güter transportiert. Es lohnte sich deshalb bald, größere Fabriken zu bauen, um mehr zu produzieren und die Waren anderswo zu verkaufen. Das veränderte wiederum die Arbeitsweise. Die Effizienz nahm zu, und gleichzeitig auch die Geschwindigkeit.
20 O-TON (Bosch)
Mit der großen Fabrik entstand natürlich dann auch eine Form der Organisation, wo komplexere Arbeit in kleine Schritte zerlegt wurde und diese einfachen Tätigkeiten in hohem Tempo verrichtet werden mussten. Also was man allgemein die Verdichtung der Arbeitszeit nennt.
SPRECHERIN
Die Rationalisierung setzte sich nach und nach durch. Denn sie machte die Ware günstiger, was für andere Fabrikantinnen und Fabrikanten bedeutete, dass sie nachziehen mussten. Sonst drohte die Pleite.
21 O-TON (Bosch)
Der Kapitalismus ist ein Konkurrenzsystem und die Unternehmen versuchen natürlich, möglichst große Marktanteile zu gewinnen.
SPRECHERIN
Das gelang auch über neue Maschinen – oder allgemeiner gesprochen: Innovationen. Manche davon sparten Arbeitskraft ein. Andere brachten ganz neue Produkte hervor: Autos, Flugzeuge, Waschmaschinen, Computer, Handys. Wobei sich im Laufe der Zeit auch der Innovationszyklus selbst beschleunigte. Immer schneller kamen und kommen neue Produkte auf den Markt.
22 O-TON (Bosch)
Man kann sagen, dass die Innovationszyklen, also die Entwicklung neuer Produkte, sich auch beschleunigt hat. Die Einführung etwa neuer digitaler Instrumente, die geht viel schneller als die Einführung des Autos oder des Radioapparats in der Vergangenheit.
SPRECHERIN
Über die Jahrhunderte hinweg führte dieses System aus Rationalisieren, Innovieren, Marktanteile gewinnen, Konkurrenten abhängen zu enormen Produktivitätsgewinnen.
23 O-TON (Bosch)
Unsere Produktivität ist zwischen 1870 und 1990 um 700 Prozent gestiegen. Das heißt pro Kopf 17 Mal so viel.
SPRECHERIN
Und deshalb haben wir heute auch ein Vielfaches an Waren und Dienstleistungen im Vergleich zu früheren Jahrhunderten. Ein modernes Leben mit einem enormen Wohlstand – aber eben auch einem deutlich höheren Tempo.
Wobei es immer auch Zeiten gab, wo die Geschwindigkeit gedrosselt wurde. Denn der gnadenlose Takt der Maschinen in den Fabriken führte dazu, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter Pausen einforderten. Sie legten die Arbeit kollektiv nieder und schalteten die Maschinen ab. Es waren sprichwörtliche „Aus-Zeiten“. Und sie schlossen sich zu Gewerkschaften zusammen und kämpften für den 8-Stunden-Tag oder den freien Samstag. Man könnte auch sagen: Sie kämpften für mehr Zeitwohlstand.
24 O-TON (Bosch)
Samstags gehört Papi mir. War ja nichts anderes als ein Zeitwohlstand, der wirklich auch funktioniert hat. ((Und wenn sich eine Arbeitszeitverkürzung mal durchgesetzt hat, dann stellen die Leute ihr ganzes Leben um und genießen diesen Zeitwohlstand und bauen den in ihre Lebensplanung ein. Der freie Samstag und der freie Sonntag sind ja heute selbstverständlich. Mein Vater musste noch samstags arbeiten und ich bin noch samstags zur Schule gegangen, was heute auch nicht mehr der Fall ist.))
SPRECHERIN
Daneben gab es aber auch Zeiten, in denen das Tempo schneller zunahm. Oft waren es politische Entscheidungen, die den Startschuss dafür gaben.
25 O-TON (Bosch)
Die Regeln des Systems haben sich so verändert, dass das System beschleunigt wurde. In den letzten Jahren also zum Beispiel die Privatisierung vieler öffentlicher Dienstleistungen. Früher war die Bahn ein Monopol Unternehmen, die Post auch. Und heute gibt es viele Konkurrenten und die setzen sich gegenseitig unter Druck.
SPRECHERIN
Ausbaden müssen das in erster Linie die Paketbotinnen und Paketboten. Zumindest wenn politisch nicht gegengesteuert wird, um das Tempo in der Branche zu drosseln. Ohnehin drehen sich viele politische Debatten eigentlich um Zeit, auch wenn vordergründig um Geld gerungen wird. Die Lokführer bei der Bahn zum Beispiel streikten zuletzt dafür, nur noch 35 statt 38 Stunden in der Woche arbeiten zu müssen. Auch beim Elterngeld oder der bezahlten Pflege von Angehörigen geht es letztlich um Zeitwohlstand.
((26 O-TON (Bosch)
Das ist ja auch eine Form von Arbeitszeitverkürzung in einer bestimmten Lebensphase, wo man Kinder hat, und auch die Option, freie Tage für Pflege zu bekommen.))
SPRECHERIN
Am Ende kann man festhalten: Es hängt alles zusammen: Die Gehgeschwindigkeit in den Innenstädten und der Wohlstand. Die Genauigkeit der Uhren und die Effizienz. Der Leistungsdruck und die rationalisierte Standard-Dienstleistung.
Vielleicht sollte man es deshalb hin und wieder machen wie die Japaner: Sich Zeit nehmen und in aller Ruhe eine schöne Schleife um die Briefmarke binden. Auch wenn man dann nicht auf dem ersten Platz landet.
Stanley Kubrick gilt als Meisterregisseur, der mit Titeln wie "2001 - Odyssee im Weltraum", "Uhrwerk Orange" und "Shining" Werke für die Ewigkeit geschaffen hat. Der New Yorker, Jahrgang 1928, schaffte es von den Hollywood-Studios nahezu unbegrenzte kreative Kontrolle zu erhalten. Von Florian Kummert (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Loibl, Jerzy May
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Sedat Aslan, Filmwissenschaftler und Kubrick-Experte;
Christiane Harlan, Ehefrau von Stanley Kubrick (Archivinterview v. F. Kummert für BR, frei verwendbar);
Jan Harlan, Schwager und Assistent von Stanley Kubrick (Archivinterview v. F. Kummert für BR, frei verwendbar)
Literaturtipp:
Alison Castle (ed.): The Stanley Kubrick Archives (Taschen);
Andreas Kilb/Rainer Rother u.a.: Stanley Kubrick (Bertz Verlag);
Georg Seeßlen/Fernand Jung: Stanley Kubrick und seine Filme (Schüren Verlag)
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MUSIK 1: R. Strauss, Also sprach Zarathustra - 1:31 Min
SPRECHERIN
Es gibt Momente der Filmgeschichte, in denen Musik und Bilder magisch verschmelzen, zu einem Gesamtkunstwerk, das weit mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Dann entstehen Gänsehaut-Momente, die das Publikum in ihrem Bann ziehen und sich in die Erinnerung einbrennen.
MUSIK Also sprach Zarathustra kurz frei
SPRECHER
Der Auftakt von „2001 - Odyssee im Weltraum“ gehört dazu. Eine astronomische Konstellation baut sich auf, Mond, Erde und Sonne liegen wie aufgereiht hintereinander, erhaben, majestätisch. Und auf der Tonspur „Also sprach Zarathustra“, das Richard Strauss bereits 1896 komponiert hat. Weltraum und Strauss - seit „2001 - Odyssee im Weltraum“ für immer untrennbar verbunden.
MUSIK Also sprach Zarathustra, kurz frei
SPRECHERIN
Ein Geniestreich von Regisseur Stanley Kubrick. Wie nur wenige andere hatte er ein Gespür dafür, die perfekt passende Musik für seine Bilder zu finden. So entstand ein einzigartiges Erlebnis für alle Sinne. „2001 - Odyssee im Weltraum“ - ein Meilenstein der Filmgeschichte.
MUSIK 2: Schieflage - 18 Sek
SPRECHER
Das Publikum bei der Weltpremiere war allerdings ganz anderer Meinung. Stanley Kubrick erlebte einen Höllenabend, wie sich seine Frau, Christiane Kubrick, erinnert.
OTON Christiane Kubrick
Er wurde zur Sau gemacht und gleich so grantig und fies und voller Schadenfreude. Es war sehr - ohh - eine furchtbare Lehre für Stanley. Und alle gleich: ja, da werden nur die Menschen, die Drogen nehmen, hingehen.
SPRECHER
Dabei machte das Studio MGM auf den Filmplakaten selbst Werbung mit dem Slogan „Der ultimative Trip“. Viele sahen sich „2001“ mehrfach hintereinander im Kino an, ganz vorne in der ersten Reihe, ganz nah dran am psychedelischen Bilderrausch. Ältere Zuschauerinnen und Zuschauer konnten mit dem Film meist nichts anfangen. Das jüngere Publikum aber machte „2001“ zu einem Kassenerfolg, und schickte Stanley Kubrick tonnenweise Fanpost. Er schuf einen popkulturellen Mythos, der unzählige Interpretationsmöglichkeiten eröffnete. Denn in seinem Science-Fiction-Epos über die Evolution und Herkunft unserer Intelligenz hielt sich Kubrick an das Motto „Erklär nie etwas, was du selbst nicht verstehst.“
OTON Jan Harlan 1
Ich werde manchmal gefragt, ob es irgendetwas gibt wovor Kubrick Angst gehabt
hätte, und halb ernst antworte ich dann: in einen Raum zu gehen mit
lauter Fremden, die sich da auf ihn stürzen und nach der Bedeutung von 2001
fragen. Diese Gespräche, die scheute er sehr. Er wollte nie nach
seinen Filmen gefragt werden.
SPRECHERIN
Sagt Jan Harlan, Schwager von Stanley und der jüngere Bruder von Christiane Kubrick. Jahrzehntelang arbeitete er als Assistent des öffentlichkeitsscheuen Regisseurs, der nur äußerst selten Interviews gab und seine Filme auch nie erklären oder interpretieren wollte.
Bis zu seinem Tod 1999 hat Stanley Kubrick nur 13 Spielfilme gedreht. Viele davon sind aber einzigartige Meisterwerke, die von jeder Generation immer wieder neu rezipiert und verehrt werden:
MUSIK 3: Fanfare for 2001 – 16 Sek
SPRECHER
2001 - Odyssee im Weltraum
SPRECHERIN
A Clockwork Orange
SPRECHER
Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben
SPRECHERIN
Shining
SPRECHER
Full Metal Jacket
SPRECHERIN
Eyes Wide Shut
OTON Sedat Aslan 1
Ich denke, das Wichtigste ist, dass man die Filme immer wieder neu entdecken kann, immer wieder anders lesen kann, sich auch mit steigendem Lebensalter der Blick auf die Filme, die Perspektive von einem selbst da drauf verändert. Und dass die Filme so reich sind an Gedanken, an Ideen, aber eben auch an ästhetischen Verfahren, die von einem großen Geist da hineingeflossen sein müssen, dass man eigentlich ihrer nicht überdrüssig wird.
SPRECHERIN
Sagt der Filmwissenschaftler und Kubrick-Experte Sedat Aslan. Ihn fasziniert, dass der heute so hochverehrte Kubrick von der zeitgenössischen Filmkritik oft heftig verrissen wurde. So nannte Pauline Kael, die Grande Dame des US-Film-Feuilletons, „2001“ einen Film von „monumentaler Ideenlosigkeit“.
OTON Sedat Aslan 2
Eines der Merkmale, die Kubrick-Filme auszeichnen, ist, dass sie eben auch sich einer vorschnellen Beurteilung entziehen. Also ich denke mal, dass das zusammenhängt mit der Abkehr von einem klassischen Erzählkino. Das sind Filme, die den Zuschauer herausfordern, die ihn auch mal ratlos zurücklassen. Die sind ein ästhetisches Erleben, die nicht mit einer Gebrauchsanleitung daherkommen, sondern eben dich auch überfordern sollen.
SPRECHER
Mit Kubrick zu drehen, war für das gesamte Team eine enorme Herausforderung. Der Perfektionist nahm sich Zeit. Viel Zeit. Die Arbeit an „Eyes Wide Shut“ erstreckte sich über 400 Drehtage und hat einen Eintrag im „Guinness Buch der Rekorde“ als „längste durchgehende Dreharbeiten“. Viele Einstellungen ließ Kubrick wiederholen, immer und immer wieder, bis zu 127 Mal.
MUSIK 4: Die diebische Elster – 30 Sek
SPRECHER
Für die einen war er ein Meister der Präzision, der an jedem Detail bis zur Perfektion arbeitete. Für andere war er ein Pedant, der seine Crew an die Grenzen brachte, und manchmal darüber hinaus. Jan Harlans Dokumentarfilm „Stanley Kubrick - A Life in Pictures“ beginnt mit Zeitungsausschnitten, die Kubrick mal freundlich, mal weniger freundlich beschreiben.
SPRECHERIN
Genial. Rätselhaft. Kontrovers. Obsessiv.
SPRECHER
Megalomane. Eigenbrötler. Kontrollfreak.
MUSIK Rossini hoch und weg
OTON Jan Harlan 2
Er war eine ganz, ganz starke Persönlichkeit. Dem konnte sich niemand entziehen. Das war ein Mann, wenn er ins Zimmer kam, dann ging das Licht an. Ein enormes Talent, ein richtiger Künstler. Es war aber gleichzeitig ein sehr schwieriger Mann. Also war keineswegs alles ganz einfach. Aber das ist nun mal so bei Künstlern, die immer wieder was Neues beginnen und immer wieder völlig andere Türen aufreißen, thematisch und aber auch in der Darstellung.
Musik 5: Hypnose – 46 Sek
SPRECHERIN
Geboren wird Stanley Kubrick am 26. Juli 1928, im New Yorker Stadtteil Bronx. Sein Vater bringt dem Jungen früh das Schachspielen bei, das ein Leben lang zu Kubricks Passion bleiben wird. Eine weitere Leidenschaft erwächst aus dem Geschenk, das Stanley zu seinem 13. Geburtstag erhält: eine Fotokamera. Die Begeisterung für die Schule und vor allem die Hausaufgaben hält sich in Grenzen, viel lieber streunt Stanley durch Manhattan und die Bronx, um besondere Momente mit der Kamera festzuhalten.
SPRECHER
Am Todestag von Präsident Franklin D. Roosevelt gelingt ihm im Juni 1945 eine besondere Aufnahme: der traurige Blick eines Zeitungsverkäufers auf die Schlagzeilen, die ihn in seinem Kiosk umrahmen. Er verkauft das Bild ans „Look Magazine“, eine großformatige Zeitschrift, die vor allem mit ihren Fotostrecken eine breite Leserschaft anzieht. 16 Jahre jung ist Stanley Kubrick damals, und wird nach der High School festangestellter Fotograf bei Look. Ab 1950 dreht er erste kurze Dokumentarfilme und widmet sich immer mehr dem Filmemachen. Sedat Aslan über Kubricks erste Gehversuche in der Branche:
OTON Sedat Aslan 3
Er hat sehr viele kinematografische Kompetenzen entwickelt, aus der Fotografie heraus, später dann im Film, hat sich selber Filmkameras angeschafft, 16 Millimeter-Kameras, und ist dann immer weiter durch die Beschäftigung damit zu so einem Art Wunderkind avanciert, der dann auch selbstfinanzierte Filme gedreht hat, von denen er später dann Abstand genommen hat, weil er natürlich zu dem Zeitpunkt noch nicht die Meisterschaft aufweisen konnte wie in seinem späteren Werk.
MUSIK 6: Debris Field – 1:10 Min
SPRECHERIN
Bei seinen ersten Filmen führt er nicht nur Regie, sondern ist sein eigener Kameramann, Drehbuchautor und Editor, er kümmert sich um die Nachvertonung und um die Finanzen. Bald wird Hollywoodstar Kirk Douglas auf Kubricks Talent aufmerksam und übernimmt die Hauptrolle im Kriegsfilm „Wege zum Ruhm“, der 1957 bei München in den Bavaria-Filmstudios und rund um Schloss Schleißheim gedreht wird.
SPRECHER
In der letzten Szene von „Wege zum Ruhm“ tritt eine junge deutsche Kriegsgefangene auf. Sie wird auf eine Bühne gezerrt, soll vor den johlenden französischen Soldaten zur Belustigung singen. Doch je länger sie singt, desto mehr verstummen die Männer, und sie beginnen mitzusummen, mit Tränen in den Augen. Aus Feindschaft wird hier ein gemeinsames Gefühl der Humanität und der Trauer über die schier ausweglose Situation an der Front im Ersten Weltkrieg. Für die Schauspielerin, die Deutsche Christiane Harlan, und ihren Regisseur, Stanley Kubrick, wird es Liebe auf den ersten Blick. Nach Ende der Dreharbeiten heiraten sie und ziehen nach England.
SPRECHERIN
„Wege zum Ruhm“ verhilft Stanley Kubrick zum Durchbruch. Trotz mancher Differenzen ist vor allem Hauptdarsteller Kirk Douglas beeindruckt, der im Hollywood der 1950er und 60er Jahre auch als Produzent großen Einfluss ausübt.
OTON Sedat Aslan 4
Kirk Douglas hat diesen Wunderknaben geschätzt und hat auch gesehen, dass er so eine Produktion stemmen kann. Da gibt es eine Anekdote, in der ein Schauspieler nach dem 25. Take sagt, jetzt habe ich genug, und jetzt sollten wir Mittagessen gehen und Kubrick dann sagt, er möchte noch einen Take haben und dann dieser Schauspieler unglaublich wütend wird und einen rasenden Monolog hält und Kubrick ihn aussprechen lässt und dann, als er fertig war mit seiner Tirade, sagt: „Alright, now let’s do another take“. Und das hat Kirk Douglas sehr beeindruckt, dass er gesehen hat, dass dieser junge, autodidaktische Filmemacher ebenso ein Set stemmen kann.
Musik 7: Spartacus –51 Sek
SPRECHERIN
Kirk Douglas feuert bei seinem Großprojekt „Spartacus“ kurz nach Drehstart den ursprünglichen Regisseur, wegen künstlerischer Differenzen. Dann bietet er den frei gewordenen Regiestuhl Stanley Kubrick an. Der akzeptiert, und leitet als 31jähriger plötzlich eine millionenschwere Produktion über den Sklavenaufstand im Römischen Reich, mit Tausenden von Komparsen und Stars wie Laurence Olivier, Peter Ustinov, Tony Curtis und Jean Simmons. „Spartacus“ katapultiert Kubrick in die Liste der Top-Regisseure Hollywoods. Doch er hat kein Mitspracherecht über die finale Fassung des Films und schwört sich, nie wieder ein Projekt anzunehmen, bei dem er nicht die volle künstlerische Kontrolle hat.
MUSIK 8: LOLITA YA YA (aus Soundtrack Lolita) - 54 Sek
SPRECHERIN
Aufrechte Helden mit Identifikationspotential - so wie noch bei „Spartacus“ - verschwinden aus Kubricks Werk. Stattdessen zeigt er eine oft kalt wirkende Welt, die auf das ewige Scheitern der Menschheit blickt. Und er scheut nicht vor riskanten Stoffen zurück.
SPRECHER
1962 wagt sich Kubrick an die Verfilmung des Skandalromans „Lolita“ von Vladimir Nabokov, weicht dabei erheblich von der Buchvorlage ab und macht daraus eine mit bissigem Humor durchtränkte Geschichte über Abhängigkeit und Täuschung. Der Brite Peter Sellers schlüpft in eine prägnante Nebenrolle, wechselt darin Dialekte und Verkleidungen und begeistert Kubrick so sehr, dass er mit ihm 1964 auch den nächsten Film realisiert, die Atomkriegs-Satire „Dr. Seltsam - oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben“.
SPRECHERIN
Hier ist Sellers in gleich drei Rollen zu sehen: als US-Präsident, als britischer Adjutant bei den amerikanischen Streitkräften und als titelgebender Wissenschaftler Dr. Seltsam mit Nazivergangenheit und widerspenstiger Hand, die ständig mit dem Hitlergruß salutieren will. Kubrick greift das Gefühl der Unsicherheit und Paranoia mitten im Kalten Krieg auf, mischt Logik und Wahnsinn zu einer - wie er es nannte - „Albtraumkomödie“. Ein durchgedrehter amerikanischer Militär gibt den Befehl zum atomaren Angriff auf die Sowjetunion und setzt so eine absurde wie unumkehrbare Kettenreaktion in Gang.
MUSIK 9: WE’LL MEET AGAIN von Vera Lynn - 26 Sek
SPRECHERIN
Am Ende überziehen Atompilze den Planeten, erblühen pittoresk zu den Klängen von Vera Lynns „We’ll Meet Again“. Ursprünglich als Trost-Lied für Soldaten und ihre Liebsten im Zweiten Weltkrieg geschrieben, nutzt es Stanley Kubrick als Untermalung für ein höllisches Finale.
OTON Sedat Aslan 5
In seinem früheren Werk hat er schon klassisch komponierte, orchestrale Musik verwendet. Erst ab einem gewissen Punkt ging er dazu über, klassische Musik oder Popmusik zu verwenden, die auch immer stärker kontrapunktisch eingesetzt wurde oder wo es um Musik geht, die eher eine Dissonanz darstellt als eine Vermählung, was man aus dem „classical cinema“ kennt, wo quasi jede Emotion durch die Musik auch unterstrichen, vielleicht sogar vorgegeben werden soll. Das wird ja in seinen Filmen komplett aufgehoben.
MUSIK 10: An der schönen blauen Donau – 19 Sek
SPRECHER
Musik wirkt bei Kubrick oft wie eine eigene dominante Figur. In „2001 - Odyssee im Weltraum“ schneidet er zu den Klängen des Johann Strauß-Walzers „An der schönen blauen Donau“ die Reise eines Raumschiffs zu einer sich drehenden Raumstation.
MUSIK 11: Ligeti, Atmosphères – 31 Sek
SPRECHER
Die dissonanten Klänge des Ungarn György Ligeti nutzt Kubrick in 2001 für die halluzinogenen Bilder bei der Reise durch das Sternentor.
Nachdem die Finanzierung eines lange bis ins Detail vorbereiteten, monumentalen Projekts über Napoleon scheitert, verfilmt Kubrick Anthony Burgess’ dystopischen Roman „Uhrwerk Orange“. Es wird sein kontroversester und umstrittenster Film.
MUSIK 12: Title Music Clockwork Orange - 55 sek
SPRECHERIN
„A Clockwork Orange“ folgt den Gewalttaten von Alex und seiner Jugendbande. In weißen Hemden, Hosen und Hosenträgern, dunklen Springerstiefeln, mit Stöcken in der Hand und Melonenhut auf dem Kopf ziehen sie durch ein von brutalistischen Betonbauten geprägtes London. Tagsüber schwänzt Alex die Schule, geht in den Plattenladen und hat Sex mit Zufallsbekanntschaften. Nachts vertreibt er sich die Zeit mit Diebstahl, Vergewaltigung und sogar Mord, ehe er glückselig nach Hause kommt. Schließlich wird Alex von der eigenen Gang hintergangen und verhaftet. Im Gefängnis nutzt ihn die Regierung als Versuchskaninchen: mit einer neuartigen Therapie soll Alex so umkonditioniert werden, dass er körperliche und sexuelle Gewalt nicht mehr erträgt.
OTON Malcolm McDowell 1
The thing is when it first came out, it was futuristic. People were mesmerized by the look and also the violence.
VOICEOVER:
Als der Film 1972 in die Kinos kam, war das Publikum wie hypnotisiert vom futuristischen Stil, aber auch von der Gewalt.
SPRECHERIN
Erinnert sich Hauptdarsteller Malcolm McDowell, dessen Look im Film einen großen Einfluss auf die Populärkultur der 1970er Jahre hatte, vor allem auf die Punk- und die spätere Skinhead-Szene.
Die verstörende Wirkung hat „Uhrwerk Orange“ bis heute behalten. Nicht wegen der Gewaltdarstellung, sondern weil der Film auf eine moralische Stellungnahme verzichtet. Alex vertraut sich als Erzähler dem Publikum an, ist Charmeur und Monster zugleich, übt Gewalt aus und wird selbst Opfer staatlicher Gewalt, in einer zunehmend entmenschlichten Welt. Am Ende scheitert seine Therapie und er wird wieder in seine Gewalttätigkeit entlassen.
OTON Malcolm McDowell 2
„Today’s audiences, they see the humor, … but at least he has the choice.“
VOICEOVER
„Das Publikum heute versteht den dunklen Humor, der im Film steckt, aber auch die immer noch relevante politische Ebene. Deshalb entdeckt jede Generation „A Clockwork Orange“ für sich aufs Neue. Letztlich geht es um die Freiheit selbst bestimmen zu können. Wir mögen uns für den Weg des Guten oder des Bösen entscheiden, aber wir haben die freie Wahl.“
MUSIK 13:Title Music Clockwork Orange – siehe oben - 1:12 Min
SPRECHERIN
Für Kubrick wird der Film Segen und Fluch zugleich. Ein massiver Erfolg, der über Monate hinweg die Kinosäle füllt. Aber es kommt in Großbritannien auch zu Gewalttaten, die angeblich von „Uhrwerk Orange“ inspiriert sind. In der Regenbogenpresse hagelt es schwere Vorwürfe, der Film und sein Regisseur würden zu Mord und Totschlag anstiften. Kubrick erhält Hassbriefe, auch Todesdrohungen. Er hat Angst um seine Frau und Kinder, immer wieder tauchen Leute vor dem Anwesen der Kubricks auf.
SPRECHER
Stanley Kubrick zieht die Reißleine. Nach 61 Wochen lässt er - mit dem Einverständnis von Warner Brothers - den Film aus den britischen Kinos nehmen. Bis zu Kubricks Tod gilt „A Clockwork Orange“ in Großbritannien als „verbotener Film“, wird nicht auf der Leinwand oder im Fernsehen gezeigt und ist nur unter dem Ladentisch als illegal importierte Videokassette zu beziehen. So wächst der Mythos um den Film und seine Wirkung.
MUSIK Title Music Clockwork Orange hoch und weg
SPRECHER
Gerade das populäre Hollywood-Kino nimmt das Publikum gerne an die Hand. Gut und Böse sind klar gekennzeichnet. Filme als moralischer Kompass, oft mit Happy End. Nicht so das Kino des Stanley Kubrick, obwohl es auch von großen Hollywood-Studios finanziert wurde. Kubrick blickt distanziert und kühl auf unseren menschlichen Daseinskampf, legt den Finger in Wunden, fordert heraus, verstört. Und schafft so Kunstwerke, die lange nachhallen. Doch für neue Projekte lässt sich der Meister jahrelang Zeit. Mit jedem Film wechselt er die Genres, deren Konventionen er zerlegt und mit dem „Kubrick-Touch“ neu zusammenfügt.
MUSIK 14: Sarabande (Main Title Barry Lyndon) - 24 Sek
SPRECHERIN
1975 der Historienfilm „Barry Lyndon“. Um die realistischen Lichtstimmungen des 18. Jahrhunderts auf die Leinwand zu zaubern, dreht Kubrick viele Szenen nur bei Kerzenlicht, verwendet dabei die lichtstärksten Objektive der Welt, die die Firma Zeiss eigentlich für den Einsatz bei der NASA entwickelt hat.
MUSIK 15: Main Title (Shining) – 24 Sek
SPRECHER
1980 der Horrorfilm „Shining“, nach der Romanvorlage von Stephen King. Kubrick entfaltet das Grauen nicht genretypisch in finsterer Nacht, sondern bei Tageslicht. In den Räumen eines einsamen Hotels in den verschneiten Rocky Mountains verfällt Jack Nicholson als Autor immer mehr dem Wahnsinn und wird zur tödlichen Bedrohung für seine Frau und seinen Sohn.
MUSIK 16: Ruins (aus Full Metal Jacket) - 28 Sek
SPRECHERIN
1987 der Vietnam-Kriegsfilm „Full Metal Jacket“, den Kubrick in zwei Hälften teilt: erst die gnadenlose Ausbildung von Rekruten, ihre Erniedrigung und Entmenschlichung hin zu Killermaschinen. Dann ein harter Schnitt zum Kriegseinsatz in Vietnam, wo eine Einheit von US-Soldaten in den Hinterhalt einer vietnamesischen Heckenschützin gerät.
MUSIK 17: Walzer Nr. 2 -20 Sek
SPRECHER
Es vergehen weitere 12 Jahre, bis zu Stanley Kubricks letztem Film, dem Erotik- und Beziehungsdrama „Eyes Wide Shut“, eine ins New York der Gegenwart verlegte Version von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“. In den Hauptrollen: Nicole Kidman und Tom Cruise, damals auch im wahren Leben verheiratet.
(Ab hier Walzer aushallen lassen)
Im März 1999, eine Woche, nachdem Stanley Kubrick die finale Schnittfassung von „Eyes Wide Shut“ fertig gestellt hat, stirbt er an einem Herzinfarkt, im Alter von 70 Jahren. Den finanziellen Erfolg von „Eyes Wide Shut“, die wie immer zwiespältigen Kritiken bei der Premiere so wie die im Lauf der Jahre immer wohlwollender werdende Neubewertung: all das erlebt Stanley Kubrick nicht mehr.
Musik 18: William Tell overture – 1:07 Min.
SPRECHERIN
Doch sein einzigartiges und vielschichtiges Gesamtkunstwerk bleibt so präsent und lebendig wie bei nur wenigen anderen Filmemachern. Er wird analysiert, diskutiert, zitiert. Filme wie „2001 - Odyssee im Weltraum“ und „Uhrwerk Orange“ zeigen keine Altersmüdigkeit und haben über ein halbes Jahrhundert nach ihrem Erscheinen nichts von ihrer Relevanz verloren. Das ist für Filmwissenschaftler Sedat Aslan das große Vermächtnis von Stanley Kubrick:
OTON Sedat Aslan 6
„Diese Filme bieten so viel Stoff zur Diskussion und haben technisch, aber auch inhaltlich so viel zu Filmgeschichte beigetragen, dass es einen nicht ermüdet darüber zu sprechen. Und diese Filme sind geblieben, und die werden auch noch bleiben. Da ist also was da, was immer noch zu uns spricht. Ich glaube, das sind Filme, die auch noch in 100, 200 Jahren zu uns sprechen werden. Und das kann ich nicht über viele Regisseure der Filmgeschichte sagen.“
Musik aus. / STOPP
Brandung entsteht, wenn eine aus dem offenen Meer heranrollende Welle das flache Wasser erreicht. Die Bewegung der Welle wird am Grund gebremst; die Welle türmt sich auf, bevor sie tosend bricht ? zur Freude vieler Surfer. Den Küstenschutz stellt die Meeresbrandung allerdings vor große Herausforderungen. Von Claudia Steiner (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Ditte Ferrigan
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Jochen Horstmann vom Helmholtz-Zentrum Hereon;
Alexander Paffrath von der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG);
Dr. Theide Wöffler vom Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 ( Jack Johnson: You Can’t Controll It 0‘40) / ATMO (Wellen)
SPRECHERIN
An der portugiesischen Atlantikküste bei Nazaré türmen sich jeden Herbst und Winter haushohe Wellen auf. Die heimischen Fischer nennen die bis zu 30 Meter hohen Monsterwellen „Witwenmacher“.
ATMO (Wellen)
SPRECHERIN
Die einen meiden die Giganten, andere werden von ihnen magisch angezogen. Big Wave-Surfer aus der ganzen Welt lassen sich von Jetskis in die Wellen ziehen und rasen dann die steil abfallenden Wasserberge, die in Strandnähe laut krachend brechen, hinab.
ATMO (Wellen)
O-TON 1 (Steudtner)
Es gibt für mich nichts Faszinierenderes als so eine mächtige Wand im Rücken zu haben, da runterzufahren und das durchzuziehen.
MUSIK 2 ( Jack Johnson: You Can’t Controll It 0‘30)
SPRECHERIN
…erzählte der Nürnberger Big Wave-Surfer Sebastian Steudtner vor einiger Zeit in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk. Vor Nazaré, das rund 120 km nördlich von Lissabon liegt, befindet sich ein Unterwassergraben, der die Wellen zusammenführt und die Energie des Wassers kanalisiert. An der Wand des Grabens werden die Wellen gestoppt, die Länge der Wellen wird kleiner, sie wachsen in die Höhe –auch durch eine entgegenkommende Küstenströmung. Sebastian Steudtner:
O-TON 2 (Steudtner)
Also die Saison geht jetzt von September bis Ende März. Und in der Zeit, wenn auch immer große Wellen sind, die das Zeug haben – von den Windbedingungen her, von den Gezeiten her, von der Wellenrichtung, vom Wetter, ob’s jetzt regnet oder nicht regnet, die Sonne scheint.
MUSIK 3 ( Die Fantastischen Vier – Tag am Meer 1‘20) / ATMO (Wellen)
SPRECHERIN
Big Wave-Surfer tragen einen Airbag, so dass sie bei einem Sturz, wenn sie von tonnenschweren Wellen umhergewirbelt und unter Wasser gedrückt werden, wieder schneller an die Oberfläche kommen. Ähnlich riesige Wellen wie an der portugiesischen Küste gibt es auch vor der Insel Maui auf Hawaii, in Nordkalifornien und an der Küste von Tahiti, wo die Wellen über einem Korallenriff brechen. Big Wave-Surfen ist ein gefährlicher Sport: Anfang 2023 kam es zu einem tödlichen Unfall. Damals starb der brasilianische Extremsurfer Marcio Freire in der Brandung vor Nazaré.
weiter MUSIK 3 (Die Fantastischen Vier – Tag am Meer 1‘20)
SPRECHERIN
Wind, Wetter, Gezeiten, Strömungen, der Meeresboden, die Beschaffenheit der Küste – all das bestimmt, ob eine Brandung stark ist, oder ob die Wellen sanft an den Strand plätschern. Jochen Horstmann vom Helmholtz-Zentrum hereon in Geesthacht in der Nähe von Hamburg befasst sich mit der Oberflächendynamik der Ozeane und erklärt, wie sich Wasserteilchen in Wellen bewegen.
O-TON 3 (Horstmann)
Viele denken ja, dass eine Welle so eine Art Massentransport ist. Also, dass sich dieser Wellenkamm vielleicht bewegen würde. Aber letztendlich bewegt sich ein Partikel, das in der Welle oder auf der Welle schwimmt, immer nur hoch und runter und bisschen nach vorn und zurück - letztendlich auf sogenannten Orbital-Bahnen, die im tiefen Wasser Kreisbahnen beschreiben. Also so ein Korken würde dann wirklich einen Kreis beschreiben, während diese Welle da durchläuft. Und wenn es jetzt ins flache Wasser kommt, dann würde diese Kreisbahn ja unten den Boden anfangen zu spüren. Und an dem Boden wird dann die Geschwindigkeit zum Beispiel des Korkens oder eines Partikels im Wasser abgebremst. Und dadurch beschreiben die Partikel dann nicht mehr eine Kreisbahn, sondern so eher eine flachgedrückte Ellipse.
MUSIK 4 (Findus Engelbrecht / Tony Delmonte: By The Ocean 0‘55)
SPRECHERIN
Also im tiefem Wasser – auf dem offenen Meer - sind die Bahnen der Wasserteilchen beim Passieren einer Welle fast kreisförmig, im flachem Wasser – also in Küstennähe - elliptisch. Transportiert wird vor allem Energie. Es ist ein bisschen als würde man eine Decke aufschlagen. Die Decke bleibt an derselben Stelle, der Stoff bildet Wellen. Den Effekt kann man auch im flachen Wasser beobachten, sagt Jochen Horstmann:
O-TON 4 (Horstmann)
Wenn man am Strand ist, im flachen Wasser, da sind oft so kleine Rippelwellen unten am Sand. Und dann sieht man, wenn man da mal reinguckt ins Wasser, (…) da sieht man wirklich, wie diese kleinen Sandpartikel immer hin und her sich bewegen, so kleine Wirbel über diesen Kämmen entstehen und das ist eben wirklich ein Effekt von den Orbitalbewegungen, die durch die Wellen induziert werden.
ATMO (Wellen)
SPRECHERIN
Wenn heranrollende Wellen vor Küsten auf die Wand eines Unterwassergrabens, auf Korallenriffe oder auf eine Sandbank treffen, werden die Bewegungen gebremst. Jochen Horstmann:
O-TON 5 (Horstmann)
Durch dieses Abbremsen der Welle unten wird eben oben die Geschwindigkeit höher sein als unten. Und wenn die Geschwindigkeit oben dann die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Welle erreicht, dann ist sozusagen eines der Brecher-Kriterien erfüllt.
SPRECHERIN
Die Welle bricht, es bildet sich weißer Schaum und ein Wasser-Luft-Gemisch.
ATMO (Wellen, Brandung)
SPRECHERIN
Ob Wellen sich hoch auftürmen oder eher klein sind, hängt unter anderem auch mit der Küstenform zusammen, auf die die Meeresbrandung trifft, erklärt der Experte für physikalische Ozeanographie.
O-TON 6 (Horstmann)
Wenn man zum Beispiel eine Bucht hätte, die ganze Wellenenergie verteilt sich dann wirklich an den Stränden in dieser Bucht – die läuft dann auseinander. Und das nennt man dann Divergenz, also die Wellen sind dann divergent. Das heißt: In der tiefen Bucht dort würde man weniger Seegang haben, während so an solchen Nasen (…) kommen die Wellen dort zusammen und dann nennt man das konvergent.
SPRECHERIN
Dort laufen die Wellen aufeinander zu, die Energie addiert sich – die Welle wächst in die Höhe. Und natürlich spielt es für die Größe einer Welle auch eine Rolle, welche Wellen überhaupt an der Küste ankommen, erklärt der Forscher Jochen Horstmann.
O-TON 7 (Horstmann)
Also man braucht eine lange Wirklänge. Sprich: ein großes Gebiet, in dem der Wind die See auffachen kann, so dass sich Wellen aufbauen können. Und man braucht auch eine lange Wirkdauer, also eine lange Dauer von dem Sturm.
SPRECHERIN
Die Wellen, die sich dann vor Nazaré oder auch vor Hawaii zu Giganten entwickeln, sind oft weit entfernt entstanden, bei einem Sturm mitten im Ozean – und Hunderte oder Tausende Kilometer über das Meer gewandert. Es braucht also viele Parameter, um eine starke Brandung entstehen zu lassen.
MUSIK 5 ( M. Ward: Tranfiguration No 1 0‘35) / ATMO (Wellen an Küste – Badegäste am Strand)
SPRECHERIN
Manche Badende fühlen sich von Wellen magisch angezogen. Jeden Sommer sieht man am Meer Urlauber, die - wie im Wellenbad - den Wellen entgegenspringen und sich dann wieder Richtung Land treiben lassen. Doch viele unterschätzen die Kraft der Brandung – und die damit verbundenen Gefahren. Problematisch ist vor allem das Phänomen des Brandungssoges, sagt Alexander Paffrath von der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft, kurz DLRG:
O-TON 8 (Paffrath)
Der entsteht beispielsweise, wenn das mit den Wellen in Richtung Ufer geströmte Wasser am Meeresboden zurückläuft. Und je größer da die Wassermassen sind, also je höher die Intensität ist, die da an Energie zum Ufer transportiert wird, desto stärker kann dieser Brandungssog ausfallen. Und dann werden den in der Brandung Stehenden regelrecht die Beine weggezogen. Und gerade Kinder oder unsichere Schwimmer werden von dem Phänomen oftmals überrascht. Die landen dann halt unvermittelt im Wasser. Und dann kommt es zu brenzligen Situationen und das teilweise schon im brusttiefen Wasser. Das wird halt vielfach unterschätzt. Und ich sehe halt immer wieder im Sommer, dass dann da auch Eltern mit ihren Kindern im Spülsaum stehen und die Hand nicht am Kind haben. Und letztlich kann es dann alleine dadurch, dass man noch zupacken müsste und das Kind eben nicht dann an der Hand hat, einfach schon zu spät sein, weil die Kinder gegen diesen Sog sich nicht mehr wehren können.
ATMO (Kinder im Wasser) / MUSIK 6 ( Akademisches Blasorchester München: Alfred Reed – Suite Nr. 7 0‘40)
SPRECHERIN
Wenn Kinder oder ungeübten Schwimmer, denen die Beine weggezogen wurden, dann wieder auftauchen, werden sie manchmal schon von der nächsten, anrollenden Welle wieder umgerissen oder überspült – denn Wellen treten in Gruppen auf. Alexander Paffrath:
O-TON 9 (Paffrath)
Dann kommt noch eine Panikreaktion, ein Schockmoment dazu. Und das ist halt das Problem, was da auftreten kann. Und je nachdem, wie hoch die Wellen sind, haben wir ja dann da auch noch eine gewisse Gischt. Wenn man dann in dieser Gischt einatmet, dann atmet man letztendlich auch Wasserpartikel ein. Und gerade bei einem ungeübten Schwimmer führt das einfach zu Panikreaktionen und dann im worst case auch tatsächlich zu einem potenziellen Ertrinkungsfall.
MUSIK 7 ( Mathias Mersch: Oceans Deep 0‘25)
SPRECHERIN
Auch Gezeitenströmungen, also Strömungen, die durch Ebbe und Flut ausgelöst werden, können für Schwimmer gefährlich werden.
O-TON 10 (Paffrath)
Und gerade bei Ebbe kann man natürlich rausgezogen werden ins offene Meer. Und daher sind die Badezeiten an den bewachten Badestellen an der Nordsee in aller Regel auch so kurz vor oder ein, zwei Stunden vor dem Hochwasser. Das heißt also mit dem auflaufenden Wasser, sodass man in diesen Sog der Ebbe eigentlich gar nicht reingeraten kann. An allen unbewachten Badestellen sollte man es tunlichst vermeiden, dann tatsächlich ins Wasser reinzugehen.
SPRECHERIN
Besonders viele Rettungseinsätze gibt es für die DLRG aufgrund der tückischen Rip-Strömung, die auch unter dem Namen Trecker-Strömung bekannt ist. Dabei strömt Wasser vom Strand in Vertiefungen im Meeresboden zurück aufs Meer. Es ist eine oft mehrere Meter breite, sehr schnelle Strömung, gegen die Schwimmer nicht ankommen. Das Gefährliche: Rippströmungen können plötzlich und an unterschiedlichen Stellen auftreten – also auch an Stellen, an denen es kurz vorher noch ungefährlich war. Gerät man in diese Strömung, sollten Schwimmer keinesfalls versuchen, gegen die Strömung anzukämpfen. Die Ursache tödlicher Unfälle in Rippströmungen ist fast immer Ertrinken durch Erschöpfung. Vielmehr sollten Schwimmer quer zur Strömung aus dem Hauptstrom rausschwimmen, rät Alexander Paffrath von der DLRG:
O-TON 11 (Paffrath, 7.14)
Mit dem geübten Auge kann man schon einigermaßen erkennen, wo denn eine Trecker-Strömung ist. Also zum Beispiel, dass man sieht, dass in einem Bereich das Wasser aufgewühlter ist als in einem anderen. Oder die Oberfläche sieht völlig anders aus als im umgebenden Wasser, zum Beispiel im Gegensatz zur flachen Umgebung ist da dann so eine leicht gekräuselte Wasseroberfläche. Oder aber, dass die Wellen, wenn man da ein bisschen länger draufguckt, in einem anderen Winkel brechen als in dem restlichen Brandungsbereich. Aber das sind Dinge, die sind halt für Otto-Normal-Urlauber in Anführungszeichen nicht wirklich einfach zu erkennen.
SPRECHERIN
Nicht nur für Menschen, auch für Tiere können Stürme mit starken Strömungen und hohen Wellen tückisch werden. So wurde 2023 nach dem Sturm „Zoltan“ auf Sylt eine geschwächte Karettschildkröte angespült, die eigentlich im Mittelmeer heimisch ist.
MUSIK 8 (Petra Eisend & Band: Under Water 1‘05) / ATMO (Wellen, Sturm)
SPRECHERIN
Auch der Küstenschutz muss die Brandung immer ganz genau im Blick haben. Denn die Wucht der Brandung ist gewaltig und kann ganze Küstenabschnitte verändern: Wellen können Sandbänke verschieben, Strandabschnitte neu anspülen oder auch abtragen. Bei jeder Sturmflut ist eindrucksvoll zu erleben, wie Wind und Wasser an den Küsten nagen. Beispiel Sylt: Die Wellen tragen den Sand an der Westküste nach und nach ab. „Der Kampf um Land und Sand ist für Sylt eine Überlebensfrage“, heißt es auf der Webseite der Insel. Theide Wöffler vom Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein:
O-TON 12 (Wöffler)
Im Mittel verlieren wir auf der Insel Sylt eine Million Kubikmeter Sand pro Jahr infolge von Brandung und auch Gezeitenströmung.
SPRECHERIN
Das Meer reißt Sandmassen mit sich, die zum Teil im Seegebiet zwischen Sylt und Amrum wieder abgelagert werden. Vor allem das Süd- und Nordende von Sylt sind gefährdet, die Inselenden sind am stärksten von der Erosion betroffen.
MUSIK 9 (Claude Debussy: 2.Satz aus Sonate F-Dur 0‘45) /ATMO (Wind Wellen)
SPRECHERIN
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts unternahmen die Bewohner von Sylt erste Versuche, ihre Insel vor der Brandung zu schützen. Damals wurden sogenannte Buhnen errichtet. Das waren zunächst Holzpfahlbuhnen, später dann auch Stein-, Stahlspundwand- und Betonpfahlbuhnen, die in langen Reihen rechtwinklig zur Küste ins Meer geschlagen wurden. Diese sollten die Brandungs- und Gezeitenströmungen vom Ufer fernhalten. Sehr effektiv ist diese Methode auf Sylt allerdings nicht gewesen. Eine nachhaltige Verminderung des Küstenrückganges konnte durch die Buhnen nicht erreicht werden. Daher wurden die Buhnen an der Westküste von Sylt in den letzten Jahren fast vollständig zurückgebaut.
ATMO Möwen / MUSIK 10 ( Astor Piazzolla: Vuelvo al sur 0‘45)
SPRECHERIN
In Westerland wurde eine Ufermauer errichtet – doch die Erosion ist stark, immer wieder stehen aufwändige Reparaturarbeiten an. Um Landabbrüche an der Westseite der 38 Kilometer langen Insel zu verhindern, wurden ab den 1960er Jahren am Strand von Hörnum im Süden von Sylt Tetrapoden ausgebracht – das sind riesige, vierfußige Steine aus Beton. Mit Hilfe von Tetrapoden wird vor der Küste eine Art künstliches Riff geschaffen, erklärt Jochen Horstmann:
O-TON 13 (Horstmann)
Die sorgen für immense Turbulenzen. Dann brechen die Wellen zusammen und brechen sich dann an diesen Tetrapoden, die ja auch aus Beton sind und deshalb den Kräften gut widerstehen können, dass wird oft gemacht, insbesondere auch an den Küsten von Taiwan, aber auch vor Sylt gibt es Tetrapoden.
SPRECHERIN
Die Wellenbrecher aus Beton sind mit rund sechs Tonnen allerdings so schwer, dass sie je nach Untergrund einsinken und dann nicht mehr den gewünschten Effekt erfüllen. Auch auf Sylt stecken einige der Riesensteine schon tief im Sand. Damit Sylt nicht weggespült wird, werden auf der Insel zusätzlich seit 1972 Sandaufspülungen vorgenommen. Dabei entnehmen Baggerschiffe etwa acht Kilometer vor der Westküste ein Sand-Wasser-Gemisch und pumpen dies über Rohrleitungen an den Strand. Das Wasser fließt ab, der Sand bleibt zurück und wird von Bulldozern verteilt. Am Meeresboden bleiben Vertiefungen zurück. Theide Wöffler.
O-TON 14 (Wöffler)
Bei den Sandvorspülungen haben wir auch ein wenig die Strategie in den letzten Jahren verändert. Also wenn man sich anguckt, wie am Anfang der Sandvorspülung gearbeitet wurde: Da wurde eine große Menge Sand auf einen Strandabschnitt vorgespült. Und in den letzten Jahren sind wir einfach zielgerichteter geworden, was die Sandvorspülung angeht. Also das heißt: Wir verteilen unsere Sandmengen auf eine größere Länge des Strandabschnitts, also weniger Sand, verteilt auf einen längeren Strandabschnitt und setzen so den Sand zielgerichtete ein.
ATMO (Wellen auf Meer)
SPRECHERIN
Vor Sylt befindet sich etwa 300 bis 400 Meter vor der Küste ein natürlicher Wellenbrecher, ein Sandriff. Es ist ein dynamisches Gebilde, dass sich durch die Brandung immer wieder verändert. Theide Wöffler.
O-TON 15 (Wöffler)
Also dieses Sandriff wandert auch im Laufe des Jahres auf die Küste zu und entfernt sich auch wieder. Also in Abhängigkeit der Wellengröße, wandert dieses Sandriff in den Herbst und Wintermonaten etwas weiter nach draußen. Und in ruhigeren Monaten, wandert dann dieses Sandriff näher auf die Küste zu. Und das hat eine ganz entscheidende Funktion für den Küstenschutz auch. Also ist eine Art natürlicher Wellenbrecher, den wir vor der Insel Sylt einfach liegen haben – in Form dieses Sandriffs.
SPRECHERIN
Auf Sylt wird aber auch vor dem Strand – also im Meer - Sand aufgespült und so das vorgelagerte Sandriff verstärkt. Dadurch wird die Brandung abgeschwächt, bevor sie auf Land trifft. In der Fachsprache heißt diese Maßnahme Vorstrandaufspülung:
O-TON 16 (Wöffler)
Das heißt, wir spülen den Sand nicht mehr auf den Strand vor, sondern verstärken das Riff vor dem Strand und verklappen dort den Sand auf der seewärtigen Seite des Riffs. Und haben da einfach die positive Erfahrung gemacht, dass durch diese Riff-Verstärkung die Strände sich dahinter einfach sehr stabil verhalten und wir so letzten Endes eine wirtschaftlichere Methode haben, den Strand zu schützen.
ATMO (Meer) / MUSIK 11 ( Astor Piazzolla: Vuelvo al sur 1‘00)
SPRECHERIN
An Land soll mit Sandfangzäunen, die oft aus Birken oder Weiden gebaut werden, der Sand gehalten werden. Dazu werden Reisigbündel in den Sand gesteckt, so dass Zäune entstehen, in deren Windschatten sich der Sand ablagern soll. Auch mit dem Anbau von Strandhafer auf den Dünen wird versucht, Sandflug zu vermeiden. Ammophila arenaria – so der lateinische Name von Strandhafer - hat bis zu fünf Meter tiefe Wurzeln. Die Wurzeln der Pflanzen verflechten sich zu einem unterirdischen Netz, das die Düne und den Sand festhält. Gerade nach neuen Sandaufspülungen werden Sandfangzäune gebaut, damit der mühsam ausgebrachte Sand nicht gleich wieder vom Wind weggeweht wird. Wenn Wellen auf Land treffen, sind Dünen das erste Bollwerk gegen die Brandung.
ATMO (Wellen)
SPRECHERIN
Seegang und Wellenschlag gefährden auch die Deiche, die Küstenbewohner vor Überflutungen schützen sollen. Bereits jetzt wohnt in Schleswig-Holstein etwa ein Drittel der Einwohner in potenziell überflutungsgefährdeten Gebieten. Angesichts des Klimawandels steht der Küstenschutz vor neuen Herausforderungen, so Theide Wöffler vom Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz:
O-TON 17 (Wöffler)
Also eines ist sicher, dass infolge des Klimawandels der Meeresspiegel weiter ansteigt. Und ganz sicher ist dann auch, dass zukünftige Sturmfluten auf diesen gestiegenen Meeresspiegel aufsatteln, also sprich: der Meeresspiegelanstieg von einem Meter und dementsprechend laufen dann zukünftige Sturmfluten auch mindestens einen Meter Höhe auf. Und dann haben wir es natürlich auch noch damit zu tun, dass in größeren Wassertiefen auch ja einfach eine größere Seegangs-Energie steckt. Also es können sich größere Wellen bilden in tieferem Wasser. Die Wellen können eine größere Periode haben. Und somit haben wir es dann einfach mit einer größeren Brandung-Energie zu tun, die auf unsere Deiche und auf unsere Küsten trifft.
SPRECHERIN
Deshalb werden in Schleswig-Holstein die Deiche verstärkt und ausgebaut. Die sogenannten Klimadeiche sind höher, breiter und flacher. Theide Wöffler:
O-TON 18 (Wöffler)
Das Profil verfügt über eine wesentlich breitere Deichkrone, auf die dann die nachfolgenden Generationen eine sogenannte Kappe aufsetzen können - mit vergleichsweise geringem Aufwand. Und die nächste Generation, die den Deich dann wiederum verstärkt, kann dann halt - wenn sie diese Kappe aufgesetzt haben - einen Meeresspiegelanstieg von 1,5 Meter schon mal entgegenwirken, (…) dadurch, dass einfach der Deich so breit jetzt ausgestaltet ist, dass man dann letzten Endes nur noch eine Kappe obendrauf setzt. Und dann gibt es noch die zweite Ausbauoption bei diesem Klimadeich, das dann wiederum das Profil noch mal abgeflacht werden kann, dass letzten Endes dann auch wiederum mit sehr gering bautechnischen Aufwand Wasserstände bei einem Meeresspiegel von bis zu zwei Meter gekehrt werden können. Also das ist so das neue Deichprofil, was wir in Schleswig-Holstein umgesetzt haben und was es dann den nachfolgenden Generationen erleichtert, mit dem Meeresspiegelanstieg umzugehen.
SPRECHERIN
Einer der ersten Klimadeiche wurde 2016 auf Nordstrand im Kreis Nordfriesland fertig gebaut. Dafür wurde der Deich auf zweieinhalb Kilometern um 70 Zentimeter erhöht und um zweieinhalb Meter verbreitert. Auch in anderen Gegenden an der Küste wurden Deiche schon verstärkt.
MUSIK 12 ( Die Fantastischen Vier – Tag am Meer 1‘20)
SPRECHERIN
Nicht nur die deutsche Küste und Inseln in der Nord- und Ostsee, weltweit sind viele Regionen gefährdet – durch den steigenden Meeresspiegel, höher auflaufende Sturmfluten, höhere Wellen, zunehmende Wetterextreme und geänderte Strömungs- und Tidebedingungen. Viele Inselstaaten auf der Südhalbkugel sehen sich in ihrer Existenz bedroht. Weltweit versuchen deshalb Forscher, die Entstehung von Wellen, Strömungen und die Brandung besser zu verstehen, um mögliche Folgen besser einschätzen und die Küsten noch besser schützen zu können.
MUSIK / ATMO (Wind, Wellen)
Haben Sie sich schon einmal von einem Kunstwerk provoziert gefühlt? Sich geekelt oder geschämt? Das war vermutlich Absicht. Provokationen sind in der Kunst der modernen und zeitgenössischen Kunst keine Seltenheit. Sie sind ein legitimes künstlerisches Mittel und erfüllen einen wichtigen Zweck. Von Julie Metzdorf
Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Stefan Wilkening, Berenike Beschle, Diana Gaul
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen
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ERZÄHLER
Ein ans Kreuz genagelter Frosch mit Bierkrug in der Hand. Ein Künstler, der seine eigene Haut versteigern lässt - Lieferung nach Ableben. Oder eine mit Klebestreifen an der Wand befestigte Banane – für 6,2 Millionen Dollar.
Musik 2
"Grey" - Künstler und Komponisten: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'39
ERZÄHLERIN
Die Kunstwelt ist voll von Provokationen: explizite Darstellungen von Gewalt oder Sexualität, von toten Tieren und verwesendem Essen, Angst, Ekel, und aggressiver Intimität, von Toiletten, Exkrementen und Blut, von Menschen, die sich selbst verletzen oder verletzen lassen, die öffentlich urinieren, defäkieren oder masturbieren, von christlichen Symbolen in Säure oder Urin. Kurz gesagt: von Zumutungen aller Art, die je nach individueller Verfasstheit des Publikums Unverständnis, Langeweile, Ekel oder Wut hervorrufen.
Musik 2
"Machaut: Kyrie 1" - Komponist: Machaut, Guillaume de (c1300-1377) Ausführende: Album: Early Music (Lachrymæ Antiquæ)Länge: 0'41
ERZÄHLER
Thematisch sind der Provokation keine Grenzen gesetzt. Jede Gesellschaft und jede Zeit hat ihre eigenen Normen und Werte, deshalb gibt es immer irgendein Tabu, das man brechen kann.
Beispiel Albrecht Dürer: sein berühmtes Selbstporträt in der Alten Pinakothek in München zeigt ihn frontal von vorn, mit lockigem Haar und im pelzbesetzen Mantel. Für die Betrachter heute ein ganz normales Porträt:
1 OT Maaz – Dürer
Wenn Albrecht Dürer sich … malt wie den Salvator Mundi, den Erretter der Welt, wie Christus, dann ist es ein Bild, was damals sicher verstörend war, weil das ein Anspruch des Menschen auf die göttliche Rolle war. Wenn wir das heute anschauen, sagen wir, so what? Die Bezugsgrößen haben sich völlig verändert.
ERZÄHLERIN
Sagt der Kunsthistoriker Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. [bitte so sprechen, dass man nach dem Namen schneiden könnte – für den Fall einer Wiederholung nach Verrentung...]
Künstler galten zu Dürers Zeiten als Handwerker. Das christusgleiche Selbstporträt steht für seinen lebenslangen Kampf um Anerkennung – für sich persönlich als schöpferisch tätiger Künstler, der auch entsprechend bezahlt werden wollte, aber auch für die Anerkennung der Malerei und – allgemeiner – der Kunst als geistige, schöpferische Tätigkeit, die über das Bedecken von Leinwand mit Farbe weit hinausgeht. Mit seinem provokanten Selbstbildnis hat Dürer zu dieser heute selbstverständlichen Auffassung beigetragen, seine Provokation hatte Erfolg.
Wie schnell eine provokante Grenzüberschreitung in den Kanon der Kunst aufsteigen kann, zeigt das Beispiel Damien Hirst -
2 OT Maaz - Totenschädel
..., der einen Schädel hernimmt und den dann mit Diamanten beklebt und damit den Tod zu einer Zierde, zu einem Schmuckstück macht, der die Werte umkehrt und der richtiggehend provoziert, indem er ein Artefakt und einen menschlichen Überrest miteinander kombiniert und das verstört.
ERZÄHLER
Und ein drittes Beispiel: Im Jahr 2000 ließ Christoph Schlingensief in Wien einen Container aufstellen, in dem mehrere Asylbewerber zusammenlebten. In Anlehnung an das Fernsehformat „Big Brother“ wurden Bilder aus dem Inneren per Kamera auf eine öffentliche Webseite übertragen, jeden Tag kam ein Gast zu Besuch, darunter etwa Gregor Gysi, Elfriede Jelinek oder Josef Bierbichler. Wie in der TV-Show wurde zudem täglich ein Asylbewerber aus dem Container herausgewählt – aber nicht nur wie im Fernseh-Vorbild aus dem Spiel und der WG, sondern aus dem Land. Die Abstimmung erfolgte öffentlich auf der Webseite www.ausländerraus.at
ERZÄHLERIN
Schlingensief wollte mit seinem Kunstprojekt auf die grassierende Fremdenfeindlichkeit in Österreich aufmerksam machen. Kurz zuvor war die FPÖ unter dem Rechtsaußen-Politiker Jörg Haider in den Nationalrat gewählt worden. Zugleich stellte der Künstler das Fernsehformat Big Brother in Frage.
ERZÄHLER
Die Aktion löste Kritik aus. Darf man Menschen in einer Notsituation für eine Kunstaktion „benutzen“, auch wenn man so auf ihre Not und bestehende Ungerechtigkeit aufmerksam machen will? Provokationskunst hat selten ein Happy End. Sie legt den Finger in die Wunden der Gesellschaft, sie lenkt die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema und löst im besten Fall Debatten aus. Dabei produziert sie ihrerseits auch Widersprüche.
3 OT Maaz - verunsichern
Das gehört auch zu den Rezepten des Provokateurs: zu verunsichern und eben nicht lineare Aussagen, eindeutige oder gar im mathematischen Sinne eineindeutige Aussagen zu treffen, die so rum und so rum gewendet, immer dasselbe sichere Wissen transportieren.
ERZÄHLERIN
Natürlich kann eine Kunstaktion keine Grundsatzdebatte lösen. Aber sie kann ein Thema anders darstellen als es journalistische oder wissenschaftliche Texte vermögen.
Musik 4
"Apartment" - Künstler: Raffertie - Album: The Substance (Original Motion Picture Score) - Komponist: Benjamin Stefanski - Länge: 0'24
ERZÄHLERIN
Kunst – und provokante Kunst allemal – rührt an die Gefühle der Menschen. Die Vorstellung, dass eine fremde Öffentlichkeit per Mausklick darüber bestimmen kann, ob jemand drinnen oder draußen ist, ob er Asyl bekommt oder nicht, berührt auf andere Art, als die Rede eines Politikers oder die Statistiken einer Wirtschaftswissenschaftlerin.
Musik 5
"Grey" - "Grey" - Künstler und Komponisten: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'34
ERZÄHLER
Provokante Kunst fordert den Betrachter heraus, bestehende Normen und Denkweisen zu hinterfragen. Die Konfrontation mit unbequemen Themen kann neue Perspektiven eröffnen und gesellschaftliche Veränderungen anstoßen. Provokation in der Kunst ist ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen, Tabus zu brechen und das Bewusstsein für aktuelle, oft unbequeme Themen zu schärfen. Damit erfüllt sie eine wichtige gesellschaftliche Funktion.
4 OT Maaz – Grenzüberschreitung
Bei allen Provokationen geht es immer wieder darum, Grenzen weiter hinauszuschieben, die Grenzen des Zeigbaren, des Sagbaren und damit eigentlich des Denkbaren. Und deswegen gehört Provokation letztendlich auch zu unserer demokratischen Gesellschaft. Ich glaube, dass das ein ganz wichtiger Aspekt ist. Wir brauchen ja nur einmal auf den Stellenwert von Pussy Riot in Russland zu schauen, um zu verstehen, dass es auch ganz anders sein kann.
ERZÄHLERIN
2012. Auftritt des Performancekollektivs Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale, dem zentralen Gotteshaus der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau. Die durchwegs weiblichen Mitglieder der Gruppe treffen sich zu einem lautstarken „Punk-Gebet“. Mit ihren Songs protestieren sie gegen Kirche und Staat zugleich, gegen die ihrer Meinung nach frauenfeindliche Politik Russlands und ein von der Kirche gefordertes Abtreibungsverbot.
ERZÄHLER
Die Strafen waren hart, drei der Künstlerinnen kamen ins Gefängnis bzw. ins Straflager. Dass Pussy Riot mit ihrer Aktion die Grenzen des Sagbaren in Russland dauerhaft verschoben hätten, kann man nicht behaupten. Andererseits erhielt die Aktion international enorm viel Aufmerksamkeit, lenkte den Blick also wie geplant tatsächlich auf die angeprangerten Missstände.
ERZÄHLERIN
Der russische Künstler Pyotr Pavlensky reagierte auf die harten Strafen mit einer weiteren Provokation: Er ließ sich die Lippen zunähen. Ein in seiner Klarheit und Konsequenz kaum zu überbietendes Bild. Die Aktion war ein stummer, aber im übertragenen Sinn auch „lauter“, das heißt äußerst medienwirksamer Protest gegen die Unmöglichkeit der freien Meinungsäußerung in Russland.
5 OT Maaz – Malkowski
Rainer Malkowski, ein zauberhafter Dichter, hat einmal diesen wunderbaren Satz geprägt: Was niemand hören will, das soll man besonders laut sagen. Und das ist … eine Aussage über die Funktion von Reibung in der Gesellschaft.
ERZÄHLER
Doch wie gesagt: Nicht jede Gesellschaft lässt eine solche Reibung zu. Um sich vor der russischen Staatsgewalt zu schützen, leben sowohl die Mitglieder von Pussy Riot als auch Pavlensky mittlerweile im Exil.
ERZÄHLERIN
Künstlerische Provokationen sind nichts Neues. Viele der heutigen Ikonen der Kunstgeschichte wurden zur Zeit ihrer Entstehung als Provokation empfunden. Weil sich mit jeder neuen Provokation die Grenzen des Zeigbaren aber immer weiter verschoben haben, echauffiert sich heute niemand mehr über die Skandalbilder von einst. Beispiel Nacktheit:
Musik 6
"Night Thoughts" - Album: A Vision in Blakelight (feat. John Medeski, Kenny Wollensen, Carol Emanuel, Trevor Dunn, Joey Baron, Cyro Baptista & Jack Huston) - Komponist: John Zorn - Länge: 0'54
ERZÄHLER
Der „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch aus dem 15. Jahrhundert kommt wie eine Werbung für Urlaub im Nudisten-Camp daher: In einer grünen Landschaft voller Seen und Obstbäume tummeln sich hunderte Menschen, splitterfasernackt reiten, schwimmen und tanzen sie miteinander, füttern sich gegenseitig mit großen roten Beeren oder üben sich im Synchron-Handstand. Es scheint fast, als habe sich der Maler über die christliche Idee des Paradieses lustig gemacht. Zumindest der Mann, der einem anderen Mann einen Blumenstrauß ins Popoloch steckt, dürfte rund ums Jahr 1500 auf den einen oder anderen Betrachter leicht irritierend gewirkt haben.
ERZÄHLERIN
Heute finden das die meisten Menschen wohl einfach eine lustige Idee. Ob ein Kunstwerk provoziert oder nicht hat mit den jeweiligen Regeln der Zeit, den Normen und Werten einer Gesellschaft zu tun. Provokationen verlaufen deshalb in Wellen. Tizians splitternackte „Venus von Urbino“ erregte im Jahr ihrer Entstehung 1538 offenbar wenig Anstoß. Wohl aber in München 350 Jahre später: In Deutschland sollte um 1900 die sogenannte „Lex Heinze“ für Zucht und Ordnung sorgen, angeblich „unsittliche“ Darstellungen und Handlungen in Theater und bildender Kunst wurden komplett verboten.
6 OT Maaz – Lex Heinze
Das war ein wichtiges Gesetz im wilhelminischen Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, bei dem die schönsten Tizians inkriminiert wurden, weil da jemand nackt herumliegt. Man durfte also schon im Schaufenster die Postkarte eines Tizian nicht mehr zeigen.
ERZÄHLERIN
Die jüngere Kunstgeschichte zeigt, wie schnell das Provokante eines Werks verpuffen kann: Georg Baselitz‘ „Große Nacht im Eimer“ von 1963 zeigt einen jungen, eher schmächtigen Mann mit einem überdimensionierten Phallus in der Hand. Das Bild wurde direkt nach seiner Entstehung wegen Unsittlichkeit beschlagnahmt.
7 OT Maaz – Baselitz
Ein fantastisches, vitales Bild, ein Hymnus auf die Selbstbefriedigung. Da würde man heute sagen, ja, wo ist denn hier das Problem? Das kann nicht mehr provozieren. Vor hundert Jahren galt diese Tätigkeit als hirnzersetzend, heute ist sie ein völlig etabliertes Spiel.
Musik 7
"Magenta" - Künstler und Komponisten: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0#52
ERZÄHLER
Über Nacktheit, Sexualität oder auch Onanie regt sich heute niemand mehr auf. Auftrag erfüllt könnte man also sagen, die Grenzen des Zeigbaren und damit der Kunst wurden erweitert. Doch Vorsicht: Provokation ist ein Mittel zum Zweck. Sie ist ein künstlerisches Werkzeug, das eigentliche Thema ist ein ganz anderes. Die Masturbation in Baselitz‘ Großer Nacht im Eimer hat eine politische Komponente: sein Bild ist die Entzauberung eines männlichen Größenwahns und konnte im Entstehungsjahr 1963 gelesen werden als Kritik oder besser Entblößung der Machtfantasien der Nazis. Es geht hier weniger um Nacktheit, sondern um Politik, Geschichtsaufarbeitung und gescheiterte Männlichkeits- und Machtfantasien.
Musik 8
"Stones Throw" - Künstler: Lusine Icl - Album: Language Barrier - Länge: 0'40
ERZÄHLERIN
Eine Provokation ganz anderer Art lieferte der österreichische Aktionskünstler Günter Brus. 1965 spazierte er von oben bis unten mit weißer Farbe bemalt durch Wien: Haare, Gesicht, Anzug Schuhe: alles weiß. Nur in seiner Körpermitte verlief vom Scheitel bis zur Sohle eine schwarze zackige Linie. Ein Reißverschluss? Stacheldraht? Eine Wunde? Die Passanten waren verstört. Für Brus war es eine Erweiterung der Malerei, er wollte weg vom rechteckigen, flachen Bild an der Wand.
ERZÄHLER
Die provokante Grenzverschiebung bezog sich hier also auf den Rahmen der Kunst. Brus‘ Aktion war eine logische Folge eines neuen Selbstverständnisses: Wenn der Künstler als Individuum behandelt wird und seine Kunst Ausdruck seiner Persönlichkeit ist, dann liegt für ihn nichts näher als den eigenen Körper zur Spielwiese dieser Kunst zu machen.
8 OT Maaz - Kritiker
Die Kunst war über Jahrhunderte affirmativ, Künstler waren als Hofkünstler oder für die Kirche tätig, sie dienten also, und mit der Entstehung des freien, des modernen Künstlers entsteht eine Opposition zur Gesellschaft und Künstler müssen sich untereinander abgrenzen. Sie müssen ihr Profil zeigen, aber sie wollen sich auch verstehen als Kritiker an der Gesellschaft.
ERZÄHLER
Bei einer Performance 1968 an der Wiener Universität stieg Günter Brus aufs Rednerpult, defäkierte, onanierte und sang dabei die österreichische Nationalhymne. Als „Uni-Ferkelei“ ging die Aktion in die Kunstgeschichte ein. Er habe die Gesellschaft damit aus ihrer Nachkriegslethargie holen wollen, sagt Brus später. Brus wurde wegen "Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit" verurteilt und flüchtete vor einer Haftstrafe ins Exil nach Berlin.
Musik 9
"Wish You Were Husker Du" - Album: Diaz (Un film di Daniele Vicari) [feat. Il balanescu quartet] - Komponist und Künstler: Teho Teardo - Länge: 0'52
ERZÄHLER
Wegen einer besonders krassen Provokation sehr früh sehr berühmt wurde etwa der Amerikaner Chris Burden. 1971 ließ Burden einen Freund auf sich schießen: in den Oberarm. Er wollte seine Shooting-Aktion als Kommentar auf den Vietnamkrieg verstanden wissen, außerdem spielte er damit auf die übermäßige Präsenz von Erschießungsszenen in der amerikanischen Fernsehkultur an. Statt auf dem Bildschirm inszenierter er eine – mehr oder weniger – reale Erschießungsszene. Zeugen und vor allem er selbst konnten so spüren, wie es sich anfühlt, beim Schuss auf einen Menschen dabei zu sein. Hier liegt der Schlüssel der Provokationskunst: Betrachter, Anwesende, Zeugen werden zum Teil des Kunstwerkes.
10 OT Maaz – Abramović
Es gab eine Arbeit von Marina Abramowitsch, da standen ein nackter Mann und eine nackte Frau in einer Tür, und das Publikum musste zwischen ihnen gleichsam hautnah durchschlüpfen. Das ist eine klare Provokation des Publikums.
ERZÄHLERIN
Jeder einzelne Besucher dieser Ausstellungseröffnung 1977 in Bologna war mit der Nacktheit der Türsteher konfrontiert, kein Einlass ohne Körperkontakt. Auch wenn sich die meisten nichts anmerken ließen: irgendetwas muss das in den Besuchern ausgelöst haben. Zumindest mussten sie sich entscheiden, wem der beiden Nackten sie sich beim Durchschlüpfen zuwenden wollten: der Künstlerin Marina Abramović oder ihrem Partner Ulay. Provokationskunst verwandelt die passiven Kunstbetrachter in aktive Beteiligte.
11 OT Maaz - Betrachter
Wir, wir als die Betrachterinnen und Betrachter, die sich einerseits fragen können, ist das Kunst, und andererseits gefragt sind: und was macht das mit mir? Kann ich es aushalten? Will ich das aushalten? Reizt mich das, erregt mich das, bestürzt mich das, beunruhigt mich das? Das Ziel der Provokation ist eigentlich immer die Hinterfragung unserer kanonischen Werte, unserer gesellschaftlichen Werte, unserer sozialen Bindungen und aber auch Loslösung.
ERZÄHLER
Bereits ein paar Jahre zuvor hatte sich Marina Abramović einer Gruppe von Galeriebesuchern in Neapel ausgesetzt. Die Künstlerin stand dabei still und passiv in einem Raum, auf einem Tisch neben ihr 72 Gegenstände, darunter eine Rose, eine Feder, Parfüm, Honig, Brot, Trauben, Wein, Scheren, ein Skalpell, Nägel, eine Metallstange und ein geladener Revolver und ein Zettel:
Musik 10
"disintegration" - Komponist: Ryuichi Sakamoto ALBUM: async - Länge: 0'23
ZITATORIN
Anweisungen.
Auf dem Tisch sind 72 Gegenstände, die man an mir, wie gewünscht, anwenden kann.
Aufführung.
Ich bin das Objekt.
Während dieses Zeitraums übernehme ich die volle Verantwortung
Dauer: 6 Stunden (20 bis 2 Uhr).
Musik 11
"Avalanche" - Künstler udn Komponisten: Monolake & Robert Henke - Album: Silence Länge: 0'42
ERZÄHLER
Es war eine Art Test: Was würden die Menschen tun? Wie weit würden sie gehen?
ERZÄHLERIN
Die gute Nachricht: Marina Abramovic hat überlebt. Doch die Atmosphäre wurde schnell aggressiv. Man schnitt ihr die Kleider vom Leib. Man berührte sie intim. Rasierklingen kamen zum Einsatz, es floss Blut. Zugleich bildete sich im Publikum eine Gruppe, die die willenlose Künstlerin zu beschützen versuchte. Als ihr jemand die geladene Waffe an den Kopf hielt, brach zwischen den Publikumsgruppen ein Kampf aus.
ERZÄHLER
Niemand im Publikum blieb unbeteiligt, auf die eine oder andere Art mussten sich alle positionieren.
12 OT Maaz - Probe
Der Provokateur ist immer jemand, der die Gesellschaft auf die Probe stellt, der Opponent, der auf dem Wege der Negation vielleicht das Gesellschaftsbild spiegelt.
ERZÄHLER
Die Provokation bestand in der absoluten Willenlosigkeit der Künstlerin. Allein ihre Passivität rief die Reaktionen hervor.
ERZÄHLERIN
Alles andere als willenlos waren die feministischen Aktionen von Valie Export. Nach Tausenden Jahren Kunstgeschichte, in denen Frauenkörper fast ausschließlich von Männern gemalt und geformt worden waren, setzte die österreichische Künstlerin ihren Körper nun selbst in Szene. Bei einer ihrer bekanntesten Performances 1968 am Münchner Stachus trug sie über ihren nackten Brüsten einen Kasten mit zwei Öffnungen. Per Megafon wurde zum Besuch des Tapp- und Tastkinos eigeladen: Interessierte hatten dann 12 Sekunden lang Zeit, ihre Hände durch die Öffnungen zu strecken und die nackten Brüste der Künstlerin zu berühren.
ERZÄHLER
Was das mit Emanzipation zu tun hat? Ohne ihren weiblichen Körper zu verleugnen, entschied die Künstlerin hier selbst darüber, was Männer mit ihrem Körper machen. Export bezeichnete die Aktion als erweitertes Kino, das Filmzuschauer mit dem konfrontiert, was im abgedunkelten Saal als normal angesehen wird: der voyeuristische Blick auf Frauenkörper.
ERZÄHLERIN
Natürlich lösten Aktionen wie diese breites Medien-Echo, ja gar Skandale aus. Dabei ist es wichtig, zwischen Skandal und Provokation zu unterscheiden:
13 OT Maaz – Skandal
Die Provokation kann für sich bestehen. Der Skandal muss medial
ausgetragen werden, und ... der Skandal ist tragischerweise sehr
viel schneller als die Provokation. Will sagen, das flammt einmal auf, das
hält zwei Tage, das hält fünf Tage, das hält drei Wochen maximal. Aber dann
ist der Skandal durch - und die Provokation bleibt.
Der Skandal bringt Provokationen ins gesellschaftliche Bewusstsein. Das ist seine positive Leistung. Er tendiert aber dazu, die Ursache und die Wirkung der Provokation durch Simplifizierung zu überrollen und unsichtbar zu machen.
ERZÄHLER
Der Skandal ist eine mögliche Reaktion auf eine Provokation – allerdings leider oft unter Missachtung ihrer Absichten. Die Medien – und damit auch ein Gros der Gesellschaft – sehen meist nur die Grenzüberschreitung an sich. Nach dem Warum, nach dem Anliegen der künstlerischen Arbeit wird kaum gefragt.
14 OT Maaz - Medien
Darin sehe ich auch eine große Gefahr, weil die Reflexion mehr sein muss als nur ein erstes Wahrnehmen und Aufschreien, sondern danach muss die Frage kommen: und warum macht sie das? Warum macht er das? Der Künstler - was soll das mit uns machen? Also was soll es auslösen und bewegen? Und da ist die Gefahr der sozialen Medien, in einer überhitzten Geschwindigkeit eine zu geringe intellektuelle Durchdringung von Kunst zu transportieren.
ERZÄHLERIN
Emanzipation, Sexualität, Politik, thematisch sind der Provokation keine Grenzen gesetzt. Die Kritik kann sich auch gegen den Kunstmarkt bzw. seine Kommerzialisierung richten: 1961 füllte der italienische Konzeptkünstler Piero Manzoni jeweils 30 Gramm seiner eigenen Fäkalien in 90 Dosen, verschloss sie geruchsfest und beklebte sie mit dreisprachigen Etiketten: “Merda d’artista – Artist’s Shit – Künstlerscheiße“. Dann verkaufte er die Dosen zum damals aktuellen Goldpreis. Ein krasses Beispiel für Konzeptkunst, bei der es weniger um das Kunstwerk an sich, sondern um die Idee dahinter geht, um Ironisierung etwa.
ERZÄHLER
Über solche Aktionen können manche Menschen nur den Kopf schütteln. Sie sehen den Kunstwert nicht. Es ist ja auch nicht ganz einfach zu verstehen, warum jemand auf sich schießen lässt und noch weniger, was das mit Kunst zu tun hat. Kritisches Hinterfragen ist angebracht! Provokation allein macht noch keine Kunst. Die Provokation darf nie Selbstzweck werden, purer Effekt. Provokation ist immer nur ein Werkzeug, ein künstlerisches Mittel. Das eigentliche Thema ist ein anderes. Und natürlich hat Provokation auch Grenzen:
15 OT Maaz - Grenzen
Die Grenzen liegen da, wo die Kunstfreiheit endet und die Verletzung von Menschenrechten oder unseres Grundgesetzes einträte. Das ist tabu.
Musik 12
"Apartment" - Künstler: Raffertie - Album: The Substance (Original Motion Picture Score) - Komponist: Benjamin Stefanski - Länge: 0'08
ERZÄHLERIN
Tabubruch und Skandal sind fester Bestandteil moderner und zeitgenössischer Kunst.
Musik 13
"Grey" - Künstler und Komponisten: Loscil & Lawrence English - Album: Colours of Air - Länge: 0'14
16 OT Maaz - Zukunft
Ich glaube, es wird immer wieder Provokateure geben. Es muss sie auch geben. Das ist Teil des demokratischen Kunstsystems. Wenn man Provokationen berechnen könnte, dann wären sie keine.
Musik 14
"Apartment" - Künstler: Raffertie - Album: The Substance (Original Motion Picture Score) - Komponist: Benjamin Stefanski - Länge: 0'20
ERZÄHLER
Der nächste Tabubruch wird kommen. Wünschenswert wäre allerdings, dass dann nicht nur alle aufgeregt „Skandal!“ schreien. Sondern dass irgendwer auch nach der tieferen Absicht des Provokateurs fragt.
Nährstoffmangel, giftige Algen und die Klimaerwärmung machen den Fischen in Bayern zu schaffen. Auch Kormorane oder Gänsesäger setzen den Beständen zu. Vom Fischfang allein kann an den Seen niemand mehr leben. Von Claudia Steiner
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Rahel Comtesse
Technik: Josef Angerloher
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Dr. Jürgen Geist, Lehrstuhl für Aquatische Systembiologie an der TUM in Freising
Susanne Huber, Fischwirtschaftsmeisterin in St. Heinrich am Starnberger See
Dr. Michael Schubert, Institut für Fischerei in Starnberg
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Linktipps:
Institut für Fischerei HIER
Lehrstuhl für Aquatische Systembiologie, TUM HIER
Bayerisches Landesamt für Umwelt, Kormoranmanagement HIER
Bayerisches Landesamt für Umwelt, Fische HIER
Verbraucherportal Bayern, Heimischer Fisch HIER
ARD Mediathek: Fischmangel - Wie retten wir unsere Flüsse HIER
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Susanne Huber ist Fischwirtschaftsmeisterin am Starnberger See. Eben hat sie noch einmal zwei Sätze ausgebracht – so nennt man die aneinander geknoteten Netze. Nun heißt es warten. Die Fischerin aus St. Heinrich hofft, dass am nächsten Morgen einige Karpfen in ihren Netzen zappeln.
O-TON 1
Ich habe jetzt heute einen relativ guten Tag gehabt. Schön. Also man spricht sich ja mit den Kollegen ab. Man weiß dann schon immer: 25 Stück können super sein, wenn man Kollegen hat, die einfach mit null heimfahren. 25 Stück können super mies sein, wenn der Kollege neben einem 60 hat. Da muss man halt schauen: Was hat der anders gemacht? Oder man hat einfach Pech. Man hat auch Wochen, in denen man einfach immer daneben liegt, einfach ein Stück daneben. Es ist brutal frustrierend.
SPRECHERIN
2024 war am Starnberger See ein nicht allzu erfolgreiches Jahr für die gut 30 Berufsfischer. Manchmal blieben die Netze leer.
ATMO (Wasserplätschern)
SPRECHERIN
Warum es für Fischer starke und manchmal schwache Jahre gibt, ist oft unklar – auch für Profis wie Susanne Huber. Denn die Fortpflanzung, das Wachstum und die Entwicklung von Fischen hängen von vielen Faktoren ab: Der Wassertemperatur, dem Algenwachstum, dem Fraßdruck und auch den Nährstoffen.
ATMO (See)
SPRECHERIN
Beispiel Renken. Der beliebte Speisefisch gehört zur Familie der lachsartigen Fische. Regional werden sie auch Felchen oder Maränen genannt. Im Bodensee, aber auch in anderen Seen, variierte ihre Größe über die Jahrzehnte erheblich. Professor Jürgen Geist vom Lehrstuhl für Aquatische Systembiologie an der Technischen Universität München in Freising.
O-Ton 3
Es ist dann im Laufe der Zeit so, bis zu den 70er-Jahren 80er-Jahren sind immer mehr Nährstoffe, vor allem Phosphat, eingetragen worden in das Gewässer. Die Phosphatkonzentration ist fast um den Faktor zehn dort angestiegen und das hat die Produktivität natürlich erhöht. Das heißt, die Renken sind dort deutlich schneller gewachsen, was natürlich aus Sicht zum Beispiel der Berufsfischerei sehr erwünscht war, was aber andere Probleme in Bezug auf die Wasserqualität nach sich gezogen hat.
SPRECHERIN
Die Renken wurden damals zwar schnell groß, doch die Startbedingungen für die Fische wurden immer schwieriger. Renken legen ihre Eier nämlich im Freiwasser ab. Die Eier sinken auf den Gewässergrund und sind darauf angewiesen, dass dort genügend Sauerstoff vorhanden ist. Jürgen Geist:
O-TON 4
In diesen Zeiten des Nährstoffreichtums hat es häufig in Gewässern wie in den Bodensee natürlicherweise gar nicht mehr geklappt. Man hat also Brutanstalten gebaut. Hat diese Renken dann dort künstlich vermehrt, hat also die Laichfische gefangen, die Geschlechtsprodukte gewonnen, hat diese Fische aufgezogen und dann wieder ausgesetzt.
Musik: Delicate information 0‘31
SPRECHERIN
Inzwischen ist die Wasserqualität in vielen bayerischen Seen sehr gut, der Phosphorgehalt viel geringer als früher, als Waschmittel bei uns noch phosphathaltig waren. Gut für die Wasserqualität, nicht so gut für das Nahrungsangebot für Fische. Vor allem weil ein Element, nämlich Stickstoff über die Atmosphäre, das Grundwasser und die Landwirtschaft weiter in die Gewässer gelangt, erklärt Michael Schubert vom Institut für Fischerei in Starnberg.
O-TON 5
Das Verhältnis von Phosphor zu Stickstoff passt eben nicht mehr so. Denn Stickstoff ist übernatürlich viel noch im Gewässer, und somit wächst eben nicht mehr diese Nahrung heran, was die Renken gerade brauchen: Plankton. Deswegen beobachtet man auch seit vielen Jahren eben, dass die Renken, um die geht es in Bayern hauptsächlich, dass die deutlich schlechter wachsen.
SPRECHERIN
Das beobachtet auch Susanne Huber, deren Familienbetrieb „Beim Fischer“ seit 1811 besteht.
O-TON 6
Es gibt Jahre, da haben sie fast kein Futter. Man weiß aber nicht, wo die Ursachen liegen. Ist es jetzt nur die Strömung, nur der Nährstoffgehalt, das Wetter oder die Kombi? (…)Wir hatten es heuer im frühen Frühjahr so, dass wir bisschen Fische gefangen haben, weil es ein bisschen Futter geben hat. Dann kam der nächste Wind. Dann war das Plankton wieder weg. Plankton schwebt ja. Wind. Strömung. Aus. Vorbei. Eine Woche warten. Also, es ist unheimlich filigranes, empfindliches Gleichgewicht.
ATMO (Fluss-Atmo, Schallarchiv)
SPRECHERIN
Und dieses Gleichgewicht wird immer öfter gestört, nicht nur in Seen, sondern auch in Flüssen, sagt der Wissenschaftler Jürgen Geist.
O-TON 7
Der Zustand der Fische in Bayern (…) ist schon besorgniserregend, kann man sagen. Wir sehen, dass viele Arten, die früher wirklich Allerwelts-Arten waren, die sehr häufig waren, sehr stark zurückgegangen sind. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Arten, die häufiger geworden sind. Und wenn man das mal vergleicht oder analysiert, was sind denn die Eigenschaften, die dazu führen, dass Arten stark zurückgehen oder was sind Eigenschaften, die dazu führen, dass Arten stark zunehmen, dann kann man sehr schnell erkennen, wo die Knackpunkte liegen.
Musik: Take off 0‘50
SPRECHERIN
Ein Blick auf die Fließgewässer, also Flüsse wie die Donau, den Inn oder die Isar. Aufgrund des Klimawandels kommt es vermehrt zu Starkregenereignissen. Dadurch werden mehr Sedimente in die Flüsse gespült, die sich auf das kiesige Substrat am Grund legen. Die Folge: Es gibt immer weniger Zwischenräume im Kies für die Eier von Huchen, die ausgewachsen mehr als einen Meter lang werden können, oder Äschen, die nur etwa halb so lang werden. Wenn sich die Lebensbedingungen so stark verändern, klappt es oft nicht mehr mit dem Fisch-Nachwuchs.
ATMO (Wasserrauschen Schallarchiv)
SPRECHERIN
Hinzu kommt: Diese hochspezialisierten Arten sind an starke Strömungen angepasst. Sie mögen frisches, kühles Wasser. Doch inzwischen werden viele Flüsse gestaut, im Oberwasser nimmt dadurch die Strömung ab. Die Bauten in den oft begradigten und ausgebauten Fließgewässern sind für junge Fische, aber besonders auch für wandernde Arten ein Problem. Sie können nämlich die künstlich geschaffenen Barrieren nicht überwinden. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts – als man in Bayern noch Flusslandschaften mit weit verzweigten Armen, Schotterbänken und Kiesflächen fand - gab es örtlich sogar noch Lachse und Störe. Michael Schubert.
O-TON 8
Verschwunden sind so die Langdistanz-Wanderfischarten. Also Lachse gibt es natürlich in Bayern nicht mehr im fränkischen Gebiet. Auch die Störe sind weg, weil die mit dem ersten Wehr, mit dem ersten Kraftwerk, das gebaut wurde, eigentlich den Zuzug nach Bayern nicht mehr geschafft haben.
SPRECHERIN
Inzwischen findet man mehr als 4.200 Wasserkraftanlagen im Freistaat.
In der Donau zum Beispiel gibt es im Schnitt alle vier Kilometer einen Staubereich, sagt Jürgen Geist.
O-TON 9
Wenn jetzt ein Querbauwerk, also ein Damm in ein Fließgewässer gebaut wird, dann verändern sich natürlich diese Bedingungen. Die Strömungsgeschwindigkeit sinkt oberhalb des Damms ab, (…) das Geschiebe und Sediment wird nicht mehr transportiert, sondern lagert sich ab. Es kommt zur Verschlammung, und es kann natürlich auch dazu kommen, dass sich solche Gewässerbereiche stärker erwärmen als das in einem fließenden System der Fall wäre. Die Lebensgemeinschaften stellen sich darauf ein, und wir sehen dann eben, dass die Arten, die eigentlich auf diese strömenden Fließgewässer spezialisiert wären, dass die verschwinden oder zumindest weniger werden in diesen Systemen. Und auf der anderen Seite Arten, die man eigentlich gar nicht in diesen Fließgewässer-Regionen finden würde, hochrückige Arten wie der Karpfen, (…) dass die dann plötzlich eben in solchen Staubereichen auch vorhanden sind.
SPRECHERIN
Nicht nur Karpfen, auch Waller profitieren von den veränderten Lebensbedingungen. Waller, die am Maul markante Barteln haben, fressen andere Fische, Schnecken, Krebse oder auch Insekten und können Rekordlängen über zwei Meter erreichen.
ATMO (Wasserkraft, Schallarchiv)
Musik: Secret proofs 0‘42
SPRECHERIN
Wasserkraft gilt als umweltfreundliche Energiegewinnung. Für die meisten Fische aber ist die Passage lebensgefährlich. So können Druckveränderungen die Schwimmblase platzen lassen. Das Organ dient Fischen unter anderem zur Stabilisierung im Wasser. Kommt es zu direktem Kontakt mit den Turbinenschaufeln werden die Tiere verletzt oder gar getötet. Dokumentiert sind leichtere Verletzungen wie Schuppenverlust, aber auch Einblutungen an den Augen, Quetschungen, Wirbelbrüche und das Abtrennen von Körperteilen. Viele Wasserkraftwerke wurden nachgerüstet. Neue Anlagen sollen die Fische noch besser schützen. Doch die Passage bleibt gefährlich, sagt Jürgen Geist, der unterschiedliche Anlagen untersucht hat.
O-Ton 10
Wir haben gesehen, dass auch bei einigen der innovativen Wasserkraftanlagen deutliche Sterblichkeiten auftreten. Ja, die bewegen sich im optimalsten Fall im einstelligen Prozentbereich direkter Sterblichkeit der Fische bei der Passage von solchen Anlagen, können aber auch deutlich über 40, bei manchen Arten und Größenklassen sogar bis 50, 60, 70 Prozent liegen.
SPRECHERIN
Besonders groß ist die Gefahr für den Aal mit seinem schlangenhaften Körper. Aale schlüpfen in der Sargassosee östlich von Florida. Die jungen Fischlarven treiben mit den nordatlantischen Strömungen bis vor europäische Küsten, leben im Süßwasser und wandern Jahre später zur Fortpflanzung gut 8.000 Kilometer zurück in die Sargassosee.
Um Verletzungen zu vermeiden, werden vor den Wasserkraftwerken oft sogenannte Feinrechen angebracht, also eng beieinander stehende Stäbe. Sie sollen größere Fische abhalten. Doch Wissenschaftler haben beobachtet, dass es viele Arten trotzdem schaffen, sich durch die Stäbe zu quetschen. Für kleinere Fische stellen die Rechen sowieso keinen Schutz dar, betont Jürgen Geist.
O-TON 12
Wenn man sich mal die Größenverteilung von Fischen in einem Gewässer anschaut, dann ist es einfach aufgrund der Gesetzmäßigkeiten, der Nahrungspyramide (…) so, dass die überwiegende Mehrzahl der Individuen relativ klein ist und nur sehr wenige sehr groß sind. Diese großen Individuen, die können geschützt werden, durch solche Rechen. Aber der überwiegende Anteil dieser kleineren Fische ist in der Lage, diese Anlagen zu passieren.
SPRECHERIN
Eine andere Möglichkeit, um Verletzungen zu vermeiden, ist das Abschalten der Turbinen zur Hauptwanderzeit. Teilweise werden den Fischen auch sichere Bypässe angeboten, also Umgehungswege, die um Kraftwerke führen. Zudem wird mithilfe von Artenhilfsprogrammen immer wieder versucht, bedrohte Fischarten zu züchten und wieder anzusiedeln – doch das gelingt nur, wenn das Habitat passt.
ATMO (Wind, Wasser, See)
Musik: climate change A 0‘22
SPRECHERIN
Auch der Klimawandel setzt den heimischen Fischen zu. Flüsse führen im Sommer oft nur wenig Wasser, das Wasser erwärmt sich schneller, der natürliche Lebensraum wird kleiner. Auch die Wassertemperaturen in Seen nehmen zu. Vor allem kleinere, nicht so tiefe Gewässer überhitzen. Michael Schubert.
O-TON 13
Das große Problem ist, dass die Fische wechselwarm sind. Also sie können nicht wie wir ihre Temperatur regulieren. Sie sind also auf die Umgebungstemperatur angewiesen. Dementsprechend wenn es zu warm wird, müssten sie auch dem ausweichen.
SPRECHERIN
In tieferen Seen haben kälteliebende Fische wie Renken die Möglichkeit, nach unten, in kühlere Bereiche abzuwandern. Doch dann tummelt sich eine große Zahl von Fischen in bestimmten Wasserschichten und konkurriert dort um Nahrung und Sauerstoff. In kleineren, flachen Seen ist ein Ausweichen dagegen nur schwer möglich. Hitze bedeutet Stress für die Tiere. Auch nimmt in heißen Sommern oft der Sauerstoffgehalt des Wassers dramatisch ab. In kleinen Seen rücken dann Feuerwehren an, die mit Pumpen Wasser entnehmen und über Werfer wieder in das Gewässer zurückleiten. Manchmal sind – wie am Weßlinger See im Landkreis Starnberg – auch feste Anlagen installiert. Durch das Aufwirbeln soll das Wasser mit Sauerstoff angereichert und die Umwälzung verbessert werden
MUSIK: Prayer wheel (red) 0‘52
SPRECHERIN
Höhere Temperaturen verändern aber auch in tieferen Seen das filigrane Gleichgewicht. Der Starnberger See ist bis zu 128 Meter tief, der Bodensee bis zu 251 Meter. Vier Grad kaltes Wasser ist am schwersten und befindet sich am Grund. Je wärmer das Wasser, desto geringer die Dichte, desto stabiler die Schichtung. Im See bilden sich deshalb unterschiedliche Wasserschichten aus. Im Hochsommer kann sich das oberflächennahe Wasser im Starnberger See auf bis zu 26 Grad erwärmen. Normalerweise werden die unterschiedlichen Schichten im Herbst und Frühjahr – unterstützt durch Stürme - durchmischt. Frischer Sauerstoff gelangt in die Tiefe. Doch die Sommer sind länger und heißer als früher, die Winter milder. Michael Schubert:
O-TON 14
In so tiefen Seen wie dem Starnberger See oder Bodensee durchmischt sich das Wasser nicht mehr so häufig und so gut, wenn das Wasser eben durch diesen Klimawandel zu lange warm ist und sich zu stark einschichtet.
ATMO (Badende)
SPRECHERIN
Eine weitere Gefahr: Langanhaltend hohe Temperaturen, viel Sonnenschein und wenig Wind fördern das Algenwachstum. Kommen dann noch Nährstoffe aus landwirtschaftlicher Düngung in die Gewässer, kann das zu einer Massenentwicklung der sogenannten Blaualgen führen. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um Algen, sondern um Cyanobakterien. Diese Bakterien bilden im Wasser grüne Schlieren und produzieren Gifte. Bei hoher Konzentration können die Toxine bei Badenden unter anderem Hautreizungen verursachen. Fische verenden.
ATMO (Wind, Wellen – Schallarchiv)
Musik: Surgery 0‘37
SPRECHERIN
An einigen bayerischen Seen wird angesichts des Klimawandels inzwischen über Seethermie nachgedacht. Das Prinzip: Warmes Wasser wird entnommen, die Wärme zum Heizen genutzt und das kalte Wasser wieder zurückgeleitet. In Prien am Chiemsee soll so zum Beispiel ein Thermalbad geheizt werden. Laut Planern kann man auf diese Weise knapp 100 Tonnen CO2 im Jahr einsparen. Auch am Ammersee, Starnberger See und Tegernsee gibt es entsprechende Überlegungen. Jürgen Geist:
O-TON 15
Vom Prinzip her hört sich das ja zunächst mal logisch an und auch nach einer guten Idee an. Dass man sagt, wenn die Gewässer ohnehin wärmer werden, warum sollte man das nicht nutzen und zeitgleich sozusagen eine Maßnahme haben, wie man hier auch wieder eine Abkühlung schaffen kann in dem Gewässer. In der Realität ist es aber natürlich deutlich komplexer, weil man das noch einmal in der Wirkung während verschiedener Jahreszeiten beleuchten muss. Weil man das im Fall der Seen auch beleuchten muss vor dem Hintergrund, wie verändert das diese grundlegenden Prozesse in den Seen. Und da haben wir aus der Praxis heraus schon häufig Erfahrungen gemacht in unseren fischbiologischen, gewässerökologischen Projekten, dass eben die Theorie und die Praxis sich dann doch manchmal unterscheiden.
ATMO (Segelflattern, paddeln, Badegäste)
SPRECHERIN
Seen wie der Starnberger See, der Ammersee oder der Chiemsee sind bei Freizeitsportlern beliebt. An sonnigen Tagen tummeln sich Hunderte Badende, Stand Up-Paddler, Wind- und Kite-Surfer, Ruder-, Tret- und Segelboote auf den Voralpenseen. Der Freizeittourismus kann zum Problem für die Fischbrut werden, sagt Michael Schubert vom Institut für Fischerei.
O-TON 16
Die halten sich halt über einen artspezifischen Zeitraum in ganz, ganz seichten Regionen auf, das sind wenige Zentimeter teilweise. Weil sie’s recht warm lieben. Und wenn man da rumtrampelt, möchte ich schon sagen, ist es halt schon ein Problem, weil die Fische entweder wirklich zertrampelt werden oder auch einfach dauernd aufgescheucht.
Musik: Obscure intrigue 0‘54
SPRECHERIN
Auch besteht die Gefahr, dass durch die Schifffahrt in Flüssen und durch Wassersportler an Seen invasive Arten eingeschleppt werden. Am Bodensee zum Beispiel bereitet Biologen die Quagga-Muschel Sorgen. Sie wurde möglicherweise über Boote eingetragen, vielleicht auch durch Vögel. Ursprünglich ist die Muschel mit der gestreiften Schale im Aralsee und dem Schwarzmeerraum beheimatet. Am Bodensee breitet sich die invasive Art inzwischen stark aus und stellt zunehmend eine Gefahr für andere Lebewesen dar. Die Muschel filtert Plankton aus dem Wasser – so dass Fische oft nicht mehr genügend Nahrung finden. Berufsfischer beklagen zudem, dass sich die Quagga-Muschel in Reusen, Leinen und Netzen festsetzt. Am Starnberger See wurde die Muschel nicht nachgewiesen – noch nicht. Michael Schubert.
O-TON 17
Wahrscheinlich muss man so realistisch sein. Irgendwann wird diese Art überall vorhanden sein. Sie können sich vorstellen, mit diesen Stand-up-Paddlern und wer alles Kreuz und quer unterwegs ist und sein Sportgerät vom Wasser zu Wasser transportiert. Das kann man fast wahrscheinlich nicht mehr aufhalten.
SPRECHERIN
Auch Fischerin Susanne Huber ist alarmiert:
O-TON 18
Wir haben im übertragenen Sinne die Quagga-Muschel vor der Tür stehen. Und wenn wir die im See haben, (…) am Bodensee und auch in den Schweizer Seen wächst die halt unheimlich, dann haben wir noch mal einen Futterkonkurrenten für die Renken und nochmal ein Tier, das sich ohne Feind vermehren kann.
SPRECHERIN
Die Quagga-Muschel wird zwar von Sandfelchen, Schleien und auch von Rotaugen gefressen – doch nicht in ausreichender Menge. Studien gehen davon aus, dass sich die Muschel im Bodensee weiter ausbreiten wird. Es werden Verhältnisse wie im US-amerikanischen Lake Michigan befürchtet. Dort stellt die Muschel inzwischen 90 Prozent der Biomasse.
ATMO (Angelrute auswerfen – Schallarchiv)
Musik: Undercover investigations red 0‘24
SPRECHERIN
Probleme bereiten auch überschüssige Köderfische oder auch freigelassene Tiere aus Aquarien. Auch sie können eine Gefahr für die heimische Fauna darstellen. So verdrängen Sonnenbarsche, die ursprünglich aus Nordamerika stammen und als Zierfische populär sind, Flussbarsche. Fischerin Susanne Huber:
O-TON 19
Man hat ab und zu mal irgendwelche, wirklich komischen Fische, die nicht hergehören. Und wenn man jetzt vermeintlich irgendein Fischlein aus einem Teich, aus einem Gartenteich, aus einem Aquarium in den See setzt, um das arme Fischlein am Leben zu halten, dann richtet man vielleicht eine ganze Population im See zugrunde.
ATMO (Kormorane – Schallarchiv)
SPRECHERIN
Eine weitere Gefahr für heimische Fische - Fraßdruck zum Beispiel durch Kormorane. Der Fisch fressende Beutegreifer war in den 1920er Jahren in Mitteleuropa fast ausgerottet. 1979 wurde der dunkel bis schwarz gefärbte Vogel mit dem langen Hals unter Schutz gestellt. Laut Bayerischem Landesamt für Umwelt wuchs die Zahl der brütenden Paare in Bayern seit den 1980er Jahren an. In den letzten Jahren wurden - mit Schwankungen – um die 600 Brutpaare gezählt. Fischwirtschaftsmeisterin Susanne Huber:
O-TON 20
Ich glaube, dass die ganzjährigen Kormorane bei uns am See nicht so schlimm sind oder nicht so gravierend wie zum Beispiel am Ammersee. Die haben halt auch Brutkolonien. Aktuell haben wir einen Schwarm Kormorane da. Ich glaube, das waren so 200 Stück. Und wenn ich mir dann überleg, wieviel die fangen.
Musik: Rivalry fight 0‘32
SPRECHERIN
Denn die Zugvögel sind geschickte Jäger, die sich gemeinschaftlich auf Beutefang machen. Während ein Teil der Vögel durch Flügelschlagen einen Fischschwarm zusammentreibt, fischt der andere Teil. Nach einiger Zeit wechseln sich die Gruppen ab. Um fischereiwirtschaftliche Schäden abzuwenden, dürfen Kormorane zu bestimmten Zeiten außerhalb von Naturschutzgebieten, Nationalparks und Vogelschutzgebieten in der Nähe von Gewässern abgeschossen werden.
ATMO (Wasser, Wind)
SPRECHERIN
Noch gibt es im Starnberger See knapp 30 Fischarten. Im Schilfbereich am Ufer findet man zum Beispiel Raubfische wie Hechte, die dort auch ihre Kinderstuben haben. Außerdem tummeln sich Renken, Saiblinge, Seeforellen, Brachse und Karpfen im Wasser. Und nur weil Fischer manchmal leer ausgehen, heißt es nicht, dass es keine Fische gibt. Die Experten vom Institut für Fischerei fahren regelmäßig mit dem Echolot über die bayerischen Voralpenseen. Michael Schubert.
O-TON 21
Die meisten Fische haben wir im Chiemsee, im Tegernsee, im Kochelsee, während der Ammersee zum Beispiel sehr, sehr Fisch-arm ist und der Starnberger See, solche Seen landen vielleicht im Ranking dazwischen. /
Insgesamt fangen die Fischer sehr nachhaltig. Das möchte ich betonen, auch wenn es vielleicht einmal an dem ein oder anderen See weniger Fisch gibt. Das ist über die Fanggeräte so geregelt, über den Einsatz, dass da kein Raubbau betrieben wird.
SPRECHERIN
Der Verzehr von heimischen Fischen ist gesund und angesichts geringer Transportwege auch gut für die Umwelt. Susanne Huber würde sich wünschen, dass die Kunden offener werden, nicht nur Renken nachfragen. Sie betreibt die Fischerei nur im Nebenerwerb, ihre Familie vermietet noch Zimmer und Ferienwohnungen. Doch obwohl das alte Handwerk nicht sehr viel abwirft, möchte Susanne Huber die Tradition fortführen. Fischen darf am Starnberger See, wer Mitglied in der „Fischereigenossenschaft Würmsee“ ist und die Qualifikation des Fischwirtschaftsmeisters hat. Hier kann die Erlaubnis zum Fischen nur weitervererbt werden. In Susanne Hubers Betrieb wird es weitergehen – ihre Tochter fährt bereits mit auf den See.
Musik: Green planet red 0‘42
O-TON 22
Es ist viel Aufwand. Aber es ist eben auch ein Privileg, (…) dass man es machen darf, dass man in der Lage ist, hier die Fischerei auszuüben. (…), dass man in der Situation ist, das alles zu haben. (…) Es ist schon auch ein gewisser Reichtum, einen Beruf zu haben, wo man so ausgeliefert ist, wo man sich einfach schon oft fügen muss, wo man nicht alles ausrechnen kann. (…) Licht, Wolken, Wasser, Tiere, das ist auch eine Art Reichtum
Gian Lorenzo Bernini war einer der bedeutendsten italienischen Architekten und Bildhauer des Barock. Er prägte das Erscheinungsbild Roms wie kein zweiter. Bernini verließ die Stadt so gut wie nie und arbeitete für insgesamt acht Päpste. Von Gabriele Knetsch (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Gabriele Knetsch
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Irina Wanka, Jerzy May
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Artemisia Gentileschi - Malerin des Barock
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Literaturtipps:
Gut geschriebene Biographie, die auch die historischen Umstände der Päpste in Rom mitberücksichtigt:
Arne Karsten, „Bernini – der Schöpfer des Barocken Rom“, München 2017.
Umfangreicher Ausstellungskatalog mit zahlreichen Abbildungen, der Einblicke in Motive und Denkmuster barocker Kunst gibt: Sabine Haag, Taco Dibbits, „Caravaggio – Bernini, Entdeckung der Gefühle“.
Schöner kleiner Bildband, der Skizzen und Zeichnungen des Künstlers zu seinen großen Auftragsarbeiten dokumentiert: Gianlorenzo Bernini, „Zeichungen“, Hg. Karl-Heinz Mehnert, Insel, Leipzig 1982.
Als Naturwissenschaftlerin ist Marie Curie weltberühmt - und sie ist die Begründerin einer Dynastie bedeutender Forscherinnen: Ihre ältere Tochter Irène wird ebenso Nobelpreisträgerin. Die Enkelin wird eine bekannte Kernphysikerin. Maries jüngere Tochter Eve hingegen macht sich als Kriegsreporterin einen Namen. Von Steffi Illinger
Credits
Autorin dieser Folge: Steffi Illinger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Berenike Beschle, Katja Amberger, Jenny Güzel
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Yvonne Maier
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Claudine Monteil, Autorin, Historikerin;
Alina Schadwinkel, Wissenschaftsjournalistin, Autorin
Linktipps:
Ein spannender Artikel von ARD alpha:
Marie Curie: Physikerin, Forscherin, Pionierin - Die Frau mit den zwei Nobelpreisen
ZUM ARTIKEL
Vierteiler zu Marie Curie in der ARD Mediathek:
Das Geheimnis der Radioaktivität (1/4)
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Kalenderblatt zur Entdeckung der künstlichen Radioaktivität durch Irène und Frederic Joliot-Curie:
Entdeckung künstlicher Radioaktivität veröffentlicht
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Der Instagram-Kanal „FrauenGeschichte“ hat auch schon über die Frauen der Familie Curie berichtet:
Marie Curie:
EXTERNER LINK | https://www.instagram.com/p/CquWCKyKAzt/
Irène Curie:
EXTERNER LINK | https://www.instagram.com/p/Cqw6zi4O-m-/
Eve Curie
EXTERNER LINK | https://www.instagram.com/p/Cqzfll8qYVm/
Literaturtipps:
Claudine Monteil: Marie Curie und ihre Töchter. Suhrkamp Verlag 2023, ISBN 978-3-458-68278-3.
Alina Schadwinkel: Marie Curie. Reclam 2014, ISBN: 978-3-15-020428-3.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
WIE WIR TICKEN - EUER PSYCHOLOGIE-PODCAST
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Schimpansen behandeln Wunden mit einer Insektenpaste. Finken baden in Ameisensäure, um Parasiten im Gefieder loszuwerden. Die Wissenschaft weiß immer mehr darüber, was drin steckt in den tierischen Apotheken. Von Susi Weichselbaumer
Credits
Autorin dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Berenike Beschle, Thomas Birnstiel, Peter Weiß, Marcus Ter Hast, Christopher Mann, Marlen Reichert, Peter Veit
Technik: Christine Gerheuser-Kamp
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Prof. Simone Pika, Institut für Kognitionswissenschaft, Universität Osnabrück (Vergleichende Kognitionsbiologe)
Prof. Michael Hufmann, Wildlife Research Center, Universität Kyoto (Biologe)
Prof. Jaap (Jacobus) de Rhode, Emory University Atlanta (Biologe)
Prof. Michael Singer, Wesleyan Universität Michigan (Biologe)
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Literatur:
De Rhode, Jaap (März 2025): Doctors by Nature. How Ants, Apes and other Animals Heal Themselves. Princeton University Press.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Dunkelgrün, hellgrün, apfelgrün, oliv- – Vereinzelte Sonnenstrahlen dringen durch die dichten Baumkronen.
SPRECHER
Pausenlos tropft es von oben. Die Luft drückt schwülwarm. Es riecht nach nasser Erde. Und fauligem Holz.
SPRECHERIN
Verborgen im Dickicht hält Simone Pika aus. Still. Stundenlang. Sie ist Biologin an der Universität Osnabrück. Im Loango Nationalpark in Gabun, an der westafrikanischen Atlantikküste beobachtet sie regelmäßig eine Gruppe Schimpansen.
SPRECHER
Das verlangt Ausdauer, ist aber der einzige Weg, um herauszufinden: Wie funktioniert Schimpansen-Medizin?
SPRECHERIN
Zum Beispiel, wenn es mal wieder handfesten Ärger gegeben hat mit einer der Schimpansengruppen ein paar Bäume weiter.
SPRECHER
Typische „Schimpansen-Nachbarschafts-Fehde“…
SPRECHERIN
Mal die einen, mal die anderen…
SPRECHER
So eine satte Fleischwunde tut weh... und dann geschieht etwas Eigenartiges.
1 ZU Pika 3:55
Man kann die Tiere dabei beobachten, wie sie unter einem Baum stehen oder unter einem Busch sitzen und gezielt in der Umgebung umher kucken, dann das Insekt, dass sie sich ausgesucht haben, fangen.
SPRECHERIN
Erzählt Simone Pika. Sie und ihr Team vom Ozouga-Schimpansenprojekt haben vor kurzem entdeckt, dass Schimpansen bei Verletzungen nicht nur antibakteriell wirkende Blätter auflegen als Verband, sondern zusätzlich eine Art Insektentherapie anwenden:
2 ZU Pika 3:55
Dann wird dieses Insekt in den Mund genommen, wird dort zwischen den Lippen gedrückt und dann nehmen die Tiere dieses Insekt mit den Fingern aus dem Mund, tragen es auf die Wunde auf, meistens auf den Wundrand.
MUSIK / ATMO ENDE
SPRECHERIN
Welche Tiere bevorzugt ausgequetscht werden, ist noch unklar. Auch wie sich die Flüssigkeit zusammensetzt, die als Balsam dient –
SPRECHER
Und ob die tatsächlich wundheilend wirkt?
SPRECHERIN
Das wird sich weisen. Hat es bislang immer, vertraut Michael Huffman. Er ist Biologe an der Universität Kyoto. Bei Feldversuchen im Nationalpark Tansania hat er vor gut 40 Jahren als erster Forscher nachgewiesen: Schimpansen können sich selbst medizinisch versorgen.
SPRECHER
Geduld hat Michael Huffman dafür jede Menge gebraucht.
SPRECHERIN
Glück und Zufall schaden in der Wissenschaft auch nicht.
3 ZU Huffman 0.09
I had no intention… light bulb over my head.
OVm1
Ich habe zufällig gemerkt, dass es einem Tier aus unserer Beobachtungsgruppe nicht gut ging. Plötzlich fraß die Schimpansin etwas, was sie vorher nie gegessen hatte. Mein einheimischer Führer Mohammedi kannte diese bitteren Blätter, seine Familie macht daraus traditionelle Medizin gegen Darmkrankheiten. Da ging mir ein Licht auf!
MUSIK Be fed playfully 0.47 min
SPRECHERIN
Ein aufgegangenes Licht allein reicht nicht, stellt Michael Huffman schnell fest. Vernonia Amygdalina – zu Deutsch: Bitterkraut – ist in den tropischen Regionen Afrikas heimisch. Aber wenn darüber hinaus noch viel mehr Pflanzen, Substanzen, was auch immer reingehören in den tierischen Erste-Hilfe-Koffer?
SPRECHER
Der Primatologe entwickelt Untersuchungsdesigns, will Zusammenhänge finden: Was macht Schimpansen krank, was nehmen sie dagegen und: Hilft das?
SPRECHERIN
Eine Lebensaufgabe. Zig Beobachtungsstunden, Tage, Monate, Jahre fließen in das Projekt.
SPRECHER
Michael Huffman fuchst sich rein in Parasitologie, weil das vielleicht ein Hauptgesundheitsproblem sein könnte von Primaten. Und: Huffman ist nicht lange allein. Weltweit interessieren sich Forschende plötzlich dafür: Gibt es und was können tierische Doktoren?
SPRECHERIN
Die Forschungsrichtung bekommt einen Namen: Zoopharmakognosie.
SPRECHER
Und: Deren Repertoire ist –
SPRECHERIN
Wie sich nach und nach herausstellt –
SPRECHER
Riesig!
MUSIK/ Way of progress 2 0.59 min
ZITATORIN
Tierische Medizin – Gängige Therapien
ZITATOR
Das Ameisenbad
ZITATORIN
Krähen, Elstern, Drosseln – viele Vögel hüpfen in Ameisenhaufen. Die Ameisen wehren sich mit Ameisensäure. Die Vögel baden ihr Gefieder darin. Läuse, Milben oder Zecken finden das unaushaltbar und ziehen aus aus dem Federkleid.
ZITATOR
Die Schrubbelkur
ZITATORIN
Hat ein Delfin Hautprobleme reibt er sich an Korallen oder Schwämmen. So angeschrabbert geben die ein Sekret ab, eine Art antibakteriellen Schleim. Spannkraft, Glätte, Frische – parasitenfrei – Die Delfinhaut dankts!
ZITATOR
Die Grasreinigung
ZITATORIN
Haben Hunde und Katzen Verdauungsprobleme, fressen sie Gras. Das Restgeschäft erledigt sich von selbst. Studien zeigen: Füchse kennen den Trick auch.
MUSIK ENDE
4 ZU Huffman (10:39)
There are four different ways…
OVm1
Es gibt vier verschiedene Arten der Medikation wenn sich Tiere krank fühlen.
SPRECHERIN
Erklärt Biologe Michael Huffman.
5 ZU Hufmann (10:39)
One is purely behavioural…
OVm1
Strategie 1 ist sich schlicht fernzuhalten von allem, was krank macht. Brackiges Wasser zum Beispiel. Tiere haben zu ihrem Schutz ein ähnliches Ekelempfinden wie wir Menschen. Die zweite Stufe ist die Prophylaxe. Etliche Tiere fressen zu bestimmten Jahreszeiten besondere Pflanzen, die sie weniger anfällig machen für Parasiten. Bei Stufe 3 und 4 wird es richtig spannend im medizinischen Sinn. Einmal: Was nehme ich ein, also stecke ich als Heilmittel in den Mund? Und: Was trage ich auf? Wie eine Lotion auf die Haut oder auch als eine Art Raumspray oder Wandverputz in Höhle und Nest.
MUSIK/ Way of progress 1 0.41 min
ZITATORIN
Tierische Medizin – Pillen, Pasten, Prophylaxen
ZITATOR
Die Tannin-Prophylaxe
ZITATORIN
Das Summatra-Nashorn frisst Baumrinde, die besonders reich ist an Tannin. Danach schaut kein Magen-Darm-Parasit mehr freiwillig vorbei. Schafe holen Tannin aus Laub und Klee – auch für ein gutes Bauchgefühl.
ZITATOR
Die Drachenbaumsalbe
ZITATORIN
Orang-Utans auf Borneo reiben ihre Arme und Beine mit einer grünlichen Paste aus Speichel und kleingekauten Blättern des Drachenbaums ein. Hilft gegen Muskelkater, Gelenkschmerzen und Schwellungen.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Die tierische Apotheke kennt viele Tricks. Manche Tierarten wenden ähnliche an, andere suchen Speziallösungen.
SPRECHER
Aber: Woher wissen Tiere, was jeweils wem wogegen hilft?
MUSIK Towards progress A 0.27 min
SPRECHERIN
Knifflig, sagt Michael Singer. Er ist Biologe an der Wesleyan University in Connecticut und hat unter anderem zu Pinken Tigermotten geforscht. Diese etwa zwei Zentimeter großen, schwarz-weiß-orange-pink gemusterten Falter kommen vor allem im Westen und Süden der USA vor. Anders als etliche andere Insektenarten ernähren sich ihre Raupen nicht von einer Pflanze oder einer Pflanzenart. Sie robben rum und mögen Mischkost.
SPRECHER
Allerdings bloß, wenn sie sich fit fühlen!
6 ZU Singer 0.43
As soon as …
OVm2
Ursprünglich wollte ich nur das allgemeine Fressverhalten der Raupen untersuchen. Dann stellte sich heraus: Sobald sie ein tödlicher Parasit befällt, wählen die Raupen spezielle Pflanzenteile und die machen sie resistent gegen die tödlichen Parasiten.
SPRECHERIN
Parasitenfreie Raupen würden diese Blätter nicht mal anknabbern.
SPRECHER
Tiermedizinisch also schlichtweg ein: Gewusst wie?
7 ZU Singer 2.31
I would not …
OVm2
Ich würde das jetzt nicht als Wissen bezeichnen. Das Verhalten der Raupen ist bestimmt durch natürliche Selektion. Das sind Reaktionen auf veränderte Umweltbedingungen. Die Raupen entscheiden nichts bewusst. Offenbar erzeugt das periphere Nervensystem andere Reize, wenn die Raupen von Parasiten befallen sind, als sonst. Nicht unbedingt das zentrale Nervensystem, das man vielleicht so ein wenig verstehen könnte als Raupengehirn. Nein, sobald eine Raupe befallen ist, bekommt sie Appetit auf eben diese medizinalen Stoffe. Ihr Geschmacksempfinden verändert sich.
SPRECHERIN
Es setzt also eine Art medizinischer Mechanismus ein. Wie bei etlichen Insektenkindern:
MUSIK Towards progress C 0.38 min.
SPRECHER
Von Bärenspinnerbabys zum Beispiel, die beiden oberen Flügel schwarz-weiß gepunktet, das untere Flügelpaar satt orange gibt es weltweit über 11.000 Arten. Mehr als 100 davon in Europa. Die Raupen dieser Schmetterlinge sind kleine graue Rundumpelzwesen.
SPRECHERIN
Die sich häufig herumschlagen müssen mit parasitären Wespen, erzählt Verhaltensforscher Michael Huffman.
8 ZU 17.77 Hufmann
These wasps lay eggs…
OVm1
Diese Wespen legen ihre Eier in die Raupen, und dort wachsen die Larven wie so implantierte Kreaturen aus dem All. Die Schmetterlingsraupe wird immer dicker – und wenn das unbehandelt bleibt, tötet der Parasit die Raupe und dann platzt die so auf und raus kommt die junge Wespe… wie im Film „Alien“.
SPRECHERIN
Bestimmte Blätter fressen – hilft. Der Raupe.
SPRECHER
Für den Parasiten: Tschö mi Öh, sagt Jaap de Rohde. Er ist Biologe an der Emory University in Atlanta und Autor des Buches „Doctors by Nature“.
9 ZU Jaap 3.10
These caterpillars…
OVm3
Diese Raupen müssen nichts lernen. Wenn sie befallen sind, stellt sich automatisch das Verlangen nach den heilenden Substanzen ein. Das ist ein Weg in der Natur. Andere Arten lernen aus Erfahrungen. Schafe und Ziegen, da gibt es Studien inzwischen: Die probieren verschiedene Pflanzen aus, wenn sie sich krank fühlen, und merken sich was ihnen hilft. Und dann gibt es das ganz große Feld des Sozialen Lernens.
SPRECHERIN
Insekten verdanken medizinische Fähigkeiten wohl hauptsächlich der Evolution. Säugetiere sammeln pharmazeutische Kenntnisse im Laufe des Lebens. Ob es ausgewiesene Lehrer, Heiler, Weise gibt unter den Artgenossinnen und Artgenossen in der Primatengruppe, der Schafherde oder auf der Kuhweide – dafür sucht die Forschung noch Belege.
SPRECHERIN
Was schon bewiesen ist, weil oft beobachtet: Ob Elefant, Delfin, Ziege, Hund, Katze, Maus – die medizinische Basisausbildung –
SPRECHERIN
Macht die Mama!
10 ZU Jaap 3.10
There are clear examples…
OVm3
Junge Schimpansen folgen im Verhalten ihren Müttern. Wenn die ihnen etwas anbieten, was sie noch nie gegessen haben – dann geben sie dem eine Chance. Wenn ihr Junges krank ist, bringt die Mutter ihm bei: Diese Pflanze schafft Linderung. Bei Schafen hat man das auch festgestellt: Die Mama zeigt dem Lämmchen, dass Klee hilft gegen Bauchweh oder Infektionen. Das Lämmchen macht es nach.
SPRECHERIN
In späteren Lebensjahren schauen sich Säugetiere weitere medizinische Kompetenzen ab von den Peers. Paradebeispiel: Die Schimpansen, die Verhaltensbiologin Simone Pika in Gabun begleitet.
MUSIK / ATMO Animals playing catch 0.31 min.
SPRECHER
Unter dem dichten dampfigen Regenwaldblätterdach im Loango Nationalpark an der westafrikanischen Atlantikküste geraten die Tiere regelmäßig aneinander mit anderen Gruppen in der Nähe. Es geht um Futterstellen oder Schlafplätze –
SPRECHERIN
Um Dieses, Jenes -
SPRECHER
Oder alles.
SPRECHERIN
Am Ende ist auf jeder Seite medizinische Versorgung zu leisten. Blätter auflegen auf die Wunde, herumwickeln als Verband. Plus, wie Simone Pika und ihr Team beobachtet haben:
MUSIK Be fed plafully 0.19 min.
ZITATOR
Die Insektensalbe
ZITATORIN
Ist ein Schimpanse verwundet, schnappt er sich ein Insekt, nimmt es in den Mund, beißt drauf und trägt den Insektensaft sorgsam auf die Wundränder auf – falls nötig wird das wiederholt: Insekt in den Mund, draufbeißen, einreiben.
MUSIK ENDE
SPRECHER
In der Regel sammeln sich bei so einer Behandlung medizinisch Wissbegierige!
11 ZU Pika (14.55)
Wenn eine Insektenmedikation stattfindet, führt das dazu, dass die Tiere, die in der Nähe sind, ganz interessiert sind und die kommen dann alle an und kucken sich an, wie dieses Insekt aufgetragen wird und wenn man sieht, wie so eine Verhaltensweise entsteht, die dann hoffentlich dazu führt, dass die Wunde vielleicht schneller oder besser heilt, das macht mich immer ganz glücklich.
SPRECHERIN
Allerdings: Die Betonung liegt auf „hoffentlich“.
SPRECHER
Klar ist, dass die Schimpansen die Insektentherapie voneinander abschauen.
SPRECHERIN
Aber bislang kamen die Forschenden – unbemerkt – nicht nah genug heran, um sicher zu sagen: Wer wird da eigentlich zu therapeutischen Zwecken ausgepresst?
12 ZU Pika (5.34)
Das ist gerade unsere sehr faszinierende Forschungsfrage: Haben sich die Schimpansen auf bestimmte Insekten fokussiert, das heißt gibt es ein bestimmtes Wissen, welches Insekt verwendet werden kann?
SPRECHER
Und: Was kommt aus dem Insekt raus – mit welcher nachweislichen Wirkung?
SPRECHERIN
Viele offene Fragen – nach mehr als 40 Jahren Forschung zu tierischer Medizin oder wie der Fachausdruck heißt: Zoopharmakognosie. Das ist kein Wunder. Tatsächlich ist die Apotheke der Tiere so vielfältig und bunt wie das Tierreich. Parallelen gibt es. Manche Wirkstoffe nutzen mehrere Arten. Verbände oder Auflagen aus antibakteriellen Blättern sind gängig.
SPRECHER
Cremes aus zerkauten Pflanzteilen gegen Entzündungen oder zur Insekten- und Parasitenabwehr – auch das ein Klassiker.
SPRECHERIN
Am weitesten verbreitet aber ist wohl:
MUSIK / ATMO INFOKASTEN Wild mammoth
ZITATOR
Die bittere Blattpille
ZITATORIN
Primaten werden Würmer und Parasiten schneller los, wenn sie haarige Blattpillen schlucken, also raue Blätter zusammendrehen und unzerkaut runter damit. Das regt den Darm an und führt lästige Gäste dort ab. Vögel kennen diesen Trick auch. Bären genauso. Auch Stachelschweine.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Logisch, meint man: Je höher entwickelt die Spezies, desto ausgefuchster die medizinische Versorgung.
SPRECHERIN
Nö. In Sachen perfektem Gesundheitssystem läuft Sozialen Insekten keiner den Rang ab.
MUSIK/ ATMO Cinetic 2
SPRECHERIN
Honigbienen greifen zu patenten Maßnahmen, wenn es die medizinische Situation erfordert. Breitet sich im warmfeuchten Stock beispielweise Kalkbrut aus, ein Schimmelpilz, der den Bienennachwuchs in den Waben bedroht, ändert sich die Arbeitsorder für die Sammelbienen.
SPRECHER
Und der Speiseplan der Stockbienen.
SPRECHERIN
Auslöser dafür sind vermutlich chemische Substanzen, die die infizierten Larven abgeben als Hilferuf.
MUSIK Way of progress 1
ZITATOR
S.O.S. und neue Order an alle
ZITATORIN
Statt Pollen und Nektar, liefern die Bienen im Außendienst ab sofort vermehrt Baumharze. Das ist sonst Job nur einiger Kittsammelbienen. Mit einer Mischung aus Speichel, Nektar und eben viel Baumharz kleiden dann die Brutpflegerinnen den Wabenbereich aus. Der Pilz gibt auf. Die kommende Generation ist gerettet.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Auch wenn den älteren Bienen dafür der Magen knurrt.
SPRECHERIN
Im Superorganismus Bienenstaat geht es ums Überleben des Volkes.
Deswegen nutzen Bienen dieses Gemisch aus Baumharzen, Speichel und Nektar – Propolis – auch um das Flugloch des Stocks auszukleiden, als antibiotische Barriere. Bakterien, Viren und Pilze bleiben dadurch weitgehend draußen.
SPRECHER
In menschlichen Apotheken findet sich Propolis auch. Als Schmerzmittel und gegen Entzündungen. Überraschend ist das nicht. Viele indigene Völker schauten und schauen von Tieren ab, was aus der Pflanzenwelt medizinisch wie wirken könnte, erzählt der Biologe an der Emory University in Atlanta, Jaap de Rhode. Pharmakonzerne in modernen Industriestaaten machen das inzwischen ebenso.
13 ZU Jaap (15:52)
One of the most famous…
OVm3
Eines der bekanntesten Arzneimittel der Menschheit haben Bären entdeckt. Wenn Bären nach dem Winterschlaf aufwachen, sind die Muskeln steif, oft haben die Tiere Entzündungen. Also fressen sie erstmal die Rinde von Weidenbäumen. Darin enthalten ist Salicylsäure. Schmerzstillend, fiebersenkend, blutverdünnend. Das erkannten früh Heiler und Schamanen. Später die Pharmaindustrie, die begann Aspirin und Co. herzustellen. Die Inspiration kam aus dem Tierreich.
SPRECHERIN
Doch so simpel nach dem Motto: Was da hilft, hilft auch hier, ist es nicht. Von den weltweit bekannten rund 300.000 Pflanzenarten sind gerade mal 15 Prozent biologisch und chemisch vollständig erforscht. Was sich als Biopharmaka eignet wogegen – das bedarf ausführlicher Untersuchungen.
SPRECHER
Tiere können sicherlich nützliche Hinweise geben, was Heilmittel, Kuren, Therapien anbelangt.
SPRECHERIN
Hinweise, die man genau prüfen muss. Manche tiermedizinischen Ideen sind nämlich verwegen.
MUSIK/ ATMO_INFOKASTEN Be fed playfully
ZITATOR
Tierische Chirurgie
ZITATORIN
Die rötliche-braune Holzameise wird vier bis sechs Millimeter groß. Sind Nestkolleginnen verletzt, macht sie, was viele andere Ameisenarten auch machen: Erstmal antibakterielles Pflanzenmaterial auf die entzündete Stelle packen. Hilft das nicht, fackeln Holzameisen nicht lange – und kauen der Patientin ein Bein ab. Studien zeigen: 90 Prozent der Ameisen erholen sich nach einer solchen Operation wunderbar. Erfolgt die Amputation des kranken Beines nicht – etwa weil Forschende das künstlich im Laborexperiment verhindern – liegt die Überlebenschance bloß bei 40 Prozent. Und: Ohne diese OPs nimmt die Verbreitung von Infektionen innerhalb der Ameisenkolonie rapide zu.
MUSIK ENDE / ATMO
14 ZU Jaap (8:24)
The whole world out there…
OVm3
Die ganze Welt da draußen ist eine Apotheke, aber zugleich ein Lebensmittelladen. Und das ist für die Tiere die Herausforderung.
SPRECHERIN
Bilanziert Biologe Jaap de Rhode.
15 ZU Jaap (8:24)
As humans…
OVm3
Wir Menschen haben es leicht. Wir gehen in den Supermarkt oder in die Apotheke. Das gilt als Arznei, das als Essen. Obwohl: Ingwer ist auch beides, Essen und Arznei. Oder Grüner Tee, Kaffee…
SPRECHERIN
Bei Tieren müssen Forschende genau aufdröseln: Ist das Pausensnack und/ oder Therapeutikum? Das ist aufwendig.
SPRECHER
Kann sich aber für den Menschen lohnen.
MUSIK/ ATMO_INFOKASTEN Wild mammoth
ZITATORIN
Tierische Therapien
ZITATOR
Medizin zum Nachmachen
ZITATORIN
Primaten kauen bei Malariainfektionen die bitteren Blätter der Trichilia rubescens, das ist ein Mahagoni-Gewächs. Mit Erde vermischt wird daraus eine Blätterpampe. Deren chemische Struktur wirkt ähnlich wie Chloroquin, ein gängiges Malariamittel in unseren Apotheken. Gegen das allerdings entwickeln die Erreger zunehmend Resistenzen. Ein Problem für den Menschen. Nicht für die Primaten: Sie setzen bis zu acht verschiedene Blattsorten im Wechsel ein gegen die Krankheit. Die unterscheiden sich in ihrer chemischen Struktur und Wirkungsweise. So haben es Malariaerreger schwer.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Aktuell laufen Forschungsprojekte weltweit zum Thema tierische Medizin.
SPRECHERIN
Da geht es um Parasitenabwehr mit pflanzlichen Mitteln. Anti-Mücken-Sprays aus Naturstoffen. Grundsätzlich um: Biopharmaka statt Chemie.
SPRECHER
Was können wir von Tieren lernen? Diesen Ansatz verfolgt inzwischen auch die von Menschen bei Tieren angewandte Medizin. Studien auf großen Farmen im amerikanischen Mittleren Westen haben gezeigt: Landwirte können verzichten auf teure – und gesundheitlich bedenkliche – Antibiotika, wenn sie den Rindern oder Schweinen nicht nur Standardnahrung anbieten oder monotone Weideflächen, sondern Vielfalt.
MUSIK-INFOKASTEN Secret animal mission
ZITATOR
Bunter Medizinbaukasten
ZITATORIN
Hausschweine, die von Spülwürmern befallen sind, suchen aus einem breiten Nahrungsangebot Sonnenhut, also Echinacea aus, und Zitronenmelisse. Damit sind sie schneller und schonender entwurmt als Artgenossen, die zum Standardfutter chemische Entwurmungsmittel bekommen.
MUSKIKENDE
16 ZU Singer
I think each
OVm2
Jede Spezies hat eine spannende Medizingeschichte zu erzählen, wenn man genau hinschaut, sich Zeit nimmt und die richtigen wissenschaftlichen Methoden findet.
SPRECHERIN
Fasst Zoologe Michael Singer zusammen.
SPRECHER
Überhaupt gibt es nach knapp 40 Jahren Forschung zu Tierischer Medizin noch zig Fragezeichen.
SPRECHERIN
Die Apotheke Natur ist ja auch gigantisch groß.
ATMO/ MUSIK Z8032615 109 Animals playing catch
SPRECHER
Nochmal zurück zur Primatengruppe im schwülen Regenwald des Loango Nationalparks in Gabun, an der westafrikanischen Atlantikküste.
SPRECHERIN
Die sich regelmäßig mit den Nachbargruppen kloppt –
SPRECHER
Typisch –
SPRECHERIN
Schimpansen-Nachbarschaftsfehden.
18 ZU Pika (14:55)
Die Schimpansen setzen sich miteinander auseinander und die kämpfen miteinander, da greifen wir als Beobachter und Verhaltensbiologen nicht ein. Das schmerzt immer sehr im Herzen.
SPRECHER
Erzählt Simone Pika und berichtet von einem Phänomen, das die Forschung bis vor Kurzem noch für unmöglich gehalten hätte:
SPRECHERIN
Tiere betreiben nicht nur Selbstmedikation. Tiere helfen einander, Mütter den Jungen klar, aber –
SPRECHER
Auch die Raufbolde sich gegenseitig!
19 ZU Pika (14:55)
Wenn man beobachtet: Wow, jetzt haben sie was gefunden, womit es ihnen besser geht und wenn man dann sieht, wie die Tiere sich umeinander kümmern.
SPRECHER
Blätterverbände auflegen, Insektenpaste auftragen oder einfach nur da sein –
SPRECHERIN
Unterm Strich heißt das: Tierische Medizin ist mehr als Biopharmaka und Co. Sie zeigt mitunter auch: Gesundwerden ist doppelt schön
SPRECHER
Wenn sich wer kümmert.
Wombats sind nachtaktive Beutelsäuger, die in Australien leben und in selbst gegrabenen Höhlen wohnen. Ihr Territorium, das sie durch Kotmarkierungen kennzeichnen, verteidigen die stoischen Beuteltiere vehement. Von Margarete Blümel (BR 2021)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
In wenigen Tagen, am 28. Februar wird in Finnland der Kalevala-Tag begangen. Denn der Sammler des Kalevala, der Arzt Elias Lönnrot, datierte das Vorwort der Erstausgabe auf den 28. Februar 1835. Von Julia Devlin
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Stefan Wilkening, Sven Hussock
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Christian Niedling, Universität Turku
Arnika Groenewald-Schmidt, Belvedere Wien
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Weiterführende Links:
Die Gesellschaft für Finnische Literatur bietet das Epos in mehreren Sprachen auf ihrer Webseite an HIER
Literatur:
Hans und Lore Fromm, Kalevala - Das finnische Epos des Elias Lönnrot. Mit einem Nachwort von Hans Fromm. Wiesbaden 2005 - gute zeitgenössische Übersetzung
Christian Niedling, Zur Bedeutung von Nationalepen im 19. Jahrhundert. Das Beispiel von Kalevala und Nibelungenlied.Köln 2007 - eine Rezeptionsgeschichte des Kalevala
Stella Rollig, Arnika Groenewald-Schmidt, Akseli Gallen-Kallela. Finnland erfinden. Köln 2024 - Ausstellungskatalog mit fundierten Aufsätzen zur Motivik des Künstlers und der Bedeutung des Kalevala für ihn
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zuspielung
Lemminkäinen-Suite, III. Der Schwan von Tuonela, erste Takte, dann dem Sprecher unterlegt.
Zitator (ältere Stimme, raunend)
Hoch im Nordland liegt Tuonela, das Reich der Toten, getrennt von der Welt der Lebenden durch einen tiefen, dunklen, reißenden Fluss. Auf diesem Fluss zieht ein schwarzer Schwan seine Kreise und singt; singt seinen wunderschönen Gesang vom Todeszauber, lockt die Seelen der Verstorbenen ins Totenreich.
Sprecherin
Der Held Lemminkäinen, ein junger Recke, will den Schwan töten. Denn Louhi, die Herrscherin des Nordlands, stellt ihm mehrere Aufgaben, bevor sie ihm gestattet, ihre schöne Tochter zu heiraten.
Zitator
Dann erst geb' ich meine Tochter,
Geb' ich dir zur Braut die Jungfrau,
Wenn den Schwan im Fluß du schießest,
In dem Strom den starken Vogel
Sprecherin
Doch Lemminkäinen wird bei dem Versuch, das heilige Tier zu erlegen, selbst durch einen vergifteten Pfeil getötet. Der Mörder zerstückelt ihn und wirft die Leichenteile in den Fluss. Seine Mutter jedoch recht die Teile aus dem dunklen Wasser und setzt sie wieder zusammen.
Zitator
Füget Fleisch dann zu dem Fleische,
Paßt die Knochen aneinander,
Bindet ein Glied an das andre,
Preßt die Adern fest zusammen.
Sprecherin
Mit Zaubersprüchen und einem magischen Honig erweckt sie dann Lemminkäinen wieder zum Leben.
Zitator
Lemminkäinen leichtgemutet
Ging gerades Wegs nach Hause
Mit der vielgeliebten Mutter,
Mit der übermächt'gen Alten.
Sprecherin
Dies ist eine Legende aus dem finnischen Epos Kalevala. 1835 erschien es erstmals als gedrucktes Werk, gesammelt und zusammengestellt von dem Landarzt Elias Lönnrot. Er reiste durch die abgelegenen Regionen des östlichen Finnland und durch Karelien, eine Region, die sich zwischen der Ostsee und dem Weißen Meer auf beiden Seiten der russisch-finnischen Grenze erstreckt, um aufzuschreiben, was bis dahin nur mündlich weitergegeben worden war.
Sprecher
Die Verse erzählen von einem Land voller Magie und Geheimnissen, bevölkert von Helden. Sie beschreiben die Entstehung der Welt und des Alls und den Beginn des Ackerbaus, sie erklären, warum es Krankheit, Leid und Tod gibt, warum Wohlstand und Reichtum oder Armut und Hunger herrschen, sie geben - wie viele Mythen - eine Antwort auf die ängstlichen und suchenden Fragen der Menschen.
Sprecherin
Lemminkäinen ist einer der zentralen Helden, ein schöner, starker junger Mann, ein Draufgänger und womanizer. Ein weiterer Held ist Väinämöinen, ein alter, weiser Barde mit magischer Stimme, und der mit Zauberkräften ausgestattete Schmied Ilmarinen. Sie leben in dem Land Kalevala. Im Norden von Kalevala liegt Pohjola, in dem die furchteinflößende, unheilbringende Hexe Louhi herrscht. Beide Länder begegnen sich immer wieder, mal im Frieden, mal im Krieg.
Sprecher
Finnland war über 700 Jahre lang ein Teil des Königreichs Schweden gewesen. Das Finnische galt als die Sprache der Bauern, die gebildete Oberschicht sprach Schwedisch. Doch im Jahr 1809 verlor Schweden den Krieg gegen Russland und musste Finnland an den Zaren abtreten.
O-Ton Niedling 1
13.20 und man hat dann versucht, irgendetwas zu finden, das gezeigt hat, dass man eben eine eigenständige Gruppierung ist, man hatte die Angst, dass man sich in Russland assimiliert oder dass man aufgeht, und das wollte man unter allen Umständen verhindern. Es gab einen Historiker zu dieser Zeit, Adolf Ivar Arwidsson, der hat ein geflügeltes Wort gesagt, oder zumindest wird es ihm zugeschrieben, das heißt auf Deutsch übertragen: Wir sind keine Schweden mehr, Russen wollen wir nicht werden, lasst uns also Finnen sein.
Sprecherin
Dr. Christian Niedling ist Germanist an der Universität Turku in Südfinnland. Er hat zu Epen, besonders zum Kalevala intensiv geforscht. Er erläutert, dass Johann Gottfried Herder, der deutsche Philosoph der Aufklärung, großen Einfluss auf die gebildeten Stände in Schweden hatte.
O-Ton Niedling 2
16:06 Da kommen jetzt die ganzen interessanten Gedanken von Herder ins Spiel, weil Herder hat unter anderem die Nation als Gemeinschaft dargestellt und für ihn war es wichtig, dass sich der Charakter einer Nation in ihrer Sprache und in ihrer Dichtung manifestiert.
O-Ton Niedling 3
16:48 Und dann begann man eben in großem Stil, die finnische Volksdichtung zu sammeln.
Sprecherin
Auf elf entbehrungsreichen Forschungsreisen schrieb Elias Lönnrot nieder, was ihm die Menschen vorsangen. Er ordnete die Verse und arrangierte sie zu zusammenhängenden Narrativen. Die Veröffentlichung im Jahre 1835 traf einen Nerv.
O-Ton Niedling 4
21:24 Das ist dann sozusagen der Beginn, wo die gebildeten Leute gesagt haben, OK, das ist jetzt unser Beweis, wir Finnen haben etwas Eigenständiges, wir haben unsere eigene epische Tradition, wir haben unsere eigenen Gesänge, wir haben eine Sprache, die zur Dichtung fähig ist. Wir haben auch eine eigene Geschichte, eben manifestiert auch in diesem Epos, und sofort hat man dann die Idee bekommen, dass eben dieses Kalevala, das Nationalepos ist.
Sprecherin
Die lutherischen Reformatoren im 16. Jahrhundert verpönten die Gesänge des Kalevala als heidnisch und abergläubisch. Nicht verwunderlich, lassen sich doch im Kalevala Aspekte von Schamanismus und Götzenverehrung entdecken.
So verkümmerte die Liedertradition im westlichen Finnland. Anders in der östlichen Peripherie, weit entfernt von den gesellschaftlichen Zentren. Dr. Christian Niedling:
O-Ton Niedling 5
29:18 Aber so richtig erhalten hatte sie sich nur noch in den karelischen Gebieten. Und auch da hat Lönnrot selbst gemerkt, dass da eigentlich diese alte epische Tradition langsam schon am Verblühen war. Also er kam praktisch gerade recht, um noch diese, die die Reste der reichhaltigen Sänger Tradition eben mit diesen mythenhaften Themen dann noch sammeln zu können, also wenn das ein paar 100 Jahre später gewesen wäre, wäre das auch dort dann verkümmert.
Sprecherin
Und so holte Elias Lönnrot aus der Peripherie das, was als "unverdorben" und "ursprünglich" die Identität des finnischen Volkes prägen sollte, eine Verbindung zu seinem archaischen, jahrhundertealten Erbe.
O-Ton Niedling 7
38:37 Und Elias Lönnrot hat eben mit diesem Epos auch zur Schriftsprache einen einen wichtigen Teil geleistet.
Es gab vorher vielleicht das Neue Testament auf Finnisch und es gab so einzelne religiöse und zum Teil auch profane Literatur.
O-Ton Niedling 8
40:00 Man wollte also möglichst schnell den Status der finnischen Sprache heben und verbessern, es war ja keine Amtssprache, es war eben nur die Sprache der der ländlichen Schichten, auch wenn es die Mehrheitensprache war. Und diese ganzen schwedischen schwedischsprachigen Gebildeten in Finnland, die haben sich dann eben mehr oder weniger in Form der der Fennomanie, auf sprachliche Programme geeinigt und hat dann eben versucht, Finnisch als eine offizielle Sprache zu etablieren und das ist dann auch 1863 mit dem Sprachedikt gelungen.
Zuspielung Sibelius, Lemminkäinen Suite, Der Schwan von Tuonela, unterlegt
Sprecherin
Das Kalevala wurde in Finnland mit Begeisterung aufgenommen. Es inspirierte die bildenden Künste, Architektur, Möbeldesign, Dichtung und Musik. Der finnische Komponist Jean Sibelius beispielsweise setzte immer wieder Episoden aus dem Kalevala in Tondichtung um, so mit der Lemminkäinen-Suite, in der er nicht nur die Abenteuer des schönen, draufgängerischen Helden musikalisch beschreibt, sondern auch den majestätischen Schwan, der auf dem dunklen Fluss des Totenreiches seine Bahnen zieht und dabei seinen wunderschönen Totenzauber singt.
Zuspielung Sibelius, Lemminkäinen Suite, Der Schwan von Tuonela, ausblenden
Sprecher
Und auch auf die Malerei hatte das Kalevala großen Einfluss. Dem finnischen Künstler Akseli Gallen-Kallela war das Epos lebenslange Inspiration. Seine Darstellungen der Episoden des Kalevala und seine mythisch überhöhten Naturdarstellungen waren prägend und gaben Finnland ein Gesicht.
O-Ton Groenewald-Schmidt 10
53:35
In der Zeit war sozusagen ein Repräsentant Finnlands, aber es wurde auch gesagt, dass er auch sehr weltmännisch auftrat. Also er sprach verschiedene Sprachen, sprach wohl auch Deutsch und auch das sozusagen konnte sein Land dadurch dann sehr gut repräsentieren, weil er eben genau eigentlich diese zwei Stränge, die man in Finnland eigentlich für sich als in der Nationwerdung als Bedeutung erfuhr, also dass man zum einen durch die eigene Kultur hat, eine sehr weit zurückreichende eben Geschichte mit dem Kalevala, aber dass man auf der anderen Seite auch durchaus international ist und in die andere Richtung schaut und Teil des westlichen Europas sein möchte als eine der Nationen, und das vereint er eigentlich in sich, in seiner Person, wie er war, wie er sich gegeben hat und was er malte.
Sprecher
Arnika Groenewald-Schmidt ist Kunsthistorikerin am Belvedere in Wien. Sie hat dort die Ausstellung "Akseli Gallen-Kallela. Finnland erfinden" kuratiert. Das Kalevala war aber nicht nur aus Gründen der nationalen Identität für Gallen-Kallela wichtig.
O-Ton Groenewald-Schmidt 1
4:29
Also diese Suche nach dem Spirituellen ist auch etwas, was sich bei ihm durchzieht, ein ewig Suchender in verschiedenen Bereichen seines Lebens und ja, auch dort hat eben das Kalevala ihm viel Quellen der Inspiration geliefert.
Sprecher
So hat er 1893 das Gemälde "Das Schmieden des Sampo" geschaffen. Ilmarinen, der Schmied, starrt gebannt ins Feuer seiner Schmiede, in der der mythische Sampo Gestalt annimmt. Der Sampo?
O-Ton Groenewald-Schmidt 3
26:19
Das oder der Sampo ist eben so die Frage, was ist das?
Ist es jetzt ein Gerät, ist es ein Instrument?
Es wird beschrieben als ein Objekt, was Reichtum und Macht bringt, und das wird eben geschmiedet von dem Schmied Ilmarinen auch wieder eben für die Herrscherin des Nordens Louhi. Eigentlich hat sie ihm dafür die Hand ihrer Tochter versprochen. Und wir sehen eben hier in diesem Bild, wie Ilmarinen mit seinen Gehilfen in einer Schmiede im Wald eben dieses geheimnisvolle Objekt schmiedet, aber man sieht es eben nicht.
O-Ton Groenewald-Schmidt 4
27:11
Und Gallen-Kallela hat es auch nie, er hat ihm keine Form gegeben. Also hier sieht man eben nur das Feuer und man sieht hinten eine Kiste. Und dieselbe Kiste sehen wir dann auch bei der Verteidigung des Sampo auf dem Boot. Auch da sieht man eben nicht den Sampo an sich, sondern eben diese Kiste, wo das etwas drin ist.
Sprecher
Auf dem Gemälde "Die Verteidigung des Sampo" sieht man den Helden Väinämöinen, der mit hoch erhobenem Schwert den in einer Kiste verpackten Sampo gegen Louhi, die zauberkräftige Herrscherin des Nordlandes verteidigt. Er hat ihr den Sampo geraubt, damit auch das Land Kalela einmal von seinen Segnungen profitiert. Louhi hat sich in einen mächtigen Adler verwandelt und greift aus der Luft an. Im Kampf zerbricht der Sampo und versinkt im Meer. Doch seine Trümmer sorgen für den Reichtum des Wassers. Einige Bruchstücke werden an Land gespült, wo sie Väinämöinen aufsammelt. Denn er weiß, dass selbst diese Bruchstücke noch fruchtbar wirken.
Zitator
"Daraus kommt des Samens Sprießen,
Wechselloser Wohlfahrt Anfang,
Daraus Pflügen, daraus Säen,
Daraus Wachstum jeder Weise,
Daraus kommt der Glanz des Mondes,
Kommt das Freudenlicht der Sonne
Auf den weiten Fluren Finnlands,
Auf Suomis Heimatsstrecken."
O-Ton Groenewald-Schmidt 5
27.38 Also auch für Gallen-Kallela war wohl dieses Objekt auch wirklich so etwas Heiliges, dem man halt keine Form geben konnte sollte, und deswegen haben wir es immer nur in der Kiste bei ihm dargestellt.
Sprecher
Eines der bekanntesten und beliebtesten Gemälde von Akseli Gallen-Kallela ist die Ansicht des Keitele-Sees. Es zeigt die silbrige Wasserfläche des Sees im Licht des Mittsommers, die sich in einem Zickzackmuster kräuselt, am Horizont eine Insel und das bewaldete Ufer. Eine ganz normale finnische Landschaft.
O-Ton Groenewald-Schmidt 7
45:14 Aber es gibt etwas, was eben an dieser Komposition unglaublich anziehend ist. Und es ist eben zum einen, es ist noch erkennbar, was es ist. Es ist ein See. Es ist hauptsächlich Wasser, eben mit dieser Insel und eben dann diesen hohen Horizont mit den Wolken und eben diesen niedrigen Ufer.
O-Ton Groenewald-Schmidt 8
45:37 Aber zum anderen ist es auch schon in gewisser Weise eine Abstraktion von dem, was er sieht, von den Farben, von dem Gefühl, was man in der Landschaft hat.
Sprecher
Und es ist eine mythisch aufgeladene Landschaft.
O-Ton Groenewald-Schmidt 9
46.18 Und wenn man noch mal zum Kalevala zurückkehrt, für Gallen-Kallela war eben ganz stark auch diese Verbindung Natur-Mensch was sich auch im Kalevala immer wieder in den Geschichten zeigt, ganz wichtig. Und da hat er sich eben auch selber drin wiedergefunden und deswegen ist auch in seinen, sagen wir mal puren Landschaften wie jetzt im Keitele-See ist für ihn auch der Mythos, die mythologischen Figuren präsent und hier beschreibt er eben selbst, dass diese Bahnen, die eigentlich ein meteorologisches Phänomen von Strömungen sind, hier eben in diesem Silbergrau gemalt, dass für ihn das die Spuren des Bootes von Väinämöinen sind, der eben am Ende von Kalevala Abschied nimmt, dann sozusagen für die neue Generation den Weg freimacht.
Zitator
Doch zurück ließ er die Harfe,
Ließ das schöne Spiel in Suomi,
Seinem Volk ließ ew'ge Freude,
Großen Sang er seinen Kindern.
Sprecherin
So verlässt Vänämöinen das Land Kalevala. Er weiß, dass sein Zeitalter, die heidnische Welt der Mythen, an ihr Ende gelangt ist, dass mit der Christianisierung eine neue Ära anbricht, und er segelt davon, hinterlässt aber dem finnischen Volk seine Harfe und seine Gesänge.
Sprecher
Mit der Begeisterung für das Kalevala erwachte auch ein Interesse an Karelien, das als Schatzkammer der authentischen finnischen Kultur verklärt wurde. Und so erhielt die nationalromantische Bewegung, die das Kalevala auslöste, die Bezeichnung "Karelianismus". Hier glaubte man die versunkene Welt des Kalevala wiederzufinden. Hierhin pilgerte man, um dem Ursprünglichen zu begegnen. Auch Akseli Gallen-Kallela reiste nach Karelien, um seine Motive zu finden.
O-Ton Groenewald-Schmidt 6
33:48 Das hat er eben wirklich dort gesehen und gemalt. Also das war für ihn dann wichtig, dass er eben das Kalevala, den Kalevalamythos auch wirklich dort verortet, wo sozusagen der Ursprungsort des Kalevala ist.
Sprecher
Nach dem Sturz des russischen Zaren erlangte Finnland 1917 endlich die ersehnte Unabhängigkeit. Zwei Jahrzehnte später tobte der Zweite Weltkrieg. Sowjetische Truppen griffen 1939 Finnland an. Finnische Streitkräfte konnten in dem sogenannten Winterkrieg die Invasion stoppen, mussten aber im Friedensvertrag 1940 große Areale von Finnisch-Karelien an die Sowjetunion abtreten. Im Fortsetzungskrieg, den die Finnen ab 1941 zusammen mit der deutschen Wehrmacht führte, eroberten finnische Truppen nicht nur die im Winterkrieg verlorenen karelischen Gebiete zurück, sondern besetzte auch weite Teile Ostkareliens, mit dem Ziel, die hier wohnende finnischsprachige Bevölkerung mit Finnland zu vereinen.
Sprecherin
Der Anspruch auf diese Gebiete wurde von der kulturellen und politischen Führungsschicht propagandistisch mit dem Kalevala und Elias Lönnrots Sammelreisen untermauert. Der epische Kampf zwischen dem Nordreich Pohjola und dem Land Kalevala wurde gleichgesetzt mit dem Kampf zwischen Russen und Finnen. Und so, wie die Helden des Kalevala die dunklen Kräfte durch ihren Mut zurückdrängen konnten, so sollten auch die Finnen gegen die übermächtige Sowjetunion ankämpfen und das gelobte Land Karelien, das das Kalevala bewahrt hatte, in Gänze heimholen.
Sprecher
Doch die Eroberungen ließen sich nicht auf Dauer halten, und 1944 war der Traum von einem mit Finnland vereinten Karelien ausgeträumt. Finnland musste harsche Bedingungen der Sowjetunion akzeptieren. So verlor es weitere Teile Kareliens.
Musikalischer Akzent
Sprecherin
Heute ist das Kalevala immer noch starker Teil der finnischen Identität und Selbstvergewisserung. Was nicht unbedingt heißt, dass das Epos tatsächlich von vorne bis hinten gelesen wird, doch alle kennen es.
O-Ton Niedling 6
37:31 Aber die Motive, die aus dem Kalevala, die sind wirklich vollgegenwärtig, die gehören überall dazu. Also zum Beispiel, dass das Sampo, dieses Wunderding, das Wohlstand schafft. Da gibt es berühmte Eisbrecher, die so heißen, oder es gibt Banken, die so heißen. Es gibt Streichhölzer, die so heißen.
Und dann eben auch in jeder Stadt gibt es Sampo Straßen und es gibt Versicherungen, die danach genannt werden also der Einfluss von dieser Kalevala- Motivik, der ist wirklich ganz ganz ganz enorm.
Sprecherin
sagt Dr. Christian Niedling. Nach wie vor ist das Kalevala Inspiration und Projektionsfläche für die verschiedensten Genres, wird stets aufs Neue interpretiert. Es gibt Kalevala-Schmuck, es gibt einen Comic, der das Kalevala mit Hunden darstellt, es gibt Radio Kalevala. Und es gibt seit den 1990er Jahren mehrere Heavy-Metal-Bands, die sich in ihrem optischen Erscheinen, in ihrer Musik und ihren Texten auf das Kalevala beziehen.
Zuspielung Ensiferum, Old Man (Väinämöinen), erste Takte, dann unterlegen
Sprecher
Die Band Ensiferum beispielsweise besingt in "Old Man" die Einsamkeit von Väinämöinen - die Anfangstakte sind im Kalevala-Metrum. Auf dem Cover sieht man einen alten bärtigen Krieger mit gezücktem Schwert in einem Boot, natürlich in einer finnischen Seen- und Waldlandschaft.
Sprecherin
Mythen sind zugleich stetig und wandelbar, offen für Interpretationen. Das macht ihre Langlebigkeit aus. Und es heißt ja auch in den letzten Zeilen des Kalevala:
Zitator
Hier nun führt der Weg in Zukunft,
Hier eröffnet sich der Fußpfad
Für die kundigeren Sänger,
Für die reichern Runensprecher
In der Jugend, die emporsteigt,
In dem wachsenden Geschlechte.
In der Antike war die Nachahmung der Natur ein wichtiges Ziel der Kunst. Das sogenannte ?Trompe l'oeil, die "Augentäuschung", ist die Königsdisziplin der Illusionsmalerei: Hier soll der Betrachter wirklich ins Grübeln kommen. Von Julie Metzdorf
Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Hemma Michel
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Ursula und Martin Benad, Illusionsmaler
Literaturtipps:
Eckhard Hollmann, Jürgen Tesch: Die Kunst der Augentäuschung. Prestel, München 2004.
Michael Philipp (Hrsg.)„Täuschend echt. Illusion und Wirklichkeit in der Kunst“ – Katalog zur Ausstellung im Bucerius Kunst Forum Hamburg 13.02.2010 – 14.05.2010, Hirmer 2010.
Roger Diederen, Andreas Beitin (Hrsg.), Lust der Täuschung. Von antiker Kunst bis zur Virtual Reality, Katalog zur Ausstellung in der Kunsthalle München 17.08.2018- 13.01.2019, Hirmer, München 2018.
Ursula und Martin Benad, Illusionsmalerei heute. Für Maler, Innenarchitekten und Bauherren, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002.
Linktipp:
Webauftritt von Martin und Ursula Benad mit vielen Informationen rund um Illusionsmalerei:
EXTERNER LINK | www.wandmalerei.de
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik: Ancient flute journey 0‘56
ERZÄHLERIN
Die Geschichte der Illusionsmalerei beginnt mit einem Wettstreit: Der griechische Maler Zeuxis hatte ein Bild gemalt, auf dem ein paar Weintrauben so täuschend echt dargestellt waren, dass sofort ein paar Vögel herbeiflogen, um an ihnen zu picken. Siegessicher bat er daraufhin seinen Konkurrenten Parrhasios, den Vorhang vor dessen Bild beiseite zu schieben, damit man es betrachten könne. Damit hatte Parrhasios gewonnen: Er hatte nicht nur Tiere, sondern den Star-Maler Zeuxis getäuscht: Der Vorhang vor dem Bild war gemalt.
ERZÄHLER
Anekdoten wie diese gibt es durch die Jahrhunderte hinweg viele. Apelles soll einmal ein Pferd so gut gemalt haben, das andere Pferde es anwieherten. Über Giotto heißt es, er habe noch als Lehrling einer Figur in einem Fresko einmal eine Fliege auf die Nase gemalt. Sein Lehrer soll versucht haben, sie zu verscheuchen. Ob sich diese Geschichten wirklich so zugetragen haben, ist unwichtig. Interessant sind sie, weil sie vom Kunstwollen jener Tage berichten: Das Ziel der antiken Künstler war es, die Natur nachzuahmen, so gut und echt wie möglich. Mimesis nennt sich das Prinzip, ähnlich der Mimikry in der Natur, wenn beispielsweise das Muster auf den Flügeln eines Schmetterlings aussieht, wie ein Affengesicht und Fressfeinde verschrecken soll.
ERZÄHLERIN
Von den Zeitgenossen wurde das Prinzip der Naturnachahmung in der Kunst unterschiedlich bewertet. Platon zum Beispiel hatte für die Malerei nicht viel übrig. Und auch für den Renaissance-Bildhauer Benvenuto Cellini war Malerei einfach nur Betrug!
1 OT Martin Benad
Da muss ich natürlich widersprechen.
ERZÄHLERIN
Sagt Martin Benad, Illusionsmaler.
2 OT
Der Mensch betrügt sich selbst, wenn er das Bild sieht und seine eigene Wahrnehmung, wenn er die nicht kritisch reflektiert. In dem Moment, in dem ich die Wahrnehmung kritisch reflektiere, kann mich der Maler gar nicht betrügen. Und in dem Moment fängt die Kunst an, interessant zu werden.
ERZÄHLERIN
Martin und Ursula Benad haben in ihrem Berufsleben Hunderte Wände in Landschaften verwandelt, haben Arkaden und Balustraden gemalt, Gärten angelegt, Strände entworfen und auch andere Maler in ihrer Kunst unterrichtet. Besonders beeindruckt sind sie von pompejanischen Wandmalereien.
3 OT Ursula Benad
Der Eindruck, wenn man wirklich dort ist, das ist unverwechselbar, also wirklich beeindruckend.
Musik: Ikarus‘ dream 0‘52
ERZÄHLER
Die Wandmalereien in den antiken Villen Pompejis sind die frühesten erhaltenen Illusionsmalereien der Kunstgeschichte. Gemalte Vorhänge, Säulen und Gesimse, falsche Fenster und Skulpturen, Sockel, Gemälde mit Rahmen. Viele Wandmalereien der antiken Stadt zeigen die Dinge so, als seien sie wirklich da. Eine einheitliche Zentralperspektive, die alle gemalten Elemente auf einen bestimmten Fluchtpunkt hin ausrichtet, gab es noch nicht. Aber Verkürzungen und Überschneidungen erzeugen bereits eine gute Tiefenräumlichkeit. Die Wandbilder vertuschen, dass es sich um bemalte Wände handelt und ahmen stattdessen einen Blick in den Außenraum nach. Besonders gut gelingt das in den Gartendarstellungen. Einzelne Räume wurden vollständig wie ein Garten ausgemalt.
4 OT Ursula Benad
Da geht es wirklich um die Malerei von Blättern und Blüten und Vögeln. Und aber in einem halb naturalistischen Stil. Es ist nicht so, dass man wirklich denkt, es ist echt. Aber es ist so, als würde man sich in einem echten Garten befinden, weil man sich so wohlfühlt. Ja, mit all diesen Vögeln und Blumen und Zweigen. Und es ist einfach entzückend.
ERZÄHLERIN
Im Grunde genommen ist jede gegenständliche Malerei eine Illusion: Künstler stellen Gegenstände, Menschen, Tiere, Landschaften oder Räume auf einer Bildfläche dar. Etwas plastisches, dreidimensionales wird also auf zwei Dimensionen reduziert. Das ist das Wesen der Malerei, egal ob auf einer gemauerten Wand, einem Blatt Papier oder einer Leinwand.
Musik: Go at a distance 0‘44
ERZÄHLER
Damit die gemalten Objekte trotzdem dreidimensional wirken, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Dazu gehört eine sehr genaue, naturalistische Malweise. Proportionen, Stofflichkeit, Perspektive: alles muss stimmen. Licht und Schatten tragen viel zur Plastizität bei: Was sich nach vorn wölbt, erhält ein Glanzlicht, Partien, die im Bildraum weiter hinten liegen, malt man dunkler.
ERZÄHLERIN
Doch es ist ein Unterschied, ob ein Gemälde einen dreidimensionalen Gegenstand abbildet, oder ob es vorgibt, dieser Gegenstand zu sein. „Trompe-l’oeil“ nennt man diese Art von Malerei, zu Deutsch „Augentäuschung“. Hierfür ist äußerste Genauigkeit nötig, jeder Schatten muss sitzen, jeder Tautropfen bricht das Licht in einem bestimmten Winkel, jeder Fliegenflügel hat seine Adern. Was die Technik, die Kunstfertigkeit des Malers betrifft, sind Trompe-l’oeils die Königsdisziplin der Malerei. Ab dem 15. Jahrhundert entwickelte sich diese Kunstform aus der Stillebenmalerei.
Musik: Fantasie für Bassinstrument und Basso continuo 0‘34
ERZÄHLER
Eines der bekanntesten Beispiele ist „Die Rückseite eines Gemäldes“ von Cornelis Gijsbrechts aus dem Jahr 1670. Es zeigt ein Gemälde von hinten, also den Keilrahmen, das braungraue Leinwandgewebe, ein paar winzige Nägel, die alles fixieren und einen kleinen, mit rotem Siegellack angeklebten Zettel mit einer Inventarnummer – nur eben, dass das alles gemalt ist und sich auf der Bildvorderseite befindet.
ERZÄHLERIN
Besonders beliebt waren sogenannte „Quodlibet“, zu Deutsch „Was beliebt?“. Ein zufälliges Nebeneinander von irgendwelchem Krimskrams: Briefe, eine Schere, ein Kamm, Schreibutensilien, ein Siegel, Zettel mit Notizen. Quodlibets scheinen keinen anderen Zweck als die Täuschung selbst zu haben.
5 OT Martin Benad
Der Künstler zeigt sein Können, und in früheren Zeiten zeigte er den Status seines Auftragsgebers. Oder er zeigte die Vorlieben und Hobbies seines Auftraggebers. Oder er erzählt Geschichten.
ERZÄHLER
Eine Sonderform des Trompe-l’oeil ist die Grisaille. Hier wird ausschließlich mit Schwarz, Weiß und Grau gearbeitet. Steinskulpturen lassen sich so täuschend echt nachahmen. Die gemalten Skulpturen hatten eine wichtige Funktion: Im 14. Jahrhundert hatten sich in christlichen Kirchen sogenannte Flügelaltäre durchgesetzt.
6 OT Martin Benad
Die Altäre konnte man zuklappen und aufklappen, und wenn er zugeklappt war, dann durfte er ja nicht so farbenprächtig sein. Dann hat man auf den zugeklappten Altarflügel eine Nische gemalt…, und in die Nische hat man dann irgendeine Figur eingestellt, ein Heiligen oder so ein Apostel. Und das natürlich in Grau. Denn wenn man das dann aufgeklappt hat, da war dann das wirkliche Leben, da waren die Farben.
ERZÄHLER
Nur an Sonn- und Feiertagen wurden die farbenprächtigen mittleren Tafeln mit den „lebendigen“ Heiligen gezeigt. Die Außenseiten zeigten nur ihre Statuen.
Musik: Class act 0‘48
ERZÄHLERIN
Menschen haben es in einem Trompe-l’oeil ohnehin schwer. Nach kürzester Zeit bemerkt jeder Betrachter, dass der gemalte Mensch seltsam unbewegt bleibt. So ein Eingefrorener kann die Illusion völlig zerstören. Die Wachsfiguren prominenter Zeitgenossen bei Madame Tussauds können noch so gut gemacht sein, niemand hält sie für echt. Was hier fehlt, ist der Moment der Überraschung. Die Figuren von Duane Hanson funktionieren besser. Der amerikanische Künstler platziert seine lebensgroßen Figuren irgendwo im Museum: Touristen, eine Putzfrau, ein Maler. Wie zufällig stehen sie dort und es kann dauern, bis man bemerkt, dass diese Besucher nicht echt sind.
7 OT Martin Benad
das ist ja gerade auch das Spiel. … Dese Figuren, man denkt, der steht gleich auf und guckt mich an. Aber auch das spielt ja mit der Selbstreflektion des Wahrnehmenden, des Museumsbesuches. Und das ist ja der Reiz. Der Reiz ist ja nicht, ich gehe dahin und sehe da irgendwie ein Ding, das sieht aus wie eine ausgestopfte Leiche oder ist ganz echt, sondern diese Interaktion. Und ja, da also es geht immer um Selbstreflektion des Wahrnehmens, und das macht auch die moderne Kunst so interessant.
ERZÄHLER
Bei dreidimensionalen Werken spricht man übrigens nicht von Trompe-l’oeil. Ein Trompe-l’oeil ist immer zweidimensional, es geht um eine Illusion, die mit Mitteln der Perspektive erreicht wird. Ihren großen Auftritt haben Trompe-l’oeils in der Wandmalerei. Hier geht es nicht nur um echt wirkende Zettel, hier geht es um ganze Gebäude! Wichtig für solche Scheinarchitekturen ist die richtige Perspektive.
Elend, du hast umfangen mich 0‘52
ERZÄHLERIN
Die Zentralperspektive wurde im 15. Jahrhundert erfunden. Ein Fresko von Masaccio in der Kirche Santa Maria Novella in Florenz von 1425 gilt als das erste Beispiel für eine konsequent angewendete Zentralperspektive. Es zeigt Christus am Kreuz, neben ihm Maria und Johannes sowie die Stifter des Wandbildes. Hinter dem Gekreuzigten sehen wir ein Tonnengewölbe mit kastenförmigen Vertiefungen. Diese Decke eignet sich hervorragend, um die Illusion eines tiefen Raums hervorzurufen, nach hinten werden diese Kassetten immer kleiner. Der Fluchtpunkt aller Linien liegt am Fuß des Kreuzes, genau auf Augenhöhe des Betrachters.
ERZÄHLER
Doch es reicht nicht, einen Raum korrekt wiederzugeben. Um das Gehirn erfolgreich zu täuschen, braucht es einen Übergang von der Wirklichkeit des Betrachters im Hier und Jetzt ins Imaginäre. Wer einen Raum betritt, geht üblicherweise davon aus, dass so ein Raum vier Wände hat. Eine Illusion kann nur dann zumindest ansatzweise gelingen, wenn die Wand thematisiert wird:
8 OT Martin Benad
Die Wand muss als echte Wand im Bild vorhanden bleiben, in Form einer Stütze oder eines Arkadengangs oder eines Arkadenbogens oder eines Vordergrunds, Details wie zum Beispiel eine Balustrade oder ein Mäuerchen, und dann daneben neben dem Fensterrahmen neben dem gemalten Durchbruch ist der Blick ins Weite, in die Freie.
Musik: Ricercar für Cembalo 0‘48
ERZÄHLERIN
Eines der beeindruckendsten Beispiele für Illusionsmalerei ist ein Wandfresko von Agostino Tassi aus den 1620er Jahren im Palazzo Lancelotti ai Coronari in Rom. Tassi hat den Raum in einen Gartensaal verwandelt und dabei mehr Fläche dem architektonischen Übergang als der eigentlichen Landschaft gewidmet: Alle Pfeiler, Säulen und Bögen im Raum sind gemalt, dazu sogar noch eine zweite Reihe Arkaden, so dass sich rund um den Saal ein Arkadengang anzuschließen scheint. Erst dann kommt die Landschaft. Vögel fliegen am blauen Himmel, auf der Balustrade im Obergeschoss hat sich ein Pfau niedergelassen.
ERZÄHLER
Natürlich merkt man trotzdem relativ schnell, dass das alles nur gemalt ist. Aber das ist gewissermaßen eingeplant. Es geht um das Spiel. „Illusion“ kommt von ludere – spielen.
9 OT Martin Benad
Es ist gerade deswegen so beliebt, weil man weiß, dass es ein Spiel ist. Ein Spiel mit den Sinnen, ein Spiel mit der Interpretation, weil es eben nicht die perfekte Täuschung ist.
ERZÄHLERIN
Barock und Renaissance benutzten den Begriff Trompe-l’oeil, die Augentäuschung war etwa spielerisches, positives. „Illusio“ hingegen stand damals noch für eine arglistige, böswillige Täuschung.
ERZÄHLER
Man könnte meinen, eine moderne Fototapete müsste eine perfekte Illusion bieten, realistischer als auf einem Foto geht’s ja gar nicht. Aber nein: bei einer Fototapete, die zum Beispiel den Blick in einen Wald oder aufs Meer bietet fehlt der Übergang.
10 OT Ursula Benad
Man braucht immer die Einbindung der Wand, also des Raumes selber. Ja, eine Art Maske sagen wie er oder eine Umrandung oder einen Durchbruch. Ein Durchgang in irgendeiner Weise, wo die Wand, die sich tatsächlich dort befindet, ein Stück im Bild weitergeht. Und das hat man bei einer Fototapete nicht. Die geht ja meistens bis in die Ecke, und da fängt sie an, und der Rest interessiert nicht. Also die Verbindung ist nicht gegeben.
Musik: Go at a distance 0‘33
ERZÄHLERIN
Neben der Zentralperspektive müssen Maler auch die sogenannte Farbperspektive beachten. Ein Gegenstand in der Ferne erscheint bläulich, während warme Farben Nähe suggerieren. Will man einen Raum möglichst tief wirken lassen, kann man vorne eine Orange platzieren, im Hintergrund der blaue Himmel. Auch die Intensität der Farben ist wichtig: die hinteren sollten heller sein, die Farben im Vordergrund dunkler.
12 OT Ursula Benad
Und alle Gegenstände, die ich sehe, im vorderen Bereich des Bildes, sind präziser gemalt. Alles ist scharfkantig, und im hinteren Bereich wird immer alles heller und aufgelöster, so verdunstet.
Musik: Folia 29. Partite 0‘42
ERZÄHLER
Ihre große Blüte hatten illusionistischen Wandbilder im Barock: Unzählige Säle, Kirchen und Treppenhäuser erhielten im 17. und 18. Jahrhundert ein Deckengemälde, das entweder eine überwältigend hohe Kuppel suggerierte oder über eine Scheinarchitektur in den offenen Himmel führte. Das alles von einer Unzahl von Figuren bevölkert, weltliche genauso wie Engel und Heilige, in der Mitte und optisch an der höchsten Stelle, mit einem guten Überblick auf den Rest des Geschehens: Gottvater oder Christus.
ERZÄHLERIN
Ziel solcher Bilder war es, die Menschen vom Glauben zu überzeugen. Bilder in Kirchen galten als Bibel der Analphabeten: Auch wer nicht Lesen konnte, sollte über die biblischen Geschichten informiert und belehrt werden. Es ging darum, diese Geschichten nachzuerleben. Und der Effekt des Nacherlebens ist umso größer, je wirklichkeitsgetreuer das Bild ist. Im Barock setzte man auf Überwältigung. Starke Mimik, ausladende Gestik, überbordende Szenerien, aufwändige Architekturen. Die Menschen sollten staunen. Denn Bewunderung führt zu genauerer Betrachtung – und folglich zu stärkerer Beschäftigung mit dem Thema.
13 OT Martin Benad
Aber nie war es ihm daran gelegen, den Menschen zu verwirren und ein Realitätscheck Konflikt zu erzeugen. Ich meine, wenn die Barockkirchen da oben die Heiligen im Himmel schweben lassen, und dann kommen die Apostel und fliegen mit dem Kreuz durch die Wolken, ja, das weiß doch jeder, dass das symbolisch gemeint ist.
Musik: Himmelfaden 0‘21
ERZÄHLERIN
Eines der beeindruckendsten Deckengemälde in Bayern befindet sich im marianischen Kongregationssaal in Ingolstadt, landläufig auch Asamkirche genannt, denn das berühmte Deckenfresko hat Cosmas Damian Asam gemalt.
14 OT Martin Benad
Der hat uns nachhaltig beeinflusst und beeindruckt. Aber der hat eine Anamorphose gemalt, als er eine verzerrte Perspektive. Das ist ja bei der Deckenmalerei so. Man geht durch den Raum, und alles stürzt auf einen ein, weil die Perspektive nicht stimmt. Und steht man am richtigen Ort, richtet sich alles auf, die Decke ist weg, und man denkt, man blickt in die Unendlichkeit, und die Säulen weisen in den Himmel. Fantastisch.
ERZÄHLERIN
In den Ecken des großflächigen Freskos sind die Kontinente Afrika, Asien, Amerika und Europa dargestellt. Wir sehen Leoparden, Palmen und Papageien von unten, auch Nasenlöcher, Fußsohlen und der Po der ein oder anderen Rückenfigur bieten ungewöhnliche Ansichten.
Musik: Chronos B 0‘30
ERZÄHLER
Die Illusion funktioniert nur von einem bestimmten Standpunkt aus. In der Kirche St. Ignazio in Rom ist im Marmorboden eigens die Stelle markiert, von der das Deckengemälde am besten zu sehen ist. An diesem Punkt steht der Maler beim Malen aber gar nicht. Er klebt mit der Nase direkt vor der Bildfläche. Kurz gesagt: Bei einem Wandbild oder gar Deckengemälde den Überblick zu behalten, ist extrem schwierig.
15 OT Ursula Benad
Man sieht ja auch immer nur einen Handradius von dem, was man gerade macht. Aber das Bild ist ja viel größer. Ja, das muss auch die Leiter, muss wieder runter und so weiter. Und das muss ich natürlich vorher genau planen. ... Also der Entwurf ist das Wichtigste.
ERZÄHLERIN
Neben der Konstruktion der richtigen Perspektive muss der Maler auch umdenken. Es reicht nicht, eine Wolke, einen Baum oder eine Säule an die Decke zu malen. Man muss die Dinge auch so weit es geht von unten malen:
16 OT Ursula Benad
Alle Wolken sind ja mehr oder weniger waagerecht. Wir sehen Sie in der Entfernung in Schichten liegen und sie scheinen unten gerade abgeschnitten zu sein, weil sie auf bestimmten Temperaturschichten segeln und oben sind sie ganz bauschig. Und wenn ich sie jetzt in der Untersicht sehe, in der Mitte des Himmels im Zenit, dann sehe ich nichts gerades mehr, sondern ich betrachte die Wolke ganz und gar von unten.
Musik: End to end 0‘25
ERZÄHLER
Auf dem Kunstmarkt spielen Trompe-l’oeils so gut wie keine Rolle. Illusionsmalerei gilt als kitschig und oberflächlich. Kann etwas Kunst sein, dass die sichtbare Wirklichkeit nur reproduziert, wie ein Spiegel? Realismus in der Malerei steht unter dem Generalverdacht des “nur“ handwerklichen.
ERZÄHLERIN
Abseits vom Kunstmarkt mit seinen eigenen Regeln sind Trompe-l’oeils aber sehr beliebt – und zwar nicht nur in den Werken alter Meister im Museum.
17 OT Martin Benad
Das ist das Nachkriegsdeutschland ja, dann kam das Wirtschaftswunder. Und dann haben die reichen Leute ihre eigenen Schwimmbäder gehabt, ja, ihre eigenen Hallenbäder, unten im Keller. Und wie macht man das? Macht man da Fliesen von unten bis oben? Nein, da macht man Wandmalerei. Und dann ging das Ganze überhaupt erst mal los, dass der das das, wie heißt es Bürgertum oder die normalen Menschen halt, die die obere, die oberen 10.000, wie das damals hieß, dass die ihre Schwimmbäder hatten und Wandbilder beauftragt hatten. Da hat man dann so Balustraden mit Blick auf Antike Gärten und auf der Balustrade saß dann ein V und zeigte, wie toll das alles ist. Und dann hing da noch irgendwie also dieses klassische Gedöns in Ruinen, die da gerade einstürzen. Und so ging das ja eigentlich los.
ERZÄHLER
Es ging dabei meistens darum, die Wände unsichtbar zu machen und architektonisch ungünstige Situationen wie enge Flure oder fensterlose Keller zu kaschieren. Einer der größten Aufträge von Ursula und Martin Benad war die Bemalung eines Innenhofs in München, Heute befindet sich dort ein Biergarten.
18 OT Martin Benad
Der war ich glaube 15 mal 15 Meter groß. Vollständig eingeschlossen durch 20 Meter hohe Wände und als wir auf der Baustelle waren, der sagte der Architekt, ich fühle mich wie in die Zisterne geworfen.
19 OT Martin Benad
Das heißt, wir mussten den Raum ja öffnen. Die mussten die Wand öffnen, damit es nicht mehr so bedrückend ist. Wir haben da eben diesen Arkaden dieser Arkaden, London, also Architektur gemalt, wo man dann eben in eine ja, was weiß ich Voralpenlandschaft blickt... Dadurch brechen wir mit malerischen Mitteln die Wand, weil es die Menschen glücklich macht und weil es dieses Gefühl der Bedrückung nimmt. Mehr ist auch nicht nötig. Wir wollen doch nicht Kunstgeschichte schreiben damit. Wir wollen den Alltag schön machen.
Musik: Light footed (reduced) 0‘42
ERZÄHLERIN
In Zeiten von KI und Virtual Reality mögen Trompe-l’oeils wie Relikte vergangener Zeiten wirken. Aber das täuscht: Es gibt Dutzende Festivals, auf denen Straßenmaler aus aller Welt darum wetteifern, den höchsten Turm oder den tiefsten Abgrund mit Kreide aufs Pflaster zu malen. Auch an Hauswänden entdeckt man immer wieder neue Kunstwerke, die zum Beispiel Fenster vorgaukeln, wo keine sind – und am besten das streitende Ehepaar dahinter noch dazu, während sich ein nackter Dritter am Fensterbrett festkrallt und versucht unbemerkt zu bleiben. Letzteres übrigens ein Motiv von Banksy.
20 OT Martin Benad
Es gibt bei den Street-Art-Künstlern richtig, richtig gute Künstler mit richtig guten Ideen und die auch wirklich maltechnisch was draufhaben. Und da geht es auch weiter im klassischen Trompe-l’oeil an der Wand. Bei betuchten Leuten oder in der Gastronomie oder im Hotel, da geht ja die Kunst nicht weiter.
ERZÄHLER
Zuletzt hat die Modewelt das Trompe-l’oeil für sich entdeckt. Auf Laufstegen und roten Teppichen gab so manches Kleid vor, seine Trägerin sei wahlweise nackt, habe ein Loch im Bauch oder einen Löwenkopf auf der Schulter. Mode ist ohnehin ein Spiel mit Illusionen und Erwartungen.
Musik: Soft focus (b) 0‘40
ERZÄHLERIN
In anderen Branchen ist aus dem Spiel mit der Realität längst echte Realität geworden. Ob Kinofilm, Computerspiel oder ein Foto vom Papst im weißen Daunen-Mantel: Augentäuschungen des 21. Jahrhunderts begnügen sich nicht mit perspektivischen Mitteln. Auch Klang, Stimmen, bewegte Kinositze führen dazu, dass wir Illusion und Realität manchmal wirklich nicht mehr unterscheiden können. Der Bewunderung vor einem handgemalten Trompe-l’oeil tut das keinen Abbruch.
Unwetter oder Sonnenschein? Wettervorhersagen sind in den letzten Jahrzehnten immer zuverlässiger geworden. Dank des "Chaos im Wetter" werden sie allerdings immer ein Wagnis bleiben. Von Martin Schramm (BR 2018)
Credits
Autor dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Dorit Kreissl
Es sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Jennifer Güzel, Clemens Nicol
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Interviewpartner/innen:
Gerhard Lux (DWD);
Hans-Joachim Koppert (DWD);
Felix Ament (Professor; Universität Hamburg)
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO – Wasser, Bach
ZSP-COLLAGE (Berichte zur Katastrophe in Simbach)
SPRECHER:
Simbach am Inn, 1. Juni 2016: Ein unscheinbarer Bach verwandelt sich in einen reißenden Strom.
SPRECHERIN:
Die Wassermassen fluten Häuser, reißen Autos mit sich – und fordern dort am Ende sieben Menschenleben.
SPRECHER:
Die Katastrophe kommt schnell und überraschend: Die Behörden können die Menschen nicht rechtzeitig warnen.
01-O-TON Koppert - Simbach
„Die Herausforderung war, dass diese Gewitter sich chaotisch verhalten haben...
SPRECHERIN:
Der Meteorologe Hans-Joachim Koppert - er leitet beim Deutschen Wetterdienst die Wettervorhersage.
O-TON
Oft ist es so, dass Gewitter immer eine sehr eindeutige Zugrichtung haben. Wir können genau sagen, wann die wo ankommen, aber hier haben sich die Gewitter relativ chaotisch verhalten, so dass das sehr sehr schwer abzuschätzen war.
Das war auch sehr kleinräumig, und auch sehr intensiv und diese Fluss-Einzugsgebiete, bzw. Bach-Einzugsgebiete besser gesagt, waren natürlich auch sehr sehr klein.“ 6:05
SPRECHER:
„Wetter-Vorhersage“ war und ist also ein heikles Geschäft.
Doch Unsicherheiten hin oder her - unterm Strich ist die Geschichte der Wettervorhersage eine Erfolgsgeschichte.
SPRECHERIN:
Eine 6-Tage-Prognose ist heute beispielsweise genauso zuverlässig wie eine 24-Stunden-Vorhersage im Jahr 1968. - Eine erstaunliche Leistung.
SPRECHER:
Um so weit zu kommen, mussten sich die „Wetterpropheten“ allerdings ganz schön ins Zeug legen.
Musik – M 1 Weather Satellite – Länge: 1:00
ZITATOR-1
Messen für die Wetterküche - oder: Mehr als Gas und Luft
ZITATOR-2 (1780)
„Die Wissenschaften, die einen unmittelbaren Einfluss auf des Menschen Leben und seine tägliche Beschäftigung haben, verdienen eine besondere Beachtung, Aufmerksamkeit und Fürsorge. Aus diesen Gründen haben Seine Kurfürstliche Durchlaucht die Witterungslehre ihres höchsten Schutzes gewürdigt und Anstalten treffen lassen, dass an mehreren wichtigen Orten der kurfürstlichen Erblanden, auch in anderen Gegenden Europas und der übrigen Weltteile künftig mit gleichartigen Instrumenten tägliche Beobachtungen gemacht und eingesammelt werden.“
SPRECHERIN:
Mannheim 1780 - Kurfürst Karl Theodor gründet die „Societas Meteorologica Palatina“, bekannt auch als „Mannheimer Meteorologische Gesellschaft“.
SPRECHER:
Diese Gesellschaft vollbringt eine Pioniertat: Sie führt Wetterbeobachtungen rund um den Globus durch und veröffentlicht sie - von Nordamerika über Grönland, Nord- und Mitteleuropa bis nach Russland.
SPRECHERIN:
Der Meteorologe Gerhard Lux vom Deutschen Wetterdienst:
03-O-TON Lux - Mannheim
„Das begann etwa 1781 - und diese Messstellen waren alle mit den gleichen Instrumenten ausgestattet und die Daten sind ja heute noch verfügbar, entsprechen dem, was man heute unter Wetter-Messungen auch versteht.“ 11:30
SPRECHERIN:
Gemessen wurde täglich, zu regelmäßigen Uhrzeiten - mit einem ganzen Arsenal an Messinstrumenten: Thermometer, Barometer, Hygrometer - allesamt geeicht und justiert versteht sich, um auch tatsächlich vergleichbare Werte zu erzielen.
SPRECHER:
Hinzu kamen Elektrometer, um die Luftelektrizität zu messen, aber auch Windmesser, Regenmesser, Verdunstungsmesser usw.
SPRECHERIN:
Gefragt waren präzise Daten, um das launische Phänomen Wetter naturwissenschaftlich in den Griff zu kriegen. - Gerhard Lux:
04-O-TON Lux – Zusammenschau
Aus der Zusammenschau dann, später, nachdem die Daten zusammengetragen waren, konnte man auch feststellen: Es gibt tatsächlich Luftdruck-Unterschiede, es gibt hier so etwas wie hoher Luftdruck, niedriger Luftdruck, tiefer Luftdruck - und das Wetter ist eher schlecht da, wo tiefer Luftdruck herrscht. Das Problem damals war, dass die Datenerhebung und die Daten zusammenzutragen per reitender Bote natürlich über viele Wochen angedauert hat. Das war ein naturwissenschaftliches Problem, was erst geklärt oder gelöst wurde, mit etwas ganz anderem: Mit der Erfindung der Elektrizität und dem Morse-Apparat.“
SPRECHER:
Denn erst als man Wettermessungen blitzschnell von a nach b übertragen konnte, um die Daten zentral zu sammeln und auszuwerten, - erst dann wurde „Wettervorhersage“ überhaupt erst möglich:
MUSIK M 2 Shoot the Loop – Länge 0:55
SPRECHERIN:
Wettervorhersage ist ein zeitkritisches Geschäft. Geschwindigkeit ein entscheidender Faktor.
SPRECHER:
Tausende von Messstellen sammeln daher nicht nur Wetterdaten weltweit, rund um die Uhr: Luftdruck, Lufttemperatur, Luftfeuchte, Windgeschwindigkeit, Windrichtung, Sonnenschein, Niederschläge usw. - Die nationalen Wetterdienste dieser Welt teilen diesen wertvollen Datenschatz auch miteinander, stehen permanent im Austausch. Jeder profitiert so vom anderen.
SPRECHERIN:
Die meisten Messstationen arbeiten dabei inzwischen vollautomatisch. Sensoren überwachen sich sogar gegenseitig, um automatisiert mögliche Fehler und Ausreißer aufzuspüren.
06-O-TON Lux - Überprüfungs-Algorithmen
„Wenn beispielsweise der eine Sensor sagt: Ich messe hier Nieselregen! - Und der andere sagt: Kann nicht sein, weil es regnet gar nicht! - Dann wissen wir: Hier stimmt was nicht! – Dann gehen die Alarmglocken an.“ 25:45
ATMO Satellit
SPRECHER:
Die Qualität von Wettervorhersagen ganz entscheidend vorangebracht hat allerdings noch etwas anderes: Unermüdliche Späher aus dem All.
SPRECHERIN:
Satelliten, die ihre Augen auch auf jene Regionen richten, in denen es am Boden gar keine Messstationen gibt:
07-O-TON Lux - Datenwüstenproblem
„Schauen wir auf die Südhalbkugel. Da sind es 80% an Wasser - und es gibt Gegenden, wo auch normalerweise nie ein Flugzeug entlang fliegt, noch ein Schiff unterwegs ist - es sei denn, es wäre ein Forschungsschiff. Also da haben wir tatsächlich große Probleme, Daten aus diesen Bereichen zu bekommen.“
MUSIK M 3 Radar (1) - Länge: 1:00
SPRECHERIN:
Wettersatelliten helfen, diese Lücken zu schließen: Sie messen die reflektierte Sonnenstrahlung, die Strahlung der Erde und der Atmosphäre.
SPRECHER:
Und diese Strahlung liefert nicht nur jede Menge Informationen über den Zustand der Atmosphäre, also der Gashülle und „Wetterküche“ unseres Planeten. Sie liefert auch Daten über die Land- und Meeresoberflächen, also zum Beispiel die Temperatur des Erdbodens und der Wasseroberflächen. Quantität und Qualität dieser Daten hat sich in den letzten Jahren enorm verbessert.
SPRECHERIN:
Dieser „Blick aus dem All“ wird aber noch kombiniert mit einem weiteren „Fernerkundungstool“ - ein Werkzeug namens „Wetterradar“.
SPRECHER:
Siebzehn Standorte in Deutschland machen sichtbar, was sich in den rund zwölf Kilometern direkt über unseren Köpfen abspielt:
08-O-TON Lux - Wetterradar
31.20 „So können wir auch verfolgen natürlich wo sich Regengebiete aufbauen, wir können in etwa auch darstellen, über die Analysen dieser Wetterradargeräte, wie viel Niederschlag da drin ist in diesen Gebieten, wie viel möglicherweise auch raus fällt. - Wir können Hagel so halbwegs auch gut erkennen, auch Windscherung - großes Problem für die Luftfahrt beispielsweise - und eine ganze Menge mehr.“ 32:41
SPRECHER:
Doch das ist längst noch nicht alles: Meteorologen messen und erfassen sogar Dinge, die auf den ersten Blick mit dem Phänomen „Wetter“, gar nichts zu tun haben - einem Phänomen, das sich ja vor allem in der Erdatmosphäre abspielt.
SPRECHERIN:
Sie sammeln beispielsweise auch Bodendaten: Wo wachsen Pflanzen? Sie spielen eine wichtige Rolle, weil sie mit ihren Wurzeln Wasser aus dem Boden ziehen und durch die Blätter wieder verdunsten.
SPRECHER:
Oder: Wo stehen Gebäude, die das Wetter z.B. durch Abwärme beeinflussen? - Und vieles mehr, wie der Meteorologe Felix Ament erläutert:
09-O-TON Ament - Erdsystem
11:00 „Auch die Luft-Schadstoffe, denn der Staub sorgt dafür, dass sich die Tröpfchen in den Wolken anders bilden - das sind Effekte, die man dann auch irgendwann mit einbeziehen muss, denn das Wetter wird angetrieben vom Rand her - und der Rand ist die Landoberfläche und die Wasseroberfläche - oder auch das Eis. Und so ist man dann eben schnell auch dabei, dass die Meteorologie sich
eben nicht nur mit Gasen und Luft beschäftigt.“ 12.10
SPRECHER:
Und das Ergebnis dieser gigantischen Datenjagd - mit tausenden von Messstellen, mit Satelliten, mit Wetter-Radargeräten macht etwas möglich, wovon Forscher lange nur geträumt haben.
Musik – M 1 – Länge: 0:45
ZITATOR-1
Mathematisches Heranpirschen - oder: Das Blubbern im Kochtopf
SPRECHER:
Generationen von Meteorologen hatten eine große Vision: Wenn es Ihnen gelänge die physikalischen Vorgänge in der Atmosphäre mathematisch zu beschreiben, gleichsam eine Art mathematischer „Wetterformel“ zu entwickeln und diese Formel dann mit allen möglichen Messdaten zu füttern...
SPRECHERIN:
…dann könnten sie tatsächlich das Wetter der Zukunft berechnen! Dann könnte man vom aktuellen Wetter auf das Wetter von morgen schließen.
SPRECHER:
Das Problem dabei: Selbst die einfachsten Modelle sorgen bereits für einen gigantischen Rechenaufwand!
MUSIK M 4 „Meetin in the Aisle“ – 0:50
SPRECHERIN:
Und was nutzt die beste Vorhersage, wenn sie vom realen Wetter „überholt“ wird? Wenn sie also gute Resultate liefert - man die aber erst Tage später nachreichen kann? Ohne leistungsfähige Computer war an Wettervorhersage daher gar nicht zu denken.
SPRECHER:
Im März 1950 ist es dann so weit: Der erste elektronische Universalrechner namens „ENIAC“ macht es möglich: Der Mathematiker und Vordenker John von Neumann berechnet in den USA erstmals eine Wettervorhersage aus realen Wetterdaten:
10-O-TON Ament - ENIAC
30:00 „Mit einem ganz einfache Modell, das wir heute noch benutzen, um Studenten zu erklären wie das Wetter funktioniert - die wesentlichsten Dinge abbildet – was man heute mühelos auf jedem Smartphone rechnen kann. Damals war es eine große, große Leistung, damit einen Rechner zu füttern - und eine Vorhersage nur von dem Druckfeld für die nächsten Tage zu erstellen.“ 31:07
SPRECHERIN:
Über die Jahrzehnte werden die Wetterformeln immer komplexer, die Rechner immer leistungsfähiger.
SPRECHER:
Der Supercomputer des Deutschen Wetter Dienstes in Offenbach verschlingt heute eine ganze Etage: Rund tausend Quadratmeter für Hardware, für Server und Speicher-Schränke.
SPRECHERIN:
Und er macht etwas Entscheidendes möglich: Das Wetter als Gesamtphänomen nachzuvollziehen. Die Atmosphäre als ein großes, ganzes zu sehen, in dem alles mit allem vernetzt ist und sich gegenseitig beeinflusst.
SPRECHER:
Der Deutsche Wetterdienst berechnet nämlich das Wetter zunächst für den gesamten Globus - um daraus dann abzuleiten, wie die Entwicklung speziell für Europa oder Deutschland aussieht.
SPRECHERIN:
Der Deutsche Wetterdienst überzieht den kompletten Globus daher mit einem feinmaschigen Raster, arbeitet mit einem Modell, das aus mehr als 256 Millionen Gitterpunkten besteht!
SPRECHER:
Und für jeden einzelnen dieser Punkte werden die wichtigsten Wetterwerte berechnet. Gerhard Lux:
11-O-TON Lux - Gitterpunkte
„Das machen wir weltweit für alle diese 256 Mio. Gitterpunkte - und zwar jeweils für dreißig Sekunden - d.h. für die nächsten dreißig Sekunden, dann die nächsten dreißig Sekunden. Und das machen wir hier in Offenbach bis zum siebten Tag. Das heißt da kann man dann auch für den siebten Tag, kann man dann für 256 Mio. Gitterpunkte sagen: Hier an diesem Punkt, in dieser Höhe, haben wir einen kompletten Datensatz an Wetter. Wir erwarten, dass das Wetter am siebten Tag um zwölf Uhr mittags über Berlin in 5,5 km Höhe so und so aussieht.“ 42.30
SPRECHER:
In mühsamen Einzel-Schritten „hüpfen“ die Meteorologen so gleichsam in die Zukunft.
SPRECHERIN:
Und diese kleinen „Hüpfer“ erzeugen eine gewaltige Datenflut: Für jeden Schritt und für jeden Gitterpunkt muss der Computer etwa 5000 Rechenoperationen durchführen.
SPRECHER:
Dabei gilt: Je kleiner die Maschen, desto punktgenauer sind die Vorhersagen. Umso mehr Rechenzeit verschlingt das ganze aber auch.
SPRECHERIN:
Der Abstand der Gitterpunkte reicht heute von rund 28 km bei globalen Modellen bis zu 1 km bei lokalen Modellen.
SPRECHER:
Und in der Forschung gibt es bereits Ansätze, die mit einer Auflösung von sage und schreibe wenigen Metern arbeiten - mit denen man das Wettergeschehen also fast wie mit einer Lupe inspizieren kann.
SPRECHERIN:
Die Sache hat allerdings einen Haken. - Felix Ament:
12-O-TON Ament - Nadelöhr Rechenzeit
„Der Haken ist einfach die Rechenzeit: Also wenn sie zum Beispiel – das ist gerade geschafft worden von der Universität Hannover, die haben den gesamten Großraum Berlin mit einer Auflösung von zehn Metern gerechnet. Die haben für eine Vorhersage-Stunde fünfzehn Stunden Rechenzeit gebraucht. Und das ist eben dann für den operationellen Betrieb natürlich nicht sinnvoll, denn wenn sie mit vierzehn Stunden Verspätung mit dem Ergebnis der Wettervorhersage ankommen - das Wetter von gestern interessiert dann niemanden mehr.“ 21:55
MUSIK: M 5 Radar (2) 1:20
SPRECHER:
Die Forscher sind trotzdem hellauf begeistert. Sie hoffen, die Rechenzeiten immer weiter verbessern zu können: durch schlankere Programme, durch bessere Hardware. Und mit den immer engeren Maschen, die Präzision und damit auch die Zuverlässigkeit immer weiter zu steigern.
SPRECHERIN:
Der Erfolg scheint Ihnen recht zu geben: Alle zehn Jahre konnten die Meteorologen bislang die Vorhersage-Güte um rund einen Tag steigern.
SPRECHER:
Sprich: Nach einer Dekade sind sie in der Zuverlässigkeit einer Vier-Tages-Vorhersage dort angelangt, wo sie vor der Dekade noch bei einer Drei-Tagesvorhersage lagen.
SPRECHERIN:
Die Herausforderung schwankt dabei natürlich je nach Parameter: Luftdruck und Lufttemperatur lassen sich oft sogar zehn Tage im Voraus bestimmen. Auch Wolken in drei bis acht Kilometern Höhe und Windrichtungen sind ganz gut vorherzusehen. Wind-Geschwindigkeiten hingegen und sogenannte Cirruswolken in großer Höhe sind viel komplexer - und daher meist schwer einzuschätzen.
SPRECHER:
Als Faustregel gilt: Große Sachen: leicht vorherzusagen. Kleine Sachen: eher schwierig! - Gerhard Lux:
13-O-TON Lux - Kleinräumig
51.35 „Das heißt wir können heutzutage Orkane oder große Schlechtwetter-Gebiete, die vom Atlantik heranziehen, die können wir über Tage hinweg vorher schon erkennen - (nicht in allen Einzelheiten - aber wir wissen, da wird etwas passieren, das wird am Wochenende bei uns sein). Bei Gewittern, oder noch schlimmer vielleicht bei Hagel, haben wir es mit Dingen zu tun, die vielleicht nur einen Durchmesser von rund zwei Kilometern haben. Bei den Gewitterzellen und beim Hagel - das weiß jeder, der das schon beobachtet hat, - ist das eine Sache von vielleicht wenigen hundert Metern. D.h. auf der einen Straßenseite liegt der Hagel kniehoch - und auf der anderen Seite ist nichts runter gekommen, nicht mal ein Tropfen Regen.“ 52:50
SPRECHERIN:
Je kleinräumiger die Phänomene sind, desto mehr werden sie vom „Prinzip Zufall“ bestimmt.
SPRECHER:
Überhaupt stoßen Meteorologen an grundlegende Grenzen: Es wird ihnen nie gelingen, das Wetter zu 100% vorherzusagen, weil das System Wetter eine ganz spezielle Eigenschaft hat: Es ist „chaotisch“.
SPRECHERIN:
So chaotisch wie der Wurf eines Würfels:
14-O-TON Ament - Chaotisches System
5:00 „Also die Physik hat auch bestens verstanden, wie ein Würfel fällt, und was passiert, wenn er auf dem Tisch aufprallt, und wieder wegspringt. - Aber das zeichnet eben das Chaos aus: ganz minimale Änderungen. Wenn sie den Würfel nur ganz klein bisschen anders werfen oder eine kleine Unebenheiten am Tisch haben, dann führt das zu einem ganz andern Ergebnis – und das ist eben dasselbe, was wir im Wetter auch haben. Wenn wir am Anfang etwas andere Anfangsbedingungen haben, dann führt das ab einem gewissen Zeitpunkt zu völlig anderen Ergebnissen.“
SPRECHER:
Ein Gewitter gleicht so eher einem zufälligen „Brodeln im Kochtopf“ - und lässt sich eben nur extrem schwer fassen:
15-O-TON Ament - Blubbern
25:30 “Das ist so aussichtslos, wie wenn sie sich vor ihren Kochtopf am Herd stellen und die Vorhersagen machen wollen an welcher Stelle als nächstes eine Blubberblase hochkommt. Die einzige Vorhersage, die wir gut machen können, ist, dass es Blubbern wird - dass es ein Risiko für Gewitter und Schauer geben wird. Das ist genauso wie Sie wissen, wenn sie den Herd anstellen: Ja, es wird blubbern. Das funktioniert auch zuverlässig, aber es wird immer die Situation geben, dass es die Vorhersage gab - ‚Es gibt am Nachmittag Gewitter‘ - und einzelne Leute werden sagen: Wieso, ich hab doch nichts gesehen?“
SPRECHER:
Anstelle von präzisen Vorhersagen lassen sich dann nur noch Wahrscheinlichkeiten berechnen: „Sie haben eine Chance von 50 % trocken zu bleiben, von 30 % trocken zu bleiben.“ usw. - Mehr geht nicht.
Musik M 1 – Länge: 0:40
ZITATOR-1
„Und jetzt zum Wetter...“ - oder: Wie kommuniziert man Unsicherheiten?
ZSP-COLLAGE (Wettervorhersagen)
SPRECHERIN:
Die Bandbreite der Wetterprognosen ist heute so groß wie nie: Vom klassischen Bericht in Radio und Fernsehen bis hin zu multimedial aufbereiteten und individualisierten Wetter-Apps auf dem Smartphone.
SPRECHERIN:
Auch der Deutsche Wetter Dienst hat im Laufe der Jahre maßgeschneiderte Vorhersagen entwickelt - ganz nach Kundenwunsch:
SPRECHER:
Wettervorhersagen für die Landwirtschaft und Schneefall- und Glatteiswarnungen für den Straßenverkehr gehören ebenso dazu wie Unwetterwarnungen: ein vollautomatisches System informiert Feuerwehr, Polizei und Katastrophenschutz über aufziehende Extremereignisse.
SPRECHERIN:
In den letzten Jahren sind allerdings auch ganz neue Zielgruppen aufgetaucht - auch aus der Wirtschaft.
SPRECHER:
Beispielsweise Energiekonzerne. Für die sind präzise Vorhersagen inzwischen bares Geld:
16-O-TON Koppert - Wetter als Wirtschaftsfaktor
16:45 „Ich gebe ihnen mal ein Beispiel: Nehmen wir mal an, wir haben eine Vorhersage gemacht, dass ein Windfeld zu einem bestimmten Zeitpunkt kommt. Dann werden an der Strombörse die Preise dafür gemacht. Und es kann folgendes passieren: Nehmen wir an, dieses Windfeld verspätet sich um eine Stunde, dann muss der Übertragungs-netzbetreiber in dieser Stunde in der der Wind noch schwächer weht, muss er Strom teuer zu kaufen. Wenn dieses Windfeld länger anhält am Ende dann, hat er eine Stunde mehr Strom als er geplant hat. In dem Falle muss er sehen, dass er den Strom los wird. Es kann sein, dass er für den Strom, den er los wird, sogar noch bezahlen muss.“ 17:50
SPRECHERIN:
Dabei ist, Vorhersagen zu berechnen, die eine Herausforderung. Diese Daten auch verständlich aufzubereiten und zu kommunizieren, eine ganze andere.
SPRECHER:
Hier lauern jede Menge Fallstricke. Beispielsweise der „Crying Wolf“-Effekt. Wer zu viel schreit, also zu häufig warnt, dem hört irgendwann keiner mehr zu.
SPRECHERIN:
Wer andererseits im entscheidenden Moment zu spät oder gar nicht warnt, hat ebenfalls ein Problem:
SPRECHER:
Ein weiterer Ansatz: Unsicherheiten kenntlich zu machen, und eben auch deutlich als Unsicherheiten zu kommunizieren! - Felix Ament:
18-O-TON Ament - Unsicherheiten
„Wenn man eben sagt die Niederschlagswahrscheinlichkeit beträgt 70 %, dann sagen viele Leute: Was bedeutet das denn jetzt? Es regnet morgen ja oder nein? 70% ist ein schwieriger Begriff. Deshalb ist das nicht unbedingt der Schritt mehr in Richtung größerer Genauigkeit aber der Schritt dahin, dass wir unsere Unsicherheit auch mit-kommunizieren können, dass wir sagen können - ja morgen wissen sehr genau, es wird regnen und übermorgen müssen wir zugeben: Es ist nicht vorhersagbar. Aber wir können das eben quantifizieren, wir können sagen was sicher ist und was nicht.“ 37:23
SPRECHERIN:
Und: Der „Wetterkunde“ braucht es konkret.
SPRECHER:
Damit entsprechende Warn-Botschaften tatsächlich ankommen, müssen Durchschnittsbürger auch wissen, was diese Warnungen für sie bedeuten – und zwar ganz praktisch. Hans-Joachim Koppert:
19-O-TON Koppert - Auswirkungen
„Und deswegen wird auch eine Weiterentwicklung sein, tatsächlich die Auswirkung besser zu erfassen und die Auswirkungen auch zu kommunizieren - denn wenn man die Auswirkungen genauer fassen kann - das erfordert auch noch Forschung – wird das auch besser verstanden. Also einfach gesagt: Fliegen meine Dachziegel jetzt vom Dach, ja oder nein? Das ist eine Aussage, die kann besser antizipiert werden, als zu sagen: Wir haben jetzt Beaufort 8 oder 9.“
Wasser ist der Quell des Lebens - aber auch schier ungeahnter Kräfte. Talsperren mit ihren Wassermassen hinter hohen Staumauern und Staudämmen sind wichtiger Bestandteil unseres Wasserhaushalts. Sie können Überflutungen verhindern, die Mauern für das Wasser dürfen aber selbst nie brechen. Von Inga Pflug (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Gabi Hinterstoisser, Christian Jungwirth
Technik: Tim Höfer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Thomas Keller, Leiter Wasserwirtschaftsamt Ansbach;
Helga Pfitzinger-Schiele, Wasserwirtschaftsamt Ansbach;
Professor Dr. Dirk Carstensen, Wasserbauingenieur. Technische Hochschule Nürnberg;
Georg Simon Ohm, Institut für Wasserbau und Wasserwirtschaft; Präsident des Deutschen Talsperrenkomitees;
Dr. Martin Meiske, Experte für Wissenschafts-, Technik- und Umweltgeschichte am Deutschen Museum
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Literaturtipps:
Martin Meiske, „Die Geburt des Geoengineerings“ – Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Beherrschbarkeit der Natur und bauliche Großprojekte als Lernorte des Menschen
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Sprecherin:
Der Brombachsee im Fränkischen Seenland: Badestrände, Campingplätze und Freizeitanlagen, schattige Wälder, Bootsanlegestellen und Radwege locken hier Einheimische und Touristen an. Hier wird geangelt, dort gesurft oder mit dem Standup Paddle der See erkundet. Wasservögel ziehen hier ihre Bahnen, Wellen schwappen ans Ufer, 8,7 Millionen Quadratmeter Wasserfläche bietet allein der Große Brombachsee mit seinen gut fünf Kilometern Länge. Er ist damit fast so groß wie der bayerische Tegernsee …
MUSIK Bioreactor, Science in motion, Backes, Daniel; Moslener, Peter, 0:33 Min)
Sprecher:
… doch dieses Natur-Idyll ist nicht natürlich. Das wird an der Brombachsee-Ostseite deutlich: Große Steine säumen hier die Wasserkante – und auffällig gerade steigt hier eine Böschung empor. Nur mit Gras bewachsen und oben so breit, dass Fahrzeuge den Weg auf der Kuppe entlangfahren können.
Ganze 1,7 Kilometer erstreckt sich der hohe Wall von einer Uferseite zur anderen. Und beim Blick von oben auf die wasserabgewandte Seite hinunter wird klar: Dieser Wall bildet eine Wand und hindert die schier unvorstellbaren Wassermassen des Sees daran, sich ins darunterliegende Tal zu ergießen – es zu überfluten. Es ist der Hauptdamm des Brombachsees.
01 Pfitzinger-Schiele:
Hier sieht man schön diese Mächtigkeit des Dammes und eben auch diese Abstufung im Prinzip: Oben ist er schmäler und er wird dann immer breiter. Und das ist im Prinzip das Gewicht, das dann diesen Damm auch hält.
Sprecherin:
Erklärt Bauingenieurin Helga Pfitzinger-Schiele. Sie arbeitet beim Wasserwirtschaftsamt Ansbach und erklärt: Der Staudamm muss nicht nur Wind und Wetter trotzen, sondern auch 144 Millionen Kubikmeter Wasser im See halten. Also 144 Millionen mal 1.000 Liter. Zum Vergleich: Ein Schwimmbecken von 50 mal 20 Metern und 2 Metern Tiefe fasst zwei Millionen Liter Wasser. Das wären 72000 Schwimmbecken.
Sprecher:
Entsprechend hoch ist der Staudruck des Wassers.
Um das Wasser im Tal sicher zu stauen, sind für den Hauptdamm am Großen Brombachsee rund 3,5 Millionen Kubikmeter Erdreich nötig – das haben genaue Berechnungen ergeben.
Sprecherin:
Im Querschnitt sieht der Staudamm wie in Trapez aus. Also unten breit und oben schmal, bestehend aus mehreren Erd-Schichten.
02 Pfitzinger-Schiele:
Der hat in der Mitte im Prinzip einen Dichtkern und an diesem Dichtkern angelagert ist dann das homogene Material, dichte Material, und außen drauf, also das letzte dann, um im Prinzip das Gewicht auch für den Damm herzustellen, ist dann der Stützkörper.
Sprecherin:
… beschreibt Helga Pfitzinger-Schiele. Lapidar gesprochen sorgt der Stützkörper also dafür, dass das Wasser den Damm nicht wegschiebt. Auf einer Schemazeichnung sieht es aus, als lehnten Erdmassen von beiden Seiten an einer senkrecht stehenden Mauer. Wobei:
03 Keine Mauer:
Keine Mauer, sonders das ist auch Erdmaterial, aber hoch vergütet, also wirklich kaum durchlässig. Und das ist also dieser Dichtkern, so bezeichnen wir das, und außen ist dann im Prinzip noch vergütetes Material, Dichtmaterial und dann kommt der Stützkörper.
Sprecherin:
36 Meter ist die künstliche Böschung hoch – unten 150 Meter breit. Und damit kein Wasser unter dem Damm hindurch laufen kann, ist auch der Sandstein unterhalb des Damms noch einmal abgedichtet: Ein bis zu 38 Meter tiefer Schlitz ist hier in den Untergrund gefräst und mit Beton verfüllt. So dass das Wasser, das der Staudamm quer zur Fließrichtung im Tal absperrt, insgesamt auf mehr als 70 Metern Höhe auf eine Barriere trifft.
MUSIK (Drytech, Reduced and neutral - Music for film, Kreuzer, Anselm C.; Delmonte, Tony, 0:51)
Sprecher:
So oder so ähnlich sehen Staudämme an Talsperren weltweit aus. Sie halten den Wassermassen quasi durch ihr Eigengewicht und den flachen Böschungswinkel Stand. Je höher das Wasser eingestaut werden soll, desto breiter muss auch der Damm werden.
04 Carstensen:
Also ich beschreibe es den Studierenden immer so: einen Meter nach oben, drei Meter nach rechts und die Schräge, die sich dadurch ergibt, so wäre der Damm dann jeweils geneigt.
Sprecherin:
… erklärt der Wasserbauingenieur Professor Dirk Carstensen die Faustformel. Er lehrt an der Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm. Außerdem ist er Präsident des Deutschen Talsperrenkomitees
Sprecher:
Die Faustformel bedeutet auch: Da geht es ganz schön in die Breite. Bei 50 Metern Höhe schon 150 Meter Breite – auf beiden Seiten des Trapez‘. Die Kronenbreite dazu gerechnet, steht so ein Damm dann rund 315 Meter breit in der Landschaft.
Sprecherin:
Der Platzbedarf ist also enorm und nicht überall lassen sich solche schieren Massen an Material beschaffen oder hinbewegen.
Sprecher:
Wo kein geschütteter Staudamm zum Einsatz kommen kann, setzen Wasserbauingenieure auf massive Staumauern, die danach klassifiziert werden, wie sie den Wassermassen standhalten. Eine gängige Bauweise sind sogenannte Gewichtsstaumauern, beschreibt der Wasserbauingenieur:
06 Carstensen:
Die haben also eine relativ gerade Vorderfront und sie haben dann in der Regel eine Dreiecksform nach hinten. Was mit der eigentlichen Masse oder der Gewichtskraft zu begründen ist, dass das Ding gegen den Wasserdruck, der von der Wasserseite kommt, auch dort stehen bleibt und nicht weggeschoben werden kann. Das Wasser, wenn es in der Höhe da vor der Mauer steht, will es ja eigentlich die Mauer wegschieben. Und damit das nicht möglich ist, wird das Ding so gebaut. Es kippt dann nicht, das Ganze, durch diese Dreiecksform. Und es ist auch schwer genug, dass es stehenbleibt. Zusätzlich ist es natürlich an den Flanken und im Untergrund verankert.
Sprecherin:
Auch sogenannte Pfeiler-Staumauern tragen den Staudruck des Wassers dank ihres Eigengewichts in die Umgebung ab. Beide kommen in breiteren Tälern mit tragfähigem, felsigem Untergrund in der Talsohle in Betracht.
Sprecher:
Bogen-Staumauern dagegen nutzen statisch-wirksame Formen, um dem Wasserdruck Stand zu halten: Ähnlich wie die Gewölbe von Kirchendächern leiten sie die Kräfte in die Umgebung ab, also in die Hänge oder Gebirgsflanken. Die Bogen-Staumauer selbst wölbt sich dabei dem Wasser entgegen. Im Vergleich zu Staudämmen wirken Staumauern geradezu zu filigran.
Sprecherin:
Gemeinsam haben die unterschiedlichen Formen der Absperrbauwerke aber vor allem eins: jedes ist ein Unikat, angepasst an seinen individuellen Standort, betont Dirk Carstensen.
07 Carstensen:
Man muss den Fluss angucken. Man muss das Tal angucken. Man muss eine vernünftige Basis haben für Stauraum und Größe des Bauobjektes. Die Standsicherheit ist eine ganz wichtige Frage; Nutzungen, die dann später damit verbunden sind. Und ich denke natürlich auch an viele ökologische Fragen. Aber ich will deswegen nicht sagen, dass wir keine Möglichkeiten hätten. Wir haben Möglichkeiten, um auch solche Objekte in Zukunft in Deutschland noch zu errichten.
MUSIK (ARD-Labelmusik Celestial red, Filled with wonder. Music for film, Koerner, Michi; Watzinger, Sebastian, 0:34 Min)
Sprecher:
Die Gründe für den Bau von Talsperren sind vielfältig: Staubecken nehmen Wasser auf und speichern es – und aus den Staubecken kann das gespeicherte Wasser dann wieder kontrolliert abgegeben werden.
Somit dienen Stauseen als Puffer und Zwischenspeicher bei Hochwasser – und bei Trockenheit können die Flusspegel unterhalb aus dem Reservoir gespeist werden. „Niedrigwassererhöhung“ ist hier der Fachbegriff.
Sprecherin:
Aber das ist nicht das einzige. Mittels Wasserkraft kann Strom erzeugt werden. Und das Oberflächenwasser kann zu Trinkwasser aufbereitet werden – wie etwa an den Trinkwassertalsperren Mauthaus in Oberfranken oder Frauenau in Niederbayern.
Sprecher:
Und noch etwas: Stauseen können dem Freizeitsport dienen, sind Erholungsgebiete, Tourismusmagnete und Wasserreservoir für Landwirtschaft und Industrie.
Sprecherin:
Die Landschaft zu formen und ihre Wasserführung zu verändern – ein früher Wunsch der Menschheit:
08 OT Meiske:
Zu den ältesten bekannten Dammprojekten, wenn man so möchte, gehören jene, die so am Euphrat und Tigris, in Mesopotamien und im Mittleren Osten so um 3.000 bis 2.500 vor unserer Zeitrechnung entstanden. Aber auch für die Zeit des römischen Imperiums so gerade im ersten und zweiten Jahrhundert sind einige antike Staudämme überliefert, …
Sprecherin:
… sagt Dr. Martin Meiske, Experte für Wissenschafts-, Technik- und Umweltgeschichte am Deutschen Museum.
09 OT Meiske:
Also vor allem in den Provinzen des Imperiums, die im heutigen Nordafrika, Vorderasien, aber eben auch auf der iberischen Halbinsel liegen. Das heißt, wir haben auch heute noch zumindest in Teilen erhaltene Dämme, die in Spanien zu finden sind. Und jetzt mal so, um einige Beispiele aus dieser antiken Kategorie zu nennen, es gibt den See von Homs in Syrien oder die Proserpina-Talsperre in Spanien, die sind noch erhalten, oder da gibt es zum Teil dann eben modernere Überbauten, die man sich anschauen kann.
Sprecherin:
Diese frühen Bauwerke – meist Stein- oder Erdschüttdämme – dienten wohl vor allem der Bewässerung und sollten vor der zerstörerischen Kraft des Wassers bei Überflutungen schützen.
MUSIK (In carta, Neo String Quartet, Le procédé Rodesco / Letort, 0:18 Min)
Sprecher:
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts dürfte es dagegen das Verlangen nach der energetischen Kraft des Wassers sein, die das Interesse an Talsperren intensiviert:
10 Meiske:
Wir befinden uns in dieser Hochphase der Elektrifizierung: beleuchtete Städte, elektrische Antriebe, Transformation in Industrie und Mobilität. In der Zeit werden eben diese größeren Wasserturbinen auch entwickelt, und in Kombination mit entsprechenden Generatoren kann man dann größere Mengen an Strom produzieren. Und natürlich entwickeln sich diese Baumaterialien auch weiter. Ja, also, es werden in dieser Zeit im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts Unmengen an Beton genutzt und dessen Einsatz und Qualität entwickelt sich Anfang des 20. Jahrhunderts natürlich deutlich.
Sprecher:
1924 wird im Süden Deutschlands das Walchensee-Kraftwerk fertiggestellt, das heute als Wiege der industriellen Stromerzeugung in Bayern gilt; in den 1950ern entsteht im Allgäu durch den Roßhaupten-Damm schließlich der Forggensee, der flächenmäßig größte Stausee Deutschlands.
11 Meiske:
Es gibt einen ganz großen Antrieb in den 30er und 40er Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks. Aber die Hochphase ist tatsächlich eher so in den Fünfziger und 70er-Jahren also, was man jetzt im gemeinhin so als die Zeit der großen Beschleunigung, des globalen Wirtschaftswachstums und der Ressourcenmobilisierung beschreibt. Und dafür ist eben Wasserkraft auch ein Teil davon.
MUSIK (Checkless progress (b), Engineering science, Jebsen, Lars, 0:27 Min)
Sprecherin:
Das weltweite Talsperrenregister der Internationale Kommission für große Talsperren listet mehr als 59.000 große Talsperren.
Als „groß“ gilt eine Talsperre dann, wenn es vom tiefsten Punkt der Gründung bis zur Krone des Damms mehr als 15 Meter sind. Oder auch, wenn mehr als drei Millionen Kubikmeter Wasser gestaut werden.
Maßstäbe, die die mittlerweile gebauten oder geplanten Absperrbauten längst übertreffen: 300 Meter und mehr messen die höchsten Bauwerke auf der Liste der Internationalen Kommission.
Sprecher:
Damit sind sie zwar „nur“ so hoch wie etwa der Eiffelturm in Paris – doch die Absperrwerke stehen ja eben nicht frei in der Luft, sondern stemmen sich riesigen und somit gewichtigen Wasserreservoirs entgegen. Die Volumina der Speichervermögen sind so groß, dass sie nicht in Millionen, sondern in Milliarden Kubikmetern angegeben werden.
Sprecherin:
Und – auch das gehört zur Wahrheit über Talsperren: Die Bauwerke bringen nicht nur Licht, sondern auch Schatten in die Täler:
12 Meiske:
Weil diese Eingriffe natürlich starke Nebeneffekte haben wie Erosion, Abfall von Grundwasser in den Regionen…
Sprecherin:
…sagt Technik- und Umwelthistoriker Martin Meiske – aber nicht nur das:
13 Meiske:
Man schätzt so ungefähr, dass so 40 bis 80 Millionen Menschen inzwischen umgesiedelt werden mussten. Oft ist es auch so, dass die ländlichen Gemeinden, die dann da häufig ja betroffen sind, auch andere Formen der Landschaftsnutzung oder auch der Wassernutzung haben, die damit in Konflikt stehen, mit diesen Ausbauten.
Sprecherin:
… die dann aber den Wassermassen weichen müssen.
14 Meiske:
Das sind ja oft ländliche Gemeinschaften, teils indigene Communities. Das sind dann ganz asymmetrische Machtkonflikte mit großen Unternehmen, mit Staaten, die sozusagen dann diesen Ausbau vorantreiben. Und da werden natürlich auch nicht zuletzt die Agrarflächen und Flussläufe, sondern auch so erinnerungskulturell bedeutende Stätten durchschnitten oder überflutet. Und das ist auch Teil des Konflikts.
Sprecherin:
Dazu kommen Auswirkungen auf das Ökosystem, wenn aus Feldern und Wiesen plötzlich Seen werden – oder Flussbetten nicht mehr trockenfallen. In aufgestauten Seen können sich Mückenlarven vermehren, die Krankheiten übertragen. Künstliche Dauerbewässerung kann zu einer Versalzung des Bodens führen, und ausbleibendes Wasser unterhalb von Talsperren hat nicht nur Auswirkungen auf die Fischpopulationen und deren Wanderrouten, sondern auch auf die Menschen am Unterlauf der Flüsse, die gegebenenfalls vom Fischfang leben.
Sprecher:
In den 1990er-Jahren drängen Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen daher darauf, die sogenannte “World Commission on Dams“ einzusetzen. Das Expertengremium spricht in seinem Abschlussbericht im Jahr 2000 von einem positiven Effekt von Staudämmen auf die Entwicklung vieler Länder – denen aber oft enorme soziale und ökologische Schäden gegenüberstünden.
Sprecherin:
In Bayern etwa fordern verschiedene Gemeinden einen Ausgleich für ihre Leistungen und die Nachteile, die für sie entstehen, weil sie Trinkwasser bereitstellen. Der Markt Nordhalben im Landkreis Kronach gehört zum Beispiel dazu: Auf seinem Gebiet liegt Bayerns erste Trinkwassertalsperre Mauthaus, auch Ködeltalsperre genannt. Sie versorgt 70 oberfränkische Kommunen mit Trinkwasser – die Lasten durch strenge Auflagen trage aber die wasserliefernde Kommune, so die Argumentation.
Sprecher:
Nicht zuletzt gehört zur Geschichte der Dämme außerdem auch die Geschichte der Damm-Katastrophen. Deren Liste ist lang. Martin Meiske nennt als Beispiel etwa die Katastrophe von Vajont, in den 1960er-Jahren in Italien:
15 Meiske:
Durch den besonderen Druck, der auf das Tal entstanden war, gab es hier sozusagen Erdrutsche, die zu einer Flutwelle geführt haben, der schätzungsweise 2.000 Menschen zum Opfer gefallen ist. Der San Francis Damm in Kalifornien zum Beispiel 1928, wo über 400 Leute dann im Rahmen der Überflutung gestorben sind. Oder wir wissen natürlich auch aus aktuellen Konfliktsituationen, dass so ein Damm auch Ziel von kriegerischen Angriffen sein kann. Mann schafft natürlich, oder man konzentriert ein gewisses Risiko durch diesen Dammbau.
ATMO Damm außen
Sprecherin:
Zurück am Großen Brombachsee im Fränkischen Seenland: Gespeist mit den Hochwassern der Altmühl ist der See seit dem Jahr 2000 vollständig eingestaut.
Sprecher:
Nur den wenigsten Wassersportlern, Wanderern und Radfahrern dürften die weißen Quader auffallen, die an der Böschung des Hauptdamms in regelmäßigen Abständen aus dem Gras ragen. Messpunkte für die Dammüberwachung, erklärt Thomas Keller vom zuständigen Wasserwirtschaftsamt:
16 Keller:
Also wir haben über 4.000 Messpunkte, die untersucht werden. Wir untersuchen Damm-Verformungen, wir untersuchen Höhenlagen, wir untersuchen Wasserdrücke, also ein Potpourri oder ein Blumenstrauß an Sicherheitsmessungen. Und wenn Sie rein optisch – und auch das gehört dazu, regelmäßige Damm-Begehungen – eine feuchte Stelle erkennen würden, dann müssten sofort die Alarmanzeichen losgehen.
Sprecherin:
Auch überspült werden darf der Damm nie. Sogenannte Hochwasserentlastungsbauwerke schützen bei Stauanlagen daher vor einem unerwünschten oder unkontrollierten Anstieg des Wasserspiegels im Staubecken. Quasi wie der Überlauf bei einem Waschbecken – die kleine Öffnung oben am Rand, die das Wasser ableitet, bevor es über den Beckenrand schwappt und das Badezimmer überschwemmt– leiten diese Entlastungsbauwerke ein Zuviel an Wasser ab, bevor es durch ein Überlaufen Schaden anrichten würde.
Sprecher:
Kontrolliert wird aber nicht nur von außen:
Etwas abseits, hinter einem Zaun, liegt der Zugang zum sogenannten Krafthaus. Zwei Durchströmturbinen und Generatoren erzeugen hier Strom aus dem Wasser, das aus dem See abgelassen wird. Quasi nebenbei, denn der eigentliche Zweck des Speichersees ist die Anhebung der Niedrigwasserführung in den Flüssen unterhalb.
Zutritt haben hier nur Berechtigte. Denn von hier aus führt auch ein Tunnel in den Damm.
ATMO Kraftwerk
ATMO Schlüssel
18 Keller:
Also, wir sind jetzt im Damm des großen Brombachsees. Wir laufen quasi jetzt in Richtung Wasserfläche, in das Dammbauwerk hinein und da hindurch und sind am Ende dieses Kontrollwegs dann rund 30 Meter unter Wasserstand.
ATMO Damm innen
Sprecherin:
In regelmäßigen Abständen sind Druckanzeiger an den Betonwänden des Gangs angebracht. Farbige Markierungen am Boden und an den Seiten dienen als Orientierung für Messungen, jede Fuge ist bemaßt, so dass jede Veränderung bemerkt werden würde.
In der Mitte des Damms angekommen, führt eine schmale Treppe ein Stück im Damm nach oben. Hier verläuft der Kontrollgang einmal durch die komplette Länge des Damms: 1,7 Kilometer. Neonröhren erhellen den Tunnel, der sich in der Ferne in einer ganz leichten Biegung verliert.
Ein leises Plätschern erinnert daran, dass auf der anderen Seite der Betonwand ein riesiger See liegt. Ein Plätschern, das für Thomas Keller kein Grund zur Beunruhigung ist:
ATMO Sickerwasser
19 Keller:
Das ist jetzt eine Zusammenfassung von mehreren Blöcken, wo wir das anfallende Sickerwasser, was immer kommt, ein Erdbauwerk ist ja nie hundertprozentig dicht, anfällt. Und für uns ist eben wichtig: Wieviel ist es? Ist es im tolerierbaren Rahmen? Haben wir eine Veränderung? Gibt es eine Tendenz nach oben, ist es gleichbleibend – also das ist für uns, drum müssen wir es auch wiederkehrend immer wieder messen. Wird auch aufgezeichnet, dass die geringste Abweichung eventuell zu Maßnahmen führen würde.
Sprecherin:
Als letzter Ausweg aus einer Katastrophe bliebe die Notabsenkung. Dann würde dem Brombachsee quasi der Stöpsel gezogen und die Flüsse unterhalb müssten das Wasser ableiten. Entsprechend hohe Pegelstände wären die Folge.
MUSIK m03 (C1589890109, Drytech, Reduced and neutral - Music for film, Kreuzer, Anselm C.; Delmonte, Tony, 0:31)
Sprecher:
Wasser ist der Quell des Lebens, wo es fehlt, geht nichts mehr: Industrie, Schifffahrt und Landwirtschaft hängen vom Wasser ab. Es erzeugt Energie und ist nicht zuletzt unser wichtigstes Lebensmittel. Gleichzeitig bedroht es uns bei Starkregenereignissen und Unwettern, klimawandel- und jahreszeitlich bedingt mit seiner schieren Kraft und Masse.
Für Wasserwirtschaftler wie Dirk Carstensen vom Deutschen Talsperrenkomitee sind Stauanalgen deshalb elementare Werkzeuge – und zwar sowohl im Nutz- als auch im Schutzwasserbau. Auch wenn nicht immer alles gleichzeitig zu haben ist:
21 Carstensen:
Wenn ich zum Beispiel Wasserkraft betreiben will, dann brauche ich viel Wasser, also hohe Wasserstände. Wenn ich aber andererseits Hochwasserschutz betreiben will, dann sollte ich vor dem Hochwasser möglichst viel Platz in meiner Talsperre haben, damit ich das Hochwasser aufnehmen kann. Da haben wir einen gewissen Widerspruch. Touristische Nutzung und Trinkwasser – ja, das sind zum Teil konkurrierende Zwecke. Die Betreiber versuchen dort, das entsprechend auszugleichen und möglichst viele Zwecke anzubieten. Aber es gibt durchaus ausschließende Faktoren, ausschließende Kriterien.
MUSIK (Bioreactor, Science in motion, Backes, Daniel; Moslener, Peter, 0:43 Min)
Sprecherin:
So sind beispielsweise Trinkwassertalsperren zwar hervorragende Naherholungsgebiete – Wassersport sollte dort aber eben nicht betrieben werden.
22 Carstensen:
Es werden immer mehr Menschen, immer mehr Menschen brauchen immer mehr Wasser. Und wir sehen ja selber, wie es ist, wenn wir aus dem Grundwasser ziehen und der Regen nicht hinterherkommt, dass wir dann auch Defizite kriegen können.
Sprecher:
… argumentiert Dirk Carstensen. Angesichts des Klimawandels wäre der Bau weiterer Stauanlagen für ihn eine logische Konsequenz.
23 Carstensen:
Zum Trinken, zum Waschen, zum Duschen: 570 Millionen Kubikmeter Wasser, das sind ungefähr zehn Prozent der Wasserversorgung, werden im Moment aus Talsperren bestritten, in Deutschland. Das könnten und werden wahrscheinlich auch in Zukunft mehr werden. Und wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir dieses Wasser bereitstellen wollen – und da bin ich nun mal auch in meiner Funktion beim deutschen Talsperrenkomitee mehr oder weniger verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass Talsperren eine ideale Möglichkeit dafür sind, Wasser zu sparen und verschiedene Zwecke damit zu betreiben.
Sprecherin:
Für andere „bodengebundene“ Zwecke wäre so ein geflutetes Tal dann allerdings verloren. Weshalb neben allen geologischen und wirtschaftlichen Faktoren gesellschaftlicher Konsens eine Grundvoraussetzung für den Bau neuer Staudämme, Staumauern und Talsperren sein muss.
Bäume haben eine beruhigende Wirkung auf uns - ein Spaziergang durch den Wald reduziert Stress. Doch Bäume können auch wehrhaft und angriffslustig sein: Sie kämpfen um Platz, Licht und Ressourcen. Von Claudia Steiner (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Prof. Joachim Kadereit, Evolutionsbiologe;
Christine Messineo-Gleich, Botanischer Garten Augsburg;
Markus Bennemann, Wissenschaftsjournalist und Buchautor.
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Literaturtipps:
Markus Bennemann, Böse Bäume, Goldmann;
Peter Wohlleben, Das geheime Leben der Bäume, Heyne
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Die klassische "Hausfrau" ist tot. Oder doch nicht? Wer kocht, putzt und wäscht, wenn alle arbeiten? Und wann entstand das Bild der "Hausfrau"? Von Julia Fritzsche (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Fritzsche
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate himmelstoß, Rahel Comtesse, Frank Manhold
Technik: Michael Krogmann, Christine Frey
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Barbara Duden (Professorin; emeritiert; Historikerin Universität Hannover);
Gabriele Winkler (Professorin; Arbeitswissenschaftlerin der Universität Hamburg)
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-TON „MUTTER“
Wenn meine Mutter gefragt wurde „Was machen Sie?“, dann sagte sie „Ich arbeite gar nicht, ich bin Hausfrau“.
ERZÄHLERIN:
Barbara Duden spricht von ihrer Mutter. Wie die meisten Frauen der 50er und 60er Jahre war diese Hausfrau. Und wie viele Frauen damals behauptete sie, sie arbeite nicht. Dabei arbeiteten Hausfrauen natürlich. Sie wurden nur nicht dafür entlohnt. Warum machten Frauen diese Arbeit? Das war keineswegs selbstverständlich, stellt die Historikerin Barbara Duden bei ihren Forschungen bald fest – die Hausfrau war vielmehr etwas historisch Neues.
(Soundbreak)
Barbara Duden ist in den 60er und 70er Jahren eine junge Historikerin. Wie viele ihrer Generation ist sie frauenbewegt und versteht nicht, wie ihre Mutter so leben kann. Ein Leben als Hausfrau empfindet Barbara Duden…
O-TON „ÖDE“
… als vollständig veraltet, isolierend, öde, grauenhafte Existenz, kann man überhaupt nicht aushalten, unlebbar (…).
ERZÄHLERIN:
Sie begibt sich auf die Suche. Die Arbeit von Frauen ist zu dieser Zeit kaum erforscht.
Barbara Duden und andere Forscherinnen ihrer Generation machen sich auf: Mitte der 70er treffen sie sich zu sogenannten „Frauen-Sommeruniversitäten“ und widmen ihre Studien fortan der Lebenswirklichkeit von Frauen. Eine der wenigen Studien dieser Jahre, die die Arbeit von Hausfrauen sichtbar machen soll, ist „Das unsichtbare Tagwerk“.
O-TON „TAG BEGINNT“
Schon morgens, wenn das losgeht: dass das Kind, das Schulkind, ohne, dass es sich sperrt und sagt ‚ich will aber nicht dahin‘ rechtzeitig in seine Kleider kommt und rechtzeitig und gefrühstückt und mit einem Pausenbrot ausgestattet und mit seinem Schulranzen gepackt und seinen Schulsachen geordnet in die Schule gebracht wird oder dorthin läuft.
O-TON WINKER „LEBEN DER HAUSFRAU“
Also man muss, finde ich, immer diesen Familienernährer dazudenken.
ERZÄHLERIN
So Gabriele Winker, Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der technischen Universität Hamburg. Die Hausfrau der 50er und 60er Jahre in der jungen Bundesrepublik ist nicht denkbar ohne den Familienernährer.
O-TON WINKER FORTS
Und dieser bestimmt dann über das Haushaltsgeld, wieviel Geld für Lebensmittel, für notwendige Güter wie Kleidung oder elektrische Geräte, gekauft werden können. Und der Hausfrau auf der anderen Seite obliegen wirklich alle Haus- und – und da benutze ich jetzt auch mal den Begriff - „Sorge-Arbeiten“, der mehr auf die menschlichen Beziehungen hinweist. Sie kümmert sich halt nicht nur umfassend um die Erziehung der Kinder und auch das Wort leibliche, seelische und sexuelle Wohl des Ehemanns, sondern pflegt auch umfassend ihre unterstützungsbedürftigen Eltern und zudem wie selbstverständlich auch die Schwiegereltern sowie unverheiratete Tanten oder Nachbarn und so weiter.…
ERZÄHLERIN:
Kinder, Küche, Kranke – die Hausfrau hält den Laden am Laufen. Aber seit wann? Gemeinsam mit der Historikerin Gisela Bock macht sich Barbara Duden auf die Suche: Gab es die „Hausfrau“ schon immer?
O-TON „GEBURT DER HAUSFRAU + GEBURT 2“
Die große Entdeckung damals in der zweiten Frauenbewegung war, dass Hausarbeit gar nichts Traditionelles war, sondern mit der Industriegesellschaft überhaupt erst aufkam, genauer gesagt eigentlich richtig ausgestaltet im 20. Jahrhundert. Die Aufgabe der Hausfrau, Ehefrau und Mutter gab es vor der Modernisierung nicht.
ERZÄHLERIN:
Die moderne Hausarbeit, stellen Duden und Bock fest, entsteht erst mit dem Kapitalismus und der Industrialisierung: denn erst hier bilden sich Städte heraus
und eine Trennung von Arbeitsplatz und Zuhause, Menschen gehen zum Arbeiten.
Bis dahin waren Haus und Hof meist eins, waren Arbeitsplatz und Zuhause eins: ob im ländlichen bäuerlichen Betrieb oder im kleinstädtischen Gewerbe, die Arbeiten finden meist zuhause statt, ein Haushalt ist eine wirtschaftliche Einheit. Es leben unterschiedlich viele mit in einem Haushalt, aber alle arbeiten mit, Erwachsene wie Kinder, oft auch Mägde, Knechte, Lehrlinge, Gesellen.
Männer sind zwar eher auf dem Feld und im Wald tätig, Frauen eher im Haus, Garten und Stall, doch gerade die ihnen verantworteten Tiere sind oft sehr ertragreich, ihre Arbeiten offensichtlich bedeutsam.
SPRECHERIN
„keine Frau, keine Kühe, keine Milch, kein Käse, kein Geflügel, keine Eier, hier die einfache Rechnung“
ERZÄHLERIN:
…schreiben Duden und Bock in ihrer Studie „Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit“ 1977. Frauen machen in der vorindustriellen Zeit viele Arbeiten, die offensichtlich dem häuslichen Betrieb dienen. Sie dreschen, spinnen, weben, nähen, sie stellen Produkte her, verarbeiten sie weiter, verkaufen sie auf lokalen Märkten. Vom Anbau des Flachses bis zum fertigen Bettlaken.
Manche arbeiten auch außer Haus, als Näherinnen, Verkäuferinnen, die Armen als Lumpensammlerinnen, Lastenschlepperinnen, Kloaken-Entleererinnen, doch zuhause sind sie meist für etwas Zentrales verantwortlich: Haushalten, Aufbewahren, Erhalten – ziemlich einfach, weil es oft wenig
zum Haushalten, Aufbewahren und Erhalten gibt. Die Arbeit der Frauen ist Teil der wirtschaftlichen Einheit des Haushalts. Wenn sie kochen, müssen sie entscheiden: machen sie die Suppe warm und nahrhaf, damit der Knecht gesund und kräftig für die Arbeit auf dem Feld ist, wozu sie aber einfeuern müssen, was teuer ist?
Oder machen sie eine kalte Grütze, die billiger ist, von der der Knecht aber mit der Zeit schwach und krank werden kann. Kochen ist also ersichtlicher Teil der Ausgaben des Betriebes und gilt nicht wie später die Arbeit der Hausfrau als privater Liebesdienst an Mann und Kindern. Auch die später zentrale Hausfrauen-Tätigkeit Waschen machen zwar Frauen, sie ist aber anders gestaltet: Böden werden nur von übelsten Dreckschichten befreit und Wäsche zwei bis vier Mal im Jahr gewaschen, damit nicht Mäuse oder Fäulnis kommen – Schmutz ist damals aber auch ein anderer als der spätere dreckige und giftige Ruß der Fabrik.
Wird gewaschen, findet das am Fluss oder Brunnen statt.
O-TON „GEWÄSCH“
Die Wäsche …war etwas sehr Öffentliches. Denn an der Wäsche kann mal vieles sehen: das Blut der Frau oder den Samen des Mannes. Und wenn die Wäsche dann an der Leine hing und die Nachbarin nochmal darauf schaut und was dazu sagt, ... Sie können sich fragen, woher das Wort „Gewäsch“ kommt, „was hat die Nachbarin für ein blödes Gewäsch von sich gegeben“. Das hängt direkt mit der Wäsche zusammen.
ERZÄHLERIN:
Noch etwas unterscheidet die im Haus arbeitende Frau der vorindustriellen Zeit von der späteren Hausfrau: es gibt keine Familien, sondern Haushalte, so Duden und Bock, alle möglichen Menschen leben und arbeiten hier, nicht nur Verwandte.
Weder existiert damals die Vorstellung romantischer Liebe – geheiratet wird nach Güterverteilung, und oft mehrfach, weil einer stirbt –, noch existiert die Idee von Kindheit, wie der Sozialhistoriker Philippe Ariès herausstellt.
Kinder wurden am Feldrand abgelegt oder zu Ammen gegeben, wenn sie größer sind, arbeiten sie mit oder werden in einer Schule verwahrt, von Geschwistern oder einer größeren Kinderschar mitgeschleppt. Wo keine Kindheit ist, da auch keine Mutterrolle, zusammengefasst:
O-TON „KEINE TRENNUNG“
Es gab nicht: privat und öffentlich. Es gab nicht die scharfe Trennung zwischen entlohnter und nicht entlohnter Arbeit, zwischen Erwerbsarbeit und häuslicher Arbeit.
ERZÄHLERIN:
Wie kommt es dann zu Hausfrau und Kleinfamilie, in der einer arbeiten geht und eine zuhause bleibt?
(Soundbreak)
Im 18. und 19. Jahrhundert findet zunächst in England, später auf dem europäischen Festland und in Nordamerika die Industrialisierung statt: Essen, Kleider und andere Bedarfsmittel werden nicht mehr in erster Linie für und im eigenen Haushalt hergestellt oder von nahegelegenen Haushalten bezogen, sondern zunehmend an spezifische Produktionsstätten verlegt: dort sollen mechanische Webstühle, Spinnmaschinen und andere neue Maschinen die Herstellung beschleunigen.
Die Arbeitsschritte werden aufgesplittet, dürfen aber nicht zu weit voneinander entfernt sein, weswegen Zentren und Städte entstehen.
Aus der Einheit von Haus und Hof, in dem alle arbeiten, wird eine Fabrik als Arbeitsplatz und eine Wohnung als Schlafstätte. Anfangs gehen beide Geschlechter aus der städtischen Schlafstätte in die Fabrik, oft für bis zu 16 Stunden, ohne Ruhepausen, bis zur Erschöpfung und zu niedrigen Löhnen. Ihre Kinder stellen sie auch mit Opiaten ruhig, viele davon sterben früh, denn es kümmert sich niemand. Bald überziehen Epidemien die Arbeiterschaft, …
SPRECHERIN:
…die fast nicht mehr im Stande sei, sich zu reproduzieren, in der die Lebenserwartung bei zwanzig Jahren liege und in der die Menschen im frühen Alter an Überarbeitung sterben.
ERZÄHLERIN:
…schreibt die italienisch-amerikanische Frauenforscherin Silvia Federici. Die Fabrikbesitzer merken: uns fehlen die Arbeitskräfte, es kommt niemand nach. Irgendjemand muss also nach Hause und sich darum kümmern, dass die Arbeitskräfte stark und am Leben bleiben und neue nachkommen.
Mit vielfältigen Fabrikgesetzen, so Federici, verringern die Fabrikbesitzer die Arbeit der Frauen oder machen sie unattraktiv, indem sie sie schlecht bezahlen. Gleichzeitig erkämpfen sich die männlichen Arbeiter zu dieser Zeit, von denen sich immer mehr als Klasse verstehen, sozialstaatliche Leistungen, kürzere Arbeitszeiten und Löhne, die für eine Familie zumindest irgendwie reichen. Der Alleinernährer wird geboren – und mit ihm: die Hausfrau. Hinter jeder Fabrik und jedem Büro steht also die Arbeit von Frauen, die den Männern den Rücken freihalten, sie warten, Arbeiterkinder großziehen und dabei die Tatsache unter den Teppich kehren, dass sie sich so in die Abhängigkeit eines einzelnen Lohnverdieners begeben. Das gilt allerdings nicht für alle Schichten, manche Hilfsarbeiter verdienen weiterhin so wenig, dass auch die Frau arbeiten muss, in der Mehrheit bleibt sie aber nun zuhause.
Für den Unternehmer heißt das: für einen Lohn erhält er nun zwei Arbeitskräfte. Gestützt wird dieses ökonomische Modell vom Ideal der Kleinfamilie und einer privaten Abgeschiedenheit der Familie von der Gemeinschaft. Dieses Ideal hatte sich im 18. und 19. Jahrhundert im Bürgertum herausgebildet, der neuen besitzenden und formal gebildeteren Klasse, die sich einerseits von Adel und Klerus, andererseits von Bauern- und Arbeiterfamilien abgrenzen wollte.
O-TON „ELTERNSCHLAFZIMMER“
Wenn sie einen bürgerlichen oder großbürgerlichen Haushalt im 19. Jahrhundert von der Architektur betrachten, dann sehen Sie, wie die Räume neu geordnet werden, … also das Elternschlafzimmer ganz oben und hinten…
ERZÄHLERIN
…und weiter vorne der Salon und das Wohnzimmer, wohin sich Besuch aufhält. Anders als der Adel kann sich das Bürgertum zwar nicht unbedingt Hausangestellte leisten, es soll aber trotzdem der Eindruck einer abgeschiedenen Privilegiertheit entstehen. In vielen Fällen wird also sowohl aus der bürgerlichen Hausherrin eine Hausfrau, als auch aus dem ehemals angestellten Hausmädchen – sofern
sie verheiratet ist und ihr Mann einen Alleinernährerlohn heimträgt. Das Bild von Privatheit und Familie hat sich vom Bürgertum auf das Arbeitermilieu übertragen, wo Frauen nun ebenfalls zuhause bleiben sollen.
ZITATOR
„Alle Verdienstmöglichkeit gibt den Frauen einen vulgären Charakter, in ihrer Erscheinung und in ihren Verhaltensweisen, während Abhängigkeit im Unterhalt von dem Mann die Quelle allen bescheidenen und freundlichen Umganges ist“.
ERZÄHLERIN
So heißt es in einem medizinischen Untersuchungsbericht gegen Ende des
19. Jahrhunderts in England. Waren Frauen einst also sichtbare Arbeitskräfte im häuslichen Betrieb, sind sie nun abhängige, unsichtbare und unbezahlte Arbeiterinnen, deren Tätigkeiten als Liebesdienste gelten.
Ihre stilisierte Rolle als liebliche Gattin, Hausfrau und Mutter und die ihr zugrundeliegende Arbeitsteilung fördern staatliche Gesetze. So werden Familien steuerlich bessergestellt, insbesondere solche, wo eine Person wenig oder gar nicht verdient. Der Zuschuss kommt allerdings nicht der Haus-Arbeiterin zu Gute, sondern dem Mann.
Vor allem Unternehmen fördern die neue Arbeitsteilung, so das Forschungsergebnis von Duden und Bock: die höheren Familienlöhne werden aus Branchen- oder Regional-Fonds bezahlt, zu denen sich die Unternehmen zusammentun, denn sonst würde ein einzelnes Unternehmen immer nur unverheiratete, familienlose Männer anstellen und es würde auf lange Sicht keinen Nachwuchs geben.
Außerdem regen Unternehmer an, dass das Zuhause effizienter wird. In dieser Zeit neu entwickelte Haushaltsmaschinen halten Einzug erst in bürgerliche, dann in Arbeiter-Haushalte.
ZITATOR
Das Heim ist Teil einer großen Fabrik für die Produktion von Bürgern.
ERZÄHLERIN
…heißt es 1912 in einem Buch über „Homeefficiency“. Der Taylor‘sche Gedanke der Rationalisierung der Fabrik greift auch zuhause: dort soll wie im Betrieb Verschwendung und Ineffizienz vermieden werden. Zeitschriften, wissenschaftliche Institute und Hauswirtschaftsschulen unterstützen die Idee der „Wissenschaftlichen Betriebsführung im Haushalt“.
ZITATOR
Ein Arbeiter, der morgens schlecht gefrühstückt den Betrieb betritt, arbeitet bedeutend weniger effizient als einer, dem … seine Frau vor der Arbeit ein kräftiges Frühstück zubereitet hat.“
ERZÄHLERIN
.. sagt 1913 der US-Handelsminister, ein begeisterter Anhänger der Rationalisierung. Und der US-amerikanische Unternehmer Henry Ford richtet in seiner Autofabrik Detroit ein „Sociological Department“ ein, das in den Arbeiterfamilien gucken soll,
ob Engagement und Eifer vorhanden sind – nur dann erhalten die Arbeiter den 1914 eingeführten höheren 5-Dollar-Lohn. Das Fließband verlängert sich also nach Hause: volle Rationalisierung vom Band bis ins Bett. Die Frau kriegt nun für die Zubereitung von „Effizienzfrühstück“ und die Betreuung auch zukünftiger Arbeitskräfte allerlei Maschinen an die Hand: ab den 1920ern kommen Waschmaschinen, später Staubsauger, Brotschneidemaschinen und vieles mehr. Ein neuer Absatzmarkt erschließt sich: der private Haushalt. Die Maschinen machen die Arbeit durchaus etwas leichter, aber nicht alles lässt sich rationalisieren: Zuwendung, zu Trinken geben, Füttern bleibt – und die Freiheit der Hausfrau beschränkt sich
im Wesentlichen darauf, zu entscheiden, ob sie die Wäsche dienstags oder freitags macht. Die Hausfrau sorgt also nicht nur für die Familie, sondern auch für Profit. Während die Unternehmer für öffentliche Küchen und Waschanlagen Löhne zahlen müssten, ist ihre Arbeit umsonst: die Arbeit der Hausfrau.
(Sound)
Die Hausfrau wächst mit dem Kapitalismus mit: erst in reicheren Familien, dann
in Facharbeiterfamilien. Eine Ausnahme sind die beiden Weltkriege - während die Männer an der Front kämpfen müssen, ersetzen die Frauen sie in die Fabriken.
Ihre Hochzeit hat die Hausfrau deshalb erst in der Nachkriegszeit: die Wirtschaft wächst und die Arbeiter erstreiten sich zunehmend hohe Löhne, die Unternehmer zahlen, sei stehen auch in Systemkonkurrenz zum sozialistischen Osten.
Der Alleinernährer und die Hausfrau haben Konjunktur.
SPRECHERIN
„Ich sage mir immer, ich sei glücklich, sonst drehe ich durch“
ERZÄHLERIN
…zitieren Bock und Duden eine Hausfrau der 50er Jahre. Die Frauen dürfen derzeit nicht ohne Zustimmung des Ehemannes erwerbstätig sein, gleichzeitig werden sie als Heilige stilisiert - ein Widerspruch, der viele verstört oder gar krank macht, so Gisela Bock und Barbara Duden. Um die Rolle der Frauen zu beschönigen, heißt es auch noch, im Grunde hätten sie „die Hosen an“, hätten Frauen also die Macht und damit ein Bedrohungspotential, eine Gegenwehr nimmt das eher vorweg. Etwas anders ist die Situation für Frauen in der DDR: hier sind die meisten erwerbstätig, es gibt viel mehr öffentliche Infrastruktur wie Kitas, um den Haushalt kümmern sich aber trotzdem vorwiegend Frauen – in Doppelbelastung zu ihrem Job.
(Soundbreak)
Wie geht es weiter mit der Hausfrau in der Bundesrepublik? Mitte der 70er bricht die Wirtschaft in den westlichen Industrienationen ein, geöffnete Märkte verschärfen
die Konkurrenz, so dass Unternehmer die teuren Alleinernährerlöhne nicht mehr zahlen. Gleichzeitig drängen die Frauen in die Erwerbsarbeit. War in den 50er nur jede vierte verheiratete Frau erwerbstätig, so ist es in den 80ern jede zweite. Die Hausfrau verschwindet von der Bildfläche.
OT Winker Spezialfall 32:30
Wenn man sich heute überlegt, dass ein Familienernährer eine Frau ein Leben
lang, also bis zur Rente, ohne Armut im Alter, und sagen wir mal 1,5 Kinder im Schnitt ernähren soll: das geht nur noch bei Managergruppen oder Chefärzten, das schafft noch nicht mal mehr die Hochschullehrerin.
ERZÄHLERIN
Die Arbeit der Hausfrau muss aber weiterhin getan werden. Sie ist ja nicht weg. Einen Teil dieser Arbeit übernehmen heute weiterhin meistens Frauen, oft aus dem Ausland und meistens unter prekären Bedingungen.
Hausangestellte, also rumänische Kindermädchen, polnische Putzfrauen und ukrainische 24-Stunden-Pflegerinnen sind zu 80 bis 90 Prozent irregulär beschäftigt, also nicht sozialversichert, haben keinen bezahlten Urlaub, kriegen kein Krankengeld.
OT Winker Auslagern nicht normal
1000 bis 1500 Euro kriegt dann so eine Pflegekraft, das ist jetzt auch jenseits jedes Mindestlohns, also sie sind total schlecht entlohnt, weil die rund um die Uhr eingesetzt werden. Aber für, ich sag ich mal, die Durchschnittsfamilie ist das immer noch zu viel.
ERZÄHLERIN
In der Regel bleibt die Hausarbeit und Familienarbeit also in der Familie – in der aber beide jetzt erwerbsarbeiten.
Die ehemalige Hausfrauen-Arbeit besteht heute zusätzlich. In Deutschland leisten Männer im Durchschnitt 18 Stunden die Woche Haus- und Familienarbeit, Frauen 40.
Bei Erwerbsarbeit ist es ungefähr umgekehrt: Männer arbeiten mehr als Frauen –
mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Erwerbsarbeit bezahlt wird. Frauen haben also am Ende weniger Geld. Wenn Kinder kommen, kochen, putzen und waschen die Frauen neben dem Teilzeitjob - 69 Prozent der Frauen reduzieren dann im Job, sechs Prozent der Männer. Auch wenn diese Rollenverteilung im Wandel begriffen ist, gilt:
OT Winker Standard heute
Teilzeit ist heut der Standard für die Vereinbarung von Beruf und Familie, aber Teilzeit von Müttern und nicht von Vätern - und Teilzeit trotz Nachteile bei Scheidung für die Altersabsicherung, für die spätere Berufstätigkeit, vielleicht Aufstieg, Karriere. Das ist der Standard, der diese klassische Hausfrau ersetzt hat.
ERZÄHLERIN
Frauen mit Teilzeitjob in Abhängigkeit und mit Armutsrisiko, Frauen mit Vollzeitjob
in Doppelt- und Dreifachbelastung, Frauen ohne Arbeitsvertrag und Krankengeld,
die ihrerseits Fürsorgebedürftige in ihren Heimatorten zurücklassen: die Arbeit der einstigen Hausfrau wird weiter vor allem von Frauen und unter großer Belastung (bitte auch das „und“ sprechen, da es nicht nur um die Frauen geht, sondern auch darum, dass es eine große Belastung ist, genauso für die wenigen Männer, die
in dieser Rolle sind; danke! NR) gemacht werden, solange Kitas und Altenheime nicht gut ausgestattet sind und Stundenlöhne nicht so hoch, dass wir uns mehr Zeit für Familie und Haushalt nehmen können. Die historische und globale Ausnahme der Hausfrau hat nur für kurze Zeit verdeckt: dass sich Kochen, Kümmern und Kinderkriegen langfristig nicht der Logik von Effizienz, Rationalisierung und Profit unterwerfen lassen.
Schreiben für die kleinen Leute, das versprach Mitte des 20. Jahrhunderts wenig Renommee. Josef Guggenmos hat das geändert. Mit sprachspielerischem Witz, naturkundlichem Wissen und Liebe zur Beobachtung hat er Meisterwerke der Kinderlyrik geschaffen, die Generationen von Schülern prägen. Von Katharina Hübel (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Frank Mahnhold, Stefan Wilkening
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Literaturtipps:
Ein Dichter, der für Kinder schreibt. Hg. von Hans-Joachim Gelberg. 1992 Beltz Verlag. Weinheim.
Zeile, Dieter: Josef Guggenmos 1922-2003. Vergil für Kinder – Gugummer – Meister des Haiku. In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben. Bd. 17. Hg. von Wolfgang Haberl. 2010. Anton H. Konrad Verlag. Weißenhorn, S. 381-412.
Guggenmos, Josef: Gugummer geht über den See. 1957. Mitteldeutscher Verlag. Halle (Saale).
Guggenmos, Josef: Der junge Naturforscher. Von Tieren und Pflanzen. 1967. Verlag Carl Ueberreuter. Wien, Heidelberg.
Guggenmos, Josef: Wer nie ein Nilpferd gähnen sah… Tiere, dünn und dick, vier Dutzend Stück. 1969. Georg Bitter Verlag. Recklinghausen.
Guggenmos, Josef: Was denkt die Maus am Donnerstag? 1971. DTV. München.
Guggenmos, Josef: Gorilla, ärgere dich nicht! Ein Lachkabinett in Versen. 1971. Beltz&Gelberg. Weinheim und Basel.
Guggenmos, Josef: Oh, Verzeihung, sagte die Ameise. 1990. Beltz&Gelberg. Weinheim und Basel.
Guggenmos, Josef: Rundes Schweigen. Ausgewählte Haiku 1982-2002. 2016. BoD. Norderstedt.
Ganz im Norden Skandinaviens ist Europas einziges indigenes Volk zu Hause: die Sami. Sie leben mit und von der arktischen Natur. Ihre jahrtausendealte Geschichte ist auch eine Geschichte der Kolonialisierung. Heute stellen Klimawandel, internationale Politik und die Energiewende die traditionelle Lebensweise vor neue Herausforderungen. Von Andreas Pehl
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Pehl
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Schild, Rahel Comtesse
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Mari Boine (OV weiblich), Kyrre Frank, Henrik Gaup, Andreas Klein, Rune Norman (OV männlich), Bjørnar Julius Olsen (OV männlich), Liss Ellen Ramstad (OV weiblich)
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Das Rentier - Überlebenskünstler in der Arktis
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01 OT Mari Boine 920-58
Overvoice
Es ist wichtig, dass unser Wissen, wie man mit der Natur lebt, dass dieses Wissen überlebt. Denn das werden wir brauchen. Ich bin nicht sicher, dass das ganze Technologische ewig währt.
SPRECHERIN
Mari Boine ist als Sängerin auf den Bühnen der Welt zu Hause. Ihre Heimat in Norwegens nördlichstem Landesteil, der Finnmark, gehört zu Sapmi, dem Land der Sami. Es erstreckt sich von der russischen Kola-Halbinsel über Finnland und Schweden bis nach Norwegen. Mari Boine ist Sami, gehört zu Europas einzigem indigenen Volk.
MUSIK
Mari Boine: Elle, 4. Strophe bei 2:10
OVERVOICE Mari Boine
Wenn du mit deiner Herde bist,
die Rentiere mit dem stolzen Geweih ziehen siehst,
erwacht der Himmel zum Leben, beginnt, sich zu bewegen,
geliebter Sohn des Windes.
02 ATMO
Rentiermarkierung
SPRECHERIN
Steile Berge, tiefe Fjorde, weite Tundra mit verkrüppelten Birken, darüber der farbenreiche Himmel des Nordens – und eine Rentierherde. Fast ikonisch steht das Rentier für die samische Kultur.
03 MUSIK
Johan Sara Jr., Ensemble Noor: Dálvi (Winter) aus: „Gávcci jahkodaga/ Die acht Jahreszeiten“ 0‘28
04 OT Henrik Gaup 618
SPRECHERIN
Die Monate heißen Miessemánnu – Kälbermonat, Borgemánnu – Fellwechselmonat“ oder Golggotmánnu – Monat des erschöpften Bockes, erzählt Henrik Gaup aus Tromsø, dessen Rentiere im Sommer in den Lyngenalpen, im Winter in Kautokeino in der inneren Finnmark stehen. Das Jahr ist in acht Jahreszeiten unterteilt, die mit dem Zyklus der arktischen Natur verbunden sind: Frühlingswinter, Frühling, Frühlingssommer, Sommer, Herbstsommer, Herbst, Herbstwinter und Winter.
05 OT Henrik Gaup 602
SPRECHERIN
Henrik Gaup ist in zwei Welten zu Hause: als Rentierbesitzer in der samischen Kultur, als städtischer Verwaltungsangestellter in der westlichen Welt. Job, Arbeit – das sei ein westlicher Gedankengang, der alles gerne in Schubladen sortiert, meint er. Natürlich sei das mit den Rentieren Arbeit, aber nicht so, wie der Westen Arbeit definiert. Es sei ein Lebensstil, Teil der Identität.
06 OT Henrik Gaup 601
SPRECHERIN
Zwar leben und lebten nur rund 10% der Sami oder auch Samen genannt, hauptberuflich von der Rentierwirtschaft. Trotzdem haben rund zwei Drittel im Nebenerwerb oder in der Freizeit mit den Tieren zu tun. Henriks Brüder, die zu den 10% gehören, sagen: Wir arbeiten nicht. Henrik, der arbeitet. Der arbeitet im Büro.
07 OT Henrik Gaup 604
Die meisten Sami heute wohnen in Städten, haben gewöhnliche Berufe und pflegen ihre Kultur zwischen Mitternachtssonne und Nordlicht, samischer Tradition und einem Leben als Teil der westlichen Welt.
08 OT Henrik Gaup 605
Henrik Gaup meint: Hier passiert eine Kollision zwischen der westlichen und der samischen Art zu denken. Und das führe natürlich auch weit über die Familie hinaus zu Konflikten.
09 OT Henrik Gaup 617
Man muss sich anpassen an den westlichen Gedankengang, an die westliche Art, Dinge zu tun, davon ist Henrik Gaup überzeugt, der Betriebswissenschaft studiert hat und sich trotzdem in einem Spagat zwischen den Kulturen immer wieder fragt: was ist eigentlich lohnend? Sein nebenberuflicher Umgang mit den Rentieren jedenfalls nicht.
10 ATMO
Rentiermarkierung
SPRECHERIN
Wer im Urlaub in den hohen Norden fährt, trifft auf Sami in rot-blauen, fremdartigen Trachten, die Rentierfelle, Geweihe und mehr oder weniger traditionelles Handwerk verkaufen, der Rentiersame wird umfassend und sehr erfolgreich touristisch vermarktet.
11 OT Andreas Klein 200
Ich denke, dass die Samen doch recht häufig als die nicht-europäischen Europäer wahrgenommen wurden. D.h., dass man die gerne in Zusammenhang gebracht hat mit außereuropäischen Völkern. Immer auf so eine exotisierende Art.
SPRECHERIN
Andreas Klein ist Bibliothekar an der Universitätsbibliothek in Tromsø und hat sich mit dem Blick von außen auf die Sami beschäftigt.
12 OT Andreas Klein 201
Es gibt immer so diese romantisierenden Vorstellungen, das wird auch gerne vermittelt von der Tourismusindustrie. Bei dem Stichwort Samen denkt man in der Regel sofort an Rentiere.
SPRECHERIN
Das Rentier und die Sami – vielleicht hängt dieses Bild auch damit zusammen, dass die Menschen hier im Norden schon immer auch mit und von Rentieren gelebt haben. Die Tiere liefern Fleisch, Milch, Fell und Leder, Knochen und Horn für Werkzeuge und Kultgegenstände, sie sind Zugtiere und Weggefährten in der Wildnis.
13 O-TON Rune Normann 903a-25
OVERVOICE Rune Normann
Am Ende der Eiszeit, als das Eis sich zurückgezogen hat, sind die Rentiere hinterher gezogen. Und die Menschen sind ihnen gefolgt.
SPRECHERIN
Rune Normann ist Archäologe. Er arbeitet im Museum in Alta, 200 Kilometer unter dem Nordkap. Die Felsritzungen von Alta, die UNESCO-Welterbe sind, zeigen rund 6000 Figuren, davon 1500 Rentiere: Szenen aus dem Leben der Menschen vor etwa 7000 Jahren. Die Darstellungen zeigen weit mehr als nur Rentier- oder Bärenjagden und Fischfang.
14 O-TON Rune Normann 907-28
OVERVOICE Rune Normann
Die zahmen Rentiere wandern im Laufe eines Jahres von der Küste ins Inland und zurück. Die Menschen ziehen hinterher. Das ist eine ganz natürliche Wanderung.
SPRECHERIN
Rune Normann betont, dass es keine durchgehende Linie aus der Steinzeit zur samischen Kultur heute gibt.
15 O-TON Rune Normann 919a-32
OVERVOICE Rune Normann
Man muss hier von den Rentieren leben, wenn man ein Naturvolk ist. Das bedeutet nicht, dass es samisch ist oder norwegisch. Das bedeutet nur, dass die Menschen von der gleichen Natur gelebt haben.
Musik: Di Dien Luohkkai 0‘22
SPRECHERIN
Ab wann lässt sich eine samische Kultur erkennen? Erste archäologische Belege sind sogenannte Geröll-Gräber, erzählt Bjørnar Julius Olsen. Er ist Professor für samische Archäologie an der Universität in Tromsø.
16 OT Bjørnar 511-12
OVERVOICE Bjørnar
Geröll-Gräber liegen oft in Geröllfeldern, in denen man eine Kammer eingerichtet hat. Man hat die Toten in Birkenrinde eingehüllt begraben. Die ersten Geröll-Gräber sind etwa 800-900 Jahre vor unserer Zeitrechnung zu finden und das hält sich bis ins 18. Jahrhundert. Das ist wirklich eine sehr lange Tradition.
SPRECHERIN
Bereits der Begriff „Sami“ zeigt, welche Bedeutung der Austausch und der Blick von Außen hatten. Die Eigenbezeichnung „Sami“ bedeutet „Land“, „Menschen, die im Land wohnen“. Im Altnordischen wurden sie als „Finnen“ bezeichnet, als Wanderer, Spurensucher . Im Russischen, Finnischen und Schwedischen nannte man sie „Lappen“, ein Begriff, der heute nur noch abwertend gebraucht wird. Ursprünglich bedeutete er wohl „Handelspartner“ . Ein solcher kultureller Austausch lässt sich auch archäologisch belegen.
18 OT Bjørnar 504
OVERVOICE Bjørnar
Es gibt in der Eisenzeit ein paar deutliche Identifizierungsmerkmale als samisch oder als germanisch und altnorwegisch: rituelle Plätze, Begräbnistraditionen, landwirtschaftliche Siedlungen gegenüber Jagd- und Fangsiedlungen; Langhaus in der landwirtschaftlichen Bevölkerung und runde Häuser, zeltartige Gebäude im samischen Bereich.
SPRECHERIN
Auch ein halbnomadisches Leben hinterlässt deutliche Spuren: regelmäßige Siedlungsplätze, Rentierzäune oder Fanggruben bleiben in der arktischen Landschaft sehr lange erkennbar – ähnlich wie rituelle Stätten und Opferplätze.
21 OT Bjørnar 509a-09+10
OVERVOICE Bjørnar
Das religiöse Leben entfaltete sich an Opferplätzen in der Natur. Aber auch die Wohnung, die Gamme, war ein Ort für rituelle Aktivitäten. Die drei wichtigsten samischen Göttinnen wohnten jeweils in ihrem Teil des Hauses. Sáráhkká, Göttin der Schwangerschaft und der Geburt, wohnte unter der Feuerstelle. Uksáhkká, die das Geschlecht des Kindes im Mutterleib bestimmte, wohnte unter der Türschwelle des Haupteingangs. Und Juoksáhkká, die Jagdgöttin, wohnte unter dem hinteren Eingang.
SPRECHERIN
Die Gamme war in gewisser Weise ein Mikrokosmos, der die große Welt im Kleinen gespiegelt hat.
22 OT Bjørnar 509c-11
OVERVOICE Bjørnar
Viele der Werte, das Wissen und die rituelle Praxis, aber auch das Verständnis der Welt, wurden dadurch gelernt und gelehrt, dass man in der Gamme zusammenlebte.
SPRECHERIN
Das Christentum kam spät nach Sapmi. Während es sich in den Gebieten der Wikinger schon im Mittelalter etablierte, gab es lange Zeit nur vereinzelte Missionierungsbemühungen in den hohen Norden. Nach der Reformation begann jedoch eine Welle der Christianisierung durch reformierte, pietistische Missionare.
23 OT Bjørnar 516-16
OVERVOICE Bjørnar
Diese Missionare gingen sehr direkt zu Werke: mit der Zerstörung von Opferplätzen. Hunderte von samischen Trommeln wurden eingesammelt und vernichtet. Das war eine sehr konfrontative Linie im Verhältnis zur samischen Religion.
SPRECHERIN
Zu unbekannt und seltsam erschien die animistische Weltauffassung der Sami dem christlichen Europa, erklärt Andreas Klein aus Tromsø.
Nicht nur Missionare, auch Forscher machten sich auf in den Norden, um dieses fremde, seltsame Volk zu studieren. Einer von ihnen war Johannes Scheffer aus Strasburg, Professor in Uppsala. Sein Buch „Lapponia“, eine Beschreibung Lapplands, seiner Bewohner und ihrer Sitten, erschien 1673.
25 OT Andreas Klein 209
Er schreibt über ein reiches Kulturvolk mit sehr vielen Bräuchen und mit einer aus mitteleuropäischer Sicht bewundernswerten Geeignetheit, in dieser feindseligen Natur zu überleben. Und zugleich schreibt er über die Samen als natürlich zum schwedischen Königreich gehörenden Untertanen.
SPRECHERIN
Untertanen, die natürlich Steuern zahlen konnten und sollten. Zugleich versuchte Scheffer, Gerüchte über die Sami zu entkräften, die vor allem im katholischen Heiligen Römischen Reich verbreitet waren.
26 OT Andreas Klein 205 / a
Diese Gerüchte, die waren unter anderem die, dass man geglaubt hat, im Dreißigjährigen Krieg haben die Schweden nur deswegen gewinnen können, weil sie so viele samische Zauberer in ihren Reihen hatten.
SPRECHERIN
Heidnische Zauberer aus dem geheimnisvollen Norden hätten also den Sieg des Schwedenkönigs Gustav Adolf gegen die Katholische Liga ermöglicht…
27 OT Andreas Klein 205 / b
So etwas passt einer protestantischen Großmacht nicht.
28 ATMO
Trommelkurs
29 OT Andreas Klein 215
Die Trommel ist sehr zentral. Von den 25 Illustrationen sind elf in einem Kapitel zum Thema Religion untergebracht. Und da sind viele Trommelfelle mit den verschiedenen drauf dargestellten Symbolen abgedruckt. Und dann werden die Symbole erklärt. Man versucht, das Ganze irgendwie vertraut zu machen, dass man das verstehen kann. Und dann werden verschiedene Symbole zum Beispiel christlich interpretiert. Und das ist nicht immer falsch. Aber es ist auch nicht immer richtig.
ATMO
Trommel hoch
SPRECHERIN
Ein Lávvu, ein aus Holz nachgebautes samisches Zelt im lichten Wald im Tromsdal. Die Stadt Tromsø ist in Sichtweite. In der Mitte des Lávvu brennt ein offenes Feuer, Kyrre Frank und eine Handvoll Menschen sitzen im Kreis und trommeln. Kyrre Frank trägt eine lange samische Jacke aus Rentierleder, dazu einen reich verzierten Gürtel, an dem Messingringe hängen. Er ist samischer Noaidi, was sich am Ehesten mit „Schamane“ übersetzen lässt.
30 OT Kyrre Frank 818-35
SPRECHERIN
Die Trommel sei eines seiner wichtigsten Werkzeuge, erzählt Kyrre Frank. Nicht nur der Noaidi, jede Familie hatte ihre Trommel. Genutzt wurden sie vor allem bei Ritualen, bei denen man in Kontakt mit den geistigen Mächten kommen wollte, um das Wetter vorherzusagen, bei Krankheit oder um den Namen eines Kindes zu bestimmen.
Atmo
Trommel hoch
SPRECHERIN
Kyrre vertritt die Spiritualität der samischen Urvolksreligion, die er erforscht, revitalisiert und adaptiert.
31 OT Kyrre Frank 811-37
SPRECHERIN
Es gab auch weibliche Noaidi in der samischen Kultur. Aber wie die männlichen Kollegen waren sie in Lebensgefahr, als die Missionierung der Sami begann. Die Trommeln wurden ihnen weggenommen. Sie wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und später hatten sie dann auch ein Stigma durch die Sami selbst, die sich inzwischen mehrheitlich zum Christentum bekannten.
32 MUSIK-0K
Mari Boine – Vuoinnadan Baiki Liekkuslas 0‘26
SPRECHERIN
Ab dem 17. Jahrhundert untermauerte die große Missionsbewegung zugleich die territorialen Ansprüche der Staaten im Norden Europas. Die Nationalstaaten zogen Grenzen in das grenzenlose Land der Sami. Die Kirche repräsentierte den Staat. Samische Sprache und Kultur wurden als „halbwild“ und „teuflisch“ gebrandmarkt, erniedrigt, unterdrückt und verboten. Christlich-pietistische Theologie und Assimilierungspolitik verbanden sich zu einem machtvollen Werkzeug gegen alles Samische.
33 OT Mari Boine 907-26
OVERVOICE
Wenn du unsere Musik verbietest, unsere Kultur, dann sagst du damit: Ein Teil von dem, was dich ausmacht, ist nicht gut. Vergiss das! Werde ein anderer! Das ist Gewalt gegen ein Volk. Und genau das wurde mit den Sami gemacht. Über Generationen wurden die Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen, so dass sie glauben, dass ihr kulturelles Erbe Teufelswerk ist. Erst heute können Familien damit anfangen, offen darüber zu reden. Dann heißt es: Ja, wir hatten einen samischen Großvater, die Oma, die hat auch samisch gesprochen. Aber das sollten wir nicht laut sagen. Wenn man überlegt, was das mit den Menschen gemacht hat – das waren ungeheuerliche Übergriffe.
34 MUSIK 0N
Mari Boine – Gula-Gula 1’54
SPRECHERIN
Die samische Kultur und Sprache wurden in einer Mischung aus Religion, Rassenideologie, Nationalstaatsidee und Weltpolitik an der Russischen Grenze im Kalten Krieg als minderwertig abgestempelt. Neben den skandinavischen Staaten und ihren mitteleuropäischen Nachbarstaaten hat auch die Kirche eine sehr große Rolle gespielt.
35 OT Mari Boine 910-34a
OVERVOICE
Ich wusste: An dem Tag, an dem ich selbst die Trommel in die Hand nehme, provoziere ich den Teil meines Volkes, der glaubt, dass das vom Teufel kommt.
MUSIK
hoch
36 OT Mari Boine 909 mit Erweiterung-38
OVERVOICE
Die alten Rhythmen, die alten Erzählungen, all das war bei mir zu Hause verboten. Das sollte man vergessen. Das gehörte zum Teufel. Trotzdem begann ich, Musik zu machen aus diesen alten Rhythmen heraus. Und auf einmal hatte ich das Bedürfnis, Trommel zu spielen. Ich begann mit einer afrikanischen Trommel, das war sicherer. Viele Jahre lang spielte ich diese afrikanische Trommel, bis ich merkte: nein, ich brauche eine samische Trommel!
SPRECHERIN
Heute sind nur noch rund 80 dieser historischen Kultinstrumente erhalten. Die meisten samischen Trommeln außerhalb Skandinaviens liegen in den Depots deutscher Museen – die Sammelbegeisterung deutscher Fürsten und später deutscher Reisender kannte keine Grenzen.
MUSIK
hoch
SPRECHERIN
In Norwegen zog sich die Norwegisierungspolitik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.
37 OT Liss Ellen Ramstad 351
OVERVOICE
Das war eine offizielle Politik, die darauf zielte, die samische Kultur und Sprache abzuschaffen. Die norwegische Kultur sollte gestärkt werden. Man versuchte das unter anderem durch die Bildungspolitik. Unterricht gab es nur auf Norwegisch. Das war ein ganz starkes Druckmittel. Mit der Zeit hat sich das dann in alle Bereiche der Gesellschaft ausgebreitet: in die Wirtschaftspolitik, in die Gesundheitspolitik, in die Kirchenpolitik. Es wurde allumfassend. Das Ziel war eine Nation und eine Kultur. Und da war kein Platz mehr für das Samische.
SPRECHERIN
Liss Ellen Ramstad arbeitet in der Justizabteilung des samischen Parlaments. Diese Politik war nicht nur auf Norwegen beschränkt. Oslo handelte in mancher Hinsicht stellvertretend für ganz Europa, etwa im Hinblick auf die norwegisch-russische Grenze im Kalten Krieg.
38 OT Liss Ellen Ramstad 352
OVERVOICE
Das war Weltpolitik. Das gab eine Einigkeit unter den norwegischen Politikern, dass das eine offizielle Politik war, die in die Zukunft führen sollte und Norwegen stärken sollte. Und so wurde die samische Kultur, die immer in Norwegen ihren Platz hatte, unsichtbar.
SPRECHERIN
Erst in den 1980er-Jahren unternahm Norwegen als Vorreiter in Skandinavien erste Schritte zur Anerkennung der samischen Kultur. Im norwegischen Karasjok arbeitet seit 1989 das länderübergreifende beratend tätige samische Parlament, das „Sámediggi“. 1990 ratifizierte Norwegen die ILO-Konvention 169 über verbindliche Rechte der Urbevölkerung. 1997 drückte König Harald V. sein Bedauern aus für das Unrecht, das im Namen des Staates am samischen Volk verübt wurde. Trotz solcher Fortschritte kämpfen die Sami mit den Nachwirkungen der Geschichte, setzen sich für ihre Rechte ein, die immer noch übersehen werden.
39 OT Liss Ellen Ramstad 354-367
OVERVOICE
Wir arbeiten ganz intensiv daran, die Sichtbarkeit zurückzubekommen.
Worüber sich die Menschen nicht im Klaren sind, wenn sie auf Norwegen schauen, die mächtige Natur sehen und durch die Landschaft reisen: Das hier ist keine unberührte Landschaft. Hier waren schon immer Menschen unterwegs, die Natur wurde genutzt, zum Fischen, zum Ernten, für die Rentierwirtschaft. Die ursprüngliche samische Lebensweise ist eine sehr achtsame Art, die Natur und unsere Ressourcen zu gebrauchen.
SPRECHERIN
Sami wehren sich heute gegen einen sogenannten grünen Kolonialismus mitten in Europa, also gegen Windparks und Wasserkraftwerke auch deutscher Investoren, die Rechte und Lebensgrundlage der samischen Gemeinschaft einschränken. Sie warnen vor Land- und Flächenverbrauch für Siedlungen, Rohstoffe und Energiegewinnung, vor Umweltverschmutzung und Ressourcenverschwendung auch im Zuge vermeintlicher Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen. Auch wenn sie selbst ein Teil der modernen Welt sind: Viele sind unbequeme Mahner in schwierigen Zeiten.
40 MUSIK-0T
Dehtie baeleste – Marja Mortensson: Raajroe / The reindeer Caravan 0‘53
41 OT Liss Ellen Ramstad 356
OVERVOICE
Die Norwegisierungspolitik liegt in der Vergangenheit. Aber die Folgen sind noch immer allgegenwärtig. Der Druck auf die Sprache und Kultur setzt sich fort.
SPRECHERIN
Im Juni 2023 veröffentlichte die norwegische Wahrheits- und Versöhnungskommission einen Bericht, der sich mit der Geschichte der Diskriminierung und Unterdrückung der Sami und anderer indigener Völker in Norwegen auseinandersetzt. Liss Ellen Ramstad war Geschäftsführerin der Kommission.
42 OT Liss Ellen Ramstad 358
OVERVOICE
Es wurden Linien gezogen zwischen der Politik, die gemacht wurde und den Folgen, die man bis heute sieht. In der Gesamtschau ist der Bericht eine nachdrückliche Dokumentation darüber, wie sehr das eine Gesellschaft verändern kann.
Musik: Mari Boine: Elle 0‘45
SPRECHERIN
Es wird einige Generationen dauern, bis die Verletzungen geheilt sind; bis Vertrauen, Wissen und Dialog zwischen den Sami und der Majoritätsbevölkerung wieder eine stabile Basis haben; bis die Sami von den Touristen nicht mehr nur als dekorative Exoten mit Rentier am Straßenrand wahrgenommen werden. Der Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission bietet eine Grundlage, um Sapmi, die samische Kultur und das Leben in acht Jahreszeiten ins öffentliche Bewusstsein zu bringen.
Westlich geprägte Naturwissenschaftler erforschen die Welt nach allgemein anerkannten Regeln. Indigene Völker besitzen generationenaltes, traditionelles Wissen über ihre Umwelt, doch das funktioniert völlig anders als in "der Wissenschaft". Wie kann eine Zusammenarbeit gelingen, damit beide Seiten profitieren? Von Dagmar Röhrlich (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Dagmar Röhrlich
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Katja Amberger, Peter Veit
Technik: Laura Picerno, Regina Staerke
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Dr. Helmut Groschwitz, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Institut für Volkskunde;
Tyler Jessen, Wildtierökologe von der Universität Victoria in British Columbia;
Prof. Tero Mustonen, Ökologe, Gründer der Snowchange Cooperative;
Dr. Henry Huntington, Direktor für die Arktis bei Ocean Conservancy;
Ray Pierotti, Biologie-Professor an der Universität von Kansas
Linktipps:
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BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Atmo laufendes Wasser
Sprecherin
Mehr als 600 Jahre. So alt ist die Tradition der Wässerwiesen in Oberfranken: Damals erdachten die Bauern ein System aus Schöpfrädern, ausgeklügelten Grabensystemen und Wehren, um mit zwei großen Nachteilen ihrer Region fertigzuwerden:
ZSP 01 Helmut Groschwitz [14:57 – 15:46 ]
„Es ist eine Region, die relativ niederschlagsarm ist und hat gleichzeitig sandige, wasserdurchlässige Böden, also eigentlich ganz schlechte Voraussetzungen für eine Wiesenwirtschaft.“
Sprecherin
Die Bauern entwickelten und pflegten ihr ausgeklügeltes System, das Wasser aus Flüssen wie der Regnitz, Pegnitz oder Wiesent abzweigt.
ZSP 01a Helmut Groschwitz [14:57 – 15:46 ]
„Wenn der Boden zu trocken wird, zapft man quasi die Flüsse an, die dort durchlaufen, und überflutet die Wiesen ganz gezielt für ein paar Stunden. Durch die Gräben kann das Wasser wieder abfließen. Und in trockenen Jahren, sagen wir mal, so fünf- bis sechsmal muss dort gewässert werden. Und auf die Weise gibt es einen deutlich höheren Ertrag.“
MUSIK Aukai: "Colorado" (aukaimusic/ak-04) 01:12min
Sprecherin
Die alte Tradition wurde aus wirtschaftlichen Gründen entwickelt, damit auch im Sommer Gras wächst als Grünfutter für das Vieh. Doch sie brachte mehr als Grünfutter: Erst durch dieses Bewässerungssystem konnte eine artenreiche und ökologisch wertvolle Wiesenlandschaft entstehen, erläutert Helmut Groschwitz vom Institut für Volkskunde der Bayerischen Akademie der Wissenschaften:
ZSP 02 Helmut Groschwitz: [00:16:04]
„Wenn gewässert wird, dann stehen teilweise die Wiesen voller Störche, weil: Die freuen sich natürlich, weil viel von dem Bodengetier auch nach oben kommt. Weitere Effekte sind, dass der Grundwasserspiegel dort deutlich höher ist, dass man in der Region tatsächlich wenig Probleme mit Grundwasser hat.“
Sprecherin
Im Dezember von der Unesco als immaterielles Kulturerbe der Menschheit geadelt, praktiziert heute kaum noch jemand die alte Technik. Dabei ist sie Teil eines uralten ökologischen Wissens, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Sprecherin
Traditionelles Wissen darüber, wie natürliche Ressourcen geschützt und nachhaltig genutzt werden können, ist in allen Kulturen vorhanden. Doch bei indigenen Völkern ist dieser Schatz besonders groß.
ZSP 03 Tyler Jessen [00:03:59]
So generally indigenous knowledge tends to focus immediately on the areas in which these particular people might live. Right. They've been in these areas for a very long time and they have a lot of that intergenerational wisdom that accumulates.
VO
„Im Allgemeinen konzentriert sich dieses indigene Wissen unmittelbar auf die Gebiete, in denen diese Menschen leben. Denn sie leben schon sehr lange dort und haben über die Generationen hinweg viel Wissen angesammelt.“
Sprecherin
Dieses Wissen sei durch genaue Beobachtung erworben worden, erklärt der Wildtierökologe Tyler Jessen von der Universität Victoria in British Columbia.
ZSP 04 Tyler Jessen [00:03:59]
The way in which indigenous peoples accumulate knowledge can be valuable actually for science. So in this in a sense, it is very place based and it is very specific. But at the same time, there are lessons that everybody can learn from different indigenous cultures around the world.
VO
„Die Art und Weise, wie indigene Völker Wissen ansammeln, kann sogar für die Wissenschaft sehr wertvoll sein. Auf gewisse Weise ist alles sehr ortsbezogen und sehr spezifisch. Aber gleichzeitig gibt es Lektionen, die jeder von verschiedenen indigenen Kulturen auf der ganzen Welt lernen kann.“
MUSIK Aukai: "Alto Paraíso" (aukaimusic/ak-01) 00:45min
Sprecherin
Deshalb ist dieses überlieferte Wissen ins Zentrum des Interesses der modernen Wissenschaft gerückt. Dabei prallen zwei Welten aufeinander: Auf der einen Seite die messwertgetriebene, exakte Forschung, die genau bestimmt, wieviel Kohlendioxid in der Atmosphäre ist oder wie schnell die Meere versauern. Auf der anderen Seite steht das Erfahrungswissen der Menschen, deren Überleben seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden von ihrem Wissen über die Umwelt abhängt. Doch beide können sich ergänzen.
ZSP 05 Tero Mustonen [17:40 bis 18:17]
I have personally found it to be very rewarding when we have been able to work with Sami elders, for example, on 100 years of change, looking at the place names, how vegetation and tree line, for example, has been changing. So that... They were able to identify habitats that were there 80 years ago. And now we have the greening of the Arctic and species on the move. So many of the southern species are moving to the tundra to the... From temperate areas into the boreal forest and so on.
VO
„Ich fand es persönlich immer sehr bereichernd, wenn wir mit den Ältesten der Samen zusammenarbeiten konnten, um zum Beispiel den Wandel in der Arktis während der vergangenen 100 Jahre nachzuvollziehen. Allein in ihren Ortsnamen kann man erkennen, wie sich die Vegetation verändert hat. Sie sagen uns, wie es vor 80 Jahren an Orten ausgesehen hat, in denen heute Arten aus gemäßigten Zonen einwandern.“
MUSIK CBAWZ2101520 Time On Saturn 01:43
Sprecherin
Sagt der Professor Tero Mustonen (Terro Muss-to-nen). Der Ökologe ist selbst Finne, und einer der prominentesten Vertreter der Zusammenarbeit von Naturwissenschaft und indigenen Völkern. Er ist Gründer der Snowchange Cooperative, die im gesamten Arktisraum für den Erhalt der Ökosysteme und der lokalen Kultur eintritt.
ZSP 06 Tero Mustonen [22:55 bis 23:45]
For example, in northern Sweden, in an area close to Jokkmokk there's a place name called Biehtsiesjaure which means in translation, Scots Pine or Pine Lake. But it's today all filled with birch trees because of the ecosystem changes. And then I worked with some of the ladies in the area to ask them why is it called Scots Pine Lake in Sami language? And they started to explain, that when they were young, in their parents time, that was mostly dominated by scots pines, which is completely different boreal ecosystem than the birch forests that are there now.
VO
„Zum Beispiel gibt es in Nordschweden bei Jokkmokk einen Ort, der auf Samisch Bietsiesjaure [Pi-etsches-jauri] heißt. Übersetzt bedeutet das Kiefern oder Kiefernsee. Aber das gesamte Gebiet ist heute ein Birkenwald. Ich habe die samischen Frauen, mit denen ich dort zusammenarbeite, gefragt, warum es Kiefernsee heißt. Und sie haben mir erklärt, dass die Gegend zur Zeit ihrer Eltern und noch in ihrer Jugend von Kiefern geprägt war. Das ist ein völlig anderes Ökosystem als die Birkenwälder von heute.“
Sprecherin
Dieses Umweltwissen der samischen Frauen ermöglicht einen Blick zurück in Zeiten ohne Messwerte und Aufzeichnungen – das ist ein unschätzbarer Vorteil in Gebieten wie der Arktis, die sich durch den Klimawandel schnell verändern. Außerdem kann dieses traditionelle Wissen über ökologische Zusammenhänge der Forschung ganz neue Dimensionen eröffnen, sagt Henry Huntington.
ZSP 07 Henry Huntington [00:09:19]
So, in the in 1995, I was doing my my first project documenting indigenous knowledge. And this in this case we're talking about beluga whales in western Alaska and three elders from the communities of Elim, Shaktoolik and Koyuk had had come together, were sitting around a table talking about belugas.
VO
„1995 führte ich mein erstes Projekt durch, um indigenes Wissen zu dokumentieren. Es ging um Belugawale im Westen Alaskas, und aus den Gemeinden Elim, Shaktoolik and Koyuk waren drei Älteste zusammengekommen, saßen an einem Tisch und sprachen über Belugas.“
Sprecherin
Dr. Henry Huntington ist wissenschaftlicher Direktor für die Arktis bei der gemeinnützigen Organisation Ocean Conservancy. Seit Mitte der 1990er Jahre arbeitet er mit indigenen Völkern in Alaska zusammen:
ZSP 08 Henry Huntington [00:09:19]
And in the conversation about beluga whales somehow the conversation turned to beavers instead and I thought, okay, that means they're mammals, they swim. But you know, this is the wrong species. Why are we talking about beavers and and so on? And one of the elders looked at me and said, do you understand why we're talking about beavers? I said, Well, no, not really. And he said, well, the point is that the beavers around here, the population is increasing. That means they're damming up more streams. And those are the streams where the fish spawn that the belugas are eating down in the bay. And once he explained it, of course the connection is very clear.
VO
„Und während wir über die Belugawale sprachen, kam das das Gespräch stattdessen irgendwie auf Biber und ich dachte, okay, das sind Säugetiere, sie schwimmen, aber das ist die falsche Art. Warum reden wir über Biber? Und einer der Ältesten sah mich an und sagte: ‚Verstehst du, warum wir über Biber sprechen?‘ Ich sagte: ‚Na ja, nein, eigentlich nicht.‘ Und er sagte: ‚Na ja, es geht darum, dass die Biberpopulation hier in der Gegend zunimmt. Das bedeutet, dass sie immer mehr Bäche aufstauen. Und das sind die Bäche, in denen die Fische laichen, die die Belugas unten in der Bucht fressen.‘ Und nachdem er es erklärt hatte, war der Zusammenhang natürlich sehr klar
Sprecherin
Die Biberdämme verhindern, dass Fische zu ihren Laichgründen gelangen, was dann wiederum weniger Beute für die Belugas und damit weniger Wale bedeutet.
ZSP 09 Henry Huntington [00:09:19]
But I at least never would have anticipated talking about beavers in relevance to belugas. And I think most scientists wouldn't have. One is the freshwater sort of land associated animal. The other is a saltwater animal. And it took people who spend time in both domains, who understand the entirety of their local environment to see those kinds of connections. And to me, that was a huge eye opener. That boy, there's just so much more so much richer, deeper, richer knowledge here to be gathered from people who see this whole area as one complete system.
VO
„Doch ich zumindest hätte nie erwartet, dass man im Zusammenhang mit Belugas über Biber spricht – und die meisten Wissenschaftler hätten das wohl auch nicht: Das eine ist ein an Land lebendes und mit Süßwasser assoziiertes Tier, das andere ein Salzwasserbewohner. Es brauchte Menschen, die viel Zeit in beiden Bereichen verbringen, um diese Art von Verbindungen zu erkennen. Für mich war das ein Augenöffner. Es gibt hier so viel mehr, so viel tieferes, reichhaltigeres Wissen, das von den Leuten gesammelt werden kann, die dieses ganze Gebiet als ein komplettes System sehen.“
MUSIK Aukai: "Turning Days" (aukaimusic/ak-04) 01:06min
Sprecherin
Inzwischen wird dieses traditionelle Wissen nicht mehr nur von „exotischen“ Disziplinen wie der Ethnobiologie untersucht, sondern auch von – wenn man so will – Mainstream-Forschern. Mit Fernerkundung lässt sich zwar problemlos messen, wie sich Baumkronen durch den Klimawandel verändern. Doch was es wirklich bedeutet, wie sich die Umwelt dadurch verändert, das wissen die Jäger und Fischer am besten: Sie bekommen selbst in entlegenen Gebieten mit, was passiert – etwa, dass Rentiere andere Wanderrouten wählen. Die Zusammenarbeit dieser beiden Wissenswelten funktioniere jedoch nur, wenn die Partnerschaft auf Augenhöhe sei, urteilt Tyler Jessen. Dabei muss in den meisten Fällen erst einmal tief sitzendes Misstrauen gegenüber der Wissenschaft abgebaut werden. Denn deren Ruf ist bei vielen indigenen Völkern alles andere als gut.
ZSP 10 Tyler Jessen [00:10:30]
So, in the past, there has been a difficult relationship between a lot of indigenous peoples and Western scientists. And that stems from the the, you know, the bad reputation that science might have in a lot of these communities in that it was oftentimes very extractive in a sense. There was the the scientist would come into the community and would, you know, ask their questions for their own purposes, for their own research needs, then they would leave. And there was really no benefit to the community. In fact, there could be harm to whatever community they might be working with. So, as far as the relationship at least It is moving towards a more beneficial, mutually beneficial that is relationship between indigenous communities and scientists.
VO
„In der Vergangenheit war die Beziehung zwischen westlichen Wissenschaftlern und indigenen Völkern oft sehr schwierig. Die Wissenschaft hat in vielen dieser Gemeinschaften einen schlechten Ruf, weil sie die Menschen ausgebeutet hat. Die Forscher kamen, stellten Fragen für ihre eigenen Zwecke und verschwanden wieder. Für die Gemeinschaft gab es keinen wirklichen Nutzen. Im Gegenteil, es konnte ihnen sogar schaden. Inzwischen entwickeln sich die Beziehungen häufig mehr zum gegenseitigen Nutzen.“
Sprecherin
Für die Wissenschaftler bedeutet das, dass ihre Forschungsziele durchaus hinterfragt werden, allgemeine Verweise auf „Fortschritt“ reichen oft nicht aus. Was am Ende zählt, sind Vertrauen und persönliche Verbindung.
ZSP 11 Tyler Jessen [00:27:26 bis 28:08; 24:04 bis 25:13]
The first thing that I'd say that is that it just does take time. It does take a long time. I'm, I'm... There can be years that go by for for this kind of research. And that is just the nature of it. There is a saying that says that we don't there is a saying that says that we operate at the speed of trust. And I think that that's a very important thing to consider. // Relationships matter a lot with these indigenous communities. They matter a lot. It's it's that kind of transparency and reciprocity and working towards mutually beneficial research agreements is very, very important to Indigenous communities.
VO
„Meiner Meinung nach ist Zeit das Wichtigste, viel Zeit. Bei solchen Forschungsprojekte können Jahre ins Land gehen. Das ist einfach so. Es gibt eine Redensart: Wir arbeiten mit Vertrauensgeschwindigkeit. Und ich glaube, das ist sehr wichtig im Kopf zu behalten. Im Kontakt mit indigenen Gemeinschaften bedeuten Beziehungen viel. Transparenz, Gegenseitigkeit und gemeinschaftliches Arbeiten auf Vereinbarungen zu gegenseitigem Nutzen hin ist diesen Gemeinschaften sehr wichtig.“
MUSIK Aukai: "Turning Days" (aukaimusic/ak-04) 00:33min
Sprecherin
Allerdings erleben westliche Wissenschaftler oft zunächst eine Art „Kulturschock“. Anstatt der gewohnten Daten und Formeln kann ihnen die Überlieferung des indigenen Erfahrungswissens „fremdartig" und „unwissenschaftlich“ und damit „unbrauchbar“ erscheinen.
ZSP 12 Henry Huntington [00:05:27]
So the the many of the observations are, you know, people have been out on the land and see they've seen things, but some of the observations come from sources like dreams. And for the shamans that's seen as sort of a spiritual journey, they may have become a salmon or a whale or a moose and experienced the world from the perspective of that animal and of see how they see things. And that becomes an important part of the way they understand the world.
VO
„Viele Beobachtungen stammen von Menschen, die draußen etwas gesehen haben, aber einiges stammt aus Quellen wie Träumen. Für die Schamanen beispielsweise ist das eine Art spirituelle Reise. Sie sind vielleicht in einen Lachs, einen Wal oder einen Elch verwandelt worden und haben die Welt aus der Perspektive dieses Tieres erlebt. Und das wird zu einem wichtigen Teil ihres Weltverständnisses.“
MUSIK CBAWZ2101547 Overt Mission 01:13min
Sprecherin
Wissenschaftler könnten diese spirituelle Seite leicht abtun. Das sei ein Fehler, man sollte vielmehr fragen: ‚Okay, wie verstehen Sie die Umwelt und wie beeinflusst das, was Sie tun und wie Sie es tun‘, erklärt Henry Huntington.
Eine wertvolle Quelle sind auch die Legenden der Indigenen. Wenn sich solche Erzählungen über Jahrtausende des Zusammenlebens in und mit der Natur solche Erzählungen verbreitet und vor allem erhalten haben, steckt in all den Ausschmückungen oft ein wahrer Kern. Ein Beispiel sind die sagenhaften Feuerfalken, von denen australischen Aborigines vor allem im Norden des Landes erzählen. Sie berichten von Raubvögeln, die Feuer vom Himmel fallen lassen und so das Buschland in Brand setzen. Tyler Jessen:
ZSP 13 Tyler Jessen [21:26 bis 22:15]
It wasn't until just recently that some scientists decided to investigate this further and they asked people about this. And in this case, they what they with these scientists eventually found was that the various Australian raptors, these birds of prey might grab sticks from wildfires in Australia, these burning sticks and they would carry them to new areas and they would drop these sticks in order to spread the wildfire. And in doing so, that flushes out the small prey items that they could then prey upon. What it changed is that it sort of added a new dimension of how fire dynamics can operate, a new, a new method by which wildfires can spread.
VO
„Erst kürzlich haben Wissenschaftler diese Legende überprüft, und sie haben tatsächlich Raubvögel verschiedener Arten dabei beobachtet, wie sie brennende Zweige von einem Buschfeuer aufnahmen und in andere Gebiete trugen, wo sie sie wieder fallen ließen und ebenfalls Feuer entfachten. Der Zweck war, ihre Beutetiere aus den Löchern zu treiben. Das Verhalten hat aber auch der Ausbreitungsdynamik von Buschbränden eine neue Dimension hinzugefügt, einen neuen Verbreitungsweg für Feuer.“
MUSIK CBAWZ2101509 Celestial Dream 01:23min
Sprecherin
Der Biologe Ray Pierotti, Professor an der Universität von Kansas, nutzt Erzählungen der nordamerikanischen Indigenen, wenn er nach optimalen Methoden sucht, um Wildtierpopulationen oder ganze Ökosysteme in Nationalparks zu managen. Eine bedeutende Rolle spielt bei vielen Prärievölkern der Wolf. Sie betrachten ihn als eine positive, dem Menschen wohlgesonnene Kraft, die das Ökosystem der Prärie entscheidend prägt.
ZSP 14 Ray Pierotti [38:40 bis 39:18]
If you look at some of the stories from the the Blackfoot and the Cheyenne, they were actually hunting from wolves and learning to hunt from watching and interacting with wolves and that they noticed the impact that wolves were having on their environment. And that's why they then decided, okay, this environment that we're living in and seem to be having a good life in seems to be a result of the activities of these wolves. Therefore, we're going to regard them as the shapers of the environment, which from our perspective is creator.
VO
„Wenn man sich Erzählungen der Blackfoot oder der Cheyenne ansieht, dann stellt man fest, dass diese Völker sich ihre Jagdmethoden von Wölfen übernommen haben und dass sie den Einfluss der Wölfe auf das Ökosystem sehr genau erkannt haben. Deshalb wird in ihren Erzählungen sehr deutlich, dass die Umwelt, in der sie leben und von der sie sehr gut leben, dass diese Umwelt das Ergebnis der Aktivitäten der Wölfe ist, und dass sie deshalb den Wolf als Gestalter und in gewisser Weise sogar als Schöpfer ehren.“
CAONA2250732 Around every corner 00:32min
Sprecherin
Im Gegensatz dazu stand die Haltung der weißen Einwanderer. Sie betrachteten den Wolf als Feind und Konkurrenten und jagten ihn unerbittlich. Selbst in Yellowstone, dem ältesten Nationalpark der USA, wurden die Wölfe in den 1930er Jahren ausgerottet. Vor einem Vierteljahrhundert siedelte man dort wieder Wölfe an, nicht zuletzt, weil man erkannte, dass die Wapiti-Hirsche mangels Fressfeinden zu einer Plage geworden waren.
ZSP 15 Ray Pierotti [36:35 bis 37:03]
The presence of the wolfs has completely transformed Yellowstone. The ecology of the park is completely different than it was when there were no wolfs at all. It seems like almost all of the populations of other species are doing better, including the ones they hunt. The only one that's not as abundant is the elk population, which is their primary prey. But even they are a healthier population than they used to be.
VO
„Die Anwesenheit der Wölfe hat Yellowstone komplett verändert. Die Ökologie ist völlig anders. Es scheint, als ginge es allen Tier-Populationen besser, die eingeschlossen, die zum Beutespektrum der Wölfe zählen. Die einzige Art, deren Zahl drastisch zurückgegangen ist, ist der Wapiti, der die Hauptbeute der Wölfe ist. Aber selbst diese Population ist heute offenbar gesünder als früher.“
Sprecherin
Ray Pierotti ist bekannt dafür, dass er die indigenen Erzählungen und ihre rituellen Zeremonien auswertet, darin nach Hinweisen sucht, wie sich das Wildtiermanagement verbessern lässt. Dieser Ansatz ist bei einigen seiner Kollegen umstritten, aber er erklärt den Gewinn dieser Herangehensweise an einem Beispiel:
ZSP 16 Ray Pierotti [14:22 bis 14:58]
the indigenous nations of the Pacific Northwest, they have what they call a first salmon ceremony, which is at a certain time of year when the salmon is starting to come in. They take one salmon out and then they go through a ritual that takes several days during which nobody is allowed to take any more salmon. And so what they're doing is that they have at a key point in the migration pattern of the fish they are leaving the population alone to let the biggest, most experienced individuals get upstream to breed.
MUSIK aukaimusic/ak-04 - Aukai "Oars" 01:07min
VO
„Unter den indigenen Völkern des pazifischen Nordwestens gibt es ein Ritual, das sie die ‚Zeremonie des ersten Lachses‘ nennen und zu der Zeit durchführen, wenn die Lachse ihre Wanderung zurück in die Flüsse beginnen. Sie fangen einen Lachs und beginnen mit einer Zeremonie, die mehrere Tage dauert. Während dieser Zeit darf niemand Lachse fischen. Im Endeffekt lassen sie damit die Lachspopulation in einem kritischen Moment ungestört. Nämlich dann, wenn die größten, erfahrensten und damit für den Fortbestand der Population wichtigsten Tiere in die Flüsse einwandern.“
Sprecherin
Wenn nach dem Ende der Zeremonie der Lachsfang beginnt, gehen den Fischern die jüngeren, weniger fortpflanzungsstarken Tiere ins Netz oder an die Angel. Die sind für den Bestand einer gesunden Population weniger entscheidend als die Alten.
ZSP 17 Ray Pierotti [16:11 bis 16:48]
Western science and especially Western game management tend to focus on the largest individuals, which is why we have all this record keeping in the Boone and Crockett Club and and stuff like that, that focus on the largest individuals is going to be taken, whereas Indigenous people seem to want to avoid taking the largest and oldest individuals in the population. And the interpretation that come on, that is they understand that those are the individuals that are really responsible for the success of the population.
VO
„Westliche Wissenschaftler und insbesondere die Wildbewirtschafter neigen dazu, sich auf die größten Individuen zu kaprizieren. Nicht umsonst ist in den Ranglisten der Jäger die Größe immer Trumpf. Während indigene Völker es anscheinend vermeiden wollen, die größten oder ältesten Tiere einer Population zu schießen. Ich vermute, sie tun dies, weil sie wissen, dass diese Individuen für den Bestand der Population sehr wichtig sind.“
MUSIK CBAWZ2101550 Floating Weapons 00:47min
Sprecherin
Die Karibu-Jäger der Inuit oder dem Volk der Cree im Norden Kanadas hätten laut Ray Pierotti sogar eine strenge Regel: Never shoot the leaders. Schieß niemals die Leittiere. Sie sind zum einen diejenigen, die den Fortpflanzungserfolg der Herde maßgeblich beeinflussen. Sie sind aber auch so etwas wie die Lehrer der Herde, indem sie ihre Erfahrungen an die jüngeren Tiere weitergeben. Tero Mustonen von der Kooperative Snowchange betont:
ZSP 18 Tero Mustonen [36:22 bis 37:13]
We have to accept the fact that 80% of world's remaining biodiversity is on indigenous lands. Why this is the case? // Indigenous communities often have relations with the surrounding landscapes and species and therefore when they have relations, they care about those resources and it's in their interest to make sure that they don't overhunt, they don't pillage, they don't wipe out a resource, even though they have to use it for living.
VO
„Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass 80 Prozent der verbliebenen Artenvielfalt auf Gebieten vorkommt, die von indigenen Völkern gemanagt werden. Und warum ist das so? Diese Völker haben oft eine enge Beziehung zu den sie umgebenden Landschaften und zu den Tierarten darin. Deshalb haben sie ein Interesse am Erhalt dieser Ressourcen. Ihnen ist daran gelegen, dass sie nicht überjagt, geplündert oder ausgelöscht werden, auch wenn sie Tiere für ihren eigenen Lebensunterhalt bejagen.“
Sprecherin
Es gebe also viele gute Gründe, von diesem Erfahrungswissen zu lernen, urteilt Henry Huntington. Noch allerdings werde in der Wissenschaft der Wert nicht allgemein anerkannt. Es gelte dann als anekdotisch, nicht schön systematisch erforscht und mit Statistiken unterfüttert, beklagt Henry Huntington. Aber:
ZSP 19 Huntington [00:13:37]
we'd be foolish to ignore something that a system that has allowed people to thrive for thousands of years in the same environment without overusing things. And they're the people who are also most most dependent on on that. And who test that knowledge year after year. If it wasn't accurate, people wouldn't be there. That's a that's a pretty severe test.
VO
„Wir wären dumm, etwas zu ignorieren, das es den Menschen ermöglicht hat, seit Tausenden von Jahren in der gleichen Umgebung zu leben, ohne ihre Ressourcen zu überstrapazieren. Diese Menschen sind am meisten von ihrer Umwelt abhängig, und ihr Wissen wird Jahr für Jahr auf die Probe stellen. Wenn es nicht korrekt wäre, hätten die Menschen nicht überlebt. Das ist ein ziemlich harter Test.“
Sprecherin
Inzwischen scheint Bewegung in das Verhältnis von Wissenschaft und Traditionellem Ökologischen Wissen zu kommen. So arbeitet der Wildtierökologe Tyler Jessen mit dem Volk der Kitasoo Xai'xais [Kitesu: he he] im Fjordland nördlich von Vancouver zusammen. Es geht um Schneeziegen, eine Tierart, die abgeschieden im Hochgebirge lebt:
ZSP 20 Tyler Jessen [13:10 bis 15:04]
the Kitasoo Xai'xais nation, they invited myself and, you know, the research team up into their territory in order to study the Mountain Goats because they wanted to have a scientific understanding of what was going on to complement their traditional knowledge associated with mountain goats. //So So to give a brief example, their knowledge of how many goats they would see on any given day is very important knowledge. And it's something that is that can be, you know, assessed in sort of science through a scientific lens as well. So we know, for example, that going back to about 1970 or so that people used to see goats more often than not on any given day working out on the landscape, you know, going out by boat, walking through a creek and things like that. They would see these mountain goats and they would see them more often than not. And you compare that to 2019, which was, I believe, the most recent date in which we we asked people for their observations of mountain goats, and it was zero Mountain goats.
VO
„Das Volk der Kitasoo Xai'xais hat mich und das Forschungsteam in ihr Gebiet eingeladen, um die Bergziegen zu untersuchen, denn sie wollen ihr traditionelles Wissen über die Bergziegen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen ergänzen. Also haben wir erst einmal versucht herauszufinden, wie oft am Tag die Menschen Schneeziegen gesichtet haben, wenn sie im Gelände oder mit dem Boot unterwegs waren – heute und früher. Die Erinnerungen reichten bis etwa in die 70er Jahre zurück. Und damals war die Wahrscheinlichkeit, jeden Tag eine Schneeziege zu sehen, höher als gar keine zu sehen. Und im Jahr 2019 war die Wahrscheinlichkeit, eine Schneeziege zu sehen, praktisch gleich Null.“
MUSIK Aukai: "Alto Paraíso" (aukaimusic/ak-01) 00:52min
Sprecherin
Und das finnische Volk der Skoltsamen beteiligte sich an einer Studie, in der Indikatoren für Umweltveränderungen in der Arktis festgelegt wurden - auf der Grundlage von Traditionellem Ökologischen Wissen. Die Sami haben beispielsweise im Fluss Njauddâm (ɲɑudːɐm) den Rückgang der Lachse beobachtet und dokumentiert. Auf der Grundlage ihres Wissens passen sie sich nun an - sie reduzieren die Anzahl der Netze, die sie zum Fischfang verwenden, stellen Laichplätze wieder her und fischen mehr Hechte ab, die die jungen Lachse fressen. Das Projekt ist Teil eines Co-Management-Prozesses zwischen den Sami und der finnischen Regierung. Der Aufsatz, wurde im sehr renommierten Fachmagazin Science veröffentlicht.
Und so dringt also das Traditionelle Ökologische Wissen in die westliche Spitzenforschung ein. Und auch in die Konzepte, um mit den Herausforderungen der Zukunft fertig zu werden.
Viel Natur, viel Platz, viele Saunen. Und dazu eine verantwortungsvolle Politik in Sachen Bildung, Gesundheit, Energie. Es klingt nach einem recht einfachen Rezept, das die Finnen laut Umfragen seit Jahren zum glücklichsten Volk der Welt macht. Dabei ist es dort oft kalt und dunkel. Was können wir von Finnland lernen? Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Diana Gaul, Jerzy May
Technik: Mechthild Homburg
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Milla Bruneau, Executive Director of Green Lahti;
Julia Kykkänen, Profi-Skispringerin;
Maaria Alén, Sauna-Heilerin;
Ari Yrgölä, Feriendorf Lehmonkärki;
Katja Pantzar, Sisu-Expertin, Autorin;
Marjo Kyllönen, Head of Education der Stadt Helsinki;
Laura Aalto, Executive Director for Culture and Leisure der Stadt Helsinki;
Eemeli Hakoköngas, Sozialpsychologe an der Universität Helsinki
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Bernd Gieseking: „Finne dein Glück: Eine Spurensuche im Land der Mitternachtssonne“.
Der Autor ist auf jeden Fall Finnland-Fan, beschreibt die glücklichen Finnen auf sehr unterhaltsame Weise.
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Mit dem Großen Zapfenstreich verabschiedet die Bundeswehr feierlich hohe Würdenträger der Bundesrepublik. Dass dazu neben Militärmusikern sowohl Bewaffnete als auch Fackelträgern aufmarschieren, erfüllt heute nicht Wenige mit Unbehagen. Kritiker fordern immer wieder, den Großen Zapfenstreich abzuschaffen. Von Frank Halbach (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Rahel Comtesse, Christoph Jablonka
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
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Urban Bacher: Deutsche Marschmusik. Hintergründe, Geschichte und Tradition der Musik der Soldaten. 2. erweiterte Auflage, Konstanz 2019.
Markus Euskirchen: Militärrituale. Analyse und Kritik eines Herrschaftsinstruments, Köln 2005.
Manfred Heidler (Hg.): Militärmusik im Diskurs. Eine Schriftenreihe des Militärmusikdienstes der Bundeswehr. Militärmusik und bürgerliche Musikkultur. Dokumentationsband zum gleichnamigen Symposium von 4. Bis 5. September 2018, Bonn 2018.
Bernhard Höfele: Großer Zapfenstreich der Bundeswehr von Wilhelm Wieprecht, Bonn 2012.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 „Yorckscher Marsch“; ZEIT: 00:54
SPRECHERIN (leicht ergriffen)
Fackellicht erhellt flackernd die Nacht, taucht die Musiker, die zu einem würdevollen Zeremoniell antreten, in schimmerndes Licht – eindrucksvoll, feierlich…
SPRECHER (kritisch)
Sie marschieren auf: Behelmte Fackelträger, blinkende Waffen – martialisch, antiquiert, überholt.
SPRECHERIN (zugewandt)
Ein Staat brauchen Traditionen, Symbole und Zeremonielle. Sie prägen auch das Bild der Bundeswehr in der Gesellschaft.
SPRECHER (kritisch)
Militärischer Mummenschanz mit Fackelmärschen deutscher Soldaten vor dem Reichstag – das erinnert an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.
SPRECHERIN (unterbricht)
Das „Hochamt“ deutscher Militärmusik sorgt – wie zum Beispiel bei der Ehrung der Afghanistan-Veteranen der Bundeswehr 2021 - immer wieder für hitzig geführte Debatten.
MUSIK ENDE
MUSIK 2 „Meldung“ ; ZEIT:00:05
SPRECHERIN
Der Große Zapfenstreich.
SPRECHER
Das in der Gesellschaft bekannteste militärische Zeremoniell der Bundeswehr. Mit dieser musikalischen Abendzeremonie werden scheidende Amtsträgerinnen und Amtsträger der Bundesrepublik Deutschland geehrt, aber auch besondere Jubiläen oder Anlässe feierlich begangen.
SPRECHERIN
Heißt es auf der Website der Bundeswehr.
O-Ton 1 Bacher (01:39)
Der Zapfenstreich hat eine sehr alte Tradition. Im Prinzip ist es ein Abendritual, dass die Preußen perfektioniert haben und zum besonderen Anlässen in der Abenddämmerung aufführen.
SPRECHER
Erklärt Dr. Urban Bacher, Professor für Betriebswirtschaftslehre und Bankmanagement. In seinem 2019 in erweiterter zweiter Auflage erschienenem Buch „Deutsche Marschmusik“ hat sich Urban Bacher intensiv mit den Hintergründen, der Geschichte und der Tradition der deutschen Militärmusik auseinandergesetzt - vom Mittelalter über Preußens Blüte, von der Wehrmacht bis hin zur Bundewehr.
O-Ton 2 Bacher (03:46)
Im späten Mittelalter gab es noch keine stehenden Heere oder auch Kasernen. Die Soldaten waren oft Söldner, die am Abend Karten spielten oder sich betrunken in Wirtshäusern vergnügten. Ein besonderer Feldwebel der Profos - heute wurde man Spies sagen, oder noch besser die Feldjäger - der musste für Ordnung sorgen: Er strich mit seinem Stock oder mit seinem Säbel über den Zapfen des Bier- oder Weinfasses. Damit war jeder Ausschank sofort beendet. Jeder Soldat musste unverzüglich sein Bett aufsuchen. Oft war der Profos in Begleitung eines Trommlers und Pfeiffers - Spiel genannt - und sie spielten das letzte Stück eben: Zapfenstreich.
MUSIK 3 „Marsch der Querpfeifer“; ZEIT: 00:26
SPRECHERIN
Urkundlich erwähnt wird solch ein musikalisches Abendsignal in Verbindung mit dem „Zapfenschlag“ erstmals 1596.
SPRECHER
In großen Feldlagern gab es statt Musik zur Guten Nacht auch schon mal einen Kanonenschuss als ultimative Aufforderung zur Nachtruhe.
Geräusch Kanone – Musik ENDE
SPRECHERIN
Die heutige musikalische Zeremonie des Großen Zapfenstreichs hat sich zu einer rituellen Verabschiedung entwickelt. Zugleich ist sie die höchste Auszeichnung, die die Bundeswehr einer Zivilperson zollen kann.
SPRECHER
Vorbehalten den Ämtern von Bundespräsident, Bundeskanzler und Verteidigungsminister.
SPRECHERIN
Doch werden keineswegs nur Zivilisten, sondern auch Militärs im Rang von General, Generalleutnant, Admiral oder Vizeadmiral beim Ausscheiden aus dem aktiven Dienst mit Großen Zapfenstreich verabschiedet.
O-Ton 3 Bacher (07:55)
Dann wird der Zapfenstreich bei großen Jubiläen des Staates aufgeführt, zum Beispiel 60 Jahre Bundeswehr oder bei Ende eines großen Einsatzes.
SPRECHER
So dass das etwa 20-minütige Zeremoniell von der Bundeswehr in Deutschland auch ohne größeres Medieninteresse jährlich etwa 20- bis 30-mal durchgeführt wird.
MUSIK 4 „Fanfaren der Feldtrompeter“; ZEIT: 01:25
SPRECHERIN
Vom spätmittelalterlichen Zapfenstreich bis zur großen musikalischen Zeremonie war es freilich ein weiter Weg.
SPRECHER
Seit jeher dienen Soldaten auch dazu, die Mächtigen zu repräsentieren: So begannen einst zunächst einzelne Bläser, mit ihren Signalen die Befehle der Machthaber eindringlich, hoheitsvoll und weithin hörbar kundzutun. Daraus entwickelte sich die Militärmusik.
SPRECHERIN
Die spätestens seit dem 19. Jahrhundert durch die Besetzungen der Militärorchester, die Professionalisierung der Musiker sowie der Ausweitung des Repertoires auch darauf abzielt, ein Gefühl von Verbundenheit, Einheit und Zusammenhalt in den Nationalstaaten zu erzeugen.
SPRECHER
In der höfischen Gesellschaft sind der fürstlich musizierende Hoftrompeter und der militärisch blasende Feldtrompeter oft ein und dieselbe Person. Signale als akustische Befehle gehören als hörbare Aufforderungen im höfischen Leben ebenso zum Alltag wie rein repräsentative Musik zur Routine des Heers.
MUSIK ENDE
SPRECHER
In der Antike berichtet unter anderem Gaius Julius Cäsar in seinen Aufzeichnungen zum Gallischen Krieg vom „classicum“. Das bezeichnet erstens ein Instrument, die Kriegstrompete der Römer, zweitens Signale, die mit dieser Trompete gegeben werden und drittens einen Ablauf von Signalen, die als Abendmusik zur Ehrung eines Feldherren gespielt werden.
SPRECHERIN
Musik also, die Respekt, Anerkennung und Würdigung zum Ausdruck bringen soll.
SPRECHER
Zwar gibt es Quellen aus dem 16. Jahrhundert über Militärmusik, der Begriff „Zapfenstreich“ im Zusammenhang mit Musik im Rahmen solcher Abendveranstaltungen findet sich aber das erste Mal erst 1726. An gleicher Stelle finden sich auch Schilderungen über Predigten und Betstunden, die abends im Lager der Soldaten abgehalten wurden. Getrennte Veranstaltungen, die zusammenwachsen sollten.
MUSIK 6 „Gebet“; ZEIT: 01:21
O-Ton 5 Bacher (22:43)
1813 gab es ein Schlüsselereignis. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. War vom russischen Zaren Alexander I. zum Truppenbesuch in ein Feldlager bei Leipzig eingeladen. Nach dem Signal zum Zapfenstreich haben die Soldaten dort einen Choral gesungen. Dieses Abendsignal hat den König ergriffen. Sofort hat er seinen Generalleutnant befohlen, dass er das auch will. Seine Soldaten sollen jeden Abend nach dem Signal zum Zapfenstreich ihre Kopfbedeckung abnehmen. Innehalten für ein kurzes Gebet und bei feierlichen Anlässen sollen die Trompeter ein Abendlied blasen. (…) 13:26 Seither wird das Abendsignal Preußischer oder Russischer Zapfenstreich genannt.
SPRECHERIN
Ein deutlicher Ausdruck des religiösen Selbstverständnisses der sogenannten „Heiligen Allianz“ von Preußen, Österreich und Russland während der antinapoleonischen Befreiungskriege.
Die Melodie, die bis heute zum Gebet im Großen Zapfenstreich erklingt, ist der Choral „Ich bete an die Macht der Liebe“ des ukrainischen Komponisten Dmitri Stepanowitsch Bortnjanski.
MUSIK kurz hoch
O-Ton 6 Bacher (23:40)
Der Choral ist der eigentliche Höhepunkt des Großen Zapfenstreichs. Mehrfach wurde versucht, das Lied „Ich bete an die Macht der Liebe“ zu ersetzen. Vergeblich - zu zart, zu melodisch zu ausdrucksstark ist dieser Choral unter freiem Himmel im Fackelschein.
SPRECHER
Als fester Bestandteil etabliert sich die Melodie Bortnjanskis, seit sie im Rahmen eines öffentlichen Konzertes innerhalb des Großen Zapfenstreichs erklungen ist: Am 12. Mai 1838 besucht Zar Nikolaus I. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Beauftragt mit „allen in Berlin stationierten Militärkapellen“, zu diesem Anlass ein eindrucksvolles Konzert zu veranstalten, wird der Musikdirektor des Musikkorps des preußischen Gardekorps: Wilhelm Friedrich Wieprecht.
MUSIK ENDE
O-Ton 7 Bacher (15:02)
Er war Opernmusiker und spielte Violine, Posaune und Klarinette. Sein Vater war Kavallerietrompeter, dann Stadtmusikdirektor in der Nähe von Halle. Wieprecht war ein Tausendsassa. Bereits mit 25 Jahren hatte er sein Herz an die Militärmusik verloren. Ohne militärische Ausbildung wurde er preußischer Generalmusikdirektor. Er kümmerte sich um die einheitliche Stimmung der Kapellen und um die professionelle Ausbildung der Musiker.
MUSIK 5 Privat Take 021 „Parademarsch Nr.1”; Album: Berliner Schlossmusiken; Label: Capriccio – 2545385; Interpret: Berlin Radio Symphonie Orchester/ Sebastian Weigle; Komponist: Wilhelm Wieprecht; Zeit: 00:30
+ Atmo Feuerwerk
SPRECHERIN
Zum Besuch des Zaren bietet Wieprecht über 1.000 Musiker mit 200 Tambouren, Trommlern und Pfeifern und 50 Schellenbäumen auf - umrahmt von einem pompösen Feuerwerk.
SPRECHER
Sich selbst lässt der Maestro zu solch besonderen Anlässen später übrigens gerne mit Kanonendonner ankündigen.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
1867 gewinnt Wieprecht den Wettbewerb der Militärkapellen auf der Weltausstellung in Paris vor einer Jury, der unter anderem aus Ambroise Thomas, Hans von Bülow und Léo Delibes angehören. Napoleon III. lädt ihn zweimal nach Versailles ein und verleiht ihm das Ehrenkreuz der französischen Ehrenlegion.
SPRECHER
1856 formt Wieprecht einen festen militärischen und musikalischen Ablauf des Zapfenstreichs. Seine Form wird für alle Preußischen Armeen angeordnet. Wieprechts Zapfenstreich wird zwar bis zum Jahr 1918 vielerorts variiert, bleibt aber das maßgebliche Fundament bis zum heute noch verbindlichen Ablauf.
Wobei zunächst die exakte Festlegung, welches Musikstück genau denn mit Bezeichnungen wie „Retraite“ oder „Abendlied“ gemeint sei, erst mit dem Erscheinen der gedruckten Partitur im Jahr 1872 zweifelsfrei geklärt ist.
SPRECHERIN
Ein Jahr nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs, das den Preußischen Zapfenstreich zum Zapfenstreich des „geeinten“ Deutschland macht.
MUSIK 7 „Heil dir im Siegeskranz“; ZEIT:00:41
SPRECHER
Im Ablauf des Großen Zapfenstreichs wurde fortan bei Anwesenheit des Monarchen vor dem Gebet die Kaiserhymne „Heil dir im Siegerkranz“ intoniert.
SPRECHERIN
Deren Melodie identisch mit der britischen Nationalhymne ist –eine offizielle Nationalhymne hatte das Deutsche Kaiserreich nicht.
MUSIK ENDE
Die gibt es erst 1922 in der ersten parlamentarischen Demokratie Deutschlands:
MUSIK 8 F100090 101 „Deutschlandlied“; ZEIT: 00:12
das Deutschlandlied mit dem von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 verfassten Text zur Musik Joseph Haydns.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Die Nationalhymne ersetzt die Kaiserhymne und soll auch so die Symbolkraft des Großen Zapfenstreichs einerseits für den Zusammenhalt und die Gemeinschaft der Streitkräfte festigen und andrerseits zugleich die Verbundenheit zwischen Bundeswehr und den Bürgerinnen und Bürgern fördern.
SPRECHERIN
Deswegen erscheint es umso wichtiger, über den Zeitraum zwischen Weimarer Republik und Bundesrepublik Deutschland bzw. Deutscher Demokratischer Republik zu sprechen.
O-Ton Bacher 8 (25:12)
Hitler und seine Parteifreunde haben die Wirkung von Trommeln und Pfeifen, Fanfaren und Pauken schnell erkannt und Marschmusik für ihre Zwecke instrumentalisiert. Der Rundfunk damals begann in der Nazizeit schon früh am Morgen mit Marschmusik. Die Wochenschau wird von Militärmusik gewöhnlich untermalt. Die Zeit ganz großer Appelle und Aufmärsche war gekommen. Der einfache Soldat lernte Soldatenlieder. Um der Welt zu imponieren gab es Groß-Konzerte zum Beispiel anlässlich der Olympiade 1936. Und ganz große Aufmärsche gab es zum Beispiel zu Führers Geburtstag. Der Große Zapfenstreich wurde zwar auch aufgeführt, ein Abendsignal mit einem Choral im Zentrum, setzte aber nicht das ideale Zeichen für die Partei. Für die Propaganda und für einen Aufbruch eigneten sich Appelle zackige Wachaufzüge und große Vorbeimärsche viel besser.
SPRECHER
Erläutert der Militärmusikexperte Urban Bacher.
SPRECHERIN
Die Nationalsozialisten konnten ihre Finger vom Zapfenstreich ebenso wenig lassen wie von allem anderen, das pathetisch, und eindrucksvoll genug schien, der Ideologie der Volksgemeinschaft „zu dienen“.
ATMO Marschieren
Wenige Stunden, nachdem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden ist, marschierten Kolonnen der SA, SS und anderer Nationalsozialistischer Organisationen mit lodernden Fackeln in einem pompösen Siegeszug durch das Brandenburger Tor.
SPRECHER
Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!
SPRECHERIN
Kommentiert der weltberühmte Maler Max Liebermann, als die braunen Horden unter seinem Fenster vorbeidefilieren.
SPRECHER
Joseph Goebbels, der spätere Reichspropagandaleiter, hingegen ist hellauf begeistert: Ein Marsch für die Ewigkeit, der Aufbruch in ein tausendjähriges Reich. Für die Nachwelt eindrucksvoll festgehalten –
SPRECHERIN
Allerdings hatten die für die Nachwelt dokumentierenden Hitler-Begeisterten noch wenig Erfahrung mit Medien wie Fotografie oder Film, so dass vom pompösen Fackelzug lediglich ein Haufen verwackelter Bilder blieb.
SPRECHER
Weshalb Goebbels den Triumphzug im Fackelschein ein paar Monate später nachstellen ließ.
SPRECHERIN
Gewissermaßen nachgestellt wird auch der etablierte Große Zapfenstreich in einer Variante, die dem ideologischen Charakter des Dritten Reichs besser entsprechen soll. Wilhelm Schierhorn, Musikinspizient der Deutschen Polizei, komponiert den sogenannten „Großen Zapfenstreich der Deutschen Polizei“.
SPRECHER
Veröffentlicht 1939, wird Schierhorns Werk ein Jahr später in „Großer Abendruf der Deutschen Polizei“ umbenannt – ein Zeichen für die Eigenständigkeit der Reichspolizei im Verhältnis zur Wehrmacht, auch in musikalischer Hinsicht. Die Aufführung bleibt allein den Musikkorps der Polizei und der SS vorbehalten. In Runderlassen wird Schierhorns Marsch „Schutz und Trutz“ für die Feuerwehren angeordnet sowie die propagandagerechte Pflege von Marsch- und Chorgesang geregelt.
SPRECHERIN
Die Nationalsozialisten versuchen sich den Großen Zapfenstreich wie so viele andere wirkmächtige Rituale, Musik und Ästhetik, zu eigen zu machen, versuchen ihn für ihre Zwecke zu missbrauchen und zu politisieren. Mit weniger Erfolg als bei der Marschmusik allgemein.
SPRECHER
Denn militärische Symbolik vereinnahmt das Dritte Reich allzu gerne: Bilder von Massenaufmärschen von Uniformierten mit Fackeln haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt und erzeugen unmittelbar Unbehagen. Kein Wunder also, dass in der jungen Bunderepublik die Missbilligung von Militärritualen wächst.
SPRECHERIN
Dementsprechend gerät der Große Zapfenstreich in die Kritik. Dass sich die Bundeswehr bis heute ausdrücklich darauf beruft, dass die aktuelle Zeremonie im frühen 19. Jahrhundert zur Zeit der Befreiungskriege entstanden sei, hilft nur bedingt.
SPRECHERIN
Die Gründung der Bundewehr 1955 stößt in der westdeutschen Bevölkerung keineswegs auf einhellige Begeisterung. Vielmehr werden zahlreiche öffentliche Aufführungen der Bundeswehr-Musikkorps von Anti-Militaristen massiv gestört und können teilweise nur unter Polizeischutz abgehalten werden.
SPRECHERIN
Während im 19. Jahrhundert der Große Zapfenstreich nach Wieprecht auch von zivilen Kapellen gespielt wurde, und seine Aufführung beim Militär lediglich die Entscheidung des Dirigenten bzw. Kommandanten war, wird der Zapfenstreich in der Bundesrepublik genehmigungspflichtig.
SPRECHER
„Die Genehmigung zum Spielen des Großen Zapfenstreiches ist bei den
Inspekteuren von Heer, Luftwaffe und Marine bzw. dem Befehlshaber der Territorialen Verteidigung einzuholen.“
SPRECHERIN
Heißt es in einem ersten Erlass vom September 1958. Und weiter:
SPRECHER
Wenn die Bundeswehr den Großen Zapfenstreich nur zu herausragenden militärischen Anlässen spielt, wird die Öffentlichkeit wieder Verständnis seine Bedeutung gewinnen und ihn in Festprogrammen ziviler Veranstaltungen als unpassend empfinden.“
SPRECHERIN
Die Bundeswehr erhebt den Großen Zapfenstreich also zu zur feierlichen Veranstaltung der Truppe und damit zu einem Zeremoniell. Dass Wieprechts Zyklus für Schützenfeste, Stadtjubiläen und ähnliche Feste seine Bedeutung verliert, ist gewünschter Nebeneffekt. Er soll für die bürgerliche Musikkultur nur noch eine Ausnahme sein.
MUSIK 9 „Zapfenstreichfinale“; ZEIT: 00:45
SPRECHER
Nicht nur die Bundesrepublik, auch die DDR führte 1962 den Großen Zapfenstreich wieder ein. Er wurde dort 1981 für die Nationale Volksarmee um „Elemente des progressiven militärischen Erbes“ ergänzt, wie etwa um das Lied „Für den Frieden der Welt“ des sowjetischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Statt politisch programmatischer Elemente, die in den Großen Zapfenstreich integriert wurden, erregen heutzutage ganz andere musikalische Elemente die mediale Aufmerksamkeit.
ATMO Zapfenstreich
SPRECHER
Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen“ und Hildegard Knefs „Für mich soll‘s rote Rosen regnen“ 2021 bei der Verabschiedung von Bundeskanzlerin Angela Merkel…
SPRECHERIN
„My Way“ in der Version von Frank Sinatra für Gerhard Schröder 2005, „Smoke on the Water“ von Deep Purple für den zurückgetretenen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg 2011…
ATMO ENDE
MUSIK 11 „Die glorreichen Sieben“; ZEIT: 00:55
SPRECHER
„Over the rainbow“ 2012 nach dem Rücktritt des Bundepräsidenten Christian Wulff…
SPRECHERIN
…“Wind of Change“ der Scorpions 2019 zur Verabschiedung von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen…
SPRECHERIN
…oder „Die glorreichen Sieben“ für ihre Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer…
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Bis zu vier eigene Musik-Wünsche sind möglich. Das geht drauf zurück, dass das von der Bundeswehr ausgeführte Zeremoniell traditionell vor dem Beginn des tatsächlichen Zapfenstreiches eine sogenannte Serenade enthält, die streng genommen nicht zum eigentlichen Ablauf gehört. Bei der Ehrung einer Einzelperson kann dem Ablauf so eine individuelle Prägung verliehen werden.
SPRECHER
Die Regenbogenpresse interessiert sich stets brennend für die individuellen Musikwünsche der Politikprominenz. Seriöse Medien diskutieren weiterhin das prinzipielle Für und Wider der Zeremonie.
O-Ton 9 Bacher (11:00)
Was viele vergessen: Mit dem Großen Zapfenstreich wird nicht nur die Person ausgezeichnet, sondern das Amt als solches. Daneben steht die militärische Truppe im Zentrum mit ihrem Abendritual.
SPRECHERIN
Ein Signal des Respekts vor der Bundeswehr, die teilweise in gefährliche Einsätze weltweit entsandt wird – als Parlamentsarmee ausschließlich von den Volksvertretern.
MUSIK 12 „Zapfenstreich-Marsch“; ZEIT: 01:23
SPRECHER
Aber erscheint statt des staatstragenden militärischen Zeremoniells für scheidende Minister, Präsidentinnen und Kanzler für so manche oder manchen nicht ein freundlicher Abschiedsbrief der Truppe angemessener?
SPRECHERIN
Der Historiker Julien Reitzenstein stellt die Gegenfrage: Mit welchem Recht maßen sich manche Kritiker an, darüber bestimmen zu wollen, mit welchen Zeremonien innerhalb einer „Firma“ verdiente „Mitarbeiter“ geehrt werden?
SPRECHER
Negative Assoziationen angesichts fackeltragender Soldatenaufmärsche erscheinen nachvollziehbar, sind Anlass zu Diskussionen, die geführt werden müssen…
SPRECHERIN
Oder zu grellen Schlagzeilen in aufgeregt beschleunigten Internet-Debatten auf Twitter und Co führen. Leichtfertig Nazi-Assoziationen Einzelner zum Gegenstand politischer Debatten zu machen, erscheint doch recht problematisch.
SPRECHER
Bislang zumindest unterliegen Zeremonien wie der Große Zapfenstreich unserer demokratischen Kontrolle. Es liegt an uns allen, dass es dabei bleibt.
Pfützen gelten als kleinste Gewässer. Die Ökosysteme, die sich darin ausbilden, sind hingegen bunt und vielfältig. Bakterien und Algen, Bärtierchen und Amöben, Mückenlarven und Kaulquappen. Gleich nach dem Regen wuselt das Leben und selbst in ausgetrockneten Lachen ist noch was los. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Amberger, Burchard Dabinnus, Diana Gaul
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Rainer Meckenstock, Professor für Aquatische Mikrobiologie an der Universität Duisburg-Essen ;
Herwig Stibor, Professor für Aquatische Ökologie an der LMU;
Lars Hendrich, Insektenspezialist an der Zoologischen Staatssammlung München
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO Spielplatz 1/ MUSIK Sandbath 0.47 min
ERZÄHLERIN
Am Nachmittag auf dem Spielplatz – es hat den ganzen Morgen über geregnet. Zwischen Rutsche und Klettergerüst stehen große, kleine, mittlere Pfützen.
1 ZU 4
V: Ihhhh / W: Da versickert man! GELÄCHTER
ERZÄHLERIN
Für die Kinder in den knallbunten Gummistiefeln ist es ein einziges Schlammfest.
2 ZU 5
Q: Ja!!! PLATSCH Juhu!!!
ATMO/ MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Herwig Stibor teilt diese Begeisterung. Er ist Professor für Aquatische Ökologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München –
ERZÄHLERIN
Und leidenschaftlicher Pfützenforscher:
3 ZU Stibor 16:53
Allein die faszinierenden Abläufe in diesem Ökosystem sollten einem Respekt abfordern.
ERZÄHLERIN
Denn: Obschon die Forschung sie führt als die kleinsten stehenden Gewässer, die obendrein oft nur kurze Zeit existieren: In Pfützen und Lachen tobt enorm viel –
ERZÄHLER
Und vielfältiges Leben.
MUSIK Lightfooted reduced 0.10 min
ZITATORIN
Typisches Pfützenbeispiel: Wasser im Wald.
ATMO WALD/ MUSIK Field Day 0.47 min
ERZÄHLERIN
Die Waldbäume reihen sich dicht an dicht. Durch die grünen Wipfel dringt ab und an ein Sonnenstrahl. Der Regenschauer ist vorbei. Es riecht nach feuchter Erde. In den Kuhlen auf dem Waldboden stehen Wasserlachen. Wenn das Licht durch die Äste auf die Wasseroberfläche trifft, schillern Regenbogenfarben in bunten Schlieren. Es spiegelt und glänzt.
ERZÄHLER
Wie ein Ölfilm.
ERZÄHLERIN
Ist aber keiner!
4 ZU Meckenstock (0.00)
Sondern das ist ein ganz hauchdünner Eisen- oder Manganfilm.
ERZÄHLERIN
Erklärt Prof. Rainer Meckenstock. Er ist Umweltmikrobiologe an der Universität Duisburg-Essen.
5 ZU Meckenstock (0.00)
Und der entsteht dadurch, dass da Mikroorganismen sind, die reduziertes Eisen, was aus dem Untergrund rauskommt, oxidieren. Und dann fällt es als Rost praktisch aus an der Grenzschicht zwischen Wasser und Luft. Und bildet so einen ganz dünnen Film, der eben aussieht wie ein Ölfilm.
ERZÄHLER
Schnappt man sich einen herumliegenden Stock oder ein Stück abgefallener Rinde und stochert damit in der Pfütze, verziehen sich die Schlieren nicht wie bei einem Ölfilm und bilden neue buntschillernde Muster.
ERZÄHLERIN
Sondern: Sie brechen.
ERZÄHLER
Wie Eisschollen.
ERZÄHLERIN
Quasi Eisen-Eisschollen.
MUSIK Tangerine
ERZÄHLER
Mikroorganismen, die Pfützen quasi rosten lassen, sind nicht die einzigen, die sofort aktiv werden, sobald sich auf dem Waldboden oder überhaupt auf lehmig-erdigem Untergrund irgendwo in einer Mulde Wasser ansammelt. Abermillionen Kleinstlebewesen warten im Untergrund nur darauf, dass sich etwas Neues tut.
ERZÄHLERIN
Eine Pfütze entsteht.
ERZÄHLER
Um selbst tätig zu werden und zu nutzen, was die Lache hergibt.
ATMO/ MUSIK ENDE
6 ZU Meckenstock (1.33)
Wenn da viel Organik ist in der Pfütze, sagen wir mal im Wald sind viele Blätter runtergefallen, dann ist da viel organisches Material. Dann gibt es sofort Mikroorganismen, die sich darüber her machen und das abbauen.
ERZÄHLERIN
Da sind Bakterien, die Sauerstoff umsetzen. Die nächsten verzichten auf Sauerstoffe und bauen Nitrat um. Daraus bilden sie elementaren Stickstoff.
ERZÄHLER
Wieder andere Bakterien mögen Sulfat und reduzieren es zu Schwefelwasserstoff.
7 ZU Meckenstock (1.33)
Und dann stinkt es so. Das ist der Schlamm, der sich im Boden bildet, der dann so stinkt und so schwarz ist. Das sind meistens Eisensulfide, die eben durch die mikrobielle Atmung da entstanden sind.
MUSIK Going to work
ERZÄHLERIN
Millionen verschiedener Bakterienarten übernehmen also verschiedenste Umsetzungsjobs in der Pfütze. Und: Sie arbeiten nach System.
ERZÄHLER
Exakter nach einem Schicht-Plan. An der Oberfläche dümpelt etwa, wer Sauerstoff braucht. Organismen, die Nitrat bevorzugen und veratmen, ziehen ein paar Stockwerke tiefer ein…
8 ZU (Meckenstock (3.42))
Und dann zum Schluss, ganz unten, da sind die Methanogenen, und die machen aus dem organischen Material Methan. Und das bubbelt dann so hoch. Wenn man mit dem Stock reingeht in den Schlamm, dann kommen die Blasen hoch. Das ist meistens Methan und CO2.
MUSIK ENDE/ ATMO WALD
ERZÄHLER
Mikrobieller Schichtbetrieb also…
ERZÄHLERIN
Und zwar von ziemlich jetzt auf gleich in dieser kleinen Lache, die sich eben erst auf dem Waldboden gebildet hat. Da ist der Regen noch gar nicht vorbei, wirbelt es schon. Forschende wie Rainer Meckenstock zählen bis zu einer Milliarde Mikroorganismen pro Milliliter Pfützenwasser. Und diese Winzlinge ackern kräftig.
MUSIK Moviated Work 0.56 min
ERZÄHLERIN
Nach wenigen Tagen zieht sich da durchaus ein ansehnlicher Biofilm über die Wasseroberfläche. Grünalgen und Jochalgen machen sich breit. Goldalgen – die aussehen wie kleine Schmuckstücke, wenn man sie unter dem Mikroskop anschaut.
ERZÄHLER
Die mikrobielle Gemeinschaft gedeiht.
ERZÄHLERIN
Und bekommt kontinuierlich Zuwachs, beschreibt der Münchner Professor für Aquatische Ökologie, Herwig Stibor.
9 ZU (4 Stibor 1.46)
Dann kann so eine Pfütze recht schnell genug Bakterien und Algen haben, um andere Tiere wie kleine einzellige Pantoffeltierchen oder Glockentierchen zu ernähren.
ERZÄHLER
Eingetragen werden neue Bewohner auch per Wind, als blinde Passagiere im Federkleid von Vögeln, die einen Trinkstopp einlegen oder Badepause machen.
MUSIK Sandbath 0.45/ ATMO Spielplatz 1
ERZÄHLERIN
Manch Zuzügler klebt an der Sohle des Kindergummistiefels und platscht mit von Wasserloch zu Wasserloch.
10 ZU (4 Stibor 1.46)
Und dann reicht es irgendwann auch für Insektenlarven.
ERZÄHLERIN
Mücken lieben Lachen, auch schon die ganz flachen hier auf dem Spielplatz. Ungefähr sechs Zentimeter tief ist das Wasser. Breit ist die Pfütze vielleicht wie zweimal die Arme von Mama, Papa, Oma oder Babysitter ausgestreckt.
11 ZU (0.29) 6
M: Da schwimmen so weiße kleine Dinger rum und ich glaube, das sind so eine Art Eier, die Mücken oder Fliegen abgelegt haben.
ERZÄHLER
Könnte sein und wäre typisch für kleine stehende Gewässer wie diese Art Pfütze:
MUSIK Lightfooted 0.10 min
ZITATORIN
Typisches Pfützenbeispiel: Die Spielplatz-Pfütze.
MUSIK Healthy balance 0.48 min
ERZÄHLERIN
Baut man fleißig Matschdämme oder lässt Schiffchen aus Blättern in den Lachen zwischen Bolzplatz und Schaukel treiben, stößt man nicht selten auf längliche Eier, kleiner als ein Millimeter, weiß bis bräunlich-schwarz, die aneinanderkleben wie Stifte in einer Box. Oder zusammen winzige Kreise bilden, die aussehen wie Unterteller.
ERZÄHLER
Viele verschiedene Mückenarten verteilen ihre Eier in Pfützen, oft bis zu 200 (Eier) auf einen Rutsch. Die Larven sind in so einer Spielplatzlache rundum versorgt. Sie ernähren sich von Pflanzenteilchen im Wasser. Zum Atmen rudern sie regelmäßig an die Oberfläche. Nach zwei bis drei Wochen starten sie los in die Luft – als fertige Mücken.
MUSIK ENDE / ATMO SPIELPLATZ
ERZÄHLERIN
Das Ökosystem Pfütze kennt viele Lebensläufe. Die meisten erkundet man am besten unterm Mikroskop. In jedem Tropfen Wasser aus der Pfütze auf dem Spielplatz –
ERZÄHLER
Ist etwas geboten.
MUSIK Bonsai dub (f) 1.10 min
ERZÄHLER
Wasserflöhe wuseln umher. Das sind winzige Krebse, ein bis drei Millimeter etwa. Durchsichtig-weiß wirken ihre runden Körperchen ein bisschen pummelig. Die im Verhältnis großen schwarzen Knopfaugen schauen immer etwas erstaunt drein.
ERZÄHLER
Und Achtung: Sie heißen Flöhe, weil sie auf ihren langen verästelten Fühlern hüpfen wie Flöhe.
ERZÄHLERIN
Richtig scharf stellen muss man das Mikroskop, um Wimperntierchen zu sehen. Die sind in der Regel nur 10 bis 300 Mikrometer lang. Überall am ovalen Körper stehen kleine Haare ab –
ERZÄHLER
Wie eine Punk-Frisur, nur eben rundherum.
ERZÄHLERIN
Mit den Härchen rudern die Wimperntierchen durchs Wasser. Den nahezu durchsichtigen Rädertierchen stehen auch die Haare zu Berge, allerdings nur am Kopf. Fürs Vorwärtskommen setzen sie statt auf Wimpernkraft auf den langen Schwanz, mit dem sich prima rudern lässt. Auch wenn er kaum länger ist als 0,1 Millimeter.
ERZÄHLER
Eine gewisse Manövrierfähigkeit ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil: Das Ökosystem Pfütze ist kein Mikro-Idyll.
MUSIK Dust Bowl 0.32 min
ERZÄHLER
Da müssen Rädertierchen und Fadenwurm beispielsweise durchaus den knubbeligen Bärtierchen entkommen. Die steuern sie sonst mit ihren acht moppeligen Beinchen an, stechen den Rüssel ein und saugen das Opfer aus. Ist mal kein Opfer in Sicht, mögen es Bärtierchen genauso vegetarisch. Pflanzenteile und Algen genügen.
ERZÄHLERIN
Genügen ist denn auch eines der Schlagworte, wenn es um Leben, besser Überleben in der Pfütze geht. Und das schon seit geraumer Zeit. Charles Darwins Evolutionstheorie löst Mitte des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Pfützenbegeisterung bei Forschenden aus. Bald ranken sich zahlreiche Theorien und spekulative Erklärversuche darum, wie Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien, Menschen – einfach alles entstanden sein könnte aus Matsch.
ERZÄHLER
Die Idee von der Pfütze als alleiniger Ursuppe ist inzwischen passé. Jüngste Studien zeigen, dass die Bausteine des Lebens wohl von Meteoriten auf die Erde gebracht wurden. Kohlenstoff, Wasserstoff, Aminosäuren, Metalle und so weiter.
ERZÄHLERIN
Trotzdem: Irgendwo und wie mussten diese Elemente auf der Erde zusammengesetzt werden.
ERZÄHLER
In Pfützen vielleicht, meinen manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
MUSIK House of glass (d) 1.10 min
ERZÄHLER
2012 testeten Forschende der Universität Oldenburg in einem Experiment folgende Hypothese: Nicht die großen weiten Ozeane sind der Ursprung des Lebens, sondern kleine Lachen. Diese überschaubaren Wasserstellen seien durch Dämpfe und Gase entstanden, die aus den Tiefen der Erde aufgestiegen sind.
ERZÄHLERIN
Zeitlich reden wir da von irgendwann vor rund 3,8 Milliarden Jahren. Vulkane gibt es damals etliche auf dem Planeten, es brodelt und kocht. In der Atmosphäre ist kaum Sauerstoff, dafür jede Menge Kohlendioxid.
ERZÄHLER
In den vulkanischen Gebieten dampft es kräftig, Gase treten aus und kühlen an der Oberfläche ab. Dadurch bilden sich temporäre Teiche und Tümpel. Darin sammeln sich Mineralien und andere Grundbausteine für Einzeller. Voilá: Erstes Leben entsteht.
ERZÄHLERIN
Zumindest theoretisch und im Modell.
MUSIKENDE
ERZÄHLERIN
Ob die Pfütze nun wirklich der Anfang allen Seins ist – darüber diskutiert die Forschung bestimmt noch eine geraume Weile weiter. Was hingegen klar ist: Eine unscheinbare Pfütze kann genügen, um in kürzester Zeit ein vielfältiges Ökosystem aufblühen zu lassen.
ERZÄHLER
Aber nicht jede Kategorie von Lache taugt fürs pralle Leben:
MUSIK Lightfooted reduced
ZITATORIN
Nächstes Pfützenbeispiel: Die Pfütze auf der Straße.
ATMO Straße
ERZÄHLER
Unmittelbar nach dem Regenguss steht das Wasser in den Schlaglöchern auf der Fahrbahn. In kleinen Senken sammelt es sich neben dem Bürgersteig. Autoreifen lassen es hoch aufspritzen. Triefende Passanten schimpfen hinterher.
12 ZU (Meckenstock (18.47))
Also eine Pfütze auf dem Asphalt, die wird zu schnell austrocknen.
ERZÄHLERIN
Urteilt der Duisburger Umweltökologe Rainer Meckenstock. Ein paar Tage braucht es schon, bis sich ein Ökosystem entwickelt. Am besten einige Wochen. Zudem ist auf Teer, Asphalt und Beton oft wenig geboten an organischem Material, woraus mehr entstehen könnte als mikrobakterielles Leben.
ERZÄHLER
Andere Untersuchungsobjekte sind da idealer für Pfützenforscher:
13 ZU (Meckenstock (18.47))
Der Truppenübungsplatz, der ist ziemlich gut, nicht. Dadurch, dass die schweren Fahrzeuge den Boden so verdichten, dass der wasserundurchlässig wird. Und dann kann sich da schon sehr gut das Wasser stauen und bleibt jetzt auch längere Zeit da drin. Und das reicht ja dann sogar aus, dass da dann Frösche kommen und Kröten und drin laichen und Molche.
ATMO Wiese/ Tümpel
ERZÄHLER
Kröten, Unken und Molche wählen solche länger stehenden und etwas tieferen Lachen auf Übungsplätzen oder Äckern gerne als Kinderstube für ihre Kaulquappen. Kein Wunder: Hier gibt es kaum Feinde.
ERZÄHLERIN
In Tümpel oder See wird man schnell mal von Fischen gefressen.
MUSIK Tangerine 1.10 min
ERZÄHLER
In der Lache darf man in Ruhe groß werden. Zudem ist es kuschelig, das Wasser wärmt sich schnell auf, die Pfütze wirkt wie ein Brutkasten. Nach 41 Tagen wird aus einer Larve mit Kiemen und Schwanz eine fertige kleine Gelbbauchunke. Fünf Zentimeter groß. Wittert sie Gefahr, stülpt sie ihr Hinterteil nach oben. Eine quietschgelbe Bauchseite schlägt den Angreifer in die Flucht.
ERZÄHLERIN
Nett!
ERZÄHLER
Effektiv. Gelbbauchunken gab es auf der Erde schon vor den Dinosauriern.
ERZÄHLERIN
Trotzdem: 41 Entwicklungstage sind für Pfützenbewohner reichlich. Minikreuzottern schaffen das erheblich schneller: 17 Tage im Pfützenwasser und man schlängelt an Land weiter.
ERZÄHLER
Wobei, auch das ist womöglich zu lange. Denn: Pfützen werden zunehmend rar.
14 ZU (Meckenstock (18.47))
Bei uns wird jeder Graben unnützerweise immer sauber gemacht, damit das ordentlich aussieht, und dementsprechend läuft alles ab und durch. Und dann bleiben wenig Lebensräume zurück für solche Tiere.
MUSIK Field Day 0.45 min
ERZÄHLERIN
Rauchschwalben sieht man immer seltener. Ein Grund: Es fehlen Pfützen. Schwalben nutzen den Lehm aus Lachen für den Nestbau. Wo keine Lache, da keine Schwalbenfamilie.
ERZÄHLER
Und auch keine Schmetterlingsnachkommen. Schmetterlinge mögen am liebsten Blumennektar. Der ist reich an Zucker, hat aber wenig Nährstoffe.
ERZÄHLERIN
Vor allem keine, die Schmetterlinge benötigen für die Fortpflanzung.
ERZÄHLER
Der Kurort Schlammpfütze ist voller Salze und Mineralien.
ERZÄHLERIN
Schmettterlings-Männchen machen sich damit fit.
ERZÄHLER
Weibchen auch.
ERZÄHLERIN
Lachenmatsch verbessert die Lebensfähigkeit der Eier.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Tatsächlich ist in den letzten Jahrzehnten immer weniger Platz für Kurschlammpackungen für Schmetterlinge oder Matschbaumärkte für nistende Schwalben. Kleinstgewässer wie Pfützen verschwinden. Mehr und mehr Flächen werden versiegelt. Wege und Stege sind muldenfrei begradigt. Wasser soll in erster Linie ablaufen. Auch weil der Klimawandel zunehmend Starkregen bringt, der eben keine heimeligen Lachen entstehen lässt, sondern wertvollen fruchtbaren Boden wegschwemmt. Zugleich machen Hitze- und Dürreperioden Pfützen den Gar aus.
ERZÄHLER
Aber: Einige Pfützenbewohnerinnen und -bewohner haben sich in den vielen Jahrtausenden der Evolution darauf vorbereitet, dass es eben in der Natur der Pfütze liegt, auch mal auszutrocknen.
ERZÄHLERIN
Manchmal hat man Glück und kann per Anhalter eine Pfütze weiterreisen, die vielleicht länger nass bleibt: Im Gefieder eines trinkenden Vogels. Im Fell eines Hundes, der durchs Wasser springt. An der Sohle eines Kindergummistiefels.
ERZÄHLERIN
Nicht selten hat man aber auch Pech. Aus winzigem Wellengang wird weite Wüste…
MUSIK Lightfooted reduced 0.10 min
ZITATORIN
Typisches Pfützenbeispiel: Die ausgetrocknete Pfütze
MUSIK Sandbath 1.15 min
ERZÄHLER
Fast schon philosophisch mutet die Erkenntnis von Pfützenforschenden wie dem Münchner Aquaökologen Stibor an: Nur weil man eine Pfütze nicht sieht, heißt das nicht, sie wäre nicht da. Sie ist halt für den Moment –
ERZÄHLERIN
Oder eine geraume Weile –
ERZÄHLER
Schlichtweg wasserlos.
15 ZU Stibor 0.19
Das bedeutet, dass die Organismen, die in einer Pfütze leben, damit gut klarkommen müssen.
ERZÄHLERIN
Fürs Klarkommen nennt Stibor verschiedene Strategien:
ERZÄHLER
Strategie 1: Die Generationszeiten etlicher Pfützenbewohner sind kurz, vielleicht nur einen Tag lang oder weniger, wie bei Bakterien, Amöben oder Pantoffeltierchen.
ERZÄHLERIN
Strategie 2: Nur die ersten Entwicklungsstadien finden in der Pfütze statt. Nach zwei Wochen startet die erwachsene Mücke ins luftige Leben, nach zwei drei Wochen hüpft die Unke an Land.
ERZÄHLER
Besonders spannend für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist Strategie 3: Viele Organismen, die in Pfützen leben, können sogenannte Dauerstadien einnehmen. Sich flexibel anpassen, wenn es trocken wird um sie herum.
16 ZU Stibor 1.46
Die wissen, dass diese Pfütze austrocknet und können rechtzeitig Stadien ausbilden, also Eier oder Dauerstadion von adulten oder juvenilen Tieren, die dann dieses Austrocknen überstehen können. Und wenn die dann per Wind oder einen anderen Transportweg wieder in eine Pfütze oder ein Gewässer kommen, dann würde dieses Dauerstadium wieder zum aktiven Dasein erweckt werden. Und dann schlüpft zum Beispiel wieder ein Moostierchen oder Bärtierchen.
ERZÄHLERIN
Auch Lars Hendrich, Insektenspezialist an der Zoologischen Staatssammlung München, interessiert sich speziell für diese Dauerstadien. Dazu weiß die Forschung noch gar nicht viel.
ERZÄHLER
Lange dachte man, es wäre einfach eine Art Sicherheitsmodus, um Wochen, Monate, Jahre zu überdauern.
ERZÄHLERIN
Offenbar gibt es jedoch Arten, die eine Trockenperiode sogar unbedingt brauchen.
17 ZU Hendrich 4.25
Dann ist diese Trockenphase absolute Bedingung, dass die Eier sich entwickeln und wenn irgendwann dann Wasser kommt, dass die aufgehen können. Das gilt für die ganzen Urzeitkrebse, die bei vielen Kindern beliebt sind, die kann man ja so als Baukasten kaufen und zuhause dann züchten.
MUSIK Dust Bowl
ERZÄHLERIN
Kiemenfußkrebse gehören in diese Kategorie Urzeit. Die kompakte Körperform mit den langen Fühlern vorne und den auslaufenden Schwanzenden hat sich seit Jahrmillionen nicht verändert. Deshalb hielten sie die Expertinnen und Experten für unverwüstlich. Internationale Vergleichsstudien zeigen jetzt: Diese Tiere sind anspruchsvoll.
18 ZU Hendrich 7.00
Die brauchen ausschließlich diese temporären Gewässer in unterschiedlichen Ausprägungen, manche eben diese reinen Sandgewässer, mit Lehmboden, anderen kommen auch im Wald vor oder auf überstauten Wiesen.
ERZÄHLER
Welcher Kiemenfußkrebs wo was warum am liebsten mag – diese Frage ist offen. Forschende der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung haben zum Beispiel Fußspuren von Elefanten in Namibia untersucht, in denen sich Wasser angesammelt hat. Schon binnen weniger Tage hatten mehr als 400 Organismen die rund 30 Zentimeter tiefen Löcher besiedelt. Neben Urzeitkrebsen auch Wasser- und Schwimmkäfer und jede Menge Stechmücken. Und die erwiesen sich als besonders reisefreudig. Wie sich einzelne Stämme verteilen in die umliegenden Pfützen, das ist eines der großen Forschungsthemen derzeit. Vor allem, wenn es um die Verbreitung von lebensbedrohlichen Krankheiten geht wie Dengefieber oder Zika.
ERZÄHLERIN
Ein anderes Augenmerk der Forschenden: Mikroorganismen, die aus dem Boden Metalle holen und verstoffwechseln, so dass sich oben auf der Pfütze Schlieren bilden –
ERZÄHLER
Wie die das machen –
ERZÄHLERIN
Ist ein Rätsel.
19 ZU (Meckenstock (22:49))
Was mich interessieren würde, das wären zum Beispiel diese Eisen- und Manganfilme auf diesen Wasseroberflächen, welche Mikroorganismen sind daran beteiligt diese zu bilden, welche findet man da drin? Wie sind die Prozesse dazu?
ERZÄHLERIN
Erzählt Umweltökologe Mertenstock.
20 ZU (Meckenstock (22:49))
Eine Kollegin von mir, die junge Wissenschaftlerin bei mir die Lisa Voskuhl, die entwickelt jetzt ein ganz tolles Forschungsgebiet, wo sie sich Ölfilme auf dem Wasser anschaut und sich anschaut: Wie schnell werden denn solche Ölfirmen abgebaut? Und was sind da für Prozesse dahinter? Wann werden diese Ölfilme schnell abgebaut? Wann werden sie langsam abgebaut? Was ja da eine sehr praktische Anwendung hat in Bezug auf Ölunfälle, im Meer oder auch im Süßwasser in Seen, Flüssen, Teichen, Pfützen. Wie schnell werden solche Ölfirmen abgebaut, und welche Prozesse sind daran beteiligt?
ERZÄHLERIN
Das Kleinstgewässer Pfütze als Modell für die ganz großen Ökosysteme. Diesen Ansatz wollen die Forschenden weiter nutzen und mehr erfahren, über die Entwicklung des Lebens auf der Erde.
ATMO SPIELPLATZ
ERZÄHLER
Und auch die zweite große Gruppe der Lachen-Fans, neben der Wissenschaft, wird weiter den Pfützen auf den Grund gehen: Die Gummistefel-Fraktion.
MUSIK Lightfooted / Sandbath C1587790 103
ZITATORIN
Typisches Pfützenbeispiel: Die von Kinderfüßen durchtobte Pfütze
ERZÄHLERIN
Auf dem Spielplatz wird es langsam dunkel. Die Matschhosen sind starr vor Dreck. Die Zehen nass und klamm. Abendessen ist längst überfällig.
ERZÄHLER
Macht nichts. Man hat noch nicht geklärt, zu welcher Tierart welche Nachkommen gehören…
21 ZU (1.45)
M: In der Lache hüpfen kleine Sachen rum, das sind vielleicht die Kinder von denen.
Das hab ich genauso schon einmal erlebt! Obwohl man dieses Gefühl hat, weiß man: das kann eigentlich nicht sein. Das Déjà vu: Ein Stück weit bleibt es Rätsel, aber es gibt mehrere Versuche, das Phänomen zu erklären. Von der Kunst über die Philosophie bis hin zu Psychologie und Neurologie. Und einige Ansätze scheinen plausibel. Von Susanne Brandl
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Laura Maire, Thomas Loibl, Carsten Fabian
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Florian Schöberl, Neurologe
Hans Markowitsch, Psychologe
Arthur Funkhouser, Psychoanalytiker (Overvoice)
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Linktipps:
deja-experience-research.org
Günther Oesterle (Hrsg.): Déjà-vu
Hans Joachim Markowitsch: Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen
C.G. Jung: Synchronizität. Der Sinn des Zufalls
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Die 2021 verstorbene US-Amerikanerin bell hooks war Visionärin und Wegbereiterin eines Schwarzen Feminismus. In ihren oft sehr persönlichen Texten beschreibt sie, wie Schwarze Frauen in der patriarchalen und kapitalistischen Gesellschaft ausgebeutet werden - und wie sich das ändern ließe. Von Maike Brzoska (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Bürkle, Stefan Wilkening, Karin Schumacher, Hemma Michel
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Nicole Ruchlak, Yvonne Maier
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Birgit Bockschweiger, Referentin für Antidiskriminierung und Diversity an der Universität Regensburg;
Shadee Malaklou, Direktorin des bell hooks Centers am Berea College
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Misogynie - Die Abwertung des Weiblichen
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Literaturtipps:
hooks, bell: Bone Black. Memories of a Girlhood. Holt Paperbacks. Henry Holt and Company. 1996.
hooks, bell: Feminismus für alle. Unrast Verlag. 2021.
hooks, bell: Die Bedeutung von Klasse. Unrast Verlag. 2021.
hooks, bell: Alles über Liebe. Neue Sichtweisen. Harper Collins. 2022.
hooks, bell: Lieben lernen. Alles über Verbundenheit. Harper Collins. 2022.
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Wer spricht in oder durch ein Gedicht? Die Vermutung liegt nahe, dass sich Autor und Autorin hier persönlich ausdrücken. Doch die Stimme eines Gedichts, auch lyrisches Ich genannt, kann viele Rollen oder Haltungen einnehmen. Steht das Werk also immer für sich ? egal, wie krass sich die dichtende Person danebenbenimmt? Von Justina Schreiber (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge:Justina Schreiber
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Katja Amberger, Susanne Schroeder
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Matías Martínez, Literaturwissenschaftler und Leiter des Institutes für Erzählforschung an der Uni Wuppertal
Literaturtipps:
Roland Barthes, „Der Tod des Autors“: Kleiner Text, der den strukturalistischen Ansatz des berühmten französischen Philosophen verdeutlicht.
Matías Martínez, „Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs.“ In: Heinrich Detering (Hrsg.): „Autorschaft: Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002, S. 376–389.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK Flicker of Flame 00:43min
ZITATORIN:
Ich ging im Walde so für mich hin.
SPRECHERIN:
Goethes Gedicht „Gefunden“ scheint ein individuelles Erlebnis zu veranschaulichen. Sieht man den lustwandelnden Dichter nicht förmlich vor sich, wie er am Wegrand dieses Blümchen entdeckt…?
ZITATORIN:
Wie Äuglein schön,
SPRECHERIN:
Und wie er es dann doch nicht pflückt…
ZITATORIN:
Ich wollt es brechen,
SPRECHERIN:
Aber das schöne Blümchen legt Protest ein. Es will nicht dahinwelken müssen. Na gut, dann wird es eben verpflanzt:
ZITATOR:
Ich grub’s mit allen
Den Würzlein aus.
Zum Garten trug ich’s
Am hübschen Haus.
SPRECHERIN:
Goethe schickte dieses Gedicht seiner Ehefrau Christiane Vulpius im August 1813 zum 25-jährigen Jubiläum ihrer Beziehung. Es bietet sich also förmlich an, das Blümchen mit seiner Lebensgefährtin gleichzusetzen. Schließlich war ihr der Dichter zwar nicht im Wald, aber doch im Weimarer Park an der Ilm erstmals begegnet. War er damals etwa aufdringlich geworden? Hatte sie sich zur Wehr setzen müssen? Man könnte durchaus annehmen, dass das Ich, das aus dem Gedicht spricht, mit dem Autor eng verwandt ist, sagt der Literaturwissenschaftler Matías Martínez.
O-TON 01: (Martinez)
„Die Gattung der Lyrik legt es besonders nahe, den Autor zu identifizieren mit dem Sprecher.“
MUSIK Flicker of Flame 00:40min
SPRECHERIN:
Hier spricht ein realer Mensch, eine private Person: Besonders Erlebnislyrik wie Goethes Gedicht oder auch Liebesgedichte mit Widmung laden zu dieser Deutung ein. „An Luise. 1816“ heißt ein Poem von Joseph von Eichendorff, dessen Frau den Vornamen Luise trug. Sie hatte 1816 das erste gemeinsame Kind zur Welt gebracht. Kein Wunder also, nicht wahr? dass der Gatte das häusliche Glück bedichtete:
ZITATORIN:
Sitz‘st du vor mir, das Kindlein auf dem Arme.
O-TON 02: (Martínez)
„Es gibt ein Bedürfnis, Gedichte mehr noch als Romane und Theaterstücke, aber auch die, vor allem Gedichte tatsächlich zu beziehen auf autobiografische Erfahrungen des Autors.“
SPRECHERIN:
Der Bezug zum Autor oder zur Verfasserin eines Gedichtes liegt besonders nahe, wenn in Gedichten – wie hier bei Goethe oder Eichendorff - „Ich“ gesagt, also die erste Person Singular des Personalpronomens verwendet wird.
O-TON 03: (Martinez)
„Lyrik ist traditionell die Gattung, in der ein Sprecher seine Meinung verkündet, seine Subjektivität zum Ausdruck bringt. Deshalb gab es auch immer die Tendenz, gerade bei Gedichten, diesen einzelnen Sprecher zu identifizieren mit dem realen Autor des Gedichtes.“
MUSIK Piano pecularity full 00:55min
SPRECHERIN:
Was aber, wenn das Ich eines Gedichtes nicht mit Blumen oder Frauen, sondern mit einem Mondkalb zu tun hat? Bei dem 1905 erstmals veröffentlichten Gedicht „Das ästhetische Wiesel“ des Dichters Christian Morgenstern handelt es sich offenkundig um ein reines Hirngespinst. Im Zentrum steht die Frage, warum ein Wiesel auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel saß.
ZITATORIN:
Das Mondkalb verriet es mir im Stillen.
Es tat es um des Reimes willen.
SPRECHERIN:
Und das Mondkalb hatte sogar Recht. Gedichte folgen nämlich anderen Gesetzen als logischen oder biologischen. Sie können einem Reimschema folgen. Kiesel, Wiesel und so weiter. Lyrik hebt sich von der schlampigen automatisierten Alltagsrede ab, erklärt Matías Martínez:
O-TON 04: (Martínez)
„Traditionell ist die Lyrik ja immer definiert gewesen durch ihren Abstand zur Alltagsrede, zur Prosa, durch Reime, durch Metrik, durch rhetorische Figuren.“
SPRECHERIN:
„Das ästhetische Wiesel“ ist also ein Kunstwerk. Und was ist mit dem Ich, das vom Mondkalb belehrt wird? Der Dichter Christian Morgenstern hat sicher nicht persönlich diesem merkwürdigen Tier gelauscht! Das Ich des Gedichts, das noch dazu keine Ahnung vom Reimen hat, gehört ganz klar in den Bereich der Fiktion. Aber auch Texte, die von persönlichen Stimmungen und Erlebnissen geprägt zu sein scheinen, sind ja gemacht und gedrechselt worden. Allein schon, damit Versmaß und Metrum stimmen, muss sich Dichtung die Wahrheit ein wenig zurechtbiegen. Daneben gibt es noch:
MUSIK Off the ledge 00:35min
ZITATORIN:
Weitere Gründe dafür, dass die Dichter lügen
SPRECHERIN:
So heißt ein Gedicht des 2022 verstorbenen Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger.
ZITATOR:
(…) der,
von dem da die Rede ist,
schweigt.
SPRECHERIN:
Wer ist dann der oder die Andere, wenn nicht Autor oder Verfasserin im Gedicht ihre Gefühle und Weltsicht kundtun? Die deutsche Literaturwissenschaft behilft sich hier mit der Konstruktion eines lyrischen Ichs.
O-TON 05: (Martínez)
„Dieser Begriff wurde zum ersten Mal 1910 von einer Literaturwissenschaftlerin namens Margarete Sussmann geprägt, die diesen Begriff benutzt hat, um das empirische Ich des Gedicht-Autors zu unterscheiden zwischen dem empirischen Autor-Ich und dem Text-Ich. Dieser Begriff ist dann sehr erfolgreich gewesen und wird bis heute gerne benutzt, allerdings in einer sehr uneinheitlichen Weise.“
SPRECHERIN:
Andere Sprachen kennen den Begriff des lyrischen Ichs nicht. Manche sprechen von einem „lyrischen Subjekt“. Die Philosophin Margarete Susman wollte mit dem Terminus den Blick auf die Text-Eigenschaften eines Gedichts lenken. Doch die Debatten, die sich im 20. Jahrhundert um das lyrische Ich rankten, zeigen, wie dehnbar der Begriff im Grunde ist. Handelt es sich tatsächlich um eine poetologische Kategorie oder nicht doch eher um eine fast religiöse Idee von einem überpersönlichen Ich, das durch ein Gedicht spricht? Wer oder was äußert sich dann hier? Schwer zu sagen.
O-TON 06: (Martínez)
„Es gibt also keine Übereinstimmung darüber, was das lyrische Ich wirklich bedeuten soll.“
MUSIK Scenic Village 00:52min
SPRECHERIN:
Hinzu kommt: Jede Epoche hat ihren eigenen Zeitgeist und ihre eigenen Ausdrucksformen. Nehmen wir nur einmal das berühmte mittelalterliche Spruchgedicht:
ZITATORIN:
Ich saz ûf eime steine
SPRECHERIN:
Wer sitzt da wohl mit übereinander geschlagenen Beinen, den Kopf aufgestützt auf einem Stein und denkt über die politische Lage im Reich nach? Es kann eigentlich niemand anderes sein als der Verfasser des berühmten Gedichtes selbst, der Minnesänger Wolfram von Eschenbach.
ZITATORIN:
und dahte bein mit beine
da rûf satzt ich den ellenbogen
SPRECHERIN:
Wer sonst sollte hier seine Gedanken kundtun? Die Frage nach dem lyrischen Ich bringt keinen Erkenntnisgewinn. Ähnliches gilt auch für barocke Leichen- oder Hochzeitsgedichte, die erwartbare Äußerungen machen, also, den Konventionen gemäß, gratulieren oder kondolieren. Hier äußern sich repräsentative Stimmen, keine lyrisch bewegten Subjekte. Trotzdem etablieren Gedichte immer eine besondere Sprecher-Rolle. Manchmal macht ja schon der Titel klar, dass jetzt zum Beispiel ein Zauberlehrling das Wort erhebt.
MUSIK Der Zauberlehrling 00:24min
SPRECHERIN:
In anderen Texten dagegen bleibt die Herkunft der Rede offen. Oder um aus Schillers Ballade „Der Gang nach dem Eisenhammer“ zu zitieren:
ZITATORIN:
Herr, dunkel war der Rede Sinn!
SPRECHERIN:
Stammelt hier der fromme Fridolin.
O-TON 07: (Martínez)
„Das Verständnis von Lyrik hat immer ein bisschen geschwankt zwischen der Identifikation des Sprechers in diesem Gedicht oder der Sprecherin mit dem realen Autor oder der realen Autorin einerseits. Und andererseits gab es aber auch immer ein Bewusstsein darüber, dass, sobald jemand ein Gedicht schreibt, derjenige, der in diesem Gedicht spricht, herausgelöst ist aus einer normalen Kommunikationssituation.“
MUSIK First Steps Outsides 00:51min
SPRECHERIN:
Im antiken Griechenland trug man lyrische Texte noch zur Lyra oder Kithara vor. Der äußere Rahmen war festlich. Mit dem Buchdruck verbreiteten sich Gedichte dann auch in schriftlicher Form. Man kann die Textgattung nun am Drucksatz, an den kurzen Zeilen oder den Strophen erkennen. Ein privater Brief sieht anders aus. Doch:
O-TON 08: (Martínez)
„Wenn ich eine Liebes-Botschaft eben in diesen traditionellen lyrischen Formen vorbringe…“
SPRECHERIN:
Wenn in einer Mail vielleicht eingerückt und abgesetzt ein Text steht, in dem sich Herz auf Schmerz, Blick auf Glück und Gefühl auf Gewühl reimt.
O-TON 09: (Martínez)
„Dann bekommt das auch in einer privaten Kommunikation einen anderen Charakter, einen verallgemeinernden Charakter.“
SPRECHERIN:
Und man kann oder muss sich fragen: was will der lyrische Text mir eigentlich sagen?
MUSIK Struggle With Reason 00:58min
ZITATORIN:
Einsamer Tag am Fenster (Amsterdam 1939)
SPRECHERIN:
So nennt die aus Nazi-Deutschland emigrierte Schriftstellerin Irmgard Keun ihr melancholisches Poem.
ZITATORIN:
Und ich träum gen Himmel.
SPRECHERIN:
Sehnsucht und Heimweh, Liebe und Tod, das Ich und die Welt, Glück und Leid, Werden und Vergehen. Gedichte mögen autobiographische Anlässe haben, sie mögen private Themen verarbeiten. Aber sie bilden seit Goethezeit und Romantik auch den Versuch ab, anders nicht Sagbares, vielleicht sogar Unsagbares in Worte zu kleiden. Sprachbilder und metaphorische Übertragungen können Empfindungen, Beobachtungen und Gedanken zu universell gültigen Aussagen oder Parabeln ver“dichten“. Ein Meister der Verallgemeinerung, der den hohen Anspruch der Poesie zugleich karikierte, war Wilhelm Busch.
MUSIK Barmy Town 00:44min
ZITATORIN:
Das Zahnweh, subjektiv genommen,
ist ohne Zweifel unwillkommen:
doch hat’s die gute Eigenschaft,
dass sich dabei die Lebenskraft,
die man nach außen oft verschwendet,
auf einen Punkt nach innen wendet.
SPRECHERIN:
Auch hier spricht, wenn man so will, ein lyrisches Ich, obwohl Wilhelm Busch nicht „ich“, sondern unpersönlich „man“ sagt. Sein lyrisches Ich distanziert sich vom leidenden Subjekt und betrachtet es spöttisch von außen: Ja, so kommst du der Welt abhanden, weil du Zahnweh hast. Und nicht wie andere größere(?) Dichter Liebeskummer.
O-TON 10: (Martinez)
„Es gibt viele Gedichte, in denen schon mal grammatisch gar nicht die erste Person Singular benutzt wird und die auch überhaupt eine Ausdrucksform benutzen, die eher neutral ist. Man wird aber schon sagen können, dass auch in Gedichten, in denen wir kein explizites Ich vorfinden, doch auch so eine Subjektivität sich ausdrückt.“
MUSIK A stranger 01:12min
SPRECHERIN:
Subjektive Darstellungen wecken Emotionen. Sie laden zur Identifikation ein. Gedichte können Saiten zum Klingen bringen, die im Alltag unterdrückt werden. Sie artikulieren diffuse Gefühle und vermitteln Zusammenhänge, die nicht von Daten, Fakten oder Algorithmen bestimmt werden. Rhythmus, Wortwahl und Sprachmelodie verführen zum Nachempfinden und Mitsprechen. Vielleicht geht ein Gedicht sogar ins kulturelle Gedächtnis einer Sprachgemeinschaft ein und überdauert die Zeiten - wie Eduard Mörikes Frühlingspoem „Er ist’s“, das bis heute gern vertont und zitiert wird.
ZITATORIN:
Frühling, ja, du bists!
Dich hab ich vernommen!
SPRECHERIN:
Und siehe da! Wer ein Gedicht vorträgt oder zitiert, verschmilzt mit der Stimme, die aus dem Gedicht spricht. Insofern kann man sagen, so der Literaturwissenschaftler Matías Martínez:
O-TON 11: (Martinez)
„Dass das lyrische Ich derjenige ist, der das Gedicht spricht. Und das kann auch der Leser sein, der es eben nachspricht.“
SPRECHERIN:
So erweitert sich das lyrische Ich zu einem lyrischen Wir, zu einem Chor von Sprecherinnen und Sprechern. Wer hat nicht schon beim Autofahren oder Tanzen Songtexte mitgesungen oder ein fremdes Liebesgedicht für eigene Zwecke eingesetzt? Stellvertretend für alle hat da jemand etwas in Worte gefasst und nimmt uns mit in eine andere Welt oder Stimmung:
O-TON 12: (Martinez)
„Das kann natürlich auch sehr unangenehm sein, wenn man sich auf einmal hineintransportiert findet in Situationen und in Haltungen, in Wertungen, die man nicht teilt. Aber gerade darin besteht natürlich auch eine Chance, von Literatur, Erfahrungen auszuprobieren spielerisch, die man im realen Leben nicht macht und vielleicht auch gar nicht machen möchte.“
MUSIK (Ich steh' auf) Berlin 00:45
ZITATORIN:
Ich fühl mich gut
Ich steh auf Berlin
SPRECHERIN:
Die Neue-deutsche Welle-Band „Ideal“ brachte 1980 ein Loblied auf Berlin heraus. Der Songtext, in dem sich „Morgenrot“ auf „Hundekot“ reimt, schaffte es 2023 in die erweiterte Neuausgabe des „Ewigen Brunnen“, einer Sammlung deutscher Gedichte aus acht Jahrhunderten. Ein Werk der Sängerin Annette Humpe steht jetzt also zwischen zwei Buchdeckeln vereint mit Gedichten von Friedrich Hölderlin, Theodor Storm, Bert Brecht und Ingeborg Bachmann.
ZITATORIN:
Ich ess die Pizza aus der Hand
SPRECHERIN:
Annette Humpes Verszeile ist keine banale Aussage mehr. Sie trägt einen exemplarischen Charakter wie auch Goethes Formulierung:
ZITATORIN:
Ich ging im Walde so für mich hin.
SPRECHERIN:
Die Bedeutung des Kontextes darf auf keinen Fall unterschätzt werden, wiederholt der Literaturwissenschaftler Matías Martínez:
O-TON 13: (Martinez)
„Dadurch wird auch der Sprecher dieses Gedichtes verändert, wenn ein Text als Gedicht zirkuliert und nicht einfach nur eine Äußerung ist in normaler alltäglicher Kommunikation. Denn auch der Sprecher wird dadurch selber zum Gegenstand der Betrachtung.“
SPRECHERIN:
Während der eine im Wald ein Blümchen ausgräbt, ist die andere als Schwarzfahrerin mit der Berliner U-Bahn unterwegs. Aber es sind eben nur ein paar Indizien, aus denen Zuhörerinnen und Leser Schlüsse auf das Subjekt des lyrischen Textes ziehen. Die imaginierte Sprecher-Instanz, der Sprecher, der aus dem Gedicht spricht, wandelt sich je nach Perspektive und Deutung.
O-TON 14: (Martínez)
„Schon dadurch kann er nicht mehr automatisch identifiziert werden mit dem realen Autor als einem Alltagssubjekt.“
SPRECHERIN:
Jeder Text führt ein Eigenleben, sobald er veröffentlicht ist. Der französische Philosoph Roland Barthes war der Meinung, dass moderne Gesellschaften der Person von Autoren und Autorinnen grundsätzlich zu viel Bedeutung beimessen. Stichwort: Starkult. Roland Barthes verkündete 1967 provokativ den „Tod des Autors“.
O-TON 15: (Martinez)
„Roland Barthes hat stattdessen die Geburt des Lesers propagiert, dass ein Text sich vollständig ablöst aus der Entstehungssituation und dass er sozusagen frei zirkuliert und die Bedeutung annimmt, die der Leser ihm gibt.“
SPRECHERIN:
Was für das lyrische Ich bedeutet: es wäre nicht mehr bei den Autoren zu verankern, sondern bei den Lesern und Leserinnen, die mit einem Gedicht machen können, was sie wollen - sofern keine Urheberrechte verletzt werden. Verszeilen lassen sich abwandeln, verfälschen, weiterspinnen oder wie eine Blume eigenmächtig verpflanzen. Kunst hilft weiter, wenn die eigenen Worte fehlen. Doch was hätte Rainer Maria Rilke wohl zum inflationären Gebrauch seiner Verse in heutigen Todesanzeigen gesagt?
ZITATORIN:
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
MUSIK Snow Again 01:23min
SPRECHERIN:
Manche Gedichte wirken einfach nur genial. Wie kommen Dichter und Dichterinnen eigentlich auf ihre Ideen? Woher bekommen sie ihre Eingebungen? Guten Gedichten merkt man die Arbeit am Text nicht an. Die Verse hüpfen leichtfüßig daher. Reime, Metrum, Rhythmus, alles fügt sich scheinbar selbstverständlich. Während der Autor vielleicht schwer um jedes Wort ringen musste, wirkt das fertige Werk dann wie eine Offenbarung. Das lyrische Ich kann sich meilenweit von der realen Person am Schreibtisch entfernen. Was im Umkehrschluss bedeutet: Dichter und Dichterinnen müssen sich für ihr lyrisches Ich nicht unbedingt verantwortlich fühlen. Wenn es sich zum Beispiel danebenbenimmt oder Unsinn verzapft, ließe sich argumentieren: Sie, die Verfasser, seien hier ja nicht persönlich tätig oder gar tätlich geworden. „Es“, eine Stimmung, eine Stimme, ein Gedanke, ein Funke, was auch immer, habe sie ergriffen und ihnen die Feder geführt. Kunst ist eben Kunst. Da ist einerseits etwas dran, sagt Matías Martínez.
O-TON 16: (Martínez)
„Die Freiheit der Kunst ist ja ein Grundrecht, das im Grundgesetz garantiert ist. Und wir haben ja auch eine Vorstellung davon, dass Kunst ein autonomer Bereich ist, in dem auch Haltungen und Meinungen präsentiert werden können, die Normen und Tabus durchbrechen. Vielleicht ist es ja sogar auch eine wichtige soziale Funktion von Kunst, eben auch bestimmte Grenzen zu überschreiten und zu provozieren. Andererseits muss sich die Kunst natürlich auch gefallen lassen, moralisch beurteilt zu werden. Sie agiert ja nicht in einem luftleeren Raum, sondern ist ja Teil einer gesellschaftlichen Diskussion.“
MUSIK Entitiy 00:51min
SPRECHERIN:
Etwa wenn es um sexuelle Gewalt geht. Als 2023 ein Dutzend Frauen Vorwürfe gegen den Rammstein-Sänger Till Lindemann erhob, geriet auch sein Lyrikband „In stillen Nächten“ in Verruf, den er zehn Jahre vorher veröffentlicht hatte. Der Verlag beendete die Zusammenarbeit mit dem Autor, nachdem er sich in einem Musikvideo, das Buch schwenkend, in extremen Sexszenen inszeniert hatte. Die öffentliche Empörung veränderte den Blick auf das lyrische Ich seiner Texte. Moralische Urteile können der künstlerischen Freiheit Grenzen setzen.
Wenn Till Lindemann in dem Gedicht „Wenn du schläfst“ die Vergewaltigung einer mit Rohypnol betäubten Frau beschreibt:
O-TON 17: (Martínez)
„Und zwar positiv markiert, dann kann man schon daran Anstoß nehmen. Also, da gibt es einen Ermessensspielraum, ob man diesen Text eher als ein Gedicht liest, das durch die Freiheit der Kunst gedeckt ist, oder als Äußerung eines empirischen Autors, der das zwar in Gedichtform tut, der aber doch da bestimmte Vorlieben erkennen lässt, die verwerflich sind. Wenn man da eben sagt, da wird ein sexualisierter Gewaltakt beschrieben, dann ist das ja schon ein sehr schwerwiegender Vorwurf.“
MUSIK Heidenröslein 00:50min
SPRECHERIN:
Ein gutes Gedicht zeichnet sich auch durch Mehrdeutigkeit aus. Stilistische Mittel wie Ironie, Parodie oder Rollensprache verhindern den Kurzschluss zwischen Autor und lyrischem Ich. Auch Goethe thematisiert ja in seinem Gedicht „Heidenröslein“ eine Vergewaltigung. Anders als Till Lindemann schildert er das Geschehen jedoch nicht nur aus der Sicht des vermutlich männlichen Sprechers. Er lässt das Opfer selbst, das Heidenröslein zu Wort kommen.
ZITATORIN:
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.
O-TON 18: (Martinez)
„Bei Goethe wird zwar ein Unrecht beschrieben, aber es wird ja auch sehr stark der Leidcharakter dieses Unrechts hervorgehoben. Und insofern kann man sagen, dass in der Beschreibung dieses Unrechts oder dieses Übergriffs, dieser Gewalttat gleichzeitig auch so ein mahnender Charakter enthalten ist.“
MUSIK CHAMBER 01:27min
SPRECHERIN:
Die literaturwissenschaftliche Kategorie des lyrischen Ichs ist schillernd, verführerisch und trügerisch wie die Kunst selbst. Die Bandbreite poetischer Äußerungen lässt sich kaum auf einen Nenner bringen. Ob dichterische Inspirationsquellen vielleicht doch göttlich-überirdischer Natur sind oder eher mit Sex, Alkohol, Kaffee, Musik und Disziplin zusammenhängen: es gibt auf jeden Fall viele Faktoren, innere wie äußere, die ein lyrisches Werk beeinflussen, zum Beispiel auch Lärm, Geldnot, Selbstzweifel oder früher Ruhm.
O-TON 19: (Martinez)
„So ein kreativer Prozess hat natürlich immer auch immer mit dem individuellen Autor zu tun. Nicht jeder Autor bringt beliebige Texte hervor, sondern es gibt natürlich ein enges Verhältnis zwischen der Individualität eines Autors, also seiner Person und der Kunst oder den Texten, die er hervorbringt, das ist ein schwieriges, und ich würde sagen, offenes Gebiet.“
SPRECHERIN:
Umso besser passen hier jetzt also die Worte, mit denen der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki Debatten abzuschließen pflegte, in Abwandlung des Bert-Brecht-Zitats: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen“…
ZITATORIN:
Wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Beim ersten Nürnberger Prozess gelang, was zunächst unmöglich schien: Dolmetschen fast ohne Zeitverzögerung. Ohne diese Gleichzeitigkeit wäre heute internationale Politik und Globalisierung kaum denkbar. Welche Verantwortung haben Dolmetscher? Und was, wenn KI ihre Aufgabe übernehmen würde? Von Hans Christoph Böhringer
Credits
Autor dieser Folge: Hans Christoph Böhringer
Regie: Martin Trauner
Es sprach: Thomas Birnstiel
Technik: Josef Angloher
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Jennifer Kearns, Dolmetscherin bei der UN in Wien
Elke Limberger-Katsumi, Konferenzdolmetscherin Nürnberg
Alexander Waibel, Informatiker am KIT, Dolmetsch-Technologie-Pionier
Martina Behr, Forscherin an der Uni Innsbruck (nur Hintergrund)
Thilo Hatscher, Dolmetscher, Berufsverband AIIC (nur Hintergrund)
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literatur:
Jesús Baigorri Jalón „From Paris to Nuremberg: The Birth of Conference Interpreting“ – erzählt die Geschichte des Konferenzdolmetschens in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER:
An einem Dienstagvormittag in Wien beginnt eine Konferenz der Vereinten Nation. Von den Kabinen der Dolmetscher aus kann man durch eine Glasscheibe beobachten, wie unten die Konferenzteilnehmer in dem holzgetäfelten Saal Platz nehmen.
ATMO 01 Konferenzteilnehmerin spricht.
SPRECHER:
Drückt der Techniker in seiner Kabine auf einen Knopf, wechselt der Sprachkanal.
ATMO 02 Stimme wechselt
SPRECHER:
Alles, was unten gesagt wird, wiederholen oben in den Kabinen die Dolmetscher in den jeweils anderen UN-Sprachen: Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Russisch, Chinesisch.
SPRECHER:
Ohne die schnelle mündliche Übersetzung von einer Sprache in die andere wäre eine Konferenz wie diese nicht möglich. Aber es ist eine Technik, die für Dolmetscher sehr fordernd ist.
ZSP 01 KEARNS:
[00:27:06] Man braucht ein bisschen … diesen Stress. Eben diesen Adrenalinstoß, um weiter zu dolmetschen. [00:27:11][5.0]
ZSP 02 KEARNS:
[00:27:12] Wir meckern zwar drüber, wenn wir gestresst sind und es ist so schnell und es ist so brenzlig, aber eigentlich lieben wir das. [00:27:21][8.6]
MUSIK: „Frontside Backside“ (0:20)
SPRECHER:
Simultandolmetschen ist ein unsichtbares Zahnrad, das die internationale Politik und Wirtschaft am Laufen hält.
Ganz besonders brenzlig ist es, wenn es um Krieg oder Frieden geht, um Schuldspruch oder Freispruch.
MUSIK weg
SPRECHER:
Es ist das Jahr 1934 und der Franzose André Kaminker dolmetscht live eine Rede. So kann das französischsprachige Publikum vor dem Radio unverzüglich hören, was da gesagt wird. Die Rede wird in Nürnberg gehalten. Der Redner: Adolf Hitler. Er spricht beim Parteitag der Nationalsozialisten. Und André Kaminker war damit einer der ersten Menschen, die vor großem Publikum echtes Simultandolmetschen praktiziert haben.
MUSIK: „Detached“ (0:54)
SPRECHER:
Damals hatte sich der Beruf Dolmetscher schon durchgesetzt. Vorbei war längst die Zeit, in der Diplomatie einfach auf Französisch stattfand und die Angelegenheit von europäischen Adligen war. Aber Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts war der Standard noch das Konsekutivdolmetschen: Während einer Rede hörte der Dolmetscher zu, machte Notizen, und verlas anschließend die Übersetzung – so lief es beim Völkerbund, dem Vorläufer der UN. Weil das Konsekutive viel Zeit in Anspruch nahm, gab es in den 1920er Jahren sowohl in der Sowjetunion als auch in der Schweiz Versuche, die Verdolmetschung simultan zu machen. Anfangs setze man dabei auf Stenografen, die während der Rede dem Dolmetscher ihren Mitschrieb zuschieben – dass jemand gleichzeitig zuhören und in einer anderen Sprache sprechen könnte, schien zunächst unmöglich.
MUSIK aus
SPRECHER:
Als André Kaminker 1934 Hitlers Rede dolmetschte, war das Simultane also noch die Ausnahme. Der eigentliche Durchbruch kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Wieder war der Ort Nürnberg.
ZSP 03 ARCHIV NÜRNBERG OPENING - ROBERT JACKSON:
[00:00:07] The privilege of opening the first trial in history for crimes against the peace of the world imposes a grave responsibility. [00:00:22][15.1]
SPRECHER:
So beginnt im Herbst 1945 der Chefankläger Robert Jackson die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher. Auf der Anklagebank sitzen hohe Funktionäre des NS-Regimes, darunter Hermann Göring, der als einer der wichtigsten Komplizen Hitlers gilt.
ZSP 04 ARCHIV NÜRNBERG OPENING - GÖRING:
Ich befinde mich im Sinne der Anklage: nicht schuldig.
SPRECHER:
Die Angeklagten und die Verteidiger sprechen Deutsch. Die Richter, die Ankläger und viele Zeugen sprechen Englisch, Russisch und Französisch.
Beim Völkerbund der Zwanzigerjahre wurde hintereinander ins Englische und ins Französische gedolmetscht, schon dadurch zogen sich die Sitzungen sehr in die Länge. Und laut Berichten waren die Teilnehmenden dadurch oft unaufmerksam oder hatten sogar den Saal verlassen, wenn gerade in einer für sie unverständlichen Sprache gesprochen wurde. Es war also schon im Vorfeld klar, dass man bei den Nürnberger Prozessen anders mit der mehrfachen Sprachbarriere umgehen musste, sonst hätte das ohnehin schon riesige Unterfangen bis zu viermal länger gedauert. So kam es zum Durchbruch des Simultandolmetschens. Es brauchte dafür das richtige System, Kopfhörer, Kabel und Schaltpulte, die die US-amerikanische Firma IBM herstellte. Und dann brauchte es geeignete Dolmetscher, die unter hohem Zeitdruck gleichzeitig zuhören, übersetzen und sprechen konnten.
ZSP 05 Limberger Katsumi:
[00:13:15] Also praktisch alle waren zweisprachig, mindestens zweisprachig. [00:13:20][4.9] [00:13:26] Sie waren im Exil gewesen. Sie sind geflüchtet. [00:13:33][7.2] [00:13:52] Die Geschichten wie ihre Flucht, ihre Vertreibung, ihre Familiengeschichte waren, sind sehr, sehr divers. Sehr, sehr aufregend, meiner Ansicht nach. [00:14:03][11.4]
SPRECHER:
Das ist Elke Limberger-Katsumi. Sie hat seit Ende der Siebzigerjahre als freiberufliche Dolmetscherin gearbeitet, am Standort Nürnberg.
ZSP 06 Limberger Katsumi:
[00:04:36] Und im Rahmen des Aufbaus meiner freiberufliche Karriere - - hab ich auch immer wieder Veranstaltungen zu dolmetschen gehabt, die mit den Prozessen zu tun hatten, mit Jahrestagen, mit Ehrungen usw und so fort und habe immer mehr darüber erfahren. Vor allem habe ich erfahren, dass keiner was über die Dolmetscher wusste. [00:05:01][25.5]
SPRECHER:
Also hatte Limberger-Katsumi beschlossen nachzuforschen: Wer waren die Menschen, die bei den Nürnberger Prozessen gedolmetscht?
MUSIK: „Detached“ – Z8046179 104 (0:42)
ZSP 07 ARCHIV NÜRNBERG DOLMETSCHER – Engl. Dolmetscherin:
[00:00:39] That's right. The Wehrmacht did march in. [00:00:43][3.7]
SPRECHER:
In den Archiven finden sich einzelne Filmaufnahmen mit verrauschtem Ton, darauf sind Dolmetscher und Dolmetscherinnen bei den Nürnberger Prozessen zu sehen. Es sind vermutlich inszenierte Aufnahmen oder Proben, keine Ausschnitte aus den eigentlichen Verhandlungen.
ZSP 08 ARCHIV NÜRNBERG DOLMETSCHER – Franz. Dolmetscher:
[00:02:26] J'ai appris que le Führer avait décidé. [00:02:30][4.6]
ZSP 09 Limberger Katsumi: [00:03:28] Man merkt ganz deutlich, dass diese Leute sprachlich überhaupt kein Problem hatten. [00:03:35][7.5]#
ZSP 10 ARCHIV NÜRNBERG DOLMETSCHER – Russ Dolmetscherin:
[00:03:13] Я стараюсь ставить простые вопросы. Я прошу, чтобы задавали простые ответы. [00:03:21][8.2] (Ich versuche, einfache Fragen zu stellen. Ich bitte um einfache Antworten.)
ZSP 11 Limberger Katsumi: [00:03:44] Aber dieses Gleichzeitige und dieses Ungewohnte und diese natürlich furchtbar umständliche Technik, da mussten sie sich dran gewöhnen. [00:03:54][9.9]
SPRECHER:
Limberger-Katsumi und ihre Kollegen vom Dolmetscherverband A.I.I.C. haben die Biografien einiger Dolmetscher und Dolmetscherinnen recherchiert. Viele haben eine Gemeinsamkeit: Sie waren Opfer des NS-Regimes gewesen. Viele waren jüdisch und hatten vor den Nationalsozialisten fliehen müssen. Einige hatten Haft oder sogar ein Konzentrationslager überlebt.
ZSP 12 ARCHIV NÜRNBERG DOLMETSCHER – Rosoff:
[00:01:26] Mais Keitel nous a raconté plus tard qu'il était passé avec vous … inscrit dans votre journal… [00:01:33][6.9]
SPRECHER:
Eine der Dolmetscherinnen war Genia Rosoff, sie dolmetscht hier ins Französische.
ZSP 13 ARCHIV NÜRNBERG DOLMETSCHER – Rosoff:
[00:01:37] … A la page 133 du livre, le document numéro sept. La même page! [00:01:43][5.7]
SPRECHER:
Genia oder Eugenia Rosoff kam aus Frankreich. Ihre Eltern waren jüdische Immigranten aus Polen und Russland. Mit der Besatzung durch die Deutschen wurde Rosoff und ihrer Familie die französische Staatsbürgerschaft entzogen.
ZSP 14 Limberger Katsumi:
[00:20:24] Sie arbeitete als Englischlehrerin zu dem Zeitpunkt. Dann schloss sie sich der Résistance an und … [00:20:30][6.0]
[00:20:37]... sie wurde auf jeden Fall verpfiffen und von der Gestapo in Paris inhaftiert. [00:20:44][6.2]
SPRECHER:
So kam Genia Rosoff in das Konzentrationslager Ravensbrück. Kurz vor Kriegsende wurde sie durch einen Deal des Roten Kreuzes befreit.
Zu dem Zeitpunkt, als sie von den bevorstehenden Prozessen in Nürnberg hörte, arbeitete sie als Journalistin. Sie meldete sich als Dolmetscherin – und bestand den Aufnahmetest.
ZSP 15 Limberger-Katsumi
[00:23:00] … hat auch den Test bestanden, den übrigens 80 % der Leute, die sich gemeldet haben, nicht bestanden haben. [00:23:11][11.5]
SPRECHER:
Die Dolmetscher mussten eine doppelte Belastung aushalten: Einerseits war das Simultane eine kognitive Anstrengung. Andererseits war das Dolmetschen auch psychisch belastend: Denn als Dolmetscherin muss man die Intention und den Standpunkt des Sprechers wiedergeben, auch wenn man damit vielleicht überhaupt nicht einverstanden ist – oder der Standpunkt einem sogar im Innersten widerstreben. Die Nürnberger Prozesse gegen die NS-Kriegsverbrecher müssen da ein Extremfall gewesen sein.
Aber Genia Rosoff hielt dem Druck stand.
ZSP 16 Limberger Katsumi:
[00:23:11] … Und war nach Bekunden von Kollegen, eine der besten Dolmetscherinnen, also simultan… und unheimlich neutral. Hat auch die schlimmsten Sachen richtig – also so richtig im Sinne von neutral – rübergebracht. [00:23:33][21.7]
MUSIK: „Frontside Backside“ (0:20)
SPRECHER
Genia Rosoff gehörte schließlich zu den ausgewählten Dolmetschern, die nach New York geschickt wurde. Sie sollten dort das Simultandolmetschen einer frisch gegründeten Organisation vorstellen: den Vereinten Nationen.
MUSIK hoch und weg
ATMO 03 TÜREN gehen auf, Schritte durch einen Flur.
SPRECHER:
Zurück zu einem anderen Standort der Vereinten Nationen: Wien. Die Konferenz ist zu Ende. Jennifer Kearns, die wir schon anfangs kurz gehört haben, führt uns weg von den Kabinen und in einen der leeren Säle.
ZSP 17 KEARNS:
[00:23:16] Ich bin irische Staatsbürgerin. Meine Muttersprache ist Englisch und ich dolmetsche aus dem Französisch, Spanisch und Deutsche ins Englische. Bei der UNO natürlich aus Französisch und Spanisch ins Englische. [00:23:31][14.9]
SPRECHER:. Ins Deutsche wird bei der UN in Wien nur selten gedolmetscht, denn Deutsch ist keine der sechs offiziellen UN-Sprachen.
Das Simultandolmetschen ist heutzutage Standard für Konferenzen und vor Gericht. Angehende Dolmetscher lernen dafür zum Beispiel das sogenannte Antizipieren, dabei versucht man vorauszusehen, wo der Sprecher mit einem Satz hinsteuert. Das ist vor allem im Deutschen wichtig, in der „Awful German Language“, wie sie einst der Schriftsteller Mark Twain genannt hatte, weil im Deutschen erst nach vielen Nebensätzen endlich das Verb kommt – wenn man schon wieder längst vergessen hat, wie der Satz anfing....
Eine andere Technik ist das Segmentieren: Man übersetzt längere Sätze in kleinen Sinnabschnitten, Stück für Stück.
ZSP 19 KEARNS:
[00:07:30] ... und üben, üben, üben. Macht Meister, ne? [00:07:34][4.0]
MUSIK: „Frontside Backside“ – Z8031510 103 (0:25)
SPRECHER:
Die Verzögerung zwischen Originalrede und gedolmetschter Rede nennt man “Décalage”, französisch für “Verschiebung”. Eine Décalage von drei bis vier Sekunden beziehungsweise von vier bis fünf Wörtern ist typisch, aber das hängt sehr davon ab, was gerade gedolmetscht wird. Schneller ist nicht immer besser. Denn es gibt keine Zurücktaste.
Und ein kleiner Fehler beim Dolmetschen kann große Konsequenzen haben. Ein Beispiel aus dem Jahr 1956: Da sagte der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow zu versammelten westlichen Diplomaten: “Wir werden euch begraben.” So hatte es zumindest sein Dolmetscher übersetzt. Dieser vermeintliche Ausspruch Chruschtschows wurde in US-Medien als Drohung verstanden und wurde in Forderungen nach Aufrüstung zitiert. Der Kontext der Rede lässt allerdings darauf schließen, dass es Chruschtschow um die langfristige Überlegenheit des Kommunismus ging. Die wahrscheinlich bessere Verdolmetschung wäre also gewesen: “Wir werden euch überdauern.”
Genau die Absicht des Redners widerzugeben, macht das Simultandolmetschen sehr anspruchsvoll. Gibt es einen Trick, wie man mit dem Stress klar kommt? Ein Ritual, bevor das Mikrofon eingeschaltet wird?
ZSP 20 KEARNS:
[00:11:02] Ein Kaffee trinken. (lacht) [00:11:03][0.5]
[00:11:11] Das heißt, ich ... man hat immer noch einen Adrenalinstoß, Natürlich, bevor das losgeht. Das hängt auch davon ab. Was ist das für eine Sitzung? Wer nimmt da teil? Wie findet es statt? Worum geht's? [00:11:25][13.5]
SPRECHER:
An einem Tag dolmetscht Kearns für ein Treffen der internationalen Atomenergiekommission, an einem anderen Tag für eine Konferenz über einen Drogenbericht. Besonders schwierig sind Informationen, die sich nicht aus dem Kontext erschließen, die aber genau übersetzt werden müssen: Fachbegriffe, Zahlen oder Eigennamen. Da hilft Vorbereitung.
Aber auch bei der besten Vorbereitung: Was zählt, ist das gesprochene Wort. Gedolmetscht wird spontan.
ZSP 21 KEARNS: [00:14:34] Witze sind extrem anstrengend, weil sie meistens auf Wortspiel basieren und Wortspiel von einem Sprach ins andere zu übersetzen... im heißen Geschehen der Dinge ist nicht einfach. [00:14:46][12.2]
SPRECHER:
Als Dolmetscherin muss Kearns auch versuchen, die Stimmung zu transportieren.
ZSP 22 KEARNS:
[00:33:32] Also an einen Sitzungen, an die ich mich besonders erinnern kann, war die internationale Gedenktag für Ruanda, die jährlich stattfindet und wo viele persönliche Schilderungen gegeben werden, die extrem berührend sind, extrem traurig [00:33:53][21.2]
[00:27:57] Das liegt zwar schon einiger Zeit her, natürlich, aber zu sehen Familienmitglieder und Überlebende, die von einem Massaker erzählen, dann hat man eben dieser Verantwortung. [00:28:11][13.9]
[00:28:26] Und an dieser speziellen Sitzung vor einigen Monaten hatten wir eine Dame. Sie hat von einem Tag in ihrem Leben erzählt während dieses Massaker. Und hat am Schluss dann ein Gedicht, weil sie war Dichterin, hat ein Gedicht ihre eigene Gedicht vorgelesen. [00:28:49][22.4]
[00:29:00] Man will genau den richtigen Ton treffen. Und weil, wenn ich das nicht richtig vermittle, dann habe ich ihr eine Untat getan. Und dann kommt auch noch ein Gedicht dazu. Also Poetik zu übersetzen simultan. Da habe ich schon gedacht okay, aber jetzt.... Aber es war wirklich schön und das war eine wunderbare Herausforderung. [00:29:21][21.2]
SPRECHER:
Wenn Dolmetscher ihren Job richtig machen, fallen sie meist nicht auf. So kommt es manchmal, dass die Leistung der Dolmetscher nicht unbedingt gewürdigt wird. Dabei sind lange Reden oder ein schnelles Hin und Her sehr fordernd. Und Dolmetscher sind in besonderem Maße davon abhängig, dass die Tonqualität gut ist. Als in der Pandemie immer öfter Konferenzen remote stattfanden, traten die Dolmetscher der EU in einen Streik. Die Tonqualität sei oft zu schlecht, die Hintergrundgeräusche seien belastend, die Arbeitsbedingungen unzumutbar.
MUSIK: „Detached“ – (0:35)
SPRECHER:
Simultandolmetschen ist anstrengend. Deswegen müssen sich die Dolmetscherinnen und Dolmetscher alle halbe Stunde abwechseln. Beispielsweise für eine zweistündige Besprechung in zwei Sprachen braucht man bis zu vier Dolmetscher, wenn, wie bei der UN oder der EU üblich, jeder nur in seine Muttersprache dolmetscht. Das kann sich nicht jeder leisten. Gerade für kleinere Firmen gibt es daher den Anreiz, sich nach Alternativen zu menschlichen Dolmetschern umzusehen.
MUSIK: „Theme from Star Trek“ – (0:35)
SPRECHER:
In der Science-Fiction-Zukunft braucht man keine Dolmetscher mehr. James T. Kirk, der Kapitän des Raumschiffs Enterprise, kann mit jedem Außerirdischen sprechen. Denn Kirk hat einen sogenannten Universalübersetzer, ein kleines Gerät, das automatisch jede Sprache in eine andere übersetzen kann.
Das ist, wie gesagt, Fiktion. Aber der echte Captain Kirk, also der Schauspieler William Shatner, besuchte Ende der Neunziger einen deutschen Forscher. Shatner wollte sich überzeugen, dass es ihn tatsächlich bald gibt: den Universalübersetzer.
ZSP 23 WAIBEL:
[00:05:06] Mit diesem maschinellen Übersetzungsprogramm kann ich ein Video von mir machen, in dem ich in beliebigen Sprachen spreche. [00:05:12][6.7]
ZSP 24 WAIBEL-Klon: (Leicht überlagert)
[00:06:09] With this machine translation program, I can make a video of myself speaking in any language. [00:06:15][5.3]
SPRECHER:
Das ist Alexander Waibel. Beziehungsweise: Das ist die Maschinen-übersetzungen von Alexander Waibel, also ein Klon seiner Stimme.
Waibel erforscht Kommunikationstechnologie am Karlsruher Institut für Technologie, kurz K.I.T. Er ist schon lange mit dem maschinellen Dolmetschen beschäftigt. 1978 hat er damit angefangen, als das noch Science Fiction war.
ZSP 25 WAIBEL:
[00:06:07] Ich war noch ein junger Student und blauäugig und naiv, wusste nicht, wie schwierig die Aufgabe tatsächlich sein würde, weil eben diese Ambiguität oder die Doppeldeutigkeit in allen Ebenen sozusagen vorliegt. [00:06:21][13.4]
SPRECHER:
Die Schwierigkeit ist also, mit der Mehrdeutigkeit des gesprochenen Wortes klarzukommen. Anfang der Neunziger Jahre begannen Waibel und seine Kollegen statistische Methoden zu nutzen. Wenn zum Beispiel in einem Satz das Wort “Deutsche” vor dem Wort “Bank” steht, ist es wahrscheinlich keine Bank zum Draufsetzen. Waibel entwickelte so die erste europäisch-US-amerikanische Dolmetschsoftware.
Als William Shatner im Jahr 1999 Waibel besuchte, konnte diese Software allerdings nur einzelne Sätze nacheinander übersetzen und war auf bestimmte Gesprächsthemen beschränkt, zum Beispiel auf Hotelreservierungen. Es dauerte noch ein paar Jahre für den Prototypen des Universalübersetzers.
ZSP 27 ARCHIV LECTURE TRANSLATOR, WAIBEL:
[00:00:06] Good morning. Thank you very much. It's very nice to have you here. [00:00:19][13.0]
SPRECHER:
Bei einer Pressekonferenz im Jahr 2005 demonstrierte Waibel den Lecture Translator. Es war der weltweit erste automatische Simultandolmetscher.
ZSP 28 ARCHIV LECTURE TRANSLATOR, WAIBEL:
[00:00:22] … Before we begin to show you what's new today … [00:00:33][11.0] (Waibel spricht darunter auf Englisch weiter. Die Übersetzung liegt drüber.)
[00:00:34] … Bevor wir anfangen, Ihnen zu zeigen, heute neu, wie viel, die wir haben, demonstrieren. Ich möchte Ihnen die Technologie, die Vergangenheit Entwicklung auf die Grundlage von denen wir getan haben, diese neue Fortschritte… [00:00:49][15.8]
SPRECHER:
Das Resultat war noch holprig. Aber Waibel und sein Team haben den Lecture Translator seitdem weiterentwickelt. Seit 2012 wird der Lecture Translator am K.I.T. in vielen Vorlesungen eingesetzt, damit internationale Studierende es leichter haben. Einen klaren Vorteil hat die Maschine gegenüber dem Menschen: Die Gleichzeitigkeit von Sprechen und Zuhören macht einen Computer nicht müde. Seit der Erfindung des Lecture-Translators hat sich die Computer-Übersetzung deutlich verbessert – dank Methoden des Maschinellen Lernens, dank wachsender Rechnerleistungen und dank großer Mengen an Trainingsmaterial aus dem Internet. Nun kann die Dolmetschsoftware Kontext besser erfassen.
MUSIK: „Detached“ – (0:40)
ZSP 30 WAIBEL (deutsch): [00:00:00] So kann jeder mit jedem sprechen, auch wenn er die andere Sprache nicht versteht. [00:00:00][0.0]
(überlagert sich mit…)
ZSP 31 WAIBEL-Klon (englisch): [00:00:00] So everyone can talk to everyone, even if they don't understand the other language. [00:00:00][0.0]
ZSP 32 WAIBEL-Klon (japanisch): [00:00:00] そう すれ ば、 たとえ 他 の 人 が その 言語 を 理解 し て い なく て も、 誰 も が 誰 と で も 話せる の です。 [00:00:00][0.0]
SPRECHER
Alexander Waibel sieht die Maschine eher als Ergänzung für den menschlichen Dolmetscher. Er erklärt, dass noch eine Menge Probleme zu lösen seien. Er deutet auf seine Doktoranden und Doktorandinnen, die während der Vorführung des Lecture Translators auf der anderen Seite des Konferenztisches sitzen. Ein jeder arbeitet an einem dieser Probleme: Emotionen übertragen. In einen bestimmten Akzent oder Dialekt dolmetschen.
ZSP 34 WAIBEL:
[00:58:12] Und das sind alles noch so Aufgaben, die aktuell noch nicht funktionieren und wo sicherlich der Mensch das besser einordnen kann als als Maschinen aktuell. [00:58:39][27.3]
MUSIK: „Frontside Backside“ – (1:20)
SPRECHER
Und schließlich gibt es noch das vielleicht ultimative Problem des maschinellen Dolmetschens: echtes Verstehen der Situation.
Eine menschliche Dolmetscherin versteht, warum etwas gesagt wird, warum es einen Gedenktag gibt, und wer da spricht. Von diesem Urteilsvermögen hängt schließlich ab, ob die Dolmetscher und Dolmetscherinnen ihrer Verantwortung gerecht werden können. Vielleicht braucht es die seltenen Momente, in denen sie aus ihrer Unsichtbarkeit ausbrechen, um klar zu machen, warum Menschen diese Aufgabe in besonders brisanten Situationen übernehmen sollten. Zum Beispiel wenn die Dolmetscher im EU-Parlament streiken, weil die Audioqualität zu schlecht ist. Sie wissen, was sie brauchen, um ihren Job gut zu machen.
Eine Maschine weiß das noch lange nicht.
Simon Marius hat unabhängig von Galilei die großen Jupitermonde entdeckt. Er wurde dafür aber nicht gefeiert, sondern als Plagiator geschmäht. Und es sollte fast drei Jahrhunderte dauern, bis dieser "stille Held" der Wissenschaftsgeschichte endlich rehabilitiert wurde. Von Martin Schramm (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Andreas Neumann, Rahel Comtesse, Christoph Jablonka
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Pierre Leich, Wissenschaftshistoriker, Präsident der Simon Marius Gesellschaft, Nürnberg;
Dr. Hans Gaab, Astronomiehistoriker, Nürnberg
Linktipps:
Diese Internetpräsentation wurde im Jubiläumsjahr 2014 gestartet und führt alle elektronisch verfügbaren Quellen, Sekundärliteratur, Vorträge und Nachrichten zu Simon Marius zusammen und macht sie – wo möglich – bequem einsehbar. Die Initiatoren laden die Öffentlichkeit ein, diese Seite als zentrales mehrsprachiges Portal für Simon Marius zu nutzen und zu erweitern:
EXTERNER LINK | https://www.simon-marius.net/
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Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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MUSIK Dark Matter 01:39min
SPRECHER
Wir schreiben das Jahr 1623. Galileo Galilei ist außer sich. In seiner Schrift „Il Saggiatore“ platzt im regelrecht der Kragen:
ZITATOR Galilei („Il Saggiatore“, Firenze 1623)
“Ich will nicht länger schweigen über jenen üblen Profiteur, der bereits viele Jahre zuvor meine Erfindung des geometrischen Kompass als seine eigene ausgegeben hat, und mir jetzt mit unverschämter Dreistigkeit erneut eine Entdeckung streitig macht. Diesmal mag ich es mir verziehen, wenn ich entgegen meiner Natur und Gewohnheit mit Wut und Groll herausschreie, was ich viele Jahre für mich behalten habe: Ich spreche von Simon Marius aus Gunzenhausen. Dieser Kerl, der es offensichtlich gewohnt war, sich mit der Arbeit anderer zu schmücken, schämte sich nicht, meine “Botschaft von den neuen Sternen” zu missbrauchen, um seinen eigenen Ruhm durch meine Arbeit und meine Mühen zu vermehren. Behauptet er doch tollkühn, in seinem Werk “Mundus Jovialis”, er habe die Mediceischen Planeten, welche den Jupiter umkreisen, vor mir entdeckt...”
SPRECHERIN
Der große Galileo Galilei ist - auf gut deutsch - “angepisst”. Er lässt kein gutes Haar an jenem „Simon Marius aus Gunzenhaus“, von dem die Welt zuvor nicht viel gehört hat.
SPRECHER
Und von dem man - dank Galileis tatkräftiger Unterstützung - später noch viel weniger hören sollte. Im Klartext: Der Ruf dieses Simon Marius ist ruiniert.
SPRECHERIN
Doch sind die Vorwürfe gerechtfertigt? Ist dieser Marius tatsächlich nichts anderes als ein „dreister Plagiator“, der sich ein Stück vom Ruhm des großen Meisters abschneiden will? Ein unbedeutender Mann aus der fränkischen Provinz, auf den die Wissenschaftsgeschichte gut und gern hätte verzichten können?
SPRECHER
Es sollte fast drei Jahrhunderte dauern, bis diese Frage geklärt wurde - mit einem überraschenden Ergebnis.
MUSIK On Tiptoe 00:37min
ZITATOR
Von Gunzenhausen in die Welt - oder: Talent sucht Patron
SPRECHERIN
Simon wird am 10. Januar 1573 geboren. In Gunzenhausen an der Altmühl. Das ist zwar nicht der Nabel der damaligen Welt. Sein Vater hat es dort aber durchaus zu etwas gebracht, ist gebildet, zeitweise Bürgermeister des kleinen Städtchens.
SPRECHER
Dennoch ist die Familie finanziell wohl eher mager ausgestattet: Simon hat noch zahlreiche Geschwister, die alle versorgt werden wollen.
SPRECHERIN
Um voran zu kommen, braucht der talentierte Junge daher einflussreiche Förderer, z.B. Georg Friedrich, seines Zeichens Markgraf des Fürstentums Brandenburg-Ansbach. Der Astronomiehistoriker Hans Gaab:
01-O-TON Gaab Gesangstalent
„Und es gibt natürlich die Geschichte. Wobei das ist sehr fragwürdig, gehört wohl eher in den Bereich der Legenden, dass der Markgraf ihn singen gehört hat und der von dem Gesang so begeistert war, dass er ihn eben an die Fürstenschule in Heilsbronn aufgenommen hat. Diese Geschichte ist allerdings erst entstanden oder nachweisbar, hundert Jahre nach dem Tod von Marius und insofern ist ein sehr großes Fragezeichen zu setzen.“
SPRECHER
Doch selbst wenn die Geschichte „Junges Talent singt sich nach oben“ nur gut erfunden ist. Entscheidend ist: Simon wird gefördert und an der Fürstenschule in Heilsbronn aufgenommen, einem Städtchen zwischen Nürnberg und Ansbach, wo damals der Bedarf an Beamten für den fürstlichen Stab ausgebildet wird. Simon muss Eindruck hinterlassen haben:
02-O-TON Gaab Weichenstellungen
2 [0:12:29] : „Man hat ihm ein eigenes Zimmer eingeräumt, weil man gemerkt hat, der ist sehr begabt, was Mathematik, Astronomie angeht, und hat ihm glatt Bücher verschafft und hat ihn da allein auch studieren lassen. Also der ist da gefördert worden in Heilsbronn, der war da privilegiert, - ist deswegen auch gelegentlich von Mitschülern angegriffen worden, war manchmal nicht so beliebt. Aber wie gesagt er ist da sehr stark gefördert worden. Und ihm standen auch einfache, keine komplizierten, aber einfache Instrumente zur Verfügung für astronomische Beobachtungen.“
MUSIK Now Getup 01:12min
SPRECHERIN
Schon früh macht Marius dann mit ersten Veröffentlichungen auf sich aufmerksam – beobachtet einen Kometen und erstellt astronomische Tafeln.
SPRECHER
Ein Empfehlungsschreiben des Markgrafen ebnet ihm schließlich den Weg hin zu einer weiteren wichtigen Station in seinem Leben: Marius bekommt einen Job in Prag, eine Assistentenstelle bei einem der erfahrensten Astronomen seiner Zeit: bei Tycho Brahe. Seines Zeichens Hofmathematiker des deutschen Kaisers Rudolf II.
SPRECHERIN
Berühmt ist Brahe vor allem für einen ganz besonderen “Datenschatz”: Umfangreiche Journale mit präzisen Planetenbeobachtungen.
SPRECHER
Brahe erstellte die erste Kartierung des Himmels mit brauchbarer Auflösung - eine Art „Wanderkarte“ auf der gleichsam nicht nur sechsspurige Autobahnen, die größten Seen und breitesten Flüsse verzeichnet sind, sondern auch Waldwege und Hasenpfade minutiös erfasst sind.
SPRECHERIN
Dieser „Schatz“ ist das Ergebnis mühsamer jahrelanger Himmelsbeobachtungen, mit bloßem Auge, ohne Teleskop. Hans Gaab:
03-O-TON Gaab Tycho
„Was der Tycho Brache natürlich auch gebraucht hat, der hat Helfershelfer gebraucht, um Beobachtungen durchzuführen. Und da hat er natürlich auch immer haben wollen, dass möglichst begabte junge Leute zu ihm kommen und mindestens eine Zeit lang mitarbeiten. Und über diese Schiene ist man halt auch auf den Marius aufmerksam geworden und hat gesagt: Mensch, der soll mal kommen!“
SPRECHER
Und so wird Marius Teil des Teams in Prag. Für ihn eine wichtige Lehrzeit. Persönlichen Kontakt zum Meister selbst hat er aber wohl keinen: Brahe ist damals bereits schwer erkrankt und stirbt kurz darauf im Oktober 1601.
SPRECHERIN
Auch einen anderen großen Kollegen hat Marius dort wahrscheinlich knapp verpasst: Johannes Kepler. Der steht damals ebenfalls in Brahes Diensten.
MUSIK Ciaccona für Spinett 00:23min
SPRECHER
Einen Hauch „weite Welt“ schnuppert Marius im Anschluss dann noch in Padua - wohin der Graf seinen Schützling zum Medizin-Studium schickt. Bis er von dort abrupt zurück nach Ansbach gerufen wird: der inzwischen neu installierte Fürst Joachim Ernst braucht vermutlich Ersatz für seinen verstorbenen Hofastronomen in Ansbach.
SPRECHERIN
Marius kommt also aus der Provinz - und landet nach Umwegen auch wieder in der Provinz: Angestellt beim Ansbacher Markgrafen, wo er bis zu seinem Lebensende jährlich 150 Gulden erhält.
SPRECHER
Eine eher spärliche Besoldung, für den Job, den er dort erledigt: als Mathematiker, Astronom und Arzt - mit ganz praktischen Aufgaben:
SPRECHERIN
Die Mächtigen fordern Horoskope, um ihre Politik zu optimieren.
SPRECHER
Auch für den Aderlass und den Holzschlag muss der astrologisch korrekte Zeitpunkt ermittelt werden.
SPRECHERIN
Gefragt sind außerdem ganz praktische Methoden zur Landvermessung. Die ist von großer Bedeutung für das Steueraufkommen. Marius hat dazu u.a. eine deutsche Übersetzung eines mathematischen Standardwerkes von Euklid angefertigt: dessen „Elemente“. Auch deutsche Leser ohne Latein und Griechischkenntnisse haben so eine praktische Anleitung zur Hand, um auf freiem Feld Vermessungen durchzuführen.
SPRECHER
Und schließlich wollen auch Militärs wissen, wie sie ihre Kanonen optimieren und deren Zielgenauigkeiten verbessern können. Am Ansbacher Hof interessiert das vor allem einen gewissen „Johannes Philipp Fuchs von Bimbach“. Der lernt schnell Marius mathematische Fähigkeiten zu schätzen und wird zu einem seiner größten Förderer. - Der Wissenschaftshistoriker Pierre Leich:
04-O-TON Leich Fuchs von Bimbach
„Dieser Fuchs von Bimbach war einer der höchsten Beamten am markgräflichen Hof und war insbesondere auch für die militärischen Aspekte verantwortlich. Es war auch jemand, der deswegen immer wieder auf Messen gegangen ist wie die Frankfurter Messe, um dort nach Neuheiten zu schauen. Und auf diesem Weg hat er damals auch Kenntnis von dem Teleskop erlangt, was ja erst 1608 in Den Haag bei einer Friedenskonferenz überhaupt erstmals vorgestellt wurde.“9 [0:12:53]
SPRECHERIN
Und diese damals brandheiße „Erfindung “ sollte sich für Marius noch als äußerst nützlich erweisen.
MUSIK Shadows Of Voices 01:01min
ZITATOR
Die Welt des Jupiter - oder: Ein Himmel voller Geheimnisse
SPRECHER
Anfang des 17. Jahrhunderts präsentieren findige Forscher erstmals ein Fernrohr. Also ein optisches Instrument, das es mithilfe von Linsen möglich macht, entfernte Objekte um ein Vielfaches näher oder größer erscheinen zu lassen. Damals ein kleines Wunder – und der Traum eines jeden Astronomen, um den nächtlichen Himmel zu erkunden.
SPRECHERIN
Wer das Teleskop tatsächlich erfunden hat, darüber entbrennt schon damals ein reger Streit. Fest steht, dass Galilei es nicht erfunden hat, - es sich aber zunutze macht und weiterentwickelt. Und Johannes Kepler hat als erster tatsächlich umfassend verstanden und dargelegt, wie Teleskope eigentlich funktionieren. Er liefert die mathematisch-geometrischen Grundlagen.
SPRECHER
Fuchs von Bimbach stößt nun 1608 auf so ein neuartiges Fernrohr - und zwar bei der Frankfurter Messe. Damals eine der wichtigsten Drehscheiben des internationalen Fernhandels:
05-O-TON Leich - Das Teleskop
“Und Fuchs von Bimbach wurde eben ein Instrument angeboten, das aber einen Sprung in der Linse hat und extrem teuer offenbar war. Es kam kein Kauf zustande, und dann hat man dann in Ansbach zurückgekehrt, natürlich versucht eins nachzubauen. Und da muss ich jetzt leider sagen - ich bin ja Nürnberger, - aber meine Vorderen haben es leider nicht hingekriegt, den beiden gut genuge Linsen zu liefern. Und deswegen mussten sie noch ein bisschen abwarten, um dann ein halbes Jahr später aus den Niederlanden ein fertiges Teleskop zu kaufen.“
SPRECHERIN
Nicht nur Fuchs von Bimbach ist begeistert - auch Simon Marius: Da sein Gönner keine Kosten und Mühen scheut, kann er nun einen völlig neuen Blick auf den nächtlichen Himmel werfen.
SPRECHER
Wobei diese Fernrohre der ersten Stunde ihre Tücken haben: Ein ungeübter Beobachter kann zunächst vermutlich gar nichts sehen. Auch Marius muss zunächst die Stärken und Schwächen dieser Instrumente selbst erkunden. Doch Ende 1609, Anfang 1610 ist es dann soweit:
ZITATOR Simon Marius
„Damals habe ich den Jupiter zum ersten Mal gesehen. Er befand sich in Opposition zur Sonne. Und ich entdeckte winzige Sternchen in gerader Linie mal hinter, mal vor dem Jupiter. Zunächst dachte ich, jene gehörten zur Zahl der Fixsterne, die man ohne Teleskop eben nicht sehen kann... Als aber Jupiter rückläufig war und ich im Dezember erneut diese Sterne um ihn sah, habe ich mich doch zuerst sehr gewundert; um dann zu der Meinung zu gelangen, dass sich diese Sterne geradeso um den Jupiter bewegen wie die fünf Sonnenplaneten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn sich um die Sonne bewegen.“
MUSIK Shadows Of Voices 00:46min
SPRECHERIN
Die vier vermeintlichen „Sternchen“, die Marius da beobachten konnte, veränderten also ihre Stellung von Nacht zu Nacht. Sie mussten folglich „Begleiter“ des Jupiter sein, „Monde“, die ihn umkreisen.
SPRECHER
Doch Himmelskörper zu beobachten, die sich nicht primär um die Erde drehen, - das wirft damals noch grundlegende Fragen auf: Wer kreist da draußen um was? Wer steht im Mittelpunkt? Die Erde? Die Sonne? Welches Weltbild ist das richtige?
SPRECHERIN
Die vier Jupitermonde sind also eine astronomische Sensation – und Simon Marius hat sie entdeckt.
SPRECHER
Doch Moment mal. Kann das stimmen?
SPRECHERIN
Kann nicht - wird ein erboster Galileo Galilei sagen, als er Jahre später von seinem fränkischen Mitstreiter erfährt und ihn als dreisten Plagiator beschimpft - 1623 in seiner Schrift „Il Saggiatore“:
MUSIK Dark Matter 00:15min
ZITATOR Galileo („Il Saggiatore“, Firenze 1623)
„Ich spreche von Simon Marius aus Gunzenhausen. Dieser Kerl, der es offensichtlich gewohnt war, sich mit der Arbeit anderer zu schmücken... Ich sage, er hat höchstwahrscheinlich überhaupt nichts beobachtet!“
SPRECHERIN
Doch wie kommt Galileo nun zu seien wüsten Vorwürfen?
SPRECHER
Marius hat seine Beobachtungen am 8. Januar 1610 notiert. In Briefen und anderen kleinen Kalenderschriften diese Entdeckung dann zwar öfter erwähnt, aber erst viel später auch umfangreich publiziert: nach vielen weiteren Recherchen und Beobachtungen: 1614 in seinem Werk „Mundus Iovialis“ - „Die Welt des Jupiters“. Für Marius ging also Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
SPRECHERIN
Ganz anders Galileo. Der hatte die Begleiter des Jupiter mit dem Teleskop einen Tag vor Marius, am 7. Januar 1610 beobachtet - und dann sofort noch im März 1610 publiziert. Im „Siderius Nuncius“, der „Sternenbotschaft“.
SPRECHER
Galileo dürfte ziemlich klar gewesen sein, dass bald überall in Europa Astronomen diese Monde mit dem Teleskop entdecken werden. In die Geschichtsbücher wird es aber nur derjenige schaffen, der über diesen Sensationsfund dann auch als erster publiziert.
SPRECHERIN
Klarer Punkt also für Galileo.
MUSIK Midnight Call 00:43min
SPRECHER
Doch der Vorwurf geht ja noch weiter: dieser Marius aus Gunzenhausen hätte gar nichts entdeckt. Er hätte nur abgeschrieben.
SPRECHERIN
Belastend kommt hinzu, dass bereits ein Schüler von Marius bei Galileo abgekupfert hatte: er hatte dessen Arbeit über den geometrischen Kompass übersetzt und unter eigenem Namen veröffentlicht. Wie der Schüler, so der Lehrer, so die Unterstellung.
SPRECHER
Marius versucht zwar sich zu wehren, doch er hat schlicht keine Chance gegen das Renommee des „Übervaters“ Galileo anzukommen.
SPRECHERIN
Sein Ruf ist ruiniert - für die nächste drei Jahrhunderte.
06-O-TON Leich Rehabilitation
„Und erst zum Jahr 1900 hat die königlich-niederländische Akademie der Wissenschaften eine Preisschrift ausgeworfen mit der Frage, ob Marius denn die Entdeckung von Galilei nur abgeschrieben habe. Und erst im Rahmen dieser Untersuchungen kann man sagen, ist Marius rehabilitiert worden. Weil man, bei den Daten von Marius halt oftmals feststellt, dass sie näher an den modernen rückgerechneten Werten sind.“
SPRECHER
Im Klartext: Marius´ Daten, speziell zu den Umlaufzeiten der Monde, übertreffen Galileis Daten deutlich an Präzision, - wie moderne Berechnungen zeigen.
SPRECHERIN
Eine derartige Präzision lässt sich aber kaum durch simples „Abschreiben“ erzielen. Sie kann nur das Ergebnis selbständiger Arbeit sein.
SPRECHER
Offiziell war Simon Marius damit also rehabilitiert.
MUSIK Playful Pizzicatos 00:50min
ZITATOR
Stille Helden – oder: Jenseits der Galionsfiguren
SPRECHERIN
Simon Marius hat sich mit weit mehr beschäftigt, als nur den großen Jupitermonden. Er beobachtet, wie einige andere in dieser Zeit die Sonnenflecken. Sieht 1612 als erster Europäer den Andromedanebel mit dem Teleskop, verfolgt 1618 den dritten und großen der drei Kometen dieses Jahres - usw.
SPRECHER
Doch wie steht er am Ende zur zentralen Frage: Wer dreht sich um wen? Die Erde um die Sonne, oder die Sonne um die Erde? Welche Schlüsse zieht er aus den wichtigsten astronomischen Entdeckungen des frühen 17. Jahrhunderts, mit denen er natürlich vertraut war?
SPRECHERIN
Kepler und Galileo kämpfen ihr Leben lang für das kopernikanische Weltbild, mit der Sonne als Mittelpunkt. Nicht so Marius. Er löst sich zwar vom alten ptolemäischen System, mit der Erde als Nabel der Welt. Vertritt letztlich aber eine Mittelposition - wie schon Tycho Brahe vor ihm. Auch wenn Marius betont, darauf unabhängig gestoßen zu sein.
MUSIK Playful Pizzicatos 00:41min
SPRECHER
Die Erde bleibt dabei zwar das Zentrum der Welt: Die Erde wird vom Mond umkreist, und die Erde wird von der Sonne umkreist. Doch alle anderen Planeten umkreisen bereits die Sonne.
SPRECHERIN
Ein aus heutiger Sicht seltsam anmutendes Kompromissmodell, das man schnell belächelt. Schließlich wissen wir es heute besser.
SPRECHER
Natürlich gibt es auch um 1610 bereits sehr gute Argumente für ein System mit der Sonne als Mittelpunkt. Doch auf einige Fragen hatte man damals ehrlicherweise noch keine Antworten. Da war u.a. das „Sahnetortenproblem“.
07-O-TON Leich Das tychonische Weltbild
„Wenn die Erde tatsächlich sich um die Sonne dreht, dann müsste das ja mit großer Geschwindigkeit gehen. Wir wissen heute das sind hunderttausend km/h, dann müssten unsere Wolken enorme Stürme aufweisen. Selbst an Kometen sehen wir einen Schweif oder zwei Schweife. Das wäre bei uns auch zu erwarten. Und der Umlauf der Erde um die Sonne liefert ja nur das Jahr. Die Erde muss sich die ganze Zeit auch noch drehen. Müsste nicht ein fallender Körper hinter der Erddrehung zurückbleiben? Und überhaupt, wenn die ganze Erde sich dreht, die Erde müsste wie eine Sahnetorte auf der Zentrifuge auseinanderfliegen. Alles Phänomene, die keiner beobachtet hat. Und da waren die Kopernikaner in Erklärungsnotstand.“
MUSIK ANTICIPATING THE END 00:47min
SPRECHER
Natürlich wurden diese Probleme alle noch gelöst – aber eben erst einige Jahrzehnte später u.a. durch Leute wie Isaac Newton und seine „Newtonschen Gesetze“: Trägheitsgesetz, Aktionsprinzip, Wechselwirkungsprinzip usw.
MUSIK Ronde. Ausgeführt mit Laute
SPRECHERIN
Simon Marius stirbt am 26. Dezember 1624 - nach kurzer Krankheit in Ansbach. Mitten im Dreißigjährigen Krieg, einer düsteren Zeit, in der Hungernöte und Seuchen ganze Landstriche verwüsten und entvölkern.
SPRECHER
Fast sämtliche seiner Handschriften und Briefe gehen damals verloren. Dokumente, die heute helfen könnten, ein viel schärferes Bild von ihm zu zeichnen.
SPRECHERIN
Was also bleibt am Ende von Simon Marius?
SPRECHER
Fest steht: der Schatten – ja man möchte fast sagen: der „Fluch des des Galilei“ verfolgt ihn bis heute - der Wissenschaftshistoriker Pierre Leich:
08-O-TON Leich - Ruf ruiniert
24 [1:36:41] : „Und wenn Sie jetzt heute in einer ganz anderen Ecke der Welt den Namen aufbringen und überhaupt ein Wissenschaftler ihn kennt, würde er wahrscheinlich sagen: war das nicht der, der von Galilei abgeschrieben hat, habe ich mal so gelesen. Weil so steht es in ganz vielen Büchern noch drinnen. Und auch wenn 1900 sozusagen die Rehabilitation war, das ist dann für die große Geschichte der Wissenschaft doch zu wenig Zeit, als dass ich das durchsetzen würde. Denn immer wieder werden wir bombardiert mit den Helden und da wird man so schnell nichts ausrichten können.“
MUSIK Ronde. Ausgeführt mit Laute 00:50min
SPRECHER
In die „Champions League“ der Astronomen hat es Marius also letztlich nicht geschafft. Er passt nicht so recht zu einer Geschichtsschreibung, die dazu neigt, Heroen und Überväter auf einen Sockel zu hieven.
SPRECHERIN
Doch auch Galionsfiguren wie Brahe, Galilei und Kepler haben nicht alles allein erledigt: sie hatten Mitarbeiter und Kollegen.
SPRECHER
Es gab und gibt also auch viele „stille Helden“, die vieles gleichzeitig entdeckt haben, aber weniger laut sind, und dadurch meist in Vergessenheit geraten sind.
SPRECHERIN
Weil sie nicht das passende Netzwerk hatten, um sich um sich in Szene zu setzen, und zu vermarkten. Weil ihnen Geld und Sponsoren fehlten, um schnell zu publizieren – oder weil sie einfach Pech hatten.
MUSIK Accordion Sphere B 01:05min
09-O-TON Leich - Kristallisationspunkte
„Wenn man genauer hinschaut und das Ganze vergrößert. Es ist genauso wie am Nachthimmel auch: erst sieht man nur die großen dicken Sterne, dann werden es immer mehr Sterne. Da gibt es überall ein Netzwerk von Wissenschaftlern, die Beobachtungen vielleicht Experimente austauschen, die Konsequenzen diskutieren, die Folgerungen ableiten und dann Theorien entwickeln, die andere dann wieder angreifen oder stützen können. Und es ist eigentlich ein Netzwerk in der Wissenschaft. Und ab und zu gibt es dann halt Kristallisationspunkte, die dann ein bisschen herausleuchten. Aber auf dieser zweiten Ebene sieht man natürlich mehr.“
SPRECHERIN
Mit anderen Worten: Nicht nur in der Geschichte der Astronomie lohnt es sich, den Blick zu weiten.
SPRECHER
Denn auch Spieler und Spielerinnen in „der zweiten Liga“ leisten oft großes. Simon Marius ist dafür ein gutes Beispiel.
Sie wurden als "sprechende Visitenkarte" bezeichnet oder auch als "Gastgeberin": Seit den Anfängen des Fernsehens stellten Programm-Ansagerinnen zu einen den Bogen her zwischen unterschiedlichen Programminhalten und überbrückten zum anderen die zu Beginn des Fernsehens oft noch minutenlangen Umschaltzeiten. Von Carola Zinner (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Irina Wanka, Jenny Güzel, Jerzy May
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Carolin Reiber, ehem. Ansagerin;
Sylvia Brécko, Kabarettistin, ehem. Ansagerin, Autorin der Magisterarbeit „Die Entwicklung der Fernsehansage im Verhältnis zum Programmschema“
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Am 25. Januar 1949 wurde der Bayerische Rundfunk gegründet. Seitdem ist viel passiert. Ein bunter Ritt durch 75 Jahre Programm für Bayern:
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Musik: Busy Busy 0‘7
ZUSPIELUNG 1 Collage
„Guten Abend, meine Damen und Herren...- verehrte Zuschauer!“
ERZÄHLERIN
Seit Beginn des Fernsehens gab es Ansagerinnen, die durch das Programm führten. Galt beim Radio anfangs noch der Grundsatz, männliche Stimmen seien seriöser und daher zu bevorzugen, drehte sich, als das Bild zum Ton kam, das Verhältnis um. Gutaussehende Frauen wurden zum „Gesicht des Senders“, seine „sprechende Visitenkarte“.
ZUSPIELUNG 2 Brécko
Die allererste Fernsehansage gab es tatsächlich schon im März 1935 von der Ansagerin Ursula Patzschke-Beutel - die hat dann gleichzeitig auch den Hitlergruß mit versendet -
ZITATORIN
„Achtung, Achtung! Fernsehsender Paul Nipkow. Wir begrüßen alle Volksgenossen und Volksgenossinnen in den Fernsehstuben Großberlins mit dem deutschen Gruß Heil Hitler!
ZUSPIELUNG 3 Brécko
Und im Dezember 1952 dann der offizielle Fernsehstart mit Ansagerin Irene Koss.
ERZÄHLERIN
Die Schauspielerin und Kabarettistin Sylvia Brécko hat nicht nur selbst beim WDR als Ansagerin gearbeitet, sie verfasste auch mit ihrer Magisterarbeit über die Entwicklung der Fernsehansage eine der wenigen wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema.
ZUSPIELUNG 4 Brécko
Anfangs dienten die Fernsehansagen dazu, die technisch notwendigen Umschaltzeiten zwischen den verschiedenen Sendern und auch Sendungen zu überbrücken. Außerdem war sie Bindeglied zwischen dem Sender und am Zuschauer, sollte informieren und Geschmack machen auf das folgende Programm. Und sie sollte eine harmonische Überleitung bieten, was besonders wichtig war bei aufeinanderfolgenden gegensätzlichen Sendeformaten.
Direkt dran
ZUSPIELUNG 5 C. Reiber
So dass der Zuschauer sagte, ach, das müssen wir uns anschauen. Und, sicher, der Auftritt war auch nicht unwichtig.
Musik: Prize winner 1 0‘10
AKZENT Wiederkehrendes Signal / eine Art Kennung für „Ansage“
ZUSPIELUNG 6
„Bevor wir beginnen, ein kurzer Blick auf das, was wir Ihnen heute Abend bieten.“
(All diese eingestreuten Ansagen können als PUFFER dienen)
ZUSPIELUNG 7 C. Reiber
Wie sieht die aus, was trägt sie für eine Frisur? Was hat sie heute an? Das war schon alles wichtig, und das wussten wir auch. Und das war ja auch schön.
ERZÄHLERIN
Die Moderatorin Carolin Reiber, Jahrgang 1940, begann ihre Fernseh-Karriere als Ansagerin beim Bayerischen Rundfunk. Angefangen hatte alles mit einem munteren Interview Ende der 1950er Jahre, in dem die hübsche junge Frau von einem Aufenthalt in den USA erzählte.
ZUSPIELUNG 8 C. Reiber
Daraufhin meinte der damalige Leiter der Abendschau, Heinz Böhmler, ach, die wäre doch was. Und der ging zu meinen Eltern - ich sehe ihn noch im Wohnzimmer - und fragte meine Eltern, ob sie es erlauben würden, wenn ich Ansagerin werden würde. Wir sind ja mit 21 erst volljährig geworden! Und meine Eltern meinten, naja, wenn sie ´s kann, warum nicht.
ERZÄHLERIN
Schließlich steht zu dieser Zeit „Ansagerin“ neben „Stewardess“ ganz oben auf der Liste weiblicher Traumberufe. Doch die Umsetzung dieses Wunsches gelingt nur den wenigsten, auch weil die Eltern für solche „Flausen“ ihrer Töchter meist wenig Verständnis haben. Als „vernünftige“ weibliche Berufe gelten in Westdeutschland Sekretärin, Verkäuferin oder Krankenschwester, eine Anstellung in den Büros von Ämtern, der Post oder der Bahn. Und für so genannte „Bücherwürmer“ kommt auch das Lehramt in Frage – was allerdings noch bis Mitte der 1950er Jahre zur Sackgasse werden kann, weil in vielen Bundesländern die Frauen aufgrund des so genannten Lehrerinnenzölibats verpflichtet sind, bei einer Eheschließung, den Dienst zu quittieren.
MUSIK: Rumba Anna 0‘28
Anmutung 50er Jahre
ERZÄHLERIN
Nach den Kriegsjahren, in denen Frauen häufig in harten Knochenjobs die fehlenden Männer hatten ersetzen müssen, gilt es im Westdeutschland der 50er und 60er Jahre als Privileg, als Ehefrau nicht zur Arbeit gehen zu müssen, sondern sich mit aller Kraft um einen geordneten Haushalt und das Wohlergehen von Mann und Kindern kümmern zu können.
Musik: Prize winner 1 0‘10
AKZENT Wiederkehrendes Signal / eine Art Kennung für „Ansage“
ZUSPIELUNG 9 Ansage b
Das Programm des Deutschen Fernsehens kommt heute vom Südwestfunk. Dazu begrüßen wir auch die Zuschauer des Österreichischen Fernsehens.
ERZÄHLERIN
Auch die Fernsehansagerinnen passen in gewisser Weise ins Schema der 50er und 60er. Schließlich ist es ihre Aufgabe, den attraktiven Rahmen zu bilden für die „gewichtigen“ Programminhalte, die fast ausschließlich von Männern erstellt werden. Ansagerinnen machen es dem Publikum quasi in der „Guten Stube“ Fernsehen schon mal gemütlich, bevor man zum wichtigen Teil des Abends kommt. Es ist eine Rolle, die ihnen beim Publikum enorme Popularität einbringt.
ZUSPIELUNG 10 (Brécko)
In den 50ern waren sie regelrechte Stars. Alles, was die ersten Fernsehansagerinnen Irene Koss, Ursula von Manescul, Dagmar Bergmeister sagten, trugen und taten, war der Presse eine Schlagzeile wert. Sie waren die Gesichter des jeweiligen Senders.
ZUSPIELUNG 11 (Reiber)
Das war so, dass die Leute oft, was ich sehr lustig fand, wenn ich zu meinem Friseur ging, hat er mal wieder… es kam wieder eine Kundin mit einem Bild von Ihnen „Ich möchte die Frisur haben!“ Aber das war ja ein Kompliment. Das war ja schön, wenn jemand sagt, ah, ich möchte genauso eine Frisur haben wie sie.
ERZÄHLERIN
Die hohen Gehälter allerdings, die man den Fernsehansagerinnen angesichts ihrer Prominenz oft unterstellt, existieren nur in der Vorstellung des Publikums. Carolin Reiber:
ZUSPIELUNG 12 (Reiber)
Wir hatten ja alle einen Beruf noch nebenbei. Ja, ich war ja Auslandskorrespondentin dann, und die anderen waren Schauspieler, die Anneliese Fleyenschmidt war mit dem Schreiben beschäftigt - also wir hatten alle unseren Nebenjob noch. Keine konnte davon leben.
ZUSPIELUNG 13 (von Aretin/ Kappelsberger/ Fleyenschmidt)
Dann kamen Briefe, gell: Was soll ich meine Tochter studieren lassen? - also um Ratschläge - Ja, wir waren ja in der Familie drin / Was hat denn die für eine Frisur – tät uns auch gefallen, oder gefällt uns überhaupt nicht… / Ich hab wahnsinnig viel Anrufe, Briefe gekriegt, das ging also an, ich hab meinen Schäferhund verloren, meine Tochter will Abitur machen, ich hab Schwierigkeiten in der Ehe, ich krieg keine Wohnung: ich hatte das Gefühl, du wirst ein bisschen wie ein Sozialbüro auch – zu der haben wir Vertrauen, die gehört zu uns, die kennt ja viele Leute, die ist ja in der Öffentlichkeit, und die kann mir helfen.
ERZÄHLERIN
Annette von Aretin, Anneliese Fleyenschmidt und Ruth Kappelsberger: Pionierinnen der Fernsehansage beim Bayerischen Rundfunk.
Musik: Wo rote Rosen blüh’n 0‘42
Bei einem Treffen im Sommer 1992 schwelgten die drei in Erinnerungen an die aufregenden Anfangsjahre. Die drei waren bei einem Auswahlverfahren, das damals noch im Versuchsstudio in einem Münchner Blindenheim stattfand, aus hunderten von Bewerberinnen herausgefiltert worden, als der Sender 1954, knapp zwei Jahre nach dem bundesweiten Start des deutschen Fernsehens, ein eigenes Fernsehprogramm entwickelte. Am 6. November 1954 war es dann so weit: Annette von Aretin kündigte die erste Fernsehsendung aus Bayern an.
ZUSPIELUNG 14 (Von Aretin – Start des BR-Fernsehens in der ARD)
„Guten Abend, verehrte Zuschauer. Gestern konnten unsere Zuschauer uns zum ersten Mal sehen. Und heut dürfen wir uns Ihnen vorstellen: Der Bayerische Rundfunk im Deutschen Fernsehen. Von jetzt ab werden wir im Bereich des Senders Wendelstein unsere Münchner Abendschau täglich um 19 Uhr bringen und im Deutschen Fernsehen, also im Gemeinschaftsprogramm der Deutschen Rundfunkanstalten zwischen 20 und 22 Uhr, werden wir 5 oder 6mal in jedem Monat zu sehen sein. An den übrigen Tagen wird das Programm von den Studios in Hamburg, Köln, Berlin, Frankfurt, Stuttgart und Baden-Baden bestritten. Wir begrüßen unsere Zuschauer von den Alpen bis zur Nordsee auf das herzlichste und ebenso unsere Kollegen auf den anderen Stationen. Und wir hoffen, dass Ihnen unser Programm gefällt!
ZUSPIELUNG 15 (Aretin, 1992)
Evtl. Diese Zuspielung in die Mitte der obigen Ansage setzen, nach „Deutschen Fernsehens“, anschließend dann mit der Ansage weiter bis „Programm gefällt“). Und, bitte, den kleinen (Fremd-) Schnaufer unter „panisch“ nach Möglichkeit rausfiltern.
Ich war panisch. Und hab das Ganze eigentlich wie in Narkose abgewickelt. Und es hat kein Wort gefehlt, also es ging, nur diese Angst hab´ ich nie mehr verloren beim Ansagen.
ERZÄHLERIN
Vielleicht liegt es an diesem permanenten Lampenfieber, dass die gelernte Fotografin, die bereits seit Ende der 40er Jahre in den verschiedensten Bereichen für den Bayerischen Rundfunk arbeitet, nach einigen Jahren als erste der drei Kolleginnen wieder aus der Ansage aussteigt – Annette von Artin leitet fortan das Besetzungsbüro des Hauses. Der Promi-Status beim Publikum bleibt ihr trotzdem erhalten, ist „unsere Annette“ doch festes Mitglied im Rateteam der deutschlandweit beliebtesten Fernsehsendung des Bayerischen Rundfunks.
ZUSPIELUNG 16 Thema „Was bin ich“ 0‘33
ERZÄHLERIN
„Was bin ich“ – DER Quotenrenner aus Bayern mit einer Einschaltquote von bis zu 75 Prozent. Das Team muss die Berufe wechselnder Studiogäste erraten, die auf Fragen ausschließlich mit „Ja“ oder „Nein“ antworten dürfen – wobei sie vom „Gastgeber“ Robert Lembke ebenso humorvoll und intelligent begleitet werden
MUSIK falls lang genug, nochmal hoch
ZUSPIELUNG 17 (Reiber)
Es war sozusagen das Highlight des Bayerischen Rundfunks. Da die ganze Nation zugeschaut.- Ich mein, mit Robert Lembke….!
ERZÄHLERIN
Carolin Reiber erinnert sich noch genau an die große Aufmerksamkeit des Publikums für die Ansagen vor Straßenfegern wie „Was bin ich“. Sprache, Kleidung, Haare: alle wurde genauestens registriert – und oft auch kommentiert.
ZUSPIELUNG 18 (Reiber)
Die Kleider waren schon ein Problem: Es war ja erst mal alles Schwarz-Weiß. Und dann hatten wir einen Spind, ich hatte einen Schrank, da hing etwas in Tracht, etwas für Trauer und etwas für Sport. Denn das Programm hat ja oft gewechselt. Und dann mussten wir schnell umdisponieren. Und dann hat mir eine Zuschauerin geschrieben, also Frau Reiber, die Sendung war ja ganz gut, aber ihre Bluse war ganz schön verknittert. Die war nicht gut gebügelt!
ZUSPIELUNG 19 (Fleyenschmidt)
Wir konnten einen Pullover auf drei verschiedene Arten tragen. Denn konntest Du einmal linksrum, einmal rechtsrum, einmal mit nem Blüschen drunter, einmal mit ner Brosche hin, und dann sagten Leute: Die hat jeden Tag was anderes an.
ERZÄHLERIN
So Anneliese Fleyenschmidt. In welchem Outfit die Ansagerinnen auf dem Bildschirm erscheinen, interessiert auch die Kolleginnen brennend, die in den anderen Sendeanstalten auf die nächste Schalte warten. Dezent soll die Kleidung sein, gepflegt und ein bisschen vornehm – wenn man da nicht gerade ein Dirndl trägt wie etwa Carolin Reiber vom Bayerischen Rundfunk gelegentlich, kann es leicht mal zu Überschneidungen kommen.
ZUSPIELUNG 20 (Reiber)
An einem Abend, das wird ich nie vergessen: München mit der tollsten Ansage für „Was bin ich?“, dann WDR Claudia Dorn, dann…: viermal, und wir hatten alle das Gleiche an: einen beigen Twinset mit einer Perlenkette. Das war ein Halleluja! Das Gleiche passierte dann auch natürlich mit den Frisuren. Da kam die Zeit der Perücken, die Zeit der großen Haarteile. Und ich kann mich noch erinnern, da hatten wir dann mal einen Kommentar: Jetzt wächst die Frisur aus dem Bildschirm!
ZUSPIELUNG 21 (Fleyenschmidt, Kappelsberger)
Die Leute waren auf das Fernsehen wirklich wild. Die drehten um 5 Uhr den Knopf auf und blieben bis 10 dran. Drum hab ich immer gesagt: Die kommen an unserem Kopf gar nicht vorbei. Die drehten auf und dann waren wir da. Aber auf der anderen Seite war man ewig auf dem Präsentierteller – also ich habe meinen ersten Schock gekriegt, ich hab meinen Wagen abends in die Werkstatt gefahren zur Inspektion – und da war die Putzfrau da und schaut – Grüß Gott – Grüß Gott – sind Sie die vom Fernsehen? – Ja… - Nu, auf dem Bildschirm sind se aber auch scheener!
ERZÄHLERIN
Weil das Fernsehen in den Anfangsjahren ausschließlich schwarz-weiß ausgestrahlt wird, müssen Anneliese Fleyenschmidt, Ruth Kappelsberger und Annette von Aretin immer wieder für maskenbildnerische Experimente herhalten. Denn in Schwarzweiß wirkt beispielsweise ein roter Lippenstift nicht unbedingt rot. Aber ein blauer vielleicht…?
ZUSPIELUNG 22 (v. Aretin, Fleyenschmidt)
Da sind wir mit blauen Lippen – da hieß es, roter Lippenstift wirkt schwarz – mit hellblauen Lippen haben wir lieblich gesäuselt. / Wenn wir die allererste Zeit nehmen, da waren nur Experimente; da hat der Kameramann experimentiert, der Redakteur hat experimentiert, wir haben experimentiert, das Licht hat experimentiert – wir waren eigentlich selig, wenn wir auf dem Schirm waren und nicht gewackelt haben.
Musik: Prize winner 1 0‘10
AKZENT Wiederkehrendes Signal / eine Art Kennung für „Ansage“
ZUSPIELUNG 23 Ansage e „Im Telezoo… “
ZITATOR
31. Sitzung des Fernseh-Ausschusses des Rundfunkrates des Bayerischen Rundfunks. Behandelte Tagesordnung:
Das Problem der Ansage - Gespräch mit den Ansagerinnen -
Reportage der Münchner Abendschau über das Eheseminar in Landau
Das Aufzeichnungsverfahren
(Kursives verschwindet in Blende)
ERZÄHLERIN
Das Protokoll einer Sitzung vom 19. Dezember des Jahres 1955: sechs Herren und eine Dame vom Rundfunkrat und vom Sender beratschlagen, wie es mit der Fernsehansage weitergehen soll. Dafür sind Gäste geladen.
ZITATOR
„Der Vorsitzende begrüßt die Damen von Aretin, Fleyen-Schmidt und Kappelsberger, mit denen man sich heute einmal gemeinsam über das Problem der Ansage unterhalten wolle.
ERZÄHLERIN
So richtig begeistert scheinen die Sitzungsteilnehmer von den Ansagen nicht zu sein; Fernsehen gilt im Gegensetz zu Radio immer noch als leicht unseriös. Und Damen, so prominent im Programm?
ZITATOR
Pfarrer Hildmann wirft zunächst die Frage auf, wozu überhaupt eine sichtbare Ansage gebraucht werde. () Ob nicht die Sendungen selbst so stark sein sollten, dass sie den Kontakt schaffen?“
ZUSPIELUNG 24
Werbespot zur Rundfunkgebühr mit Ruth Kappelsberger
„Verehrte Zuschauer… und Sie kriegen bestimmt ganz was Schönes!“
Musik: Busy Busy 0‘5
ZITATOR
Die Damen von Aretin, Fleyen-Schmidt und Kappelsberger berichten aus der Praxis ihrer Ansagetätigkeit. Selbstverständlich können sie zu den Sendungen keine persönliche Meinung äußern, doch seien ihnen kleine Änderungen im Text der Ansage gestattet. Herr Märker bezweifelt, dass die Erscheinung der Ansagerin den persönlichen Kontakt stärke. Andererseits wäre eine Ansage ohne persönliche Erscheinung der Ansagerin auch nicht das rechte; doch solle das Bild der Ansagerin auf dem Schirm zwischen Großaufnahme und Aufnahme aus der Entfernung wechseln. Dr. Münster erklärt die derzeitigen Großaufnahmen der Ansagerin mit den Raumschwierigkeiten: im Studio II könne man durch die Beengtheit des Raumes die Distanz für ein ¾ Bild eigentlich nicht gewinnen.
ZUSPIELUNG 25 (Aretin, Fleyenschmidt)
Wir saßen in einem wirklich 12-Quadratmeter-Raum, hier saß der mit den Nachrichten, der immer Dienst gehabt hat, da saß die Ansagerin, und da saß jeweils der berühmte Gast. Und wenn man nicht dran war, ist man unter der Kamera rausgeschlichen, ganz leise, ist in den Regieraum – ist es in Ordnung so? Also es war wirklich eine lustige Akrobatik. / Wir waren in dem Studio, das war eine Baracke und es war sehr heiß, und es war Sommer. Und oben auf der Baracke stand die Sonne, und wir hatten wahnsinnig starke Lichter, und die Lichter waren noch viel heißer als heute, man schwitzte also. Und wir waren die „Damen ohne Unterleib“, ja, man saß also da und redete. Und einer der Kameraleute, der sah, dass mir so warm war, und brachte also eine solche Schüssel mit kaltem Wasser. Ich hatte also keine Strümpfe an, ich hab also die Füße ins kalte Wasser, hab oben ganz fein weitergeredet.
Musik: Prize winner 1 0‘10
AKZENT Wiederkehrendes Signal / eine Art Kennung für „Ansage“
ZUSPIELUNG 26 Ansage Konsalik-Roman –
Der folgende Film…. wünschen Ihnen viel Vergnügen 0´13
ERZÄHLERIN
Mit Beginn des Farbfernsehens 1967 beginnt ein neues Kapitel - mit neuen Experimenten. Die spätere Ansagerin Silvia Brécko preist sich glücklich, damals nicht schon dabei gewesen zu sein.
ZUSPIELUNG 27 (Brécko)
Denn da konnte deine Gesichtsfarbe sich während einer Ansage ohne weiteres mehrmals von aschfahl über grünlich-gelb nach knallrot ändern. Durch die technische Übertragung der Farbsignale in den drei Grundfarben kam es nämlich anfangs zu ständigen Farbschwankungen auf dem Bildschirm. Das Farbfernsehen steckte halt noch in den Kinderschuhen.
ERZÄHLERIN
Allerdings steht auch nur in wenigen Haushalten schon einer der teuren Farbfernseher. Doch egal ob schwarzweiß oder bunt: auch in den wilden 70er Jahren gilt für Fernsehansagerinnen, insbesondere für die der ARD: ja nicht zu viel Sexappeal! Auch Moderatorinnen wie Carolin Reiber oder Petra Schürmann, die ehemalige Miss World, dürfen zwar im Regionalprogramm durchaus mal Bein zeigen. Als ARD-Ansagerinnen aber sind und bleiben sie die „Damen ohne Unterleib“.
ZUSPIELUNG 28 (Brécko)
Das ZDF setzte nicht zuletzt durch den größeren Unterhaltungsanteil in seinen Programminhalten schon früher darauf, auch mal Totalen zu zeigen. Und die Privatsender sind natürlich gleich in die Vollen gegangen, mit Dekolleté, Kurven und langen Beinen.
Musik: Prize winner 1 0‘10
AKZENT Wiederkehrendes Signal / eine Art Kennung für „Ansage“
ZUSPIELUNG 29
Ansage Zur „Hallo-Elvis-Party erwarten Sie…. Gute Unterhaltung!“
Musik: You dirt rat 0‘31
ERZÄHLERIN
Bereits ein Jahrzehnt, bevor ab 1984 die Privatsender mit ihrem – oft deutlich schrilleren Programm - den deutschen Fernsehmarkt eroberten, bemühten sich die Öffentlich-Rechtlichen um einen merklich lockereren Ton. Das galt auch für die Ansagen: die Texte stammten zunehmend nicht mehr aus den Redaktionen, sondern wurden von den Ansagerinnen selbst verfasst – und von den Ansagern, denn zum festen Team der Fernsehsender gehörten nun auch Männer, die bisher nur in „Ernstfällen“ wie etwa dem Tod hochrangiger Politiker oder aber im Radio zum Einsatz gekommen waren. Auch sonst wurden die Übergänge fließender, und die vertrauten Fernsehgesichter tauchten immer öfter außerhalb des gewohnten Studioumfelds auf: die gelernte Schauspielerin Ruth Kappelsberger etwa spielte häufig in kleinen Heimatfilmen mit, während die kurzhaarige blonde Hanni Vanhaiden vom NDR – Markenzeichen dicke Brille – eine Kindersendung moderierte und sich als Schlagersängerin versuchte.
Musik: Vanhaiden „Ich bin die Mieze vom 1. Kanal“ 0‘15
(nach Wahl, rechtzeitig über Programmaustausch bestellen). Den
Vanhaiden-Song „Ich bin die Mieze vom 1. Kanal“ finde ich nur auf Youtube, von wo man ihn im Rahmen der Produktion bitte runterziehen müsste)
ERZÄHLERIN
Und Carolin Reiber macht deutschlandweit Fernseh-Karriere. Dabei hatte sie doch in ihrer Anfangszeit als Ansagerin für ihr rollend-bayerisches „r“ oft heftige Kritik einstecken müssen.
ZUSPIELUNG 30 (Reiber)
Also zunächst haben sich vor allem die Hessen darüber beklagt, was die Münchnerin da für ein „r“ spricht. Aber: ich bekam es in den Griff, und nach einiger Zeit konnte ich nach Wunsch rollen oder nicht.
ERZÄHLERIN
Und mit der ZDF-Sendung „Lustige Musikanten“, die sie ab 1978 moderiert wird das bayerische „R“ ohnehin zu ihrem ganz besonderen Markenzeichen.
Musik: Prize winner 1 0‘10
AKZENT Wiederkehrendes Signal / eine Art Kennung für „Ansage“
ZUSPIELUNG 31
Ansage a: Ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserem Abendprogramm im Ersten!
ERZÄHLERIN
Nach der Einführung der Privatsender, in denen Ansagen schon bald von Programmtrailer und Spots ersetzt wurden, ging auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern die Ära der Programmansagen langsam zu Ende. Leider, sagt Sylvia Brécko, die heute erfolgreich als Kabarettistin arbeitet.
ZUSPIELUNG 32 (Brécko)
Weil die Fernsehansage zur Sender-Kennung beitrug. Gesichter, die man konkret mit einem Fernsehsender verbindet. Menschen, zu denen der Zuschauer eine Verbindung aufbaut. Außerdem hatte die Fernsehansage Tradition. Sie war von der ersten Fernsehstunde an dabei, und Traditionen zu pflegen schadet oft nicht.
Musik: The Bat Swing (A) 0‘40
ERZÄHLERIN
Das letzte Ansage-Wort bei den Öffentlich-Rechtlichen, sieht man einmal vom Kultursender Arte und von ARD alpha ab, wo man gelegentlich noch heute auf diese Art der Programmpräsentation zurückgreift, gehörte – Zufall oder nicht – einem Mann. Mit der Präsentation des Silvesterprogramms 2004 durch Dénes Törzs vom NDR ging die Ära der Fernsehansage zu Ende.
Der Traum ist eine im Schlaf auftretende Abfolge von Vorstellungen, Bildern, Ereignissen, Erlebnissen - so definiert es der Duden. Doch wie kommen diese Bilder zustande? Woher rühren die Vorstellungen? Und was nützen sie? Fest steht: Wir träumen viel mehr, als uns bewusst ist. Und wir können auch ganz bewusst träumen. Von Inga Pflug (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner und Stefan Merki
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Lucas Krieg, Künstler & Traumcoach in Nürnberg, traum-studio.de;
Dr. Thomas Schreiner, Lehrstuhl für Kognitive Neuropsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München;
Prof. Dr. Michael Schredl, Traumforscher, Wissenschaftlicher Leiter des Schlaflabors Mannheim;
Prof. Dr. Tobias Staudigl, Lehrstuhl für Kognitive Neuropsychologie an der LMU München
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Schlaf fasziniert die Menschen seit jeher: Wie nah ist man im Schlaf dem Tod? Was oder wer ist man überhaupt im Schlaf? Philosophie, Literatur, Medizin oder Naturwissenschaften geben Antworten darauf. Die sind über die Jahrtausende hinweg allerdings sehr verschieden. Von Susi Weichselbaumer (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Irina Wanka, Burchard, Dabinnus, Silke von Walkhoff, Friedrich Schloffer
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Victor Spoormaker, Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München
Holger Brohm, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität Berlin
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR/ ZITATORIN
„Guten Abend, gut Nacht“ gesummt
ATMO Flirrend Feenwald
1 ZU (13 M - Kind)
Ich träume am liebsten von Feen, die zaubern lernen in der Zauberschule.
MUSIK Fairies
ZITATOR/ ZITATORIN
Gute Nacht! // Schlaf schön!
2 ZU (9 W - Kind)
Beim Schlafen ist der Kopf klar und man hat keinen Sorgen und man träumt was Schönes.
MUSIK Doomed / ATMO Wind / Käuzchen / Schurkenlache
ZITATOR/ ZITATORIN
Bis morgen! // Bis in der Früh!
3 ZU (3 Q - Kind)
Wenn ich aufgewacht bin, da habe ich so eine Angst gehabt.
LANGES ENDE
4 ZU (2 W- Kind)
Ich bin nicht so ganz bei mir, glaube ich, und als ich dann aufgewacht bin, war ich erstmal so: Wow!
MUSIK
ERZÄHLERIN
Wer bin ich, wenn ich schlafe? Das ist eine uralte Frage. Die Menschen wahrscheinlich immer gestellt haben und stellen werden.
ERZÄHLER
Vielleicht ist man der oder das, was man träumt?
ERZÄHLERIN
Zugleich aber immer noch das eigene ich: Mein reales Ich.
ERZÄHLER
Und ist der Traum ein extra Raum? In dem eine Geschichte abläuft. Und man ist bei dieser Geschichte – ja – dann wer?
ERZÄHLERIN
Die Autorin – weil: Man träumt sich das schließlich zusammen.
ERZÄHLER
Oder es träumt einem! Und in dem Traum, der - bei einem! - abläuft, reagiert man auf das, was passiert. Irgendwie.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Mein Schlaf und ich – die Beziehung ist kompliziert.
ERZÄHLER
Oder ganz einfach.
5 ZU Brohm 12:20
Einerseits scheint nichts so natürlich, wie zu schlafen. Wir müssen schlafen, wir können uns dem nicht entziehen.
ERZÄHLER
Sagt Holger Brohm. Er ist Kulturwissenschaftler an der Humboldt Universität zu Berlin.
6 ZU Brohm 12:20
Zum anderen können wir manchmal nicht schlafen. Wir sind schlaflos. Wir fühlen uns morgens müde, weil wir das Gefühl haben, nicht ausgeschlafen zu sein. Also ergibt sich um den Schlaf herum eine riesige, große Problematik.
ERZÄHLERIN
Das sehen Menschen seit jeher so. Lange weiß man nicht: Was ist Schlaf überhaupt und was genau soll das?
MUSIK
ERZÄHLER
Heute ist man da weiter. Etwas.
7 ZU Spoormaker 0.00
Man kann messen, was im Gehirn passiert, und da kann man dann sehen, dass Schlaf nicht eine Periode ist, sondern das sind unterschiedliche Zustände, wo manchmal das Gehirn super aktiv wird und manchmal das Gehirn halb ausgeschaltet ist.
ERZÄHLERIN
Erklärt Victor Spoormaker. Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München untersucht er seit Jahren per Scan, MRT, EEG: Was macht das menschliche Gehirn im Schlaf?
8 ZU Spoormaker 0.00
Es sind so Schlafzyklen. Wenn man einschläft, dann hat man erstmal leichten Schlaf, danach kommt man in Tiefschlaf, dann geht man zurück zum leichten Schlaf und dann kommt dieses komische Stadium, wo wir am meisten träumen, REM-Schlaf heißt das so nach Rapid-Eye-Movement – Schnelle-Augen-Bewegungen, und da ist das Gehirn tatsächlich so aktiv wie tagsüber.
ERZÄHLERIN
In vielen seiner Bereiche.
ERZÄHLER
In einigen wesentlichen aber nicht. Die schalten im REM-Schlaf auf Pause.
9 ZU Spoormaker 1.24
Das sind Hirnareale hinter der Stirn, im präfrontalen Kortex, und die sind tagsüber zuständig für Planung, Kontrolle, Arbeitsgedächtnis, also höherer kognitive Funktionen, und die stehen aus im REM-Schlaf.
MUSIK ENDE
10 ZU Spoormaker 1.24
Und dann wird es interessant.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Das Ich im Schlaf ist viel ausgelieferter als bei Tag. Denn: Kontrollmechanismen fehlen. Herausforderungen begegnet der schlafende Mensch nicht planvoll, vorausschauend.
ERZÄHLER
Sondern in erster Linie uremotional. Da fließen die Tränen im Schlaf.
ERZÄHLERIN
Da wird hemmungslos gelacht.
ERZÄHLER
Heftig geliebt.
ERZÄHLERIN
Sich wild gefürchtet!
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Deshalb passt der Begriff auch nicht richtig. Der Wort-Ursprung von „Schlaf“ ist altgermanisch. Die Goten sagten „sleps“. Alt- und mittelhochdeutsch wurde daraus: „Slaaf“. Gemeint war stets: Ein schlaffer Zustand. Und das ist Schlaf ja nur phasenweise.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Wusste man dereinst eben noch nicht. Wie vieles über den Schlaf. Klar: Gepennt, geratzt, weggeschnarcht wurde immer. Aber ganz angenehm war das – genauso zu allen Zeiten – nicht jeder und jedem. Das Seltsame an der Sache ist ja das Loslassen. Das sich Wegbegeben aus der Realität, aus dem, was wir bewusst wahrnehmen und beeinflussen – sich wegbegeben.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Wohin eigentlich?
11 ZU Brohm 15:13
Lange Zeit wurde der Schlaf - schon in der griechischen Mythologie - als ein Bruder des Todes angesehen. Der Schlaf war etwas, was mit Ruhigstellung, mit Passivität verbunden ist. Der Schlaf wurde als Gefahr verstanden.
ERZÄHLER
In der griechischen Sagenwelt sind der sanfte Schlaf, Hypnos, und der mitleidlose Tod, Thantos, miteinander verwandt.
ERZÄHLERIN
Sie sind Brüder. Söhne der Nachtgöttin Nyx.
MUSIK
ERZÄHLER
Nyx ist komplex.
ERZÄHLERIN
Nyx ist besonders.
ZITATOR
Entstanden aus dem göttlichen Chaos am Anfang allen Seins ist Nyx die Nacht. Ihr Bruder ist die Dunkelheit. Nyx ist riesig. Wenn sie in ihrem Wagen, gezogen von zwei schwarzen Pferden, durch den Himmel rast, wehen ihre langen schwarzen Haare im Wind, die Augen sind nadelspitz –
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Nyx hat in alten Darstellungen weitausladende Schwingen. Sie ist eine geflügelte Göttin. Warum fährt sie im Pferdewagen über den Himmel? Überhaupt: Was sind nadelspitze Augen?
ERZÄHLERIN
Wahrscheinlich solche, die dich durchbohren… Wichtig ist: Die Nacht macht den Menschen in der Antike Angst. Die Söhne der Nyx heißen nicht von ungefähr Tod und Schlaf – das sind Rätsel. Wie lange muss man nicht mehr aufwachen, um tot zu sein? Das ist eine praktische Frage früherer Bestatter.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Der römische Dichter Ovid schreibt:
ZITATOR
Der Schlaf ist das Abbild des Todes.
ERZÄHLER
Seine Koordinaten kennt die damalige Dichtung sogar auch.
ZITATOR
Er wohnt in einer Höhle am Ufer des Lethebaches, wohin niemals die Sonne gelangt.
ERZÄHLERIN
Lethe ist - der Sage nach - einer der Flüsse in der Unterwelt. Der Name meint „Vergessen“. Wer vom Wasser der Lethe trinkt, verliert vor dem Eingang ins Totenreich seine Erinnerung.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Dann scheiden sich ein bisschen die dichterischen Geister. Manch damaliger Autor belässt die Toten dort. Vergil und andere Schreiber bringen die Seelen zurück ins Leben – ohne Wissen um die eigene Vergangenheit.
ERZÄHLER
Zurück auf Werkseinstellung, würde man heute sagen.
ERZÄHLERIN
Das ist makaber.
MUSIK
ERZÄHLER
Naja: Schlaf ist Todes Bruder. Glauben auch die Germanen. Die nennen sowohl den Schlaf als auch den Tod „Sandmann“. Einmal der, der den Kindern Sand in die Augen streut. Und einmal Sandmann im Sinne von „Sendmann“, „Sendbote“, hinüber in die andere Welt. Man kann in alten Zeiten schließlich nicht sicher sein. Die Menschen schlafen nicht nur deshalb zu mehreren in einem Zimmer, weil es wohnraumtechnisch bis in die Neuzeit bei vielen Familien einfach einkommensbedingt eng ist. Man fürchtet die Nacht. Dass morgens aufgewacht wird – sagt die Erfahrung. Aber nicht immer. Und warum dann mal nicht – das kann die frühe Medizin selten erklären. Ihrem Ruf als Wissenschaft wenig zuträglich sind gängige Geschichten von lebendig Begrabenen. Aus Versehen. Wusste man nicht besser. War eben lange nicht wach.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Schlaf als Scheintod – wird ein verbreitetes Motiv in Sagen, Dichtungen und Märchen. Éin Motiv, das sich hält, weil es fasziniert.
ERZÄHLER
Weil allein die Vorstellung in einem schmalen, stickigen, stinkenden Sarg aufzuwachen, zwei Meter unter der Erde…
ERZÄHLERIN
Hallo!
ERZÄHLER
Ja. Also: Berühmte Dichtungen mit Scheintod.
MUSIK
ERZÄHLER
Bestes Beispiel: Shakespeares „Romeo und Julia“. In wilder Verzweiflung ob maximal brennender Liebe bei minimal einverstandener Verwandtschaft, greift SIE zum Schlaftrunk. „Julia lebt!“, seufzend sollen sie bei ihrem Wiedererwachen der Verbindung mit Romeo zustimmen. ER – Romeo – weiß von diesem Plan nichts und das ist ein Fehler! Also Romeo kommt zu früh dazu. Und wie SIE – Julia – da so liegt in diesem todesähnlichen Schlaf – und ihre Familie klagt und seine nicht, denn die Sippen sind verfeindet und ER wähnt sich schuldig, dass SIE –.
ERZÄHLERIN
Kurz: Von Trauer gebrochene Herzen fühlen nicht sicherheitshalber nochmal den Puls, ehe sie selbst -
MUSIK ENDE
ZITATOR / ZITATORIN
„So wilde Freude, nimmt ein wildes Ende und stirbt im höchsten Sieg“
ERZÄHLERIN
Der Prinz in Grimms Märchen „Schneewittchen“ geht patenter vor.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Er küsst probeweise die schlafende Schöne im Glassarg.
ERZÄHLER
Von der alle, auch sämtliche Mitbewohner-Zwerge, überzeugt sind, dass sie tot ist. Vergiftet von der eifersüchtigen Stiefmutter.
ZITATOR
Frau Königin, ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen über den sieben Bergen bei den sieben Zwergen …
ERZÄHLERIN
Drum prüfe, wer sich ewig bindet – ob sich nicht doch ein Lebenszeichen findet… Schneewittchen erwacht vom Kuss des Prinzen.
ERZÄHLER
Und heiratet ihn von der Stelle weg. Dornröschen wird das genauso handhaben, andere auch. Wachküssen macht im Märchen Schule.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Im echten Leben schmachtet einen morgens kein spontan verliebter Erbe der Krone an. Da rappelt gnadenlos der Wecker. Man wünscht, es wäre schon wieder Abend.
12 ZU (5W, 7b M, 9W Kinder)
Ich finde es entspannend, wenn man schläft, weil das deinen Körper wieder auftankt. // Ich schlaf am liebsten ein mit meiner Familie // Immer zum Einschlafen lese ich meiner Familie was vor und danach kuschle ich mich zu ihnen.
MUSIK
ERZÄHLER
Und tausche mein waches Ich ein gegen mein Schlaf-Ich. Das tickt etwas anders.
ERZÄHLERIN
Die Forschung weiß inzwischen: Im Traum machen nicht nur Hirnareale Pause, die zuständig sind für Planung und logisches Denken. Auch emotionale Notbremsen setzen aus, die wir im Realen ziehen können – Wir wollen nicht, dass der Ex merkt, dass er noch berührt. Die Chefin soll nicht mitbekommen, dass ihre Kritik verletzt hat, der Einwurf des Kollegen war so grandios, wir platzen mitten in der sehr ernsthaft wichtigen Konferenz… spontan nicht heraus.
ERZÄHLER
Im Schlaf aber –
13 ZU Spoomaker 2.44
Es ist nicht so, dass man das richtige Selbst ist. Sondern ein klein bisschen mehr Kontrollverlust als sonst.
ERZÄHLERIN
Erklärt der Schlafexperte am Max-Planck-Institut für Psychiatrie, Victor Spoormaker.
14 ZU Spoomaker 2.44
In Träumen streitet man sich öfters und hat öfters eine Hauerei als tagsüber. Die Emotionen sind viel intensiver als tagsüber, die werden auch nicht gehemmt. Da hat man dann den totalen Verlust oder die totale Freude und kann das, wenn man wach wird, gar nicht mehr so nachvollziehen.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Blöd für viele Werbeangebote, die da behaupten der träumende Geist sei stets offen für Eindrücke, die nach dem Aufwachen weiterwirken.
MUSIK
ZITATORIN
Selbstoptimierung im Schlaf -
ZITATOR/ ZITATORIN
Werde klüger// gesünder // kreativer// schöner!
ZITATOR
Entspannter im Schlaf mit Traumreisen zur inneren Einkehr an Orte, die du liebst.
ZITATORIN
Diese Traumreise ist gut für dich, wenn du dich nach Behaglichkeit und einem Gefühl von Geborgenheit sehnst. Ich lade dich ein ins Auenland, in eine gemütliche Hobbit-Höhle, das Feuer prasselt im Kamin -
ZITATOR
Lerne Sprachen im Schlaf -
ZITATORIN
Flugzeugtriebwerk. Auf Finnisch: Lentokonesuihkuturbiinimoottoriapumekaanikkoaliupseerioppilas
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Ob das tatsächlich alles im Schlaf funktioniert?
ERZÄHLERIN
Die Wissenschaft hat wenige Hinweise darauf. Manche Studien zeigen: Vokabeln wiederholen und sich dadurch besser merken im Schlaf, das kann gehen, wenigstens in den entspannten Zeiträumen vor und nach der traumaktiven REM-Phase. Bislang unbekannte Vokabeln speichert das Gehirn nicht.
ERZÄHLER
In der bewegten REM-Phase hingegen lassen sich vielleicht motorische Fähigkeiten verbessern wie Kung Fu, Snowboardfahren oder Gitarre spielen.
ERZÄHLERIN
Ganz genau weiß auch das die Forschung nicht.
ERZÄHLER
Oder hat noch nicht ausreichend filigrane Messgeräte, um entsprechende Wirkungen im Gehirn exakt nachzuweisen. Vieles ist nach wie vor einfach Ausprobieren, erzählt Schlafexperte Spoormaker. Der neuste Trend:
17 ZU Spoomaker 5.10
Das Phänomen des Klartraums, wobei man versucht mit Bewusstsein einzuschlafen. Das ist superschwer, aber wenn man sehr müde ist und man schläft ein und es kommen schon paar Bilder und man kann mit Bewusstsein einschlafen, da hat man einen großen Gestaltungsspielraum. Aber es ist halt dein Gehirn, es ist nicht ganz zu manipulieren.
ERZÄHLERIN
Besser als meine Fantasie kann auch mein Traum nicht?
ERZÄHLER
Überraschend großartige Blockbuster entstehen vor dem inneren Klartraumauge nicht. Wahrscheinlich. Fest steht jedenfalls: Schlaf ist dem Menschen vertraut, weil alltäglich. Aber zugleich suspekt, weil nicht vollends kontrollierbar. Bereits die Höhlenbewohner stellen jede Nacht wenigstens eine – hoffentlich verlässliche – Person ab, die das Feuer bewacht. Und alle, die schlafen, vor Säbelzahntiger und Co.
ERZÄHLERIN
Die römische und griechische Antike hat genauso Respekt vor dem Schlaf. Er macht den Menschen passiv, angreifbar, liefert einen aus –
ERZÄHLER
Frühe östliche Kulturen wollen diese Furcht überwinden. Da wird der Schlaf beschrieben als der eigentliche, der wahre Zustand des Menschen.
ZITATOR
Alles ist eins: Im Schlaf ist die Seele ungestört und aufgenommen in diese Einheit.
ERZÄHLERIN
Schreibt der chinesische Philosoph Chuang Tzu um 300 vor Christus.
ZITATOR
Im Wachen hingegen ist die Seele abgelenkt und sieht die verschiedenen Gegebenheiten der Welt.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Die altindischen philosophische Texte der Upanishaden kennen mehrere Schlafphasen. Der Tiefschlaf ist der, der den Menschen zu seinem Selbst bringt.
ZITATOR
Wenn man tief schläft, ruhig und heiter und keinen Traum sieht, das ist das Selbst, das ist das Unsterbliche, Furchtlose.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Aber auch der Zustand, der einen glatt in die Pleite treibt, denn: Wer schläft, arbeitet nicht. Im Christentum wird das Aufwachen später oft im übertragenen Sinn verstanden: Das Neue Testament erzählt von erweckt werden, sehen, verstehen – auferstehen. Das Alte Testament ist da noch pragmatischer.
ZITATOR
Liebe den Schlaf nicht, dass du nicht arm werdest; lass deine Augen wacker sein, so wirst du Brot genug haben.
ERZÄHLERIN
Ein bisschen wie unser heutiges: Wer schläft, verliert.
ERZÄHLER
Wobei: Sind wir nicht inzwischen eins weiter, über das reine Leistungsdenken hinaus? Wo das Leben nicht mehr nur erfolgsgetrieben ist, sondern Balance will: Life and Work?
ERZÄHLERIN
Gute Frage und eine, die die Menschheit bereits lange beschäftigt: Was ist das richtige Schlafverständnis?
ERZÄHLER
Und entsprechend das optimale Schlafverhalten?
MUSIK
ERZÄHLER
Spätestens als sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Naturwissenschaft mehr und mehr durchsetzt gegen Religion und Philosophie, wird der Schlaf zum regenerativen Element.
ERZÄHLERIN
Warum und wie der Mensch da was auftankt – mehr Sauerstoff, neues Blut, aufgefüllte Flüssigkeit im Gehirn –
ERZÄHLER
Im 19. Jahrhundert diskutieren die Gelehrten: Entsteht Schlaf durch Sauerstoffmangel? Blutleere im Gehirn? Umlagerung elektrischer Ladungen in den Nervenzellen – zum Beispiel durch zu viel Milch in der Nahrung?
MUSIK ENDE
18 ZU Spoomaker 5.10
Wir sind am Anfang.
ERZÄHLERIN
Gibt Victor Spoormaker vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie zu:
19 ZU Spoomaker 5.10
Wir wissen nicht mal genau, wozu gibt es REM-Schlaf? Also wieso haben wir jede Nacht ein- bis zwei Stunden so ein Stadium, das so viel Energie kostet? Und das Gehirn kostet so viel Energie, normalerweise 20 Prozent von allem Energieverbrauch des Körpers geht zum Gehirn und man würde sagen, wenn Schlaf nur zum Ausruhen da ist, dann fährt es runter, wie im Tiefschlaf. Aber im REM-Schlaf zwei Stunden lang wieder volle Kraft – wozu?
ERZÄHLERIN
Bereiten wir in dieser traumintensiven Schlafphase den nächsten Tag vor? Verarbeiten wir das Gestern? Schieben wir Informationen im Gehirn in andere Speicher, organisieren salopp gesagt das Oberstübchen?
ERZÄHLER
Bislang wenig bis keine Ahnung. Zukünftige Untersuchungstechnologien werden mehr Aufschluss bringen, hofft Victor Spoormaker. Auch in Sachen: Wann ist wieviel Schlaf in welchen Abständen gut zu was?
MUSIK
ERZÄHLERIN
In frühen Zeiten schlafen die Menschen nicht einmal lange und das von abends bis in den Morgen. Sondern in kürzeren Etappen. Nachts ein paar Stunden, vormittags oder mittags vielleicht wieder, vor dem Abendbrot ein Nickerchen. Auf dem Strohlager daheim, unterm Baum draußen auf dem Feld, am Biertisch -
MUSIK
ERZÄHLER
Richtige Betten hat meist nur der Adel. Und dann auch nicht nur zum Schlafen als auch zu Repräsentationszwecken. Der französische König Ludwig XIV. und Co. empfangen Minister und ausgewählte Untertanen gerne sitzend – im Prachtornat – im Bett. Ganz große Gunst widerfährt dem, der schon vorab ins Schlafzimmer darf zur Ankleidezeremonie.
ERZÄHLERIN
Privat ist da nichts.
ERZÄHLER
Schlaf ist lange nicht privat. Für niemanden quer durch alle Schichten. Noch bis in die Neuzeit gilt als gegeben: Kommt man zu Besuch, auf ein Fest oder schaut einfach so wo vorbei – schläft man, sollte es spät werden, gerne mit. Auf der Lagerstatt der Familie oder auf dem Boden.
ERZÄHLERIN
Und oft in vollem Gewand. Kuschelhaufen halten warm.
20 ZU Brohm 29.10
Erst im Laufe der Zeit entwickelte sich die Vorstellung und die Praxis auch, dass der Schlaf im Bett zu vollziehen sei. Dafür hatten dann auch bestimmte hygienische Diskurse ihre Wirkung, die also deutlich machten, dass über eine bestimmte Schlafhygiene, natürlich auch die Ansteckungsgefahr bei großen Seuchen minimiert wird. Ebenso mengten sich da moralische Diskurse ein, die für das getrennte Schlafen plädierten, weil hier also eine große Gefahr auch unsittlichen Verhaltens mit bestünde.
ERZÄHLERIN
Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts schließen sich die Schlafzimmertüren. Zuvorderst ist das eine Wohlstandsfrage. Elternschlafzimmer, Kinderzimmer.
ERZÄHLER
Auch die Beschäftigung mit dem Phänomen Schlaf wird individueller, intimer, erklärt der Berliner Kulturwissenschaftler Brohm.
21 ZU Brohm 17.10
Wir fangen erst an, den Schlaf zu akzeptieren, als etwas, was gar nicht wirklich passiv ist, indem wir total ausgeschaltet sind, sondern in dem Vorgänge geschehen, die wir leider nicht so gut einsehen können. Wir können diese Vorgänge eigentlich für uns selbst nur realisieren, indem wir im Nachhinein Tagebücher führen, Protokolle führen, um festzuhalten, was sich so mit dieser Flüchtigkeit des Schlafes ergeben hat und erst auf der Basis dieses veränderten Wissens zum Schlaf, gewinnt diese Frage nach dem, wer wir sind im Schlaf jetzt diese Brisanz und Aktualität.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Die meisten Träume vergisst man wahrscheinlich deshalb, vermuten Schlafforscher, weil die Natur da eine Sicherung eingeschraubt hat. Was im Traum erscheint, soll sich nicht vermischen mit der Realität.
MUSIK
ERZÄHLER
Das wäre mitunter fatal. Der Postbote träumt, die Familie in Nummer 42 hat den grantigen Hund verschenkt und läuft am nächsten Morgen gleich munter durchs Gartentor –
ERZÄHLERIN
Keine gute Idee.
ERZÄHLER
Aber grundsätzlich aus Briefträgersicht durchaus eine angenehme Vorstellung.
ERZÄHLERIN
Bis der echte Lumpi ums Eck spurtet. Was wieder zur Eingangsfrage führt: Wer bin ich, wenn ich schlafe?
ERZÄHLER
Und träume ich mir dann oder träumt es mir?
ERZÄHLERIN
Über Jahrtausende haben sich Philosophie, Literatur, Medizin, Naturwissenschaft damit beschäftigt.
ERZÄHLER
Viel Konkretes rausgefunden haben sie noch nicht.
ERZÄHLERIN
Vielleicht ist das große Mysterium Schlaf am Ende eh überbewertet –
ERZÄHLER
Weil es bloß drauf ankommt, wer einen wachküsst?
ERZÄHLERIN
Nöp. Schlichte was man draus macht!
22 ZU (14 M Kinder)
Manchmal habe ich, wenn ich noch wach bin, aber meine Augen schon zu habe, wenn ich einschlafe so ein Bild im Kopf und wenn ich das nicht träumen will, dann mache ich wieder auf und wieder zu und habe ein anderes Bild. Wie beim Radio Sender wechseln.
Sie sind das berühmteste Liebespaar der Weltliteratur, Stoff zahlloser Theaterstücke, von Musik und Kinofilmen - und längst Synonym für alle herzergreifenden Liebesbeziehungen: Romeo und Julia. William Shakespeares Liebesdrama hat sie zur berühmtesten Liebesgeschichte aller Zeiten gemacht. Von Frank Halbach (BR 2022)
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christiane Roßbach, Edith Saldanha, Sven Hussock
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Susanne Poelchau
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Auf der ganzen Welt schicken sich Verliebte am Valentinstag Karten und schenken sich Blumen. Haben Floristen das Fest erfunden? Geht es auf den katholischen Schutzheiligen der Liebenden St. Valentin zurück? Oder auf einen alten heidnischen Brauch? Aber wieso kam der Valentinstag dann über die USA nach Europa? Von Frank Halbach (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Edith Saldanha, Christian Baumann
Redaktion: Andrea Bräu
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Literaturtipps:
Klaus Thiele-Dohrmann: Wenn die Vögel Hochzeit machen. Geoffrey Chaucer und die Geschichte des Valentinstags. In: DIE ZEIT. 08/2004, 12. Februar 2004 – detaillierte Darstellung der Bedeutung von Chaucers Gedicht.
Josef Kurz: Recherchen und Gedanken zum Valentinstag. In: idw-online.de, Februar 2007 – verfolgt Ursprünge und Brauchtum des Valentinstages von der Antike bis heute.
Manfred Becker-Huberti: 14. Februar: Wenn der Valentin mit der Valentine. In: brauchtum.de, Köln Februar 2005 – analysiert die kirchliche Figur des heiligen Valentin.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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MUSIK „Something stupid“; ZEIT: 00:57
SPRECHERIN
Alle Jahre wieder: Zwangsverordnete Gefühlsduselei, sentimentale Candlelight-Dinner, pinke Konfektschachteln in Herzform…
SPRECHER
Am 14. Februar ist Valentinstag: Das Fest der romantischen Liebe
SPRECHERIN
Begangen mit unzähligen kitschigen Karten, mehr oder weniger geschmackvollen Blumengebinden und sündhaft teuren Pralinen.
SPRECHER
Zeit, sich endlich mal wieder dran zu erinnern, Partner oder Partnerin zu zeigen, dass und wie sehr man liebt.
SPRECHERIN
Meinen die einen. Eine Verkaufsstrategie des Blumenhandels im Speziellen und der gesamten Kommerzindustrie im Allgemeinen…
SPRECHER
…sagen die anderen.
SPRECHERIN
Gänzlich unromantischer Konsum oder…
SPRECHER
Eine wirklich alte Tradition – wie immer wieder zu hören und zu lesen ist.
SPECHERIN
Eine vor gerade Mal einem halben Jahrhundert aus Amerika importierte Tradition. Weil diese neue „alte“ Tradition Rekordumsätze beschert, schimpfen Kritiker. Er gehe doch aber auf den Heiligen Valentin zurück, dessen Gedächtnis am 14. Februar begangen werde, behaupten Verfechter des Valentinstags.
MUSIK ENDE
MUSIK 2 privat Take 018 „Windflower“; Album: Mortal Engines; Label: Back Lot Music – BLM0759; Interpret: Tom Holkenborg; Komponist: Tom Holkenborg; ZEIT: 01:05
SPRECHER
Im 3. Jahrhundert, da lebte in Rom Valentin. Er liebte Dinge, die wachsen, und unter seinen Händen gediehen wunderbare Blumen und sein Garten erblühte zum schönsten der heiligen Stadt, denn der Segen Jesu Christi, den er aus tiefstem Herzen verehrte, lag auf ihm.
Aber das war nicht das einzige, was Valentin zum Knospen brachte: Er traute Liebespaare nach christlichem Ritus und schenkte ihnen Blumen aus seinem Garten, um auch ihre Herzen erblühen zu lassen. Ehen, die Valentin derart segnete, standen unter einem besonders guten Stern, waren glücklich und kinderreich. Auch setzte sich Valentin mit Rat und Tat für Liebende ein, indem er mit den Angehörigen sprach, wenn sie einer Verbindung zweier Liebender nicht zustimmen wollten.
Doch der römische Kaiser Claudius Gothicus hatte den christlichen Ritus verboten: Er ließ Valentin in den Kerker werfen. Am Abend vor seiner Hinrichtung schrieb er im Auftrag der Tochter seines Gefängniswärters noch einen Brief an ihren Liebsten, um ihr zum Glück zu verhelfen. Am 14. Februar 269 wurde er enthauptet. Seither ist der Märtyrer, der heilige Valentin aus Rom, der Schutzpatron der Liebenden.
MUSIK hoch und ENDE
SPRECHERIN
Diesen heiligen Valentin, Patron der Liebenden, dem am 14. Februar gedacht wird: Es gibt ihn nicht. Jedenfalls nicht mehr. Seit der Reform des römischen Generalkalenders im Jahr 1970 und der anschließenden Reform des Regionalkalenders für das deutsche Sprachgebiet 1972 taucht dieser Heilige weder an diesem noch an sonst einem Tag im liturgischen Kalender auf.
SPRECHER
Es gibt drei Heilige mit Namen Valentin. Ein heiliger Valentin war Bischof von Rätien. Sein Gedenktag wird aber am 7. Januar begangen.
SPRECHERIN
Dann gibt es einen Valentin von Rom und einen
Valentin von Terni. Womöglich handelt es sich aber bei den beiden um ein und dieselbe Person. Die Überlieferung vermischt beide nämlich.
SPRECHER
Als der Heilige, der für Liebe und Zärtlichkeit Pate steht, wird in der Regel Valentin von Terni identifiziert.
SPRECHERIN
Allerdings ist dieser Heilige Vall-entin der Schutzheilige gegen Fallsucht, also Epilepsie. Daher wird er mit einem zu seinen Füßen liegenden Epileptiker dargestellt.
SPRECHER
Und teilt sich diese Zuständigkeit wiederum mit Valentin von Rätien, der gleichfalls für Epilepsie und außerdem als Patron gegen Krämpfe, Gicht und Viehseuchen zuständig ist.
SPRECHERIN
Verwirrend. Aber am 14. Februar gefeiert wurde der Tag des Valentin von Terni.
SPRECHER
Und diesen Tag hat man aus dem liturgischen Kalender gestrichen, da sich die Quellenlage für einen Heiligengedenktag am 14. Februar als nicht stichhaltig herausgestellt hat.
SPRECHERIN
Was aber viel wichtiger ist: Weder das Leben des Heiligen Valentin, noch seine Wirkung lassen sich in einen Zusammenhang als Schutzpatron der Liebenden bringen. Der Valentinstag als Fest der Liebenden hat mit einem heiligen Valentin nur eines zu tun: den Namen Valentin! Sonst leider nichts.
MUSIK privat Take 019 „Something stupid“; Album: Background Music & Sounds From I’m In Records; Label: 2023 Integral Music Group; Interpret: unbekannt; Komponist: Carson Parks; ZEIT: 00:20
SPRECHER
Aber woher stammt der Anlass für das Fest der Liebenden am 14. Februar dann?
MUSIK hoch und Ende bei 00:20
SPRECHERIN
Das ist die Frage. Denn im Mittelalter galt der 14. Februar vielmehr als Unglückstag: Es soll der Geburtstag von Judas gewesen sein, dem Jünger, der Jesus verraten hat. Kälber, die am 14. Februar geboren waren, wurden nicht zur Zucht eingesetzt. Bruthennen durfte man nicht auf die Eier setzen, weil man glaubte, sie würden faulen oder missgestaltete Küken würden aus ihnen schlüpfen. In der Schweiz hat der Valentinstag sogar einer Dämonengestalt, dem „Väledi“, den Namen gegeben, eine Hauptfigur der Steiner Fasnacht. Sein Maskenträger führt den Narrentanzes auf den Dorfplatz an.
SPRECHER
Blickt man jedoch noch weiter in die Vergangenheit zurück:
MUSIK „LUDI INTER PANA“; ZEIT: 00:59
SPRECHERIN
In Rom wurde vom 13. bis 15. Februar das Hauptfest des Gottes gefeiert, der als Beschützer der Bauern und Hirten, ihres Viehs und ihrer Äcker galt: Faunus. Die Feierlichkeiten nannte man die Luperkalien, nach dem Beinamen des Gottes: „Lupercus“, was so viel wie „Wolfsabwehrer“ bedeutet.
SPRECHER
Die Luperkalien waren ein Reinigungs- und Fruchtbarkeitsfest, das man bei Annährung des Frühlings feierte.
Und es war bei den Römern Sitte, anlässlich dieser Feierlichkeiten jungen Frauen junge Männer für eine gewisse Frist zuzulosen. Frühe Frühlingsgefühle durften so rituell abgesegnet ausgelebt werden.
SPRECHERIN
Ganz genau weiß man über diesen Brauch im Rahmen des Festes von Faunus nicht Bescheid. Was man weiß: Die katholische Kirche versuchte nach dem Sieg über das Heidentum, diesem Tag einen gänzlich anderen Anstrich zu verpassen: Statt den Namen eines oder einer Liebsten wurden den jungen Leuten die Namen christlicher Heiliger zugelost, deren Leben, Tugend und Märtyrertum sich der oder die Jugendliche zum Vorbild nehmen sollte.
MUSIK ENDE
MUSIK privat Take 019 „Something stupid“; Album: Background Music & Sounds From I’m In Records; Label: 2023 Integral Music Group; Interpret: unbekannt; Komponist: Carson Parks; ZEIT: 00:20
SPRECHER
Ein früher Fall, wo das Angebot nicht mit der Nachfrage der Zielgruppe übereinstimmt.
MUSIK hoch und Ende bei 00:20
SPRECHERIN
Das mit dem Losen allerdings: das hat sich bis ins Mittelalter gehalten.
MUSIK „ Saltarello Nr. 1. Tanz für Renaissance-Instrumente“; ZEIT: 31
SPRECHER
In England konnte am 14. Februar jeder Valentin zu seiner Valentine kommen. Das Schicksal entschied: per Los oder einfach durch die erste Begegnung nach Sonnenaufgang.
SPRECHERIN
Der unverheiratete junge Mann durfte nun das ledige Mädchen ausführen und so lange als Partnerin betrachten – natürlich bei Wahrung von Sitte und Anstand.
SPRECHER
Solche Paarbildungen galten als besonders glücksverheißend für eine spätere eheliche Bindung.
SPRECHERIN
Begleitet wurde dieser Brauch davon, sich gegenseitig kleine Aufmerksamkeiten zu schenken, insbesondere Gedichte:
MUSIK ENDE – „The Disposition of Linen“; ZEIT: 01:29
SPRECHER
Zwar kenn‘ ich Amor nicht in Tun und Wesen
Noch weiss ich, wie er treuen Dienst vergütet,
Doch hab in Büchern ich gar oft gelesen,
Welch Wunder er vollbringt, und wie er wütet,
Und lese, dass als König er gebietet.
SPRECHERIN
Dichtet der Autor der weltberühmten "Canterbury Tales" Geoffrey Chaucer in den 1380er Jahren. Anlass ist wohl die Vermählung König Richards II. mit Anna von Böhmen. Das Gedicht umfasst 100 Strophen und trägt den Titel:
SPRECHER
Das Parlament der Vögel
SPRECHERIN
Wer kennt nicht das Kinderlied:
SPRECHER (angedeutet singend)
Ein Vogel wollte Hochzeit machen.
SPRECHERIN
Bei Chaucer geht es schon vor über 600 Jahren um eine solche Vogelhochzeit. Ein Königsadler wirbt leidenschaftlich um eine schöne Adlerdame.
SPRECHER
Die wird rot wie eine "Rosenblüte im Sommersonnenschein" …
SPRECHERIN
…und es verschlägt ihr die Sprache.
SPRECHER
Zwei weitere Adlerjunggesellen melden sich zu Wort. Der Falke plädiert für ein Turnier um die Adlerin. Die Gans merkt an, werde ein Freier nicht erhört, solle er nach einer anderen Braut suchen. Die Turteltaube besteht auf für unbedingter Treue. Der Kuckuck lobt die Vorzüge des Single-Daseins, wofür er vom Falken als selbstsüchtiger Nimmersatt beschimpft wird, da…
SPRECHERIN
Da greift die Göttin Natur ein: und meint, die ledige Adlerin solle sich entscheiden. Die bittet um ein Jahr Bedenkzeit.
SPRECHER
Alle anderen Verlobungen im Parlament der Vögel sind schnell vollzogen. Jedes Männchen bekommt ein Weibchen zugewiesen.
SPRECHERIN
Und alle singen zum Schluss hochzufrieden:
SPRECHER
Sankt Valentin, du bist der Hochgestellte,
für dich die Vögel dieses Lied beginnen:
Willkommen, Sommer, der des Winters Kälte
durch seine warme Sonne ließ zerrinnen.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Damals fiel der 14. Februar von heute auf den 23. Februar im Julianischen Kalender. Ab dann würden die Vögel damit anfangen, sich zu paaren und zu nisten. Angeblich beziehe sich Chaucers „Parlament der Vögel“ auf eine bereits etablierte Tradition – belegen lässt sich das aber nicht.
SPRECHER
Zu Chaucers Zeit wurde noch eine Reihe weiterer Gedichte über Vogelhochzeiten am Valentinstag verfasst. Schwer zu sagen, ob die Gedichte entstanden, weil man dachte, dass die Paarungszeit der Vögel beginne oder ob man wegen der Gedichte daran glaubte, dass ab dem sogenannten Valentinstag, das Federvieh mit seiner Balz anfing.
SPRECHERIN
Und da die mittelalterlichen Werke über die Vogelhochzeiten nicht exakt zu datieren sind, lässt sich auch nicht sicher sagen, ob Chaucer die Idee als erster hatte.
MUSIK “Lamento di Tristano“; ZEIT: 01:07
SPRECHER
Im Mittelalter wird aber jedenfalls zu ersten Mal der 14. Februar als jährlich wiederkehrendes Fest der Liebe beschrieben: In der „Charter of the Court of Love“, entstanden um das Jahr 1400, werden Festlichkeiten des königlichen Hofes von Karl VI. von Frankreich beschrieben. In der Stadt Mantes-la-Jolie gab es ein Festmahl, Tanz, Turnierkämpfe sowie Wettbewerbe in Liebesliedern und –poesie.
SPRECHERIN
Allerdings lassen sich keinerlei weitere Quellen des Hofes zu diesem Fest finden. Und von den in der Charta erwähnten Persönlichkeiten war keine in Mantes-la-Jolie, außer der Königingemahlin, der Wittelsbacher Prinzessin Isabeau de Bavière, so dass die Darstellung des Festes wahrscheinlich nur den niedergeschriebene Wunschtraum der Prinzessin darstellt.
SPRECHER
Herzog Karl von Orléans schreibt im Jahr 1415 nach der Niederlage bei der Schlacht von Azincourt während er als Gefangener im Tower schmachtet, an seine Frau:
SPRECHERIN (wie den Brief lesend)
Ich bin schon krank vor Liebe,
meine süße Valentine…
SPRECHER
Und in einem der bedeutendsten Werke der Weltliteratur, William Shakespeares „Hamlet“, singt Ophelia:
SPRECHERIN
Auf morgen ist Sankt Valentins Tag,
Wohl an der Zeit noch früh,
Und ich, ’ne Maid, am Fensterschlag,
Will sein eu’r Valentin.
Er war bereit, tät an sein Kleid,
Tät auf die Kammertür,
Ließ ein die Maid, die als ’ne Maid
Ging nimmermehr herfür.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Durch Chaucer, Shakespeare und andere britische Poeten gewinnt der Valentinstag im englischen Sprachraum nach und nach einen immer höheren Stellenwert, und Liebesgedichte zum Valentinstag werden zu einer romantischen Erfolgsgeschichte.
MUSIK „The Draughtsman's Contract”
SPRECHERIN
Und zu einem Riesengeschäft: Im Jahre 1797 kam das Buch „The Young Man’s Valentine Writer“ heraus, voll mit Versen für junge Liebhaber, die nicht selbst dichten konnten. Druckereien hatten zu diesem Zeitpunkt schon begonnen, Valentinskarten herzustellen: Die so genannten „Mechanical Valentines“. Anfang des 19. Jahrhundert waren sie so beliebt, dass man sie in Fabriken produzierte. Als in Großbritannien 1840 die Briefmarke eingeführt wurde, und damit zugleich das Karten verschicken erheblich billiger wurde, kam es zu einem regelrechten Valentinskarten-Tsunami: 400.000 Stück waren es zum Valentinstag 1841.
SPRECHER
Ein weiterer Vorteil der britischen Postreformen: Man konnte Karten ohne Absender verschicken. In der prüden viktorianischen Epoche ließ sich so Liebe und Lust aus der Ferne gestehen, ohne dass man seine Identität preisgeben und damit sein Gesicht verlieren musste.
SPRECHERIN
Die Feierlichkeiten, Traditionen und Bräuche zum Valentinstag, die sich seit der frühen Moderne in England ausgebildet hatten, gelangten im 19. Jahrhundert durch Auswanderer in die Vereinigten Staaten. Und damit auch das Geschäft mit den Valentinskarten. Hier wurden ab 1848 von Esther Howland aus Worcester, Massachusetts, die ersten in Massenproduktion hergestellten Valentinstagskarten vertrieben.
SPRECHER
Valentinstag wird, beziehungsweise ist bereits, ein nationaler Feiertag.
SPRECHERIN
Bemerkt ein amerikanischer Journalist bereits 1849. Damit wurde das Geschäft mit dem Valentinstag zum Wegbereiter weiterer kommerzialisierter Feiertage.
SPRECHER
1868 erfand der britische Schokoladenhersteller Cadbury verzierte Pralinenschachteln in Herzform, die man zum Valentinstag verschenken konnte.
SPRECHERIN
Und im 20. Jahrhundert waren aus dem Brauch des Karten- und Gedichte-Austauschs Geschenke jeder Art geworden, insbesondere erhältlich bei Tiffany & Co oder Cartier. Im Jahr 2016 gaben allein die US-Amerikaner 19,7 Milliarden Dollar für Karten, Blumen, Pralinen und andere Geschenke zum Valentinstag aus.
MUSIK ENDE
SPRECHER
In Amerika entwickelte sich der Valentinstag weiter: Vom Tag der Liebenden über einen Tag der familiären Beziehungen bis zu einem Tag der Freundschaft.
SPRECHERIN
Kein Wunder: Das erweitert die Absatzmöglichkeiten nochmal erheblich.
SPRECHER
Ab wann genau das Valentinsbrauchtum im deutschen Sprachraum eine Rolle spielt, lässt sich nicht mehr herausfinden.
SPRECHERIN
Aus dem Spätmittelalter ist die Bezeichnung Vielliebchentag überliefert. Das trifft nicht nur die ursprünglichere Bedeutung des Tages besser, sondern trennt ihn von einer nicht vorhandenen Verbindung zu einem heiligen Valentin.
SPRECHER
Spätestens ab den 1950er Jahren gewinnt der Valentinstag auch bei uns eine immer größere Rolle.
SPRECHERIN
In Westdeutschland bekannt wird er vor allem durch hier stationierte US-Soldaten. 1950 findet in Nürnberg der erste deutsche „Valentinsball“ statt. Als „weltlicher“ Feiertag steht er jedoch lange im Schatten des Muttertags.
SPRECHER
Der Valentinstag wird aber immer wichtiger. Und zwar in ganz Europa. Er hat es sogar bis nach Lateinamerika, Singapur, Südkorea und Japan geschafft.
Und sogar die katholische Kirche bemüht sich mittlerweile, den Valentinstag zu integrieren. Ehepaare werden eigeladen, ihr Eheversprechen zu erneuern, „Segensfeiern am Valentinstag“ veranstaltet, Verlobte dürfen den Beistand Gottes in der Vorbereitung auf die Ehe erbitten, und in der Predigt und in den Gebeten wird darauf hingewiesen, dass Gott die Quelle der Liebe und der Treue ist.
MUSIK privat Take 019 „Something stupid“; Album: Background Music & Sounds From I’m In Records; Label: 2023 Integral Music Group; Interpret: unbekannt; Komponist: Carson Parks; ZEIT: 00:20
SPRECHERIN
Damit folgt man dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Konsum als Förderer der Liebe?
MUSIK hoch und Ende bei 00:20
SPRECHER
Und Schuld an allem sind – könnte man zusammenfassend sagen - die alten Römer mit ihrem Faunus-Fest, den Luperkalien.
SPRECHERIN
Eine zwar spekulative, aber sehr einleuchtende Herleitung. Seit dem 18. Jahrhundert ist die Idee verbreitet, dass der Valentinstag die Bräuche der Luperkalien verewigt.
SPRECHER
Vor allem durch das Werk „The Lives of the Fathers, Martyrs, and Principal Saints“ des englischen katholischen Priesters und Heiligenforschers Alan Butler, aber auch durch Schriften mehrerer anderer Forscher.
SPRECHERIN
Butlers Theorie ist heute gemeinhin akzeptiert.
SPRECHER
Chaucers Gedicht „Das Parlament der Vögel“ ist dann einer der ersten Hinweise, dass der Tag des Heiligen Valentin etwas mit dem Tag der Verliebten zu tun hat.
SPRECHERIN
Ein Heiliger, dessen Leidensgeschichte und dessen Existenz offenbar erfunden sind. „Schuld“ am Valentinstag sind allerdings nicht einfach die Römer, sondern genau genommen doch die katholische Kirche.
SPRECHER
Aber hat die den Heiligen nicht abgeschafft?
SPRECHERIN
In dem Fall liegt die Schuld bei Papst Liberius, dessen Pontifikat von 352-366 währte. Ursprünglich fiel das kirchliche Fest von Christi Geburt auf den 6. Januar – den Tag den heute noch die orthodoxen Kirchen als den Geburtstag Jesu feiern. Papst Liberius aber verlegte 354 die Feier des Weihnachtsfestes auf den 25. Dezember. In erster Linie, um jegliche Verbindung zum heidnischen Sonnenkult zu kappen – denn der 6. Januar war das Fest des römischen Sonnengottes Sol invictus – die unbesiegbare Sonne.
Aber was hat Weihnachten mit dem Valentinstag zu tun?
SPRECHER
Nach mosaischem Gesetz musste ein Neugeborener, und damit auch Jesus, nach vierzig Tagen in den Tempel gebracht werden. Dieser Tag wird als "Darstellung des Herrn" gefeiert. Der erstgeborene Sohn wurde als Eigentum Gottes angesehen, dem Tempel übergeben und musste traditionell durch ein Geldopfer ausgelöst werden. Der Tag ist auch als „Mariä Lichtmess“ oder „Mariä Reinigung“ bekannt, da eine Frau gemäß mosaischem Gesetz nach Geburt eine Knaben 40 Tage als unrein galt und sich einem Reinigungsritual unterziehen musste.
SPRECHER
Als Weihnachten noch am 6. Januar gefeiert wurde, war 40 Tage später:
SPRECHERIN
Der 14. Februar.
SPRECHER
Und wenn Weihnachten auf den 25. Dezember vorverlegt wird, fällt Mariä Lichtmess…
SPRECHERIN
Auf den 2. Februar, an dem sie noch heute gefeiert wird. Der 14. Februar aber wurde dadurch zu einem leeren Tag, einer Art Loch im Kalender, das gestopft werden wollte.
MUSIK 1 „Something stupid“; ZEIT: 01:01
Sprecher (bewundernd)
Man nehme einen Heiligen namens Valentin, setzte seinen Todestag auf den vakanten 14. Februar und male den Tag im Laufe der Zeit mit brauchtumsstützenden Ereignissen aus.
SPRECHERIN
Man nehme ein uraltes Fest, in diesem Fall eines, das irgendwie mit Liebe zu tun, und sehe, wie man maximal Profit daraus schlagen kann.
SPRECHER
Aber rote Rosen, ein paar Pralinen und ein romantisches Gedicht haben noch niemandem geschadet. Und heute lassen sich digitale Valentinswünsche und animierte Grußkarten online völlig kostenlos verschicken.
MUSIK hoch und ENDE
Über einen Zeitraum von knapp 400 Jahren hält sich in Amerika das System der Sklaverei. Von Beginn an streben versklavte Menschen nach einem Leben in Freiheit und Würde. Ein geheimes Netzwerk hilft ihnen dabei, die Fesseln der Sklaverei abzustreifen: die Underground Railroad. Von Susanne Hofmann
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Christian Baumann, Caroline Ebner, Benhamin Stedler
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Michael Hochgeschwender, Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Dr. Heike Raphael-Hernandez, American Studies, Universität Würzburg
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Linktipps:
Hintergrundinformationen aus der Aufzeichnung von William Still
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER
Einer der ehemals reichsten Männer der Vereinigten Staaten von Amerika steckte Mitte des 19. Jahrhunderts in der Klemme: Durch seinen extravaganten Lebensstil, riskante Geschäfte, aber auch aufgrund seiner Spielsucht hatte Pierce Mease Butler sein beträchtliches Erbe verjubelt – immerhin rund 20 Millionen US-Dollar nach heutiger Rechnung. Ihm stand das Wasser bis zum Hals, und 1859 sah er sich zu einem drastischen Schritt genötigt: Er musste nicht nur das Familienanwesen verkaufen, sondern auch einen Großteil seines sogenannten „beweglichen Eigentums“:
ERZÄHLERIN
Gemeint waren 460 Sklaven, die seine riesigen Tabak-, Reis- und Baumwollplantagen in Georgia bewirtschafteten. Sie sollten unter den Hammer kommen, bei einer der größten Sklaven-Auktionen, die es je auf US-amerikanischem Boden gab. Schon Wochen vorher ließ Butler in Annoncen dafür werben, in denen – das hier als Vorwarnung – rassistische Begriffe verwendet wurden. Wir geben solche Bezeichnungen in dieser Sendung aus dokumentarischen Gründen so wieder. Im Februar 1859 erschien in der Zeitung The Savannah Republican folgender, hier übersetzter, Text:
ZITATOR:
Zu verkaufen: Eine Gruppe von 460 Negern, die an den Anbau von Reis und Nahrungsmitteln gewöhnt sind. Darunter eine Anzahl guter Mechaniker und Hausbediensteter. Werden am 2. und 3. März in Savannah verkauft. Verkaufsbedingungen: ein Drittel Barzahlung. Menschen, die diese Neger begutachten wollen, finden diese an der Pferderennbahn.
ERZÄHLER
Bereits Tage vor dem Großereignis waren die Hotels in Savannah ausgebucht, in den Bars gab es nur noch ein Thema, und die Interessenten pilgerten in Scharen zu den Pferdeställen am Rande der Rennbahn. Dort waren die versklavten Menschen notdürftig untergebracht und konnten vorab von ihren künftigen Eigentümern schon einmal inspiziert werden. Ein Reporter der New York Tribune war extra aus dem Norden angereist, um die Auktion zu beobachten.
ZITATOR
Die Neger wurden mit so wenig Rücksicht untersucht, als ob es sich um Vieh handelte. Die Käufer zogen ihre Münder auf, um ihre Zähne zu sehen, kniffen ihre Gliedmaßen, um festzustellen, wie muskulär sie waren, ließen sie hin- und hergehen, um Anzeichen von Lahmheit zu erkennen, zwangen sie dazu, sich zu bücken und zu strecken, um sicherzugehen, dass sie keine versteckten Wunden hatten.
ERZÄHLERIN
Für den verarmten Sklavenhalter Pierce Mease Butler lohnte sich die Auktion. Der Verkauf der Sklavinnen und Sklaven brachte ihm mehr als zehn Millionen Dollar ein. Damit konnte er seinen Bankrott abwenden und sich wieder einem sorglosen Leben hingeben. Für die versklavten Menschen jedoch war die Versteigerung in Savannah ein traumatisches Erlebnis, das unter dem Begriff „The Weeping Time“ Eingang ins kollektive afroamerikanische Gedächtnis fand.
Musik 2: Look down, Lord – 43 sek
ERZÄHLER
The Weeping Time – frei übersetzt in etwa „Zeit der Tränen“: Familien wurden zerrissen, Ehepartner kamen zu verschiedenen neuen Besitzern, Kinder wurden von ihren Eltern getrennt, die einstige Schicksalsgemeinschaft verstreut über alle Südstaaten – eine erschütternde Erfahrung, die nicht nur die Sklaven des Millionärs Butler machen mussten, sondern Hunderttausende anderer schwarzer Menschen in den USA. In den 100 Jahren zwischen 1760 und 1860 wurden um die 1,2 Millionen Sklaven auf dem US-amerikanischen Markt verkauft.
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Verkörpert wurde dieses Grauen durch den slave auction block - das Sklaven-Versteigerungspodest: Darauf mussten sich die versklavten Menschen bei einer Verkaufsaktion stellen, damit die Bieter sie besser mustern konnten. Auf den Plantagen drohten viele Sklavenhalter ihren Sklaven mit ihrer Versteigerung, um sie einzuschüchtern und zur Arbeit anzutreiben. Doch mit ihren Drohungen bewirkten sie bisweilen auch das Gegenteil.
ZITATOR
Das Versteigerungspodest förderte indirekt die Bereitschaft, ihre Flucht anzutreten. Die Schrecken dieses Podests und die herzzerreißenden Trennungen, die man hier den Unterdrückten aufzwang, lassen sich nicht beschreiben.
Musik 3: Genesis – 1:14 Min
ERZÄHLER
So heißt es in der Dokumentation „The Underground Railroad – A record“ aus dem Jahre 1872 – einer Sammlung Hunderter Zeugnisse ehemaliger Sklaven, die ihren Weg in die Freiheit schildern. Kommentiert und herausgegeben hat sie William Still, ein prominenter afro-amerikanischer Gegner der Sklaverei und Bürgerrechtler. Er selbst wurde als Kind versklavter Eltern in Philadelphia im Norden der USA geboren und verschrieb sein Leben der Befreiung von Sklaven. Er soll mindestens 650 Afroamerikanern auf ihrer Flucht aus den Südstaaten geholfen haben. Ihre Briefe und Aufzeichnungen hat er gesammelt, seine eigenen Eindrücke von den Begegnungen mit den Flüchtigen festgehalten.
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
William Still gilt als der Vater der sogenannten Underground Railroad. Diese Underground Railroad verlief weder unterirdisch, noch handelte es sich dabei um eine Eisenbahn. Vielmehr war sie ein informelles Netzwerk, das dabei half, versklavte Afroamerikaner aus den Südstaaten in die Freiheit zu schleusen – in die Staaten nördlich des Ohio-Rivers oder bis hinauf nach Kanada. Über geheime Routen, Schutzhäuser, mit der Unterstützung von Fluchthelfern und verschlüsselter Kommunikation gelang es, über rund ein Jahrhundert schätzungsweise 100.000 von ihnen zu befreien, so der Amerikanist, Professor Michael Hochgeschwender von der Ludwig-Maximilians-Universität:
1. ZUSPIELUNG Hochgeschwender
Das begann in den 1780er Jahren, als Nordstaaten die Sklaverei abgeschafft haben. Dadurch wird es ja überhaupt erst interessant, solange die Sklaverei auch im Norden – vor allen Dingen Pennsylvania, New York, Massachusetts, legal war – solange war es von keinem Interesse, in den Norden zu fliehen.
ERZÄHLER
Ein halbes Jahrhundert später, mit Anbruch des Eisenbahnzeitalters, etablierte sich für das geheime Fluchtwegenetz der Begriff Underground Railroad. Die flüchtigen Sklaven waren für ihre Eigentümer wie vom Erdboden verschluckt. Um die Aktivtäten der Underground Railroad zu beschreiben, wurden Eisenbahn-Metaphern verwendet, sagt der Amerikanist Michael Hochgeschwender:
2. ZUSPIELUNG Hochgeschwender 5.01
Also da gab es den Stationmaster, das waren Personen, bei denen die Schwarzen untergekommen sind, also die Flüchtlinge. Es gab den Executer, das war derjenige, der- oder diejenige, es gab auch viele Frauen darunter, die die Sklaven dann von Ort zu Ort brachten und über die Grenze geschmuggelt hatten. Es gab die Schwarzen als Passengers, und es gab die Trains, das war die eigentliche Route, und Terminal war der Ort, wo man dann ankommen sollte, zwischendrin die Stations, die von den Stationmaster kontrolliert worden sind. Es war ein ziemlich breites Netzwerk, man kennt heute um etwas über 3.000 Menschen, die mindestens daran beteiligt waren, mit einem ganz starken Anteil von Quäkern.
ERZÄHLERIN
Die religiöse Quäker-Bewegung betrachtete die Sklaverei als Sünde. Für diese Gläubigen waren alle Menschen, gleich welcher Hautfarbe und Herkunft, Geschöpfe Gottes. Und so setzten sie sich schon früh für die Befreiung der versklavten Menschen ein. Sie waren im Norden der USA auch die Hauptgeldgeber für die Underground Railroad. Mit ihrer Hilfe wurde für die Verpflegung der Flüchtlinge, für ihre Kleidung, ihren Transport und für Unterkünfte bezahlt. Unterschlupf fanden die entflohenen Sklaven auch bei Privatleuten oder in Kirchen oder Schulen. Manchmal blieben sie nur einen Tag und ruhten sich aus, um ihre Flucht dann in der nächsten Nacht fortzusetzen. Manchmal zwangen sie die Umstände auch dazu, viele Wochen in einem sogenannten Safe-House auszuharren.
Musik 4: Slightly… – 36 Sek
ERZÄHLER
Die Flüchtigen waren meist ohne einen Penny in der Tasche unterwegs, schlugen sich durch die Wildnis, versteckten sich im Wald, in Scheunen oder als blinde Passagiere auf Güterwaggons. Es gibt Berichte über Sklaven, die sich in einer Kiste als Frachtgut verschicken ließen. In jedem Fall riskierten versklavte Menschen mit der Flucht ihr Leben. Schließlich galt ihr unerlaubtes Entfernen von ihren weißen Herren als Diebstahl. Diejenigen, die erwischt und wieder zurückgebracht wurden, wurden hart bestraft, sagt Dr. Heike Raphael-Hernandez, Amerikanistin an der Universität Würzburg. Sie forscht zur Geschichte der Sklaverei in den USA.
3. ZUSPIELUNG Raphael-Hernandez 10.04
„Für diese sklavenhaltende Gesellschaft war es so wichtig, dass, wenn ein Sklave oder eine Sklavin weggerannt ist, zu zeigen: Wir bekommen den zurück, und der wird richtig heftig bestraft, da gab‘s auch diese Slave-Codes, in der Karibik waren die wirklich ganz schlimm, also wenn einer einmal wegrennt, wird ihm ein Bein abgehackt, wenn er das zweite Mal wegrennt, wird ihm zwei Beine abgehackt, um den anderen zu zeigen: Ihr dürft nicht wegrennen, wir werden ganz brutal mit euch umgehen, wenn ihr das macht“
ERZÄHLERIN
In den sogenannten Slave Codes oder Sklavengesetzen regelten die Kolonialisten im Süden den Umgang mit den Menschen afrikanischer Herkunft. Man verwehrte ihnen sämtliche Rechte, die für weiße Menschen selbstverständlich waren: das Recht, sich frei zu bewegen, Geschäfte abzuschließen oder einen selbstgewählten Partner zu heiraten, das Recht auf Eigentum, ja selbst das Recht auf Selbstverteidigung. Jede Übertretung des engen Regelkorsetts war mit harten Strafen bewehrt. Schwarze galten damals schließlich nicht als Personen, sondern als Sache. Schutz genossen sie lediglich als Eigentum weißer Menschen. Wer ihnen zur Flucht verhalf, vergriff sich demnach am Besitz anderer. Und so drohten auch den Fluchthelfern drakonische Strafen.
ATMOS Dschungel, Fluss, Paddelboot
ERZÄHLER
Menschen wie Seth Concklin beispielsweise, der 1851 eine Mutter mit ihren drei Kindern aus Alabama nach Cincinnati in Ohio retten will. Ihr Ehemann und Vater ist schon freigekommen, jetzt will Concklin die Familie nachholen. Sieben Tage und Nächte rudert er seine vier Schützlinge in einem einfachen Kahn flussabwärts gen Norden.
ZITATOR
Zu ihrer Sicherheit versuchte er seine Fracht zu verbergen, indem er sie sich flach auf den Boden des Bootes legen ließ und unter Decken versteckte.
ERZÄHLERIN
Doch alle Vorsichtsmaßnahmen helfen nicht, drei Staaten weiter nördlich, in Indiana, entdeckt man die Flüchtigen. Die Familie wird zurück zu ihrem Eigentümer gebracht, und über ihren Fluchthelfer Concklin ist bald in der Zeitung zu lesen:
ZITATOR
Den weißen Mann, der im Zusammenhang mit der Gefangennahme der Familie verhaftet wurde, fand man ertrunken im Fluss, an Händen und Füßen gefesselt, sein Schädel war gebrochen. Und es besteht kein Zweifel, er wurde auch gefesselt am Flussufer begraben.
ERZÄHLER
Sein Schicksal teilten damals viele Fluchthelfer. In den Südstaaten setzte man auf Abschreckung – je mehr Menschen sich in den freien Nordstaaten der Abolitionisten-Bewegung anschlossen, also für Abschaffung der Sklaverei kämpften, desto rigider hielt man im Süden dagegen. Gesetze stellten Aufstände und Fluchtversuche unter harte Strafen, weiße Milizen sorgten für deren Durchsetzung. Der Amerikanist Michael Hochgeschwender:
4. ZUSPIELUNG Hochgeschwender
Das Mindeste war die Vernichtung der ökonomischen Existenz derjenigen, die da erwischt wurden, wenn sie als Aktivisten unterwegs waren, aber das konnte auch sehr viel brutaler werden, also die Südstaatengesellschaft war sehr gewaltorientiert, insofern ließ man sich besser nicht erwischen.
Musik 5: Betrayal – 1:04 Min
ERZÄHLERIN
1850 trat der Fugitive Slave Act in Kraft, ein Bundesgesetz, das die Nordstaaten dazu verpflichtete, entflohene Sklaven festzunehmen und wieder zurück zu ihren Eigentümern in den Süden zu schicken. Seit dieser Zeit mussten sich entflohene Sklaven bis hinauf nach Kanada durchschlagen, um wirklich in Sicherheit zu sein. Das Gesetz trug zur wachsenden Spannung zwischen dem Norden und dem Süden bei, die dann 1861 in den Bürgerkrieg mündete
ZITATOR
300 Dollar Belohnung. Mein männlicher Sklave Tom Matthews, wohnhaft in Bladensburg, Maryland, rannte fort. Er ist circa 25 Jahre alt, ungefähr 1,75 groß, dunkle Hautfarbe, buschiges Haar, breites Gesicht, hohe Wangenknochen, breite Schultern, aufrechte Haltung. Wer ihn mir zurückbringt oder im Gefängnis festsetzt, erhält die obengenannte Belohnung.
ERZÄHLER
Auf entflohene Afroamerikaner wurden Kopfgelder ausgesetzt. Davon zeugen Tausende Zeitungsannoncen mit Vermisstenanzeigen. Es entwickelte sich ein eigener Geschäftszweig: Sklavenjäger, die davon ihren Lebensunterhalt bestritten, entlaufene Sklaven aufzuspüren und entweder ins Gefängnis oder zurück zu ihren Herren in den Süden zu bringen. Für sogenannte „Passagiere“ wie Helfer der Underground Railroad hieß das: Sie mussten alle nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. So gab es keine zentrale Leitung, niemanden, der das ganze Netzwerk überblickte und alle Akteure kannte. Vielmehr operierten einzelne Zellen weitgehend unabhängig voneinander. Michael Hochgeschwender:
5. ZUSPIELUNG Hochgeschwender 22:27
So ein bisschen so wie Schläferzellen beim Geheimdienst oder Terrorzellen. Also eine kleine Gruppe untereinander kannte sich, damit man möglichst wenig verraten konnte, und das war ein Netzwerk, das sich ja immer ausdehnte. Also einer aus dieser Zelle knüpfte dann Kontakt mit einer anderen Zelle und stellte fest: Ah, da sind auch Leute. Und wenn ich jetzt Stationmaster bin, schicke ich meine Sklaven, entflohenen Sklaven, meine Passengers, schicke ich dann zum nächsten Stationmaster, der ist wiederum in einer Zelle, die Kontakt hat zu weiter im Norden gelegenen Zellen.
Musik 6: Genesis – siehe vorn – 55 Sek
ERZÄHLERIN
Südstaatler versuchten immer wieder, das Netzwerk zu infiltrieren, es bestand also ständig die Gefahr, dass ein Mitglied einer Zelle für die Sklavenhalter arbeitete. Doch dank der Zellenstruktur wurde selbst in diesen Fällen nie die ganze Railroad gefährdet, sondern jeweils nur eine Zelle. Dann musste man sich eine andere Zelle suchen, über die man dann die Passagiere nach Norden transportieren konnte. Es galt der Grundsatz: Die linke Hand durfte nicht wissen, was die rechte tat. Aus Vorsicht kannten die Helfer oft nicht einmal die Namen der Flüchtenden. In Briefen bediente man sich einer verschlüsselten Sprache, um sich über die Logistik und organisatorische Dinge auszutauschen. Schließlich musste man immer damit rechnen, ausgespäht zu werden.
ZITATOR
Wahrscheinlich sind Sie etwas beunruhigt, weil die Waren aus Harrisburg am Montagabend nicht sicher hier angekommen sind. Da hier derzeit Aufregung um Waren ihrer Art herrscht, haben wir es für klüger erachtet, sie bei uns zu behalten, bis wir Nachricht von Ihnen hatten. Es handelt sich um zwei kleine und zwei große Pakete.
ERZÄHLER
Zwei kleine und zwei große Pakete – also zwei Kinder und zwei Erwachsene.
MUSIK 7: My Lord Sunshine – 40 Sek
ERZÄHLERIN
Im Süden der USA galten Sklaven als bedeutender Wirtschaftsfaktor – die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts kann man als Hochzeit der Sklaverei bezeichnen. Baumwolle wurde zum Exportschlager der Südstaaten, denn mit der Industrialisierung wuchs in Europa die Nachfrage. Um damit Schritt halten und zugleich erschwingliche Preise anbieten zu können, hielt man die kostenlosen Arbeitskräfte auf den Baumwollplantagen für unverzichtbar. Plantagenbesitzer sahen die Sklaven als ihr Kapital an, das es zu schützen galt.
6. ZUSPIELUNG Hochgeschwender 17.20
Und wenn eine Plantage von der Flucht Vieler betroffen war, war das ökonomisch schon ein ziemlicher Schaden. Deswegen im Süden, da gab es diese Streifen-Miliz, die durch die Gegend gezogen ist und nach geflohenen Sklaven vor allem auf dieser Underground-Railroad gesucht hat … und gerade wenn ganze Familien verschwanden mit Kindern, dann konnte man ziemlich sicher sein: Die sind mit der Underground Railroad unterwegs. Und dann wurde wohl auch Kopfgeldjäger dort auch angesetzt.
Musik 8: Genesis – siehe vorn – 50 Sek
ERZÄHLER
Es war also höchste Vorsicht geboten. Und nach den Beobachtungen des Vaters der Underground Railroad, William Still, war eine Flucht auch nicht jedermanns Sache:
ZITATOR
Es muss kaum erwähnt werden, dass die Passagiere der Underground Railroad in der Regel körperlich wie intellektuell dem Durchschnitt der Sklaven überlegen waren. Sie waren wild entschlossen, Freiheit zu erlangen, selbst um den Preis ihres Lebens.
ATMO Grillen
ERZÄHLERIN
Bevorzugt versuchten Sklaven, nachts zu entwischen, im Schutze der Dunkelheit. Dann wurde ihr Fehlen erst am nächsten Tag bemerkt und sie hatten einen Vorsprung von einigen Stunden, bevor sich die Eigentümer an ihre Fersen heften oder ihre Hunde auf sie ansetzen konnten. Um diese abzuschütteln, versuchten manche Sklaven ihre Fährten zu verwischen, indem sie ihre Schuhe mit Terpentin benetzten oder einen Weg durch die Sümpfe nahmen.
ERZÄHLER
Die Fliehenden orientierten sich am Polarstern, der ihnen den Weg nach Norden wies. Die Mehrzahl der Sklaven konnte weder lesen noch schreiben. Denn in vielen Südstaaten war es verboten, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen. Ohne Hilfe von Weißen oder freien Schwarzen im Norden waren ihre Erfolgsaussichten auf der Flucht gering. Für die Amerikanistin Heike Raphael-Hernandez von der Universität Würzburg verdankt die Underground Railroad ihren Erfolg der Zusammenarbeit von schwarzen und weißen Anhängern der Sklavenbefreiung:
7. ZUSPIELUNG Hernandez 4.44
Die Underground Railroad wurde sehr lange als Initiative von weißen kirchlichen Gruppen gesehen. Also die Quäker sind ja sehr, sehr wichtig, … Heute sagen wir eigentlich, wenn wir zurückblicken auf die Geschichte: Das war ein gemeinsames Handeln. Also die Quäker haben nicht einfach die Underground Railroad erfunden, das ist ein gemeinsames Handeln … Und dieses System ist ja ein faszinierendes System. Dass das funktioniert hat, hat ganz, ganz stark was auch mit freien African-Americans, versklavten Africans zu tun, die wussten, wo geht das hier lang, wo kann man dort was wissen? … 6:36 im Großen und Ganzen ist, dass die Rolle der African-Americans eine sehr führende war.
ERZÄHLERIN
Die Forschung hat in den vergangenen Jahrzehnten mit der lange gehegten Legende vom White Savior oder Weißen Retter aufgeräumt. Also der Vorstellung, die befreiten Sklaven hätten ihre Freiheit vor allem gutherzigen weißen Helfern zu verdanken. Unter den schwarzen Fluchthelfern sind unzählige Namenlose und solche, die längst in Vergessenheit geraten sind.
ATMO „Negro-Spirituals (Frau) – 47 Sek
ERZÄHLER
An andere erinnert man sich, weil sie besonders Heldenhaftes geleistet haben – allen voran Harriet Tubman. Sie war selbst eine Sklavin, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Flucht gelang. Danach ging sie noch rund ein Dutzend Mal wieder zurück in den Süden und nahm jedes Mal eine Gruppe sogenannter „Passagiere“ mit.Auf die Weise verhalf sie insgesamt 70 Menschen in die Freiheit. Unterwegs pflegte die tiefgläubige Tubman Spirituals zu singen. Drohte Gefahr, warnte sie ihre Mitreisenden, indem sie den Text der Lieder entsprechend abwandelte. Man nannte sie Moses – nach dem biblischen Moses, der sein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft führte.
ZITATORIN
Ich war acht Jahre lang Conductor der Underground Railroad, und ich kann sagen, was die meisten Conductor nicht von sich behaupten können: Mein Zug ist nie entgleist und ich habe nie einen Passagier verloren.
ERZÄHLERIN
Während des Amerikanischen Bürgerkrieges verliert sich die Spur der Underground Railroad. Viele Sklaven nutzen die Wirren des Krieges, um wegzulaufen, andere schließen sich den Unionstruppen aus dem Norden an. Mit dem Ende des Bürgerkrieges 1867 wird die Sklaverei in ganz Amerika aufgehoben. Damit ist jedoch die Leidensgeschichte der Afroamerikaner noch lange nicht beendet. Die Schwarzen sind nun zwar offiziell frei und bekommen ein Stück Land zur Pacht, das sie bewirtschaften dürfen – das sogenannte Sharecropping. Michael Hochgeschwender.
8. ZUSPIELUNG Hochgeschwender 30.00
Aber sie bleiben auf der Plantage, wo sie immer schon waren, und arbeiten für ihren Herrn, und im Sharecropping System bekamen sie dann zwar Lohn ausgezahlt, mussten aber das Geld in Kaufläden, die der Eigentümer der Plantage eingerichtet hatte, ausgeben, wo man natürlich alles zu überhöhten Preisen bekommen hat - weswegen sie dann immer verschuldet waren, das war die ganze Idee dahinter. Aber es gibt natürlich von Norden Versuche von den radikalen Republikanern… dann über den Homestead-Act Schwarze in den Westen zu bringen, wo sie dann ihr eigenes Land bekommen sollten. Das hat nie so richtig funktioniert, weil es auch permanent sabotiert worden ist. Und die Idee dahinter war auch durchaus rassistisch. Man wollte sie nämlich loswerden. Also viele Abolitionisten waren mindestens so rassistisch wie die Sklavenhalter. Sie waren einfach nur moralisch gegen die Sklaverei, aber hielten nichts von Schwarzen. Das vergisst man immer, wenn man über Abolitionisten redet.
Musik 9: Eden (Harlem) – 55 Sek + ATMO Zug
+ ATMO Spiritual – G0031980 101 – 42 Sek
ERZÄHLER
Von Gleichberechtigung ist noch viele Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg keine Spur. Man setzt auf Rassentrennung und rohe Gewalt, um Schwarze weiterhin zu unterdrücken und aus Gesellschaft und Politik auszuschließen. Weiße organisieren sich in paramilitärischen Gruppen und im rassistischen Ku Klux Klan, terrorisieren die schwarze Bevölkerung und lynchen Tausende schwarzer Männer. Ab 1910 kommt es deshalb zur sogenannten Great Migration – rund sechs Millionen Afroamerikaner ziehen gen Norden und Westen, weil sie das Leben im Süden nicht länger ertragen. Viele von ihnen nehmen die Eisenbahn. Doch diesmal ist es nicht die Underground Railroad, sondern die richtige Eisenbahn – mit gesondertem Abteil für Schwarze.
Wirtschaftswachstum - das ist erstmal nur eine Zahl. Aber was für eine! Geht die Zahl nach oben, dann steigt die Stimmung. Und umgekehrt genauso. Historisch betrachtet ist diese Idee relativ neu. Sie entstand in einer sehr speziellen Situation - und eine berühmte Küchendebatte trug dazu bei. Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Dorothea Anzinger, Frank Manhold
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Matthias Schmelzer, Wirtschaftshistoriker, Vertretungs-Professor an der Universität Flensburg
Robert Groß, Umwelthistoriker, Forscher am Institut für Soziale Ökologie der Universität Wien
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Matthias Schmelzer: The Hegemony of Growth. The OECD and the Making of the Economic Growth Paradigm. Cambridge University Press. Cambridge, 2016
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Klima, Kriege, Krise: Im digitalen Zeitalter ist die nächste Katastrophe immer nur einen Klick entfernt. Dabei zieht uns die Endlos-Flut negativer Nachrichten oft gegen unseren Willen in ihren Bann. Wie kommen wir da raus? Von Dominik Kalus
Credits
Autor dieser Folge: Dominik Kalus
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Sophie Rogall, Gudrun Skupin
Technik:
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Sandra Müller, Protagonistin
Leonard Reinecke, Medienforscher
Sabine Trepte, Medienpsychologin
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin
Ein Donnerstagabend im Herbst. Sandra liegt mit dem Smartphone auf der Couch, scrollt sich durch Instagram und erholt sich vom Tag; ihre beiden Kinder sind schon im Bett. Plötzlich, Bing, ploppt eine Nachricht auf ihrem Handy auf.
01 Zusp. Doomscrolling - Sandra
Und tatsächlich war es mein Lebensgefährte selbst, der mir das geschickt hat. ((Und wenn er das natürlich schickt, klick ich natürlich auch drauf.)) Er konnte es vielleicht nicht einschätzen, wie gefährlich sowas für mich ist.
Sprecherin:
Die Nachricht ist ein Link auf eine News-Meldung, die sich an diesem Novembertag wie ein Lauffeuer verbreitet: Russland habe erstmals eine Interkontinentalrakete auf die Ukraine geschossen.
02 Zusp. Doomscrolling - Sandra
Nüchtern betrachtet waren da eigentlich gar keine wirklichen Details drin. Und trotzdem habe ich halt gespürt: das macht direkt was mit einem. Und dann geht man in die Kommentarspalten - natürlich sind da nicht die Fachleute drin, die einem das jetzt genau erklären, nein gar nicht, auf keinen Fall - aber trotzdem denkt man sich so, oh Gott. Das schürt in einem sofort so ne Unruhe, so ne Unsicherheit und man sucht dann nach ganz schnellen Informationen die einen beruhigt und dann such ich, dann kommt wieder so n anderen Link und dann hat wieder jemand ne ganz wilde Theorie und holt dann die ganz große Kiste raus und das Ganze nimmt dann Ausmaße an, die absolut nicht mehr rational sind und ja, hat dann glaub ich mindestens anderthalb Stunden oder so gedauert, bis ich mich da wieder zurückholen konnte.
Sprecherin:
Für das, was Sandra da passiert ist, haben Internet-Kultur und Wissenschaft ein Schlagwort: Doomscrolling. Eine Verbindung aus dem Verb Scrollen – also auf einem Bildschirm lesend nach unten wischen – und dem englischen Wort Doom, Verderben. Gemeint ist das unkontrollierte Konsumieren von Negativ-Nachrichten; von einer Katastrophenschlagzeile zur nächsten klicken, hier noch einen düsteren Kommentar, und plötzlich ist eine Stunde oder mehr vergangen. Ein Sog, in den wir schnell hineingeraten können.
03 Zusp. Doomscrolling - Sandra
Also es kommen halt auch immer wieder mal so Push Nachrichten, diese klassischen Schlagzeilen kommen da, die halt erstmal so, ‚üh‘ Panik. Und ja, wenn es mir passiert, und die schaffen es, mich neugierig zu machen, klick ich da drauf. Ja und dann geht der Strudel los. Weil dann kommt halt einfach nur sowas, das da reinfeuert.
Sprecherin (Alliterationsbegriffe hinterlegt mit Bings oder Notification-Sounds)
Krieg, Krise, Klima, Trump, Trauma, Terror. Demokratie-Abbau, Diktatur, Drama. Die Medienwelt ist voll von schlechten Nachrichten. Und im Digitalen Zeitalter ist die nächste Katastrophe immer nur einen Klick entfernt – oder wird uns sogar gegen unseren Willen auf den Bildschirm gespült. Dafür sorgen die Algorithmen, die im Internet das Sagen haben und bestimmen, was uns angezeigt wird – egal, ob wir es gut finden. Bezeichnend ist: Der Algorithmus merkt, dass wir kleben bleiben. Und das tun wir eher bei schlechten Nachrichten als bei neutralen, oder guten. Die Wissenschaft spricht hier von „Negativity Bias“, sagt die Medienpsychologin Sabine Trepte von der Universität Hohenheim.
04 Zusp. Doomscrolling - Sabine Trepte
Wir sehen in der Forschung, dass, wenn wir Menschen Nachrichten präsentieren, die eben positiv und negativ nebeneinanderstellen, dass dann Menschen schon aufmerksamer sind, wenn sie negative Nachrichten bekommen. ((Das heißt, wir haben schon Forschung, die zeigt, dass Menschen diesem Negativity Bias unterliegen, bei online Aktivitäten ne,)) das heißt, sie suchen mehr negative Headlines aus, lesen mehr negative Artikel. Und verteilen ihre Aufmerksamkeit disproportional eher auch auf negative Berichterstattung.
Sprecherin
Warum ist das so? Warum hat die Negativität die größere Anziehungskraft? Die Evolutionspsychologie liefert eine plausible Erklärung.
05 Zusp. Doomscrolling - Trepte
Das hat den Hintergrund, dass natürlich negative Nachrichten auch potenzielle Bedrohungen mit sich bringen. Und was tun Menschen, wenn sie potenzielle Bedrohungen vermuten? Sie machen sich erstmal zurecht sorgen und was ist dann der nächste Schritt, wenn wir uns zurecht Sorgen machen, dann informieren wir uns, um das Ganze besser einschätzen zu können und auch einfach um sagen zu können, ob wir diese Sorgen behalten sollen, ob wir weiter rangehen müssen an das Thema
Sprecherin:
Also, fürs Überleben ist es nicht entscheidend, dass wir vom besonders schönen Sonnenuntergang erfahren – sondern dass wir eine potenzielle Bedrohung rechtzeitig erkennen. Feinde, Feuer, Gefahr; darauf kommt es an. Von Napoleon, der in heutigen Zeitigen wohl ein Doomscroller gewesen wäre, ist das Zitat überliefert: „Wecke mich nicht auf, wenn du gute Nachricht hast, es hat keine Eile. Aber wenn du schlechte hast, wecke mich augenblicklich, denn dann darf keine Minute verloren werden.“
Sich für das Schlechte zu interessieren, und dann entsprechend zu handeln, das ist aber per se erstmal gar nichts Schlechtes.
06 Zusp. Doomscrolling - Trepte
Was wir auf jeden Fall ableiten können, auch aus anderen Forschungsgebieten, ist, dass Menschen, die eben Nutzungsmechanismen verwenden, die in negative Nachrichten reingehen, auch wenn das nicht exzessiv ist, dass das eigentlich was sehr Gesundes erstmal ist und dass Menschen damit sowas bedienen, was wir Information Utility nennen; also einfach das Bedürfnis, sich umfassend zu informieren, ((also on Top of Things zu sein und zu wissen, was eigentlich los ist.)) Weil wir uns Sorgen machen, wenn irgendwas passiert, das negative Implikationen hat und das wiederum ist natürlich auch ein sehr gesundes Verhalten, wir haben eine höhere Vigilanz, nennen wir das, also eine höhere Aufmerksamkeit, und das geht natürlich auch einher mit einer höheren mentalen Beweglichkeit. Ja, wir setzen mehr Kräfte frei, wenn das möglicherweise erforderlich ist.
Sprecherin:
Ein Feuer in der Nachbarschaft, oder ein Terroranschlag in der Hauptstadt. Klar, dass wir da alarmiert sind, und schnell Antworten wollen: Betrifft uns das? Sind wir sicher? Müssen wir handeln? Entstanden ist der Begriff Doomscrolling zu Beginn der Corona-Pandemie; als sich ein noch kaum erforschtes Virus ausbreitete, und sich Menschen auf der ganzen Welt die Frage stellten: Was zur Hölle passiert hier?
07 Zusp. Doomscrolling - Sandra
Corona war auch so eine heftige Geschichte. Weil man auch nicht mehr wusste, ja, was ist denn jetzt Fakt? Und da hab ich auch extrem viel dann reingelesen, versucht, mich eher eben an den wissenschaftlichen Aspekten und Infos zu halten, auch wenn man weiß, natürlich ne Forschung kann nicht so schnell arbeiten, Forschung braucht Zeit und aber dann gleichzeitig die andere Seite, Ja, das ist alles nur Humbug und ihr wollt uns alle einsperren und wir wollen unsere Freiheiten und ja dann steht man da und denkt so: Wer hat denn jetzt recht?
Sprecherin:
Ereignisse wie Pandemien, oder Terroranschläge, sind für den Menschen eine Art Kontrollverlust. Und Informationen zu suchen ist ein Weg, Kontrolle – oder die Illusion von Kontrolle – zurückzugewinnen. Das Problem, nicht nur bei Themen wie Corona: Klare Antworten gibt es oft so schnell gar nicht, sagt Leonard Reinecke, Professor für Medienwirkung und Medienpsychologie an der Universität Mainz.
08 Zusp. Doomscrolling - Leonard Reinecke
Häufig haben wir es natürlich mit negativen Nachrichtenlagen zu tun, auf die wir selber gar keinen Einfluss haben, das heißt: Da besteht zwar auf der einen Seite das das große Bedürfnis, sich zu informieren und informiert zu bleiben, aber gleichzeitig können wir daraus nicht direkt irgendwelche Handlungsalternativen herleiten, weil das Problem nicht in unserer Hand liegt. Gerade wenn dann aber es Situationen sind, wo wir es vielleicht mit einer sich entwickelnden Nachrichtenlage zu tun haben, wo der Überblick noch fehlt, wo man auch der eine das Gefühl hat, ich möchte nichts verpassen, dann entsteht so ne Sogwirkung, dass ich auf der einen Seite mehr Informationen will, die aber vielleicht nicht verfügbar sind. Insofern läuft dann in gewisser Weise ein Bedürfnis nach Nachrichten ein Stück weit ins Leere, weil es unter Umständen für eine Problemlage keine kurzfristigen Lösungen gibt und ich auch selber vielleicht gar nicht viel tun kann. Und daraus kann natürlich auch schnell das Gefühl von einer gewissen Hilflosigkeit entstehen.
Sprecherin
So ging es Sandra, als sie auf der Couch die Meldung der russischen Interkontinentalrakete liest. Stundenlang sucht sich nach der Info, die das ganze relativiert, klickt sich durch Nachrichten, liest Kommentarspalten – und fühlt sich dabei immer hilfloser, und gelähmter. Dass die Meldung gar nicht eindeutig belegt ist, wird erst später klar. Ein Paradebeispiel für diese Konsum-Dynamik negativer Nachrichten, sind die Terroranschläge des 11. September 2001. 8,1 Stunden haben erwachsene Amerikaner laut einer Studie an diesem Tag Fernsehnachrichten gesehen; Kinder 3 Stunden. Sandra kann sich noch gut an 9/11 erinnern.
09 Zusp. Doomscrolling - Sandra
Es gab noch kein Social Media, aber auch selbst da hatten wir mit den damaligen Möglichkeiten ja auch gar keine Chance mehr gehabt, daran vorbeizukommen. An diesem Erlebnis, und das hat mich, ich bin einfach auch ein sensibler Mensch, so dermaßen aus der Bahn geworfen, weil ich es nicht einschätzen konnte. Und dann ich konnte nicht loslassen; ich habe nonstop Nachrichten geguckt, NTV, N24, was kommt im Radio? Und dann hat sich das überschlagen. Ich konnt es nicht mehr einsortieren. Diese Info, die mich beruhigt hat, die kam einfach nicht, es wurde eigentlich eher nur noch schlimmer mit allen Spekulationen und neuen Hochrechnungen, wie viele Opfer und was das für Ausmaße hat und dann hieß es irgendwann in der Nacht so ja, Kriegserklärung. Und dann hat es bei mir wirklich aufgehört. Ich hab da noch zu Hause gewohnt bei meinen Eltern. Ich habe Meine Mama geweckt also mit 16. so, ich stand weinend neben dem Bett. Mama, jetzt ist Krieg. Ja also das Merk ich ja jetzt schon, wenn ich allein so diese alte Emotion, also ich kann sie einsortieren jetzt, aber merk ich auch wie die hochkommt, das war richtig übel.
Sprecherin
9/11 ist natürlich eine Extremsituation. Aber im Internet-Zeitalter kann uns jede extreme Nachricht ganz schnell ganz nah kommen.
10 Zusp. Doomscrolling - Reinecke
Nachrichten sind unser Tor zur Welt und gerade negative Ereignisse, die ne gewisse Nähe zu uns aufweisen, die lassen uns nicht kalt. Es ist ja auch gut und richtig, wir sind als als Menschen empathische Wesen und fühlen mit und insofern ist der unmittelbarste Effekt von schlechten Nachrichten, dass sie uns traurig und betrübt machen.
Sprecherin
Welche Folgen Doomscrolling auf lange Sicht auslösen kann, ist bislang nicht eindeutig erforscht. Eines jedenfalls lässt sich klar sagen.
11 Zusp. Doomscrolling - Trepte
Weil Die Effekte sind negativ, also da gibt es einfach keine uneindeutigen Ergebnisse; das ist einfach nicht so gesund, wenn wir exzessiv negative Nachrichten konsumieren. Es gibt sehr spannende Studien, die die Effekte von Doomscrolling nachweisen, und wir sehen negative Zusammenhänge mit dem Wohlbefinden, mit dem psychologischen Wohlbefinden, mit der Lebenszufriedenheit und auch mit der Motivation, ungesunde Verhaltensweisen zu vermeiden. Also bisschen kompliziert ausgedrückt zu sagen, wir sind, wenn wir negative Nachrichten sehr exzessiv konsumieren, weniger geneigt dazu, uns gesund zu verhalten.
Sprecherin
Doomscrolling kann Angst, Depressionen oder Stress auslösen oder verstärken – vor allem dann, wenn Menschen bereites Vorerkrankungen haben, kann exzessiver Konsum von Negativnachrichten Symptome verschlimmern. Und, womöglich macht der Dauerkonsum von Bad News uns auch pessimistischer, lässt uns schlechter über die Menschheit denken.
12 Zusp. Doomscrolling - Trepte
Jetzt müssen wir aber im Hinterkopf behalten, das sind Korrelationsstudien. Wenn wir das noch so n bisschen komplexer machen und auseinanderdividieren, dann kann das bedeuten, dass Menschen, die auch eher weniger zufrieden sind mit ihrem Leben, die eine geringere Lebenszufriedenheit aufweisen, die sich eher ungesünder verhalten, die impulsiver sind, die eher riskant sich verhalten, die eher depressivere Symptome haben und die eher Zukunftsängste haben, auch eher dazu tendieren Doomscrolling zu betreiben. ((Wir können nur sagen, da gibt es Zusammenhänge mit diesem halben Dutzend von Eigenschaften und der Lebensweisen, die ich gerade nannte, und das ist alles nichts Gesundes, das hat man in der langen Liste gerade gehört.)) Und wir wissen aber nicht, was war jetzt zuerst da, dass Menschen sich fürchten, dass sie sich Sorgen machen, gehen sie dann auf die Suche nach diesen negativen Nachrichten oder ist es so, dass diese negativen Nachrichten dazu führen, dass Menschen sich schlechter fühlen? Ganz ehrlich, wenn ich mir die letzten 20 Jahre medienpsychologischer Forschung zu anderen Themen anschaue, dann ist das sehr, sehr wahrscheinlich eine Abwärtsspirale. ((Es ist eine Kombination aus beidem also eins führt zum anderen und es ist dann eine Reziprozität, die in einer Abwärtsspirale mündet.))
Sprecherin:
Wenn Sandra sich im Sog der Negativnachrichten verliert, kann sie oft nicht schlafen – und verzweifelt am Menschen und der Welt.
13 Zusp. Doomscrolling - Sandra
Ich hab gemerkt, dass dieses Unsicherheitsgefühl und auch diese Angst, die da sich immer mehr aufbaut, nicht nur an meiner Kraft und meiner Energie zerrt; das hat mich so in ne richtige Tiefphase auch reingedrückt. Das macht so traurig und man fühlt sich so hilflos und machtlos. Und da, da ist dann der Rest vom Abend da ... da kommt man dann auch wenn man das Handy weglegt, gedanklich auch nicht mehr von weg, da ist so eine grundsätzliche Verzweiflung an dieser Menschheit. Mich machts richtig traurig und da kann ich da auch gar nicht schlafen teilweise, wenn ich nicht wirklich irgendwo schaff, den Punkt zu finden, rauszukommen. Ich kann mich da richtig drin verlieren und ja bin da auch sehr anfällig dann für depressive Verstimmungen und so weiter.
Sprecherin
Sandra hat schon vor Jahren gemerkt, dass ihr zu viele Negativnachrichten nicht guttun – und versucht seitdem ihren Medienkonsum besser zu kontrollieren.
14 Zusp. Doomscrolling - Sandra
Ich hab Push-Nachrichten zum Beispiel eingeschränkt. Was für Medien oder welche Seiten mir da noch was schicken darf. Dass ich jedes Mal, wenn irgendwas so ne Push Mitteilung kommt oder so auf Facebook so ne Mitteilung, Dieses Clickbaiting versuch ich bewusst dann auch wirklich zu sperren. Ist auch so ein “GEH MIR WEG "Ja, also dass ich wirklich selbst entscheiden kann, wann ich welche Informationen möchte und wann nicht. Aber das ist ein Aufwand.
Sprecherin
Diesen Aufwand betreibt nicht nur Sandra. 14 Prozent der erwachsenen Internetnutzer in Deutschland versuchen oft aktiv, Nachrichten zu vermeiden, so die Zahlen des Reuters Digital News Report für 2024. Ganze 69 Prozent gaben an, zumindest gelegentlich Nachrichten zu meiden.
15 Zusp. Doomscrolling - Reinecke
Das zeigt schon, dass gerade in der aktuellen Situation die Nachrichtenlage von vielen als belastend wahrgenommen wird und darauf Menschen auch reagieren, indem sie versuchen, sich in gewisser Weise zu schützen und ein Stück weit aus dieser Negativität auch herauszuziehen.“
Sprecherin
Das Stichwort dazu: „News Fatigue“, Nachrichtenmüdigkeit. Schlechte Nachrichten sind eine Konstante in der Berichterstattung. „Bad News are Good News“, oder „if it bleeds, it leads”– wenn es blutet, wird es die Schlagzeilen anführen; so lauten gängige Sprüche in der Welt der Nachrichtenmacher.
16 Zusp. Doomscrolling - Reinecke
Also Negativität, Konflikt, Verlust, das sind alles Nachrichtenfaktoren, die Ereignisse erst mal interessant machen und dementsprechend auch es wahrscheinlicher machen, dass Ereignisse aufgegriffen werden von der Berichterstattung.
Sprecherin
Dennoch ist in den letzten Jahren etwas anders geworden.
17 Zusp. Doomscrolling - Reinecke
Ich glaube, dass für viele Menschen in Zentral- und in Westeuropa, ein neues Phänomen ist, wie nahe praktisch die Einschläge an zuhause sich anfühlen. Dass es also jetzt in den letzten Jahren viele negative Nachrichtenlagen gibt, die uns viel stärker, als es vielleicht vorher der Fall gewesen ist, persönlich betreffen, persönlich berühren. Wenn wir es mit Nachrichten zu tun haben wie in der Ukraine, Nachbarland von uns oder schlechte Nachrichten in Bezug auf die eigene Wirtschaft im eigenen Land oder Inflation, das sind einfach Dinge, die unser Leben direkt betreffen, die man nicht so leicht beiseiteschieben kann. Und ich glaub, dieses Gefühl der vielen für uns direkt relevanten negativen Nachrichten, das ist schon für viele Menschen in der Massivität neu.
18 Zusp. Doomscrolling - Sandra
Das ist so ne innere Verzweiflung … weil man einfach nichts tun kann. als kleiner Wicht hier am Land, am Dorf mit seinen zwei Kindern. Was kann ich denn tun?
Sprecherin:
Lähmung. Auch das ist eine Folge von Doomscrolling, vom Overload an schlechten Nachrichten. Eigentlich interessieren wir uns für Nachrichten, um zu handeln, um aktiv werden - aber, wenn die Lage unübersichtlich und keine Lösung in Sicht ist, geschieht das Gegenteil: Wir fühlen uns gelähmt, und machtlos.
Sprecherin:
Wie kommen wir aus dieser Negativ-News-Spirale wieder raus? Medienpsychologe Reinecke empfiehlt: Zuerst die Ursache identifizieren. Sind es die schlechten Nachrichten, die mich fertig machen?
19 Zusp. Doomscrolling - Reinecke
Dann ist vielleicht tatsächlich sowas wie ein bewussterer Umgang mit der Auswahl von Nachrichten eine Möglichkeit, in dem ich vielleicht mich bewusst rausnehme aus dem auf dem steten Nachrichtenstrom und sage, ich nehme mir vielleicht nur ein oder zweimal am Tag vor, gezielt mich mit der aktuellen Nachrichtensituation auseinanderzusetzen, vielleicht auch bei Themen, die mich besonders belasten, da nicht so weit reinzufokussieren, und n Stück weit mich aber aus so dieser Dynamik rauszunehmen.
Sprecherin
Oder ist es vor allem die schiere Menge an Nachrichten, News, Notifications, die mich belastet?
20 Zusp. Doomscrolling - Reinecke
Dann macht es sicherlich Sinn, mein Gesamtmediennutzungsverhalten und vielleicht auch meinen Umgang mit dem Smartphone insbesondere zu reflektieren. Zu schauen, was ich in Bezug auf Notifications, auf Benachrichtigungen am Smartphone machen kann, mir quasi bewusst auch offline Zeiten vorzunehmen, wo ich insgesamt weniger erreichbar bin, eben auch für Nachrichten und Notifications, um so ein bisschen dieses Gefühl von digitalem Stress, jenseits der aktuellen Nachrichtenlage ein Stück weit zu reduzieren. ((Weil wir eben heute nicht mehr nur um 20:00 Uhr die Tagesschau einschalten, und diese Menge und Unmittelbarkeit von Informationen, die ist sicherlich ein zweiter Belastungsfaktor, ganz unabhängig vom Inhalt der Nachrichten, von dem sich viele Menschen gestresst fühlen.))
Sprecherin
Aber sind die Konsumentinnen und Konsumenten die einzigen, die in der Verantwortung sind, dem Bad-News-Ungeheuer etwas entgegenzusetzen? Nein, findet sie:
21 Zusp. Doomscrolling - Jodie Jackson
Overvoice weiblich
Ich war an einem Punkt angelangt, an dem mich die Nachrichten so deprimiert haben, dass ich sie nicht mehr sehen konnte. Aber, dass man sich informiert, muss nicht automatisch dazu führen, dass man deprimiert ist. Es gibt Möglichkeiten, wie wir uns mit den Nachrichten auseinandersetzen können und uns stärker, mit der Welt verbundener und handlungsfähiger darin fühlen können.
Sprecherin
Die US-amerikanische Autorin Jodie Jackson findet: Nicht weniger Nachrichten sind die Lösung, sondern ein anderer Nachrichtenfokus ¬– der die positiven Veränderungen mehr in den Blick nimmt.
22 Zusp. Doomscrolling - Jodie Jackson
Overvoice weiblich
In den Nachrichten wird über die schlimmsten Dinge berichtet, die in der Welt gerade passieren, ((wobei Probleme, Konflikte und Gewalt in den Vordergrund gestellt und Geschichten über Fortschritte bei der Lösungsfindung oder Entwicklung ignoriert werden.)) Das führt dazu, dass wir die Welt für gefährlicher und schrecklicher halten, als sie tatsächlich ist. Während wir in Wirklichkeit einige der schnellsten Verbesserungen in unserer Geschichte erreicht haben und weiterhin erreichen. Seit 1945 sind wir global gesehen wohlhabender. Wir haben weniger Menschen, die in extremer Armut leben. Wir haben eine bessere Gesundheit. Wir leben länger. Wir haben eine niedrigere Kindersterblichkeit. ((Und trotz dieser Fortschritte denken viele von uns immer noch, dass sich die Welt deutlich verschlechtert. Weil das nun mal die Geschichte, die uns am häufigsten erzählt wird.))
Sprecherin
Auch die Wissenschaft weiß um die Vorteile guter Nachrichten. Zum Beispiel lasse sich aus positiven Nachrichten besser lernen.
23 Zusp. Doomscrolling - Trepte
Wir haben ganz spannende Studien dazu durchgeführt und haben gefunden, dass Studierende in Deutschland und in den USA, die haben wir verglichen, wenn sie Nachrichten lesen, die positiv über das eigene Heimatland berichten, diese auch deutlich besser sich merken, als wenn das negative Nachrichten sind. Das sind dann häufig Nachrichten gewesen, die etwas mit der eigenen kulturellen Identität zu tun haben. ((Das funktioniert super.))
Sprecherin
Sich ganz von News abzuschotten, das war für Sandra ohnehin nie eine Lösung.
24 Zusp. Doomscrolling - Sandra
Dass ich dann von vielem dann gar nicht mehr wirklich Bescheid weiß. Das ist dann eigentlich auch wieder das, was ich nicht will, ich möchte ja informiert bleiben. Ich find es schon sehr wichtig, dass man ein bisschen auch weiß, so grob, was ist denn so los in der Welt und ich empfinde das auch so als eine kleine Verantwortung, die jeder hat, dass man nicht ganz die Augen zumacht, diesen Mittelweg zu finden: Wie schütze ich mich und wie bleibe ich trotzdem informierter Teil der Gesellschaft?
Sprecherin:
Diesen persönlichen Mittelweg zu finden, das bleibt jedem selbst überlassen. Eines ist jedenfalls klar: Ohne Informationen über die Welt, können wir keine Entscheidungen treffen. Zu viele Information, vor allem in Form schlechter Nachrichten, macht uns aber genauso handlungsunfähig.
Gut verhandelt? Die Frage entscheidet über den persönlichen Kontostand und über die Aussichten einer Nation. Denn verhandelt wird über alles und überall: in Juristerei, Wirtschaft, Politik, auf Flohmärkten und Jobbörsen. Wie gelingt die Verhandlung und wie ändert sich historisch ihr Handwerkszeug? Von Marie Schoeß (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Marie Schoeß
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann
Technik: Matthieu Belohradsky
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Roman Trötschel, Professor für Sozial- und Politische Psychologie an der Fakultät Nachhaltigkeit der Leuphana Universität Lüneburg
Simon Wolf, nach Studium und Promotion in der Rhetorik arbeitet er als Rhetorik-Coach
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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SPRECHERIN
Verhandeln ist mehr als Kopfarbeit: Treten zwei Menschen einander gegenüber – bereit zum Verhandeln –, beginnt ein diffiziles Spiel, das den ganzen Menschen beansprucht. Alles ist jetzt gefragt. Augen, Arme, Mundwinkel, Herz, Puls, Kopf und Zunge: Jeder Nerv, jede Zelle muss mitspielen, alles muss eingestimmt sein auf das, was jetzt folgt. Höchstspannung – sichtbar gerade in den Momenten des Scheiterns. Wenn die Spannung plötzlich abfällt. Im November 2017 zum Beispiel.
SPRECHER
Erinnern Sie sich noch? Deutschland sucht gerade eine neue Regierung, die Sondierungsverhandlungen sind dieses Mal aber deutlich kniffliger als gewohnt. Union, Grüne und FDP wollen es miteinander versuchen und so – in dieser Kombination, auf Landesebene – haben die Beteiligten noch nie zusammengefunden. Ihre Programme liegen in zentralen Fragen auch weit auseinander. Für sie alle – schwarz, grün, gelb – steht also einiges auf dem Spiel. Lassen sich genügend der eigenen Ziele durchsetzen? Gelingt es – allen – das Gesicht zu wahren, weil alle Zugeständnisse in den Fragen machen, die für die jeweils anderen zentral sind? Können so auch lauter faule Kompromisse verhindert werden? All das ist offen, als die FDP plötzlich vor die Presse tritt. Christian Lindner hat seine Parteikolleginnen und Kollegen im Rücken, eine fast schon versteinerte Miene haben sie, als ihr Parteivorsitzender verkündet: Besser nicht regieren, als falsch regieren.
Musik: Prayer wheel (red.) 0‘20
SPRECHERIN
Mit diesem Statement gehen die Verhandlungen erfolglos zu Ende, und den anderen – Verhandlern auf Seiten der Union, der Grünen – stehen die Fragen ins Gesicht geschrieben: Was ist da schiefgelaufen? Was kann man daraus lernen?
01 ZUSPIELER ROMAN TRÖTSCHEL
Es geht in Verhandlungen sehr stark um Reputation, Aufbau von Vertrauen und den Aufbau von Beziehungen, weil ich langfristig davon Vorteile ziehen werde. Und wenn ich fragwürdig kurzfristige Erfolge erziele, indem ich die Gegenseite über den Tisch ziehe, Interessenskonflikte vortäusche oder was auch immer, hat das zwar kurzfristig Erfolg, aber langfristig wird mir das auf die Beine fallen. Es dauert 20 Jahre, mir eine Reputation aufzubauen, aber ich kann sie in fünf Minuten zerstören.
SPRECHERIN
Roman Trötschel ist Experte in Sachen Verhandlungen, er lehrt als Professor für Sozial- und Politische Psychologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Versucht zu verstehen, unter welchen Umständen Verhandlungen glücken und was sie scheitern lässt. Vertrauen, weiß er, ist ein zentraler Punkt für jede Verhandlung.
Musik: Precision on demand 0‘36
SPRECHER
Und der Herbst 2017 bildet da keine Ausnahme. Mehr als ein Mal dringen Informationen nach draußen. Irgendwer spielt sie an die Presse, offenbart sie der Öffentlichkeit – sicher auch, weil es in diesem Moment der eigenen Strategie dient. Vertrauen baut man so aber nicht auf. Auch das plötzliche Wechseln von Strategien und Positionen ist nicht gerade vertrauensbildend. Der Streit um den Familiennachzug ist ein Beispiel dafür. Ein Knackpunkt, die Verhandler beißen sich an dieser Frage fest – insofern wäre ein vertrauensvoller Umgang gerade jetzt wichtig. Das Gegenteil aber passiert: Jürgen Trittin, lange unter den diskretesten Verhandlern, kritisiert die FDP öffentlich dafür, plötzlich einen Schulterschluss mit der CSU zu suchen, heißt: Plötzlich auch darauf zu pochen, den Familiennachzug weiter auszusetzen, was für die Grünen bekanntermaßen ein rotes Tuch ist. Das Interview: zerstört Vertrauen. Der plötzlich gesuchte Schulterschluss, der dem Interview vorausging, ebenfalls.
SPRECHERIN
Das Ende der Verhandlungen, der nicht abgesprochene Abbruch, war letztlich Ausdruck des Vertrauens-Problems innerhalb der Verhandlungen. Die Sondierungsverhandlungen sind aber nur ein Beispiel: Gescheiterte Verhandlungen gehören zum politischen Alltag. Und auch für Vertrauensverluste findet man etliche Beispiele. 2018 etwa, ein anderes Scheitern. Auch das vor aller Augen.
Musik: Facts&data 0‘42
SPRECHER
Donald Trump verlässt den G7-Gipfel vor dem eigentlichen Ende. Erinnern Sie sich noch? An diesen Aufbruch, der nichts ist als: Symbolpolitik, ein Signal, wie groß der US-amerikanische Präsident die eigene Verhandlungsmacht einschätzt, wie gering die seiner Partner? Trump müsste hier nicht weg, der Anschluss-Termin mit dem nordkoreanischen Präsidenten Kim Jong Un ließe ihm Zeit, aber er verlässt die Verhandlungspartner frühzeitig, fliegt – und twittert: Er werde die US-Unterhändler anweisen, „die Abschlusserklärung nicht zu unterstützen“. Gerade hatte man sich auf einen Kompromiss geeinigt – ein großer Wurf war der ohnehin nicht, die großen Streitfragen waren ausgeklammert worden – aber jetzt auch noch das: Das öffentliche, nicht abgesprochene Aufkündigen des Kompromisses.
02 – ZUSPIELER ROMAN TRÖTSCHEL
Es dauert 20 Jahre, mir eine Reputation aufzubauen. Aber ich kann sie in 5 Minuten zerstören.
SPRECHERIN
Verhandeln kann Nervenkrieg sein, das beweisen diese Beispiele – aber sie suggerieren gleichzeitig etwas Falsches: Dass eine Verhandlung Wettbewerb ist. Weiter nichts. Die Wahrheit ist komplexer:
03 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL
Was Verhandlungen auszeichnet, ist, dass das immer Situationen sind, in denen Kooperation und Competition gemeinsam auftreten. Einerseits versuche ich ja als Verhandlungspartei die Interessen der eigenen Seite – also wenn ich eine Gruppe vertrete oder auch meine individuellen Interessen – durchzusetzen gegen den Widerstand der anderen Seite. Aber ich würde ja mit der anderen Seite nicht verhandeln, wenn ich das ganz allein könnte.
SPRECHERIN
Ein klassischer Fehler in Verhandlungen: Sie als Fußballspiel zu verstehen, entweder man gewinnt oder man verliert. Dabei ist die vielleicht wichtigste Einsicht eines Verhandlers, dass die Gegenseite auch Entscheidungsmacht hat, dass die Abhängigkeit wechselseitig ist, dass beide Akteure Teil des Entscheidungsprozesses sind, im besten Fall sogar beide gewinnen. Wer daran zweifelt, kann die Verhandlung eigentlich gleich einstellen.
04 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL
Grundsätzlich können soziale Konflikte auf verschiedene Art und Weise gelöst werden. Entweder durch Agieren und Reagieren – also, dass eine Partei Aktionen ergreift. In Tarifverhandlungen – eine Partei löst einen Streik aus, und die Gegenseite reagiert dann drauf, geht vor Gericht. Oder durch Interagieren. Und Interagieren ist dann Verhandeln.
Musik: Research activity 0‘40
SPRECHER
Noch ein Beispiel: Die „Letzte Generation“ will – genauso wie „Fridays for Future“ – einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen, will der Gesellschaft vor Augen führen, was der Klimawandel für die Jungen bedeutet. Aber während sich „Fridays for Future“ offen zeigt, ihre Positionen zum Gegenstand von Diskussionen und Verhandlungen zu machen, pocht die „Letzte Generation“ immer wieder darauf, dass vieles schlicht „nicht verhandelbar“ sei. Und setzt insofern auch auf eine andere Strategie: auf Aktion statt Interaktion.
05 – ZUSPIELUNG SIMON WOLF
Ja, also von der Definition, da kann man sagen, dass es bei der Verhandlung immer um den Abgleich von konfligierenden Interessen geht. Zwei Personen oder zwei Institutionen haben unterschiedliche Interessen. Das können auch mehr als zwei sein. Und sie haben trotzdem das gemeinsame Interesse, das auf dem Weg der Verhandlung zu klären und nicht auf anderem Wege.
SPRECHERIN
Dr. Simon Wolf arbeitet als Rhetorik-Coach, wobei er Theorie und Praxis der Verhandlung zusammenbringt.
Er ist damit Fachmann für eine Disziplin, an der niemand vorbeikommt: Verhandelt wird überall, in Küchen und Kirchen, in Parlamenten und auf dem Pausenhof. Zu verstehen, was eine Verhandlung ausmacht, wie sie sich gut gestalten lässt, ist also enorm wichtig – für das Leben jedes Einzelnen und die Entwicklung einer Gesellschaft. Und trotzdem gehen es viele falsch an. Simon Wolf kennt das aus der Praxis:
06 – ZUSPIELUNG SIMON WOLF
Häufig gibt es so die Idee von der einen richtigen Formulierung, und da muss man schon von der Gesprächsführung her und erst recht von der Verhandlungsführung her sagen: Das eine richtige goldene Wort gibt es nicht, sondern im Gegenteil es geht um Verhaltensweisen, und es geht um Mindset. Also von der einen goldenen Formulierung, von dem einen goldenen Wort muss man sich leider ein Stück weit lösen.
Musik: New beginning 0‘19
SPRECHERIN
Aufs Mindset, also auf die Haltung und Einstellung bei der Verhandlung, pocht auch Roman Trötschel. Es hält flexibel, sagt er. Und dass ein Mindset keine Wertvorstellung sei, nichts Starres, Unverhandelbares. Eher schon eine Brille.
07 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL
Und wie so eine Brille, die ich auf- und absetzen kann, wirken auch Mindsets, die sind nämlich sehr flexibel. Und ich brauche Flexibilität in Verhandlungen. Und jetzt gibt es kein universelles Mindset, das mir grundsätzlich hilft, in Verhandlungen voranzukommen. Vielleicht schon das grundsätzliche Verständnis, dass Verhandlungen eben immer Kooperation und Competition sind, also beides. Das muss Bestandteil des Mindsets sein. Aber zusätzlich kann ich mir in Abhängigkeit von meinen Fähigkeiten und Fertigkeiten bestimmte Grundprinzipien geben.
SPRECHERIN
Wer ein großes Harmoniebedürfnis in sich trägt, setzt besser erstmal die Brille „Hartnäckigkeit“ auf, damit er nicht zu schnell um des Friedens willen einknickt. Darf sie aber auch wieder absetzen, wenn die wichtigsten Elemente besprochen sind. Eine Varianz an Brillen – Grundprinzipien in der Verhandlung – helfen ohnehin am besten weiter. „Neugier“ ist eines davon. Und „Kreativität“.
08 – ZUSPIELUNG SIMON WOLF
Für die Vorbereitung auf eine Verhandlungsstrategie ist es in der Praxis ganz wichtig zu sehen: Was sind meine Interessen? Nicht nur meine Positionen.
SPRECHERIN
Bedeutet: Nicht nur zu wissen, was ich will, sondern warum ich das will. Das erhöht die Flexibilität und ist Moment für Kreativität.
Musik: Corporate questions more red 0‘42
SPRECHER
Konkretes Beispiel: Wenn ich ins Gespräch mit meinem Chef gehe und mehr Gehalt fordere, kann ich schnell scheitern. An Vergütungsgruppen zum Beispiel, die in einer Firma klar geregelt sind und an denen wirklich niemand vorbeikommt. Wenn ich aber weiß: Ich will mehr Gehalt, weil ich Geld für ein Lastenrad zurücklegen will, kann ich womöglich von der Firma ein Rad gestellt bekommen. Oder eine Karte für die Öffentlichen Verkehrsmittel, fürs Fitness-Studio, irgendwas, das mir anderweitig Geld spart. In ganz vielen Situationen lässt sich das Bedürfnis befriedigen, nur nicht immer auf dem einen naheliegenden Weg. Deshalb die Frage nach dem Warum.
09 – ZUSPIELUNG SIMON WOLF
Letzten Endes steigern wir dadurch unsere Verhandlungsmacht, weil wir mehr Möglichkeiten auf den Tisch bekommen.
SPRECHERIN
Ist Kreativität gerade während der Verhandlung entscheidend – dann, wenn es wirklich ums Suchen und Finden eines Kompromisses geht –, braucht es die Neugier schon viel früher:
10 – ZUSPIELER ROMAN TRÖTSCHEL
Ich muss tatsächlich wie ein Detektiv vorgehen und verstehen: Was ist denn eigentlich mit der anderen Seite los in dieser Verhandlung? Was will die denn eigentlich? Die Gegenseite vertritt Positionen. Aber hinter den Positionen der Gegenseite steckt Psychologie – nämlich Motive, Wertvorstellungen, Denkmuster. Und das muss ich aufdecken und muss neugierig sein. Eigentlich bedeutet Neugier Informationssuche – und zwar so viel wie möglich.
Musik: Creative workshop red 0‘42
SPRECHERIN
„Hinter den Positionen steckt Psychologie“, sagt Roman Trötschel. Und in dieser Aussage steckt wiederum eine ziemlich wichtige Einsicht für die Kunst der Verhandlung: Eine Verhandlung ist mehr als ein Austausch von Argumenten, mehr als ein Spiel, das allein mit dem Verstand zu gewinnen ist. Eine Verhandlung hat rationale, aber auch emotionale, fast schon körperliche Anteile. Die Vorbereitung muss insofern auch den ganzen Menschen einbeziehen: die Argumente und Emotionen der anderen Seite. Und meine eigenen.
11 – ZUSPIELER SIMON WOLF
Schon Aristoteles sagt uns, ein emotional erregter Gesprächspartner kann sich nicht mehr so gut konzentrieren. Und das heißt, die emotionale Vorbereitung gehört immer auch zu Verhandlungs-Vorbereitung dazu. Damit geht typischerweise die Körpersprache Hand in Hand. Wenn ich emotional aufgeräumt und entspannt bin, dann kann ich meine Körpersprache auch besser einsetzen. Wenn ich sowieso schon auf 180 bin, dann machen die Mundwinkel und dann macht die Zornesfalte auf der Stirn, was sie will. Und dann wird ein Gesprächspartner ein viel leichteres Spiel haben, weil ich meine Körpersprache nicht so gut kontrolliere und dann meine Emotionalität ein Stück weit besser zu lesen und zu sehen ist.
SPRECHERIN
Die Emotionalität des anderen einfach auszunutzen, wenn sie sich denn zeigt, ist trotzdem keine gute Idee. Stichwort: Aufrichtigkeit, Vertrauen. Beides ist immens wichtig – gerade, wenn Verhandlungen Zeit brauchen oder gar kein Ende kennen. Die G7: tagen nicht bloß ein Mal. FDP und Grüne haben sich bei den Jamaika-Verhandlungen 2017 nicht zum letzten Mal an den Verhandlungstisch gesetzt. Und die Verhandlung zu Hause, um die gerechte Aufteilung der Care-Arbeit zum Beispiel, ist auch erst abgeschlossen, wenn das Kind das Haus verlassen hat. Kurzfristige Verhandlungserfolge, die auf Kosten des Vertrauens gehen, helfen da kaum weiter. Weder am Küchentisch und noch bei Klimaverhandlungen.
Musik: Chemical transformation 0‘50
SPRECHERIN
Und für letztere braucht es mehr als ein Bewusstsein, welches Mindset hilfreich ist. Roman Trötschel hat sich auf solche Verhandlungen spezialisiert. Transformationsverhandlungen nennt er sie. Im Grunde fallen darunter alle Verhandlungen, die einen gesellschaftlichen Wandel einleiten wollen und dabei nachhaltige Lösungen anstreben. Einfach ist das nie. Aus mehreren Gründen: Weil viele verschiedene Interessen aufeinanderstoßen. Weil der Verhandlungsgegenstand nie bloß die Gegenwart betrifft, sondern immer auch die Zukunft. Und weil jede Entscheidung Folgen für verschiedenste Bereiche hat: fürs Soziale, Wirtschaftliche, Ökologische. Die UN-Klimakonferenz in Paris ist ein gutes Beispiel dafür – gut nicht nur wegen der Vielzahl an Interessen, der Vielzahl an Fragen und Folgen, sondern vor allem, weil hier wirklich mal eine Verhandlung geglückt ist.
SPRECHER
Kleiner Sprung zurück, ins Jahr: 2015. Am 30. November beginnen die Klima-Verhandlungen in Paris, bis zum 11. Dezember sind sie angesetzt, aber spontan werden sie um einen Tag verlängert, es ist eben enorm kompliziert. Am Ende steht ein Klimaabkommen, völkerrechtlich bindend für alle Staaten der Welt, das bis heute Wirkung hat. Hier wird das Ziel gesteckt, die globale Erwärmung deutlich unter 2 °C zu halten, möglichst bei 1,5 °C. Und diese Zahl, 1,5 °C, ist bis heute Richtwert, wenn die Frage aufkommt: Tun wir genug, tun wir zu wenig in Sachen Klimawandel?
12 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL
Das war ein großer, großer Durchbruch, weil diese Verhandlung Orientierung gibt. Es wird ein Bezugspunkt festgelegt, dem viele Parteien und viele Nationen zugestimmt haben, dem sich viele Verhandlungsparteien verpflichtet haben und damit auch die entsprechenden Staaten. Diese Verhandlung ist insofern gelungen, als dass – im Gegensatz zu vorherigen Verhandlungen – nicht beispielsweise die ökonomische Ergebnisdimension die Bezugsgröße ist, sondern tatsächlich die ökologische Ergebnisdimension.
Musik: Feeling good 0‘37
SPRECHERIN
Hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Was ist da wirklich geglückt und warum? Die Verhandlung ist gelungen, das sagt Roman Trötschel, weil die ökologische und nicht die ökonomische Dimension die Bezugsgröße ist. Konkret heißt das doch: Diese Verhandlung hat einem ökologischen Ziel den Vorrang gegeben. Selbst wenn die wirtschaftlichen oder sozialen Konsequenzen dieser Vereinbarung problematisch sein sollten, das 1,5 Grad Ziel gilt – langfristig gesehen – als entscheidender. Die langfristige Perspektive hat damit Sorgen ums Hier und Jetzt geschlagen. Und das ist – aus psychologischer Sicht – alles andere als selbstverständlich.
13 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL
Beispielsweise gibt es so eine grundsätzliche Tendenz von Menschen, zukünftige Konsequenzen weniger stark zu gewichten als unmittelbare kurzfristige Konsequenzen. Auch haben Menschen Schwierigkeiten mit Belohnungsaufschub, dass sie erst in Zukunft für bestimmte Handlungen belohnt werden. Oder Menschen haben große Schwierigkeiten, mit Unsicherheit umzugehen, mit Risiko umzugehen.
SPRECHERIN
Hier ist er wieder, der ganze Mensch, der eine Verhandlung ausmacht.
Musik: Simple but complex behaviour (c) 0‘25
Und der bringt noch ein Problem für solche komplexen politischen Verhandlungen mit, die über unsere Zukunft entscheiden: Es fällt ihm nicht leicht, die verschiedenen Dimensionen gegeneinander abzuwägen. Wenn man an das Abkommen von Paris denkt, spielen ja ganz verschiedene Aspekte mit rein: politische, soziale, wirtschaftliche, ökologische. Wie gewichtet man die? Eine einfache Rechnung lässt sich da kaum anstellen – was in der Praxis regelmäßig dazu führt, dass kurzfristige Ziele gewinnen oder ökonomische Überlegungen ökologische ausstechen:
14 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL
Aber es gibt auch Erkenntnisse dazu, wie man dem begegnen kann. Beispielsweise, dass man Repräsentanten an den Verhandlungstisch holt, die tatsächlich ausschließlich die Aufgabe haben, Aspekte wie zum Beispiel ökologische Auswirkungen mit auf den Verhandlungstisch zu bringen. Dass Modellierer mit einbezogen werden oder die Erkenntnisse von Modellierern, die zeigen, was es für Szenarien für die Zukunft gibt.
SPRECHERIN
Klingt kompliziert, aber ein Beispiel dafür haben wir alle miterlebt: die Corona-Krise.
Musik: Political efforts red 0‘45
SPRECHER
Plötzlich stehen sich etliche Bedürfnisse gegenüber. Da sind die Kinder, die nicht mehr auf Spielplätze dürfen. Isoliert, allein mit überforderten Eltern – von heute auf morgen. Da sind die Risikogruppen, die um ihre besondere Verletzlichkeit besorgt sind, die hoffen, bitten, dass Schulen, Kitas, Kindergärten geschlossen bleiben, damit sich das Virus dort nicht zu schnell verbreitet. Da ist die Industrie, die über die enormen wirtschaftlichen Schäden spricht, wenn man das Land stillstellt. Und die Ärztinnen und Pfleger, die Sorge haben, wie sich die Lage entwickelt, wenn man das Land nicht stillstellt. Und zwischen ihnen allen: die Politiker, die in Verhandlungen entscheiden sollen, welche Bedenken schwerer wiegen.
SPRECHERIN
Ein Drahtseilakt. Aber verhandelt wurde in der Corona-Krise, wie Roman Trötschel es vorgeschlagen hat: Die Stimmen, die keine Entscheidungsmacht hatten, hatten dennoch Gewicht. Die Politik hat sie mit an den Tisch geholt: die Forschung, die Wirtschaft, die Pädagogen. Sie waren nicht stimmberechtigt, die Entscheidungen trafen die Politiker, aber sie waren oft Teil der Verhandlungen, Stimmen, die dafür sorgen sollten, dass alle Dimensionen verstanden und mit einbezogen wurden. Wenngleich man ihnen nicht immer gefolgt ist.
Musik: Undercover investigations red 0‘19
Denn: Wie eine Verhandlung ausgeht, liegt immer auch daran, wie dringlich die Situation erscheint: Dass etwas wichtig ist, sagt Roman Trötschel, reicht in Verhandlungen nicht aus.
15 – ZUSPIELUNG Roman Trötschel
Es muss mit Bildern untermauerbar sein. Auch hier wieder das Beispiel mit der Corona-Pandemie – die Bilder aus Italien, die haben die Herausforderung, die Dringlichkeit greifbar gemacht. Dasselbe gilt für die Katastrophe im Ahrtal. Auch das hat die Dringlichkeit greifbar gemacht und Dringlichkeit wird auch dadurch unmittelbar erlebt, dass es näher an einen heranrückt.
SPRECHERIN
Damit könnte also die Vorbereitung jeder Verhandlung anfangen. Alle Augen auf die Gegenseite: Was würde sie überzeugen, dass das eigene Anliegen nicht bloß wichtig, sondern dringlich ist? Ist jetzt der richtige Moment, die Verhandlung zu beginnen? Oder warte ich auf den Augenblick, der die Dringlichkeit unmittelbar belegt? So also könnte die Verhandlungsvorbereitung beginnen – mit einem neugierigen Blick.
Musik: Still waiting 0‘34
SPRECHER:
Und dann treten sie alle auf, der Kreative, der Hartnäckige, der Sachliche, der Aufrichtige - alle flexibel einsetzbar, aber eben keine Schachfiguren, sondern Haltungen eines Menschen. Und sie treffen zusammen mit all den Haltungen der anderen Menschen, der Verhandlungspartner. Kein Wunder, dass sich der Ausgang einer Verhandlung nur selten voraussagen lässt.
Papier statt Plastik - ein Slogan der aktuellen Klimadebatte. Vom Briefbogen über den Geldschein bis zum Taschentuch begleitet Papier unseren Alltag. Sogar wohnen könnten wir bald in Papier. Doch die Herstellung des recyclierbaren Werkstoffs ist enorm energieintensiv. Von Inga Pflug
Credits
Autorin dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Martin Trauner
Es sprach: Hemma Michel
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Anne Kleinknecht
Im Interview:
Johannes Follmer, Papiermühle Homburg, Papiermacher
Sonja Neumann, Deutsches Museum München
Helga Zollner-Croll, Hochschule München
Samuel Schabel, TU Darmstadt
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
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Es gilt als eine der bedeutendensten Erfindung in der Menschheits-geschichte - das Rad. Als Transportmittel öffnete es den Handel zwischen Kulturen, als Streitwagen führte es zur Bildung von mächtigen Großreichen, als Idee führte es zu Zahnrädern und Uhren und langfristig zur globalen Mobilität. Lange Zeit ging man davon aus, dass die Welt im altorientalischen Mesopotamien ins Rollen kam. Heute gilt die alteuropäische Tipolye-Kultur auf dem Gebiet der heutigen Ukraine vor 6.000 Jahren als wahrscheinlicher Ursprungsort des Fahrens. Autor: Geseko von Lüpke
Credits
Autor dieser Folge: Geseko v. Lüpke
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Andreas Neumann, Benjamin Stedler
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Stefan Burmeister, Archäologe, Frühgeschichtler;
Asko Parpola, Finnischer Paläo-Linguist und Historiker;
Elke Kaiser, Prof. für Frühgeschichte an der FU Berlin;
Harald Haarmann, Linguist, Historiker, Autor
Carola Metzner-Nebelsick, Historikerin, LMU München;
Norbert Oberschmidt, Rad-Entwickler, Autor
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Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion:
Das Tagebuch der jungen Undercover-Journalistin Paula Schlier gibt uns heute, 100 Jahre später, einen seltenen Einblick in die Anfänge des Nationalsozialismus in München. Aber wer war diese Frau, was hat sie motiviert, war sie überhaupt eine Heldin? Die BR-Reporterin Paula Lochte begibt sich auf Spurensuche.
Paula sucht Paula | Folge 1/3 | Alles Geschichte - History von radioWissen
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Literaturtipps:
Burmeister, Stefan: Der Mensch lernt fahren – zur Frühgeschichte des Wagens, Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (MAGW), Band 142, 2012, S. 81-100
Burmeister Stefan: Die drei großen W: Waren – Wagen – Wege. Überlegungen zum Überlandverkehr in prähistorischer Zeit, mit besonderem Blick auf Nordwestdeutschland, aus: Bartelheim, Martin( Hrsg.): RessourcenKulturen, Band 8, Tübingen University Press
Haarmann, Harald: Die Erfindung des Rades. Als die Weltgeschichte ins Rollen kam. Beck-Verlag, München 2023
Kaiser, Elke: Die frühen Räderfahrzeuge im nordpontischen Raum. Die archäologische Überlieferung und das protoindoeuropäische Wagenvokabular. Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 43, 2022, 13–25
Kaiser, Elke: Räderfahrzeuge in der frühen Bronzezeit Osteuropas. In: B. Nessel, D. Neumann, M. Bartelheim (Hrsg.), Bronzezeitlicher Transport. Akteure, Mittel und Wege. Ressourcenkultur 8 (Tübingen 2018) 139–165.
Metzner-Nebelsick, Carola: Charriots and Horses in the Carpathian Lands during the Bronze Age, Published in: B. Baragli, A. Dietz, Zs. J. Földi, P. Heindl, P. Lohmann and S. P. Schlüter (eds.), Distant Worlds and Beyond. Distant Worlds Journal Special Issue 3, Heidelberg, Propylaeum 2021, 111–131. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.886.c11954
Parpola, Asko: Proto-Indo-European Speakers of the Late Tripolye Culture as the Inventors of Wheeled Vehicles: Linguistic and archaeological considerations of the PIE homeland problem. Pp. 1-59 in: Karlene Jones-Bley (eds.), Proceedings of the Nineteenth Annual UCLA Indo-European Conference, November 2-3, 2007. (Journal of Indo-European Studies Monograph 54.) Washington, D.C.: Institute for the Study of Man, 2008
Oberschmidt, Norbert: Das Rad. Eine bewegte Geschichte; ifu-verlag für regionalkultur, Heidelberg 2015
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SPRECHER
Lang, lang, ist‘s her. Ungefähr zu jener Zeit, als der ‚Mann vom Tisenjock‘, ein dunkelhäutiger jungsteinzeitlicher Wanderer mit dem modernen Namen ‚Ötzi‘ die Alpen überqueren wollte; und 3.356 Jahre vor unserer Zeitrechnung von einem Pfeil getroffen in eine Gletscherspalte stürzte. Runde 5.380 Jahre. Der glatzköpfige Mann, der weit nach seiner Zeit als ‚Mumie von Similaun‘ weltberühmt werden sollte, mag das Geräusch schon gekannt haben: Das Knarzen der sich drehenden Holzräder, das harte Rumpeln der archaischen Achsen, die sich ächzend reibenden Holzbohlen des klobigen vierrädrigen Wagens.
Musik 2
Titel 08 - Album: The Garden of Mirrors - Komponist und Ausführender:
Stephan Micus - Länge 0'41
SPRECHERIN
Und der Eindruck wird sich tief in sein steinzeitliches Bewusstsein eingeprägt haben. Denn die Erfindung von Rad und Wagen – das wissen wir heute – war eine höchst ungewöhnliche und bis heute täglich wirksame Erfindung. In dem Zeitalter, das wir gewöhnlich die ‚Graue Vorzeit‘ nennen – dem Neolithikum oder der Jungsteinzeit, in dem sich der Übergang von Jäger- und Sammlerkulturen zu Hirten- und Bauernkulturen vollzog. Über Jahrzehntausende war der Mensch zu Fuß gelaufen. Und plötzlich begann er zu fahren! Der Archäologe Stefan Burmeister versucht sich auszumalen, wie groß damals das Staunen gewesen sein mag.
ZUSPIELUNG Wort 1 (Stefan Burmeister)
Man muss sich vorstellen, wie der Mensch sich bis dahin selbst fortbewegt hat. Also eben immer nur auf seinen eigenen Füßen. Mit dem Wagen taucht plötzlich eine ganz andere Art von Fortbewegung auf. Man sitzt oder steht über den Dingen und schwebt, auch wenn es vielleicht ein bisschen ruckelig ist. Aber man gleitet ja im Grunde so dahin und muss sich selbst nicht mehr bewegen. Das ist natürlich eine ganz andere Form der Automobilität, die ja schon eher sowas von ‚Erscheinen‘ hat, als von Gehen oder sich fortbewegen.
ZUSPIELUNG Atmo 2 Mischung: (Hupen eines Oldtimers, Stampfen einer Dampf-Lokomotive, Quietschende Reifen eines Sportwagens)
SPRECHER
‚Auto-Mobilität‘ – wer sich das Wort auf der Zunge zergehen lässt, erahnt die Jahrtausende der Kulturentwicklung, die von den rustikalen Konstruktionen der Jungsteinzeit, über elegante Streitwägen der Ägypter und Griechen, herrschaftlich kaiserliche Prunkkarossen, Planwägen im Wilden Westen, verspielte Hochzeitskutschen, erste Automobile, mächtige Lokomotiven bis hin zum hochgezüchteten Formel-Eins-Rennwagen reichen. Erfindungen, die die Welt zum Dorf machten, den globalen Handel begründeten, Geschwindigkeit und Zeitmessung nach sich zogen – und zu dem führten, was heute als privater PKW oder mächtiger 40-Tonner unseren Alltag im 21. Jahrhundert prägt. Doch wie begann das alles? Wo und wann kam die Weltgeschichte ins Rollen?
Musik 3
Titel: "Jd021" - Album: Derrida - Komponist und Ausführender: Ryuichi Sakamoto - Länge: 0'50
SPRECHERIN
Der Blick zum Himmel – zum Rund von Sonne und Mond – hatte den Menschen wohl schon immer gezeigt, dass es mit den über den Himmel ziehenden Kreisen etwas Besonderes auf sich hatte. Auch als mythisches Symbol für den Lauf der Jahreszeiten war der Kreis schon lange ein Begriff, nicht jedoch als bewegliches Rund. Lange Zeit gingen die Historiker davon aus, dass die Idee zum Rad zum ersten Mal in den legendären Reichen im Urstromland aufblitzte, die als Wiege der Zivilisationen galten. Denn im sumerischen ‚Uruk‘ auf dem Gebiet des heutigen Irak hatte man im Grab eines Königs alte Schrifttafeln gefunden, deren Zeichen und Piktogramme bereits 3.400 vor Christus vierrädrige Wagen zeigten – also stolze 5.400 Jahre alt sind. Doch der finnische Paläo-Linguist und Historiker Asko Parpola vermutet einen noch älteren und ganz anderen Ursprungsort des Rades:
ZUSPIELUNG Wort 2 (Asko Parpola /männl. Overvoice)
It has been an accepted theory for a long time that the Sumerians invented wheeled Lange Zeit galten die Sumerer als Erfinder von Rad und Wagen rund 3.400 vor Christus. Aber in den letzten zwei Jahrzehnten hat man in Europa mehr und mehr Funde gemacht, die aus ungefähr der gleichen Zeit stammen. Deshalb wird die ‚sumerische Theorie‘ heute in Frage gestellt. Ich glaube, dass Rad und Wagen im Gebiet der zentralen Ukraine erfunden wurden, nahe der heutigen Stadt Kiew, rund 3.600 Jahre vor Christus oder etwa zu der Zeit. …. in that time scale.
Musik 4
Titel 08 - Album: The Garden of Mirrors - Komponist und Ausführender:
Stephan Micus - Länge 0'46
SPRECHER
Denn in Ost-Europa hat die Archäologie erstaunliches zu Tage befördert: Spuren sogenannter ‚Mega-Sites‘ – riesiger stadtähnlicher Strukturen mit zigtausend Einwohnern, Tausenden von Häusern und Werkstätten schon aus dem fünften vorchristlichen Jahrtausend: Jungsteinzeitliche Großstädte der sogenannten ‚Tripolye-Kultur‘, in denen wunderschön verzierte Terrakotta-Vasen gefunden wurden, für die schon das Töpferrad erfunden worden sein musste - bei der das erste Mal das Prinzip der Drehung angewendet wurde. Zeugnisse einer noch umstrittenen ‚alt-europäischen Hochkultur‘, in denen man zwar noch keine Wägen, aber entsprechende tönerne Spielzeuge gefunden hat, erzählt Elke Kaiser, Professorin für Archäologie an der Freien Universität Berlin:
ZUSPIELUNG Wort 3 (Elke Kaiser, 0:40)
Und dort haben wir schon Mitte des vierten Jahrtausends vor Christi Geburt Hinweise in Form von so kleinen Tierchen aus Ton, die durchlochte Beine haben. In der Nähe sind dann auch Ton-Räder gefunden worden. Und man nimmt an eben, dass in diesen horizontal durchlochten Beinen dieser Tierfiguren dann wahrscheinlich ein Hölzchen gesteckt hat, quasi wie eine Achse und auf beiden Seiten dann Räder befestigt waren. Das sind keine richtigen Wagen, aber spielzeug-ähnliche Figuren, die von den Menschen damals irgendwie bei irgendwelchen Ritualen benutzt worden sind.
SPRECHERIN
Spielzeuge, die natürlich darauf schließen lassen, dass solche Dinge schon im praktischen Gebrauch waren, bevor Kinder damit symbolisch hantierten. Richtige Räder und Wägen fand man aber nicht. Solche großen archäologischen Fundstücke gibt es erst aus osteuropäischen Gräbern, die ein paar Hundert Jahre später datieren, rund 3.100 vor Christus. Und jüngste Ausgrabungen haben aus etwa der gleichen Zeit Rad- und Spurenfunde aus ganz verschiedenen Regionen und Kulturen von der Nordsee bis zum Hindukush zu Tage gebracht.
Musik 5
"Part 1 - Resonating Stone, Shakuhachi" - Album: Music Of Stones - Komponist und Ausführender: Stephan Micus - Länge: 1`18
SPRECHER
So fanden sich in Norddeutschland 3.450 Jahre alte Räderspuren aus der bäuerlichen ‚Trichterbecher‘-Kultur, an Schweizer Bergseen zerbrochene Vollholz-Räder, deren Gebrauch der ‚Ötzi‘ erlebt haben mag, etwas später ganze Holzwägen als Grabbeilagen im Ural und am Schwarzen Meer, sowie Wagenreste am Persischen Golf und im Gebiet des heutigen Pakistan. Archäologen standen vor einem Rätsel, wieso scheinbar fast gleichzeitig an so weit voneinander entfernten Orten in völlig unterschiedlichen Kulturen die gleiche Innovation auftauchte. Waren es gleichzeitige Entdeckungen, waren es frühe Handelskontakte, oder gab es Ideenexport durch wandernde Handwerker? Wie in einem Puzzle versuchen heute die Altertums-Forscher den Ort und die Verbreitung der Erfindung zu rekonstruieren. Theorien gibt es so manche, Beweise wenige.
Musik 6
Titel 08 - Album: The Garden of Mirrors - Komponist und Ausführender:
Stephan Micus - Länge 0'33
SPRECHERIN
Doch so manches spricht dafür, dass tatsächlich im Zusammentreffen der mehr als 6.000 Jahre alten und handwerklich wohl hochentwickelten ukrainischen Tripolye-Kultur und migrierenden Steppen-Nomaden aus dem Osten sich der kreative Impuls formte, mit dem Wagen etwas ganz Neues zu probieren. Denn dafür bestand vielerlei Bedarf: In den frühen osteuropäischen Städten für den Transport von Getreide und Material, bei den Steppen-Nomaden und Viehhirten für Handelsgüter und Material-Transport. Der Linguist und Historiker Harald Haarmann ist aber davon überzeugt, dass es eine Kultur des Friedens und der Kooperation brauchte, um eine so weltverändernde Innovation erst möglich zu machen.
ZUSPIELUNG Wort 4 (Harald Haarmann)
In Europa sind die Funde deutlich älter. Das Töpfer-Rad ist erfunden worden vor Rad und Wagen. Also die primäre, die Verwirklichung der Idee des Rades für praktische Zwecke hängt zusammen mit der Arbeit in der Töpfer-Werkstatt und das war das Töpferrad. Und dann sekundär kam man natürlich schnell drauf nachzudenken, wie man das umsetzen kann für Transportmöglichkeiten. Das technische Know How und die Möglichkeiten, da weiterzukommen, die lagen bei den Alt-Europäern. Die ‚Tripolya-Kultur‘ oder ‚Tripoli‘, wie man sie Russisch auch nennt, war der östliche Ausläufer dieses Komplexes Alt-Europas oder der ‚Donau Zivilisation‘. Und diese Großstädte waren für die Hirten-Nomaden weiter im Osten interessant, denn mit diesen Leuten standen sie in regen Handelsbeziehungen. Rad und Wagen sind erfunden worden, so wie ich das sehe, in friedlicher Kooperation: In interkultureller Kooperation unter Einbringung von Ressourcen und Know-How von beiden Seiten - da konnte es gelingen, so eine wichtige Erfindung zu machen.
SPRECHERIN
Von der wohl matriarchalen und sehr egalitären - Donau-Kultur wird angenommen, dass sie 6 bis 4.000 vor Christus gut zwei Jahrtausende ohne Krieg und soziale Hierachien auskam – perfekte Voraussetzung für Kreativität und neue Ideen, glaubt Harald Haarmann. Zur Erfindung des Rades kam es, als die kreativen Siedler auf Nomaden stießen, die Hartholz als Ressource mitbrachten. Er ist überzeugt, dass die bahnbrechende Erfindung sich von dort durch wandernde Handwerker und Händler schnell in alle Richtungen verbreitete. Vielleicht nicht mit den klobigen, ohne bewegliche Vorderachse auf Wanderpfaden kaum lenkbaren Wägen. Dafür waren die ersten leicht brechbaren Vollholz-Räder nicht geschaffen. Aber zu Fuß als wandernde Handwerker und Ideenträger der Rad-Erfindung. Und so mag es kaum 100 oder 200 Jahre gedauert haben, bis die Idee des Wagens bis nach Sibirien und Mesopotamien, nach Persien, Pakistan und China reichte.
Musik 7
Titel o3 - Album: The Garden of Mirrors - Komponist und Ausführender:
Stephan Micus - Länge: 1'02
SPRECHER
Vor Ort mögen die einfachen Kastenwägen vielerlei Funktionen erfüllt haben: Als lokales Transportmittel für Laubheu und Ernten, als Planwagen für Nomaden und Viehzüchter, als sakrales und rituelles Symbol – viel später auch als Kriegsgerät. Vielleicht auch mal als archaischer LKW für den Handel mit begehrten Metallen in der beginnenden Kupferzeit. Aber immer wieder zunächst auch als Prestige-Objekt und Prunkwagen mächtiger lokaler Herrscher oder reicher Händler. Denn das Fahrzeug als Statussymbol ist keine neue Idee. Der Mythos der Mobilität reichte sogar über das Leben hinaus. Bedeutende Persönlichkeiten wurden ab 3.100 vor unserer Zeitrechnung mit ganzen Wägen begraben. Das war, als wenn man heute seinen Porsche mit ins Grab nähme, bemerkt lächelnd der finnische Historiker und Linguist Asko Perpola.
ZUSPIELUNG Wort 5 (Asko Perpola, // engl. mit männl. OV)
Usually the graves exhibit the status of the dead person. So if he was a Das Grab spiegelte den Status des Toten. War er ein mächtiger Mann, wurde er reich begraben. Und da das Gefährt ein Zeichen von Macht und Wohlstand war, kam es mit ins Grab. Und dazu kam die symbolische Bedeutung. Besonders 1000 Jahre später, als der Streitwagen erfunden wurde. Da mag man sich vorgestellt haben, dass der Tote vielleicht auf dem Wagen zu den Himmels-Göttern fuhr. Dann hätte er ihn für die Reise in die Anderswelt schon mal dabei! …. he would have it.
SPRECHERIN
Weil außer den Grabfunden und vereinzelten zerbrochenen Rädern wenig der meist hölzernen Gefährte der heutigen Archäologie erhalten blieben, sind die materiellen Belege für die erste Erfindung des Wagens und seine folgende Verbreitung nur dünn gesät. In der Erforschung der frühen Vergangenheit etablierte sich aber eine ganz eigene Richtung – die historische Paläo-Linguistik. Sie untersucht die Wortstämme von Sprachen und kann so ermitteln, wie sich Begriffe und Worte in früheren Zeiten verbreitet haben.
SPRECHER
Weil die Erfinder eines Gegenstands ihm oft auch einen Namen geben, und dieser Begriff in der Regel von Nachahmern übernommen wird, kann man an der Verwendung des Ursprungs-Wortes oft erkennen, wo der Gegenstand originär herstammt. In vielen Kulturen werden bis heute indo-europäische Worte für Wägen und ihre Bauteile benutzt. Diese entstammen einer Sprache, die sich vor 5.000 Jahren in der HEUTIGEN Ukraine durchsetzte, als die indo-europäischen Normaden mit den friedlichen alt-europäischen Kulturen kooperierten. Für den Linguisten Harald Haarmann ein weiterer Beleg, wo der Wagen ursprünglich herkam. Und der Sprach-Archäologe zeigt an einem skurrilen Beispiel, dass sich über die linguistische Spurensuche sogar Erkenntnisse über die ursprünglich ausschließlich friedliche Nutzung der frühen Gefährte gewinnen lassen.
ZUSPIELUNG Wort 6 (Harald Haarmann)
Der Wortschatz für den Wagenbau, der hat sich auch im Alt-Europäischen entwickelt, da sind Lehnwörter im Altgriechischen erhalten. ‚Satty Mai‘ ist der Ausdruck für einen zweirädrigen Wagen speziell für Frauen. Mit dem Wagen wurde die Braut zum Ort der Hochzeit gefahren: Friedlicher kann man es nicht kaum vorstellen. Und die Griechen in der Antike haben das dann auch aufgegriffen: Die Hochzeits-Kutsche! Die Idee ist uralt und die Erfindung ist uralt. Also mindestens seit über 5000 Jahren gibt es eine Hochzeits-Kutsche.
SPRECHERIN
Tatsächlich scheinen in den frühen Kulturen der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit die einfachen, schwer lenkbaren Kastenwägen den Ansprüchen lange genügt zu haben. Ständige kleine Innovationen, wie die Erfindung des Speichenrads, machten die großen vierrädrigen doppelachsigen Wägen immer stabiler und belastbarer. Doch es sollte noch weitere 1.000 Jahre dauern, bis – wohl ebenfalls fast zeitgleich in Ost-Europa, in den Steppenkulturen am Ural und in Mesopotamien – nach der Domestizierung des Pferdes der beweglich, lenkbare und für damals unglaublich schnelle zweirädrige Streitwagen erfunden wurde. Dann hatte es mit der friedlichen Nutzung der Erfindung bald ein Ende.
Musik 8
"The Blinding Sun" - Album: Babel - Komponist: Gustavo Santaolalla - Länge: 0'58
SPRECHER
Der Streitwagen sollte ab 2.100 vor Christus – wahrscheinlich ausgehend von der Sintaschta-Kultur am Ural – eine völlig andere Kriegsführung etablieren, die sich schnell verbreitete. Er wird zum Fahrzeug der Krieger-Eliten, Herrschaft wird militarisiert. Streitwagen-Armeen wurden aufgestellt, fahrbares Kriegsgerät in großer Menge produziert. In Indien rekrutierte man Söldner-Truppen mit Streitwägen aus Vorderasien, die sich bald auf dem Subkontinent festsetzten und eigene Reiche bildeten. In China führte der Besitz des neuen Kriegsgeräts zum Dynastie-Wechsel. Lokal begann so etwas wie ein früher Rüstungswettlauf. Im Nahen Osten entstanden und vergingen Großreiche. Und in gigantischen Schlachten stießen erstmals mächtige Armeen hochgerüstet aufeinander, erzählt der Historiker und Linguist Harald Haarmann.
ZUSPIELUNG Wort 7 (Harald Haarmann)
Der Streitwagen hat eine entsprechende Revolution in der Waffentechnik ausgelöst. Die frühen Gruppen, die den Streitwagen verwendet haben und eingesetzt haben, haben wohl erkannt, dass wenn sie die einsetzen können, dann haben Sie Vorteile. Und das waren die Mitanni, Indo-Europäer im Nahen Osten, und die haben sich im Nu ein regionales Reich aufgebaut. Und das waren dann die Indo-Europäer in Kleinasien und diejenigen, die nach Nordwest-Indien eingewandert sind. Genauso im Nahem Osten wurde das bald aufgegriffen. Und dann waren die Ägypter in der Lage, Krieg zu führen mit den Hethitern. Das waren ja Großmächte. Bei der Schlacht von Kadesch 1274 vor unserer Zeitrechnung, da müssen zwischen vier- und fünftausend Streitwagen im Einsatz gewesen sein. Also richtig eine Armada, die dann bei Kämpfen direkt aufeinandergetroffen sind. Das war also die erste große Schlacht.
SPRECHER
Der frühe Rüstungswahn auf Rädern nahm dann teils skurrile Züge an. So wurde das legendäre Trojanische Pferd mit verborgenen Kämpfern in seinem Bauch auf Rädern in die jahrelang belagerte Stadt gerollt und besiegelte den Untergang Trojas. Ebenso sollten in den antiken Kriegen riesige Rammböcke auf Rädern Stadttore brechen. Und gigantische bis zu 40 Meter hohe Belagerungstürme auf Rädern halfen Angreifern städtische Schutzmauern zu überwinden. Das Rad war zum unverzichtbaren Werkzeug der Kriegsführung geworden. Um seine Nutzung rankten sich Heldengeschichten und Mythen.
Musik 9
"Titel 07" - Komponist: Ernst Reijseger - Album: Gazing point - Länge: 0'12
SPRECHERIN
Die immense mythische und sakrale Bedeutung des Wagens drückte sich auch darin aus, dass das Gefährt – vom griechischen Gott Dyonisos an den Himmel gehoben – zum Sternbild wurde.
Musik 9
"Shabaka" - Album: Music of Ancient Egypt - Komponist: Michael Atherton - Länge: 0'38
SPRECHERIN
Die Faszination des drehenden Runds aber reichte noch weiter zurück. In der chinesischen Tradition gab es die Vorstellung des Weltenrads schon lange bevor im Reich der Mitte Wägen fuhren. In Europas Norden entstand 1.400 vor Christus der ‚Sonnenwagen von Trundholm‘ – einer bronzenen Scheibe, die von zwei Pferden über den Himmel gezogen wurde. So wurde das Rätsel des leuchtenden Sonnen-Sterns erklärt, der täglich über das Fundament zog. Bei den alten Griechen war Helios als Sonnengott der Wagenlenker. Auch andere Weltreligionen kannten das Bild seit Urzeiten, berichtet die Prähistorikerin Carola Metzner-Nebelsick von der Universität München … (LMU)
ZUSPIELUNG Wort 8 (Carola Metzner-Nebelsick)
Also ich denke da an den vedischen Hinduismus, das Epos des Rigveda. Dort wissen wir beispielsweise, dass die Sonne durch den Gott Suriya symbolisiert wurde, und der wird auf einem Streitwagen fahrend, von mehreren Pferden gezogen, visualisiert. Auch der griechische Gott Helios, der Sonnen-Gott fährt mit einem von 4 Pferden gezogenen Wagen über das Firmament. Rad-Symbole sind gleichermaßen auch religiöse Symbole, das geht so ein bisschen einher auch mit der Symbolik der Sonne, die man zumindest hier in Mitteleuropa durch Räder symbolisiert begreift.
Musik 10
Titel 08 - Album: The Garden of Mirrors - Komponist und Ausführender:
Stephan Micus - Länge 0'33
SPRECHERIN
Es ist ein komplexes Gebilde aus Gedanken, Geschichten und Objekten, dass sich seit vielleicht siebentausend Jahren um das Rad und den Wagen rankt. Kaum eine andere Erfindung in der Geschichte der Menschheit hat eine so lange Geschichte fortlaufender Innovationen und Folgen. Denn aus dem Rad entstand über die Zeiten nicht nur eine Millionen Kilometer umfassende Infrastruktur aus Straßen und Gleisen, sondern auch globaler Verkehr und Handel, Kulturaustausch und globales Reisen.
Musik 11
Titel: "Futile Arad Search" - Ausführender: Muslimgauze - Album: Blue Mosque - Komponist: Bryn Jones - Länge: 0'43
SPRECHER
Die Erfindung führte auch zu ganzen Zeitaltern, die von rad- und zahnrad-betriebenen Maschinen geprägt waren, zur Energiegewinnung mit Wind- und Wasserrädern, zur Taktung der Zeit über Zahnräder in Uhren. Und ließen – gerade in den letzten hundert Jahren – aus einer urzeitlichen Erfindung eine hoch-industrialisierte Weltgesellschaft entstehen, deren zentrales Merkmal eine nie dagewesene Mobilität ist und bleibt, so der Radforscher, Autorad-Entwickler und Autor Norbert Oberschmidt …
ZUSPIELUNG Wort 9 (Norbert Oberschmidt)
Alles, was rollbar gemacht werden wollte, hat man rollbar gemacht. Die Bedeutung des Rates ist unbestritten einer der wichtigsten Erfindungen der Menschheit. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein, dieses Ziehen und Reiben durch einen Rollen ersetzen zu können? Und dieser Effekt, der ist wohl der markante für das Rad überhaupt: Reibung ist ja immer eine unschöne Sache. Rollen ist eine ‚runde Sache‘. So wie das Rad eben rund ist!
Nach den Napoleonischen Kriegen prägte Fürst Metternich die Neuordnung Europas. Sein Ziel: Stabilität um jeden Preis. Hinter der Fassade von Frieden und Restauration herrschten Zensur und Unterdrückung. Die Heilige Allianz erstickte lange Zeit jede Revolution. Von Robert Grantner
Credits
Autor dieser Folge: Rober Grantner
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Oliver Stokowski, Jerzy May
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Alexandra Bleyer
Prof. Wolfram Siemann
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Literatur:
Siemann, Wolfram: Metternich - Stratege und Visionär. Eine Biografie. Erschienen im C.H.Beck Verlag
Bleyer, Alexandra: Das System Metternich: Die Neuordnung Europas nach Napoleon. Erschienen im primus Verlag
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR 1 (Metternich):
„Die Nachwelt wird mich beurteilen; das einzige Urteil, nach dem ich geize, das Einzige, was mir nicht gleichgültig ist [,] und zugleich das einzige, das ich nie vernehmen werde.“
ERZÄHLERIN:
So schreibt Clemens Lothar Wenzel Fürst von Metternich im April 1820 in seinen „Denkwürdigkeiten“. Für den Mann, den seine Zeitgenossen als äußerst eitel und auf seinen Ruf bedacht beschreiben, wäre es wohl ein Graus, wüsste er um das Urteil, welches die Nachwelt bis heute über ihn fällt. Steht er doch mit seinem Namen für Überwachung, Unterdrückung der Pressefreiheit und Bespitzelung der eigenen Bevölkerung. Sogar von einem „System Metternich“ ist die Rede, das aufkeimende liberale und nationale Gedanken und revolutionäre Strömungen im Keim ersticken sollte, um die alte monarchische Weltordnung zu erhalten. Die hatte man 1815 auf dem Wiener Kongress mühsam wiederhergestellt.
ATMO Kartons werden geöffnet
ERZÄHLERIN:
Knapp 200 Jahre später betritt Prof. Wolfram Siemann in Prag einen Raum, der bis unter die Decke vollgestopft ist mit mehr als 500 Kartons, die vor ihm noch kein Wissenschaftler je geöffnet hat. Voll mit Zeitschriften, geheimen Liebesbriefen und Originaldokumenten aus dem Wiener Kongress. Es ist das Familienarchiv Metternichs, das sich hier vor dem Historiker auftut.
O-Ton 01 Prof. Wolfram Siemann:
Also das war für mich das Grab des Tutanchamun. Was sehr selten ist bei Historikern des 19. Jahrhunderts, dass man noch an solche Überlieferungen kommt.
ERZÄHLERIN:
Wolfram Siemann beginnt den Inhalt der Kartons auszuwerten. 24 schafft er pro Tag, fotografiert und dokumentiert jedes wichtig erscheinende Dokument und sammelt so Hunderte Gigabyte an Daten.
O-Ton 02 Prof. Wolfram Siemann:
Kein Mensch hat diese Überlieferung bisher angeschaut. Das Ganze hat sieben Jahre gedauert, und da wird eben das Metternichbild auf ein ganz neues Fundament gesetzt.
MUSIK 2
"Machination" - Album: J'accuse (Bande originale du film) - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'30
ERZÄHLERIN:
Wien, 1814/15. Metternich ist auf dem Höhepunkt seiner Macht. Als österreichischer Außenminister leitet er den Wiener Kongress – den Kongress, auf dem nach jahrelangen Kriegen und der Niederlage Napoleons die Landkarte Europas neu geordnet werden sollte. Dabei setzt er auch neue
Maßstäbe in Sachen Diplomatie.
Dr. Alexandra Bleyer, österreichische Historikerin:
O-Ton 03 Dr. Alexandra Bleyer:
Er war sicher ein Vollblutdiplomat, ein großartiger Politiker, der die Fäden zu spinnen verstand, der gut mit anderen Leuten konnte, auf dem diplomatischen Parkett. Aber allen modernen liberalen, demokratischen Ideen nichts abgewinnen konnte. Reformen wollte er nur von oben und da wirklich nur mit Maß und Ziel. Ja keine Mitbestimmung, keine revolutionären Erschütterungen oder Reformen von unten.
Musik 3:
"Machination" - Album: J'accuse (Bande originale du film) - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'18
ERZÄHLERIN:
Metternich will das alte monarchische System wiederherstellen und bewahren. Für ihn ist die alte Ordnung das Fundament für ein friedliches und stabiles Europa. Nie wieder sollte eine Macht so mächtig werden, dass sie gegen ein Bündnis der anderen gewinnen könnte.
Musik 4
"Demonstration"- Album: Suffragette (Original Motion Picture Soundtrack) -
Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'45
ERZÄHLERIN:
Als größte Bedrohung für die neue alte Ordnung sieht Metternich vor allem eines: Revolutionen.
ZITATOR 1 (Metternich):
„Wird die Frage gestellt, ob die Revolution ganz Europa überschwemmen wird, so möchte ich nicht dagegen wetten, aber fest entschlossen bin ich, bis zu meinem letzten Athemzuge gegen dieselbe zu kämpfen.“
ERZÄHLERIN:
Die Angst vor der Revolution, sie ist tief verwurzelt. Seine Familie stammt aus dem Rheinland, verliert während des Vormarschs der französischen Revolutionstruppen ihre Besitztümer und muss nach Wien fliehen. Dort macht Metternich Karriere: Gesandter in Berlin, Botschafter in Paris, schließlich Außenminister, Staatskanzler und Vorsitzender des Wiener Kongresses.
Musik 5
"Machination" - Album: J'accuse (Bande originale du film) - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'26
ATMO belebte Stadt
Der Wiener Kongress ist ein Mega-Ereignis, bei dem die 230.000-Einwohnerstadt aus allen Nähten platzt: Mehr als 100.000 Menschen aus der ganzen Welt kommen nach Wien. Mit im Gefolge der europäischen Großmächte: hunderte Spione. Und auch Gastgeber Metternich kann auf einen funktionierenden Spitzel-Apparat zurückgreifen, der schon lange vor seiner Zeit eingerichtet worden war.
O-Ton 04 Dr. Alexandra Bleyer:
Da war natürlich eine Hochblüte der Spionage, weil da ging es ja um etwas. Da wollte man unbedingt wissen, was andere Gesandtschaften so besprachen. Wer sich mit wem traf. Da hatte man sowohl Vertraute höherer Stände, was wirklich Aristokraten die hiesigen Gesellschaft bewegten und dann gegen guter Bezahlung weiter berichteten, was sie so hörten. Oder auch in den Haushalten der Gesandtschaften oder Dienstboten eingeschleust, die wirklich die Mistkübel durchsucht haben, die Papiere, die zerrissenen, wieder zusammengefügt haben, belauscht haben.
ERZÄHLERIN:
Abgeschaut hat Metternich sich diese Methoden von seinem ärgsten Widersacher: Napoleon. Als Botschafter in Paris lernt er ihn und seine Politik hautnah kennen. Erkennt die Macht von Wissen, Propaganda und Zensur.
ZITATOR 1 (Metternich):
„Die öffentliche Meinung ist […] das stärkste Machtmittel, das selbst in den verborgensten Winkel dringt, wo Regierungsanweisungen jeden Einfluss verlieren.“
ERZÄHLERIN:
Der Wiener Kongress wird seine diplomatische Glanzstunde. Er taktiert, schmiedet Bündnisse und trägt am Ende entscheidend zum Erfolg des Kongresses bei. Von einem Zeitgenossen wird Metternich als „Kutscher Europas“ bezeichnet, der die Zügel der internationalen Politik fest in der Hand hält. Und er gefällt sich durchaus in dieser Rolle, wie ein privater Briefverkehr zeigt:
ZITATOR 1 (Metternich):
„Warum muss gerade ich unter so vielen Millionen Menschen der sein, der da denken soll, wo Andere nicht denken, handeln, wo Andere nicht handeln, und schreiben, weil es Andere nicht können.“
MUSIK 6
"Machination" - Album: J'accuse (Bande originale du film) - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'38
ERZÄHLERIN:
Der Wiener Kongress wird ein Prestigeerfolg und die gefassten Beschlüsse prägen Europa für die nächsten Jahrzehnte nachhaltig. Der Deutsche Bund entsteht und die Heilige Allianz zwischen Russland, Preußen und Österreich schafft ein Kräftegleichgewicht, das den Frieden in Europa sichert. Die Bildung von Ausschüssen und Expertengruppen gilt bis heute als Meilenstein der Diplomatie: die „Wiener Ordnung“ war ein neues politisches System internationaler Verbindungen, die auf ein Gleichgewicht der Großmächte ausgerichtet war. Nie wieder sollte ein neuer Napoleon die anderen Mächte unterwerfen können.
Doch der Preis ist hoch: Innenpolitisch kommt es zum Stillstand, dringend notwenige Reformen werden nicht angepackt, weil Kaiser Franz von Veränderungen wenig hält.
ZITATOR 2 (Kaiser Franz):
„Ich will keine Neuerungen. Man wende die Gesetze gerecht an.“
ERZÄHLERIN:
Das Volk sollte weitestgehend aus der Politik herausgehalten und revolutionäre Tendenzen kleingehalten werden.
MUSIK 7
"Demonstration"- Album: Suffragette (Original Motion Picture Soundtrack) -
Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 1'16
ERZÄHLERIN:
Doch der Keim, der in der französischen Revolution gesät wurde, er blüht auch im neugegründeten Deutschen Bund weiter auf – ein loser Staatenbund von über 30 Staaten. Geheimbünde entstehen und auch in den neugegründeten Burschenschaften und Turnvereinen organisiert sich das Bildungsbürgertum, das nach Mitbestimmung und einer eigenen Verfassung strebt. 1819 erschüttert ein Attentat den Deutschen Bund. Der Theologiestudent und Burschenschafter Karl Ludwig Sand ersticht den russischen Generalkonsul August von Kotzebue, weil dieser in seinen Schriften gegen liberale und nationale Gedanken wettert und sich zum Teil über deren Anhänger lustig macht. Nur wenige Monate später kommt es in Würzburg zu massiven antijüdischen Ausschreitungen, die sich in kürzester Zeit auf den gesamten Deutschen Bund und darüber hinaus bis nach Kopenhagen und Danzig ausweiten. In dieser aufgeheizten Atmosphäre treffen sich - auf Metternichs Einladung - Vertreter der zehn größten Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes zu einer Geheimkonferenz in Karlsbad.
MUSIK 8
"Machination" - Album: J'accuse (Bande originale du film) - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'29
ERZÄHLERIN:
An deren Ende stehen drastische Repressionsmaßnahmen: Burschenschaften und Turnvereine werden verboten, liberale Professoren werden entlassen und mit Berufsverbot belegt, die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt und die Zensur der Presse eingeführt.
Bei den Beteiligten deutschen Königen und Fürsten rennt Metternich mit diesen Maßnahmen offene Türen ein. Dr. Alexandra Bleyer:
O-Ton 05 Dr. Alexandra Bleyer:
Die waren wirklich in Panik vor neuen Verschwörungen, vor neuen Revolutionen und haben dann ihm auch einen sehr schönen Dankesbrief geschrieben, wie froh sie sind, dass er die Zügel in die Hand nimmt, dass er hier Maßnahmen setzt, hier die Leitung übernimmt und für Ruhe und Ordnung sorgt.
ZITATOR 2 (Brief der Fürsten):
„Als Sie […] das freche, unheilweissagende Geschrei zügelloser Schriftsteller und die Kunde einer Unthat vernahmen, da erkannten Sie mit derselben Klarheit den Grund des Uebels und die Mittel, ihm zu begegnen, und was wir hier vollbracht und ins Leben gerufen haben, ist nun die Verwirklichung dessen, was Sie schon damals gedacht.“
ERZÄHLERIN:
Alle schriftlichen Veröffentlichungen, die dünner waren als 20 Bogen, d.h. 320 Seiten, werden nun vorab zensiert. Zudem wird eine Central-Untersuchungs-Commission in Mainz eingerichtet. Die sogenannte „schwarze Kommission“ soll für den Deutschen Bund Studenten und vor allem Professoren an den Universitäten überwachen und revolutionären Umtrieben vorbeugen. Prof. Wolfram Siemann:
O-Ton 06 Wolfram Siemann:
Man könnte das mit modern begriffen als Nachrichtendienst oder Verfassungsschutz ansehen, also regierungsfeindliche Tendenzen zu registrieren und weiterzuverfolgen, im Sinne von in Beobachtung zu halten und dann gegebenenfalls auch zu unterdrücken. Dieses System, das war in der Hand von Metternich.
O-Ton 07 Dr. Alexandra Bleyer:
Das war jetzt richtig Metternichs Geheimdienst. Dadurch wurde er zum bestinformiertesten Mann damals in Europa, mit Informationen aus anderen Hauptstädten. Ein richtiges Agentennetzwerk mit der Zusammenarbeit mit regionalen Polizeistellen, dann auch die der Überwachung der Verdächtigen diente.
Musik 8:
"Bodies" - Künstler: Martin Phipps & The Chamber Orchestra of London - Komponist: Martin Phipps - Album: The Crown: Season Three (Soundtrack from the Netflix Original Series) - Länge: 0'42
ERZÄHLERIN:
Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Zensoren und liberalen Schriftstellern. So veröffentlicht der Revolutionär Gustav Struve einen dicken Band, mit mehr als 320 Seiten, der folglich nicht zensiert wird. Darin abgedruckt allerdings: eine Sammlung seiner kürzeren Flugschriften, die in den Jahren zuvor allesamt zensiert wurden. Alle vormals zensierten Textpassagen lässt er mit roter Tinte drucken. Wirte bespitzeln ihre Gäste, in vermeintlich unpolitische Vereine werden verdeckte Beobachter eingeschleust und selbst der Briefverkehr von Vertrauten Metternichs wird regelmäßig abgefangen und geöffnet.
O-Ton 08 Dr. Alexandra Bleyer:
Es war da schon die Rede von einem Polizeistaat, allerdings Polizei noch mit Y geschrieben. Und dieser Begriff der Polizey bezog sich vor allem auf innere Verwaltungsaufgaben...
Erzählerin:
Das Spitzelsystem war bemerkenswert – aber nicht ganz so konsequent, wie es Metternich sich vielleicht gewünscht hätte.
Fortsetzung O-Ton 08
Die Zensur, die war löchrig wie ein Sieb, die war wirklich sehr durchlässig. Es hat doch das mit der Überwachung nicht immer so funktioniert, obwohl es freilich viele Verhaftungen gegeben hat, wenn jemand aufgespürt worden ist, ja im Geheimbund angehörte oder sehr viele literarische Exile haben geben müssen. Aber es war sicher nicht so strikt wie ein Polizeistaat in der heutigen Zeit.
O-Ton 09 Wolfram Siemann:
Österreich hat erst 1849 eine Gendarmerie bekommen, das heißt, dieser zentrale Zugriff war nicht vorhanden. Und wenn dann von diesem allgemeinen Verwaltungsstaat gesprochen wird und wir heute Gestapo und Stasi assoziieren, da projizieren wir in die Vergangenheit etwas, was es nicht gegeben hat, nämlich ein Maß an staatlicher Integration und Verfolgungsfähigkeit, die gar nicht existent war. Man denke, man lebt in der Zeit der Postkutschen ohne Telegraph, wo es drei Wochen dauerte, teilweise oder manchmal eine Woche, wenn es schnell ging, bis überhaupt eine Nachricht übermittelt wurde, also vom Zarenhof zum Beispiel nach Wien mindestens 14 Tage.
ERZÄHLERIN:
Spätestens auf Grund der Karlsbader Beschlüsse von 1819, in deren Folge die Universitäten überwacht, die Presse zensiert, die Burschenschaften verboten und liberal gesinnte Professoren mit Berufsverbot belegt werden, wird Metternich für seine politischen Gegner zum Feindbild Nummer 1.
Musik 9
"Minecraft" - Album: Gold (The Original Score Soundtrack) - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 0'25
ERZÄHLERIN:
In einem Spottlied machen die Burschenschafter ihrer Wut Luft und bringen ihren Hass zum Ausdruck:
ZITATOR 2 (Burschenschaftler):
„O Metternich, o Metternich,
du Höllenfürst der Lüge!
Ich wollte, daß ein Wetter dich
In Grund und Boden schlüge!
Kanaille du im schlechten Sinn,
du Vaterlandsverräter!
Vor dir muß selbst der Teufel flieh’n,
du Fürst der Rabenväter!”
ERZÄHLERIN:
Es sind diese Stimmen, die Metternich schon zu seinen Lebzeiten dämonisieren und dem vorherrschenden politischen System seinen Namen verleihen. Und es sind auch diese Stimmen, die nach der Revolution von 1848 die historische Deutungshoheit erlangen. Während Metternich im Zuge der Revolution Hals über Kopf aus Wien nach England flieht, beginnt sich das Bild des Bösewichts zu verfestigen. Nicht zuletzt, weil auch die einstigen Befürworter seiner Politik ihn nun fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.
O-Ton 10 Dr. Alexandra Bleyer:
Und es ist ja auch nicht so im Deutschen Bund, dass Metternich da jetzt der große Hexenmeister gewesen wäre und alle nach seiner Pfeife tanzen ließ. Sondern eher rannte er offene Türen ein mit dieser Überwachung, mit der Kontrolle, vor allem der Universitäten. Nur nach der Revolution 1848, als es eben Pressefreiheit gab, als der Rechts- und Verfassungsstaat in Angriff genommen worden ist, da ist es nicht mehr opportun, diese Ideen zu vertreten. Und da war Metternich nach seinem Sturz der bestgeeignete Sündenbock.
O-Ton 11 Wolfram Siemann:
Bisher war die erste Überlieferung, die das Metternich Bild geprägt hat, die der Opposition im Vormärz. Das waren die Demokraten, die Republikaner, die teilweise zensiert, auch verfolgt wurden. Und die haben eine Erklärung gab das war dieses System Metternich, ohne die eigentliche Politik zu kennen.
Also wenn man vom metternischen System spricht, geht man davon aus, das ist die Unterstellung, hier ist jemand, der ist allmächtig. Aber diese Allmacht hat nicht bestanden. Für die Innenpolitik war sein großer Rivale, Graf Kolowrat, zuständig.
ERZÄHLERIN:
Staatsminister Franz Anton von Kolowrat-Liebsteinsky – er wurde zum mächtigen Gegenspieler Metternichs. Heute weiß man: er stellte Metternich innenpolitisch faktisch kalt.
O-Ton 12 Dr. Alexandra Bleyer:
Der hätte sich sicher nicht zugestanden und auch nicht öffentlich eingestanden, dass er in der Habsburgermonarchie selbst in Wien an Machteinbußen litt. Er hat darüber geklagt, dass er über innenpolitische Vorgänge nicht einmal mehr Informationen bekam. Das war ein richtiger Machtkampf dieser beiden Männer, die er eben auch zum innenpolitischen Stillstand in Österreich führte
ERZÄHLERIN:
Es ist also Metternichs Eitelkeit, die verhinderte, dass davon etwas nach außen hätte dringen können und ihn in ein anderes Licht gerückt hätte. Er gefällt sich besser in der Beschreibung der Allmacht, die ihm seine Gegner andichten und trägt dadurch selbst erheblich dazu bei, dass dieses Narrativ lange Zeit Bestand hat.
O-Ton 13 Dr. Alexandra Bleyer:
Damit ist das schwierig: System Metternich, das hat sich halt in der Geschichtsschreibung bei den Zeitgenossen so richtig festgesetzt. Das ist ein Begriff. Man kann sich sofort etwas darunter vorstellen, aber es trifft nicht den Kern. Metternich war ein wichtiges Rad im Getriebe, aber für die Habsburgermonarchie müsste man fast mehr von einem System Kaiser-Franz sprechen, denn er war es eigentlich der diesen Kurs vorgegeben hat.
Erzählerin:
Mehr noch: Selbst wenn Metternich etwas anderes gewollt hätte, hätte er wohl keine Chance gehabt:
Fortsetzung O-Ton
Der war ich ja nicht allmächtig. Er war zwar der Haus-, Hof- und Staatskanzler, aber über ihn war Kaiser Franz und der war ja richtig stockkonservativ, reaktionär, engstirnig, pedantisch kontrollsüchtig. Also Metternich hätte gar nicht sehr viel weiter gehen können mit Reformen.
ERZÄHLERIN:
Tatsächlich erkennt Metter nich sogar schon 1817 einen Reformstau im Vielvölkerstaat Österreich und unterbreitet dem Kaiser Reformvorschläge.
O-Ton 14 Dr. Alexandra Bleyer:
Und die typische Wiener Antwort darauf war: schau ma mal! Also rein mit dem Plan in die Schublade und auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben.
Musik 10
"Bodies" - Künstler: Martin Phipps & The Chamber Orchestra of London - Komponist: Martin Phipps - Album: The Crown: Season Three (Soundtrack from the Netflix Original Series) - Länge: 0'39
ERZÄHLERIN:
War Metternich also kein erzkonservativer Reaktionär, der nur darauf bedacht war, die Menschen auszuspionieren und jeden Wandel zu unterbinden? War er gar ein reformbereiter „Stratege und Visionär“, wie Wolfram Siemann seine Biographie betitelt hat? Er stützt seine These vor allem auf bislang unerforschte Dokumente, privaten Briefverkehr oder auch ein Tagebuch, das Metternich als 18-Jähriger während einer England-Reise verfasst hat und in dem er sich als begeisterter Verehrer der englischen Verfassung zeigt.
O-Ton 15 Wolfram Siemann:
Da schreibt er in einem Brief an seine Geliebte, dass man sich wünscht, in drei Tagen dieses englische Modell in der Verfassung auch auf Deutschland zu übertragen und in Österreich anzuwenden. Das geht nicht bei einem Staat mit acht oder zehn Nationalitäten, die einander hassen.
Erzählerin:
Die Habsburger Monarchie ist im 19. Jahrhundert ein bunter Vielvölker-Staat. Allein 11 Sprachen sind offiziell anerkannt. Für Metternich ist klar: das kann nur in einer Monarchie funktionieren.
Fortsetzung O-Ton 15
Er sah also, dass die staatliche Integration zentrifugal, also zerstörerisch wirkt, weil die Nationalitäten nicht zueinander finden.
Es ist ihm oft vorgeworfen worden, Volkssouveränität sei für ihn etwas, was er hassen würde. Er kannte das Prinzip der Volkssouveränität und sagt in Amerika kann das funktionieren, aber nicht in Österreich, in der Habsburgermonarchie. Das würde voraussetzen, dass man einen Nationalitäten über alle anderen stellen müsste. Und das ist nicht zu rechtfertigen, auch die deutsche nicht. Deshalb sollen die Nationalitäten nebeneinander existieren und können nicht in ein zentrales Parlament, sondern da soll regionale Partizipation reichen.
ERZÄHLERIN:
Metternich selbst lehnt den Begriff „System Metternich“ Zeit seines Lebens ab, spricht lieber von „Grundsätzen“ und einer gottgewollten „Weltordnung“.
Er ist und bleibt ein Mann des „Ancien Régime“, der alten Ordnung und ein Gegner der Demokratie, weil er am Urteilsvermögen des Volkes zweifelt. Ein Mann, dessen politisches Wirken in eine Zeit des Wandels fällt, zwischen Restauration der absolutistischen Monarchien und der Moderne.
Für die Nachwelt bleibt Fürst von Metternich eine streitbare historische Figur, deren Wirken bis in die heutige Zeit ausstrahlt.
Musik 11
"Bodies" - Künstler: Martin Phipps & The Chamber Orchestra of London - Komponist: Martin Phipps - Album: The Crown: Season Three (Soundtrack from the Netflix Original Series) - Länge: 0'43
ZITATOR 1 (Metternich):
„Wenige Menschen haben mich begriffen und wenige begreifen mich noch heute. Mein Name ist mit so vielen ungeheuren Ereignissen verbunden, dass er unter ihrem Geleite auf die Nachwelt übergehen wird. Ich sage dir: in hundert Jahren wird der Geschichtsschreiber mich ganz anders beurteilen als alle die, die heute mit mir zu tun haben.“
ERZÄHLERIN:
Und die Historiker? Wie blicken sie heute, gut 200 Jahre nach seiner einflussreichsten Zeit als europäischer Politiker auf Metternich?
O-Ton 16 Alexandra Bleyer
Also verherrlichen würde ich ihn auf keinen Fall. Für mich ist es auch eine ambivalente Persönlichkeit mit sehr vielen Grautönen.
Stratege war er sicher, strategisches Denken, das hatte er auch, dieses weitblickende Denken, visionär sicher auch in gewisser Hinsicht. Aber wie gesagt, auf der anderen Seite, wenn wir von unseren heutigen Werten ausgehen, von einer Demokratie, vom Rechtsstaat, vom Verfassungsstaat, von Pressefreiheit, von Grundrechten - das sind ganz, ganz wichtige Elemente, die ich auf keinen Fall missen möchte. Für die hat er wenig Verständnis gehabt.
O-Ton 17 Wolfram Siemann
Ich war froh, sieben Jahre einem bornierten Idioten zu widmen, waren nicht die schönsten sieben Jahre meines Lebens, aber wenn sich herausstellt, dass er ein hochintelligenter, reflektierter Mann war, belesen, sogar wissenschaftlich reflektierend, was politische Vorgänge angeht, dann hat sich es doch gelohnt.
Auch wenn jeder weiß, wie Langeweile sich anfühlt, ist sie doch nicht für jeden gleich. Sie ist kein demokratisches Gefühl, das alle gleichermaßen trifft. Ein Problem, wenn man bedenkt, welche negativen Folgen Langeweile laut Studien haben kann. Von Nicole Ficociello
Credits
Autorin dieser Folge: Nicole Ficociello
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Joanna Semmelrogge, Peter Weiß, Marlen Reichert
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Silke Ohlmeier, Soziologin und Autorin
Naqip Hakimi, Bayerischer Flüchtlingsrat
Alexander Vatteroth
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
ARD alpha
Langeweile - Warum wir uns langweilen und was wir dagegen tun können
ZUR WEBSITE
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literatur und Quellen:
Silke Ohlmeier, „Langeweile ist politisch. Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät“
LePera 2011: Relationships between Boredom Proneness, Mindfulness, Anxiety, Depression, and Substance Use
Blaszczynski, McConaghy, Frankova (1990): Boredom Proneness in Pathological Gambling
Sommers, Vodanovich (2000): Boredom Proneness: Its Relationship to Psychological and Physical Health Symptoms
Koball (2012): Eating When Bored: Revision of the Emotional Eating Scale with a Focus on Boredom
Kass (2001): Watching the Clock. Boredom and Vigilance Performance S.969-976
van Tilburg und Igou (2016): Going to political Extremes in Response to Boredom
Nahrstedt, Wolfgang: Lernziel "Arbeitslosigkeit". Organisierte Langeweile oder Demokratisierung der Gesamtzeit? HIER gehts zur Website
Wagner und Finkielsztein (2021): Strategic Boredom: The Experience and Dynamics of Boredom in Refugee Camp. A Mediterranean Case. HIER gehts zur Website
Arbeitsverbote für Asylbewerberinnen und Asylbewerber von 1973 bis heute:
HIER gehts zur Website
“Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete”, Bundesministerium für Arbeit und Soziales. HIER gehts zur Website
Sarraj-Herzberg (2014): Arbeitsverbot für Geflüchtete. Heinrich Böll Stiftung. HIER gehts zur Website
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Naqip Hakimi kam 2010 als Geflüchteter aus Afghanistan nach Deutschland. An die Anfangszeit in der Erstaufnahmeeinrichtung erinnert er sich noch gut. Auch an die Langeweile:
01 ZSP Langeweile Erstaufnahme (31 sek)
“In der ersten Aufnahmeeinrichtung hatte man gar keine Ahnung wie es weitergeht … bis man ein bisschen checkt, wie hier die Abläufe sind. Man denkt, ich bin halt hier. Ich bleibe hier. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Wann ich überhaupt von hier wegverteilt werde, also die Langeweile ist auf jeden Fall da, weil die Nächte, wenn man morgen nichts zu tun hat, dann natürlich verbringt man einfach die ganze Nacht irgendwie mit Kumpels, spielt Karten oder so was und am Morgen kannst du schlafen, weil du hast keine Aufgabe.”
SPRECHERIN
Richtig schlimm wird es für Naqip Hakimi aber erst, als er nach Nürnberg kommt. In eine Wohnung, die er sich mit zwei anderen Männern teilt. Was Langeweile anrichten kann, erlebt er dort hautnah mit:
02 ZSP Langeweile Mitbewohner (16 sek)
“Ich hatte meine Mitbewohner und andere Leute auch im Heim gesehen miterlebt, dass sie durch Nicht-Tätigkeit krank geworden sind, psychisch und auch körperlich. Und das war auch schlimm für mich selbst.”
SPRECHERIN
Dann wird der Asylantrag seines Mitbewohners abgelehnt. Und die Situation eskaliert:
03 ZSP Langeweile Suizid (32 sek)
“Er hatte seine Hoffnung verloren, nachdem er zum Beispiel die Duldung bekam, also sein Asylantrag wurde abgelehnt. Er hat einfach keine andere Möglichkeit außer sich im Heim halten, aufhalten, irgendwie sich beschäftigen. Dann hat er angefangen zum Trinken und während der Trinken ist er auch sehr, sehr psychisch belastet. Und hat zum Beispiel manchmal die Tablette gegen die Psychisch mit dem Alkohol zusammen genommen und das war Katastrophe. Also der war fast am Ende, zweimal auch versucht, sich das Leben zu nehmen.”
SPRECHERIN
Um das gleich klarzustellen: Die Langeweile von der Naqip Hakimi hier erzählt, ist nicht mit der Langeweile zu vergleichen, die man fühlt, wenn man ein langweiliges Buch liest, einem langatmigen Vortrag lauscht oder in der Arztpraxis oder auf den Bus wartet. Das ist die so genannte situative Langeweile. Die kennt jeder. Und auch die ist unangenehm und schwer auszuhalten. Das sieht man zum Beispiel daran, wie schnell Menschen im Wartezimmer oder in der Bahn ihr Smartphone rausholen. In diesem radioWissen und in der Erzählung von Naqib Hakimi geht es um eine andere Form der Langeweile. Eine, die chronisch ist. Was das ist, erklärt die Soziologin und Langeweile-Expertin Silke Ohlmeier:
04 ZSP Langeweile chronisch (34 sek)
“Chronische Langeweile bedeutet, dass Menschen sich in großen Teilen ihres Lebens oft dauerhaft langweilen, also zum Beispiel ihre Partnerschaft oder ihre Arbeit oder das erste Jahr nach Geburt eines Kindes als langweilig empfinden. Zum Beispiel jetzt bei der Arbeit, also es geht nicht darum, also alle finden mal bestimmte Aufgaben langweilig. Aber wenn das so das Grundgefühl ist, dann kann man davon sprechen, dass die Langeweile chronisch ist.”
SPRECHERIN
Neben der situativen und der chronischen Langeweile gibt es noch eine dritte Form:
05 ZSP Langeweile existentielle (18 sek)
Dann gibt es auch eine Steigerungsform davon, das ist die existenzielle Langeweile und existenzielle Langeweile bedeutet, dass Menschen ihr ganzes Leben als langweilig empfinden. Na, da sind wir schon nah dran an der Depression könnte man fast sagen.”
SPRECHERIN
So wie bei Naqip Hakimis Mitbewohner. Existentielle und chronische Langeweile sind ein Problem. Mit schlimmen Folgen für die Betroffenen: Studien zeigen, dass sie Glücksspiel, Essstörungen, Alkoholsucht, Drogenabhängigkeit und Depressionen fördert. Sie korreliert mit Angst, Einsamkeit, Wut, Aggression und erhöht das Risiko von Unfällen. Trotzdem wird sie oft nicht ernst genommen, sagt Langeweile-Expertin Silke Ohlmeier:
05 ZSP Langeweile Lappalie (17 sek)
“Da ist auch so das Thema, dass Langeweile ja häufig so als Lappalie gilt. Also Langeweile ist nicht so schlimm. Und es gibt so eine Haltung von: Wenn wir dafür sorgen, dass Menschen irgendwie Essen, Trinken, vielleicht sogar noch ein Dach über dem Kopf haben, dann haben wir hier genug getan.”
Musik 2: 1.2_1-IwillbeCTO.m4p – 30 Sek
SPRECHERIN
Die Soziologin Silke Ohlmeier ist sich sicher: Chronische Langeweile trifft nicht alle Menschen gleich. Sie sagt, es gibt Gruppen, die stärker und häufiger davon betroffen sind – und hat ein Buch darüber geschrieben. Es trägt den Titel: “Langeweile ist politisch”. Aber kann ein Gefühl wirklich politisch sein?
06 ZSP Langeweile politisch (43 sek)
“Politisch sind im Grunde alle Gefühle, also da zeigen die sozialwissenschaftlichen Studien einfach sehr deutlich, dass zum Beispiel die gesellschaftliche Position, also der Bildungsstand und das Einkommenslevel einen Einfluss hat auf unsere Gefühle und dass zum Beispiel die unangenehmen Gefühle, also Wut, Ärger und so weiter, Langeweile auch, eher in den unteren Schichten verstärkt aufkommen als in den oberen. Das heißt dann aber natürlich nicht, dass sich Menschen in den oberen Klassen oder mit hohem Einkommen sich nicht langweilen oder keine negativen Gefühle haben. Aber man sieht, es ist einfach mehr als die ganz individuelle Verantwortung.”
SPRECHERIN
Gefühle können also politisch sein. Das sieht man auch daran, welche Rolle sie in der Politik spielen:
Musik 3: Tears – 8 Sek
ZITATOR
Trauer
SPRECHERIN
Spanien im November 2024: Zahlreiche Menschen haben bei den Überflutungen ihre Häuser verloren, über 200 Menschen ihr Leben. Das ganze Land trauert mit den Angehörigen und den Betroffenen.
07 ZSP Langeweile Spanierin (9 sek)
“Wir sind hilflos, traurig, wütend, am Ende, es ist unerträglich”
SPRECHERIN
Bei der so genannten “Staatstrauer” kommt das öffentliche Leben für mehrere Tage zum Erliegen. Fahnen hängen auf Halbmast, Vergnügungsveranstaltungen werden abgesagt, Geschäfte bleiben geschlossen. Diese kollektive Trauer wird meist vom Staatsoberhaupt verhängt, ist also politisch.
Musik 4: Tears – 8 Sek
ZITATOR
Angst
SPRECHERIN
Populistische Parteien und Politiker*innen zielen bewusst auf die Angst der Menschen. Angst vor Armut, Angst vor Fremden, Angst vor der Zukunft. Angst bedeutet Macht. Und deswegen dauert es selten lange, bis auch gemäßigtere Parteien mitmachen. Zum Beispiel beim Thema Migration. Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Generaldebatte im Bundestag im September 2024:
08 ZSP Langeweile Migration Scholz (23 sek, dann Applaus)
“Wir müssen uns aussuchen können, wer nach Deutschland kommt. Das sag ich hier ganz ausdrücklich. Und deswegen gehört auch dazu, dass wir das Management der irregulären Migration hinkriegen. Dass wir die Zahl derjenigen, die irregulär nach Deutschland kommen reduzieren und dass wir diejenigen, die nicht bleiben können, auch wieder zurückführen.”
Musik 5: Tears – 8 Sek
ZITATOR
Liebe
SPRECHERIN
Auch positive Gefühle wie die Liebe können politisch sein. Das sieht man beim Thema “Ehe für alle”. Lange galt in der CDU/ CSU: Ehe, die gibt es nur zwischen Mann und Frau. Bis Ex-Bundeskanzlerin und Parteivorsitzende Angela Merkel den Fraktionszwang bei der Abstimmung zur Ehe für alle im Juni 2017 aufhebt. Die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag stimmt für die Gleichstellung homosexueller Paare. Die Bundeskanzlerin stimmt dagegen:
09 ZSP Langeweile Merkel Ehe für alle (11 sek)
“Für mich ist die Ehe im Grundgesetz die Ehe von Mann und Frau. Und deshalb habe ich heute auch diesem Gesetzentwurf nicht zugestimmt.”
Musik 6: Tears – 8 Sek
ZITATOR
Langeweile
SPRECHERIN
Zurück zur Langeweile: Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass gelangweilte Menschen eher Extremisten wählen und gelangweilte Gesellschaften anfälliger für Kriege sind. Silke Ohlmeier schreibt dazu in ihrem Buch:
ZITATORIN
“Menschen meiden Langeweile, wo sie nur können. Und wenn sie liberale Politik und die demokratischen Parteien als langweilig empfinden, werden sie den Teufel tun, sich dort zu engagieren.”
SPRECHERIN
Politikverdrossenheit nicht mehr nur durch Unzufriedenheit, sondern auch durch Langeweile. Dass Langeweile politisch ist, sieht man aber auch daran, wer von ihr am meisten betroffen ist. Laut Soziologin Silke Ohlmeier sind das vor allem die Menschen, die in unserer Gesellschaft am wenigsten Macht haben:
10 ZSP Langeweile Macht (20 sek)
“Der Gedanke, der dahintersteckt, ist einfach, dass wir alle in unserer, in der Gesellschaft unterschiedlich viel Macht haben. Macht kann Geld sein, kann Einfluss sein, kann Bildung sein und je nachdem wie viel Macht, Einfluss, Geld wie auch immer wir haben, können wir eben unser Leben selbstbestimmt gestalten.”
SPRECHERIN
Leitsymptom der Langeweile ist demnach Ohnmacht. Die Ohnmacht, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Marginalisierte Gruppen haben es da besonders schwer: Kinder in der Welt der Erwachsenen. Arme Menschen, alte Menschen oder Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen in einer Gesellschaft, die auf Geld und Leistung gepolt ist. Frauen in einer Gesellschaft, die von und für Männer gemacht ist. People of Color in einer rassistischen Gesellschaft. Adultismus, Klassismus, Sexismus, Ableismus, Ageismus, Rassismus – schauen wir uns an, wie diese -ismen mit Langeweile zusammenhängen:
Musik 7: Living in the shadows - 13 Sek
ZITATOR
Klassismus - Warum arme Menschen eher von Langeweile betroffen sind.
SPRECHERIN
Laut Definition ist Langeweile der unbefriedigte Wunsch nach einer befriedigenden Tätigkeit. Wir wollen etwas tun, dass uns Freude bereitet, das Sinn stiftet, werden aber davon abgehalten. Zum Beispiel durch Geld. Langeweile-Expertin Silke Ohlmeier:
11 ZSP Langeweile Geld (33 sek)
“Kino kostet Geld, Essen gehen kostet Geld, Busfahren, Sport kostet Geld und so weiter und so weiter. Und das sind alles Sachen, die wir so als Gesellschaft auch oft als spannend und interessant definieren, sage ich mal. Also da wird so gezeigt, hey, da pulsiert das Leben. Das ist wichtig, das macht Spaß. Und gleichzeitig werden aber arme Menschen auch systematisch davon ausgeschlossen. Und haben keinen Zugang zu sehr vielen, ich sage mal, als befriedigend propagierten Tätigkeiten.”
SPRECHERIN
Klassismus richtet sich gegen Menschen aus der so genannten Unterschicht. Neben Geld spielt auch die Bildung eine Rolle. Je höher die Bildung, desto leichter lässt sich Langeweile vermeiden, sagt Silke Ohlmeier. Zum Beispiel bei der Arbeit:
12 ZSP Langeweile Bildung (23 sek)
“Wenn ich einen hohen Bildungsabschluss habe und meine Qualifikation gefragt ist auf dem Arbeitsmarkt und ich vielleicht einen finanziellen Puffer habe, dann kann ich sagen: okay, das war nicht das Richtige. Ich gehe woanders hin. Aber wenn ich das alles nicht habe und angewiesen bin auf diesen Job und auch auf diesen Job, um meine Miete zu bezahlen und so weiter, dann bleibe ich darin stecken.”
SPRECHERIN
Und was ist mit Menschen, die gar keinen Job haben? Das Gegenteil von Arbeit ist Freizeit, also etwas Schönes, Erstrebenswertes. Arbeitslosigkeit ist “schlechte Freizeit” – so nannte es der inzwischen verstorbene Erziehungswissenschaftler Wolfgang Nahrstedt. Die Soziologin Silke Ohlmeier schreibt dazu in ihrem Buch “Langeweile ist politisch”:
ZITATORIN
“Arbeitslose Menschen sollen gelangweilt zu Hause sitzen, sonst wäre der Druck ja nicht mehr groß genug, sich einen Job zu suchen. So oder so ähnlich lautet wohl die Logik dahinter.”
SPRECHERIN
Vielleicht klingt das Mantra bei der Bürgergeld-Debatte deswegen von Anfang an so wie hier 2022 bei Kai Whittaker, Bundestagsabgeordneter der CDU:
13 ZSP Langeweile Bürgergeld (7 sek)
“Arbeit muss sich immer lohnen, wenn das nicht mehr gilt, gefährden sie den sozialen Frieden in unserem Land.”
Musik 8: Living in the shadows - 13 Sek
ZITATOR
Sexismus - Warum Frauen eher von Langeweile betroffen sind
Musik 09: You learn – 1:33 Min
SPRECHERIN
In einem Online-Forum für Mütter schreibt Userin “nunakl1994”:
ZITATORIN
“Halli Hallo, eigentlich bin ich nur kurz hier, um zu jammern.
Mir ist soooo stink langweilig, dass glaubt ihr gar nicht. Geht es euch vielleicht genau so? Habe jetzt noch zwei Monate Elternzeit vor mir bis ich wieder berufstätig werde und das kommt mir einfach so furchtbar lange vor. Das ich mein Baby liebe und furchtbar gerne Zeit mit ihr verbringe, muss ich hoffentlich nicht nochmal erwähnen, aber einfach dieser immer gleiche Tagesablauf. Nichts Spannendes passiert. Nicht mal meine Tochter ist besonders anstrengend. Ich versuche immer etwas zu unternehmen, aber immer geht das natürlich auch nicht. (...) Mir ist langweilig, langweilig und nochmals LANGWEILIG!”
SPRECHERIN
Die Antworten unter ihrem Thread reichen von:
ZITATORIN
“Ohje du arme, noch kann ich mich nich beschweren dass mir langweilig wird, ich habe noch alle Hände voll zu tun mit dem kleinen aber er ist auch erst 4 Monate.”
SPRECHERIN
… über …
ZITATORIN
“Hey. Können gerne tauschen, mit meiner Tochter wird dir bestimmt nicht fad (...) Ich wär froh mal einen Tag langeweile zu haben – Zwinker-Smiley.”
SPRECHERIN
… bis zu …
ZITATORIN
“Mir ist auch öfters langweilig, meine Tochter ist auch sehr pflegeleicht. Ich unternehme jeden Tag etwas. Habe zwei Kurse die Woche (Yoga mit Baby und Pekip) und die restlichen Tage treffe ich mich mit anderen Mamas, meiner eigenen Mutter und Schwiegermutter oder auch einfach mit Freundinnen in deren Mittagspause.”
SPRECHERIN
Genau solche Online-Foren hat sich die Soziologin Silke Ohlmeier genauer angesehen und die Langeweile von Müttern in der Elternzeit untersucht. Bei den gelangweilten Müttern ist ihr besonders aufgefallen:
14 ZSP Langeweile Mutterschaft (47 sek)
"Diese Mütter sind da reingegangen mit der Vorstellung, dass Mutterschaft etwas ist, was sie vollkommen erfüllen wird und so ein bisschen auch, dass es sonst eigentlich nicht viel mehr braucht als die Mutterrolle. Und dann haben sie aber ihre Mutterschaft anders erlebt, also eben als langweilig. Als: Ich habe hier nicht genug zu tun, oder ich finde, meine Arbeit ist nicht wertgeschätzt. Mir fehlt meine Erwerbsarbeit und so weiter. Aber gleichzeitig also, anstatt dann zu sagen: “da war meine Vorstellung vorher wohl falsch, ich wusste vorher nicht, wie sich das für mich anfühlen wird”, haben Sie eigentlich weiterhin festgehalten an diesem Ideal und wollten dem entsprechen und dachten dann so “ich habe selbst was falsch gemacht”.
SPRECHERIN
Langeweile als individuelles Verschulden, und nicht als Systemfehler. Auch bei den Bewältigungsmechanismen hat Silke Ohlmeier ein Muster entdeckt:
15 ZSP Langeweile Beschäftigung (31 sek)
"Dazu kommt aber auch noch, dass ganz viele Menschen denken, dass Langeweile ein Problem ist von Beschäftigung und Nicht-Beschäftigung. Was dann als Handlungsstrategie passiert ist, ist, dass die zu Mutter-Kind-Kursen gegangen sind, irgendwie Zeit totgeschlagen haben, in dem sie Einkäufe erledigt haben und so weiter. Aber im Grunde war es noch mehr in dieser Mutterrolle, anstatt irgendwie sich hinzusetzen und zum Beispiel zu überlegen, kann ich mir Carearbeit anders aufteilen? Vielleicht mit meinem Partner?”
SPRECHERIN
Dabei sei Langeweile keine entspannte Form von “Nichts-Tun”. Sondern purer Stress. Müttern zu raten, sie sollen sich eine Beschäftigung suchen und viel raus gehen, sei deshalb kontraproduktiv.
16 ZSP Langeweile richtige Beschäftigung (16 sek)
“Mütter gerade auch im ersten Jahr sind beschäftigt. Es gibt ja total viel zu tun. Aber so da irgendwie auch zu verstehen, dass es auch darum geht, die richtige Beschäftigung zu haben, also das, was im Einklang mit den eigenen Fähigkeiten und Interessen steht.”
SPRECHERIN
Wichtig: Auch Väter können sich in der Elternzeit langweilen. Und: Nicht alle Mütter langweilen sich bei der Care-Arbeit.
17 ZSP Langeweile Wertschätzung (24 sek)
“Gleichermaßen habe ich in meinem Datenmaterial auch Mütter gefunden, die Vollzeit zu Hause waren und die sich nicht gelangweilt haben. Und da war dann der große Unterschied, dass diese Mütter ihre Arbeit zu Hause selbst als sehr wertvoll und wichtig erachtet haben. ”
SPRECHERIN
Bei gelangweilten Müttern spielt es also eine Rolle, dass Care-Arbeit in unserer Gesellschaft nicht wertgeschätzt wird. Und sie sie selbst auch als weniger wertvoll sehen. Die Lösung gegen Langeweile heißt dann: Erwerbs-Arbeit. Aber was ist mit Menschen, für die es besonders schwer ist, eine Erwerbs-Arbeit zu finden? Menschen mit Einschränkungen zum Beispiel.
Musik 10: Living in the shadows – siehe vorn – 13 Sek
ZITATOR
Ableismus - Warum Menschen mit Behinderung eher von Langeweile betroffen sind
Musik 11: Kat’s gut – 1:04 min
SPRECHERIN
Für Menschen mit Behinderung ist Langeweile nicht die Folge der Behinderung, sondern die Konsequenz der mangelnden Barrierefreiheit, schreibt Silke Ohlmeier in ihrem Buch “Langeweile ist politisch”. Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen sei Langeweile ein Problem, weil über deren Freizeit bestimmt wird. Und wenn sie diese Freizeit nicht als sinnstiftend empfinden, entsteht Langeweile. Wie es für Menschen mit körperlicher Einschränkung ist, erzählt Alexander Vatteroth. Der 21-Jährige hat von Geburt an eine Spastik. Er kann laufen, aber eingeschränkt. Weil er nicht lange stehen kann, ist für ihn klar, dass er gerne einen Bürojob haben möchte. Deswegen macht er nach seinem Abschluss an der Förderschule eine Ausbildung zum Fachpraktiker für Bürokommunikation. Als er nach der Ausbildung nicht übernommen wird, beginnt die Langeweile.
18 ZSP Langeweile nach der Ausbildung (16 sek)
“Und dann habe ich erst mal nach der Ausbildung, ja zu Hause verbracht. Lange Zeit, ein halbes Jahr. Mir war eigentlich ganz schön langweilig. Musste überlegen, was ich mache. Dadurch, dass ich halt nicht von Zuhause wegkommen bin.”
SPRECHERIN
Seitdem ist Alexander Vatteroth auf Jobsuche.
19 ZSP Langeweile Bewerbung (36 sek)
“Ich habe mich zum Beispiel auch bei einer Druckerfirma in Landshut beworben oder auch in verschiedenen Firmen beworben. Wo ich auch viele Absagen bekommen habe. Durch den Schwerbehindertenausweis habe ich halt in Firmen wenig Chancen. Eher so in Behörden, also die laden mich dann auch ein, weil sie müssen, wegen dem Schwerbehindertenausweis und in Firmen allgemein gar keine Chancen.“
SPRECHERIN
Es gibt in Deutschland noch eine andere Personengruppe, die es systematisch schwer hat, Arbeit zu bekommen. Oder besser gesagt, die systematisch davon abgehalten wird, zu arbeiten: Geflüchtete.
Musik 12: Living in the Shadows – siehe vorn – 13 Sek
ZITATOR
Rassismus - Warum People of Color eher von Langeweile betroffen sind
SPRECHERIN
Die polnischen Langeweileforscher Izabela Wagner und Mariusz Finkielsztein [sprich: Mariusch Finkielschtein] haben für eine Studie ein Flüchtlingslager in Südeuropa untersucht. Dort sind sie auf ein Phänomen gestoßen, das sie strategische Langeweile nennen. Also Langeweile, die von der Lagerleitung gezielt als Instrument benutzt wird, um die Geflüchteten zu kontrollieren. Die These: Menschen, die gelangweilt sind, lassen sich besser leiten, weil sie antriebslos und lethargisch sind. So gab es in dem Lager, das Wagner und Finkielsztein besucht haben, weder Internet, noch Fernsehen. Und als Landwirte aus der Umgebung kamen, um im Lager nach Erntehelfern zu fragen, wurden sie von der Lagerleitung weggeschickt. Und dass, obwohl Arbeit ein zentraler Bestandteil für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft ist. Das sagt auch Naqip Hakimi vom Bayerischen Flüchtlingsrat:
20 ZSP Langeweile Integration (36 sek)
"Und so wird die Gesellschaft funktionieren. (...) Und wenn die Menschen von anderen Ländern hierher kommen … sie sind nicht aus Faulheit gekommen, sind nicht einfach, weil sie da Lust darauf hatten, dann sollten sie so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt gehen, damit sie sich integrieren können, damit die auch die Gesellschaft, die Werte in Deutschland verstehen.”
SPRECHERIN
Die Situation für Geflüchtete am deutschen Arbeitsmarkt änderte sich in der Vergangenheit immer wieder. Wurden in den 1970er Jahren noch systematisch Arbeitserlaubnisse erteilt, führte die steigende Zahl von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in den 1980er Jahren dazu, dass die Bundesanstalt für Arbeit im ersten Jahr nach der Ankunft keine Arbeitserlaubnisse mehr vergab. 1997 sorgte Arbeitsminister Norbert Blüm mit dem so genannten “Blüm-Erlass” dafür, dass Geflüchtete überhaupt nicht mehr arbeiten durften. Der Grund: die hohe Arbeitslosigkeit damals. Das Narrativ: Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg. Heute gilt: Arbeitsverbot in den ersten drei Monaten, dann stufenweise Lockerung – aber nur, wenn man nicht aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland kommt. Da gilt das Arbeitsverbot grundsätzlich. Das Narrativ: Ausländer haben es auf die Sozialleistungen abgesehen und sollen so schnell wie möglich arbeiten. Das neue Schlagwort heißt Arbeitspflicht. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen ist so schwer. Und wer sein Leben nicht selbstbestimmt führen kann, kann kaum im Einklang mit seinen Interessen und Fähigkeiten leben. Langeweile ist bei Geflüchteten also vorprogrammiert.
Musik 13: 1.1_5-illusionofchoice.mp3 – siehe vorn – 1:30 Min
Klassismus, Sexismus, Ableismus, Rassismus – in all diesen Diskriminierungsformen steckt chronische Langeweile. Aber: Langeweile ist intersektional. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie auftritt, steigt, je mehr marginalisierten Gruppen jemand angehört. Menschen mit wenig Geld – betroffen, Menschen mit wenig Geld und Migrationsgeschichte – stärker betroffen, Frauen mit wenig Geld und Migrationsgeschichte – noch stärker betroffen, minderjährige Frauen mit wenig Geld und Migrationsgeschichte – noch viel stärker betroffen. Langeweile ist also nicht nur ein individuelles, sondern auch ein strukturelles, gesellschaftliches Problem. Sie ist eine Folge von Machtverhältnissen. Und deswegen politisch.
Ida B. Wells hat ihr Leben den Bürgerrechten gewidmet. Als eine der ersten Schwarzen investigativen Journalistinnen der USA kämpfte sie gegen die grausamen Lynchmorde an, denen Tausende meist Schwarzer zum Opfer fielen. Von Michael Zametzer (BR 2022)
Credits
Autor dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Andreas Neumann, Katja Bürkle, Peter Lersch
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Dr. Manfred Berg, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Dr. Nicole Hirschfelder, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
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Die Geschichte der Worte ist eine der Ermächtigung - denn sie kommen von Gott oder den Göttern. In allen Kulturen hat man so von jeher versucht, mit Zaubersprüchen, Flüchen oder Segen, die Welt und das Schicksal zu beeinflussen. Auf dem Glauben, dass bestimmte Wörter magische Kraft besitzen, fußt die Macht des Wortes. Von Frank Halbach (BR 2023)
Credits:
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Bürkle, Edith Saldanha, Burchard Dabinnus
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Susanne Poelchau
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Literaturtipps:
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Im Jahr 1847 erscheinen in Großbritannien drei Romane von drei bisher unbekannten Männern, die Furore machen werden. Nur, wer sind die drei Newcomer, die die Literatur der viktorianischen Zeit auf den Kopf stellen werden? - Bald stellt sich heraus, es sind drei Schwestern, die Geschwister Brontë: Emily, Charlotte und Anne, die alle unter einem männlichen Pseudonym veröffentlichen. Von Martin Trauner (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Marlen Reichert, Christopher Mann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Dr. Katharina Pink – Dozentin für Englische Linguistik LMU München
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Mitte der späten 1850er Jahre in England. Die Schriftstellerin Elisabeth Gaskell reist in die Grafschaft Yorkshire… Sie will nach Haworth…
ZITATORIN: (Elisabeth Gaskell)
Beim Anstieg wird die Vegetation ärmer. Nichts gedeiht, alles existiert einfach. Keine Bäume: nur Büsche oder Sträucher….
SPRECHERIN:
Elisabeth Gaskell soll eine Biografie über Charlotte Brontë schreiben. Die war wenige Jahre zuvor in Haworth gestorben, hier hatte sie ihr fast ganzes Leben verbracht, in einem kleinen Ort, im Norden Englands.
MUSIK stoppt
001 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Elisabeth Gaskell hat ja schon sehr früh ihre Biografie geschrieben, da war die noch keine zehn Jahre tot…
SPRECHERIN:
Sagt die Anglistin Katharina Pink. Sie hat ein Buch über das Leben der Charlotte Brontë geschrieben.
002 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Und das war sowieso sehr ungewöhnlich, eine Biografie über eine Schriftstellerin zu haben, die ihrerseits von einer Frau und auch einer Schriftstellerin verfasst war, und da wurde schon sehr viel „Imagepflege“ getrieben. Also Gaskell hat schon einiges unterdrückt…
MUSIK: „Someone loves us“
SPRECHERIN:
Aber wieder zurück in die Mitte des 19.Jahrhunderts, zu Elisabeth Gaskell… In den kargen Norden Englands…
ZITATORIN: (Elisabeth Gaskell)
Man kann Haworth schon zwei Meilen sehen, bevor man ankommt. Haworth liegt neben einem wirklich sehr hübschen Hügel…
SPRECHERIN:
Aber aus den Romanen von Charlotte Brontë und derer beiden Schwestern weiß Gaskell auch: Haworth mag zwar auf den ersten Blick irgendwie hübsch sein, aber; Haworth ist auch irgendwie anders ….
MUSIK: „Ice glas“
ZITATOR (Lockwood –sarkastisch) (stark verfremdet – HALL -usw)
Das ist wirklich eine wahrlich schöne Gegend, ich glaube, in ganz England gibt es keine Gegend, die weiter vom Lärm der Gesellschaft entfernt ist. Der „wahre Himmel“ für einen Misanthropen …
ZITATORIN (Charlotte) Hall usw
Da saß ich auf dem niedrigen Bettgestell, die Augen auf’s Fenster gerichtet, durch das nichts anderes zu sehen war, als ein riesiges Moor und ein grauer Kirchturm inmitten des Friedhofs.
MUSIK bleibt düster und
ATMO: Wind
SPRECHERIN:
Dass der Ort Haworth ein wenig außergewöhnlich sein mag, das hat Elisabeth Gaskell also gewusst, bevor sie auf ihre Recherchereise ging - Haworth, das bedeutet: wilde, kalte Moore - bedrückend und einsam – und da ist eine Kirche mit Friedhof. Mittendrin das Pfarrhaus von Patrick Brontë. Er ist zu Gaskells Zeit der Pfarrer von Haworth. Und er war der Vater dreier literarisch begabter, oder sogar höchst begabter Töchter… Sie alle lebten in diesem beengten, ärmlichen Pfarrhaus…
ZITATORIN: (Elisabeth Gaskell)
Das Haus ist aus grauem Stein, zwei Stockwerke hoch, mit schweren Ziegeln gedeckt, es muss ja den Winden standhalten…
MUSIK aus und Atmo (WIND) weiter
003 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Ja. Also dieses Haus, das muss man sich wirklich vorstellen, das steht so ziemlich weit oben an so einem Hügel, der Wind pfiff sommers wie winters um die Ecken, umgeben von einem Friedhof, und wenn man aus dem Fenster schaut, war da ein grauer Kirchturm und sonst nur dieses Hochmoor, was meistens braun war…
SPRECHERIN:
Sagt Katharina Pink. Sie lehrt an der Münchner Ludwig Maximilians Universität. Und sie gibt Elisabeth Gaskell irgendwie Recht. Haworth war schon einigermaßen außergewöhnlich.
004 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Tatsächlich muss man sagen, dass der Ort, an dem die Brontë Schwester aufgewachsen sind, „Ticks off the box“ sind…
MUSIKAKZENT
ATMO PARKPLATZ
SPRECHERIN: (Schnell drüber und mit dem Werbevideo verschneiden)
Heute liegt vor dem Pfarrhaus ein großer Parkplatz - Ein Wallfahrtsort für die Brontë Verehrer und Verehrerinnen, sie kommen hauptsächlich aus dem angelsächsischen Raum hierher. Um ein wenig in das Leben und in die Welt der Geschwister Brontë einzutauchen. Vor allem in das Leben der Charlotte Brontë…
005 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Also, Haworth ist ja heutzutage ein Museum. Man hat alles, was man so finden konnte, ausgestellt und kuratiert und aufbewahrt, aber das tragische bei Emily und Anne: Es gibt nichts.
SPRECHERIN:
Im Museum steht tatsächlich viel Krimskrams aus viktorianischer Zeit. Kleidung, die Charlotte getragen haben könnte. Charlottes Schreibtisch. Charlottes Arbeitszimmer. Charlottes Stift … Aber von Emily und Anne, von ihren jüngeren Schwestern, da gibt’s wenig…
ATMO aus
MUSIK: „A model of the universe“
SPRECHERIN:
Wer sind sie nun, die berühmten – zumindest berühmt im englischsprachigen Raum – also: wer sind die Geschwister Brontë? Die fast ihr ganzes Leben in der Düsternis und Einsamkeit von Haworth verbracht haben? - Um sich einigermaßen zu Recht zu finden, muss man tatsächlich so etwas wie eine Familienaufstellung machen. –
MUSIK aus
SPRECHERIN:
Also: Da gibt es zunächst einmal die wohl wichtigste Person, den Vater, den Pfarrer von Haworth. Patrick Brontë.
006 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Der ist in der Nähe von Belfast aufgewachsen, als eines von zehn Kindern, wie es in Irland so üblich war …
SPRECHERIN:
Patrick Brontë kommt am 17. März 1777 in einer armen irischen Bauernfamilie als Erstgeborener zur Welt. Am St. Patricks Day. Dem Gedenktag des irischen Nationalheiligen. Daher wohl sein Vorname. Gefördert vom Dorfpfarrer geht er zum Studieren ins englische Cambridge. Aber zuvor hat er noch schnell mal seinen Nachnamen geändert. Da hat er …
007 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
..hat er den Namen „Brunty“, der eigentlich mit „Y“ oder „I“ geschrieben war und irischen Ursprungs war, abgewandelt, um seine irischen Wurzel ein wenig zu vertuschen. Und da hat er sich dann für dieses „E“ mit Trema entschieden…
SPRECHERIN:
„E“ mit Trema heißt, Patrick fügt einen Doppelpunkt über den Schlusslaut seines neuen Nachnamens ein. Ein wenig exzentrisch…
008 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Aber es ist schon komisch, weil dieses „E“ mit Trema ist ja auch in englischen Sprachraum absolut unüblich und auch im französischen Sprachraum nicht wahnsinnig häufig vorzufinden…
SPRECHERIN:
Immerhin, damit hat er ein Markenzeichen gesetzt. Mit seinem „E“ mit Trema. Noch heute stolpert man über den Namen „Brontë“ wegen des ungewöhnlichen Schlussvokals. - Jedenfalls, mit seiner Frau Maria, geborene Branwell, bekommt Patrick „Brontë“ sechs Kinder…
009 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Ja, sechs Kinder haben die bekommen, in relativ kurzer Zeit, und von denen sollte Patrick alle überleben.
MUSIK: „A model of the universe“
SPRECHERIN:
Auch seine Frau überlebt er. Maria stirbt kurz nach der Geburt der letzten Tochter, vermutlich an Unterleibskrebs, mit 38 Jahren. - Patrick hatte mittlerweile die Stelle im Pfarrhaus im nordenglischen Haworth angetreten. Nun musste er alleine auf seine sechs Kinder aufpassen…
MUSIK ENDE
SPRECHERIN:
Sechs Kinder, das bedeutete für ihn: fünf Töchter, ein Sohn: Maria, Elisabeth, Charlotte, Emily, Anne. Und Branwell. - Maria und Elisabeth, die beiden ältesten Schwestern, starben bereits sehr früh im Alter von zehn und elf Jahren. Blieben noch die anderen vier Kinder: - Zum Beispiel Charlotte, die drittgeborene:
010 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Charlotte ist eher unfreiwillig in die Rolle der ältesten Schwester gerückt. Es waren ja noch zwei Schwestern davor, die auf tragische Weise früh ums Leben gekommen sind … Ich würde sagen, sie war so die strengste, also, sie hat sich das selbst auch stark auferlegt, so diese Rolle der strengen großen Schwester, das Vorbild, viel Selbstbeherrschung, Fleiß und vor allem sehr intellektuell, aber das kann man tatsächlich über alle drei sagen…
SPRECHERIN:
Über Tochter Charlotte wissen wir heute am meisten. Es gibt etliche Briefe und Aufzeichnungen, vor allem ihr erster Roman kann durchaus autobiografisch gelesen werden. Es ist die Geschichte der Gouvernante „Jane Eyre“, die schon doch sehr der realen Charlotte ähnelt. - Charlotte starb als letzte der Geschwister Brontë. Mit 38 Jahren. - Vermutlich hat sie beim Sichten der Nachlässe der anderen auch darauf geachtet, dass nicht all zu viel Intimes aus ihrer Familie in die Nachwelt überliefert wird…
011 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Also es ist doch anzunehmen, dass die sehr viel vernichtet hat…
SPRECHERIN:
Meint Katharina Pink…
012 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Weil gerade Emily Brontë, die hat ja kein Blatt vor den Mund genommen. Die ist vielleicht die jüngere Schwester von Charlotte gewesen, war vom Naturell her eine wirklich so eigenständige Persönlichkeit in diesem Haushalt. Die hat ihr eigenes Ding gemacht, ihren eigenen Kopf gehabt.
MUSIK: „You’ll be Queen for one day “
SPRECHERIN:
Emily Brontës Werk ist schmal, aber beeindruckend. Ein paar Gedichte und ein Roman: „Wuthering Heights“. Eine Liebesgeschichte im Hochmoor. Deutscher Titel: „Sturmhöhe“.
- Emily stirbt mit 30 Jahren. –
Musik aus
SPRECHERIN:
Und dann gibt es noch eine Schwester, die jüngste. Anne. Auch von ihr sind einige Gedichte überliefert und zwei Romane. – Sie stirbt bereits mit 29 Jahren. –
013 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Bei Anne darf man vermuten … also: Charlotte hatte eine sehr herablassende Haltung gegenüber Anne, die war ja so das Nesthäkchen der Familie und sie wurde von Charlotte chronisch nicht ernst genommen als Autorin (…) also die hat auch noch was geschrieben, die darf auch mitmachen… (Und da ist leider auch davon auszugehen, dass einige Sachen nicht der Zensur anheim gefallen sind, sondern die waren einfach zu trivial in Charlottes Augen. Also: Das kann man vermuten, aber ach das sind natürlich Spekulationen…)
MUSIK: „You’ll be Queen for one day “
SPRECHERIN:
Fehlt noch der vierte im Bunde, der Bruder. Ja, irgendwie gehört auch er dazu. Freilich: als Schriftsteller war er nicht sonderlich erfolgreich... Der Bruder wird, obwohl er eigentlich wie der Vater „Patrick“ heißt, von allen „Branwell“ genannt.
014 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Patrick Branwell war der einzige Sohn in der Familie. Und er war so der Hoffnungsträger. Von dem hat man sich erhofft, dass er die „steile“ Karriere des Vaters fortsetzt…
SPRECHERIN:
Der Vater verhätschelt den Sohn. Auf ihn setzt er alles. Und weil Pfarrer Brontë immer schon selbst künstlerische Ambitionen hegte, sollte Branwell in diese großen Fußstapfen treten…
015 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Wenn sich Patrick oder Branwell, wie er hieß in der Familie, eingebildet hat, er wird jetzt Maler, dann wurde auch sämtliches Erspartes mobilisiert, um ihn an der Royal Academy anzumelden. Aber auch das hat natürlich wieder nicht geklappt. Dann wollte er Schriftsteller werden, dafür hat’s dann leider auch nicht gereicht. – Aber das wurde immer unterstützt, und in die Töchter wurde nicht so sehr investiert. Da wurde gerade genug investiert, dass sie hoffentlich eines Tages auf eigenen Beinen stehen können, finanziell. Weil in Sachen Erbe oder Familienunterstützung nicht so viel zu erwarten war…
SPRECHERIN:
Branwell bricht mit 31 Jahren vor der Tür des Pfarrhauses in Haworth zusammen und stirbt. Todesursache war wahrscheinlich sein heftiger Alkohol- und Drogenkonsum. Also Whiskey und Opium.
ATMO „Haworth“ und
MUSIK: „We were right “
ZITATORIN (Emily Brontë: High weaving heather)
Hochwogendes Heidekraut unter Sturmböen gebeugt.
Mitternacht und das Licht des Mondes und der helle Sternenhimmel
Dunkelheit und Ruhm verschmelzen im Jubel
Die Erde strebt zum Himmel und der Himmel steigt herab…
SPRECHERIN:
Ein späteres Gedicht von Emily Brontë, „High weaving heather“. Sie konnte in der rauen Umgebung von Haworth eine Spur von Poesie entdecken
016 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Die war vielleicht auch die einzige, die in Haworth, in Yorkshire, was ja eine kalte, karge Landschaft war, wirklich glücklich und beheimatet war…
SPRECHERIN:
Wie gesagt, die Mutter starb bereits sehr früh, da war Emily gerade zwei Jahre alt. - Aber wie sah nun der harte Alltag in Haworth für die Geschwister Brontë aus? - Nun. Pfarrer Patrick, sehr puritanisch geprägt, legte viel Wert auf Bildung. Vor allem natürlich auf Religion, aber auch auf Philosophie und Politik. Am Morgen las er den Kindern aus der Zeitung vor. Dann ging er in sein Arbeitszimmer. Ansonsten blieben die Kinder sich selbst überlassen.
017 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Es gab keinen Familienkreis in dem Sinne. Deswegen war der Bund unter den Geschwistern so stark…
SPRECHERIN:
Eine Schule besuchten die Schwestern zunächst nicht. Um Sohn Branwell kümmerte sich der Vater, der sollte ja etwas Besonderes werden. Die Mädchen wurden von der Tante unterrichtet.
018 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Der Erfahrungsraum von den drei Schwestern war wirklich sehr, sehr, sehr begrenzt. Auch wenn man so eine Biografie über die schreibt, dann schreibt man halt wahrscheinlich: Ja, die nächsten fünf Jahre waren sie zu Hause. Ja: Sie waren zu Hause! (…)
SPRECHERIN
Zu Hause in Haworth. - Ein ebenbürtiger, gesellschaftlicher Austausch fand nicht statt oder besser gesagt, konnte gar nicht stattfinden. Denn in Haworth dürfte eine Pfarrersfamilie zu den gebildetsten gehört haben. Und in die nächste große Stadt, obwohl nur wenige Meilen entfernt, konnte man nicht fahren. Der Weg dahin: zu beschwerlich. Also:
019 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Das heißt: man war immer Zuhause, man hat viel gelesen, deswegen hatte man rein intellektuell einen sehr großen Wissenshorizont, aber der tatsächliche Erfahrungshorizont, wo es dann um Gefühle ging und Emotion – da war nicht viel los …
MUSIK: „A model of the universe“
SPRECHERIN
Im Laufe des Jahres 1824, Charlotte war acht, Emily sechs Jahre alt, gab Pfarrer Patrick seinen Töchtern doch die Möglichkeit, etwas anderes als das Pfarrhaus und die umliegenden Moore zu sehen. Er brachte seine vier ältesten Töchter – damals lebten die beiden großen Schwestern Elisabeth und Maria noch – in einem Mädcheninternat unter. Der Vorteil: Die „Töchterschule“ war günstig, Pfarrer Brontë konnte sich das Schulgeld leisten und: seine Kinder sollten eine Ausbildung erhalten: als künftige Gouvernanten oder als gute Ehefrauen. Nachteil der Schule: diese Zeit muss für die Schwestern traumatisch gewesen sein. Unbeheizte Räume, karges Essen, aber vor allem viel Beten, viel Frömmigkeit und strengste Disziplin. – Die beiden großen Töchter werden schon einige Monate später wieder nach Hause geschickt. Zu kränklich seien sie für den Schulbesuch. - Die beiden sterben kurz nach der Heimkehr im Elternhaus in Haworth. Pfarrer Brontë holt darauf Charlotte und Emily wieder zu sich ins Pfarrhaus.
MUSIK: „Aurora borealis“
ZITATORIN (Charlotte Brontë)
Branwell kam mit einer Schachtel Holzsoldaten in unser Zimmer. Emily und ich hüpften aus dem Bett und ich schnappte mir einen der Soldaten und rief: Das ist der Herzog von Wellington!
SPRECHERIN
Charlotte erinnert sich. Damals muss sie um die 10 Jahre alt gewesen sein. Die vier verbliebenen Geschwister verbrachten nach den bedrückenden Erlebnissen im Internat wieder viel Zeit miteinander. – Die Holzsoldaten hatte Branwell vom Vater geschenkt bekommen. Und mit Hilfe dieser zwölf Figuren entwickelten die Kinder seltsame Spiele…
ZITATORIN (Charlotte Brontë)
Alle unsere Spiele waren sehr eigenartig. Ich denke, darüber brauche ich nichts zu schreiben. Ich werde sie nie vergessen!
SPRECHERIN
Was man heute weiß: Die Kinder Brontë erfinden Phantasiewelten, etwa Gondal und Angria. Und für ihr „Spiele“ schreiben sie Texte: Gedichte oder kleine Stücke; oder sie malen Bilder. Sie erschaffen sich eine parallele Phanasiewelt zu der realen Welt in Haworth…
020 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Also das war eher so ein eskapistisches Schreiben, mit dem sich die Kinder auch unterhalten haben gegenseitig. Denn sie hatten ja keinerlei Spielzeug oder Spielkameraden.
MUSIK aus
ZITATORIN (Charlotte Brontë)
Eines Tages stieß ich zufällig auf eine Menge von Manuskripten in der Handschrift meiner Schwester Emily
021 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
(Es war so): Charlotte hat zufällig gemerkt, dass Emily Gedichte schreibt. Die hat einfach Manuskripte oder Zettel herumfliegen sehen und die gelesen. Wobei Emily erst fürchtend wütend war, weil das impertinent war, so was zu lesen…
MUSIK: „Aurora borealis“
SPRECHERIN
Natürlich wusste Charlotte, dass ihre kleine Schwester – die übrigens zu diesem Zeitpunkt schon 25 Jahre alt war - sie wusste, dass Emily Gedichte schrieb, also für die Welten von Gondal und Angria. Aber diese Verse, die sie da gefunden hatte, die waren ganz anders.
ZITATORIN (Charlotte Brontë)
Nichts von der Art Poesie, wie sie üblicherweise von Frauen verfasst wird. Es war ein besonderer Sound (Klang). Wild, erhebend, irgendwie auch melancholisch…
SPRECHERIN
Wie gesagt, Emily war nicht angetan von der Entdeckung, ihr Innerstes ging niemanden etwas an, aber …
022 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
(…) Aber dann kam man doch ins Gespräch und Anne sagte dann, ja, ich hab ja auch noch was geschrieben, und dann haben sich die Schwestern zusammengesetzt…
SPRECHERIN
Die Schwestern beschließen, gemeinsam einen Gedichtband zu veröffentlichen. Ihren Bruder Branwell, der ja auch literarische Ambitionen hatte und der auch seinen Teil zu den Phantasiewelten beigesteuert hatte, lassen sie außen vor. Sie stellen einen Gedichtband zusammen und schicken ihn an verschiedene Verlage. Als Autoren nennen sie: Currer, Ellis und Acton Bell. Allesamt männliche Pseudonyme…
023 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Nicht, weil es so war, dass Frauen gar nicht publiziert haben zu der Zeit, das gab es durchaus.
SPRECHERIN
Sagt die Anglistin Katharina Pink…
024 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Aber die Themenfelder, derer man sich als Frau annehmen durfte und wo man als kompetent gelten durfte, waren ja dann auch etwas beschränkt. Und man wurde ja auch immer beurteilt im Hinblick dessen, dass das ja eine Frau geschrieben hat. Und davon wollte Charlotte sich frei machen oder wollte einfach ein neutrales Urteil…
SPRECHERIN
Der Verlag Aylott & Jones in London veröffentlichte 1846 die „Poems“ von „Currer, Ellis und Acton Bell“. – Die Schwestern übernahmen die Druckkosten, um die 30 Pfund, damit das Bändchen mit seinen 165 Seiten überhaupt erscheinen konnte. Und: Verkauft haben sie ganze zwei Exemplare. Aber immerhin: Die Kritiken waren gut. Es waren derer drei. Übrigens: Charlottes Gedichte, also die von Currer Bell, kamen am schlechtesten weg…
MUSIK: „A model of the universe“
SPRECHERIN
Und jetzt wird’s gewagt und jetzt geht auch sehr schnell: Romane müssen her. Branwell, der Bruder, er hatte schon geunkt, nur der Roman schaffe Erfolg bei der Leserschaft. Er selbst hätte einen schreiben wollen, aber das ging, wie tragischerweise alles bei ihm, allerdings schief. Aber nicht bei den drei Schwestern …
025 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Sie haben sich dann wirklich überlegt, jetzt probieren wir es mit einem Roman. Und vielleicht sogar so mit einem „Tripledecker“
SPRECHERIN
Also so in etwa drei Bücher in einem Schuber –
026 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
(…) den konnte man aufteilen, und somit konnten mehrere Leute gleichzeitig daran lesen …
SPRECHERIN
Die Schwestern bieten ihre Romane, natürlich noch unter den männlichen Pseudonymen, etlichen Verlagen an …
027 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Also: Emily Brontë eben „Sturmhöhe“, Anne Brontë „Agnes Grey“, das war ihr Gouvernanten-Roman, ihr erster Roman, und Charlotte Brontë „The Professor“
SPRECHERIN
Der Verlag nahm die Romane der jüngeren Schwestern, also der vermeintlichen Brüder, an. Nur Charlottes Roman lehnte man ab. Sie musste also nochmals ran. Und Charlotte schrieb ihr bis heute bekanntestes Werk „Jane Eyre“ Und dafür fand sie tatsächlich einen Verlag´. Eine anderen als den der Schwestern. Aber immerhin: ihr Roman wurde schnell veröffentlicht.
028 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
SPRECHERIN
Charlottes „Jane Eyre“ wird zu einem viktorianischem Beststeller. Und so zieht der andere Verlag, der die anderen beiden AutorInnen (ja. Hier gern gendern) unter Vertrag hatte, endlich nach. Und veröffentlicht „Sturmhöhe“ und „Agnes Grey“, die Bücher der jüngeren Schwestern, um auch noch Geld mit dem Brontë-Hype zu verdienen. –
MUSIK: „A model of the universe“
SPRECHERIN
Charlotte, und auch Anne, schreiben in ihren Romanen über die Erfahrungen als Gouvernante. Für diese Form der Literatur gibt es sogar einen Begriff: Der Gouvernantenroman.
029 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Man kann schon sagen, dass sie den maßgeblich mitbegründet haben. Aber in ihrem Falle liegt das daran, dass sie über das geschrieben haben was sie kannten.
SPRECHERIN
Erst sehr spät hat man verstranden, dass auch Emily nur über das schrieb, was sie kannte, und sogar mochte. Die Moorlandschaften von Hayworth
030 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Das zeigt sich auch im Roman „Sturmhöhe“. Die war da stark verwurzelt, aber eine sehr unkonventionelle Frau, um nicht zu sagen: unweiblich, wenn man das misst an den Maßgaben der viktorianischen Zeit.
SPRECHERIN
„Sturmhöhe“ gilt als Meisterwerk der Brontë-Schwestern. Der Roman zählt heute wohl zur Weltliteratur. Dabei geht es nur um zwei Anwesen in den Hochmooren von Yorkshire.
031 ZUSPIELUNG (Katharina Pink)
Aber es ist halt eine interessante Liebesgeschichte. Weil es eben auch eine Rachegeschichte ist. Und Liebesgeschichten die mit Rache verwoben werden, sind dann doch immer erfolgreich über die Jahre (…)
ATMO düster (Haworth)
MUSIK: „Someone loves us“
SPRECHERIN
In „Sturmhöhe“ lässt Emily ihrem fiktiven Erzähler das sagen, was sie wohl selbst über Haworth dachte. Die Figur Lockwood steht am Schluss des Romans vor drei Gräbern. Er, oder vielleicht Emily, sie haben ihren Frieden mit diesem seltsamen Ort gemacht… Mit Haworth…
ZITATOR (Lockwood):
Ich verweilte bei ihnen unter dem gütigen Himmel. Sah die Nachtfalter, die um das Heidekraut und die Glockenblume umherflogen. Lauschte dem im Laub flüsternden und mildem Wind und wunderte mich, wie irgendjemand glauben könnte, die Schläfer an diesem stillen Flecken der Erde könnten nicht in Fried ruhen …
MUSIK
Blut ist nicht gleich Blut, es besteht aus vielen unterschiedlichen Bestandteilen, die alle gleichermaßen für unser Leben und Überleben existentiell sind. Deshalb suchen Forschende nach Alternativen aus dem Labor. Von Daniela Remus
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Florian Schwarz
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof.em. Gregor Bein, Transfusionsmediziner, Justus-Liebig-Universität Gießen
Dr. Sven Peine, Transfusionsmediziner, Eppendorf, Hamburg
Prof. Torsten Tonn, Transfusionsmediziner, Technische Universität Dresden
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Blut ist zentral für das Leben - und nicht nur für uns, sondern auch für alle anderen Wirbeltiere. Ohne die 5-6 Liter rote Flüssigkeit, die unser Herz regelmäßig durch den Organismus pumpt, ist kein Leben denkbar.
Blut, von manchen als flüssiges Gewebe oder sogar als flüssiges Organ bezeichnet, versorgt alle Zellen des Organismus mit Sauerstoff. Ohne den Blutkreislauf mit Sauerstofftransport einerseits und dem Abtransport von Kohlenstoffdioxid andererseits ist Leben nicht möglich. Deshalb ist Blut ganz besonders kostbar. Und deshalb wird regelmäßig dazu aufgerufen, Blut zu spenden.
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Blutspender retten Leben. Bist du dabei?
Jetzt Blut spenden und Leben retten!
Reserven aufgebraucht. Spende Blut
ATMO 1
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An einem Vormittag im Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg, genauer gesagt beim dortigen Blutspendedienst. Im Eingangsbereich des schmucklosen Funktionsbaus warten Menschen, um Blut zu spenden. Zunächst müssen sie sich anmelden, einen Fragebogen ausfüllen und mit einem Arzt oder einer Ärztin über Krankheiten, Allergien, sexuelle Kontakte oder Auslandsaufenthalte sprechen. Denn nur wer gesund ist, darf tatsächlich Blut spenden. Die Sicherheitsstandards sind hoch in Deutschland, weil es in der Vergangenheit mehrere Blutspende-Skandale gab. Damals wurden Krankheitserreger übertragen, Menschen starben. Eine Wiederholung dieses Szenarios soll auf jeden Fall verhindert werden.
ATMO 2 (Warteraum vor Blutentnahme)
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Wer diese Prozedur hinter sich gebracht hat, und als Spender und Spenderin infrage kommt, gelangt in einen großen hellen Raum. Dort sitzen diejenigen, die Blut spenden. Um sie herum medizinisches Personal, das erklärt, fragt, Blutproben sortiert oder Probenröhrchen beschriftet. Eine der Blutspenderinnen ist Viktoria, sie hat gerade auf einem der Behandlungssessel Platz genommen:
TAKE 1 (O-Ton Kevin/Viktoria)
K: Heute genügend gegessen und getrunken? So ungefähr eineinhalb Liter? V: Ja, eher mehr glaube ich…K: Und dann geht’s auch gleich schon los…
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Die 28jährige sitzt entspannt auf ihrem Sessel, während Sanitäter Kevin die Blutentnahme vorbereitet.
TAKE 2 (O-Ton Kevin/Viktoria)
Dann desinfiziere ich mir jetzt die Hände…Pumpen, ja kräftig die Faust machen, so Achtung, jetzt gibt’s es einen kleinen Pieks…
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Und schon fließt das Blut durch einen dünnen, durchsichtigen Schlauch. Erst in mehrere Röhrchen, die gebraucht werden, um das Blut auf Blutgruppe und Krankheitserreger zu untersuchen, und danach in den eigentlichen Blutspende-Beutel. Fünf bis zehn Minuten wird diese Aktion jetzt dauern…
Musik 2
"Transit" - Komponist: Geir Jenssen - Künstler: Biosphere - Album: Insomnia - Länge: 0'19
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…am Ende hat Viktoria einen halben Liter Blut gespendet. Danach bekommt die junge Frau eine kleine Aufwandsentschädigung und ein Lunchpaket. Aber das ist für sie nicht der Grund, regelmäßig Blut zu spenden.
TAKE 3 (O-Ton Viktoria)
Weil ich mir denke, es ist eine ganz einfache Art, um etwas Gutes tun zu können. Es tut mir nicht weh, es schadet mir nicht, aber ich weiß, ich kann was Gutes tun.
Musik 3
"Transit" - Komponist: Geir Jenssen - Künstler: Biosphere - Album: Insomnia - Länge: 0'30
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So wie Viktoria spenden jedes Jahr in Deutschland rund 3,5 Millionen Menschen Blut. Die meisten davon sind allerdings wesentlich älter als Viktoria. Und das bereitet den Medizinerinnen und Medizinern durchaus Sorge, erklärt der Transfusionsmediziner Prof. Gregor Bein von der Justus-Liebig-Universität in Gießen:
TAKE 4 (O-Ton Bein)
Kurzfristig sind wir gut aufgestellt, es gibt eine gute Kooperation zwischen allen Blutspendediensten, die sich bei lokalen Engpässen untereinander aushelfen. … aber mittel- oder langfristig haben wir ein sehr, sehr großes Problem in der Altersentwicklung unserer Bevölkerung: Die Babyboomer, die Generation über 55, leistet etwa ein Drittel aller Vollblutspenden in Deutschland jährlich, und ist damit allen anderen Altersgruppen weit voraus. Und das wird ein sehr, sehr großes Problem werden, weil diese Altersgruppe älter wird und dann nicht mehr Blut spenden kann und dann im Alter auch häufiger Blut benötigt.
Musik 4
"Transit" - Komponist: Geir Jenssen - Künstler: Biosphere - Album: Insomnia - Länge: 0'32
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Denn Blut wird längst nicht nur in den Fällen gebraucht, an die die meisten von uns beim Thema Blutspende vermutlich denken, also beispielsweise an massive Blutverluste durch schwere Unfälle oder große Operationen. Blut wird vor allem deshalb benötigt, um das Therapieangebot der modernen Hochleistungsmedizin aufrecht zu erhalten, erklärt Dr. Sven Peine, der das Institut für Transfusionsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf in HH leitet:
TAKE 5 (O-TON Peine)
So ist es, dass das meiste Blut verbraucht wird, bei Menschen in den letzten zwei Lebensjahren, bevor sie sterben und grundsätzlich ab der 60. Dekade. Also 60-70 und 70-80, das sind die Dekaden, in denen das meiste Blut verbraucht wird. Was Sinn macht, weil die Erkrankungen, die uns dahinraffen, Krebs oder auch Kardio-Vaskuläre Erkrankungen dann mit großen Herz OPs, die treten eben in diesem Alter auf.
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Herzklappen-OPs, Bypass-Operationen oder hochdosierte Chemotherapien bei einzelnen Tumorerkrankungen, das sind Behandlungen, die auch älteren Menschen, jenseits der 60, heute selbstverständlich zur Verfügung stehen. Noch vor drei Jahrzehnten war das anders. Nicht nur weil sich die OP-Techniken seither deutlich verändert haben, sondern auch:
TAKE 6 (O-Ton Peine)
Weil wir denen eben weitere 10 Jahre guter Lebensqualität damit geben können, weil sie eben im Gesamtzustand mit 65 gesünder sind als sie eben vor 30 Jahren gewesen wären, aber das wird dazu führen, dass der Blutverbrauch in den nächsten 20 Jahren weiter ansteigt.
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Auch innovative Arzneimittel wie Antikörper-Behandlungen bei chronischen Immunerkrankungen oder Stammzelltransplantationen bei einer Leukämie, sind ohne eine ausreichende Menge an Blut und Blutprodukten nicht möglich. Das muss aber meistens keine Vollblutspende sein, es reicht, die Bestandteile des Blutes, die durch die Therapie geschädigt sind oder die für die Krankheitsheilung notwendig sind, auszutauschen.
Musik 5:
"Descent" - Album: Aerial 3 - Komponist: Tod Dockstader - Länge: 0'40
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Denn Blut ist nicht gleich Blut:
TAKE 7 (O-Ton Tonn)
Blut setzt sich zusammen aus einem flüssigen Bestandteil, das ist das Blutplasma…
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Erklärt der Transfusionsmediziner Torsten Tonn, Professor an der TU in Dresden. Das flüssige Blutplasma macht über die Hälfte unseres Blutes aus. Es ist, für sich betrachtet, klar und gelblich und besteht zu rund 90% aus Wasser. Der Rest sind Hormone, Mineralstoffe und verschiedene Eiweiße. Diese sind zum Beispiel für die Gerinnung zuständig oder wichtig für die Immunabwehr.
TAKE 8 (O-Ton Tonn)
Daneben gibt es zelluläre Bestandteile…das eine sind die roten Blutkörperchen, die Erythrozyten. Die Erythrozyten sind klein, kernlos und hochflexibel, die können sich ganz schmal machen, die können durch die kleinsten Gefäße und sie können in der Lunge Sauerstoff aufnehmen und in der Peripherie auch wieder abgeben.
MUSIK 6
"Caisson" - Künstler und Komponist: Loscil - Album: Caisson Single - Länge: 1'00
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Die roten Blutkörperchen bilden die größte Gruppe aller Blutzellen. In einem Milliliter Blut sind ungefähr 4-5 Milliarden dieser winzigen Zellen enthalten. Sie sind für den Sauerstofftransport im Organismus zuständig. Und das geht so: In der Lunge beladen sie sich mit Sauerstoffmolekülen und bringen diese dahin, wo sie gebraucht werden, beispielsweise zu den arbeitenden Muskeln. Auf dem Rückweg, also von den Muskeln und Extremitäten zurück zur Lunge, entsorgen sie das Abfallprodukt Kohlenstoffdioxid aus den Zellen. Die Erythrozyten bestehen zu 90% aus Hämoglobin. Diese Eiweißverbindung ist extrem eisenhaltig, färbt deshalb die Erythrozyten und unser Blut rot und gibt den roten Blutkörperchen ihren Namen.
MUSIK 7
"JD020" - Komponist und Ausführender: Ryuichi Sakamoto - Album: Derrida - Länge: 1'01
TAKE 9 (O-Ton Tonn)
Die nächste Klasse, das sind die Blutplättchen, die sind nochmal deutlich kleiner als die roten Blutkörperchen, medizinisch nennnt man die Thrombozyten. Und die brauchen wir für die Gerinnung. Das heißt, wenn wir uns schneiden, dann kommt die Blutung in der Regel ja nach wenigen Minuten zum Stehen und das passiert indem dann diese Thrombozyten die kleinen Blutplättchen, sich vergrößern und ausweiten und die werden dann vernetzt mit einem Eiweiß, und die bilden da dann ein Blutgerinsel, ein kleines, und verkleben dann die Schnittstelle und dann kommt es dazu, dass die Blutung gestillt ist.
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Die Thrombozyten sind nicht nur kleiner als die roten Blutkörperchen - verglichen mit deren Vorkommen im Milliardenbereich - sie sind auch vergleichsweise selten: In einem Milliliter Blut schwimmen ungefähr 150 bis 400 Millionen.
Musik 8
"Jd027" - Komponist und Ausführender: Ryuichi Sakamoto - Album: Derrida - Länge: 0'47
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Neben Blutplasma, Erythrozyten und den Thrombozyten besteht unser Blut darüber hinaus auch noch aus den weißen Blutkörperchen, den sogenannten Leukozyten. Sie sind noch seltener als die Blutplättchen, in einem Milliliter Blut finden sich nur 4-10 Millionen davon. Umgangssprachlich werden sie auch manchmal als Polizei des Körpers bezeichnet, weil zu ihnen verschiedene Abwehrzellen des Immunsystems gehören. Deren Aufgabe ist es, Krankheitserreger oder Tumorzellen aufzuspüren und zu beseitigen. Darum lassen sie sich nicht nur im Blut finden, sondern auch im Gewebe. Unter dem Mikroskop betrachtet sehen sie farblos aus.
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Nach der Blutspende wird das Blut in die unterschiedlichen Bestandteile aufgetrennt, wissenschaftlich heißt dieser Prozess Apherese. An dessen Ende stehen drei Blutprodukte, die für unterschiedliche Therapien benötigt und genutzt werden: Aus dem Blutplasma stellen Firmen z.B. Arzneimittel her. So können daraus beispielsweise Immunglobuline gewonnen werden, die das körpereigene Immunsystem bei Autoimmunerkrankungen unterstützen. Aber auch der Plasma-Inhaltsstoff Fibrinogen wird genutzt, um Sehnen und Nervenstränge im neurochirurgischen Bereich miteinander zu verkleben. Und das sind nur zwei Beispiele für die Verwendung von Blutplasma.
TAKE 10 (O-Ton Tonn)
Von den Bestandteilen des Blutes ist es so, dass wir die Erythrozyten die roten Blutkörperchen benötigen - …
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Erklärt Torsten Tonn. Und zwar immer dann, wenn ein hoher Blutverlust vorliegt, beispielsweise durch einen Unfall oder eine Operation oder wenn ein Mensch nicht ausreichend viele dieser Zellen bilden kann, beispielsweise bei einer Anämie oder Leukämie.
TAKE 11 (O-Ton Tonn)
Was ebenfalls der Fall ist, wenn dann die Blutbildung gestört ist, dann ist auch die Produktion von den Blutplättchen gestört, es gibt Patienten, die nach einer Hochdosischemotherapie, wie sie z.B. bei Leukämien eingesetzt wird, …für einen gewissen Zeitraum gar keine Blutplättchen und in der Phase…wären sie einem hohen Risiko ausgesetzt, dass da z.B. eine Hirnblutung entsteht und deswegen werden diese Patienten für die Phase, bis sie wieder Thrombozyten produzieren können… mit Thrombozyten aus einer Blutspende transfundiert.
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In Deutschland werden zur Zeit pro Jahr rund 500.000 Thrombozyten-Spenden benötigt, zusätzlich zu den 3 Mio Transfusionen mit den roten Blutkörperchen.
TAKE 12 (O-Ton Peine)
Insofern ist dieses, ich spende einen halben Liter Blut und der kommt jemandem zugute, der stimmt schon, aber nicht mehr als Vollblutspende und Vollblutkonserve, sondern als Teilprodukte, …so dass aus dem gespendeten halben Liter Blut drei Teilprodukte entstehen, ein rotes Blutkörperchenkonzentrat, ein Plasmakonzentrat und, im Verbund mit anderen Spenden der gleichen Blutgruppe, auch ein Blutplättchenkonzentrat.
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Denn es hat sich gezeigt, dass nur in wenigen Fällen eine Vollblutspende erforderlich ist. In den meisten Fällen reicht es völlig aus, einen Blutbestandteil zu ersetzen. Der Vorteil dieses Verfahrens: Es wird deutlich weniger Blut verbraucht als noch vor einigen Jahren. Und hinzu kommt, dass so die einzelnen Blutbestandteile besser aufbewahrt werden können: Denn rote Blutkörperchen haben eine Lebensdauer von ungefähr 120 Tagen, die Blutplättchen dagegen halten nur rund 5 Tage, während das Blutplasma sogar eingefroren werden kann. Eine Vollblutspende kann also nur wenige Tage genutzt werden, während die aufgetrennten einzelnen Blutbestandteile deutlich effektiver eingesetzt werden können.
Musik 9
"Transit" - Komponist: Geir Jenssen - Künstler: Biosphere - Album: Insomnia - Länge: 0'35
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Trotzdem ist und bleibt der Bedarf enorm hoch und es kommt immer wieder zu Engpässen. Einerseits weil grundsätzlich zu wenig Menschen bereit sind, Blut zu spenden. Aber auch deshalb, weil Blut nicht beliebig zwischen Menschen übertragen werden kann. Passen Blutgruppen und weitere Eigenschaften nicht zusammen, stößt der Körper das Spenderblut ab. Und das ist in den meisten Fällen tödlich.
Die Methode der Bluttransfusionen reicht zurück bis ins 16. Jahrhundert. Damals war der Leibarzt von Ludwig XIV. einer der ersten, der ohne jegliches Wissen um Blutgruppensysteme oder andere Eigenschaften des Blutes, Blut von einem auf den anderen Menschen übertrug. Wenig verwunderlich deshalb, dass nicht alle Patienten diese Prozedur, damals noch von Arm zu Arm überlebten.
Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist bekannt, dass es verschiedene Blutgruppen gibt, in den 1940er Jahren kam dann das Wissen um die Rhesusfaktoren hinzu. Heute kennt die Wissenschaft über 30 Blutgruppensysteme, die bekanntesten sind die AB0(=Null)-Gruppen und das Rhesus-System.
Musik 10
"Contacte" - Künstler und Komponisten: To Rococo Rot - Album: An Anthology of Noise and Electronic Music/ Third A-Chronology - Länge: 0'30
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Weil Blut eben nicht mit jedem anderen Blut kompatibel ist, suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit Jahrzehnten nach einem perfekten Blutersatz. Sie wollen Blut künstlich herstellen. Die Idee dahinter: Ein Blutpräparat zu entwickeln, das neutral ist und für alle Menschen genutzt werden kann, erklärt der Hamburger Transfusionsmediziner Sven Peine:
TAKE 13 (O-Ton Peine)
In den 70er und 80er Jahren ist unglaublich viel Geld in die Entwicklung solcher künstlicher Sauerstoffträger geflossen, vor dem Hintergrund des kalten Krieges, der Erfahrung des II. Weltkriegs, dass man das bestimmt mal irgendwann brauchen würde an der Front…da ist viel an künstlichen Sauerstoffträgern diesseits und jenseits des eiserenen Vorhangs geforscht worden. Letztendlich ohne große Erfolge!
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Denn bei der Entwicklung der künstlichen Sauerstoffträger gelang es den Forschenden nicht, ein grundsätzliches Problem zu lösen: Entweder nahmen die künstlichen Sauerstoffträger den Sauerstoff auf, so wie es die roten Blutkörperchen natürlicherweise in der Lunge tun, oder sie gaben den Sauerstoff ab. Beides aber im Wechsel so wie es im Körper passiert, das hat nicht geklappt.
Erst durch die Erfolge der Stammzellforschung erhielt die Forschung an künstlichem Blut einen neuen Schub: 2007 gelang es dem Japaner Shin´ya Jamanaka eine x-beliebige Hautzelle so umzuprogrammieren, dass sie einer embryonalen Stammzelle ähnelte. Genannt werden diese künstlich hergestellten Stammzellen induzierte pluripotente Stammzellen, kurz iPS-Zellen. Diese iPS-Zellen haben die medizinische Forschung seither revolutioniert.
Musik 11
"Contacte" - Künstler und Komponisten: To Rococo Rot - Album: An Anthology of Noise and Electronic Music/ Third A-Chronology - Länge: 0'29
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Mit ihrer Hilfe ist es z.B. gelungen, künstliche Zellen und sogar künstliches Gewebe herzustellen. Beispielsweise gelingt es bereits künstliche Herzmuskelzellen, Gehirnzellen, Leber- oder Magenzellen im Labor zu züchten. Um Medikamente zu testen, Organreparaturen durchzuführen oder um Krankheitsursachen auf die Spur zu kommen, die am lebenden Menschen aus ethischen Gründen nicht untersucht werden können.
TAKE 14 (O-Ton Tonn)
Und in unserem Fach der Transfusionsmedizin haben wir natürlich erkannt, wenn wir es schaffen, aus dieser induzierten pluripotenten Stammzelle…, wenn wir daraus eine Blut-Mutterzelle machen könnten, wie sie im Knochenmark sitzt, dann könnte man daraus wieder Erythrozyten generieren.
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Das ist der Ansatz, den einige wenige Forschungsgruppen weltweit verfolgen. Auch das Team des Transfusionsmediziners Torsten Tonn von der TU in Dresden möchte Blutstammzellen im Labor nachbauen, aus denen sich dann die roten Blutkörperchen entwickeln.
TAKE 15 (O-Ton Tonn)
Die roten Blutkörperchen zeichnen aus: Eine sehr hohe Flexibilität und dass der Kern nicht mehr vorhanden ist und damit kommen die in die kleinsten Gefäßsysteme hinein und können dann dort Sauerstoff aufnehmen und abgeben. Und das ist sehr schwierig das abzubilden in der Zellkultur außerhalb des Körpers, außerhalb des Knochenmarks, weil das Herausschmeißen des Zellkerns (…) ist sehr komplex und bedarf eigentlich auch der Zusammenarbeit mit anderen Zellen.
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Bisher ist es zwar gelungen, die Blut-Stammzellen oder wie Torsten Tonn sie nennt, die Blut-Mutterzellen im Reagenzglas zu züchten. Aber der sich daran anschließende Prozeß, nämlich das Loswerden des Zellkerns, gelingt den Forschenden bisher nicht wirklich überzeugend. Genau das aber wäre die Voraussetzung dafür, dass die Zelle als rotes Blutkörperchen in den Blutkreislauf gelangt und dort maximal geschmeidig und flexibel den Organismus mit Sauerstoff versorgt.
TAKE 16 (O-Ton Tonn)
Das kriegen wir im Moment nicht so hin, das ist letztlich noch die große Hürde, also es klappt, aber auf einem sehr geringen Niveau, also in einem einstelligen Prozentsatz, also 1-2%. Und was sich dann auch noch herausstellt, diese künstlich gezüchteten Erythrozyten haben nicht ganz so die Flexibilität. Die haben eine etwas steifere Zellmembran und sind dann mit dem, was wir aus der Blutspende gewinnen, nicht zu vergleichen.
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Denn: Die Menge gezüchteter Erythrozyten passt in einen Fingerhut, mehr geht noch nicht, weder in Dresden noch weltweit. Zum Vergleich: Aus einem halben Liter gespendetem Blut isolieren die Forschenden einen Viertel Liter rote Blutkörperchen. Und der Prozeß, diesen Fingerhut voll künstlicher roter Blutkörperchen zu gewinnen ist nicht nur sehr langwierig und aufwendig, sondern auch extrem kostspielig.
TAKE 17 (O-Ton Tonn)
Trotzdem ist der Ansatz von Stammzellen auszugehen natürlich ganz toll, weil, dann hätten wir ja einen komplexen Erythrozyt. Ist fast nicht zu unterscheiden von dem, was der Körper selber bildet, in den Fällen, wo das klappt. Das heißt, wir müssen da die Effizienz erhöhen und wir müssen, das ist etwas, was wir auch gerade in meiner Arbeitsgruppe machen, wir müssen noch viel mehr lernen, welche Prozesse sind alle beteiligt, an diesem Prozess des Zellkernrausschmeissens, um dann hinterher dieses kernfreie rote Blutkörperchen zu haben.
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Einen Zellkern zu besitzen ist die Bedingung dafür, dass sich Zellen teilen und damit vermehren können. Da die Erythrozyten aber einen solchen Kern nicht mehr haben, lassen sie sich auch nicht in einem Nährmedium vermehren. Deshalb setzen Transfusionsmediziner Torsten Tonn und sein Team jetzt darauf, die unmittelbaren Vorläuferzellen der roten Blutkörperchen herzustellen, die sich erst im Organismus zu naturidentischen, kernlosen Erythrozyten entwickeln. Aber auch diese Forschung kann noch keine spektakulären Erfolge aufweisen. Genauso wenig wie die Grundlagenforschung an Blutplättchen oder die Versuche, gespendetes Blut genetisch so zu verändern, dass es neutral ist und keine Abstoßungsreaktionen hervorruft. Deshalb sei die Blutspende nach wie vor unersetzlich, betont der Gießener Transfusionsmediziner Gregor Bein.
TAKE 18 (O-Ton Bein)
Es ist nach wie vor noch ein sehr weiter Weg. Ich bin davon überzeugt, man müsste sehr viel Geld in die Hand nehmen, um bei jungen Leuten für die Blutspende zu werben. Das ist eine ganz wichtige politische Aufgabe. Ich denke in 5-10 Jahren wird sich die Altersentwicklung unserer Bevölkerung wirklich bemerkbar machen und unsere Blutversorgung gefährden, denn Blut ist, Stand heute, durch nichts zu ersetzen.
Musik 12
"Transit" - Komponist: Geir Jenssen - Künstler: Biosphere - Album: Insomnia - Länge: 1'30
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Eine Einschätzung, die die Mehrheit der Transfusionsmediziner teilt. Bis es tatsächlich künstlich hergestellte Blutprodukte geben wird, die das natürliche Blut ersetzen können, werden noch mindestens 10-20 Jahre vergehen, so die übereinstimmende Annahme. Vielleicht wird es sogar nie möglich sein, diese hochkomplexe Zellentwicklung im Labor nachzuahmen. Deshalb brauchen wir ganz dringend ausreichend Blutspenden, sagt der Hamburger Transfusionsmediziner Sven Peine:
TAKE 19 (O-Ton Peine)
Und so ist dieses doch antiquiert anmutende Modell der Blutspende auch perspektivisch für die nächsten 20 Jahre Grundlage für ganz viele, allermodernste und alleraktuellste Medizin. Denn diese verrückten und innovativen Dinge. die wir tun, mit Zelltherapeutika, mit Chemotherapien, mit neuartigen Medikamenten, bringen mit sich, dass auch das Knochenmark in seiner Funktionalität in Mitleidenschaft gezogen wird und ich eben, nicht für immer, aber für eine bestimmte Zeit, Blutplättchen, Blutplasma oder Blutkörperchen ersetzen muss.
Karl Süßheim ist Anfang des 20.Jahrhunderts in Bayern ein Begriff. Während des Ersten Weltkrieges sind die Sprachkenntnisse des jüdischen Historikers und Orientalisten sogar unentbehrlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg gerät Karl Süßheim allerdings jahrzehntelang in Vergessenheit. Von Ulrike Beck (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan merki, Laura Maire, Christopher Mann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Kristina Milz, Historikerin, Autorin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ad hoc-AG Judentum in Bayern in Geschichte und Gesellschaft der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Referentin am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin;
Lisa D’Angelo, Enkelin Karl Süßheims
Linktipps:
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ZUM PODCAST
Literaturtipps:
Kristina Milz, „Karl Süßheim Bey (1878 –1947). Eine Biografie über Grenzen“. Sehr ausführliche und detaillierte Biografie über das Leben und Werk Karl Süßheims.
Kristina Milz, „Karl Süßheim (1878–1947). Ein verfolgter Wissenschaftler und seine Universität“. In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung. Ausgabe 02/22. Sehr kompakter und lesenswerter Artikel.
Barbara Flemming, Jan Schmidt: The diary of Karl Süssheim (1878–1947). Orientalist between Munich and Istanbul. Steiner, Stuttgart 2002
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Erzähler
Karl Süßheim. Die Historikerin Kristina Milz wird hellhörig, als sie auf den Namen stößt.
1.O-Ton (Kristina Milz)
Also ich habe an der LMU Magister Geschichte studiert und habe mich damit auseinandergesetzt, wie die Historiker an der LMU mit dem Nationalsozialismus umgegangen sind. Und dafür habe ich mir erstmal angeschaut, wer von 1933 bis 45 in der Fakultät überhaupt da war. Und da ist mir sein Name aufgefallen. Er war 1933 noch da, im Sommersemester, und es war ein klar erkennbar jüdischer Name und verschwindet dann eben sang- und klanglos. Man hört nichts mehr von ihm. Da war mir relativ schnell klar, er muss einer der Opfer der Rassenpolitik gewesen sein, also dieses Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Und dachte natürlich, dass sich im Historicum in der Bibliothek Literatur dazu finden lässt.
MUSIK 2 ( Thomas Lemmer: Infinity 0’55)
Erzählerin:
Doch auch nach längerer Suche stellt sich heraus: Es gibt nichts.
2.O-Ton (Kristina Milz)
Und so bin ich dann natürlich sehr neugierig worden.
Erzählerin
Das Ergebnis ist eine Dissertation, die 2022 als Biografie erscheint und den Titel trägt: „Karl Süßheim Bey. Eine Biografie über Grenzen“.
Kristina Milz hat ihre Dissertation am Institut für Zeitgeschichte in München verfasst. Seit 2022 arbeitet sie auch für die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die sich der Erforschung und Vermittlung jüdischen Lebens in Bayern widmet.
Erzähler
Während der Recherchen zu ihrer Biographie stößt Kristina Milz darauf, dass Jahrzehnte vor ihr im niederländischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt auf Karl Süßheim aufmerksam geworden sind. Und in langjähriger Kleinarbeit seine Tagebücher ins Englische übersetzt haben.
Erzählerin
Es sind zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert, die Kristina Milz damit auf Englisch zur Verfügung stehen. Um mit den übrigen Quellen und dem Nachlass arbeiten zu können, nimmt sie Sprachunterricht am Münchner Nahostinstitut, wo der Name Süßheim ihrem Dozenten noch geläufig ist:
3. O-Ton (Kristina Milz)
Das heißt, ich musste tatsächlich anfangen, erst mal Türkisch zu lernen, habe auch Arabischkurse belegt und habe dann eben das Osmanische, dafür gibt es an der LMU auch Kurse, und da bin ich auch dringesessen. Mein Osmanisch-Dozent hat auch immer gesagt: Kristina, du lernst nicht Osmanisch, Du lernst Süßheim!
MUSIK 3 ( Bamberger Symphoniker - Gustav Mahler: Blumine. Sinfonischer Satz 1’10)
Erzähler
Karl Süßheim kommt am 21. Januar 1878 in Nürnberg zur Welt. Sein Vater Sigmund betreibt einen florierenden Hopfenhandel, die Mutter Clara stammt als Tochter des Fabrikanten und Politikers David Morgenstern aus sehr wohlhabenden Verhältnissen.
Erzählerin
Karl wächst also gemeinsam mit seinem älteren Bruder Max und seiner jüngeren Schwester Paula in einer wohlsituierten und jüdisch-liberalen Familie auf.
Erzähler
Sigmund Süßheim möchte selbstverständlich, dass einer seiner Söhne das erfolgreiche Geschäft übernehmen soll. Doch der Hopfenhandel interessiert weder Max, noch Karl.
Erzählerin
Nachdem Max nach dem Abitur seinen Weg als Jurist und späterer SPD-Politiker im Bayerischen Landtag einschlägt, entscheidet sich auch Karl gegen den Wunsch des Vaters. Er beginnt 1896, Geschichte zu studieren. Zunächst in Jena, dann in München, Erlangen und Berlin.
Erzähler
In Berlin besucht Karl das Seminar für orientalische Sprachen und lernt dabei junge Gaststudenten aus dem Osmanischen Reich kennen. Woher sein Interesse an dieser Region kommt, lässt sich nur rekonstruieren.
4.O-Ton (Kristina Milz)
Das durfte seine Familie auf keinen Fall wissen, weil die Orientalistik damals ja auch noch sehr so als Orchideenfach verschrien war. Und als Karl Süßheim dann in Berlin war, (…) war einige Jahre zuvor das sogenannte Seminar für Orientalische Sprachen gegründet worden. (…) Also in dieser Zeit muss man sich vorstellen, entsteht eigentlich die Islamwissenschaft. Es entsteht dieses Fach, das sich mit dem „zeitgenössischen Orient“, wie man damals gesagt hat, beschäftigt hat. Und das ist genau das, was Karl Süßheim dann interessiert hat.
MUSIK 4 (Adrien Espinouze; Evgenios Voulgaris - Taksim & Mahur Pesrev 0‘50)
Erzählerin
Gleich nach der Abgabe seiner Dissertation über die „Preußischen Annexionsbestrebungen in Franken…“ zieht Karl Süßheim 1902 für einige Jahre nach Konstantinopel. Um dort seine Sprachkenntnisse im Türkischen und Arabischen zu vertiefen.
Erzähler
In Konstantinopel erlebt der frisch promovierte Historiker eine ganz andere Atmosphäre als im Kaiserreich.
5.O-Ton (Kristina Milz)
Als er zuerst nach Konstantinopel gekommen ist und sich vor allem in diesem sultanstreuen Umfeld bewegt hat, war er ja durchaus an der einen oder anderen Stelle mit Antisemitismus konfrontiert. (…)
Aber bei ihm ist es tatsächlich so, dass er erstmals in seinem Leben nicht in erster Linie als Jude wahrgenommen wird. In ihm wird vor allem der deutsche Wissenschaftler gesehen, der sich diese Sprachen so gut angeeignet hat und mit dem man jetzt eben über Politik und Geschichte und dergleichen diskutieren kann. Und noch sehr viel evidenter wird das dann, wenn er sich mit den sogenannten Jungtürken abgibt, also der osmanischen Opposition, die sehr nach Westen ausgerichtet war, die sehr auf Modernisierung geschaut hat und auch genau das einfordern wollte vom Sultan.
Erzählerin
Karl Süßheim ist selbst zunächst überzeugter Konservativer und Monarchist.
6.O-Ton (Kristina Milz)
Als Karl Süßheim ins Osmanische Reich kam, war er politisch äquivalent eigentlich aufgestellt zu seiner Einstellung im Kaiserreich also sehr königstreu und patriotisch. Und hat dann aber eben dadurch, dass er diesen Kontakt mit den Jungtürken in Kairo hatte, zum ersten Mal die Idee des Tyrannensturzes für sich auch akzeptiert. Und war dann auch mitten im Zentrum dieser Revolution.
Erzähler
Die Jahre im Osmanischen Reich sind in Süßheims Leben in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt. Er, der Zeit seines Lebens kein guter Netzwerker war, sucht plötzlich die Nähe zu orientalischen Intellektuellen und knüpft Kontakte. Dabei findet er auch den Zugang zu seinem Glauben.
7.O-Ton (Kristina Milz)
Er macht es in seinem Tagebuch gar nicht so explizit, an welcher Stelle es dann so ist, dass er wirklich jüdisch gläubig wird. Aber man sieht, er beschäftigt sich eben mit dem Islam auch sehr intensiv. Er hat zum Beispiel Kontakt mit dem Islamgelehrten Musa Kazim, der später dann der Scheichülislam, also der Großmufti eigentlich von Konstantinopel wird. Also das ist derjenige, der Süßheim zum Islam bringen will und da wird viel diskutiert. Und als er sich dann davon wieder abgrenzt und abwendet, findet er immer mehr Kontakt, auch mit den orientalischen Juden und beschäftigt sich dann damit und kommt dann eben sehr gläubig zurück.
MUSIK 5 (Produktionsmusik: N/A - Mash'aal instrumental 0’52)
Erzählerin
Karl Süßheim ist 30 Jahre alt, als er zurückkehrt und an der Uni München beginnt, seine Habilitation zu schreiben. Darin beschäftigt er sich mit der Geschichte der Dynastie vor den Osmanen: den Seldschuken.
Erzähler
Als frisch habilitierter Privatdozent gibt er ab 1911 an der Münchner Universität Kurse in Arabisch, Persisch und Osmanisch. Anfangs ist die Zahl seiner Studenten noch überschaubar, aber mit Beginn des Ersten Weltkrieges ändert sich das schlagartig.
Erzählerin
Mit dem Osmanischen Reich als Verbündeten wollen plötzlich viele Studenten Türkisch lernen. Es entsteht ein regelrechter Boom auf die Expertise des Karl Süßheim. Wobei er nicht nur an der Uni gefragt ist.
8.O-Ton (Kristina Milz)
Im Ersten Weltkrieg war es so, dass Süßheim nicht eingezogen wurde, weil er eben an der Heimatfront, wie man es nannte, unentbehrlich war. Das lag daran, dass er eben als einer der wenigen diese Sprachkenntnisse hatte und dann in vielerlei Hinsicht helfen konnte zu Hause. Zum einen bei der bayrischen Militärzensur hat er gearbeitet. Er hat aber auch als Dolmetscher gearbeitet. Wenn zum Beispiel jungtürkische Delegationen zu Besuch waren, dann ist er mit denen mitgefahren und hatte eben übersetzt.
MUSIK 6 ( Sercan Halili - Nikriz sirto 0’35)
Erzähler
Ab 1919 unterrichtet Karl Süßheim als außerordentlicher Professor die Sprachen Arabisch, Persisch und Türkisch. Er ist inzwischen 41 Jahre alt und noch immer Junggeselle.
Erzählerin
Karl findet erst acht Jahre später die Frau, die zu ihm passt. Mit Karolina Plank, einer tiefgläubigen Katholikin. Ausgerechnet er, der als einziger in seiner Familie ein gläubiger Jude ist, lässt sich 1927 auf eine gemischt-konfessionelle Ehe mit Karolina ein.
9.O-Ton (Kristina Milz)
Man muss aber schon auch sagen, das war sicher für ihn ein großer Schritt zu gehen, weil er davor sehr, sehr lange explizit nach einer jüdischen Frau gesucht hat. Er hat sich dann aber von seiner Frau versprechen lassen, dass er für die religiöse Erziehung der Kinder zuständig sein wird in der Ehe. Und wir reden vom Jahr 1927. Da hat sie sich auch darauf eingelassen, weil sie auch noch überhaupt gar nicht wusste, was das für Auswirkungen haben wird.
Erzähler
1929 kommt Tochter Margot zur Welt, die zweite Tochter Gioconda wird 1934 geboren. Ein Jahr, nachdem sich für Karl Süßheim und seine Familie alles verändert hat.
10.O-Ton (Kristina Milz)
1933, kann man zweifellos sagen, dass das das allerschlimmste Jahr in seinem ganzen Leben war. Also neben der nationalsozialistischen Machtübernahme stirbt erstmal sein Bruder an einem Schlaganfall. Dann wird durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ihm seine Stelle an der Universität genommen. Und seine Mutter stirbt auch noch in diesem Jahr. Also alles passiert innerhalb eines Jahres, und da ist der Bruch zwischen der Zeit davor und diesem Jahr ganz extrem in den Quellen.
Erzählerin
Nach der Pogromnacht vom November 1938 wird Karl Süßheim für 16 Tage im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Er schreibt über diese Zeit auf Arabisch in sein Tagebuch und schafft damit laut Kristina Milz ein einzigartiges Dokument. In dem er nicht nur nüchtern Fakten für die Nachwelt festhält, sondern auch sehr akkurate Skizzen vom Konzentrationslager anfertigt, die er auf Arabisch beschriftet.
11.O-Ton (Kristina Milz)
Und man muss sich vorstellen, er war jemand, der natürlich ein relativ behütetes Leben hatte. Und plötzlich kommt er in dieses Konzentrationslager, sieht, dass Menschen erschossen werden. Sieht, dass Menschen zusammenbrechen, wird geschlagen, weil er sich nicht als Judenschwein bezeichnen will. All diese Dinge passieren ihm dort. Und nachdem er zuvor immer gesagt hat, er geht nicht aus Deutschland weg, weil das seine Heimat ist – Bayern, seine Familie lebt seit Jahrhunderten in Bayern –, denkt er dann um. Dabei muss man aber auch wissen, dass er unterschreiben musste, dass er das Land verlassen wird, als er aus dem Konzentrationslager entlassen wird.
Erzähler
Erst im Sommer 1941 gelingt es Karl Süßheim mit seiner Frau und den Töchtern, nach Istanbul zu emigrieren. Sie sind eine der letzten Familien in Bayern, die der Schoa entkommen sind. Ein Teil seiner Privatbibliothek wird beschlagnahmt und landet in der Bayerischen Staatsbibliothek.
Erzählerin
Da aber auch die Türkei zu diesem Zeitpunkt eigentlich keine deutschen Juden mehr aufnimmt, musste das türkische Kabinett eine Ausnahme für Karl Süßheim beschließen. Seine Aufenthaltsgenehmigung ist damit verbunden, dass er an der dortigen Universität unterrichtet. Damit steht er zwar unter Druck, aber auch endlich wieder im Hörsaal. Die Bedingungen an der Universität Istanbul brachten für Karl Süßheim einige Herausforderungen mit sich: Er musste um seinen Professorentitel kämpfen, seine Publikationstätigkeit war eingeschränkt. Auch in der Lehre musste er sich erst eingewöhnen.
12. O-Ton (Kristina Milz)
Man muss sich auch diese Situation mal vorstellen, also er hatte jahrelang während des Nationalsozialismus wenige Schüler bis gar keine Schüler. Er hatte vielleicht noch ein paar Privatstunden gegeben für die Leute, die sich das getraut haben. Und plötzlich ist er da in der Türkei und steht vor vollen Hörsälen, und alle wollen über die türkische Geschichte bei ihm lernen. Es ist auch interessant, weil in seinem Nachlass finden sich die Inskriptionslisten, wo man die ganzen Namen der türkischen Studierenden sieht, die sich für seine Vorlesungen angemeldet haben. Und es sind seitenweise Einträge.
MUSIK 7 (Produktionsmusik: Roman Raithel – Arabic Keys 1’10)
Erzähler
Karl Süßheim bleiben nur wenige Jahre im Exil. Er stirbt am 13. Januar 1947 mit nur 68 Jahren an den Folgen einer Nierenerkrankung. Und wird auf dem jüdischen Friedhof in Istanbul beerdigt.
An seinem Grab spricht der jüdische Romanist Erich Auerbach die Worte:
Zitator
Auf dem Gebiet der türkischen Geschichte wird der Name Karl Süssheim nicht vergessen werden und nicht vergessen werden können.
Erzählerin
Was Süßheims Reputation in der Türkei angeht, sollte Auerbach Recht behalten. Doch in Deutschland passiert das Gegenteil: Der einstige Professor für orientalische Sprachen und die „Geschichte der mohammedanischen Völker“ gerät in Vergessenheit.
Erzähler
Nicht zuletzt, weil die Ludwig-Maximilians-Universität keinen Nachruf auf ihren einstigen Professor Karl Süßheim herausgibt. Obwohl eine Würdigung von ehemals verfolgten Wissenschaftlern in der Nachkriegszeit eigentlich zum Standard gehört.
Erzählerin
Und auch Süßheims Witwe wird lange ignoriert. Karolina, die nach dem Tod ihres Mannes in die USA ausgewandert ist, wendet sich 1947 mit der Bitte um eine Witwenrente an die Uni. Und muss 11 Jahre lang dafür kämpfen:
13.O-Ton (Kristina Milz)
Man könnte ja meinen, so wie ich auch eben damals auf ihn gestoßen bin, dass er eben einfach vergessen wurde. Man sieht aber sehr deutlich eben an den Quellen auch im Universitätsarchiv, dass das nicht der Fall war, weil die LMU fast 20 Jahre lang damit beschäftigt war, kein Geld auszugeben in der Sache Süßheim. Also diese Quellen im Universitätsarchiv, die betreffen die Universität, das Finanzministerium, das Kultusministerium und so weiter. Und man sieht daran auch, dass zum Beispiel noch mit nationalsozialistischer Gesetzgebung wirklich argumentiert wird. Also es wird dann zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ob seine Witwe Witwenrente bekommt, mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 argumentiert. Und es stellt sich bei ihm sehr lange nicht einmal die Frage in den Dokumenten, was denn mit ihm passiert wäre, wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte.
MUSIK 8 (Produktionsmusik: N/A – Mercy Gate 0’45)
Erzähler
Erst nachdem Karolina Süßheim 1951 die United Restitution Organization bevollmächtigt, sich ihres Falls anzunehmen, fordert das Kultusministerium die Personalakte Süßheims bei der Uni an.
Erzählerin
Es werden Gutachten in der Causa Süßheim eingeholt. Unter anderem vom Dekan der Philosophischen Fakultät Anton Spitaler, der während der NS-Zeit Stipendiat der gleichgeschalteten Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft bei der Korankommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war. Und im Zweiten Weltkrieg der Wehrmacht in Belgien und Frankreich als Dolmetscher gedient hatte. In seinem Gutachten fällt Spitaler ein vernichtendes Urteil über seinen ehemaligen Lehrer.
14.O-Ton (Kristina Milz)
Anton Spitaler (…) wurde direkt gefragt, wie die Karriere von Karl Süßheim weitergegangen wäre, hätte es den Nationalsozialismus nicht gegeben. Und dieses Gutachten ist wirklich erstaunlich vernichtend. (…) Er macht seine Sprachenkenntnisse zum Beispiel sehr schlecht, sagt die wären nicht vorhanden gewesen. Das sind ganz offensichtliche Lügen, die in diesem Gutachten drinstehen. Und an einer Stelle schreibt er sogar noch, er hätte durchaus etwas von Karl Süßheim gelernt, aber das hätte er eher aus ihm herausgeholt, als dass Süßheim es ihm gegeben hätte. Das war natürlich sehr bezeichnend. Und man muss sich vor Augen halten, dass es zu dem Zeitpunkt ja überhaupt nicht mehr darum ging, Karl Süßheims Karriere voranzutreiben oder dergleichen, er war ja längst tot. Also es ging wirklich nur noch darum, seine Familie zu entschädigen.
Erzähler
Dieses Gutachten geht in die Bewertung des Falles ein. Erst 11 Jahre nach dem Tod ihres Mannes bekommt Karolina Süßheim ab 1958 eine entsprechend kleine Entschädigung. Weitere sieben Jahre später wird der Fall zu den Akten gelegt.
MUSIK 9 (Produktionsmusik: Goksun Cavdar: Bosnia Herzegowina 0’27)
Erzählerin
Während in Bayern der Name Süßheim bis zu Beginn dieses Jahrhunderts in Vergessenheit gerät, machen sich im niederländischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt daran, Süßheims Tagebücher ins Englische zu übersetzen. Zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert, die lange Zeit unentdeckt waren.
15.O-Ton (Kristina Milz)
Weil er sehr viele Handschriften gesammelt hat, im Laufe seines Forscherlebens also originale Handschriften aus dem Nahen Osten und die auch zusammengehalten hat. Seine Witwe hat diese Handschriftensammlung dann verkauft, und die ist in Teilen in Berlin und in Teilen in Washington gelandet. Und in Berlin – bei diesen Handschriften befand sich eben auch sein Tagebuch, was die Witwe bestimmt nicht gewusst hat, weil das natürlich nicht unterscheidbar war zu anderen Notizen, die er gemacht hat für sie, weil es in fremden Sprachen war. Und deswegen sind eigentlich Wissenschaftler erstmals wieder mit ihm in Kontakt gekommen, weil sie sich seine Handschriften angeschaut haben und dann das Tagebuch gefunden haben.
Erzähler
Die Edition „The Diary of Karl Süssheim“ erscheint 2002 und löst eine Welle der Erinnerung aus. Oder wie die FAZ damals schreibt:
Zitator
Erst die kommentierte Übersetzung der Tagebücher gibt Süssheim sein Leben zurück, macht aus dem Vergessenen und Unbekannten einen an allem interessierten Menschen im Wirbel des dramatischen Geschehens der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
MUSIK 10 (Produktionsmusik: N/A – Mercy Gate 0’23)
Erzählerin
Nicht nur die Bayerische Staatsbibliothek setzt ab 2003 ein Restitutionsverfahren ein, sondern auch die Provenienzforschung des Stadtarchivs Nürnberg wird aktiv. Und setzt sich mit der Familie Süßheim in Verbindung. Für Lisa D’Angelo, der Enkelin von Karl Süßheim, eröffnet sich damit ein ganz neuer Zugang zur eigenen Familiengeschichte:
16.O-Ton (Lisa D‘Angelo)
2014 hatte ein Archivar das Internet genutzt, um meine 84-jährige Tante Margot in New York ausfindig zu machen, wo sie seit über 65 Jahren lebte. Er wollte sie wissen lassen, dass das Archiv ein antikes Buch mit dem Süßheimer Exlibris besaß. Und dieses Buch war von den Nazis beschlagnahmt worden, kurz bevor mein jüdischer Großvater und meine katholische Oma und ihre beiden Mädchen nach Istanbul geflohen waren. Und als das Nürnberger Archiv mit meiner Tante Margot Kontakt aufgenommen hat, hat sich uns natürlich eine ganz neue Welt der Familie Süßheim eröffnet.
Erzähler
Margot Süßheim ist es, die beginnt, als Zeitzeugin über ihren Vater zu sprechen. Und auch ihrer Nichte einige Details über die Schwierigkeiten ihrer Familie während der Nazizeit zu erzählen. Allerdings erst, als Lisa erwachsen ist.
17.O-Ton (Lisa D‘Angelo)
Ehrlich gesagt, wusste ich nur sehr wenig über meinen Großvater. Als Kind hörte ich, dass mein Großvater ein Sprachwissenschaftler war, der etwa 15 Sprachen beherrschte. Ich hörte auch, dass seine Mutter Clara ein bisschen schwierig war. Und sie sammelte auch Dinge, die mein Großvater auch geerbt hatte.
Und seine Vorliebe für das Sammeln von Büchern rettete tatsächlich die Familie, denn meine Oma verkaufte seine umfangreiche Büchersammlung an die Yale University in den USA, um die Schiffstickets zu kaufen, mit denen sie von Istanbul nach New York auswandern konnten.
Erzählerin
Lisa D’Angelo ist das öffentliche Gesicht der Familie Süßheim. Sie verwaltet nicht nur den privaten Nachlass ihres Großvaters, sondern reist auch nach Deutschland, um Ausstellungen zu eröffnen oder Vorträge zu halten. So wie 2022 im Münchner Literaturhaus. Da hatte sie die weite Anreise von Chicago auf sich genommen, um zur Vorstellung von Kristina Milz´ Biografie „Karl Süßheim Bey“ zu sprechen; der ersten umfassenden Biografie des bedeutenden bayerischen Orientalisten.
MUSIK 11 (Z8046919112 Thomas Lemmer: Faith 0’40)
Erzähler
Karl Süßheim hat ein kostbares Erbe hinterlassen. Eines, das viel zu lange im Verborgenen geblieben ist, sagt Kristina Milz:
18.O-Ton (Kristina Milz)
Ich finde es vor allem eben sehr wichtig, weil oftmals davon ausgegangen wird, man hätte zum Nationalsozialismus schon alles erzählt. Und gerade die Geschichte von Karl Süßheim zeigt auch mal wieder, dass wir noch lange nicht fertig sind damit, diese Zeit uns anzuschauen.
Kuscheltiere gefallen nicht nur Kindern. Aber Erwachsene verheimlichen ihre (alte) Liebe oft. Denn Stoffmäuse oder Plüschbären erzählen von der menschlichen Sehnsucht nach Trost und Geborgenheit. Auch wenn es Projektionen und Fantasien sind, die den tierähnlichen Objekten Leben einhauchen: Der Zauber wirkt tatsächlich! Von Justina Schreiber
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Christiane Klenz
Es sprach: Xenia Tiling
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Manuela Scheininger, Stofftierhändlerin
Ursula Frischkorn, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Psychoanalytikerin
Prof. Dr. Maurice Saß, Kunsthistoriker
Smila, Kind (mit Mama)
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Mit der Geburt eines Kindes geht es meist los. Die ersten Kuscheltiere kommen ins Haus. Und weitere folgen. Zu Geburtstagen, zu Weihnachten, zum Kindergarteneintritt, nach einem Zoobesuch oder einfach mal zwischendurch, weil die kleine Stoffente so niedlich ausschaut, kriegt der Nachwuchs Plüschtiere geschenkt, bis sich das Kind vielleicht selbst welche kauft. Das Angebot ist riesig, und die Versuchung dementsprechend groß.
ATMO Ladenglocke
O-TON 01: (Manuela Scheininger)
„Es gibt auf jeden Fall sämtliche Hunderassen. Es gibt Fantasietiere, es gibt auch ganz viele Fische, Rochen, Tintenfische, also wirklich alles, was so im Meer kreucht und fleucht. Seekühe, Haie, Karpfen also wirklich quer durch. Es gibt verschiedene Hühner in Originalgröße. Es gibt ein Huhn mit Ei, wo man die Kinder zeigen kann, wo die Eier herkommen. Und da gibt es auch einen Gockel dazu und ein weißes Huhn. Kann man so eine ganze Hühnerfarm kann man da machen.“
SPRECHERIN:
Die Stofftierhändlerin Manuela Scheininger stellt ihr Sortiment vor:
O-TON 02: (Manuela Scheininger)
„Mei, dann gibt es Mammut, Füchse, Nashorn, Nilpferd, außergewöhnliche Papageien. Es gibt Schwäne mit Babys auf dem Rücken, alle möglichen Schweinearten vom Pinselohrschwein über das normale Hausschwein, Einhörner, Kamele, Esel. Wirklich alles, was man sich vorstellen kann.“
MUSIK 2 (Elvis Presley: (Let Me Be Your) Teddy Bear 0‘08)
MUSIK 3 (Coconami: Cruising & Stepping 0‘19)
SPRECHERIN:
Für jeden Geschmack, für jeden Geldbeutel bieten Stofftierläden, Spielwarenabteilungen, Onlineshops, Tankstellen, Schreibwarengeschäfte, Drogerieketten oder Kioske heutzutage Kuscheltiere feil. In den Kinderzimmern macht sich der Überfluss bemerkbar, sagt die Kinder- und Jugendtherapeutin Ursula Frischkorn.
O-TON 03: (Ursula Frischkorn)
„Kinder haben heutzutage meistens in Familien in Deutschland nicht nur ein Kuscheltier, sondern sie werden mit einem großen Überangebot von Kuscheltieren, die ja von Erwachsenen ausgesucht werden meistens, überhäuft. Und manche Kinder wählen dann tatsächlich ein Lieblingskuscheltier.“
MUSIK 4 (fastmusic – Instrumental 2 0‘48)
SPRECHERIN:
So wie die 10-jährige Smilla. Sie bekam zur Geburt von ihren Paten ein weißes Stoffschaf geschenkt. Smillas Vater gab ihm einen Namen.
O-TON 04: (Smilla)
„Der hatte ihn irgendwann einfach Poppy genannt. Und seitdem heißt der Poppy.“
SPRECHERIN:
Poppy ist für Smilla der „primus inter pares“, der erste unter Gleichen. Nach Poppy trudelten bei ihr bisher nämlich noch 55 weitere Kuscheltiere ein.
O-TON 05: (Smilla)
„Poppy ist einfach der Besonderste. Also der Poppy ist einfach immer da. Und wenn ich traurig bin, tröstet er mich und hilft mir auch beim Einschlafen und bei den Hausaufgaben auch. Bei mir hat er schon eine Sonderrolle, die anderen liegen halt dahinten auf meinem Bett in einem Haufen. Und der Poppy ist immer vorne bei mir.“
MUSIK 5 (Rosemary Clooney – Me And My Teddy Bear 0‘13)
MUSIK 6 (Romain Lateltin: La plénitude acte 1 0‘31)
SPRECHERIN:
Manche Kinder können ohne ihr Lieblingskuscheltier nicht einschlafen. Andere müssen es überallhin mitnehmen. Wehe, wenn der Stoff-Dino und das Plüsch-Einhorn dann unauffindbar sind oder zu Hause vergessen wurden! Warum der eine eine Maus und die andere ein Zebra zum Favoriten erwählt oder warum der Markenteddy zu Gunsten eines grellfarbigen Stoffmonstertiers links liegen gelassen wird, lässt sich nicht verallgemeinern, sagt die Psychoanalytikerin Ursula Frischkorn. Wo die Liebe eben hinfällt.
O-TON 06: (Ursula Frischkorn)
„Kinder suchen sich, weil das Leben sich als Kind oft auch gefährlich und bedrohlich anfühlen kann, Begleiter und Puppen und Tiere, die ihr eigenes Selbst bestärken und Sicherheit geben.“
SPRECHERIN:
So kann auch ein Plastikfigürchen große Bedeutung erlangen oder ein Haarreif oder eine tolle Leggings. Je früher die Wahl stattfindet, umso stärker ist die Fixierung auf das geliebte Ding. Schon sechs Monate alte Babys sind in der Lage, Gefühle zu projizieren, also nach außen zu übertragen, eben etwa auf das Stofftier, das ihm Vater oder Mutter ins Ärmchen drücken, wenn sie kurz mal das Zimmer verlassen.
O-TON 07: (Ursula Frischkorn)
„In bestimmten Phasen der Entwicklung, wo Kinder merken, dass ihre Mütter nicht immer zur Verfügung sind und ihre Väter und ihre engsten Bindungspersonen ab und zu ihnen nicht zur Verfügung stehen, da sind dann Kuscheltiere oder eine Puppe oder manchmal auch ein Schmusetuch so ein immer verfügbares Ersatzobjekt, was man mit sich herumtragen kann, wie man am liebsten die Mama oder den Papa mit sich herumtragen würde.“
SPRECHERIN:
Der amerikanische Kinder-Therapeut Donald Winnicott führte Mitte des 20. Jahrhunderts den Begriff des Übergangsobjektes ein. Denn das Kind verschafft sich ein Stück Unabhängigkeit, indem es sich mit Hilfe eines Kuscheltiers selbst gibt, was es braucht. Ein imaginäres, kein reales Subjekt spendet ihm Nähe, Trost, Geborgenheit. Ohne das Vertrauen, dass Mama, Papa oder die Babysitterin wiederkommen, kann die Überbrückung allerdings nicht funktionieren. Wer keine verlässliche Bindung kennt, wer keine positiven Beziehungserfahrungen gemacht hat, weiß nicht, wie Liebe geht. Das Kuscheltier bleibt dann nichts als ein lebloses Ding von vielen.
O-TON 08: (Frischkorn)
„Im besten Sinne wird es ein Alter Ego, ein Teil meines Selbst, gehört zu mir. Ich kann über es verfügen, es begleitet mich durch die Nacht und durch den Tag. Und für viele Kinder ist es dann auch sehr tragisch, wenn so ein Objekt dann verloren geht, zum Beispiel, also das ist dann wie als würde ein Teil von einem selbst verloren gehen.“
MUSIK 7 (fastmusic – Instrumental 2 0‘52)
O-TON 09: (Ursula Frischkorn)
„Also, ein Kuscheltier im engeren Sinne wird heiß geliebt. Von daher ist es vielleicht auch manchmal problematisch, wenn man 20 hat, weil, dann kann man eigentlich kaum eines lieben.“
SPRECHERIN:
Smilla zum Beispiel hat eines Tages wirklich die Krise bekommen, als ein weiteres, süßes Kuscheltier in ihren kleinen Privat-Zoo integrieren werden wollte.
O-TON 10: (Smilla)
„Da habe ich dann auch einmal abends tatsächlich geweint, weil ich halt ein neues Kuscheltier hatte, die Delphi, einen Delphin. Und dann dachte ich, dass ich die Delphi dann mehr lieb mag als den Poppy.“
SPRECHERIN:
Heute kann Smilla die emotionalen Herausforderungen gut managen, die ihr mit jedem neuen Kuscheltier begegnen. Poppy beziehungsweise ihre Mutter, die Poppy und der oder anderen Stoff-Kameradin manchmal die Stimme leiht, hat sie dabei wohl unterstützt.
O-TON 11: (Smilla - Poppy)
„Und jetzt bin ich da sehr stabil eigentlich, als der Jackie dann kam, ich dann gleich so, der gehört jetzt dazu. Und der Poppy und die anderen, die haben den auch ganz schnell aufgenommen einfach, stimmt es, Poppy? - Ja, stimmt klar. - Und ja, jetzt gehört der Jackie einfach auch dazu.“
MUSIK 8 (Randy Newman: You’ve Got A Friend In Me (Instr.) 0‘55)
SPRECHERIN:
Der Name sagt es: Kuschel-Tiere sollen eigentlich Tiere abbilden. Aber schon der Urvater aller Kuscheltiere, der erste Teddybär, erinnerte nur noch von fern an sein wildes, gefährliches Vorbild.
ATMO Teddy blökt
SPRECHERIN:
Der aufrechtstehende, gut 50 Zentimeter große, Holzwolle gestopfte Stofftier-Pionier betritt im Jahr 1903 die Bühne der Spielzeugwelt.
Endlich ein robustes, lustiges Ding zum Liebhaben auch für Jungen! Die Puppen mit ihren Porzellanköpfen sind ja im Grunde zu nichts zu gebrauchen. So ein Plüsch-Tier drängt einem auch nicht gleich die traditionelle Mutter-Rolle auf. Es muss nicht unbedingt gekleidet, gekämmt und schlafen gelegt werden.
O-TON 12: (Ursula Frischkorn)
„Das schreit nicht nach ständiger Versorgung, weil die Ähnlichkeit mit menschlicher Figur nicht so unmittelbar gegeben ist.“
MUSIK 9 (Randy Newman: „Staff Meeting Everybody!“ 0‘34)
SPRECHERIN:
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts eröffneten in den Großstädten die ersten Zoos. Das Vieh wurde nun vermehrt in Schlachthäusern verarbeitet, um den Fleischbedarf für die rasant wachsende Bevölkerung zu sichern. Ließ sich im Umgang mit Plüschbären und anderen Stofftieren etwa die wachsende Entfremdung von der natürlichen Umwelt kompensieren? Auf jeden Fall muss man im Kuscheltier eine typische Erfindung des Industriezeitalters sehen, sagt der Kunsthistoriker Maurice Saß:
O-TON 13: (Maurice Saß)
„Eine kommerzielle Erfindung auch, die dann sehr schnell Fuß gefasst hat, sich sehr schnell popularisiert hat.“
MUSIK 10 (Randy Newman: Woody/bo peep 0‘35)
SPRECHERIN:
Es sind hybride Wesen. Denn menschliche Vorlieben formen das Aussehen und den Charakter der Kuscheltiere. Ob sie nun mit Mohair-Pelz oder Acryl-Plüsch überzogen sind: Das flauschige Fell der kleinen Mäuse, Katzen, Hasen und Giraffen lädt uns zum Anfassen, Streicheln, kurz zum Kuscheln ein. Dazu die psychologischen Schlüsselreize des sogenannten Kindchenschemas: ihre runden Köpfe, die oft anrührend großen Augen und lächelnde Mündchen, die zu wispern scheinen: Kauf mich! Nimm mich mit!
MUSIK 8 (Randy Newman: You’ve Got A Friend In Me 0‘11)
ATMO Teddy blökt
SPRECHERIN:
Kuscheltiere sind abstrahierte Tiere. Ein aufgerissenes Maul mit angedeuteten Zähnen, dazu ein grüner langgestreckter Leib, fertig ist das Krokodil. Schon die frühen Höhlenmalereien zeigen Tiere in symbolisierter Form. Wir wissen nicht, was sie den Menschen damals bedeutet haben. Aber Tier-Darstellungen aller Zeiten belegen, dass Kühe, Hasen, Hunde und so weiter schon immer auch vermenschlicht, also anthropomorphisiert wurden, erklärt der Kunsthistoriker Maurice Saß.
O-TON 14: (Maurice Saß)
„Das ist so das typische Wort, mit dem man auch Comics oder Kuscheltiere bedenken würde, die ja nicht darauf abzielen, möglichst realistisch zu sein, sondern Tiere anthropomorphisieren, den Menschen anverwandeln, um ihm auch zugänglicher zu sein.“
MUSIK 12 (Joe York Ensemble: Bella Notte 0‘54)
SPRECHERIN:
Kinder sind heute von vermenschlichten Tieren und auch Pflanzen in allen denkbaren Formen umgeben. Nicht nur die Walt-Disney-Studios leisten hier ganze Arbeit. Zeichentrickfiguren und animalische Kinderbuchhelden werden als Stofftiere vermarktet. Und umgekehrt und kreuz und quer. Da gibt es als Hörspiel, Bilderbuch und Kuscheltier einen Elefanten namens Benjamin Blümchen, der alle Menschen-Sprachen und Tierlaute versteht. Oder eine Paw Patrol, eine Hunde-Truppe, die mit Tennisball-Kanonen, Gabelstaplern und Verbandszeug umgehen kann. Lässt sich so ein respektvoller Blick auf die Tierwelt vermitteln? Sorgt Anthropomorphisierung nicht für eine weitere Entfremdung von der Natur?
O-TON 15: (Maurice Saß)
„Anthropomorphisierung ist natürlich tatsächlich auch eine der Techniken, durch die Menschen sich Tiere als Mittel ihrer eigenen Selbstbespiegelung zurichten. Durch Anthropomorphisierung wird aber auch es möglich, überhaupt eine Verbindung zu dem, was einem fremd ist, herzustellen.“
MUSIK 13 ( Romain Lateltin: Le grand départ 0‘33)
SPRECHERIN:
Dieses Brüllen und Fauchen in der Nacht, ein Paar glühende Augen und huch, eine Spinne! Das Geheimnisvolle und Bedrohliche der Tiere, das, was uns ängstigt, wird unter Kontrolle gebracht, wenn der Mensch das Tier zum Spiegel seiner Selbst macht - in Kunstwerken, Industrieprodukten und Metaphern. Übrigens: was meinen wir eigentlich, wenn wir uns äffisch, hündisch oder löwenhaft benehmen? Die Tiere erklären sich uns nicht, sie sehen uns auch nicht seelenvoll an. Doch wie gesagt: wir Menschen können offenbar nicht anders, sagt die Psychoanalytikerin Ursula Frischkorn:
O-TON 16: (Ursula Frischkorn)
„Wir projizieren in Lebewesen alle möglichen Sehnsüchte, Ängste, Gefühle, Selbst-Anteile, Beziehungsaspekte und so weiter.“
SPRECHERIN:
Und die Tiere scheinen zu antworten. Das Zauberwort heißt Animation. Mit der Schöpferkraft der Fantasie lassen sich an sich stumme Wesen wie auch Smillas Stoffschaf Poppy zum Leben erwecken. Smillas Mutter setzt ihn bewusst nicht zu erzieherischen Zwecken ein.
O-TON 17: (Smillas Mama – Poppy)
„Wenn ich dann nämlich den Poppy spiele, dann wechselt automatisch die Rolle und der Poppy muss nicht erzieherisch korrekt antworten. Der Poppy darf antworten wie ein kleines freches widerständiges Schaf antworten würde. Und das hilft, habe ich manchmal den Eindruck, der Smilla mehr als wenn ich irgend so einen Eltern-Text ablasse, und das macht er aber selbst, also ich sag immer, nur die Hälfte von dem, was der Poppy sagt, kommt von mir. Die andere Hälfte kommt irgendwo aus dem Universum dann in dem Moment dazu, so dass er tatsächlich schon mindestens zur Hälfte lebendig ist. - Ich bin nicht nur zur Hälfte lebendig, ich bin ganz lebendig.“
MUSIK 14 (Dota: Monster & Drachen 0’45)
O-TON 18: (Ursula Frischkorn)
„Unser Leben wäre ja auch ein Stück weit ärmer, wenn es nicht diese ganzen Wesen gäbe. Das gehört einfach zum Menschsein dazu. Und der Übergang auch zu Kunstobjekten ist sicherlich fließend. In der Pop-Art tauchen auch viele dieser Wesen auf.“
O-TON 19: (Manuela Scheininger)
„Es macht auf jeden Fall das Leben bunter und schöner und vielleicht sind auch manche Leute einfach einsam und kaufen sich deswegen ein Stofftier, wo sie einfach gernhaben können.“
SPRECHERIN:
In Manuela Scheiningers Stofftierladen kaufen nur 20 Prozent der Kundschaft für Kinder ein. Die Mehrzahl der Menschen, die hier Kraken, Affen, Schildkröten, aber auch kuscheltierartiges Obst, lächelndes Gemüse und andere kleine Plüschdeko-Artikel erwerben, sind Sammlerinnen, die zu Hause ein ganzes Zimmer voller Kuschelobjekte besitzen.
O-TON 20: (Manuela Scheininger)
„Aber es gibt auch Männer. Bloß, die geben es einfach nicht zu. Aber es gibt auch genügend Frauen, wo es nicht unbedingt so an die Öffentlichkeit hängen, weil es ihnen einfach ein bisschen peinlich ist. Es haben halt nicht alle Verständnis dafür. Wenn man selber sammelt, dann sieht man das anders. Aber wenn jemand mit solche Sachen gar nix zum Tun hat, der findet das oft total blöd.“
SPRECHERIN:
Kuscheltiere gelten als Kinder-, oder schlimmer noch, als „Weiber“-Kram. Die Unterdrückung und Abwertung des Gefühlslebens, die im patriarchalen System Methode hat, trifft auch die Kuscheltiere. Zärtlich sein, Streicheleinheiten geben oder nehmen, widerspricht dem Klischee harter Männlichkeit. Selbst wenn unsere Gesellschaft heute weniger starre Geschlechterrollen vermittelt und moderne Männer sogar Tränen zeigen dürfen: Kuscheltieren haftet von Haus aus etwas Regressives, Infantiles an. Spielzeug eben. Die Scheu erwachsener Menschen, sich zu ihren eigenen Stofftieren, insbesondere dem innig geliebten Bären aus Kindertagen, zu bekennen, hat deshalb nachvollziehbare Gründe, sagt die Psychologin Ursula Frischkorn.
O-TON 21: (Ursula Frischkorn)
„Weil sie sehr tief innerlich besetzt sind, wie wir Psychologen sagen, also ganz viele Kindheitsgefühle verkörpert im wahrsten Sinne des Wortes dieser Teddybär. Also gibt es auch Menschen, die diesen Teddybären dann ein bisschen beschämt verstecken oder auch nicht so selbstbewusst ihn noch mitten aufs Bett setzen. Jedenfalls nicht, wenn dann der Liebhaber auch zu Besuch käme oder so, ja, weil es eben sehr verbunden ist auch mit dem eigenen Kindheits-Ich.“
MUSIK 15 (Lisa Bassenge: Tier 0’35)
O-TON 22: (Smilla + Mama)
„Ich habe schon viele Mädchen, aber der Poppy und sein anderer Kumpel Jacky, die sind beide Jungs. - Alle anderen sind bei der Smilla explizit Damen, sie hat ganz viele Kuscheltiere, wo explizit klar ist, das ist eine sie. - Zum Beispiel mein Delfin und mein anderer Delfin, das sind Delphi, das auch eine Frau, und Niki, auch ein Mädchen. - Oder Kara, das Pferd. Oder Olivia und wie heißt diese Erdbeere? – Ella. - Ella und die Schlange ist, glaube ich, auch ein Mädchen. – Ja.“
SPRECHERIN:
Smillas Kuscheltier-Kosmos bereichert das Familienleben. Trotzdem meidet Smillas Mutter mittlerweile Spielwarenabteilungen und andere Plüschtier-Hotspots, wenn sie mit ihrer Tochter unterwegs ist. Bei aller Liebe zu Poppy, Smillas erstem Kuscheltier und all den 55 anderen: „Nein“ zu sagen, fällt eben echt schwer, wenn dich ein verwuschelter Affe oder eine flauschige Banane treuherzig anschauen. O, mein Gott, wie süß! Für die kapitalistische Ausbeutung menschlicher Gefühle ist das Kuscheltier der wohl niedlichste Beleg. Wie gut, dass die Stoffmaus- und Plüsch-Hundchen-Phase in der Pubertät ihr Ende findet, zumindest offiziell als Entwicklungsstufe definiert.
O-TON 23: (Ursula Frischkorn)
„Im Kindergarten ist es ja noch üblich, dass man einen Kuscheltier-Tag hat. Oder ich habe jetzt über Patientinnen auch mitbekommen, dass es manchmal in der Grundschule Klassen-Kuscheltiere gibt. Und es ist eine besondere Ehre ist, wenn man das Kuscheltier der Klasse übers Wochenende mit in die eigene Familie nehmen darf. Aber es ist immer schwierig, weil die Entwicklungsphasen sich verschieben. Aber irgendwann mit neun, zehn, elf ist dann das Handy das neue Kuscheltier.“
MUSIK 16 ( Das Paradies: fritzi ganz verfranzt 0’43)
SPRECHERIN:
Aus psychoanalytischer Sicht gilt heute das Handy als das libidinös besetzte, also mit Affekten und Bindungswünschen belegte Objekt Nummer 1. Kaum jemand kann sich der Sogkraft dieses harten, eckigen, stromfressenden Gegenstandes erwehren. Trotzdem (oder gerade deshalb?) müssen die Kuscheltiere im digitalen Zeitalter nicht wirklich klein beigeben. Wer seine Sinne schärft, sieht sie an vielen Rucksäcken und Rückspiegeln baumeln. Sie bieten sich offenbar als Talisman für Reisende an. Schüler und Studierende nehmen sie zu Prüfungen mit. Vielleicht tritt hier ja wieder die magische Funktion in Erscheinung, die die Tiere einst für die Menschen hatten? Tatsächlich gibt es zwischen Kultobjekt und Kuscheltier einige Parallelen, sagt der Kunsthistoriker Maurice Saß.
O-TON 24: (Maurice Saß)
„Auch Kuscheltieren werden übernatürliche Kräfte zugeschrieben. Kuscheltiere werden potenziell animiert, also für lebendig gehalten, Kuscheltiere werden besonders verehrt, gewertschätzt, besonders aufbewahrt. Gleichzeitig handelt sich es um leblose Objekte und die Personen, die damit umgehen, zumindest sobald sie reden können, wissen auch schon Auskunft darüber zu geben, dass die Tiere, also Kuscheltiere, nicht lebendig sind. Also da gibt es viel, was es an Analogie zu auch anderen Kultobjekten geben würde. Das, was vielleicht aber den größten Unterschied macht, ist, dass Kuscheltiere natürlich eigentlich immer nur Kuscheltiere für ein einzelnes Kind sind. Wohingegen ein religiöser Kult oder auch wenn wir jetzt im Bereich des Populären wären, also im Bereich Sport, würden wir immer von einer Gemeinschaft ausgehen, die einen bestimmten Kult pflegt und dadurch bestimmte Objekte mit kultischem Wert auflädt.“
SPRECHERIN:
So wie es heute inflationär mit Maskottchen versucht wird, die große Sportveranstaltungen begleiten. Werbewirksam treten sie jetzt oft auch als menschengroße Kuscheltiere auf, die sich umarmen lassen und in die Kameras Winkewinke machen.
MUSIK 17 ( fastmusic: Instrumental 3 0’32)
SPRECHERIN:
Das Klima erwärmt sich, unser CO2-Ausstoss ist zu hoch, die natürliche Artenvielfalt schwindet. Doch der weltweite Siegeszug der Kuscheltiere, angeheizt durch Unmengen Billig-Plüschware aus Fernost, wirkt ungebremst. Täglich kommen neue Wesen hinzu. Aber wohin mit den alten? Es gibt da mittlerweile nämlich ein großes Entsorgungsproblem, sagt die Stofftierhändlerin Manuela Scheininger.
O-TON 25: (Manuela Scheininger)
„Es gibt viele Kunden, die zu mir reinkommen, die wahnsinnig viele Stofftiere noch von den Kindern dahoam haben. Und die sagen dann: wollen Sie es haben? Sie wissen nicht, was damit machen sollen, und sie können es nicht wegschmeißen. Sie bringen es einfach nicht übers Herz, aber ich kann jetzt auch keine gebrauchten Stofftiere im Laden verkaufen, das will ja keiner für seine Kinder haben. Es ist schwierig, also man hat echt ein schlechtes Gewissen, wenn man es wegschmeißt.“
MUSIK 18 (The Beach Boys: God Only Knows – Stereo Backing Track 1’20)
SPRECHERIN:
Menschen gehen fort, Verhältnisse ändern sich. Die Stofftiere bleiben. Sie widersetzen sich der Vergänglichkeit, dem Wegwerfzwang und der profanen Flüchtigkeit unserer Zeit. Auch wenn ihr Fell eines Tages fahl und abgenutzt aussieht, ihre Botschaft hat nach wie vor Bestand: Love, love, love is all you need. Denn das Leben ist eben leider kein Ponyhof, es fühlt sich oft genug viel zu rau und hart und kalt an. Wo findet man noch Trost und Halt?
O-TON 26: (Ursula Frischkorn)
„Das, was Menschen einfach am glücklichsten macht, ist in Beziehung sein. Wir sind bindungsbedürftige und bindungshungrige, liebeshungrige Wesen. Und uns allen geht es oft so, dass unser Liebesbedürfnis nicht voll umfänglich in der Realität immer erfüllt wird. Und dann tut es halt gut zu projizieren und sich vorzustellen: aber das Universum oder die Götter oder die Kuscheltiere verstehen mich schon.“
Negative Erfahrungen speichert unser Gehirn intensiver ab, als positive Erfahrungen. Denn aus schlechten Erfahrungen können wir lernen. Wird Pessimismus aber zu einer Grundstimmung, dann erreicht eine solche Weltsicht eher das Gegenteil: Dann fehlt es an Motivation, etwas daran ändern zu können. Von Daniela Remus (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Hennig Beck, Neurowissenschaftler, Frankfurt/M.;
Dr. Marlies Pinnow, (sprich: Pinnoo) Psychologin, Ruhr Universität Bochum;
Prof. Lars Schwabe, Psychologe, Universität Hamburg
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Pessimistisch sein: Diesen Vorteil haben Pessimisten - ARD alpha
Die Prüfung geht sowieso schief, einen Job kriegt ihr nie, alle sind gegen euch. Denkt ihr oft so negativ? Wir erklären, warum manche Menschen eher Pessimisten oder Optimisten sind, was pessimistisch sein bedeutet - und ob das wirklich immer schlecht ist.
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Literaturtipps:
Beck, Hennig: 12 Gesetze der Dummheit. Denkfehler, die vernünftige Entscheidungen in der Politik und bei uns allen verhindern. Ullstein Verlag, Berlin 2023.
Forschung von Dr. Marlies Pinnow, Ruhr Universität Bochum:
Schlüter, C., Fraenz, C., Pinnow, M., Friedrich, P., Güntürkün, O., & Genç, E. (2018). The structural and Forschung functional signature of action control. Psychological Science, 29(10), 1620-1630.
Pinnow, M. (2018). Wünschen, Wählen, Wollen: Individuelles Entscheiden und Handeln im Spiegel der Neurowissenschaft. In C. Gorr und M.C. Bauer (Hrsg.), Was treibt uns an? (pp. 67-81). Springer: Berlin.
Forschung von Prof. Lars Schwabe, Universität Hamburg:
Rouhani, N., Niv, Y., Frank, M. J., & Schwabe, L. (in press). Multiple routes to enhanced memory for emotionally relevant events. Trends in Cognitive Sciences.
Baczkowski, B. M., Haaker, J, & Schwabe, L. (2023). Inferring danger with minimal aversive experience. Trends in Cognitive Sciences, 27, 456-467.
Schwabe, L., Hermans, E., Joëls, M., & Roozendaal, B. (2022). Mechanisms of memory under stress. Neuron, 110, 1450-1467.
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MUSIK
SPRECHERIN
„Das schaffe ich nie”, „Die denken doch nur an sich” oder „Das wird nie mehr gut”! Nicht wenige Menschen denken so und antworten auch entsprechend negativ. Und sie urteilen dermaßen pessimistisch nicht nur in einzelnen Situationen, sondern bei fast jeder Gelegenheit. Ob es um die Diät nach den Feiertagen geht, die nächste Prüfung, die weltpolitische Lage oder um den Streit in der Familie: „Das kann ja alles gar nicht anders als schlecht enden”! Und mit dieser pessimistischen Grundeinstellung sind sie nicht allein. Weltweit äußern sich in Umfragen zwei Drittel der Menschen düster und negativ über Gegenwart und Zukunft. Das ist für die Bewältigung der aktuellen Krisen kein gutes Zeichen, aber neurobiologisch ist der Pessimismus durchaus zu erklären.
TAKE 1 (O-Ton Beck) L: 0, 25
Wir erinnern uns an sehr negative Ereignisse intensiver, als an sehr positive Ereignisse. Das hat einfach auch den Vorteil, dass man dadurch besser lernen kann. Also man stellt sich mal die Alternative vor, wir würden uns an positive Sachen immer erinnern, dann wären die immer präsent und wir hätten gar nicht mehr den Antrieb die nochmal erreichen zu wollen. Wohingegen, wenn ich mich an die negativen Sachen erinnere, dann habe ich die so präsent, dass ich immer weiß, die möchte ich vermeiden.
SPRECHERIN
Erklärt der Neurowissenschaftler und Sachbuchautor Hennig Beck. Tagein tagaus entscheidet unser Gehirn, was von dem, was wir erleben, als Erinnerung abgespeichert werden soll - und was nicht. Der Streit mit der Chefin, die schlechten Schulnoten, die freundliche Arzthelferin, der heftige Regenschauer und das Laubharken im Garten? Nicht alles, was wir erleben, wird zu einer Erinnerung. Aber negative Erlebnisse haben eine höhere Chance erinnert zu werden als positive. Das begünstigt ganz entscheidend den pessimistischen Blick auf die Welt.
TAKE 2 (O-Ton Beck) L: 0, 24
In einem Gehirn liegt Erinnerung nicht irgendwo rum, sondern eine Erfahrung, die Sie machen, etwas, was Sie sehen oder hören, das führt dazu, dass die Nervenzellen sich besser synchronisieren, besser abstimmen in ihrer Aktivität, sie passen ihre Verknüpfungen untereinander an und das führt dazu, dass sie das nächste Mal dieses Aktivitätsmuster, besser auslösen können und das ist das, was man Gedächtnis oder Erinnerung nennt.
SPRECHERIN
Früher nahmen Forschende an, dass es einen festen Ort im Gehirn gibt, an dem unsere Erinnerungen, ähnlich wie Kleidungsstücke in einer Schublade, aufbewahrt werden. Aber mittlerweile ist klar, diese Erklärung ist zu einfach. An der Gedächtnisbildung sind vielmehr sehr viele und unterschiedliche Bereiche des Gehirns beteiligt: So zum Beispiel die Nervenzellen im sogenannten Hippocampus und im sogenannten Enthorialen Cortex. Was im Einzelnen im Gehirn und speziell in diesen Bereichen passieren muss, damit ein Erlebnis zu einer Erinnerung verarbeitet wird, das haben die Forschenden aber trotz aller Forschungen bisher immer noch nicht in allen Details verstanden.
TAKE 3 (O-Ton Schwabe) L: 0, 10
Es ist natürlich so, dass die Relevanz und die emotionale Wertigkeit von Erfahrungen einen maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie gut Sachen später erinnert werden.
SPRECHERIN
Erklärt Lars Schwabe, Professor für Psychologie an der Universität Hamburg.
TAKE 4 (O-Ton Schwabe) L: 0, 15
Wir wissen aus Verhaltensstudien auch sehr gut, dass emotional negative Ereignisse aber auch emotional positive Ereignisse tendenziell besser erinnert werden als die neutralen, alltäglichen Ereignisse. Das ist ein relativ robuster Befund in der Literatur.
SPRECHERIN
Ein relativ robuster Befund in der Literatur, das heißt, dieses Ergebnis hat sich in vielen unterschiedlichen Experimenten immer wieder bestätigt: Die emotionale Betroffenheit in einer Situation führt also dazu, dass sie intensiver im Gehirn verankert wird. Und das macht es wahrscheinlicher, dass sie im Gedächtnis als Erinnerung abgelegt wird, betont der Frankfurter Neurowissenschaftler Beck:
TAKE 5 (O-Ton Beck) L: 0,20
Alles, was emotional ist, ist so eine Art Beschleunigung für das Lernen. Es führt dazu, dass es besonders intensiv und weitläufig verarbeitet wird und genau an diesen Schnittstellen wo entschieden wird, was ist wichtig und was ist unwichtig, da ist Emotion so etwas, wie ein Lesezeichen, das markiert, oh das ist etwas, was man besonders intensiv später nochmal verarbeiten sollte.
SPECHERIN
Denn das Gehirn muss tagtäglich entscheiden, was wird als Erinnerung abgespeichert und was kann weg? Töne, Gerüche, Erlebnisse, Streit, ein unerwartetes Wiedersehen, Musik oder Gespräche: Emotionale Berührung machen einzelne Situationen von anderen unterscheidbar. Und bei negativen Emotionen ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß. dass sie es ins Gedächtnis schaffen und damit zu einem pessimistischen Blick auf die Welt führen.
TAKE 6 (O-Ton Beck) L: 0, 32
Es gibt so eine Art Koordinationsstelle im Gehirn, die die wichtigsten Infos des Tages noch einmal reaktiviert. Nennt sich Hippocampus. Und diese Region ist quasi so ein Taktgeber dafür zu entscheiden, was ist wichtig, was ist unwichtig? Und in der Nacht, wenn man schläft, wird dann eben geschaut, was war besonders überraschend? Was war besonders emotional? Was war besonders neu, was man erlebt hat? Und das wird dann in der Nacht in den Großhirnarealen, dezentral, verankert unter Anleitung von eben jenem Hippocampus.
SPRECHERIN
‚Gedächtnisspur‘ nennen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das, was der Hippocampus in den verschiedenen Gehirnarealen aufbaut und was dann später als Erinnerung wieder abgerufen werden kann. Positive und negativen Erlebnisse, die in uns Gefühle hervorrufen, entweder der Freude, des Glücks oder auch des Leids und der Trauer, hinterlassen besonders tiefe Gedächtnisspuren, werden also deutlich besser erinnert. Und manchmal, bei besonders traumatisierenden Erlebnissen kommt es dadurch zu einer derart präsenten Erinnerung, dass diese nicht mehr bewusst kontrolliert werden kann, wie bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung.
((TAKE 7 (O-Ton Beck) L: 0, 30
Wenn es besonders positiv oder besonders negativ ist, führt das zu einer besseren Gedächtnisspur, zu einem besseren Training kann man sagen, der Nervenzellen und ich behalte das intensiver. Tatsächlich muss man aber sagen, dass negative Emotionen, hochnegative Emotionen, Niederlagen beispielsweise oder Trauerereignisse, Schicksalsschläge, besonders intensiv verarbeitet werden. Intensiver als positive Emotionen und das führt dazu, dass man sich an solche sehr negativen Ereignisse häufig auch sehr negativ erinnert.))
SPRECHERIN
Indem unser Gehirn vergangene Erlebnisse und Erfahrungen strukturiert und gewichtet und unter Umständen zu Erinnerungen macht, hilft es uns, unser Leben zu bewältigen, erklärt Lars Schwabe:
TAKE 8 (O-Ton Schwabe) L: 0, 25
Das ist tatsächlich eine Idee, dass die maßgebliche Funktion des Gedächtnisses ist, uns eben auf ähnliche Situationen in der Zukunft bestmöglich vorzubereiten und daraus resultiert einfach auch der Umstand, dass dieses emotionale Gedächtnis, also die Steigerung der Erinnerungsfähigkeit emotionaler Inhalte, dass das auch ein grundadaptiver Mechanismus ist, der uns für zukünftige Gefahren bestmöglich vorbereitet.
SPRECHERIN
Es ist also vermutlich evolutionsbiologisch zu erklären, dass negative Erfahrungen besonders intensiv erinnert werden. Denn das hilft dabei, solche Erlebnisse in Zukunft zu vermeiden. Insofern könnte man auch sagen, dass ein pessimistischer Mensch sich v.a. davor schützen möchte, besonders negative Situationen zu erleben. Wie zum Beispiel das Anfassen der heißen Herdplatte. Biochemisch betrachtet lässt sich die intensive Erinnerung mit dem Hormoncocktail erklären, den der Körper in solchen Situationen ausschüttet. In glücklichen Momenten, wie beispielsweise bei der Geburt eines Kindes, produziert der Organismus besonders viel vom Botenstoff Dopamin, alltagssprachlich auch bekannt als ‚Belohnungshormon‘. Anders in einer emotional belastenden Situation: in der schüttet der Körper die Botenstoffe Noradrenalin und Cortisol aus, beide alltagssprachlich auch als ‚Stresshormone‘ bekannt. Vor allem diese Stresshormone aktivieren, so der gegenwärtige Wissensstand, die sogenannte Amygdala. Die ist, evolutionsbiologisch betrachtet, ein sehr alter Teil des Gehirns, häufig auch Mandelkern genannt, der für die Bewertung von emotional wichtigen, und zwar vor allem negativen Erlebnissen zuständig ist, ((erklärt Lars Schwabe:
TAKE 9 (O-Ton Schwabe) L: 0, 13
Das heißt, die Amygdala sagt gewissermaßen, ‚hey, das ist jetzt eine extrem wichtige Situation, Hippocampus merk dir das mal besonders gut!‘, plakativ gesprochen und das ist der Mechanismus, der für aversive Ereignisse ganz gut etabliert ist.
SPRECHERIN
Auch für die Entstehung von Angst, die sich ja aus negativen emotionalen Erinnerungen speist, spielt die Amygdala eine wichtige Rolle. Forschende vermuten deshalb, dass es nicht nur graduelle Unterschiede gibt, in der Abspeicherung und Verarbeitung von positiven und negativen Emotionen in unserem Gedächtnis, sondern tatsächlich auch qualitative Unterschiede.)) Und das sei ja auch sinnvoll, so Psychologieprofessor Lars Schwabe, weil Erfahrungen und Erinnerungen unser Verhalten prägen.
TAKE 10 (O-Ton Schwabe) L: 0, 17
Das heißt, unser Gedächtnis ist für unser Funktionieren im Alltag, in jeglicher Hinsicht, Motivation, Orientierung, Entscheidungsfindung absolut essentiell, aber auch essentiell dafür, wie wir uns als Person wahrnehmen.
SPRECHERIN
Ohne Erinnerung fehlten uns auch bedeutende Informationen über uns selbst. Deshalb, so Lars Schwabe, wüssten wir nicht, falls wir sie verlören, was wir für ein Mensch sind und was uns ausmacht. Wenig verwunderlich also, dass Erinnerungen auch mitbeeinflussen, wie Menschen auf die Welt, auf ihr Leben blicken. Sind sie eher optimistisch oder pessimistisch? Erwarten sie positive Entwicklungen für die Zukunft oder wird alles einfach nur immer schlechter?
TAKE 11 (O-Ton Schwabe) L: 0, 24
Und wenn wir dann aufgrund unserer Stimmungslage oder unseres Naturells vorrangig negativ gefärbte Erfahrungen erinnern und diese in unserem Gedächtnis überrepräsentiert sind, dann kann das schon was sein, dass dann halt so ein sich selbst verstärkender Prozess fungiert dass man dann einen stärkeren Pessimismus an den Tag legt möglicherweise sogar zu eine depressive Stimmung neigt.
SPRECHERIN
Und daraus kann sich eine regelrechte Abwärtsspirale entwickeln, in der sich negative Erfahrungen und Erinnerungen dauerhaft selbst verstärken, erklärt Lars Schwabe:
TAKE 12 (O-Ton Schwabe) L: 0, 31
Das heißt, dass wir erfahrungsbasiert bestimmte Schemata ausbilden, die Erwartungen widerspiegeln, was in einer bestimmten Situation vorhanden sein sollte. Und das leitet dann auch unsere Wahrnehmung und unsere Gedächtnisbildung, dass wir genau schauen, was sind die Aspekte, die bestimmte Situationen voneinander abgrenzen und was sind bestimmte Merkmale, die eigentlich überall da sind und das natürlich auch hilft für ein effizientere Gedächtnisabspeicherung.
SPRECHERIN
Im Alltag sprechen wir oft von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, wenn Menschen vor einem Prüfungstermin, der Führerscheinprüfung oder dem Bewerbungsgespräch mutmaßen, „das wird sowieso nichts” oder „ich kann das nicht”. Damit meinen wir, dass jede und jeder unbewusst oder bewusst durch das Verhalten mit dazu beiträgt, wie bestimmte Situationen sich entwickeln. Und tatsächlich existiert eine solcher Mechanismus. In Experimenten konnten Forschende nachweisen, dass negative Erlebnisse eine pessimistische Grundhaltung befördern und diese dann wiederum dazu führt, negative Erlebnisse zu begünstigen. Aber, ganz entscheidend in diesem Zusammenhang: Negative Erlebnisse werden dadurch nicht verursacht!
MUSIK
SPRECHERIN
Und noch ein wichtiger Unterschied: Negatives Erlebnis und negatives Erlebnis sind auf keinen Fall identisch. Krieg, Vergewaltigung und Folter sind selbstverständlich unter keinen Umständen zu vergleichen mit anderen Erfahrungen, die wir im Alltag oft als negativ wahrnehmen, wie beispielsweise einer ungerechten Kündigung. Dennoch gehen Menschen mit diesen unterschiedlich belastenden Erfahrungen sehr verschieden um. Und das liegt daran, dass nicht die objektive Schwere einer Situation dafür verantwortlich ist, sondern der Umgang des Individuums damit, erklärt Dr. Marlies Pinnow, Psychologin an der Ruhr-Universität in Bochum:
TAKE 13 (O-Ton Pinnow) L: 0, 39
Im Falle einer negativen Emotion … Angst, Trauer, Wut, kommt es ja in der Regel zu einer Coping Reaktion, also sie müssen das irgendwie bewältigen … Davon ist es ja abhängig, wie ich diese Erfahrung verbuche. Die kann ich erfolgreich bewältigen, lerne dadurch noch etwas … oder aber ich bewältige die nicht erfolgreich. Und das sind ja häufig Leute, die wir dann in der Praxis in den Therapien sehen. Die mit irgendeiner Situation in ihrem Leben, im Sinne eines positiven Copings nicht klargekommen sind.
SPRECHERIN
Selbstverständlich gibt es Menschen, die derart viele unvorstellbar negative Erfahrungen machen, dass sie von diesen geprägt werden und keine Kraft mehr haben, optimistisch, also hoffend und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Menschen, die Kriege aushalten müssen, die Massaker und Terroranschläge überleben, Vergewaltigungen oder Folter überstehen. Aber nicht immer ist der Blick auf die Welt von solchen tatsächlich objektiv negativen Erlebnissen abhängig. Denn wie Menschen solche Erlebnisse verarbeiten, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, erklärt der Psychologe Lars Schwabe von der Universität Hamburg:
TAKE 14 (O-Ton Schwabe) L: 0,22
Da gibt es eine ganze Reihe von Faktoren: Persönlichkeit, frühkindliche Erfahrungen, genetische Ausstattung aber eben auch bestimmte Erinnerungstendenzen. Wenn es aber so ist, dass eine Person real sehr viel negative Situationen erfährt, die dann natürlich auch im Gedächtnis stark abgespeichert sind, dann hat das natürlich auch Implikationen, dafür, was sie erwartet, was in Zukunft passieren wird.
SPRECHERIN
Menschen, die extrem negative Situationen erleben mussten, wie z.B. Folter oder Missbrauch, können beispielsweise in eine sogenannte ‚erlernte Hilflosigkeit‘ rutschen. Das heißt, dass die negative Erinnerung und damit eine pessimistische Grundhaltung zum bestimmenden Aspekt der Persönlichkeit wird:
TAKE 15 (O-Ton Schwabe) L. 0, 10
Auch auf motivationaler Ebene, wo dann vielleicht so ein Pessimismus reinspielt, und auch auf kognitiver Ebene. Man sieht dann z.B. auch bestimmte Gedächtnis- oder Arbeitsgedächtnisauffälligkeiten.
SPRECHERIN
Aber auch bei denjenigen, die von solchen objektiv negativen Erlebnissen verschont sind, die Glück, Trauer, Wut und Freude in einem relativ gesicherten Umfeld erleben, so wie es für die meisten Menschen hier in Deutschland gilt, gibt es viele, die vor allem pessimistisch auf die Welt blicken. Sie haben eine Arbeit, werden auch mal krank, fallen durch Prüfungen oder werden von ihren Partnern verlassen, sie ärgern sich, wenn die Bahn unpünktlich, das Auto kaputt ist und das Lieblingsbrötchen ausverkauft. Unterschiedlich stark ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale beeinflussen, so der gegenwärtige Wissensstand, wie Menschen mit solchen negativen Alltagserfahrungen umgehen: Manche sind eher Handlungsorientiert, andere eher Lageorientiert. Handlungsorientierte überlegen bei Missgeschicken und negativen Erlebnissen, warum ist das so gelaufen, welche Gründe gibt es dafür, wie kann ich damit in Zukunft umgehen? Was kann ich verändern, damit das nicht noch einmal passiert? Lageorientierte Menschen dagegen sind so auf die Lage bzw. Situation fixiert, dass sie es nicht - oder nur sehr - schwer schaffen, sich von dieser Erfahrung zu befreien, sich von dem Missgeschick zu erholen oder auch daraus für die Zukunft zu lernen, wie die Psychologin Margret Pinnow erklärt:
TAKE 16 (O-Ton Pinnow) L: 0, 20
Wir haben diese Personengruppen tatsächlich in den Scanner gelegt… da haben wir angefangen zu schauen, weil es gibt Strukturen, die erlauben Emotionen besser zu regulieren und die sind tatsächlich bei den Handlungsorientieren stärker ausgeprägt als bei den Lageorientierten.
SPRECHERIN
Warum die einen deprimiert und pessimistisch reagieren, die anderen aber negative Erlebnisse und Niederlagen wegstecken, das ist bisher noch nicht richtig klar, sagt Marlies Pinnow. Sicherlich sind frühkindliche Bindungen dafür entscheidend, aber auch erlernte Emotionskontrolle und genetische Dispositionen. Fest steht, diese Eigenschaften beeinflussen, wie man auf die Welt blickt, welcher Blick sich verstetigt. Hinzu kommen darüber hinaus, neben diesen individuellen Persön-lichkeits¬merkmalen, auch noch weiter Faktoren. Sie liegen auf der gesellschaftlich-sozialen Ebene:
TAKE 17 (O-Ton Beck) L: 0, 17
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass wirtschaftlich sehr reife Gesellschaften dazu tendieren, pessimistischer zu werden. Weil sie einfach an einem Punkt angekommen sind, wo man sich kaum vorstellen kann, dass es besser werden kann und ich diesen ganzen Fortschritt und Wohlstand als selbstverständlich annehmen.
SPRECHERIN
Sagt der Frankfurter Neurowissenschaftler Henning Beck, der zum grassierenden, gesellschaftlichen Pessimismus im Herbst 2023 ein Sachbuch veröffentlicht hat.
TAKE 18 (O-Ton Beck) L: 0, 23
Also für uns ist selbstverständlich, dass sauberes Wasser aus der Leitung kommt, für uns ist selbstverständlich, dass wir Erdbeeren im Winter kaufen können, ich kann mir alles liefern lassen, was ich will. Wir haben als Gesellschaft einen Zustand erreicht, der kaum noch verbesserungsfähig ist, in unserer Vorstellung. Welche Möglichkeiten hast du darauf psychologisch zu reagieren? Du schaust dir an, wo es schlechter werden könnte und hast Angst davor, und fängst also an zu verteidigen, was du hast.
SPRECHERIN
Genau das sehen und erleben wir zurzeit in vielen europäischen Staaten. Eine Umfrage des Forsa Instituts vom September 2023 hat beispielsweise ergeben: In Deutschland sind rund 46 Prozent der Befragten der Ansicht, dass es ihnen in zehn Jahren deutlich schlechter gehen wird als heute. Nur 17 Prozent blicken optimistisch in die Zukunft, und erwarten, dass es ihnen dann besser gehen wird. Eine gesellschaftliche Stimmung also, die eindeutig pessimistisch ist und die ihre Ursachen nicht nur in der Angst vor Verlusten hat, sondern auch darin, dass das, was gut läuft, nicht als positiv wahrgenommen wird, sagt Hennig Beck:
TAKE 19 (O-Ton Beck) L: 0, 35
Warum sind Menschen so pessimistisch? Menschen erkennen den Fortschritt nicht. Also das Unglück ist sichtbar, das Glück auch, aber man sieht es nicht. Das Glück nimmt man eigentlich als selbstverständlich hin, also das, was früher eine medizinische Sensation war, früher war es eine Sensation, wenn du 90 Jahre alt geworden bist, heute regen sich 70,80jähirge auf, wenn sie in der Coronapandemie nicht mit einem Kreuzfahrtschiff fahren können. Ja, so ändern sich die Zeiten. Und dieser ganze Fortschritt, dass wir gesünder sind, besser leben, dass wir freier sind als früher, das sehen wir nicht, weil wir uns daran gewöhnt haben.
SPRECHERIN
„Früher war alles besser …” heißt es dann. Dabei sind immer mehr Krebsarten heilbar sind, deutlich mehr Menschen können lesen und schreiben, Demonstrationsfreiheit gilt selbst für abstruse Meinungen, sofern sie nicht gegen das Grundgesetz verstoßen. In Deutschland muss kaum noch jemand Hunger leiden, in Rhein und Elbe kann wieder geschwommen werden und die Zahl der Morde geht kontinuierlich zurück. Dennoch nehmen viele Menschen das ganz anders wahr. Neben den realen und beunruhigenden Kriegen und wirtschaftlichen Krisen, mit denen wir zur Zeit konfrontiert sind, gibt es dafür aber auch noch eine andere Erklärung:
TAKE 20 (O-Ton Beck) L 0, 38
Das nennt man Reminiszenz Effekt. Das ist dieser Effekt, dass man sagt, früher war alles besser. Und man vergleicht die Gegenwart jetzt mit der Vergangenheit und stellt fest, ach früher war doch eigentlich alles okay. Und das ist ein psychologischer Streich, den uns unser Gehirn spielt. Denn ja, es stimmt, dass negative Sachen intensiver erlebt werden als positive, …, aber wenn es um das gesamte Leben geht und man schaut zurück, an was erinnert man sich am meisten? Am meisten erinnert man sich an die Phase in den eigenen 20ern. Das ist so die Phase, die am präsentesten ist. Man ist von zu Hause ausgezogen, hat irgendwo eine Arbeit angefangen, hat einen Partner oder eine Partnerin fürs Leben kennengelernt, da ging´s ab.
SPRECHERIN
Und alles, was danach kommt, Konsolidierung im Beruf oder die Familienphase fällt dagegen ab, erscheint eher langweilig. Denn es passiert in der Regel deutlich weniger komplett Neues als in der Zeit zwischen 20 und 30:
TAKE 21 (O-Ton Beck) L: 0, 30
Der Grundton, dass man danach nicht sooo viel erlebt … führt dazu, dass man im Laufe des Lebens sagt, ach ja früher, da ging es rund, da hab ich viel gemacht, da war alles gut und jetzt ist viel weniger los und es wird eigentlich alles immer schlechter. Das führt dazu, dass man so eine pessimistische Grundeinstellung hat, weil man die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleicht, obwohl das objektiv vielleicht gar nicht stimmt.
SPRECHERIN
Wenn große Teile einer Gesellschaft von dieser pessimistischen Grundstimmung erfasst werden, kann das, ganz pragmatisch betrachtet, durchaus problematisch sein. Denn in der gegenwärtigen Lage mit Erderwärmung, Kriegen und Krisen, brauchen Gesellschaften gute Ideen, und Menschen, die optimistisch in die Zukunft blicken, um die anstehenden Schwierigkeiten zu bewältigen und die Entwicklung zum Besseren wenden zu können. Pessimismus und der Blick zurück in eine vermeintlich gute Vergangenheit, ob persönlich oder politisch, ist dafür eher eine Sackgasse.
Fenster gelten als Auge eines Hauses. Sie schaffen eine Verbindung zwischen innen und außen, ermöglichen Aus- und Einblicke. Durch die Jahrhunderte haben sie ihre Form stetig gewandelt, genauso wie das Leben in den Räumen hinter den Fenstern Veränderungen unterlag. Von Susanne Hofmann (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Rahel Comtesse, Stefan Merki, Gudrun Skupin
Technik: Adele Meßmer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Wenderoth, Fachreferent für Bautechnik am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege;
Dr. Barbara Perfahl, Wohnpsychologin
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ZITATOR
Der Plan, das neue Rathaus nicht viereckig, sondern dreieckig zu bauen, stammte vom Schweinehirten. „Die Idee wird Schilda berühmter machen als Pisa mit seinem schiefen Turm!“, sagte er.
ERZÄHLERIN
Und so machten sich die Schildbürger an die Arbeit, errichteten drei Mauern und setzten ein Dach darauf. Bei der feierlichen Einweihung wollten die Bürger voller Stolz das neue Gebäude erkunden.
ZITATOR
Doch sie waren noch nicht auf der Treppe, da purzelten sie auch schon durcheinander und schimpften wie die Rohrspatzen. Da erst dämmerte es den Schildbürgern: „In unserem Rathaus ist es finster!“ Sie hatten doch tatsächlich die Fenster vergessen.
ATMO FENSTER zu + ATMO Fenster putzen
ERZÄHLERIN
Was für uns heute ein, inzwischen sprichwörtlicher, Schildbürgerstreich ist, war für unsere Vorfahren über viele Jahrtausende noch Normalität: Gebäude ohne Fenster: Finster, muffig, höhlenartig muss sich das angefühlt haben. Und dann, irgendwann, kam das Fenster.
Musik 2: Glass house - 58 sek
ERZÄHLER
Fenster – von lateinisch fenestra – bezeichnet eine Maueröffnung in einem Haus zur Belichtung und Belüftung von Innenräumen. Seit dem 8. Jahrhundert gehört das Wort Fenster zum deutschen Wortschatz. Wohnen ohne Fenster ist für uns unvorstellbar. Das bloße Dach über dem Kopf reicht nach heutigen Begriffen höchstens zum Hausen aus, nicht aber, um sich auch zuhause zu fühlen. Die österreichische Wohnpsychologin Dr. Barbara Perfahl befasst sich seit vielen Jahren mit Architektur und damit, wie Räume – und Fenster - wirken.
1. ZUSPIELUNG Perfahl 1:35
„Fenster spielen beim Wohnen und beim Einrichten eine ganz große Rolle und vor allem bei der Frage, wie wohl sich Menschen in Räumen fühlen. Ursprünglich sind Fenster ja einfach in Häuser geschnitten worden, sozusagen um Licht rein und ganz zu Beginn den Rauch rauszulassen. Und einen Sicherheitsaspekt hatte das auch noch. Man hat sich aus dem Haus heraus verteidigt, durch Fensterschlitze zum Beispiel. Aber im heutigen Wohnen spielt es eine ganz große Rolle: Die meisten Menschen suchen beim Wohnen Licht, je heller Wohnungen sind, desto wertiger und angenehmer werden sie wahrgenommen.“
Musik 4: Liz on top of the world –35 Sek
ERZÄHLER
Die Villa mit Panoramafenstern und entsprechend lichtdurchfluteten Räumen ist für viele der Inbegriff luxuriösen Wohnens. Idealerweise befindet sich das Haus in unbebauter Umgebung und erlaubt den Blick ins Grüne. Dass wir das als angenehm empfinden, hängt womöglich damit zusammen, so Wohnpsychologin Barbara Perfahl,
2. ZUSPIELUNG Perfahl 3:45
„dass der Mensch in unseren Breitengraden seit etwa 16 Generationen erst überwiegend sich in gebauten Räumen aufhält. Also das heißt, vor wenigen hundert Jahren war unser Lebensraum eigentlich das Draußen. … an und für sich sind wir als Menschen Geschöpfe des Draußen, darauf sind wir auch programmiert. Und deshalb suchen wir das auch im Drinnen.“
ERZÄHLERIN
Fenster schaffen eine Verbindung zwischen innen und außen. Sie schirmen uns – zumindest in ihrer heutigen Form mithilfe von isolierenden Glasscheiben – vor widrigem Wetter und ungemütlichen Temperaturen ab und gewähren zugleich einen Blick ins Freie. Barbara Perfahl:
3. ZUSPIELUNG Perfahl 4.42
„Wir wollen uns die Natur auch reinholen. … Wir können uns besser konzentrieren, wenn wir einen Arbeitsplatz an einem Fenster haben, von dem aus wir ins Grüne schauen können, als wenn wir einen Arbeitsplatz haben, wo wir nicht so ein Fenster haben.“
ERZÄHLER
Der Schutz vor der Natur bei gleichzeitig größtmöglicher Nähe zur Natur scheint ein natürliches Bedürfnis zu sein. Die meisten von uns suchen in unserer Wohnung oder unserem Haus auch Erholung.
4. ZUSPIELUNG Perfahl 6.56
„Das heißt, wir brauchen diesen sicheren Rückzugsraum, um unsere Akkus wieder aufzuladen, um zur Ruhe zu kommen, um wieder aufzutanken. Und da brauchen wir es angenehm, gemütlich, schön. Und da gehört eben Licht, Helligkeit dazu, aber auch die Möglichkeit, zum Beispiel rauszugucken ins Grüne oder in den Himmel oder einfach an die Straße lang, also das zu steuern zu können, wie viel vom Außen ich sehe, das ist schon ein Aspekt auch von diesem Erholtseinkönnen.“
ERZÄHLERIN
Licht hebt die Stimmung, stärkt das Immunsystem, und wir brauchen es in vielerlei Hinsicht, zunächst einmal aus einem ganz praktischen Grund: Damit wir sehen, was wir tun.
5. ZUSPIELUNG Perfahl 2:40
„Wir haben ja jetzt ganz tolles, künstliches Licht, aber vor ein paar hundert Jahren hatten wir funzelige Kerzen gehabt und dort seine Arbeit verrichtet. Aber wir brauchen natürlich als Menschen auch Licht zur Steuerung unserer Körperfunktionen, Tag-Nacht-Rhythmus, Vitamin D-Bildung und solche Dinge, also wir brauchen Licht, um gesund zu bleiben. Und jetzt kann man in die Natur rausgehen, da hat man dann die Sonne, hat das Licht, aber man wollte schon relativ früh, im Grunde in dem Moment, wo man sich Häuser gebaut hat, das Licht möglichst auch drin haben.“
ERZÄHLER
Doch der Blick zurück in die Vergangenheit zeigt: Fenster, die diese Funktion erfüllen, gibt es menschheitsgeschichtlich gesehen noch gar nicht so lange.
Musik 4: Mystique – 35 sek
ERZÄHLERIN
Als sich vor 10-12.000 Jahren erste Gemeinschaften an einem Ort niederließen und begannen, Häuser aus Stein zu bauen, war das noch eine finstere Angelegenheit. Denn Fenster besaßen diese ersten Häuser noch nicht. Maximal hatte man kleine Löcher in der Wand oder im Dach, um den Rauch des Feuers entweichen lassen zu können, an dem man sich wärmte und Essen kochte. Unpraktische Nebenwirkung: Auch kalte Luft und Feuchtigkeit drangen durch die Löcher ungehindert ins Innere.
Musik aus
ERZÄHLER
Später behalf man sich mit in Öl getauchten Tierhäuten, die man vor die Lüftungsschlitze hängte. So wurden Wind und Regen abgewehrt und es schimmerte zumindest eine Ahnung von Licht hindurch. In Gebrauch kamen außerdem Holzläden vor den Maueröffnungen, die man öffnen und schließen konnte. Die Wohnpsychologin Barbara Perfahl:
6. ZUSPIELUNG Perfahl 5:59
„Wir brauchen … ein Territorium, das uns gehört, wo keine Fremden reinkommen können, wo wir auch aber Schutz vor Einblicken zum Beispiel haben, also Privatsphäre gehört da ja auch dazu. Das heißt Fenster wären vor dem Sicherheitsaspekt betrachtet, eigentlich kleiner, besser: Je kleiner, desto weniger kann man reingucken.“
Musik 5: Historic Secrets (b) - 44 Sek
ERZÄHLERIN
Im meist heißen und trockenen Ägypten rund 1100 Jahre vor Christus wollte man sich vor allem vor der sengenden Hitze der Sonne schützen. Die Häuser der alten Ägypter muss man sich als einfache rechteckige Kästen vorstellen, erbaut aus Lehmziegeln. Der Wohnbereich, in dem man sich meistens aufhielt, befand sich ganz im Inneren des Hauses, umringt von kleineren Kammern. Man versuchte dadurch, die Hitze von draußen mit mehreren Mauern abzuschirmen. Diese Häuser nennt man auch Schneckenhäuser. Sie öffneten sich für gewöhnlich auf einen Hof, der oft überdacht war und auf dem man die meisten Arbeiten verrichtete.
Musik aus
ERZÄHLER
Zur Belüftung des Hauses dienten Schlitzfenster. Sie befanden sich ganz oben in den Räumen auf der sonnenabgewandten Seite. Ebenso wie die Eingangstüren, die sich in der Regel nach Norden öffneten, um den kühlenden Nordwind einzulassen. Vor den Schlitzfenstern wurden zum Teil auch Vorhänge aus Papyrus befestigt. Diese sollten ebenfalls vor der Sonneneinstrahlung schützen. Auch dünn geschliffene Scheiben aus Alabaster sind verbürgt. Alabaster, eine Art Gips, wirkt aufgrund seiner weißen Farbe und seiner transparenten Beschaffenheit ähnlich wie Milchglas. Im Inneren der Häuser herrschte also Dämmerlicht. Auch reich verzierte Fenstergitter aus Sandstein, die man zum Schutz der Privatsphäre anbrachte, verdunkelten die Räume.
Weil sich die Häuser trotzdem im Laufe des Tages aufheizten, bespritzten die Menschen ihre Böden mit Wasser, das in Krügen dafür bereitstand. Die Verdunstung sorgte für ein wenig Kühlung. Abkühlung suchten auch die alten Römer in der Antike. Wie sie lebten, interessierte schon den Universalgelehrten Johann Wolfgang von Goethe:
Musik 6: Dr. Mabus – 1:05 Minuten
ZITATOR (Goethe)
Neapel, den 13. März 1787
Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte. Ich weiß nicht leicht etwas Interessanteres.
ERZÄHLERIN
Goethe auf seiner Italienischen Reise nach dem Besuch der antiken Stadt Pompeij am Golf von Neapel. Sie wurde 79 vor Christus nach dem Ausbruch des Vesuvs verschüttet und blieb unter der Vulkanasche großenteils erhalten. Pompeji ist also ein Glücksfall für Archäologen. Die Stadt bietet einen Einblick in den Alltag und die Wohnverhältnisse der Menschen damals.
Goethe war fasziniert:
ZITATOR (Goethe)
Pompeji setzt jedermann wegen seiner Enge und Kleinheit in Verwunderung. Schmale Straßen, obgleich grade und an der Seite mit Schrittplatten versehen, kleine Häuser ohne Fenster, aus den Höfen und offenen Galerien die Zimmer nur durch die Türen erleuchtet.
ERZÄHLER
Nicht alle Häuser der alten Römer waren fensterlos. Insbesondere die Häuser wohlhabender Bewohner hatten Fenster zum Garten oder zum Hof hin, noch ohne Verglasung allerdings. Viele Häuser erhielten ihr Licht von oben, durch eine Dachöffnung. Die großen Stadthäuser besaßen aber auch Fenster zur Straße.
Straßenatmo/Stimmengewirr/Wagengeräusche
ERZÄHLERIN
Die Stadt Rom war zur Kaiserzeit eine pulsierende Metropole mit über einer Million Einwohnern und aufgrund des steten Zuzugs bald hoffnungslos übervölkert. Die meisten Menschen lebten in winzigen Wohnungen oder Zimmern in mehrstöckigen Häuserblocks. Darin war es stickig und beengt, wie der Dichter Martial im 1. Jahrhundert nach Christus in etlichen Epigrammen beklagte.
ZITATOR Martial
„Ich lebe in einer kleinen Zelle, mit nur einem Fenster, das nicht einmal richtig passt. Boreas selbst, der Nordwind, möchte hier nicht hausen.“
ERZÄHLER
Das Leben spielte sich großenteils vor der Haustür ab, in Geschäften, Lokalen und öffentlichen Bädern. Nach Hause kamen die Römer vor allem zum Schlafen. Der Lärm, der von der Straße an die Fenster drang, muss beträchtlich gewesen sein: Wagen rumpelten über das Pflaster, Menschenmassen drängten sich durch die Gassen, Händler priesen ihre Ware an, Viehtreiber brüllten und Lehrer unterrichteten im Freien lautstark ihre Schüler. Ruhe in der Stadt zu finden – ein Ding der Unmöglichkeit, urteilte der römische Satirenschreiber Juvenal:
ZITATOR Juvenal
„Fragst du, woran hier die Mehrzahl dahinstirbt? Mangel des Schlafes Ist’s; denn welche gemiethete Wohnung lässt hier die Ruh zu? Nur der Reiche und Vornehme kann des Schlafes sich freuen; Das ist die Quelle der Krankheit; das Rasseln der Karren und Wagen In dem engen Gewirre der Gassen, das Fluchen und Schimpfen, das der Fuhrmann erhebt, wenn sein Vieh muss stehen.“
Straßenatmos weg + Fenster zu + Atmo Regen prasselt gegen Fenster
ERZÄHLERIN
Lärmreduzierendes Fensterglas entwickelten die Römer kurz nach Christi Geburt. Eine bahnbrechende Erfindung: Dank Glasscheibe können nun Wind und Wetter nach draußen verbannt werden, während das Licht ins Gebäude gelassen wird. Das Fensterglas kommt gerade rechtzeitig für die Eroberungsfeldzüge der Römer über die Alpen in den kühleren Norden. Nur dank Glasfenstern waren auch andere zivilisatorische Exporte der Römer in kältere Regionen überhaupt sinnvoll nutzbar – beispielsweise Fußbodenheizungen oder Thermen.
Atmo Therme + Wassergeplätscher…
ERZÄHLER
Hier, in ihren Badeanlagen, setzten die Römer wohl ihre ersten Glasfenster ein. Und zwar nach Süd-Westen ausgerichtet, so dass die Becken zu den Badezeiten zwischen Mittag und Abend die volle Sonne abbekamen und sich die Räume dadurch aufheizen konnten. Eines der ältesten erhaltenen verglasten Fenster stammt aus der Forumstherme in Pompeji: Eine etwa handtellergroße runde Scheibe in einem Bronzerahmen.
ERZÄHLERIN
Fensterglas, das noch über viele Jahrhunderte ein Luxusgut war, wurde nur in öffentlichen Gebäuden und in den Palästen der Reichen eingebaut. Die frühen Fensterscheiben muss man sich auch noch recht klein vorstellen, sie maßen in der Regel höchstens 20 mal 30 Zentimeter. Außerdem war das Glas matt, uneben und noch lange nicht so durchsichtig, wie wir es heute kennen. Hergestellt wurde es aus einer Mischung von Buchenholzasche und Sand, die man bei rund 1500 Grad Celsius miteinander verschmolz. Vermutlich wurde dieses frühe Fensterglas geblasen, aus der Glaskugel ein Zylinder geformt, welcher schließlich geteilt und ausgerollt wurde. Die Reste wurden wieder eingeschmolzen. Ein äußerst aufwändiger Prozess.
Musik 7: Virgo Virginum – 41 Sek
ERZÄHLER
Aus der Not des kleinen Formats machte man in der Gotik, also ab Mitte des 13. Jahrhunderts, eine Tugend. Man färbte das Glas bunt – unter anderem unter Beifügung von geringen Mengen Gold und Chrom – und setzte es mittels Bleifassungen zu Bildern zusammen. In den gotischen Kathedralen prangen seither prächtige, vielfarbige Glasfenster. Eines der größten ziert die Kathedrale von Metz: Es misst 6.500 Quadratmeter, ist also fast so groß wie ein Fußballfeld, und zeigt unter anderem verschiedene Marienbildnisse.
Atmo – Tür knarzt – Archiv
7. ZUSPIELUNG 1.20 Thomas Wenderoth
„Hier stehen wir in einem unserer Haupträume. Sie sehen, wenn Sie jetzt um sich schauen, auf der rechten Seite eben eine große Anzahl von Fenstern…Die kommen aus dem gesamten bayerischen Bereich.“
ERZÄHLERIN
Der Denkmalschützer Dr. Thomas Wenderoth, Fachreferent für Bautechnik am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, überblickt eine Sammlung von rund 200 historischen Fenstern, verstaut unter dem Dach des ehemaligen Klosters Thierhaupten. Sie alle haben einen hölzernen Rahmen, die meisten besitzen Glasscheiben, viele davon mehrmals unterteilt. Auch Butzenscheiben sind dabei sowie runde oder sechseckige Fensterscheiben.
ERZÄHLER
Das älteste Fenster im Fundus stammt aus einer Kirche aus dem 12. Jahrhundert – ein übermannsgroßer klobiger Holzrahmen, oben gerundet – und ohne Fensterglas. Ein derart altes Fenster ist eine Rarität, die meisten Fenster aus der Zeit wurden entsorgt. Denn im 15. Jahrhundert führte ein Innovationsschub in der Glasproduktion dazu, dass Glas erschwinglicher wurde. Und mit der Verfügbarkeit stiegen die Ansprüche. Man brach größere Öffnungen in die Fassaden, die alten glaslosen oder kleinen Fenster wurden ersetzt und verschwanden meist spurlos.
8. ZUSPIELUNG 3.26 Thomas Wenderoth
„Also man kann rundweg sagen: Ab 1500 ist das Glas allgemein gebräuchlich - egal, ob wir jetzt eine ländliche, bäuerliche Situation haben oder einen herrschaftlichen Bau, und je nach Gattung und Geldbeutel des Bauherrn finden wir natürlich früher Glasfenster und bei ärmeren Personenkreisen eben später.“
Musik 8: Gespenstische Nacht – 51 Sek
ERZÄHLERIN
Bis 1500 besaßen die meisten Wohnhäuser hierzulande also keine Glasfenster, sondern Wandöffnungen, die mit hölzernen Fensterläden, Leder oder Tüchern verschlossen wurden. Diese Fenster dienten vor allem der Lüftung. Das war wohl auch nötig, schließlich lebten Mensch und Vieh über viele Jahrhunderte unter einem Dach, wie die Archäologin Imma Kilian in der „Geschichte des Wohnens“ schreibt:
ZITATORIN
„Stallgeruch, Essensdämpfe, Rauch, Kälte, Dunkelheit und Enge waren tägliche, gemeinsame Erfahrungen, die alle Hofbewohner verbunden haben, die aber auch zu Gereiztheit und Streit geführt haben werden.“
ERZÄHLER
Die Lüftungsfunktion lässt sich übrigens noch am englischen Wort für Fenster ablesen: Window. Es setzt sich aus „wind“ und dem altenglischen Wort für „eye“ zusammen, zu Deutsch Windauge.
Unsere Vorfahren hatten die Wahl: Licht oder Wärme in der Stube. Thomas Wenderoth
9. ZUSPIELUNG Wenderoth 7:45
„Das was sicher nicht komfortabel. Aber wenn man es nicht anders gewohnt ist und weiß, im Winter ist es kalt, und im Winter ist es eben nicht nur kalt draußen, sondern auch in meinem Haus nicht warm - man kannte es dann auch nicht anders.“
ERZÄHLERIN
Das Leben der Menschen im Mittelalter richtete sich vor allem nach der Natur, dem Lauf der Jahreszeiten, dem Sonnenauf- und -untergang. Es spielte sich überwiegend im Freien ab. Wohnpsychologin Barbara Perfahl:
10. ZUSPIELUNG 15:21
„Man hat ja auch das Draußen suchen müssen, um arbeiten zu können, weil man ja für ganz viele Arbeiten einfach Licht braucht, ne. Dann ist man eben bei fast jeder Witterung auch draußen gewesen. Und in den Wintermonaten waren halt bestimmte Arbeiten aber auch nicht möglich. Also wenn Sie an die Landwirtschaft denken, bäuerliches Leben, das hat sich natürlich in der hellen Jahreszeit abgespielt, und in den finsteren Monaten ist man dann aber drinnen gewesen und hat sozusagen das, was man sich erwirtschaftet hat, verarbeitet.“
ERZÄHLER
Im Laufe der Jahrhunderte verbesserte sich die Glasqualität zusehends – die Produktion wurde industrialisiert, Glas immer transparenter, und technische Fortschritte erlaubten, immer größere Scheiben herzustellen. Dennoch blieben Fenster eine Geldfrage. Wer betucht war, setzte auf große Fenster für seine Repräsentationsräume. Sie dienten auch dazu, nach außen hin zu zeigen, wer man war. In einigen Ländern Europas führten die Herrschenden Ende des 17. Jahrhunderts eine Fenstersteuer ein – sie hatte angeblich zur Folge, dass Hausbesitzer zum Teil Fenster
zumauerten oder möglichst fensterarme Häuser bauten, um weniger Abgaben zahlen zu müssen. Andererseits suchten sich reiche Familien gegenseitig zu übertrumpfen, indem sie ihre Häuser mit möglichst vielen Fenstern versahen.
Musik 9: Georgiana – 47 Sek
ERZÄHLERIN
Fenster entwickelten sich zu einem prägenden Gestaltungselement in der Architektur. Sie dienten dazu, Fassaden und Innenräume zu gliedern. Man setzte zur Unterteilung der Scheiben beispielsweise Sprossenfenster ein. Was ursprünglich einmal dazu gedient hatte, kleine und damit günstigere Scheiben zu einer großen Glasfläche zusammenzusetzen, hatte später rein ästhetische Gründe.
Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte man das sogenannte Winterfenster – eine zusätzliche Scheibe, die man in der kalten Jahreszeit mithilfe von Haken in die Fensterrahmen einfügte. Thomas Wenderoth:
11. ZUSPIELUNG Wenderoth 16:43
„Beim Einfachfenster mit einer einfachen Scheibe, da hat man im Winter Kondensat, und wenn es sehr kalt wird, eben dann die sogenannten Eisblumen am Fenster, weil das Kondensat, das sich auf der Scheibe sammelt, eben dann gefriert. …Und es war auch unseren Vorfahren schon ganz schnell deutlich und klar, dass, wenn ich eine zweite Fenster-Ebene einbaue, ich so ein Pufferraum bekomme zwischen diesen zwei Fensterebenen und eben die Innenseite meines Fensters dann nicht mehr null Grad hat, sondern dann doch plus fünf, sechs Grad und ich damit wenig Schwitzwasser habe und vor allen Dingen auch keine Eisblumen.“
ERZÄHLER
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einen weiteren großen Sprung in der Technik der Flachglasproduktion. Ein neuartiges Verfahren erlaubte die Herstellung gleichmäßiger, hauchdünner und vollkommen transparenter Glasplatten. Damit handelte man sich allerdings wieder einen Nachteil ein: Die glasklaren Scheiben gewährten auch Einblicke von draußen, gegen die man sich wiederum mit Gardinen, Rollläden oder Fensterläden schützte.
Atmo Fenster öffnen
Musik 10: Belises et ses amants – siehe M1 – 1:00 Minute
ZITATOR
„Sie besprachen, wie man Licht ins Rathaus hineinschaffen konnte. Erst nach dem fünften Glas Bier sagte der Hufschmied nachdenklich: „Wir sollten das Licht wie Wasser hineintragen!“ „Hurra!“, riefen alle begeistert.
Am nächsten Tag schaufelten die Schildbürger den Sonnenschein in Eimer und Kessel, Kannen und Töpfe. Andre hielten Kartoffelsäcke ins Sonnenlicht, banden dann die Säcke schnell zu und schleppten sie ins Rathaus. Dort banden sie die Säcke auf, schütteten das Licht ins Dunkel und rannten wieder auf den Markt hinaus, wo sie die leeren Säcke wieder vollschaufelten. So machten sie es bis zum Sonnenuntergang. Aber im Rathaus war es noch dunkel wie am Tag zuvor. Da liefen alle traurig wieder ins Freie.“
ATMO Fenster schließen + Fenster putzen
ERZÄHLERIN
Der Schildbürgerstreich und der Blick auf die Geschichte der Fenster zeigen: Gäbe es keine Fenster – man müsste sie erfinden.
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Dario Fo: Ein Narr, ein Komödiant, ein Schelm wollte er sein. Er selbst sah sich wohl am liebsten in der Rolle seines Lebens, die er sich auf den Leib geschrieben hatte: die des Harlekins, des Gauklers. Von Martin Trauner (BR 2020)
Credits
Autor dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Xenia Tiling, Burchard Dabinnus, Friedrich Schloffer
Technik: Josuel Theegarten
Redaktion: Petra Herrmann-Boeck
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Die Commedia dell'Arte war über 200 Jahre lang lebendig. Pantalone, der Dottore oder die komischen Dienerfiguren gehörten zum festen Figurenpersonal. Die Stücke waren nicht schriftlich fixiert und lebten von der Virtuosität der Schauspieler. Von Gabriele Knetsch (BR 2020)
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Autorin dieser Folge: Gabriele Knetsch
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Rainer Bucke
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Prof. Florian Mehltretter, LMU
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Als das Schießpulver im Mittelalter aus Fernost nach Europa kam, machte es rasch Karriere im Militär. Für Feuerwaffen wurde Schwarzpulver zum unverzichtbaren Zündstoff. Die Mischung aus Holzkohle, Schwefel und Salpeter blieb über Jahrhunderte im Wesentlichen unverändert - eine Erfindung, mit der sich der Mensch die Welt untertan machte. Von Thomas Grasberger
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Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie:
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Technik:
Redaktion:
Im Interview:
Dr. Benedikt Sepp, Historisches Seminar der LMU München, Abt. Neuere und Neueste Geschichte
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Erzähler
Auf den ersten Blick könnte man die farbenfrohe Miniatur aus dem 14. Jahrhundert für ein buntes Bildchen in einem modernen Comic halten. Es fehlt nur die lautmalerische Sprechblase, in der „Peng!“ steht. Oder „Wumms!“
Erzählerin
„Pot de fer“ – „Feuertopf“ heißt das mittelalterliche Geschütz, das auf einer prachtvoll illustrierten, englischen Handschrift des Jahres 1326 verewigt ist. Ein großes, ockerfarbenes Gefäß, das auf einem vierbeinigen Holzgestell liegt. Im Hals der bauchigen Vase steckt ein Klotz, an dem ein langer Pfeil befestigt ist. Dahinter steht ein Mann, der seine Hände und Arme gepanzert hat. Vorsichtshalber, denn er führt eine brennende Lunte gefährlich nah an das Zündloch heran. Sein Pfeilgeschütz hat er auf ein Burgtor gerichtet. Bereit zum Feuern! – Wumms!
Musikakzent
Erzähler
Dieses unwirklich anmutende Bild mit der bauchigen Pfeil-Schleuder-Vase ist freilich kein Comic, sondern eine der ältesten bekannten Darstellungen einer Feuerwaffe. Seit dem frühen 14. Jahrhundert waren solche Geschütze in den Arsenalen europäischer Herrscher und Potentaten zu finden. Kanonen, die bald nicht nur Pfeile, sondern auch Stein- und Eisen-Kugeln verschießen konnten.
Erzählerin
Voraussetzung für solche Artillerie-Geschütze war eine Erfindung, deren Wirkung alles andere als komisch ist: Denn das Schießpulver – eine Mischung aus Holzkohle, Salpeter und Schwefel – hat in Verbindung mit Feuer mitunter verheerende Folgen.
Zitator:
„Diese gewaltige, unvergleichliche Erfindung, mag sie nun von den Dämonen oder dem Zufall herrühren, stellt alle anderen Destruktionsmittel in den Schatten”,
Erzähler
schreibt der italienische Ingenieur und Artilleriehauptmann Vannoccio Biringuccio im Jahr 1534 in seinem zehnbändigen Werk Pirotechnia über das Schießpulver.
Zitator:
„Wenn es in Tätigkeit tritt, zeigen sich nämlich die schrecklichsten und fürchterlichsten Erscheinungen des Himmels, die sehr oft den Menschen so gewaltigen Schaden und Verlust bringen, wie wenn darin wiederkehrende Blitze oder Erdbeben steckten.“
Erzähler
Schon im 13. Jahrhundert schrieben europäische Gelehrte wie Albertus Magnus oder Roger Bacon über das geheimnisvolle Schwarzpulver, das seinen Namen der Farbe verdankt. Spätere Berichte, dass ein Freiburger Franziskanermönch und Alchemist namens Berthold Schwarz im 14. Jahrhundert das Pulver erfunden haben soll, gehören ins Reich der Legende.
Erzählerin
Denn die brisante Mischung gab es schon viel früher, sagt Benedikt Sepp von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der promovierte Historiker forscht zur Geschichte von Munition und Waffentechnologie.
ZSP 1 Sepp China 0,17
Das Schwarzpulver, so wie wir es heute kennen, wurde vermutlich in China erfunden, ungefähr um das neunte Jahrhundert. Es gibt auch Hinweise oder Erzählungen, die es eher nach Indien verlagern, aber das kann man nicht wirklich sicher festlegen. Und am wahrscheinlichsten ist es, dass es ungefähr seit dem neunten Jahrhundert in China verwendet wird.
Erzähler
Und das nicht nur, um spektakuläre Feuerwerke zu veranstalten. Bereits Mitte des 11. Jahrhunderts liefert ein chinesisches Militärhandbuch Schwarzpulver-Rezepturen für die Verwendung in Flammenwerfern, Sprengkugeln und Rauchbomben.
ZSP 2 Sepp Feuerlanzen 0,30
Das Schwarzpulver wurde sicherlich auch militärisch genutzt, aber vermutlich noch nicht gleich als Treibladungspulver. Also das ist natürlich nochmal ein Unterschied, ob man eine explosive Bombe oder einen Tontopf gefüllt mit Schwarzpulver auf einen Gegner wirft, oder ob man es verbrennt, um eine Art Feuerlanze dem Gegner entgegenzuschleudern oder ob man es als Raketentreibmittel nimmt. All diese Dinge wurden eben gemacht mit Schwarzpulver, bevor man auf die Idee kam, es in ein Rohr zu tun und dann ein Geschoss dazu zu tun und dann dieses Geschoss durch eine kontrollierte Verbrennung dieses Schwarzpulvers aus dem Rohr zu treiben.
Erzähler
In China findet sich der erste nachweisbare militärische Einsatz von Schießpulver und Kanonen für das Jahr 1232 nach Christus. Auch die Mongolen hatten schon salpeterhaltige Brandsätze im Marschgepäck, als sie vergeblich versuchten, die japanischen Inseln zu erobern. Solche Belagerungs- und Handfeuerwaffen aus Fernost kamen dann vermutlich über die Araber auch langsam nach Europa.
Erzählerin
Wo im 14. Jahrhundert ein echtes Wettrüsten einsetzt. In Italien, England, Frankreich, auch in deutschen Landen – überall basteln findige Techniker an den neuen Feuerwaffen. Mitte der 1320er Jahre werden in Dokumenten der Republik Florenz erstmals eiserne Geschosse und Kanonen aus Metall erwähnt. Und der Einsatz dieser neuen Waffen lässt auch nicht lange auf sich warten: 1331 bei der Belagerung der norditalienischen Stadt Cividale. Oder 1346 in der Schlacht bei Crécy im Norden Frankreichs.
Erzähler
Besonders wirkungsvoll waren diese ersten Kanonen wohl nicht. Noch in der berühmten Schlacht von Agincourt 1415 sorgten sie vor allem für viel Schall und Rauch auf dem Schlachtfeld. Nur zufällig wurde mal ein französischer Ritter oder ein englischer Bogenschütze getroffen. Was in besseren Kreisen für Empörung sorgte, weil nun jeder dahergelaufene Bauernbursche einen Edelmann vom Pferd schießen konnte. Aufhalten ließ sich die Entwicklung aber nicht. Denn im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts machte die Artillerie weitere Fortschritte...
Erzählerin
… obwohl tonnenschwere Belagerungsgeschütze schwer zu transportieren und umständlich zu laden waren. Als 1437 ein Büchsenmeister aus Metz an einem Tag – man höre und staune! – drei Schuss abfeuerte und dabei auch noch ins Schwarze traf, verdächtigten ihn seine eigenen Leute der Magie und schickten ihn auf eine Pilgerfahrt nach Rom.
Erzähler
Die Entwicklung effektiver Schusswaffen war halt ein sehr langwieriger Prozess, sagt der Historiker Benedikt Sepp.
ZSP 3 Sepp lange gedauert 0,41
Das Interessante am Schwarzpulver ist, dass es natürlich auf der Oberfläche eine unglaubliche Revolution im Kriegswesen darstellt. Es macht plötzlich bumm, es explodieren Dinge. Man kann sich nur vorstellen, wie das auf die Zeitgenossen gewirkt haben muss. Aber es wäre sozusagen zu einfach anzunehmen, dass das wirklich plötzlich eine Revolution war, nach der alles anders war. Die ersten Feuerwaffen waren natürlich auch nicht wirklich leicht zu handhaben, man konnte nicht wirklich gut zielen damit und im Zweifelsfall ist man selber damit in die Luft geflogen. Und es war deswegen eine wirklich über viele Jahrhunderte dauernde langsame Entwicklung, stetige Verbesserung und Anpassung und Erforschung des Potenzials der Feuerwaffen, bis die dann wirklich einen großen Unterschied in der Schlachttechnik gemacht haben.
Erzählerin
Ballistik-Studien erhöhten die Treffgenauigkeit der Kanonen, neue Gusstechniken machten ihre Rohre stabiler. Und auch an der Verbesserung des Pulvers probierten die Kriegs-Handwerker ständig herum. Wobei die Grundbestandteile stets gleich blieben: Holzkohle, Schwefel und vor allem Salpeter.
Erzähler
Transportierte man so eine Pulvermischung auf Pferdekarren, stand zu befürchten, dass es sich durch das Rütteln wieder entmischte und unbrauchbar wurde. Auch war es nicht immer einfach. sein Pulver trocken zu halten und in einen engen Pistolenlauf einzustreuen.
ZSP 4 Sepp Körner 0,36
Diese ganze Pulverform war im Grunde ein Ärgernis, das die ganzen Waffen wenig praktikabel machte. Deswegen könnte man sagen, die einzige wirkliche technologische Innovation, die das Schwarzpulver verbessert hat, war im 14.Jahrhundert, dass man auf die Idee kam, man mischt ein bisschen Wasser hinein und tut es dann in eine Mühle und macht dann sozusagen trockene Körner daraus. Und da kann man auch durch die Korngröße so ein bisschen steuern, wie schnell das Ganze verbrennt und das dann auf unterschiedliche Waffentypen abstimmen. Das war tatsächlich dann ein kleiner Sprung, der bessere Waffen erlaubte. Aber seitdem, vom 14.Jahrhundert bis zum 19.Jahrhundert war das im Grunde das gleiche.
Erzähler
Die Sprengkraft des Schießpulvers machte es nicht nur für Militärs interessant. Im Tiroler Eisacktal hat man es bereits 1481 im Straßenbau eingesetzt. Und in den Bergwerken Venetiens wurde in den 1570er Jahren erstmals auch untertage „geschossen“. So nennen die Bergleute bis heute ihre gefährlichen Sprengungen im Stollen. Die Zerstörungskraft des Pulvers, etwa in schweren Belagerungswaffen, hat auch den Architekten von Festungsanlagen viele schlaflose Nächte bereitet.
ZSP 5 Sepp Festungen 0,23
Man hat natürlich die Festungen nicht mehr unbedingt auf heranstürmende Horden mit Leitern abgestimmt, sondern eben darauf, dass die Mauern Kanonenkugeln widerstehen können. Die Mauern wurden also tendenziell niedriger, aber dicker. Und man hat dann, wie etwa in den sternförmigen Festungen, angefangen sie auch vom Grundriss her darauf abzustimmen, dass man überall möglichst hinschießen kann, möglichst große Bereiche erreichen kann.
Erzähler
Das Schießpulver revolutionierte auch die Kriegführung auf dem Meer. Dank Pulver und Blei konnten Seeschlachten nun auf Distanz ausgetragen werden. Immer größere Schlachtschiffe mit zunehmend schweren Geschützen kämpften oft tagelang gegeneinander. Im Juni 1666 standen sich im Ärmelkanal mehr als 150 Schiffe der englischen und der niederländischen Flotte gegenüber. Vier Tage lang belegten sie sich mit Breitseiten. Einige Schiffe mussten mehr als 1000 Treffer einstecken. Es gab über 5000 Tote auf beiden Seiten.
Erzählerin
Dem Schießpulver ist außerdem eine internationale Regelung zu verdanken, die im 17. Jahrhundert eingeführt wurde und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gültig blieb. Die sogenannte Drei-Meilen-Grenze definierte, was als Küstengewässer galt, und wie weit ein Staat seine Hoheitsrechte beanspruchen durfte. Nämlich so weit, wie er mit seinen Kanonen vom Land aus aufs Meer schießen konnte. Im 17. Jahrhundert waren das etwa drei nautische Meilen, also gut fünfeinhalb Kilometer.
Erzähler
Die Schiffe der europäischen Mächte segelten damals schon viel weiter über die eigenen Küstenlinien hinaus, rund um die Welt, die sie sich aufteilten und untertan machten. Unter anderem mit Hilfe des Schießpulvers. Der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker Philip T. Hoffman beantwortet die Frage „Wie Europa die Welt eroberte“ mit den vielen Kriegen, die die europäischen Mächte zwischen 1550 und 1750 führten. Diese Kriege waren wie ein permanentes Turnier, in dem Runde für Runde um Territorien, Ruhm und Reichtum gefochten wurde. Die Gegner standen in einem dauernden Wettbewerb, der auch zu militärischen Innovationen führte, vor allem bei den Feuerwaffen.
Erzählerin
Aber ausschließlich mit Pulver und Blei lässt sich die europäische Expansion nicht erklären, sagt der Historiker Benedikt Sepp. Schließlich kannte man ja auch in China, Vietnam, Indien oder Japan bereits Kanonen und Pistolen.
ZSP 6 Sepp brutal 0,16
Man kann den Kolonialismus sicher nicht mit Schwarzpulver erklären und man kann eben nicht sagen, dass Feuerwaffen etwas waren, das nur der Westen oder nur die Europäer hatten. Aber sicherlich spielte die Feuerwaffentechnologie eine Rolle bei der enormen Brutalität der europäischen Expansion oder der westlichen Expansion.
Erzähler
Eine Brutalität, von der auch Europas Soldaten nicht verschont blieben. Sie mussten erst diszipliniert werden, als im 17. und 18. Jahrhundert stehende Heere in Mode kamen. Kasernen wurden eingerichtet, in denen militärischer Drill auf der Tagesordnung stand. Denn die Kämpfe in geordneten Linienformationen waren blutig und verlustreich. Kein vernünftiger Mensch wäre freiwillig stehengeblieben oder gar weitermarschiert, wenn feindliche Musketen und Kanonen auf ihn feuern. Es sei denn, er wurde vorher darauf gedrillt.
ZSP 7 Sepp Drill 0,26
Das ist natürlich dann aber wirklich eine unmittelbare Folge von eben der Musketentechnologie. Also dadurch, dass die Treffsicherheit nicht so arg groß war, oder eigentlich überhaupt nicht groß war, musste man, um Feuerwaffen sinnvoll einsetzen zu können, natürlich möglichst im Pulk schießen, also alle gleichzeitig in die grobe Richtung schießen. Und das musste natürlich enorm gedrillt werden, weil mit dem ganzen Rauch, dem Lärm, den Sterbenden, dem Schreien der Verwundeten war das natürlich etwas, was nur über Muskelgedächtnis funktionieren konnte und über eisenharte Disziplin.
Erzähler
Feuerwaffen wie Arkebusen oder Musketen wurden laufend verbessert. Bis ins 17. Jahrhundert waren sie mit Luntenschlössern ausgestattet, später mit Rad- und Steinschlössern. Wer mit solchen Vorderlader-Waffen schießen wollte, musste „etwas auf der Pfanne haben“, nämlich Schwarzpulver. Und wer „sein Pulver verschossen“ hatte, musste mit dem Bajonett weiterkämpfen.
Erzählerin
Das Pulver selbst wurde seit Ende des 17. Jahrhunderts in Patronen gefüllt, die sich dauernd weiterentwickelten, von der einfachen Papierpatrone bis hin zur Erfindung der Einheitspatrone aus Metall, die nur noch in das Gewehr eingeführt werden musste. All das, sagt Benedikt Sepp, steigerte die Kapazitäten in der Kriegführung,
ZSP 8 Sepp synthetisch 0,28
Dennoch hat es sozusagen immer noch so geknallt wie im Mittelalter. Es gab wahnsinnig viel Rauch und nach einigen Schüssen waren die Waffen auch im Grunde schon verdreckt, also es war noch nicht so ganz optimal. Das, was dann tatsächlich einen enormen Sprung in der Verbesserung vom Schießpulver darstellen würde, reihte sich dann ein in so eine, könnte man sagen, Ideologie der Chemiker im 19. Jahrhundert, dass man sozusagen alle Substanzen, die man vor vorher irgendwie aus der Natur genommen und dann gemischt hat oder irgendwie behandelt hat, eigentlich synthetisch selbst herstellen kann.
Erzähler
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatten Chemiker an verschiedenen Orten Europas angefangen, in ihren Laboren vollsynthetische Sprengstoffe zu entwickeln: Nitroglycerin, TNT, Pikrinsäure oder Cellulosenitrat, die so genannte Schießbaumwolle. Aus der entwickelte der französische Chemiker Paul Vieille 1882 eine nahezu rauchlose Treibladung – das Poudre B. Und sein schwedischer Kollege Alfred Nobel, der zuvor bereits das Dynamit erfunden hatte, ließ sich 1887 das rauchschwache Pulver Ballistit patentieren.
Erzählerin
Damit hatte das jahrhundertealte Schwarzpulver ausgedient. Es wird heute nur noch von Feuerwerkern und in historischen Schützenvereinen verwendet. Denn das neue, synthetische Pulver führte Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Revolution im Militärischen, sagt der Historiker Benedikt Sepp. Weil beim Schuss kaum mehr Rauch aufstieg, konnte man nicht mehr feststellen, wo der Schütze stand. Und mehr noch: Durch das deutlich kräftigere Pulver änderte sich auch die Munition. Die Kugeln wurden kleiner und flogen weiter.
ZSP 9 Sepp flexibler 0,25
Und sie fliegen nicht nur weiter, sie fliegen dadurch, dass sie mehr Energie haben, auch viel flacher. Das heißt in der Praxis, dass man sozusagen keinen Bogen schießen muss, sondern sein Gewehr relativ genau auf das Ziel ausrichten kann und auch nicht vorher überlegen muss: Ist das jetzt 100 Meter weg oder 300 Meter weg? Ich muss mein Visier am Gewehr nicht extra einstellen. Also ich habe plötzlich als einzelner Schütze eine viel größere Handlungsmacht und vielleicht auch Flexibilität in dem, worauf ich dann da schieße.
Erzähler
Weil die Soldaten fortan viel mehr Munition bei sich hatten und ihre Gewehre seltener reinigen mussten, stieg die Feuerkraft enorm. All das führte zu neuen Kampfformen und Militärtaktiken. Weitsichtige Kritiker warnten bereits Ende des 19. Jahrhunderts vor den Folgen.
ZSP 10 Sepp Voraussagen 0,19
Was sich dann im Ersten Weltkrieg natürlich als sehr zutreffende Voraussage erwiesen hat, war, dass sozusagen die Verteidigung viel effektiver war als der Angriff. Durch die Möglichkeit, dass sich Soldaten in irgendwelchen Gräben oder Schützenlöchern verstecken können und dann halt auf die heranlaufenden Angreifer irgendwie schießen können, steigt sozusagen das Risiko des Angriffs in viel höherem Maße.
Erzähler
Vor allem, wenn im Schützengraben gegenüber der Feind mit einem Maschinengewehr lauert, das 500 Schuss pro Minute abfeuern kann. Auch das ein Erbe des neuen rauchlosen Pulvers. Die Auswirkungen zeigten sich bereits 1904/1905 im russisch-japanischen Krieg, wo erstmals beide Seiten mit modernen Artilleriegeschützen und Gewehren ausgerüstet waren. Alle westlichen Mächte schickten Militärbeobachter dort hin, aber die Schlüsse, die sie aus dem Gesehenen zogen, erscheinen aus heutiger Sicht absurd, sagt der Münchner Historiker Sepp. So meinte man etwa im Deutschen Reich, dass durch das rauchlose Pulver und die kleineren Patronen nur noch geringfügige Wunden entstünden.
ZSP 11 Sepp Chirurgie 0,41
Es herrschte da teilweise in der Chirurgie wirklich die Vorstellung, dass diese Kugel sozusagen direkt durch einen Menschen durchgeht und dadurch, dass sie so heiß ist, auch noch den Wundkanal gleich sterilisiert. Und der Soldat könne dann sozusagen einfach aufstehen und irgendwie 5 Kilometer zum Lazarett gehen und sich dann da verbinden lassen und danach wäre es dann auch wieder gut. ((Im Grunde hat man sozusagen dann auch das ganze Lazarettwesen und das Sanitätswesen anhand dieser Vorstellungen umgebaut. Was sich dann natürlich als relativ illusorisch herausgestellt hat, weil das natürlich grausame Wunden geschlagen hat. ((Aber das Interessante ist halt daran, all das hätte man wissen können vom russisch-japanischen Krieg. Und da dann zum Beispiel deutsche Mediziner einfach gesagt haben, naja, das liegt halt vor allem einfach daran, dass die Japaner keine Hygiene kennen oder die sind einfach konstitutiv nicht so geeignet für diesen Krieg.
Erzähler
Vorurteile und fatale Fehleinschätzungen.)) Nur die Allerwenigsten hatten eine realistische Vorstellung davon, welche Dimensionen nur ein Jahrzehnt später der Erste Weltkrieg annehmen sollte. Für die endlosen Materialschlachten waren Unmengen von Munition nötig. Die standen auch zur Verfügung, dank einer bahnbrechenden Erfindung. Denn Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die deutschen Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch die Ammoniak-Synthese entwickelt.
ZSP 12 Sepp Haber Bosch 0,24
Das wird normalerweise immer als eine der größten chemischen Revolutionen gesehen, vor allem weil man aus diesem Ammoniak dann auch Dünger machen kann und damit die Möglichkeit der Ernährung großer Menschenmengen natürlich enorm vereinfacht ist. Aber es ermöglicht auch, Salpeter synthetisch herzustellen und in viel größeren Mengen. Deswegen ist das Erbe dieser Ammoniakgewinnung nicht nur der Dünger, sondern auch unter anderem eine viel einfachere Versorgung mit Sprengmitteln.
Musik TNT
Erzählerin
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts nutzten Terroristen solche Sprengstoffe für ihre Anschläge auf gekrönte Häupter und Politiker. Dynamit, TNT oder Nitroglycerin wurden aber auch von Ingenieuren für zivile Zwecke verwendet: Etwa beim Bau von Straßen, Kanälen oder Eisenbahnstrecken. Buchstäblich mit einem Knopfdruck war der Mensch nun in der Lage, Berge zu versetzen und das Antlitz der Erde nachhaltig zu verändern.
Musikakzent
Erzähler
Schießpulver ist eine der folgenreichsten und zerstörerischsten Erfindungen der Geschichte. In seinen verschiedenen Ausformungen wird es bis heute eingesetzt. Zum Beispiel in Feuerwaffen, von denen weltweit übrigens nur 15 Prozent in den Händen von Militärs liegen, sagt Benedikt Sepp. 85 Prozent aller Feuerwaffen sind demnach in privater Hand. Schätzungen zufolge gibt es allein in den USA an die 400 Millionen Schusswaffen in zivilem Besitz.
ZSP 13 Sepp bis heute 0,17
Es sterben 700 Menschen täglich weltweit an Feuerwaffen. Das sind 45 % aller gewaltsamen Tode weltweit. Und natürlich formen wir auch heute noch die Welt mit Sprengstoffen. Insofern ist das Schwarzpulver und seine Ableger tatsächlich eine der großen Erfindungen, mit der die Menschheit sich die Welt untertan gemacht hat.
Erzählerin
Eine Erfindung, die im Wesentlichen unverändert geblieben ist. Über viele Jahrhunderte hinweg. Kein Wunder also, dass das Schießpulver seine Spuren hinterlassen hat. In unserer Sprache, in der Pop-Musik, in den Krimis und Actionfilmen, die allabendlich über unsere Bildschirme laufen. Überall wird munter geschossen und gesprengt. Auch im Comic!
Erzähler
„Peng! Peng! Wosch!“ Heißt es da zum Beispiel beim legendären Western-Helden Lucky Luke, der während einer Schießerei im Sprengstofflager lakonisch anmerkt: „Besser nicht die Dynamitkiste treffen!“
Landkarten - Bilden sie unsere Welt ab? Oder gestalten sie sie? Karten sind nützlich, aber limitiert. Ihre Entstehung ist Ausdruck von Macht, Geld und Zugang zu Bildung. Deswegen ist es sinnvoll zu wissen, welche Geschichte hinter Karten steckt - und welches Potential. Von Julia Fritzsche (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Fritzsche
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling
Technik: Anja Beusterien
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Boris Michel, Institut für Geowissenschaften und Geographie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg;
Dr. Katrin Singer, Arbeitsgruppe Kritische Geographien globaler Ungleichheiten, Universität Hamburg
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Längen- und Breitengrade - Die Vermessung der Welt
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Literaturtipps:
Kollektiv Orangotango (Hg.), „This is not an Atlas“.
Ute Schneider, „Die Macht der Karten- Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute“.
Finn Dammann, Boris Michel (Hg.), „Handbuch Kritisches Kartieren“.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Stets stand Wildnis im Gegensatz zu Kultur und Zivilisation: Kultur war dort, wo die Wildnis überwunden war. Das Wilde galt als chaotisch, gefährlich, bedrohlich. Heute hat Wildnis wieder Hochkonjunktur. Von Geseko von Lüpke (BR 2015)
Credits
Autor dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Amberger, Carsten Fabian
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Zivilisation!: Straßen, Telefonmasten und vorbeiflitzende Autos, Werbeplakate und Radiogeplärre, Handyklingeln, Hochhäuser, Leitplanken. Planung und Kontrolle. Berge von Daten, die sich aus Medien und Computern im Sekundentakt über uns ergießen, schlagende Bässe aus Lautsprecheranlagen, das Röhren tief fliegender Passagier-Jets, das Jaulen einer Polizeisirene. Überall Geräusche, Worte, Zeichen und Symbole.
ATMO 2: (brechende Wellen, Urwald-Geräusche, Wolfgeheul, Nacht im Wald)
Musik Michael Riessler – Episode 2
SPRECHERIN
Wildnis!: Geräusche von ewig rollenden Wellenbergen, Wind in den Bäumen, Klänge der Nacht im Wald, das archaische Bellen des Rehbocks, der Ruf des Käuzchens. Der Geist nimmt in tiefen Zügen ein Orchester von Eindrücken, von Kräften und Systemen wahr und in sich auf: Sterben und Wiedergeburt rundherum, ein Versprechen von Überraschung, vom Einbruch des Unerwartetem. Empfindungen, die sich den Worten entziehen und eher mit musikalischen Metaphern zu begreifen sind: unhörbare Orchester, in denen alles irgendwie 'richtig' klingt. Töne, die in unserer Psyche widerklingen.
Musik aus
SPRECHERIN
Wir stehen der Natur gegenüber. Und sind selbst aus Natur gemacht. Das Verhältnis des Menschen zur Wildnis ist zutiefst ambivalent, von Widersprüchen durchzogen. Voller Romantik und Heiligkeit einerseits, geprägt von Angst und Furcht andererseits, verwoben mit allen Phasen der menschlichen Kulturgeschichte:
Vom Jäger und Sammler, zum Ackerbauern und Hirten, Landnehmer und Kolonisatoren, bis zum modernen Menschen, der sehnsüchtig auf eine vergangene wilde Welt schaut und in den Ferien in die ‚letzten Paradiese‘ fliegt. Der inzwischen verstorbene Biologe, Ethiker und Philosoph Günther Altner hat diesen Zwiespalt so ausgedrückt:
ZUSPIELUNG Wort 1 (101)
Der Mensch lebt in, mit und gegen die Natur und er ist selber auch Natur. Im Wissen auf diese vielfältigen Züge gibt es natürlich verschiedene Verhältnisse, die gestaltet werden können. Es gibt die Möglichkeit eines möglichen Einklangs, eines möglichen Miteinanderlaufens von natürlicher Regenerativität und menschlichen Nutzungsinteressen. Es gibt die Einstellung der Naturvergessenheit, wo wir aus der Kurzfristigkeit menschlicher Nutzungsinteressen der Natur zu viel zumuten. Das wäre also gegenüber dem symbiontischen System gewissermaßen das ausbeuterische System. Und dazwischen liegen natürlich noch sehr verschiedene andere Varianten.
Musik Boscaglia
SPRECHER
Wildnis hat Hochkonjunktur. Während die letzten Grünflächen versiegelt werden und Google Earth die verborgendsten Landschaften auf den heimischen Bildschirm zaubert, ist ‚die Wildnis‘ längst zur Ware geworden. Treckingläden bieten hoch technisierte Ausrüstung an, Sachbücher thematisieren ‚Wolfsfrauen‘ und ‚wilde Männer‘, Romane erzählen Geschichten auf den Spuren von Robinson und Winnetou. Und auf die letzten scheinbar unberührten Flecken zwischen Nord- und Südpol hat für die ganz Mutigen ein Wettlauf der Touristikunternehmen eingesetzt: Zahllose Urlaubsprospekte bieten Wildnistrips und Abenteuerreisen ‚in die letzten Paradiese‘ an.
SPRECHERIN
Dabei gibt es diese ‚letzten Paradiese‘ eigentlich gar nicht mehr.
Musik aus
Nicht nur ist alles vermessen, sind alle Bodenschätze kartografiert, nahezu alle Kulturen, Pflanzen und Tiere entdeckt und benannt - das einstmals Unbekannte ist jedem verfügbar.
‚Wildnis‘ als das ‚Unberührte‘, ‚Ursprüngliche‘ ist auch nur noch in unseren Köpfen existent. Seit das Pflanzenschutzmittel DDT auch im pazifischen Tahiti Spuren hinterlassen hat und der Gummiabrieb unser Autoreifen, erfasst von Winden, wie ein feiner schwarzer Schnee über Grönland herabrieselt und in Folge mitverantwortlich dafür ist, dass der Eisschild schmilzt, ist die Zivilisation und ihre Hinterlassenschaft überall präsent. Ursprüngliche Wildnis gibt es nicht mehr, sagt Sabine Hofmeister, Professorin für Umweltplanung an der Universität Lüneburg. Sie spricht von der ‚Zweiten Wildnis‘:
ZUSPIELUNG Wort 2 IIB010)
Wir sind inzwischen soweit, dass wir das Klima verändert haben und damit quasi global Natur mitgestalten. Und wir haben Stoffe in die Natur entlassen, die auch an jedem Ort der Welt und in jedem Organismus wiederzufinden sind. Wir glauben, die Natur gebändigt und domestiziert zu haben und genau das Gegenteil passiert. In allem was wir tun, stellen wir zum einen das Produkt her, was wir herstellen wollen. Indem wir Zahnpasta produzieren, produzieren wir nicht nur Zahnpasta, sondern gleichzeitig Stoffe, die sich in Pinguinen einlagern. Oder wir verändern das Klima, indem wir Energie verbrauchen. Dieses Nebenprodukt wird zu etwas, was eben ganz ungebändigt uns wieder gegenübertritt. Aber jetzt nicht mehr als Wildnis der ersten Kategorie, sondern - ich habe es genannt – „die zweite Wildnis“, die Binnenwildnis, die längst drinnen ist, uns aber wie die erste erscheint. Und uns in Form von ökologischen Katastrophen gegenübertritt. Und diese Natur bildet eine Wildheit aus, die der ersten Kategorie in nichts nachsteht, die möglicherweise sogar an Schrecken sehr viel größer sein kann, weil sie eben so unverstanden ist.
Musik Bill Laswell – Into the Void
ATMO 3 (Donner, Starkregen, reißender Fluss)
SPRECHER
Es scheint tatsächlich so, als ob die moderne Zivilisation noch nicht verstanden hat, was sie tagtäglich erschafft. Als hätte sie vergessen, wie sie mit der Natur zusammenhängt. Als wären die kulturellen Schichten der Zivilisationsgeschichte noch nicht reflektiert. Als würde der Mensch, als angemaßter Beherrscher und Kontrolleur der wilden Natur, aus der er stammt, wie Goethes ‚Zauberlehrling‘, die Kräfte, die er rief, nicht wieder los.
Musik aus
Musik Argo‘s Voyage
SPRECHERIN
Um das Phänomen ‚Wildnis‘ zu verstehen und neu zu interpretieren, muss weit in die Kulturgeschichte zurückgegriffen werden. Vielleicht bis in die Anfänge des Menschseins, wo unsere Vorfahren in kleinen Lichtungen einer endlosen wilden Natur lebten, die sie mal als beschenkende, mal als grausam strenge Mutter verehrten. Wo sie mit der Wildnis um ihre Lebensgrundlage kämpften, die selbst ihre Lebensgrundlage war. Da war Natur nichts Besonderes und ‚Wildnis‘ als Kategorie, nicht vorhanden, weil sie überall war. Da war die Erde wie ein Mythos, wie eine größere Wahrheit, in der der Mensch lebte wie der Fötus in der Plazenta.
Musik aus
Der kanadische Medizinmann David Archie vom Stamm der Salish beschreibt die Sichtweise indigener Kulturen auf das ‚wilde Land‘:
ZUSPIELUNG Wort 3 (1/14:40)
Earth is our mother. If earth gives us, everything we need ….
ENGL. O-TON MIT OVERVOICE
Die Erde ist unsere Mutter. Und da sie uns alles gibt, was wir zum Leben brauchen – Nahrung und Wasser und Luft und ein Zuhause – geht es in allem darum, die Mutter zu respektieren. Wenn wir in die Schwitzhütte gehen, schlüpfen wir zurück in den Bauch von Mutter Erde, um Verbindung mit ihr und dem Schöpfer aufzunehmen. Alles geschieht seit dem Anfang der Zeit in dieser Verbundenheit: Jagen, Fischen, Nahrung sammeln. Mutter Erde hält all das für uns bereit – und sorgt für unser Wohlergehen sowohl physisch wie auch spirituell! …. physically and spiritually.
Musik Loss
SPRECHER
Aufgabe der Kultur war es in den frühen menschlichen Gesellschaften also, mit Ritualen und Zeremonien die Verbundenheit mit dem größeren Ganzen zu pflegen und zu erneuern. Die Welt war wild und groß und unbeherrschbar und der Mensch ein Teil von ihr. Die Spaltung zwischen Mensch und Wildnis begann wohl mit den ersten festen Siedlungen vor 7.000 Jahren. Aus den ersten bäuerlichen Inseln in der primären Wildnis wurden über die Jahrtausende der Zivilisation feste Dörfer und Städte. Wildnis wurde nach und nach in Agrarland umgeformt, der Abschied von der ‚ersten Wildnis‘ begann vor 4.000 Jahren und zog sich bis ins Mittelalter.
Musik aus
Musik Weg wart für Laute solo
SPRECHERIN
Mit Burgen, Stadt- und Klostermauern grenzten sich menschliche Gemeinschaften von der zunehmend als Bedrohung empfundenen Wildnis ab. Hier wohnten die nichtsesshaften ‚wilden Menschen‘ der Märchen und Sagen, die Vogelfreien, deren Mut und Authentizität in Geschichten zwar besungen wurden, vor denen man sich aber schützen musste, wie vor der unberechenbaren Natur.
Musik aus
Musik Regina coelorum für Männerstimmen
Kontrolle durch Kolonisation lautete die Devise der sich ausbreitenden Zivilisation.
Die Kirche spielte dabei eine wichtige Rolle und schuf ein Modell der Landnahme und Zerstörung von Wildnis, dass später auch die Eroberung der III. Welt prägte, so der Religionswissenschaftler Michael v. Brück.
Musik aus
ZUSPIELUNG Wort 4 (3/12:12)
Die Benediktiner sind ja diejenigen, die das ‚ora et labora’ haben und die dann in ihrer reformierten Gestalt als Zisterzienser im gesamten Mittelalter nicht nur die Missionierung, sondern auch die Kultivierung Europas vorangetrieben haben. Also das, was dort Waldwildnis war, urbanisiert haben, bzw. zunächst mal gerodet haben, Felder bestellt haben und die ganzen Weiten Mitteleuropas Richtung Osten eigentlich urbar gemacht haben. Da ist ein Umbruch, da ist ein anderes Verhältnis zur Wildnis da, als wir es in der Frühzeit des Christentums hatten.
SPRECHER
In einem etwa 250 Jahre alten Lexikon der Frühaufklärung ist ‚Wildnis‘ als die Wohnstätte des Wildes definiert ...
ZITATOR
„Wohlanständige Sittsamkeit kann dort keine Wohnung aufschlagen“
SPRECHER
... Wildnis bezeichnet also das Amoralische, Gefahrvolle, Unbehauste, die Natur als Katastrophe, die es abzuwenden galt. Der bedrohlichen Wildnis stand die gefahrlose, heimische Kulturlandschaft gegenüber. Wildnis galt dem Klerus gar als sündig, als Wohnstätte des Teufels und wurde unter dem Schlagwort ‚opus contra naturam‘ dämonisiert – und weiter vernichtet. In der Aufklärung und beginnenden Industrialisierung entstehen anstelle der mitteleuropäischen Wälder kahle, gerodete Heidelandschaften. In der verwüsteten Landschaft wurden Parks und Gärten angelegt, Aufforstungsprogramme schufen die Grundlage für die heutigen Fichten und Kiefernwälder. Gezirkelte Gartenlandschaften unterstrichen den Anspruch absoluter Kontrolle.
SPRECHERIN
Das Bild, was ‚Wildnis‘ ist, veränderte sich über die Jahrhunderte also mehrfach. Aus einem Meer von Wildnis wurden kleine Inseln, die irgendwann zu Naturparks ernannt wurden. Aus einer tiefen Verbundenheit mit der unkontrollierbaren Welt verabschiedete sich die moderne Zivilisation: Die Spaltung zwischen Mensch und Natur, das Gefühl der Abtrennung vom Wilden wurde zur Basis der westlichen Kultur – die eben dort war, wo Wildnis überwunden, ausgegrenzt und erfolgreich besiegt worden war. Die Wildnis war das ‚Andere‘, das ‚Fremde‘, das ‚Triebhafte‘, das ‚Unfertige‘. Und das Ausgegrenzte sagt Rolf Haubl, Professor für Sozialpsychologie in Frankfurt …:
ZUSPIELUNG Wort 5 (IIA 086)
Dieses Ausgeschlossene oder Verdrängte erzeugt im Grunde genommen zwei gegenteilige Reaktionen: Die eine ist, es ausgeschlossen zu lassen und das Ausgeschlossene als bedrohlich zu empfinden. Aber gleichzeitig ist das, was ausgeschlossen ist, auch das, was fasziniert, was dazu führt, dass wir Sehnsüchte danach entwickeln, das Ausgeschlossene kennenzulernen. (II A 093) .... Dann denke ich, ist das Ausgeschlossene ein Stück weit die Auseinandersetzung mit der eigenen Natur, die sich widerspiegelt in der Art und Weise, wie wir mit äußerer Natur umgehen. Insofern wäre Auseinandersetzung mit dem Ausgeschlossenen, also der ‚inneren Wildnis‘ eine Voraussetzung dafür, mit der äußeren Wildnis mit größerer Akzeptanz umzugehen.
SPRECHER
Denn die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation hatte sich längst auch in den Bereich der psychischen Innenwelt des Menschen verlagert. Kultur bedeutete Affektkontrolle und Körperdisziplin. Sigmund Freud hat die innere Wildnis das „Es“ genannt und seine Kontrolle und Unterwerfung durch die Ordnungsmacht des ‚Ich‘ nicht zufällig mit Sinnbildern belegt, die aus dem Bereich der Flurbereinigung, Domestizierung, und Landnahme kommen.
ZITATOR
Es ist der dunkle unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit, den wir als Kessel brodelnder Erregungen erleben. Das ‚Es‘ ist ein Chaos, hat keine Organisation, bringt keinen Gesamtwillen auf, kennt weder logisches Denken noch Moral. Es ist ein
sumpfiges, morastiges Gebiet, das erst durch die Ich-Entwicklung überhaupt urbar wird.“
SPRECHER
Der Philosoph und Zivilisationskritiker Norbert Elias bezeichnete den Menschen, der sich dann wider seiner Natur entwickelt, als ‚Homo Clausus‘: ein gegenüber der Umwelt abgeschlossener, in sich verschlossener Mensch, vorwiegend ein Mann, dem innere und äußere Natur gleichermaßen fremd geworden ist.
Dieses Menschenbild vermischte sich in der europäischen Kulturgeschichte mit Charles Darwins Evolutionstheorie einer natürlichen Welt, in der sich nur der Stärkste durchsetzt.
Musik John Zorn - Engano
SPRECHERIN
In der deutschen Geschichte des 20.Jahrhunderts floss dieses Denken in Hitlers Faschismus ein. Er glaubte an die „Herrschaft der grausamen Mutter Natur“ und strickte daraus eine Ideologie, in der die angeblich gnadenlosen Gesetze der Wildnis zum Vorbild für einen Kampf Aller gegen Alle wurden. Sieger in diesem Kampf war dann eine diktatorische Herrenrasse, die andere zu ‚Untermenschen‘ erklärte und mit scheinbar ‚natürlichen‘ Recht ihre Vernichtung anordnete. Mit dem Ende seines ‚1.000-jährigen Reiches‘ landete zwar der Faschismus auf dem Müllhaufen der Geschichte, nicht aber die Idee der gnadenlosen Wildnis, der Kontrolle über sie und die Idee der Beherrschung der Natur.
Musik aus
Musik Green Piece
SPRECHER
Eine veränderte Auseinandersetzung sollte erst in den 60er Jahren beginnen, als die junge Nachkriegsgeneration das alte Denken abschütteln wollte. Als die Lockerung der allgegenwärtigen Kontrolle zugunsten einer neuen Erlebnisfähigkeit einsetzte, bekam auch die ‚Wildnis‘ einen neuen Wert. Die globale Bedrohung durch die totale Naturbeherrschung führte zur weltweiten Ökologiebewegung und einer Neubewertung des ‚Wilden‘. Die Sehnsucht des naturfernen Menschen nach der elementaren Natur führte zu einer Wiederentdeckung der Urtümlichkeit der unzerstörten Wildheit als Grundlage des Menschseins. Die ‚unberührte Natur‘ wurde zum idealen Ort, zur heilen Utopie – in der menschlichen Psyche, wie in sozialen Bewegungen, sagt der Psychologe Rolf Haubl:
Musik aus
ZUSPIELUNG Wort 6 (IIA 210)
Ich glaube, ein Stück auch der Fitness-Bewegung, aber auch ein Stück der Wilderness-Bewegung ist die Rückkehr zum Körper um die Erfahrung zu machen,
dass in der Wildnis konkrete Handgriffe konkrete Folgen haben. Und ich dadurch eine Art neues Bewusstsein meiner eigenen Wirksamkeit erlebe. Und wenn man davon ausgeht, dass das Gefühl der eigenen Wirksamkeit eine ganz zentrale Grundlage für das Selbstwertgefühl ist, dann ist die Entwirklichung von Wirklichkeit auch etwas, was unser Selbstwertgefühl ankratzt. Und der Versuch, in Wildnis-Zusammenhängen die körperliche Kraft wieder als Ursache für Wirkungen zu spüren, ist etwas das darüber dann den Selbstwert wieder aufbaut.
SPRECHER
In den letzten 30 Jahren wurde ‚Wildnis‘ wieder gesellschaftsfähig. Abenteurer und Überlebenskünstler gelten als moderne Helden; die Tourismusindustrie lockt erfolgreich in die „letzten Paradiese“, eine ganze ‚Outdoor-Industrie‘ deckt die Bedürfnisse moderner Waldläufer, die Erlebnispädagogik preist den Wert der Wildnis für schulisches Lernen, soziale Therapien und Managementkurse nutzen die Wildnis für Persönlichkeitsentwicklung. Körpertherapien und moderne Psychologie entdecken die wilde Weisheit des Körpers als inneren Wert. Die Befreiung von naturfeindlichen zivilisatorischen Regeln wird zur sozialen Pflicht. Und sogar in Wissenschaft und Forschung bildet sich ein Weltbild aus, in der die Wildnis nicht länger als primitiver blutiger unmoralischer Ort des Kampfes ums Überleben gesehen wird, sondern als Modell für Selbstorganisation, Vernetzung, Kooperation und schöpferische Symbiose.
Musik Katedra Botaniki
SPRECHERIN
Besonders in der modernen Ökologie ist die sich selbst überlassene Wildnis zum Modell dafür geworden, wie komplexe Ökosysteme funktionieren.
Eben nicht nach den mechanistischen Gesetzen der klassischen Physik, wie man lange dachte, sondern eher nach den unberechenbaren Prozessen des Lebendigen, in denen alles ineinandergreift, sich alles gegenseitig beeinflusst, korrigiert, ausgleicht. Wer das übersieht, missversteht das Lebendige, untersucht es nach einer Ideologie des Toten und zerstört die Zusammenhänge, die er nicht versteht.
SPRECHER
Da ist Wildnis quasi zur Matrix eines kooperativen, systemischen und ökologischen Weltbildes geworden. Konsequenterweise muss die Wildnis aus dieser Sicht dann auch geschützt werden.
Dahinter verbirgt sich ein Bewusstseinswandel von kulturhistorischen Ausmaßen: Nachdem sich die menschliche Kultur über Jahrtausende über die Abgrenzung von der Wildnis definierte, wird das Wilde heute zum schützenswerten Kulturgut.
Statt den Menschen als einzigen Erschaffer und Bewahrer des „Guten, Reinen, Schönen" zu sehen und die Wildnis mit Chaos, Unordnung, Schrecken und Gewalt zu assoziieren, wird die Wildnis heute eher als ursprünglich, harmonisch, nachhaltig, vielfältig empfunden. Statt dem Menschen die Aufgabe zuzuschreiben, Gottes scheinbar unvollkommene Schöpfung erst noch zu veredeln, fordert die neue Würdigung der ungezähmten Natur eine neue Rolle des Menschen – die des wachen Beobachters und verantwortungsvollen Gärtners im Netzwerk des Lebens. Wildnis zu bewahren, ist in diesem Kontext ein kulturelles Ereignis, sagt Friedrich Sinner. Er war Direktor des Naturparks Bayerischer Wald:
ZUSPIELUNG Wort 9 (IIIA368)
Das ist eine von uns Menschen getroffene Entscheidung, die genauso Kultur beinhaltet wie die Entscheidung den Kölner Dom zu bauen, eine Sinfonie zu schreiben, ein fantastisches Gemälde zu malen, auszustellen, den Menschen zugänglich zu machen. Es ist eine kulturelle Tat, Nationalparke mit Wildnis zuzulassen.
SPRECHERIN
So ist – kurz vor ihrer endgültigen Zerstörung – die Wildnis neu entdeckt und als wertvolles Modell für Forschung und Erkenntnis verstanden worden. Das ändert nichts daran, dass der Mensch, der sich einst an die Wildnis anpassen musste, heute zum Herrn und Hüter über die verbliebenen wilden Gebiete geworden ist. Er – und nicht länger die Wildnis – ist zur prägenden Kraft des Planeten geworden.
SPRECHER
Der niederländische Nobelpreisträger Paul Crutzen hat das gegenwärtige irdische Zeitalter deshalb das ‚Anthropozän‘, das ‚menschlich gemachte Neue‘ genannt. Das kann bedrohlich klingen, wenn der Mensch die errungene Beherrschung über die Natur missbraucht, tut was er will und die neue große Verantwortung für die Schöpfung nicht begreift, warnt der Berliner Philosoph und Biologe Andreas Weber.
Er sieht die Wiederentdeckung der Wildnis als Chance und Auftrag, Natur und Kultur auf eine neue, gereifte und weise Art zusammenzubringen und das ‚Anthropozän‘ als Chance zu nutzen:
ZUSPIELUNG Wort 10 (4/4:22)
Die Wiederentdeckung von Wildnis kann ja nur heißen, dass wir 'Wildnis' in unseren menschlichen Dingen wiedererkennen und wiederfinden. Dass wir sehen: Es gibt etwas Wildes im Menschen. Und das wir dadurch die Grenze zwischen dem Menschen und dem Anderen niederreißen. Das wäre eine Aufgabe für das Anthropozän. (7:22) Nämlich zu verstehen, dass die Wildheit nicht das Zügellose und das Hemmungslose ist, sondern ein abgestimmtes Netz von Beziehungen.
Musik Katedra Botaniki
Das sehen wir in Ökosystemen. So funktionieren die: Alle müssen etwas geben und dafür kann das Ganze gedeihen. Und das ist für mich ein Modell von Kultur. (11:15) Dann ist es auch ein Modell von gelingenden Beziehungen. Und dann ist es sogar das Modell von Liebe. (8:42) Also man könnte sagen: In der menschlichen Kultur müsste das 'Wilde' unsere schöpferische Aufgabe werden. Nur so können wir eine nachhaltige Welt gestalten. Weil wir nur so im Einklang mit der 'wirklichen Welt' bleiben.
Um herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammenhält, reichte dem englischen Physiker Peter Higgs eine einzige Idee: das nach ihm benannte Higgs-Teilchen. Die Suche danach erforderte einen gigantischen Teilchenbeschleuniger, Milliarden von Euro und ein halbes Jahrhundert Geduld. Von Franzi Konitzer
Credits
Autorin dieser Folge: Franziska Konitzer
Regie: Sabine Kienhhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Birnstiel, Robert Dölle, Christopher Mann, Sisi Forster
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Giulia Zanderighi, Max-Planck-Institut für Physik, Garching
Sandra Kortner, Max-Planck-Institut für Physik, Garching
Marumi Kado, Max-Planck-Institut für Physik, Garching
Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Linktipps:
Offizieller Mitschnitt des CERN des Coloquiums am 4. Juli 2012 HIER
Literatur:
Leon Lederman, „The God Particle“, 1993 erschienen, allerdings nie auf Deutsch
Frank Close, „Elusive: How Peter Higgs Solved the Mystery of Mass“, eine Biografie über Peter Higgs, die auch als fast allgemeinverständliche Biografie über das Higgs-Teilchen funktioniert
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zitator:
„Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh' ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug als wie zuvor!“
Sprecherin:
In Johann Wolfgang von Goethes Werk „Faust I“ möchte der Gelehrte Dr. Heinrich Faust diesen frustrierenden Umstand nicht länger hinnehmen. Denn er will erkennen:
Zitator:
„… was die Welt
Im Innersten zusammenhält …“
Sprecherin:
Da die Wissenschaft ihm nicht zu dieser gewünschten Erkenntnis zu verhelfen mag, löst Faust das Problem auf andere Art: Er ergibt sich der Magie – und verkauft seine Seele an den Teufel. Aus heutiger Sicht vielleicht etwas voreilig: Denn inzwischen wissen wir, was die Welt zusammenhält:
ZSP 01 Zanderighi:
„What holds it together are the forces between particles. So the interactions that we have. The Standard model predicts a certain number of particles and predicts how they interact with each other. And these interactions are what hold the world together, the universe.“
VO weiblich
„Was die Welt zusammenhält, sind die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen. Das Standardmodell sagt uns, welche Teilchen es gibt und wie sie miteinander wechselwirken. Und diese Wechselwirkungen sind es, die unsere Welt, unser Universum, zusammenhalten.“
Sprecherin:
… sagt Giulia Zanderighi vom Max-Planck-Institut für Physik in Garching bei München. Hinfort mit dem hehren Erschauern angesichts unsichtbarer Kräfte und kosmischer Mysterien: Das Standardmodell der Teilchenphysik liefert eine Art Bau-Anleitung für das Universum, sagt Sandra Kortner vom Max-Planck-Institut für Physik:
ZSP 02 kortner:
„Man stelle sich vor: eine Box mit Bausteinen. Da sind verschiedene Bausteine drinnen - ich darf jetzt vielleicht nicht Lego sagen - und wir haben auch eine Anleitung. Und diese Anleitung sagt, wie diese Bausteine zusammengehören, welche Kräfte welche Teilchen verbinden. Und das ist mehr oder weniger das Standardmodell.“
Sprecherin:
Ganz klar: Was Faust seinerzeit gefehlt hat, war das Standardmodell der Teilchenphysik. Dann hätte die ganze Tragödie mit dem Seelenverkauf, dem Teufel und dem Gretchen vielleicht ganz anders ausgehen können.
Sprecher:
Zu Dr. Heinrich Fausts Verteidigung ist vorzubringen: Johann Wolfgang von Goethe hat das Stück im Jahr 1808 veröffentlicht. Zu dieser Zeit gab es weder Klemmbausteine noch das Standardmodell der Teilchenphysik noch tausende von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich jahrzehntelang mithilfe einer wahren Weltmaschine auf die Suche begeben: nach dem letzten, entscheidenden Teilchen, das ihnen verraten würde, ob ihre Bau-Anleitung für das Universum richtig ist: dem Higgs-Boson.
Musik: Micro science (B) 0‘30
Sprecherin:
Im zwanzigsten Jahrhundert kramen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Baukasten der Natur. Sie finden dort nach und nach die kleinsten, unteilbaren Bausteine, aus denen unsere Welt besteht: sogenannte Elementarteilchen. Die Forschenden schicken sich an, jene Bau-Anleitung für diese Elementarteilchen zu schreiben, die wir heute als das Standardmodell der Teilchenphysik bezeichnen. Der englische Physiker Peter Higgs, Professor an der University of Edinburgh, möchte mitschreiben an dieser Anleitung, doch leicht ist das im Sommer des Jahres 1964 nicht:
ZSP 3: Zanderighi
„They wanted really to understand how elementary particles can have a mass. And so they were trying to understand how can you formulate a theory where elementary particles have a mass.“
VO weiblich
„Sie wollten in ihrer Theorie der Elementarteilchen verstehen, wie diese Elementarteilchen eine Masse haben können.“
Sprecherin:
… sagt Giulia Zanderighi. Keine Sorge: An dieser Stelle wollen wir uns nicht länger als unbedingt notwendig von den mathematischen Details der Quantenfeldtheorie, spontaner Symmetriebrechung und den Eichbosonen der schwachen Wechselwirkung aufhalten lassen.
Sprecher:
Aber vielleicht ist ein Beispiel hilfreich:
Musik: Micro life 0‘30
Das Elektron ist eines der bekannteren Elementarteilchen. Anzutreffen ist es beispielsweise in Atomen, als Elektronenhülle um den Atomkern. Oder aber es befindet sich in Bewegung – und wir profitieren vom so erzeugten elektrischen Strom. Jedes Elektron besitzt dieselbe, winzig kleine Masse: 9,1 mal zehn hoch minus Einunddreißig Kilogramm.
Sprecherin:
Im Sommer 1964 stockte das Schreiben der Bau-Anleitung für unsere Welt: Denn die mathematischen Gleichungen gingen nur auf, wenn Elementarteilchen wie das Elektron gar keine Masse haben. Das konnte so nicht richtig sein. Auch Peter Higgs dachte über dieses Problem nach – bis ihm eines Tages diese eine, zündende Idee kam: Was wäre, wenn das gesamte Universum von einem unsichtbaren Feld erfüllt wäre – und dieses Feld den Elementarteilchen zu ihrer Masse verhilft? Giulia Zanderighi:
ZSP 04 zanderighi:
„So the mass can be really thought of, um, as interaction with a with the Higgs field. So you can think that without a Higgs field you would have, massless, very fast particles. Instead, you have a Higgs field and particles, instead of propagating in a vacuum, they propagate in the Higgs field. And while interacting with the field, they acquire a mass. So they slow down. You can always think that mass is this inertial mass is, uh, you are slower if you have a higher mass. Right. And so the higher the interaction with the Higgs, the higher the mass of particles.“
VO weiblich
„Ohne das Higgs-Feld hätten wir masselose und sehr schnelle Teilchen. Stattdessen gibt es das Higgs-Feld. Ein Teilchen bewegt sich also nicht in einem Vakuum fort, sondern es bewegt sich durch das Higgs-Feld. Und es erhält seine Masse, indem es mit diesem Higgs-Feld wechselwirkt – und wird deshalb langsamer. Und je stärker ein Teilchen mit dem Higgs-Feld wechselwirkt, desto größer ist seine Masse.“
Musik: Cell division 0‘32
Sprecher:
Man kann sich das Higgs-Feld wie eine Art kosmischen Honig vorstellen: Elementarteilchen können nicht einfach unbeschwert durch’s Universum sausen, sondern müssen durch den Honig durch. Und das kann eine ziemlich zähe Angelegenheit sein.
Sprecherin:
Heureka! Mit dem unsichtbaren Feld hat Peter Higgs die Bau-Anleitung für unsere Welt ergänzt, die mathematischen Gleichungen stimmten wieder. Wie sich wenig später herausstellte, hatte nicht nur er diesen Geistesblitz: auch andere Wissenschaftler waren im Sommer 1964 auf die gleiche Idee gekommen.
Doch Peter Higgs war der Erste, der nicht nur die Bau-Anleitung um das Higgs-Feld ergänzte – sondern dem kosmischen Baukasten auch einen neuen Baustein hinzufügte: Peter Higgs schrieb in seinem Fachartikel, dass zu dem unsichtbaren Feld auch ein Teilchen dazugehören sollte – ein bis dato unbekanntes Elementarteilchen. Im Gegensatz zu unsichtbaren Feldern, von denen ja jeder behaupten kann, dass es sie gibt, haben Elementarteilchen einen unschlagbaren Vorteil: Sie lassen sie sich im Labor erzeugen. Und wenn man sie erzeugen kann, dann kann man sie auch finden.
Musik: Finding a way 0‘25
Sprecher:
Als ein Doktorand von Peter Higgs im August 1964 aus seinem Sommerurlaub nach Edinburgh zurückkam, fand er auf seinem Schreibtisch einen Zettel seines Doktorvaters. Auf dem stand: „In diesem Sommer hatte ich die einzig wirklich originelle Idee, die ich je hatte.“
ZSP 05 kado:
„I think it was in 1993, when I first came to CERN. I was a young student at the time and I visited CERN and visited the experiments. And I think it's about at that time when I first heard of the existence - of the possible existence - of the Higgs boson.“
VO männlich
„Das muss 1993 gewesen sein, als ich zum ersten Mal das CERN besucht habe, als junger Student. Ich glaube, da habe ich zum ersten Mal vom Higgs-Boson erfahren – und dass es dieses Teilchen geben könnte.“
Sprecherin:
… erzählt Marumi Kado vom Max-Planck-Institut für Physik.
Sprecher:
Das CERN ist eine europäische Großforschungseinrichtung. Es liegt in der Nähe von Genf, teilweise in der Schweiz, teilweise in Frankreich. Über 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind dort an den Experimenten beteiligt. Die Spezialität des CERN sind riesige Teilchenbeschleuniger – hochkomplexe Maschinen, mit denen sich Forschende auf die Jagd nach neuen Elementarteilchen begeben können.
Musik: Perpetual motion machine (a) 0‘41
Sprecherin:
Als Marumi Kado zum ersten Mal vom Higgs-Teilchen hört, läuft die Suche danach schon seit Jahrzehnten – ohne Ergebnis. Die Jagd gestaltet sich als so schwierig, dass dieses eigentlich unbescholtene Teilchen just in jenem Jahr 1993 einen Spitznamen erhält, den es zum Leidwesen aller Beteiligten bis heute nicht mehr losgeworden ist: das Gottesteilchen.
Sprecher:
Das Problem bei der Suche nach dem Higgs-Teilchen:
ZSP 06 kado:
„So the Standard Model was not predicting the mass of the Higgs boson. It was predicting the existence of the Higgs boson, but not its mass.“
VO männlich
„Das Standardmodell hat uns zwar gesagt, dass es das Higgs-Boson geben müsste, aber es hat uns nicht seine Masse verraten.“
Sprecherin:
… sagt Marumi Kado. Das ist ungünstig. Denn so ein Higgs-Teilchen ist nicht so wie andere Elementarteilchen, beispielsweise wie die Elektronen, die uns gute Dienste in unseren Atomhüllen leisten. Nein, ein Higgs-Teilchen fliegt nicht einfach so auf der Erde herum. Will man es finden, muss man sich schon selbst eins bauen:
ZSP 07 kado:
„So the way we see the Higgs boson, we need to generate a sufficient amount of energy to be able to generate it from the vacuum, if you wish.“
VO männlich
„Um das Higgs-Boson zu sehen, müssen wir genügend Energie erzeugen, um es wie aus dem Nichts zu erzeugen.“
Musik: Micro metric (e) 1‘00
Sprecher:
Und das geht so: Man nehme Albert Einsteins berühmte Formel E = mc zum Quadrat. In dieser Formel steht das E auf der linken Seite für die Energie. Das c zum Quadrat auf der rechten Seite ist eine Konstante, die immer gleich bleibt – nämlich die Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat. Sie braucht uns für die Rechnung nicht weiter zu interessieren und dann, ebenfalls auf der rechten Seite: Das m, das ist die Masse. Die Formel besagt: Energie und Masse sind – im Grunde genommen – das Gleiche. Das bedeutet: Physikerinnen und Physiker können neue Teilchen erzeugen, indem sie Energie auf einen möglichst klitzekleinen Punkt quetschen: und zwar so viel Energie, dass es laut E = mc zum Quadrat für die Masse des gesuchten Teilchens reicht.
Sprecherin:
Womit wir wieder in der Forschungseinrichtung CERN und ihren Teilchenbeschleunigern angekommen wären. In einem Teilchenbeschleuniger fängt alles mit einer Flasche voller Wasserstoff an, sagt Sandra Kortner:
ZSP 08 kortner:
„Aus der Flasche kommen dann Wasserstoffatome raus, dann werden die Elektronen weggeschoben und es bleiben nur Wasserstoffkerne. Und dann werden diese Wasserstoffkerne in so kleinen Bunches, ganz, ganz winzige Gruppen von 100 Milliarden Protonen pro eine Gruppe durch diesen Beschleunigerring geschleudert. Dann mithilfe von elektrischen und magnetischen Feldern, werden sie auf den Kreisbahnen gehalten und beschleunigt.“
Sprecherin:
Die Teilchen sausen um den Ring herum, und noch einmal und noch mal. Mit jeder Runde werden sie schneller und schneller, bis sie nach mehreren Minuten fast Lichtgeschwindigkeit erreicht haben.
ZSP 09 kortner:
Und wenn sie dann genug Energie haben, werden sie aufeinandergestoßen. Und das passiert dann einmal in 25 Nanosekunden, das heißt 40 Millionen Mal in der Sekunde. Wir haben 40 Millionen Kollisionen pro Sekunde.“
Musik: Eco statistics 0‘25
Sprecherin:
Durch diese Kollisionen wird möglichst viel Energie auf einen möglichst klitzekleinen Punkt gequetscht – so können neue Elementarteilchen entstehen. Nur: Trotz jahrzehntelanger Suche mit Teilchenbeschleunigern war das Higgs-Boson nicht dabei – jenes Elementarteilchen, von dem das Standardmodell der Teilchenphysik behauptet, dass es existieren muss.
ZSP 10 kado:
„We've looked for it ever since the theory was there, but the colliders did not have sufficient amount of energy to actually produce it.“
VO männlich
„Wir haben nach ihm gesucht, seit die Theorie gesagt hat, dass es da sein muss. Aber unsere Teilchenbeschleuniger hatten nicht genügend Energie, um es zu erzeugen.“
Sprecherin:
… sagt Marumi Kado. Die Masse des Higgs-Teilchens war so groß, dass die Energie der bisherigen Teilchenbeschleuniger nicht ausgereicht hat, um es zu erzeugen. Doch die Forschenden geben nicht auf. Sandra Kortner erzählt:
ZSP 11 Kortner:
„Und da wir nicht wussten genau, welche Masse das Higgs Teilchen hat, wollten wir eine Maschine bauen, die den ganzen Massenbereich bis zu 1000 Gigaelektronenvolt komplett durchforscht. Weil laut Theorie ist jenseits dieser Masse, dieser höchsten Masse, die Theorie schwierig. Da müsste wirklich was Neues passieren und nicht nur das Higgs Boson, damit wir unsere Welt erklären können. Also wollten wir wirklich bis zu dem höchsten möglichen vorstellbaren Maße alles erforschen. Und dafür war die Maschine genau richtig.“
Musik: Rotor energy 0‘36
Sprecher:
Die „Maschine“ – etwas poetischer könnten wir sie auch als „Weltmaschine“ bezeichnen. Immerhin handelt es sich dabei um die größte Maschine der Welt, den leistungsfähigsten Teilchenbeschleuniger der bisherigen Menschheitsgeschichte: der Large Hadron Collider, kurz LHC. Der LHC wurde in einen 27 Kilometer langen, unterirdischen Ringtunnel am CERN gebaut, um dem Standardmodell der Teilchenphysik seine letzten Geheimnisse zu entlocken.
Sprecherin:
Da bauen Forschende eine Weltmaschine, mit der sie Teilchen bis auf annähernd Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und dann kollidieren wollen, sodass am Ende hoffentlich ein Teilchen herausploppt, von dem bis dato noch niemand weiß, ob es überhaupt existiert. Und, ach ja, direkt sehen kann man davon natürlich nichts. Stattdessen sollen zwei Teilchendetektoren, jeweils größer als ein Einfamilienhaus, die Spuren dieser Teilchenkollisionen auffangen, sodass anschließend hunderte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die unfassbaren Datenmengen durchkämmen können, um herauszufinden, ob es denn geklappt hat, das mit der Erzeugung von diesem Teilchen.
Musik: Corporate questions red. 0‘48
Sprecherin:
Einfach würde es nicht werden, selbst mit der Weltmaschine des LHC nicht: Denn es werden zwar dauernd Kollisionen herbeigeführt, aber nur selten erzeugen die das gesuchte Teilchen. Und selbst wenn es gelingt, zerfällt ein Higgs-Teilchen sofort in andere Teilchen, und diese Teilchen zerfallen wieder in andere Teilchen. Forschende müssen Tausende, Millionen, Milliarden von Kollisionen analysieren, um daraus das Signal des Higgs-Teilchens herauszufischen und um sicherzugehen, dass das Signal echt ist. Sandra Kortner und Marumi Kado waren an einem der beiden Teilchendetektoren beteiligt, die das Higgs-Teilchen finden sollten.
Sprecher:
Und dann ging auf einmal alles doch ganz schnell. Marumi Kado:
ZSP 12 kado:
„It happened very fast. We did not expect it to be so fast. Essentially, everything happened in one year. Because the LHC started really producing more data and that was around 2011.“
VO männlich
„Es ging so schnell. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde – innerhalb eines einzigen Jahres. Ab 2011 hat der LHC erstmals mehr Daten geliefert.“
Sprecherin:
Und bereits kurz darauf sahen Marumi Kado und seine Kolleginnen und Kollegen in diesen Daten Anzeichen des Higgs-Bosons: Sollte das so lange gesuchte Teilchen einfach aufgetaucht sein – oder seiner angeblich niederträchtigen Natur wieder einmal alle Ehre machen?
ZSP 13 kado:
„The fun fact about this is that we were always thinking that maybe we were doing something wrong. Maybe we're systematically generating this excess. And the fact that it persisted in time made us very worried. And also, you know, by making the discovery of, this magnitude, when you’re doing the analysis and the work of trying to see whether your statement is correct, the only thing you think of is where you could go wrong.“
VO männlich
„Naja, wir haben die ganze Zeit gedacht, dass wir etwas falsch machen würden. Vielleicht ist da ein Fehler, der es nur so ausschauen lässt, als ob da ein mögliches Signal wäre. Wir waren sehr besorgt, als es nicht verschwunden ist. Wenn es um so eine Entdeckung geht und du rauszufinden versuchst, ob deine Ergebnisse richtig sind, dann ist das Einzige, woran du denkst, wo du etwas falsch gemacht haben könntest.“
Musik: Take off 0‘30
Sprecherin:
Nicht einmal die Kolleginnen und Kollegen fragen konnte man: Die Teams der zwei Teilchendetektoren arbeiteten strikt getrennt voneinander, um sich nicht gegenseitig zu beeinflussen. Doch dann war der Tag gekommen – der 4. Juli 2012: Der damalige Generaldirektor des CERN Rolf-Dieter Heuer lud ein zu einem Colloquium mit dem schnöden Titel: „Update zu den Suchen nach dem Higgs-Boson am LHC“.
Sprecher:
So ein Colloquium darf man sich nicht vorstellen wie einen Raketenstart inklusive spannungsgeladenem Countdown und rauschendem Lift-Off. Da weiß man sofort, ob es geklappt hat oder nicht. Aus den Präsentationen der zwei Sprecher der Teilchendetektoren wird man als Laie nicht so recht schlau. Über anderthalb Stunden lang präsentieren die Beiden ihre Ergebnisse, bis schließlich …
ZSP 15 cern and thank you – fadeout in den Applaus, Applaus bleibt unter den O-Tönen:
„… thank you.“
Sprecher:
lang anhaltender Applaus. Sandra Kortner erinnert sich:
ZSP 16 kortner:
„Es war unbeschreiblich und ich kann es immer noch nicht nach zehn oder zwölf Jahren nicht beschreiben. Aber es war ein wirklich großer Glücksmoment.“
Sprecherin:
Im Publikum, ziemlich weit vorne, da sitzt auch Peter Higgs. Der Mann, der von sich selbst behauptet hat, in seinem Leben nur eine einzig wirklich originelle Idee gehabt zu haben, kramt ein Stofftaschentuch hervor, nimmt die Brille ab. Peter Higgs ist zu diesem Zeitpunkt 83 Jahre alt. Fast fünfzig Jahre lang hat er gewartet, um herauszufinden, ob diese eine Idee richtig war. Er setzt die Brille wieder auf und klatscht mit.
ZSP 17 kado:
„And I have to say, it's when Rolf Heuer, who was director general of CERN during those times when he said at the end of the two talks, he said:“
VO männlich
„Ich muss zugeben: Es war erst als Rolf Heuer, der damalige Generaldirektor am CERN, am Ende der beiden Präsentationen gesagt hat:“
ZSP 18 cern i think we have it:
… „I think we have it.“
ZSP 19 kado:
„Then I realized that actually we made the discovery.“
VO männlich
„Da habe ich realisiert, dass wir es wirklich gefunden haben.“
ZSP 20 kortner:
„Und wir haben das Teilchen wirklich gesehen, und das war die größte Erfüllung - Vielleicht neben meinen zwei Kindern - die ich je erlebt habe in meinem Leben.“
Musik: Baby walk B 0‘45
Sprecher:
Am 8. Oktober 2013, ein gutes Jahr später, verlässt ein unauffällig gekleideter älterer Herr am Morgen seine Wohnung im schottischen Edinburgh und geht zur Bushaltestelle. Er fährt zu einem Pub, wo er in aller Ruhe ein frühes Mittagessen zu sich nimmt. Auf dem Heimweg begegnet ihm eine ehemalige Nachbarin, ganz aufgeregt: Sie habe von ihrer Tochter gehört, dass er den Preis gewonnen habe! Und Peter Higgs, denn das ist unser unauffällig gekleideter älterer Herr, will sich den Spaß nicht nehmen lassen und fragt: Welchen Preis?
Sprecherin:
Natürlich wusste er, welcher Preis gemeint war: der Nobelpreis für Physik, der ihm zusammen mit François Englert zugesprochen wurde:
Sprecherin:
Peter Higgs hatte das Haus verlassen, um den unweigerlichen Medienrummel zu vermeiden. In der Geschichte des nach ihm benannten Teilchens ist er ein eher zurückhaltender, wenn nicht gar widerwilliger Held. Ganz und gar nicht zu vergleichen mit den Gefühlsausbrüchen und drastischen Maßnahmen eines Faust, der um jeden Preis erkennen will, was die Welt zusammenhält. Aber wo wir schon dabei sind: Wissen wir selbst denn nun wirklich, was die Welt zusammenhält – dem Higgs-Teilchen und Standardmodell der Teilchenphysik sei Dank? Sandra Kortner sagt: Jein.
ZSP 21 Kortner:
„Wir wissen viel mehr, als wir wussten, zu Fausts Zeit. Und zumindest. Können wir etwas besser auf die Frage beantworten. Woraus materiell besteht unsere Welt? Natürlich können wir nicht auf philosophische Fragen der Existenz des Lebens antworten, aber natürlich kann man durch unser Verständnis der mikroskopischen Welt erklären, wie alles zusammengebaut wird.“
Musik: Unanswered question 1‘20
Sprecher:
Allerdings gilt das nur für die sichtbare Welt – also alles, was wir prinzipiell sehen können, ob mit eigenen Augen oder mithilfe von riesigen Teilchenbeschleunigern. Wir wissen aber auch, dass nur fünf Prozent des gesamten Universums aus dieser Art von Materie bestehen. Über die restlichen 95 Prozent in Form von Dunkler Materie und Dunkler Energie steht leider nichts in unserer Bau-Anleitung für das Universum. Und deshalb verbleiben am Ende nicht nur ein paar wenige Detailfragen, sagt Giulia Zanderighi:
ZSP 22 Zanderighi:
„It's not a question of figuring out a few details about the standard model. It's still a question of understanding, really, a huge open question. So the standard model has been amazing. I think the proposal and then the confirmation from experiment. But I think it's a kind of a first step in a long journey.“
VO weiblich
„Es geht nicht jetzt nicht nur noch darum, ein paar Details zum Standardmodell der Teilchenphysik zu klären. Sondern da gibt es riesige, offene Fragen. Das Standardmodell ist toll – die Theorie dahinter und die Bestätigung in den Experimenten. Aber ich denke, dass es wie der erste Schritt auf einer langen Reise ist.“
Sie prägen das Bild im äußersten Norden Skandinaviens. Die Tiere haben sich im Laufe der Evolution zu wahren Überlebenskünstlern in den extremen Bedingungen der Arktis entwickelt und sind Symbol für die enge Verbindung zwischen den samischen Ureinwohnern und der Natur. Von Andreas Pehl (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Pehl
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Amberger, Rahel Comtesse, Andreas Neumann
Technik: Wolfgang Lösch, Laura Picerno
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Gabriela Wagner (Chronobiologin und Rentierforscherin, Tromsø);
Rune Normann (Archäologe, Alta);
Henrik Gaup (Rentierbesitzer, Tromsø);
Inga Ellen Gaup (Lehrerin Rentierwirtschaftsschule, Kautokeino)
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01 ATMO 775
Klassenzimmer mit Protagonisten
SPRECHERIN
Preiselbeerzweige, Birkenblätter, getrockneter Tang, Flechten und Moose liegen auf den Tischen im Klassenzimmer. Bestimmungsbücher werden herumgereicht, Pflanzennamen auf Samisch, Norwegisch und Lateinisch fliegen durch den Raum.
02 O-TON SCHÜLERIN Mari Kare 767b
OVERVOICE SCHÜLERIN Mari Kare (schon vorhanden)
Wir machen ein Herbarium mit 30 verschiedenen Pflanzen, die Rentiere fressen. Im Sommer fressen sie Kräuter und Flechten. Und Blätter fressen sie das ganze Jahr über.
04 ATMO Unterricht auf samisch
SPRECHERIN
In Kautokeino, ganz im Norden Norwegens, gibt es eine besondere Schule: die Schule für Rentierwirtschaft. Hier lernen Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren neben Mathematik und Englisch alles rund um ein Tier, das die Region prägt und perfekt an die arktischen Lebensbedingungen angepasst ist: das Rentier. Hier im Norden der skandinavischen Halbinsel leben die Rentiere halbwild. In großen Herden ziehen sie mit ihren Besitzern umher, die wie Mari Kare und Anders Inger meist der indigenen samischen Bevölkerung angehören.
05 O-TON SCHÜLER Anders Inger 759a
OVERVOICE SCHÜLER Anders Inger (schon vorhanden)
Man wächst mit den Rentieren auf. Du bist von Anfang an mit dabei, mit der Familie, die ganze Zeit, schon als kleines Baby.
SPRECHERIN
Im Sommer waren Mari Kare, Anders [Andasch] Inger und ihre Klassenkameradinnen in der Tundra und am Strand unterwegs, haben Pflanzen gesammelt und getrocknet. Jetzt geht es darum, sie zu sortieren und zu bestimmen. Lehrerin Inga Ellen Gaup [Gäüp] unterrichtet Rentier-Biologie, Unterrichtssprache ist Nordsamisch, die Sprache der Urbevölkerung hier in Nordskandinavien.
07 O-TON LEHRERIN Inga Ellen Gaup 701
OVERVOICE LEHRERIN Inga Ellen Gaup
Heute können wir nicht mehr davon ausgehen, dass die Jugendlichen schon in der Familie alles gelernt haben, was man über Rentierwirtschaft wissen muss.
MUSIK „The return of the sun.”; ZEIT: 00:35
SPRECHERIN
Die eleganten Tiere mit eindrucksvollem Geweih, kuschligem Fell in verschiedenen Grau- und Brauntönen und großen Rehaugen prägen durch ihre Beweidung die Kulturlandschaft der Finnmark. Seit vielen Jahrtausenden leben Menschen hier als Nomaden von und mit den Rentieren.
MUSIK ENDE
08 O-TON LEHRERIN Inga Ellen Gaup 724
OVERVOICE LEHRERIN Inga Ellen Gaup
Das Rentier ist ein wichtiges Tier, das Menschen mit Essen und Kleidung versorgt und Gesellschaft leistet. Wir nutzen das Rentier auch als Zugtier. Dann kann man mit dem Rentierschlitten fahren, so wie der Weihnachtsmann. Solche Zugrentiere werden speziell gezähmt.
SPRECHERIN
Die Tiere sind perfekt an ein Leben in der Arktis und Subarktis angepasst – das macht sie auch für die Menschen hier so wertvoll.
09 O-TON Gabriela Wagner 807 (spricht deutsch, keine OV!)
Das Gehirn ist darauf angelegt, das Allerbeste aus der Lichtinformation zu machen. Das Timing, die genaue zeitliche Verteilung, wann was passiert im Jahr, das steht im Zentrum von allem, was passiert.
SPRECHERIN
Gabriela Wagner ist Chronobiologin und arbeitet am Forschungsinstitut NIBIO in Tromsø [Trumsöh].
10 O-TON Gabriela Wagner 814
Im Gehirn sitzt die biologische Uhr, die sagt: der Tag ist kürzer oder länger als gestern, jetzt müssen wir Fett anlegen, Winterfell wachsen lassen, bald das Geweih loswerden, mehr ruhen, bestimmte Pflanzen essen, viele Pilze, das Gehirn gibt Bescheid, was an den verschiedenen Körperstellen passieren muss.
SPRECHERIN
Gabriela Wagner forscht unter anderem zur inneren Uhr der Tiere, die mit der Mitternachtssonne im Sommer und der Polarnacht im Winter zurechtkommen muss und die körpereigenen Abläufe steuert.
11 O-TON Gabriela Wagner 816
In der Mitternachtssonne im Sommer und in der Dunkelheit im Winter sind die völlig arhythmisch. Die sind den ganzen Tag und die ganze Nacht aktiv, zumindest in ihrem Verhalten. Aber im Körper drin sind die ganzen physiologischen Vorgänge trotzdem an einem 24-Stunden-Zyklus orientiert. Und das können wir nicht. Da ist vielleicht ein großer Unterschied, dass die Rentiere Wiederkäuer sind. Eigentlich schaut es aus, als ob sie wach sind. Die Augen sind offen, sie können stehen, sie können liegen mit dem Kopf oben. Aber das Gehirn schläft in der Zeit. Und das können wir nicht. Wir können nicht im Büro sitzen und das Gehirn offline aufstellen.
MUSIK ZE014880107 „Vårsøg“; ZEIT: 00:45
SPRECHERIN
Doch es ist nicht nur das Gehirn, das bei den Rentieren bemerkenswert ist. Ihre Augen passen sich an den Wechsel von Mitternachtssonne und Polarnacht an: eine lichtreflektierende Schicht hinter der Netzhaut ist in der Lage, Struktur und Farbe zu verändern. Diese Umprogrammierung ermöglicht es den Tieren, im Winter auch bei Dunkelheit noch zu sehen, ohne im gleißenden Licht der Mitternachtssonne zu erblinden. Und dann ist da ja noch die Sache mit der Nase.
MUSIK ENDE
12 O-TON Gabriela Wagner 809
Ein spannendes Ding ist die Nase. Rudolfs Nase, die berühmte. Die ist, innendrin zumindest, sehr, sehr rot. Die haben ein riesengroßes, kompliziertes Höhlensystem in der Nase drin. Das funktioniert ein bisschen wie eine Wärmepumpe in einem Haus. Wenn es sehr kalt ist,
-20°C, wenn du ausatmest, dann weißt du die weiße Wolke, die da kommt, das ist die ganze Feuchtigkeit aus deinem Körper, die kondensiert in der Luft und weg ist. Wenn wir in sehr kaltem Wetter draußen sind, trocknen wir sehr schnell aus. Die Rentiere können in ihrer Nase die kalte Luft reinlassen, kühlen damit ihre Körperluft aus der Lunge ab. Und die Luft, die sie ausatmen, hat dann nur noch 2-3°. Die verlieren fast keine Feuchtigkeit. Und das, was sie einatmen, wird gleichzeitig aufgewärmt. Das ist eine fantastische Konstruktion.
SPRECHERIN
Auch das Fell ist besonders. Rentierhaare sind hohl, jedes Haar ist dadurch einzeln isoliert. Das garantiert, dass die Tiere nicht erfrieren, auch wenn das Thermometer deutlich unter -40° C rutscht.
13 O-TON Gabriela Wagner 811a
Wenn du eine wärmesuchende Kamera aufstellst, die Rentiere wirst du fast nicht sehen. Die tauchen da nicht auf, weil die dermaßen gut isoliert sind. Man sieht eigentlich nur die Augen. Das Fell hat zwei Schichten: die untere Wolle und darüber die dickeren Schutzhaare. Das ist ein extrem guter Wasserschutz.
SPRECHERIN
Die Nahrung der Tiere: feinste Tundra-Kräuter und Gras, Flechten und Moose und ab und zu frischer, salziger Tang an den Fjorden. Das Herbarium, das die Schülerinnen in Kautokeino anlegen, macht deutlich, wie abwechslungsreich der Speisezettel der Tiere ist.
14 O-TON Gabriela Wagner 804
Rentiere brauchen eher zarte Pflanzen, die weniger Fasern haben. Es sind so ein bisschen Gourmets, die sich ganz genau aussuchen, was sie fressen.
SPRECHERIN
Die Tiere machen aus dieser Region eine riesige Kulturlandschaft und sorgen dafür, dass die weiten Heidelandschaften nicht verbuschen. Doch als großgewachsener Pflanzenfresser-Gourmet in einer Region zu überleben, in der der Boden rund sechs Monate im Jahr schneebedeckt ist – das fordert eine perfekte Anpassung an die Umwelt.
15 O-TON Gabriela Wagner 803
Die ganze Physiologie von den Rentieren handelt darum, Energie zu sparen und sich langsam zu bewegen, um das Allermeiste aus den Ressourcen zu machen, die sie zur Verfügung haben. Die müssen sie maximal ausnutzen: In erster Linie damit, indem man viel rumsteht und sich nicht aus der Ruhe bringen lässt.
SPRECHERIN
Selbst im arktischen Winter können die Tiere frisches Gras und Kräuter fressen: Sie benutzen ihre großen Klauen als Schneeschaufeln und graben sich durch den lockeren arktischen Schnee.
Wenn die kräftigeren Rentier-Männchen mit ihren Hufen den Schnee weggescharrt haben, kommen die trächtigen Weibchen und jagen sie weg – sie brauchen das Futter dringender. Das funktioniert, weil die Männchen nach der Brunst im Herbst ihr Geweih verlieren, die Weibchen aber ihr Geweih bis nach der Geburt der Kälber im Frühling behalten – es garantiert Schutz und Status der Mütter.
17 ATMO Rentierherde
SPRECHERIN
Rund 200.000 Rentiere leben heute in der Finnmark, also im nördlichsten Landesteil Norwegens – nicht wild, sondern gut gehütet von ihren samischen Besitzern.
18 O-TON Gabriela Wagner 832
Niemand weiß so viel über Rentiere wie die Sami. Auch nicht wir Wissenschaftler. Und die haben auch dieses Gefühl, das holistische Verstehen. Die haben ein viel tieferes Verständnis dafür, wie ein Rentier funktioniert in Zeit und Raum.
ATMO Gesang geht über in
MUSIK ZE014880114 „A hidden life. Main title“; ZEIT: 00:37
SPRECHERIN
Jedes Rentier, das in Nordnorwegen unterwegs ist, ist Teil einer privaten Herde, die oft aus mehreren hundert Tieren besteht. Die Tiere werden überwacht, vor Wölfen, Bären, Vielfraß und Adlern beschützt, markiert. Da sie sich in den Weidegebieten mit anderen Herden vermischen, müssen die Herden bei großen Rentierscheidungen im Herbst wieder aufwändig getrennt werden. Dazu werden große Rentierzäune gebaut. Eine dieser Herden gehört Henrik Gaup [Gäüp].
19 O-TON Henrik Gaup 601
OVERVOICE Henrik Gaup
Das ist keine Arbeit, kein Job, das ist ein Lebensstil. Das ist eine Identität.
SPRECHERIN
Henrik ist in zwei Welten zu Hause: als Rentierbesitzer in der Welt der samischen Ureinwohner, als Verwaltungsangestellter der Stadt Tromsø in der westlichen Welt.
20 O-TON Henrik Gaup 602
OVERVOICE Henrik Gaup
Job, Arbeit – das ist der westliche Gedankengang. In der Rentierwirtschaft bist du ein Teil einer Symbiose von Natur, Bergen, Mensch, Tieren. Natürlich ist es Arbeit, aber nicht so, wie der moderne Westen Arbeit definiert.
MUSIK „A hidden life. Main title“; ZEIT: 00:55
SPRECHERIN
Wilde Rentierherden, die in anderen Regionen der Erde leben, sind regelmäßig mehrere tausend Kilometer pro Jahr unterwegs – soviel wie kein anderes Landsäugetier sonst. Hier in Norwegen sind die Wege nicht ganz so weit. Henrik hat seine Tiere zusammen mit den Herden seiner Brüder im Sommer in den Lyngenalpen nördlich von Tromsø. Den Winter verbringen die Tiere an der rund 400 Kilometer entfernten finnischen Grenze. Vier bis fünf Monate im Jahr sind die Rentiere mit Henriks Familie auf dem Weg zwischen den Weidegebieten.
22 ATMO Rentierherde im Wasser
SPRECHERIN
Manche Familien haben ihre angestammten Sommerweiden auf den vorgelagerten Inseln – die Tiere schwimmen dann durch Seen und Fjorde. Dabei wirkt ihr Fell wie eine Schwimmweste und verschafft Auftrieb. Die weit spreizbaren Hufe, die sie im Winter wie Schneeschuhe einsetzen, nutzen die Tiere beim Schwimmen dank einer Spannhaut wie Flossen. Mehrere Kilometer durchs Meer schwimmen ist für sie kein Problem. Die Besitzer ziehen mit ihnen und wohnen im Sommer an der Küste, im Winter in der inneren Finnmark. In der Rentierwirtschaft bestimmt nicht der Mensch, sondern die Tiere. Und die richten sich nach ihrer inneren Uhr, nach den klimatischen Bedingungen, die in jedem Jahr anders sein können.
MUSIK ENDE
23 O-TON Henrik Gaup 605
OVERVOICE Henrik Gaup
Da passiert die Kollision zwischen der westlichen Art zu denken, zu planen: Ja, Henrik, du musst ja planen. Den Plan kann ich schreiben, ein Dokument. Aber die Rentiere sind frei. Du kannst versuchen, sie zu kontrollieren, aber du musst dem Rentier folgen auf seiner Wanderung.
SPRECHERIN
Trotz Handy und GPS, Schnee Scooter und Quad, Hubschrauber und Drohnen haben sich in der Lebensweise der Menschen viele Abläufe seit Jahrhunderten erhalten, die eng mit dem Zug der Rentiere verbunden sind – von der in die Ohren der Tiere geschnittenen persönlichen Markierung bis hin zum saisonalen halbnomadischen Leben im Lavvu [Lahwú], dem traditionellen Zelt – oder im Wohnwagen. Auch die samische Sprache macht deutlich, wie sehr das Leben der Menschen hier von den Rentieren geprägt ist.
ATMO Gesang
25 O-TON Rune Normann 903a
OVERVOICE Rune Normann
Gleich nach der Eiszeit, als das Eis hier geschmolzen ist und sich zurückgezogen hat, sind die Rentiere hinterher gezogen. Das bedeutet auch, dass die Menschen diesen Tieren gefolgt sind.
SPRECHERIN
Rune Normann [Rüne Nuhrman] ist Archäologe. Er hat sich auf steinzeitliche Felskunst spezialisiert und arbeitet im Museum in Alta. Die Felsritzungen von Alta, UNESCO-Welterbe, sind vor etwa 7.000 Jahren entstanden. Auf derzeit 120 bekannten Felsflächen sind rund 6.000 Figuren in den Stein geritzt.
26 O-TON Rune Normann 902-903b
OVERVOICE Rune Normann
Von diesen 6.000 Figuren sind 1.500 Rentiere. Das zeigt ja schon, dass das Rentier eine extrem wichtige Bedeutung für die Menschen hatte.
MUSIK „A hidden life. Main title“; ZEIT: 00:26
SPRECHERIN
Rentiere in unterschiedlichen Größen sind als Umrisse in den Felsen geschlagen, dazu Elche, Bären, Fische, Menschen – je nach Lichteinfall leicht zu erkennen, manchmal dauert es etwas länger, bis das Auge den Kontrast zwischen Felsen und Ritzung erkennt. Und bei manchen Feldern haben die Archäologen mit roter Farbe nachgeholfen.
MUSIK ENDE
27 O-TON Rune Normann 904
OVERVOICE Rune Normann
Links sehen wir eine Rentierherde und einen Mann mit Pfeil und Bogen. Der Köcher liegt neben ihm am Boden. Das bedeutet: Er hatte Zeit. Es ging nicht darum, auf Jagd zu gehen und zufällig auf ein Rentier zu treffen. Hier reden wir davon, zu einer bekannten Stätte zu gehen, wo du weißt: Hier kommt die Herde der wilden Rentiere vorbei. Ansitzjagd würden wir das heute nennen.
SPRECHERIN
Sie sind auch ein immerwährender Kalender aus der Steinzeit, eine Darstellung, wie sich die Rentiere im Laufe eines Jahres in der Landschaft bewegen. Risse und Unebenheiten wirken wie eine Landkarte mit Flüssen und Bergen; mittendrin: die Herden.
Und dann gibt es eigenartige Ritzungen, mehrere Meter groß: eine Art Eisenbahnschienen, die in der Form vierblättriger Kleeblätter um eine Rentierherde herumführen.
29 O-TON Rune Normann 913
OVERVOICE Rune Normann
Das ist ein 7.000 Jahre alter Rentierzaun. Man treibt die Tiere in diese Öffnung hier hinein, dann kann man das Ganze schließen. Die Herde beginnt im Kreis zu gehen. Das ist die natürliche Reaktion der Rentiere. Wenn sie mal im Kreis laufen, bleiben sie dabei. Und dann kannst du anfangen, einzelne Tiere von der Herde zu trennen. Die kommen in den anderen Bereich dieses Kleeblattes und fangen dort an, herumzugehen. Wenn du das viermal machst, dann hast du eine große Herde aufgeteilt in vier kleine Herden, die viel besser zu hantieren sind.
SPRECHERIN
Ganz ähnliche aufgebaute Zäune nutzen die Sami heute noch, wenn sie die Herden sammeln, Schlachttiere aussuchen oder die Kälber markieren.
MUSIK „A hidden life. Main title“; ZEIT: 00:19
SPRECHERIN
Ohne die Felskunst in Alta mit den rund 1.500 Rentieren wüssten wir nichts davon, wie die Menschen hier seit vielen tausend Jahren zusammen mit und von den Rentieren leben, wie die Tiere den Jahreslauf der Menschen bestimmen.
MUSIK ENDE
31 O-TON Rune Normann 919b
OVERVOICE Rune Normann
Es wurde unter Archäologen spekuliert: haben sie damals schon versucht, auf Rentierwirtschaft mit zahmen Tieren umzustellen? Ist es ihnen in einem gewissen Grad sogar gelungen? Darüber können wir spekulieren. Auf jeden Fall wusste man sehr viel über das Verhalten der Rentiere, schon vor 7.000 Jahren und sicher noch länger.
SPRECHERIN
Rune Normann betont allerdings, dass die Menschen, die diese Felskunst geschaffen haben, keine direkten Vorfahren der Sami heute sind, trotz aller erkennbaren Parallelen.
32 O-TON Rune Normann 919a
OVERVOICE Rune Normann
Man muss hier oben von den Rentieren leben, wenn man ein Naturvolk ist. Aber das bedeutet nicht, dass es samisch ist oder norwegisch. Das bedeutet nur, dass die Menschen von der gleichen Natur gelebt haben.
MUSIK „Vårsøg“; ZEIT: 00:18
SPRECHERIN
Heute ist diese Natur und damit der jahrtausendealte Lebenskreis der Tiere in Gefahr. Der Klimawandel bringt große Veränderungen hier in der Arktis und Subarktis, beobachtet auch Gabriela Wagner.
MUSIK ENDE
33 O-TON Gabriela Wagner 821
Das Wetter hat sich massiv verschoben. Wir haben viel nasseren und viel mehr Schnee. Das ist ungewöhnlich in der Arktis. Arktischer Schnee ist trocken und fast staubig. Und dafür sind die Rentiere eigentlich angepasst, diesen ganz trockenen leichten Schnee wegzugraben. Und das andere sind diese Rain-on-Snow-Events, heißt das in der Klimaforschung. Wir haben einen gefrorenen Boden oder Schnee, und dann regnet es rein und dann wird es wieder kalt und es friert. D.h., wir haben mehrere Eislagen in der Schneelage. Und das ist natürlich etwas, wo die Rentiere mit den Hornhufen nicht durchgraben können. D.h., dass die Rentiere, die eigentlich an den arktischen Winter angepasst sind, plötzlich im arktischen Winter verhungern. Und das ist jetzt das, was fast jedes Jahr passiert und in immer größerem Ausmaß.
SPRECHERIN
Die Besitzer müssen zufüttern, derzeit noch oft mit Pellets aus südamerikanischem Soja – das ist teuer und durchbricht den uralten Kreislauf in der empfindlichen arktischen Natur. Doch nicht nur der Klimawandel bedroht Rentiere und die traditionelle Rentierwirtschaft. Städtewachstum, der Ausbau der Infrastruktur und vor allem die Suche nach Bodenschätzen und die Errichtung von Windparks und Staudämmen, auch durch deutsche Energieunternehmen, zerstören Lebensraum und Weidegebiete, Stromleitungen werden zu unüberwindlichen Barrieren beim Zug der sensiblen Rentiere.
34 O-TON Gabriela Wagner 818
Rentiere können UV-Licht sehen. Das wissen wir erst seit ein paar Jahren. Es ist wahrscheinlich, dass die Stromleitungen für die Rentiere aussehen wie blitzende Lichter, die in der Landschaft hängen. Das andere ist: dort wo die Stromleitungen sind, wird die Vegetation runtergeschnitten. Die Rentiere sind gerade im Winter gewöhnt, dass sie durch den Wald gehen, wo sie geschützt sind. Allein die Tatsache, dass da keine Bäume sind, kann ein Hinderungsgrund sein.
SPRECHERIN
Wenn die Rentiere weniger werden, dann besteht auch die Gefahr, dass die Kulturlandschaft der Finnmark mit ihren weiten Heideflächen, die viel CO2 speichern können, verschwindet. Möglicherweise spielen die Rentiere auch für unser Klima eine wichtigere Rolle, als es zunächst scheint – doch derzeit gibt es dazu noch zu wenige Forschungsdaten.
35 ATMO 775 Klassenzimmer mit Protagonisten
SPRECHERIN
Auch wenn die Zukunft der Rentiere und der samischen Rentierwirtschaft derzeit nicht besonders rosig erscheint: Junge Menschen gibt es genug, die diese Traditionen weiterführen möchten – Karen Rita, Mari Kare und Nilsson an der Schule in Kautokeino gehören dazu. Nach der Schule chillen vor dem Bildschirm? Dafür ist nicht so viel Zeit.
36 O-TON SCHÜLERIN Mari Kare 771
OVERVOICE SCHÜLERIN Mari Kare (schon vorhanden)
Heute fahre ich in das benachbarte Weidegebiet. Wir sind gerade fertig, die Kälber zu markieren. Und jetzt helfen wir mit und schauen auch, ob sich Tiere von uns in die andere Herde verlaufen haben.
38 O-TON SCHÜLERIN Karen Rita 772
OVERVOICE SCHÜLERIN Karen Rita (schon vorhanden)
Ich zähme Kälber, weil ich Rentiere auch als Zugtiere haben möchte. Da werde ich heute Nachmittag hinfahren, sie füttern und mit ihnen unterwegs sein.
MUSIK „A hidden life. Main title“; ZEIT: 01:02
SPRECHERIN
Gabriela Wagner ist zuversichtlich, dass die Rentiere auch weiterhin ein Teil der großartigen Kulturlandschaft des Nordens bleiben und als Überlebenskünstler in der Arktis Touristen auf ihrer Reise ans Nordkap mitten auf der Straße im Weg stehen werden.
39 O-TON Gabriela Wagner 825
Bei all den Klimaänderungen und den Auswirkungen in der Wirtschaft, in der Landwirtschaft ist meine Hoffnung, dass die Rentiere sich über viele, viele tausend Jahre an sehr viele unterschiedliche Verhältnisse angepasst haben und das auch weiterhin tun werden. Darin liegt vielleicht auch unsere Hoffnung. Und wir müssen ihnen den Platz geben, den die Rentiere brauchen und den die Sami brauchen.
MUSIK ENDE
Immer häufiger begegnen uns bei Museumsbesuchen die Ergebnisse der Provenienzforschung. Die beschäftigt sich mit der Herkunft und Geschichte von Kunstwerken. Neben dem Inhalt, den das Museumsstück darstellt, spielt heute also auch seine "Biografie" eine immer wichtigere Rolle. Von Julia Devlin
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Julia Fischer, Herbert Schäfer
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Sven Haase, Staatliche Museen zu Berlin
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Die Menschen hinter den Kunstwerken:
Kunst, Raub und Rückgabe - Vergessene Lebensgeschichten
Mit Ihrer Liebe zur Kunst prägten sie das europäische Kulturleben. Dann wurden sie von den Nationalsozialisten verfolgt, beraubt, vertrieben und ermordet - weil sie Jüdinnen und Juden waren. Einiger ihrer Lebensgeschichten werden HIER erzählt.
Zur Provenienzgeschichte der Skulptur „Susanna“:
„Susanna“, Begas, Mosse – Die Geschichte hinter dem Objekt
Oft ist es schwierig, den Weg und die Stationen eines Objekts bis zu seinem heutigen Standort nachzuvollziehen. Das Beispiel der „Susanna“ von Reinhold Begas. HIER
Petra Winter (Hrsg.): Die Wege der Kunst. SpurenSuchen. Begleitheft zur Provenienzforschung in der ständigen Ausstellung der Alten Nationalgalerie. Berlin 2024.
Christoph Zuschlag: Einführung in die Provenienzforschung. Wie die Herkunft von Kulturgut entschlüsselt wird. München 2022. Eine umfassende Einführung in Geschichte, Methoden und ethische Fragestellungen.
Jan Schleusener: Raub von Kulturgut. Der Zugriff des NS-Staats auf jüdischen Kunstbesitz in München und seine Nachkriegsgeschichte. Berlin/München 2016.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Die Museumsinsel in Berlin. Hier finden sich, von den Armen der Spree umschlossen, viele spektakuläre Museumsgebäude. Das neueste: die James-Simon-Galerie mit ihrer großen Freitreppe. Hat man die vielen Stufen erst einmal erklommen, wird man im Foyer von einem weißen Löwen begrüßt. Lebensgroß, aus hellem Kalkstein, hebt er majestätisch den Kopf, das Maul leicht geöffnet, die Ohren wachsam aufgestellt. Er scheint wie gemacht für den hellen, großzügigen Raum. Doch er stand nicht immer hier, sondern hat ein wechselvolles Schicksal durchlebt.
ATMO
Stadtgeräusche, flanierende Menschen
MUSIK Morgenblätter Walzer 0.30
SPRECHER
Berlin, 1902. Der Berliner Zeitungsverleger Rudolf Mosse wünscht sich für den Eingangsbereich seines Stadtpalais eine Löwenskulptur. Er beauftragt den Bildhauer August Gaul, und bald schon zieht das imposante Tier im Mosse-Palais in der Vossstraße im Herzen Berlins ein.
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 5
8.40 Der Verleger Rudolf Mosse, ein richtiger Self-made Mann, der ein großes Medienimperium im späten 19. Jahrhundert in Berlin aufbaut, der Mann, der die Werbung in die Zeitung bringt, damit sozusagen sein Geld verdient...
SPRECHERIN
Dr. Sven Haase ist Provenienzforscher am Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin.
O-Ton 7
12.56 Provenienz bedeutet Herkunft, und bei der Provenienzforschung geht es darum, die Herkunft der Objekte zu untersuchen. Für Museen heißt das ganz konkret, wie ist es in die Sammlung gekommen. Wir haben den politischen Auftrag, herauszufinden, ob das, was in die Sammlung gekommen ist, dort rechtmäßig ist, ganz konkret bezogen auf die Jahre 1933 bis 45, dass wir ausschließen können, dass es NS-Raubkunst ist.
MUSIK Morgenblätter Walzer 0.35
SPRECHER
Im Zuge der Provenienzforschung in den Staatlichen Museen zu Berlin führte die Spur in mehreren Fällen zu der Familie Mosse. Rudolf Mosse hat aus dem Nichts heraus ein Presseimperium aufgebaut. Begonnen hat er 1867 mit einer Anzeigenagentur: er pachtet weltweit Zeitungsseiten, für die er dann Annoncen vermittelt. Schon bald darauf gibt er mehrere Zeitungen und Zeitschriften heraus, darunter das progressive „Berliner Tageblatt“.
MUSIK The Boss 0.57
SPRECHERIN
Nach dem Tod des Firmengründers Rudolf Mosse im Jahr 1920 führen Tochter und Schwiegersohn das Unternehmen weiter. Bis Hitler an die Macht kommt. Die Nationalsozialisten verabscheuen den Mosse-Verlag – weil er liberale, demokratische Ansichten vertritt, und weil die Familie Mosse jüdischer Abstammung ist.
SPRECHER
Der Familie gelingt die Flucht ins sichere Ausland, doch ihr Unternehmen wird zerschlagen, ihr Besitz, darunter auch die umfangreiche Kunstsammlung, beschlagnahmt. Das Mosse-Palais ist am Ende des Zweiten Weltkriegs nur noch eine Ruine. Ein historisches Foto zeigt die zerborstenen Wände des einst prachtvollen Baus und meterhohe Schutthaufen. Dazwischen ruht – der weiße Löwe. Wie durch ein Wunder hat er die Schlacht um Berlin unversehrt überstanden. Er wird aus den Trümmern geborgen und in das Depot der Nationalgalerie gebracht.
MUSIK Morgenblätter Walzer 0.30
SPRECHERIN
Dort ruht er jahrzehntelang auf einer Holzpalette in einem Regal zwischen anderen Skulpturen, einen Zettel um den mächtigen Hals, bis Provenienzforscherinnen der Staatlichen Museen zu Berlin die Kunstwerke im Depot in Augenschein nehmen. Sie wollen herausfinden, wem die Kunstwerke gehörten, bevor sie in die Sammlung kamen. Von dem Löwen kennt man bis dahin nur den Fundort: Die Vossstraße am Leipziger Platz. Durch diese Adresse lässt sich die Spur zu dem früheren Besitzer, dem Verleger Rudolf Mosse verfolgen.
SPRECHER
Ein weiteres Werk aus der großen Kunstsammlung von Mosse ist die Marmorskulptur „Susanna“ in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel. Sie stellt die biblische Gestalt der Susanna dar, eine schöne junge Babylonierin, die sich der Übergriffigkeit zweier betagter Richter erwehren muss, ein „Me Too“-Fall aus dem Alten Testament.
Ein Auskunftsersuchen der Erben von Rudolf Mosse, die heute in den USA leben, ist der Anstoß dafür, die Provenienz zu erforschen. Im Kuppelsaal der Alten Nationalgalerie, wo die Skulptur heute steht, erzählt Dr. Sven Haase ihre wechselvolle Geschichte.
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 1
0.36 Die Susanna von Reinhold Begas, .. 1869 in Marmor geformt, eine Tonne schwer, nahezu, kam 1994 in die Sammlung, und wird seitdem von uns als Fremdbesitz geführt. Deswegen wussten wir auch von dem Auskunftsersuchen, das von der Familie Mosse an uns herangetragen wurde, auch nicht so recht etwas anzufangen, weil wir die Geschichte des Stückes nicht kannten. ... und haben dann begonnen, das zu recherchieren. Ja, wieso eigentlich "Fremdbesitz" - wie kam denn das Stück in die Sammlung, damit ging es eigentlich los, weil wir keine Verbindung zur Familie Mosse hatten, was die Provenienz angeht, und dass sich dahinter eine irre Translokationsgeschichte verbirgt...
SPRECHERIN
Von Translokation spricht man, wenn Objekte Ortswechsel erlebt haben. Im Falle der Susanna waren das Wanderungen über zweitausend Kilometer hinweg- erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die große Skulptur fast eine Tonne wiegt.
MUSIK Inner life 1.04
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 2
1.25 Also 1994 überwies das Museum der Bildenden Künste in Leipzig die Susanna an die Nationalgalerie, 16 Jahre hatte die Figur in Leipzig gestanden, an unterschiedlichen Standorten, und Ende der 70er Jahre kam sie nach Leipzig aus Sankt Petersburg, .. das damalige Leningrad damals noch, wieso Leningrad, die Plastik war 1945/46 durch eine sogenannte sowjetische Trophäenbrigade dorthin gebracht worden, dann auch dort eine ganz spektakuläre Geschichte, die Kollegen aus Leipzig, die dann dorthin gefahren sind Ende der Siebziger Jahre mussten die Figur erst freilegen, die war nämlich eingemauert eingemauert im Treppenhaus der Akademie, um sie sozusagen im Rahmen der Völkerverständigung zwischen der Sowjetunion und der DDR zurück nach Berlin zu bringen.
2.09 Jetzt stand das Ding in Leipzig, eine neobarocke Skulptur, im Völkerkundemuseum in Leipzig auch nicht gerade gut aufgehoben, so dass man sie nach der Wende nach Berlin brachte. 2.20 Und so wurde sie dann hier, in guter Gesellschaft zu anderen Begas-Figuren, ausgestellt. Aber wie gesagt, es gab keine Verbindung zu der Familie Mosse.
SPRECHERIN
Durch Provenienzforschung kann schließlich die Geschichte der „Susanna“ Zug um Zug geklärt werden, und auch hier ergibt sich der Vorbesitz von Rudolf Mosse. Die Skulptur wird – wie der Löwe – an die Nachfahren von Rudolf Mosse zurückgegeben – restituiert - und anschließend für die Alte Nationalgalerie zurückerworben.
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 6
10.16 Was ich so spannend auch als Provenienzforscher finde, näher kommt man an die Verbindung zwischen Objekt und Geschichte nicht ran, also ein Objekt oder seine Eigentümer sind ja Protagonisten der Zeitgeschichte, und denen passieren Dinge, es geschehen Kriege, es passieren Verfolgungen, Leute gehen ins Exil, und Kunst begleitet sie, wird verloren, muss verkauft werden, bleibt unbeschadet wie der Löwe im Garten der Familie Mosse sitzen, während die Bomben auf Berlin fallen, ... und diese geschichtliche Ebene von der Provenienzforschung - wir haben auf der einen Seite die rechtliche, die Restitutionsebene, aber eben auch die historische Ebene, das ist ein ungeheuer spannendes Feld, wo ich denke, dass sie auch die Museumsarbeit bereichern kann und die Darstellung, weil zum einen erzählt sie die Geschichte eines Objekts, ... zum anderen kann sie wie im Fall Mosse auch an die ehemaligen Eigentümer erinnern. ... und das verschüttete Wissen auch wieder zurück ins Gedächtnis der Gesellschaft holen.
SPRECHER
Habent sua fata libelli, sagt das lateinische Sprichwort. Bücher haben ihre Schicksale. Was das lateinische Sprichwort über Bücher sagt, trifft auch auf Kulturgüter zu. Denn die sind begehrt, was Orts- und Besitzwechsel mit sich bringen kann. Sei es durch Raub, Tausch, Kauf, Diebstahl, durch Flucht, Migration, Handel, Schenkung – Gründe, warum Kunstwerke wandern, gibt es viele. Seit der Antike gibt es diese Translokation. Nicht immer, aber häufig hat dies mit Krieg und Gewalt zu tun.
MUSIK Terror warning alt 1.00
SPRECHER
Denn lange wurde es als Recht des Siegers gebilligt, Kulturgüter zu rauben – um sich zu bereichern, aber auch, um die Besiegten zu demütigen, ihre kulturelle Identität zu beschädigen oder gar auszulöschen.
SPRECHERIN
Die Römer beispielsweise plünderten die von ihnen eroberten Provinzen, darunter auch Ägypten. Davon zeugen bis heute mehrere ägyptische Obelisken, die die Sieger zum Zeichen ihrer Macht in der Hauptstadt Rom aufstellen ließen. Manche Kunstwerke wurden gleich mehrmals geraubt. So die berühmten Pferde auf dem Markusdom in Venedig. Kreuzritter plünderten zu Beginn des 13. Jahrhunderts Konstantinopel und brachten unter anderem vier antike vergoldete Pferdestatuen nach Venedig. Über dem Hauptportal der Markuskirche aufgestellt, wurden sie ein Wahrzeichen der Lagunenstadt. Napoleon, der Venedig Ende des 18. Jahrhunderts eroberte, ließ die Pferde nach Paris bringen, wo sie einige Jahre den Arc de Triomphe krönten. Bis zum Fall Napoleons: denn dann musste das besiegte Frankreich die Pferde an Venedig zurückgeben.
MUSIK The Boss 0.50
SPRECHER
Das nationalsozialistische Regime begann mit der Machtübernahme 1933, jüdische Bürgerinnen und Bürger zu entrechten. Dabei bereicherte es sich an deren Eigentum und raubte Kunstwerke und andere Kulturgüter – direkt, durch Beschlagnahmung, und indirekt, indem Verfolgte ihren Besitz unter Wert verkaufen mussten, weil sie durch die diskriminierenden Gesetze ihre Arbeit verloren hatten, um sich die rettende Flucht ins Ausland zu finanzieren oder die jüdischen Menschen auferlegten Abgaben zu begleichen. Adolf Hitler und hochrangige NS-Funktionäre wie Martin Bormann und Hermann Göring bereicherten sich persönlich an diesem Kunstraub. Zahllose andere Kunstwerke gelangten über Auktionen in öffentliche und private Sammlungen.
SPRECHERIN
Nach dem Krieg kümmerten sich die westlichen Alliierten um die Rückgabe von Kulturgütern an die rechtmäßigen Eigentümer. Doch für viele Opfer war es aus persönlichen und organisatorischen Gründen nicht möglich, ihre Forderungen durchzusetzen, und ab den 1970er Jahren galten Rechtsansprüche in der BRD als verjährt. In der DDR wurden keine gesetzlichen Grundlagen geschaffen, um Verfolgten des NS-Regimes ihr geraubtes Eigentum zurückzugeben.
SPRECHER
Mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges begann eine neue Phase der Beschäftigung mit Raubkunst. Dadurch bekam auch die Provenienzforschung, die bis dahin als eine eher im Hintergrund agierende Hilfswissenschaft betrachtet wurde, mehr Beachtung. Erst recht mit der Verabschiedung der Washingtoner Prinzipien 1998. Auf einer internationalen Konferenz in Washington wurde darüber beratschlagt, wie mit den Kulturgütern umzugehen sei, die die Nationalsozialisten geraubt hatten.
SPRECHERIN
In den nach dem Tagungsort benannten Washingtoner Prinzipien wurde festgelegt, dass geraubtes Kulturgut identifiziert werden soll und dass faire und gerechte Lösungen mit den rechtmäßigen Eigentümern, also den Beraubten oder deren Nachkommen anzustreben seien. Über vierzig Staaten, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, unterschrieben diese freiwillige Selbstverpflichtung.
SPRECHER
Doch richtig ins breite Bewusstsein gelangte die Provenienzforschung erst später. Das hatte mit dem sogenannten Schwabinger Kunstfund zu tun.
MUSIK Holy Bequerel A(2) 1.35
SPRECHER
Im Jahre 2013 wurde bekannt, dass Steuerermittler in der Münchener Wohnung von Cornelius Gurlitt rund 1200 Kunstwerke beschlagnahmt hatten. Gurlitt hatte diese Kunstwerke von seinem Vater geerbt, dem Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, der eng mit dem nationalsozialistischen Regime zusammenarbeitete. Das Medienecho war enorm, im In- und Ausland wurde der Verdacht geäußert, dass Gurlitt NS-Raubkunst gehortet hätte - und dass Deutschland zu wenig für die Aufklärung des historischen Unrechts tue. Als Reaktion richteten die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Bayern eine Taskforce ein, die die Provenienzen der Gurlitt'schen Sammlung erforschte.
SPRECHERIN
Der Verdacht auf Raubkunst erhärtete sich nur bei einem Bruchteil der Werke, und die Rechtmäßigkeit des Vorgehens bleibt umstritten. Doch die Wahrnehmung in Politik und Gesellschaft war geschärft: für das Ausmaß und die Komplexität des NS-Kunstraubs, für die anhaltende Aktualität des Themas und für die Relevanz von Provenienzforschung. Und so wurde zunehmend die Erforschung der Herkunft von Objekten an Museen verankert. Damit einher ging auch eine Sensibilisierung für weitere Unrechtskontexte, so beispielsweise für Kulturgut, das eine koloniale Herkunft hat.
SPRECHER
Weil die Provenienzforschung sich in einem Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Recht und Moral bewegt, wird sie auch immer wieder zum Gegenstand kulturpolitischer und medialer Diskussionen. Die mitunter, so empfindet das Dr. Sven Haase, nicht ganz konstruktiv geführt werden.
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 11
20.38 Dieses Narrativ, dass die Museen voll mit Raubkunst sind, und dass die Museen nicht gewillt sind, das zu untersuchen, und wenn sie es herausgefunden haben, nicht rauszugeben, das kann ich für den Fall, wo ich arbeite, für die Staatlichen Museen zu Berlin, die .. Stiftung Preußischer Kulturbesitz einfach nicht bestätigen, weil wir natürlich erst mal den Auftrag haben und wenn wir was rausfinden, ... das natürlich auch zurückgeben wollen. ...
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 12
21.43 so ein klassischer ... neuerer Kritikpunkt ist, dass die Forscher, Forscherinnen, weil sie in Museen arbeiten, befangen wären.
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 12 Teil II
22.16 Finde ich einen schwierigen Punkt, weil so funktioniert ja Wissenschaft nicht. Natürlich muss ich ..mit einer Objektivität da ran gehen, und das heißt natürlich auch, dass wenn ich was finde, nochmal, es gibt ja auch den gesellschaftlichen und politischen Auftrag, das dann ... öffentlich zu machen.
SPRECHERIN
Wobei Dr. Sven Haase auch die Ungeduld über die Langwierigkeit der Aufarbeitung nachvollziehen kann – die oft mangelnden Ressourcen oder der Komplexität der Fälle geschuldet ist.
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 15
26.06 Die Kritik ist ja auch berechtigt. Erben oder Opfervertreterverbände haben jedes Recht das auch anzumerken. ... 26.15 Manches dauert zu lange, 26.33 aber grundsätzlich ist es nicht so, dass etwas verschleppt wird. 26.47 Wenn wir eine Restitutionsforderung haben, oder einen Verdacht haben, dann kommt das sehr weit oben auf die Agenda von dem, was wir tun.
MUSIK What is it 0.42
SPRECHER
Forschende gehen nach einem festgelegten System vor, wenn sie die Objektbiografie rekonstruieren. Zunächst wird das Objekt selber untersucht. Im Falle von Gemälden oder Drucken wird besonders die Bildrückseite genau in Augenschein genommen. Gibt es am Rahmen oder auf der Leinwand Etiketten, Stempel, Siegel, handschriftliche Vermerke? Gibt es Ziffernfolgen, die eine Inventar- oder Katalognummer sein könnten? Deuten Klebereste oder Abschabungen darauf hin, dass Eigentumsvermerke absichtlich entfernt worden sind, vielleicht um eine Herkunft zu verschleiern? Danach geht es daran, den historischen Kontext darzustellen. Dr. Sven Haase:
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 8
13.49 Ich finde immer, dass Provenienzforschung eigentlich eine relativ klassische historische Recherchewissenschaft ist. 13.55 Wir müssen Informationen sammeln, wir sammeln die über Auktionskataloge, über persönliche Briefe, über Erwerbungsquellen in den Museen, also Archive sind ein wichtiges Thema, Primärquellen, wie kam das Stück ins Museum, steht auf der Rechnung vielleicht ein Hinweis darauf, von wem es kam, oder gibt es einen Briefverkehr dazu, es ist eine echt empirische Wissenschaft, weil wir schon auf der Suche nach einem Beleg sind, also es ist jetzt nicht so sehr die Interpretation oder die Theorie, die uns glücklich macht…
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 9
14.44 und was immer wichtig ist, die Dinge dann zu kontextualisieren, also so Informationen, die dann z.B. auf einer Rechnung stehen, und die muss ich dann in einen zeithistorischen Zusammenhang bringen. ... Aus diesen beiden Bereichen speist sich sozusagen unsere Aufgabe. 15.02 Es sind Quellen, es sind historische Quellen, wir müssen die kritisch hinterfragen, was habe ich da eigentlich vor mir, das ist für den Historiker, die Historikerin klassisches Handwerk, die Quellenkritik.
SPRECHERIN
Anhand dieser Informations-Puzzlestücke entsteht im Idealfall eine lückenlose Provenienzkette. Mitunter erhärtet sich beim Erforschen der Provenienz eines Kunstwerks der Verdacht auf Raubkunst. Beispielsweise, weil der Besitzwechsel unter Zwang stattgefunden hat oder die Vorbesitzer für ein Kunstwerk keinen oder einen zu geringen Erlös erhielten.
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 16
31.08 und dann, das ist auch den Washington Principles entsprechend, werden diese Dinge bei Lost Art eingestellt, quasi wie in ein Schaufenster, dass sie sichtbar sind, dass sie transparent sind.
SPRECHERIN
Lost Art ist eine im Internet verfügbare Datenbank, in der Museen und Sammlungen, aber auch Privatpersonen Werke einstellen können, bei denen ein Raubkunstverdacht besteht. Umgekehrt kann dort auch ein Gesuch nach einem vermissten Werk geschaltet werden. Überhaupt profitiert die Provenienzforschung sehr von der Digitalisierung. Viele Kataloge und Inventarbücher sind mittlerweile online einsehbar und Forschende können sich problemlos über Ländergrenzen hinweg vernetzen.
MUSIK Unanswered questions 1.22
SPRECHERIN
So hat sich seit 1998 die Provenienzforschung von einer wissenschaftlichen Nischendisziplin zu einem selbstverständlichen Teil der Museumspraxis gewandelt.
ZUSPIELUNG Dr. Sven Haase, O-Ton 13
22.42 Es ist eine neue Disziplin, die um 1998 mit den Washington Principles nicht entstanden ist, nicht erfunden wurde, aber doch auf eine sehr neue Basis gestellt wurde und (...) 22.54 auch aus der Disziplin heraus eine Menge erreicht hat.
SPRECHER
Auch die Erbensuche wird durch das World Wide Web erleichtert. Denn wenn klar ist, dass sich ein Kunstwerk zu Unrecht in einem Museum befindet, werden die rechtmäßigen Eigentümer gesucht, um das Kunstwerk an sie zu restituieren. Damit soll historisches Unrecht beigelegt werden.
SPRECHERIN
Heilen kann man dieses Unrecht niemals. Doch man kann das Leid der Opfer anerkennen und ihr Leben würdigen. Häufig ist eine Restitution der Auslöser dafür, dass sich Nachkommen mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen und selber Forschungen betreiben. Und so trägt die Provenienzforschung nicht zuletzt zur Erinnerungskultur bei, indem sie anhand der Biografie von Kunstwerken an die Biografie verfolgter Menschen erinnert.
Ob Eckart von Hirschhausen oder Justin Bieber: Gefühlt haben immer mehr erwachsene Menschen eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Dabei werden Frauen allerdings häufig übersehen, seltener und meist später diagnostiziert als Männer. Und bei Frauen wird AD(H)S auch gern mit Depressionen verwechselt. Von Victoria Marciniak
Credits
Autorin dieser Folge: Victoria Marciniak
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Victoria Marciniak
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie
Lisa Tihanyi, Selbstständige mit AD(H)S
Nina Haffer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für Gesundheitsforschung in der Charité
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 01 Lisa (01:25)
[00:07:17]Also ich gehe zum Beispiel in den Keller, ich will den Staubsauger holen, dann sehe ich da die Weihnachtsdeko und denke oh Moment, Weihnachtsdeko. Der Weihnachtsstern vom letzten Jahr hängt noch. Auf dem Weg zu dem Weihnachtsstern komme ich dann wieder an der Kaffeemaschine vorbei und denke uhh Kaffee wäre jetzt schön. Und dann sagt die Kaffeemaschine an, der Kaffeesatz muss geleert werden. Damit gehe ich an die Biotonne. Dann entdecke ich Oh Moment, da wuchert irgendwie Efeu neben der Tonne, aber weiß jetzt auch nicht, wo meine Gartenschere ist. Vielleicht habe ich eine, vielleicht auch nicht, aber habe jetzt auch keine Lust nachzugucken. Fahr dann in den Baumarkt und dann sehe ich da eine schöne Wandfarbe und denke mir im Moment den Schrank wollte ich doch schon lange mal streichen. Dann stehe ich wahrscheinlich im Baumarkt am Handy und recherchiere, welche Wandfarbe gut passen könnte auf Pinterest und vielleicht kauf ich irgendeine Farbe. Möglicherweise habe ich so eine Farbe sogar schon zu Hause, aber habe nicht nachgeschaut, ob ich eine habe. Irgendeine Farbe werde ich mitnehmen, aber dabei bestimmt vergessen, dass ich eigentlich noch eine Farbrolle bräuchte und ein Pinsel und auch keine Farbwanne habe. Aber die Farbe habe ich und die steht dann wahrscheinlich auch wieder ein halbes Jahr rum, bis ich irgendwann an dieser Farbe vorbeilaufe und denke: Jetzt ist der Moment. Aber staubgesaugt habe ich immer noch nicht.
***akustischer Trenner***
Podcast-Ansage
Lisa Tihany will eigentlich nur Staubsaugen – und muss aufpassen, dass sie nicht gleich ihre Wohnung renoviert. Und: Lisa denkt vor Allem assoziativ, sie kommt sehr oft zu spät zu Verabredungen, sie kann sich stundenlang auf eine Aufgabe fokussieren und dabei das Essen und Trinken vergessen.
Lisa hat ADS bzw. ADHS. Frauen wie sie fallen häufig nicht so schnell als ADSlerin auf, sie bekommen ihre Diagnose meist später als Männer. Oft werden Frauen sogar fehldiagnostiziert. Woran liegt das? Und wie ist ein erfolgreiches Leben trotz ADS möglich?
Ich bin Victoria Marciniak und ich kenne Lisa und einige andere Frauen mit ähnlichen Symptomen persönlich. Für diesen Podcast habe ich mit ihnen und mit Expertinnen gesprochen.
Musik: Rush into the future c 0‘30
Sprecherin
Promis wie Eckart von Hirschhausen, Justin Bieber oder Felix Lobrecht haben es. In den deutschen Google-Suchanfragen hat es 2024 ein Rekordhoch erreicht , auf TikTok, YouTube und Instagram erscheinen immer mehr Videos darüber: ADHS - Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom.
TON 2 (00:07)
[00:00:12] Handy klingelt:
„Ich bin Automobilverkäufer und habe diagnostiziertes ADHS. Das geht von morgens bis abends so!“ (lacht)
Sprecherin
Ich bin bei Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz. Sie ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie und Mitbegründerin des ADHS-Zentrums München. Zu ihr in die Praxis kommen immer mehr Menschen mit Selbstdiagnosen. Sie sehen Videos auf YouTube oder TikTok und glauben, sich selbst darin wiederzuerkennen.
O-Ton 03
[00:13:10] Ich bin auf der einen Seite sehr froh, dass das einfach jetzt sehr publik ist (…) Natürlich hat nicht jeder, der sich selbst diagnostiziert, auch ADHS. Man muss ja auch diese Symptomatik von Anfang an haben, also schon in der Kindheit sich zeigen. Jeder ist mal verpeilt, jeder ist mal impulsiv und hat Stimmungswechsel. (…) Aber das muss sich wirklich durchs Leben ziehen. Aber ein Großteil derer, die kommen, haben es auch tatsächlich und das finde ich gut.(…)
Sprecherin
Dass auf Social Media-Kanälen immer mehr über ADHS diskutiert und aufgeklärt wird, kann Betroffenen helfen, einen Namen für etwas zu finden, was sie schon ein Leben lang belastet. So war es auch bei Lisa – sie ist 36 Jahre alt und hat ihre Diagnose erst vor zwei Jahren bekommen.
TON 04
[00:23:33] mir wurden immer wieder so auf Social Media Videos ausgespielt, Beiträge ausgespielt, wo Leute über ihre Symptomatik geredet haben und das sehr, sehr anschaulich beschrieben haben und ich immer wieder dachte: Hm, kenne ich, kenne ich. (…) Vorher wusste ich gar nicht, dass eben ADHS bedeutet nicht, man kann sich auf gar nichts konzentrieren. Oder ADHS bedeutet nicht, man ist irgendwie ein männlicher Zappelphillip, der alle in der Schule stört. Es kann sich auch ganz anders äußern.
Sprecherin
ADHS ist nämlich nicht gleich ADHS:
O-Ton 05
Es gibt zwei Formen von ADHS, das heißt, es ist eigentlich eine falsche Nomenklatur. ADHS heißt Aufmerksamkeitsdefizit Hyperaktivität Syndrom. Jetzt hat ein Teil der ADHS-Betroffenen die Hyperaktivität. Ein anderer Teil, und das sind vorwiegend die Frauen, eben nicht. Das ist der unaufmerksame Typ. Eigentlich müsste der Oberbegriff ADS sein und die Hyperaktivität des ADS ist die Unterform (…) aber es hat sich einfach ADHS eingebürgert und deswegen setze ich das hier immer in Klammern, weil das H nicht zwingend ist. (…) Aber eigentlich müsste es ADS heißen.
Musik: Almost neutral 0‘22
Sprecherin
Frauen und Mädchen haben also EHER ADS und Männer und Jungen EHER die hyperaktive Form: nämlich ADHS.
Die Symptome von Mädchen und Frauen sind oft weniger auffällig und können zum Beispiel so aussehen:
TON 06 (00:45)
Verträumtheit, Ablenkbarkeit, oft auch langsam, oft auch so sehr emotional, so nah am Wasser gebaut, wie man so früher sagte. Ja, mit Schwierigkeiten sich zu organisieren, mit Schwierigkeiten arbeiten anzufangen und zu Ende zu bringen.
Und das Problem ist, dass unsere Fragebögen für ADS eben auf hyperaktive Jungen abgestellt sind. Und deswegen erfüllen Mädchen oft auch nicht den Score, um diese ADS-Diagnose zu erreichen in den Tests. Und dann werden die übersehen.
Musik: Surviving victims 0‘43
Sprecherin
In Deutschland ist ADS bzw. ADHS eine der am häufigsten diagnostizierten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Aber: Auf vier diagnostizierte Jungen kommt gerade mal ein Mädchen. Die anderen Mädchen, die dann nicht richtig behandelt werden, haben häufiger ein geringes Selbstwertgefühl, weil sie Aufgaben nicht zu Ende bringen können, häufiger scheitern, nur wenige Erfolgserlebnisse haben. Dadurch können sich dann im jungen Erwachsenenalter zum Beispiel Depressionen entwickeln. Auch wenn die Depression erkannt und behandelt wird, bleibt das ADS, das der Krankheit zugrunde liegt, aber oft unerkannt.
Trotzdem bleibt die Frage: Warum bekommen Frauen wie Lisa ihre Diagnose erst so spät?
TON 09
[00:09:27] Also der Gender Data Gap ist zu Deutsch übersetzt eine geschlechtsspezifische Verzerrung von Daten.
Sprecherin
Nina Haffer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité – genauer: am Berliner Institut für Gesundheitsforschung. Da promoviert sie im Bereich medizinische Informatik und beschäftigt sich u.a. damit, psychiatrische Fragebögen – etwa für die ADS-Diagnostik – zu standardisieren. Also die Fragebögen, die momentan noch vor allem auf Jungen und Männer mit ADHS ausgerichtet sind.
TON 10
[00:11:28] Also unter dem Gender Data Gap kann man ein Vorurteil verstehen gegenüber einem Geschlecht oder dem anderen. Dieses Vorurteil hat sich sehr, sehr lange historisch aufgebaut, weil meistens männliche Daten gesammelt wurden (…) in Studien, für Diagnosekriterien und so weiter und so fort. Und weibliche Daten sind sozusagen hinten runtergefallen. Und damit fehlt ein großer Teil an Daten in der Medizin.
Sprecherin
Die überwiegend männlichen Daten in der Medizin können Frauen im schlimmsten Fall sogar schaden, weil bestimmte Krankheiten erst später diagnostiziert werden. Oder weil Frauen eine andere Dosierung von Medikamenten brauchen als Männer. Aber nicht nur das:
TON 11 (00:45)
[00:23:08] Frauen haben bei Herzinfarkten ein viel (…) höheres Risiko, dann auch schwere Folgen zu erleiden, aufgrund dessen, dass sie nicht früh genug erkannt werden. Und ähm, ja, im Allgemeinen werden Frauen auch dadurch, dass sie als emotionaler wahrgenommen werden, auch häufig in ihren Symptomen nicht richtig wahrgenommen und erhalten deswegen beispielsweise auch weniger Schmerzmittel als Männer.
Sprecherin
Zwar fehlen heute immer noch Daten von Frauen in der Medizin, aber es geht bergauf: seit 2004 ist es in Deutschland z.B. verpflichtend, dass klinische Studien mögliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern berücksichtigen und untersuchen.
Musik: Data connected 0‘25
Sprecherin
Wir alle sind mal vergesslich, aufgekratzt, unkonzentriert, unpünktlich oder schieben wichtige Aufgaben vor uns her – auch ich. Das Skript, das ich Ihnen gerade vorlese, habe ich ein paar Stunden vor der offiziellen Deadline fertigbekommen. Ich komme nicht drum rum, mich während der Recherche zu fragen, ob auch ich ADS habe. Ein wichtiger Punkt, den Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz aber immer wieder betont, passt nicht zu mir: Dass sich ADS bzw. ADHS nämlich durch das ganze Leben zieht und schon in der Kindheit zu beobachten ist…
TON 13
[01:06:35] Also was bei mir schon ganz typisch war, auch so im Kindesalter. Ich hatte immer so ein super chaotisches Zimmer
Sprecherin
In Deutschland haben etwa 5 Prozent der Erwachsenen eine ADS bzw. ADHS-Diagnose. Dabei ist die häufigste ADS-Form bei Erwachsenen: die Mischform. Aber: jede Mischform ist anders und schwierig statistisch zu erfassen, sagt Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz.
TON 14
[00:47:59] der eine hat halt mehr Prokrastination, der andere hat mehr Impulsivität und Hyperaktivität, der andere hat mehr langsam umständliches Verhalten. (…) Ja, also der kleinere Teil hat das reine ADS im Erwachsenenalter, ein ganz kleiner Teil so von 10-15 Prozent. Die meisten haben eben diese Mischform aber bei Frauen haben mehr den Anteil von Unaufmerksamkeit.
Musik: Rush into the future c 0‘21
Sprecherin
Und das macht die Diagnose im Erwachsenenalter noch einmal schwieriger. Lisa dachte zum Beispiel früher, sie sei einfach chaotisch und kreativ. Die Selbstständige mit den Foto- und Videoproduktionen, die sich halt jede kleine Info aufschreibt, weil sie sie sonst vergisst. Obwohl….
TON 15
[01:07:26] ich mich immer gefragt habe warum kriegen andere das hin? Warum kriege ich das nicht hin? (…) Also manchmal sitze ich den ganzen Nachmittag da und versuche ein Buch anzufangen, aber es funktioniert einfach nicht. Und manchmal fange ich an, Buch zu lesen und würde am liebsten die ganze Nacht lesen und kann nicht mehr aufhören und habe dann super wenig Schlaf. So also dieses es selbst nicht kontrollieren können, wann meine Aufmerksamkeit wo ist, das habe ich einfach nie verstanden.
Sprecherin
Dann sieht Lisa die Videos über ADS auf Instagram. Und sie lernt: ADS bedeutet nicht, dass man sich überhaupt nicht konzentrieren kann. Sondern: dass es Dinge gibt, die sie einfach vergisst und andere, bei denen sie einen Hyperfokus hat und sich so reinhängt, dass sie sogar die Zeit vergisst. Lisa sieht zum ersten Mal erwachsene Frauen mit den gleichen Symptomen, die sie hat. Sie recherchiert weiter zu dem Thema und will Klarheit: Kann sie als erwachsene Frau auch ADS bzw. ADHS haben? Sie beginnt mit der Suche nach einer Spezialambulanz für ADHS bei Erwachsenen. Und stößt auf erste Hürden.
TON 16
[00:11:39] ganz viele Praxen sind auch gar nicht auf Erwachsenenalter spezialisiert bei ADHS, sondern kümmern sich eben nur um ADHS bei Kindern und Jugendlichen. Und dann habe ich da hingeschrieben, musste Fragebögen ausfüllen und auch schon beim Fragebogen ausfüllen hatte ich sehr viele Aha Momente und habe das da hingeschickt. Und dann habe ich die Antwort bekommen Okay, ich bin jetzt auf einer Warteliste, quasi. Und dann, wenn es einen freien Platz gibt für eine Diagnostik, dann würden die sich bei mir melden. Und ich wartete und wartete.
Sprecherin
Es gibt noch zu wenige Fachärzte, die sich auf ADS bei Erwachsenen spezialisieren. Der Bedarf ist groß, Termine sind erst in weiter Zukunft möglich. Dabei sollte jeder Psychotherapeut ADS bei Erwachsenen genauso gut diagnostizieren können wie die Kinder- und Jugendpsychiaterinnen, sagt Neuy-Lobkowicz.
TON 17
[00:37:10] Ich würde mir wünschen, dass jeder erwachsene Psychiater, jeder Psychotherapeut sich fortbildet und weiß, was ADS ist. (…) + Ich finde es ein bisschen peinlich, dass mittlerweile YouTube und TikTok besser ADHS diagnostizieren kann als unsere Fachärzte und als unsere Psychotherapeuten. Und da muss sich was ändern.+
Wir erkennen nur das, was wir wissen. Wir erkennen nur, wenn wir eine Schublade für das haben und die richtigen Fragen stellen: Können Sie anfangen, auf Dinge, die keinen Spaß machen? Können Sie Sachen zu Ende machen? Können Sie aufräumen? Ja, aber das, das fragt ja niemand. Sondern was erzählen uns die Patienten? Die erzählen uns von ihren Begleiterkrankungen, weil diese neu für sie sind. Ja, also, früher war ich viel lustiger. Jetzt, jetzt bin ich traurig. Und dann sage ich: Na klar, ist eine Depression. Ja, stimmt ja auch so eine Depression. Aber wenn da drunter ADS liegt, dann füttert sozusagen das ADS weiter die Depression.
Musik: Undercover investigations red 0‘23
Sprecherin
Lisa will Gewissheit. Während sie auf die Rückmeldung der Spezialambulanz wartet, fragt sie weiter und bekommt spontan einen Termin in einer anderen Praxis, die ebenfalls auf ADS im Erwachsenenalter spezialisiert ist.
Und der Diagnostik-Weg ist lang. Neben dem eigenen Fragebogen gibt es noch Fragebögen für den Partner oder die Partnerin und für die Eltern. Ärzte wie Neuy-Lobkowicz schauen in Schulzeugnisse und sehen sich an, was die Lehrerinnen und Lehrer geschrieben haben
Ton 19
[00:17:27] wir haben Tests, aber die Tests sind nicht beweisend, weil erst mal ist es einfach sehr stimmungsabhängig. Wenn sie morgens ein Test machen, kann der mittags schon anders sein. Oft haben auch anders da nicht so eine Einschätzung von ihrer Symptomatik, weil sie das ja schon immer haben. Aber diese Kernsymptomatik muss sich also jetzt darstellen, und zwar im Lebensverlauf. Dazu braucht es natürlich eine ausführliche Erhebung der Krankheitsgeschichte. Man muss andere Erkrankungen ausschließen(…) und dann kann man das eigentlich sehr genau feststellen, aber man braucht halt dafür Zeit.
Sprecherin
Im Juli 2022, kurz vor ihrem 34. Geburtstag, steht die Diagnose: Lisa hat ADS bzw. ADHS, die Mischform. Mitte 2024 bekommt sie auch Rückmeldung von der Spezialambulanz: Nach zwei Jahren Wartezeit wäre jetzt ein Termin für sie frei…
Lisa hat Glück gehabt, dass sie deutlich schneller professionelle Hilfe gefunden hat. Und eigentlich sollte jedes Mädchen und jede Frau diese Chance bekommen, sagt Neuy-Lobkowicz.
TON 20
Was mir besonders wichtig ist, auch meinen Kolleginnen zu sagen: …. ADS ist das dankbarste Krankheitsbild in der Psychiatrie und Psychotherapie. Man kann nirgends Menschen schneller helfen als ADS-Betroffenen, wenn man richtig diagnostiziert und richtig behandelt.
Sprecherin
Aber wie behandelt man richtig?
Musik: Chain reaction 0‘21
Mit der Veranlagung für ADS wird man geboren. Und die Störung ist mit Medikamenten behandelbar.
TON 24
Dopamin steuert in unserem Gehirn Motivation, Konzentration, Stimmung, Stabilität. Und dieses Dopamin wird bei ADHS Betroffenen schneller abgebaut. Man hat eigentlich Dopaminmangel. Und da muss man ansetzen.
Sprecherin
Lisa hat zuerst Bedenken, Medikamente zu nehmen. Aus Angst, dass ihre Kreativität darunter leiden könnte. Heute sagt sie: Wenn ihre Fähigkeiten eine Schatzkiste wären, dann sind die Medikamente der Schlüssel. Ohne Medikamente öffnet sich die Schatzkiste unkontrollierbar: Manchmal ist sie offen und manchmal nicht.
TON 25
[00:54:36] Es war für mich richtig krass, denn als die Wirkung eingesetzt hat, hatte ich wirklich zum Ersten Mal Ruhe im Kopf. Das hatte ich vorher noch nie.(…) Also mein Partner arbeitet auch im Homeoffice. Und…Ich habe so geheult einfach und bin so rüber zu ihm und meinte: geht es anderen Leuten so immer? Also es war richtig krass für mich, weil ich das Gefühl hatte, ich habe zum Ersten Mal wirklich Ruhe im Kopf.
Sprecherin
Für Lisa war das die richtige Entscheidung. Ob Medikamente bei Kindern und Jugendlichen die Lösung sind, wird nach wie vor auch in Fachkreisen diskutiert. Wichtig ist, dass sich die Eltern mit der Gefühlswelt, dem Umfeld und den Problemen der Kinder beschäftigen – und schauen, wie kann ich meinem Kind die beste Struktur geben? Es gibt sowohl für Kinder als auch für Erwachsene nämlich noch weitere Wege, um mit ADS umzugehen: einer davon, ist die richtige Umgebung zu suchen. Ich erfahre im Gespräch mit der Expertin, welcher Beruf perfekt zu ADSlern passt: nämlich meiner:
TON 27
[00:11:55] Also komplett fehl am Platz, wäre ein Beruf, der jetzt beispielsweise Buchhalter oder auf der Steuerbehörde, wo man akribisch arbeiten muss, langweilig ist, wenig Bewegung, wenig Spannung ist. Und der richtige Beruf für ADHSler. Wäre zum Beispiel Ihrer: Journalist oder auch Schauspieler. Journalist ist eigentlich ein unglaublich gutes Beispiel. So kurz sich für was interessieren, Begeisterung haben und dann schon wieder zum nächsten. Also wo Abwechslung ist, wo ja auch viel Bewegung drin ist, wo auch was los ist, was Spannung erzeugt. Das sind gute Berufe für ADSler.
Sprecherin
Der andere und oftmals auch ergänzende Weg ist: Sich innerhalb der Umgebung Strukturen aufzubauen. Lisa stellt sich zum Beispiel für alles Mögliche einen Wecker. Selbst, wenn sie in 10 Minuten zum Bus muss.
***Ton Wecker***
Sprecherin
Lisa ist früher oft zu spät gekommen oder hat vergessen, Freundinnen zum Geburtstag zu gratulieren. Und dafür hat sie ihre Strategien entwickelt: Sie schreibt sich Termine auf Post-ist; Sie hat einen gepflegten Kalender und schreibt sich minutiöse To Dos auf. Eine Sache ist Lisa aber noch wichtig zu erwähnen, wenn es um Strategien geht:
TON 29
[00:31:55] ganz, ganz oft ist es so, dass in den Fragebögen eben so was steht wie: kommen sie oft zu spät? Und vielleicht denkt sich eine Person dann: Nein, ich komm nicht zu spät. Ich habe nämlich 30 Wecker, 40 Post-its hier und überall Reminder: Ich komme nicht zu spät. Aber das sind ja alles Strategien, die man sich erarbeitet, um diese Symptomatik zu kompensieren. Und deshalb fallen eben auch ganz, ganz viele Frauen gerade weiblich gelesene Personen durchs Raster, weil diese Strategien eben da sind. Weil ganz, ganz oft eben auch in der Erziehung oder so durch die gesellschaftliche Erwartungshaltung du als Frau du, du musst es ja schon im Griff haben.
Stroke of fate 0‘24
Sprecherin
Das Beispiel von Lisa Tihany zeigt, dass es mit den richtigen Tools, Strategien, Umfeld und Medikamenten möglich ist, gut und auch beruflich erfolgreich mit ADS bzw. ADHS zu leben. Lisa ist im Kreativbereich selbstständig und kann ihre Störung sogar als Vorteil zu nutzen.
TON 30
[00:59:18] Für mich ist mein ADHS auf jeden Fall ein großer Teil von mir. (…) Es bestimmt meinen Alltag, das bestimmt, wie ich ticke. (…) Und was ich mittlerweile gelernt habe, ist es gibt viele Dinge, die mir natürlich sehr, sehr schwer fallen im Alltag aufgrund von ADHS. + [01:00:41] Und ich weiß aber mittlerweile, dass auch ganz ganz viele Dinge, die ich sehr gut kann auch mit ADHS zusammenhängen. Ich bin super kreativ, ich bin super schnell im Probleme lösen. Wenn es irgendwo ein Problem aufkommt, dann werde ich direkt 20 Lösungsvorschläge im Kopf haben.
Sprecherin
Es lohnt sich immer, Hilfe zu holen – auch im höheren Alter. Eine richtige Diagnose kann manchmal das ganze Leben verändern, sagt Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz und deutet auf einen Strauß Sonnenblumen, den sie von einer Patientin bekommen hat:
TON 31
[00:50:58] gerade vorhin war eine Apothekerin da, die war aber schon 50. (…) Ihr Sohn hatte auch ADHS. Es war die ganze Familie in Aufruhr, weil Ihr Sohn da ziemlich dekompensiert ist. Ja, sie ist immer weiter am Rad gedreht und alle haben gesagt, sie muss jetzt in die Klinik, sie ist manisch depressiv usw Dann hat sie Antidepressiva gekriegt, die hat sie nicht vertragen und ich habe gesagt Stopp, langsam, Sie haben ADS, Stellen sie jetzt ein, sie ist dekompensiert unter dieser Anspannung, auch mit dem Sohn, der einfach überhaupt nicht funktioniert hat und sich gegen alles gewehrt hat. Und wir haben sie. Ich habe sie zweimal gesehen und von ihr ist heute der große Blumenstrauß. Und da hat sie gesagt, sie hat ein anderes Leben. Ja, und es ist so, es ist ja so viel einfacher. Das Leben. (…) Und sie war so voller Glück und Dankbarkeit. Und das ist natürlich, das ist der beste Lohn, den Sie als Arzt haben können.
Der Klimawandel macht vielen Tieren in kalten Regionen schwer zu schaffen. Vielen Tieren in der Arktis oder in den Alpen schmilzt ihr Lebensraum unter den Pfoten beziehungsweise Flossen weg. Von Claudia Steiner (BR 2023)
Credits:
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Thomas Birnstiel
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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DC und Marvel - das sind die US-Comic-Verlage, die seit 1939 die Bild-Geschichten von Superhelden wie Superman und Batman, Die Fantastischen Vier oder Spiderman veröffentlichen. Ob als Comic oder Film - die Abenteuer der "Über-Menschen" faszinieren bis heute ein junges Publikum. Von Markus Mayer
Credits
Autor dieser Folge: Markus Mayer
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zitator: It‘s A Bird?
Zitatorin: It’s a Plane?
Zitator & Zitatorin: It’s Superman!
Sprecherin
Im Juni 1938 erscheint das erste bunte Heftchen mit Superman auf dem Umschlag. 64 Seiten umfasst der Comicstrip, also die gezeichnete Bildfolge,
mit Abenteuern des Superhelden. Superman heißt mit bürgerlichem Namen Clark Kent, aber eigentlich ist er ein Außerirdischer vom Planeten Krypton.
Sprecher
Nur 10 Cent kostet das Heft. Niemand ahnt, dass mit diesem ersten Heft der Reihe Action Comic, einem nicht besonders hochwertigen Druckerzeugnis, die Weltkarriere des ersten aller Superhelden beginnt.
Sprecherin
Endlich ist es Jerry Siegel und Joe Shuster, den Erfindern der Figur, gelungen, Superman, der im Alter von drei Jahren von seinem Heimatplaneten in einem Raumschiff auf die Erde geschickt wird, als Protagonisten einer Heftchenreihe unterzubringen. Jahrelang wird die Idee des menschengleichen Helden mit Superkräften von Zeitungen und Verlagen als pubertär und kindisch verworfen.
MUSIK 2 ( Laurie Anderson: O Superman 0’57)
SPRECHERIN
Als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt, erhält die Geschichte dieses Übermenschen, den sich die beiden Science-Fiction- Fans ausgedacht haben, eine weitere Bedeutung. Ein unbesiegbarer, unverwundbarer Superheld auf Seite der Vereinigten Staaten? Irgendwie beruhigend... Superman kann fliegen, er hat Superkräfte und Superpuste, außerdem kann er, wenn es sein muss, mit Röntgenblick Dinge sehen, die normalerweise verborgen sind.
SPRECHER
Während der Kriegsjahre werden Superman-Hefte zum beliebtesten Lesestoff der GI’s, der jungen amerikanischen Soldaten. 800 tausend Exemplare macht damals die Auflage der Action Comics aus - eine Heftchenreihe, in der neben anderen auch Superman-Abenteuer zu sehen sind. Hefte ausschließlich mit Geschichten des „Stählernen“, wie ihn Fans nennen, setzen mehr als eineinviertel Millionen ab. Hinzu kommen Superman-Comicstrips, die in über 250 Sonntagszeitungen abgedruckt werden. Während der Kriegsjahre gibt es zudem Superman-Radiosendungen und ab 1941 Zeichentrickfilme.
MUSIK 3 (Alan Silvestri: Captain America Main Titles 0’56)
SPRECHERIN
1941 erscheint im New Yorker Verlag Timely Publications, einem Vorläufer des Marvel-Verlags, eine weitere Heftchenreihe mit einem patriotischen Superhelden: Captain America. So nennt sich Steve Grant Rogers, ein fiktiver US-Amerikaner, der seinem Land als Soldat dienen will. Er wird ausgemustert, erhält aber in einem geheimen Experiment ein Serum, das zu physischen Höchstleistungen verhilft. Weil der Wissenschaftler, der das Serum entwickelt hat, von einem Nazi-Agenten ermordet wird, bleibt Rogers der einzige Superkämpfer. Fortan nennt er sich Captain America, erkennbar an seinem Kostüm und seinem Schild, das Teile der National-Flagge enthält. Captain America bekämpft Nazis, Saboteure und Spione.
SPRECHER
Der Journalist Andreas Platthaus von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ein ausgewiesener Comic-Experte, erklärt, wer die Macher dieser ersten Superhelden-Comics sind.
ZSP Andreas Platthaus – Umfeld
Das Umfeld der mittleren bis späten 30er Jahre, als die Superhelden entstanden sind, muss man sich vor allem sehr städtisch vorstellen und aus einer sehr, sehr armen Gegend stammend die meisten Leute, die damals tätig wurden, als Zeichner, als Szenaristen. Und es gab dabei durchaus einige Frauen, die in Hilfsjobs da tätig waren. Die kamen von ganz unten. Die kamen aus den relativen Elendsvierteln von europäischen Einwanderern, und dementsprechend fanden die in den Superhelden eine Art Kompensation für ihr eigenes Schicksal.
MUSIK 4 (Sammy Timberg: Superman March 0’50)
SPRECHER
Wie viele Comickünstler der damaligen Zeit ist auch Superman Migrant. Schließlich kommt er ja vom Planeten Krypton, was es aber zu verbergen gilt, denn er will gleichberechtigt und integriert leben. Die Erfinder und Gestalter dieser Figur, häufig jüdische Migranten oder Kinder jüdischer Einwanderer, beschreiben hier in gewisser Weise ihr eigenes Schicksal anhand einer allmächtigen Heldenfigur, die ein Doppelleben führt. Sie scheinen mit der Figur des unverwundbaren Übermenschen den USA auch gleichsam den Rücken stärken zu wollen, schließlich befinden sich die Vereinigten Staaten im Krieg gegen demokratieverachtende Nazis und die Achsenmächte.
ZSP Andreas Platthaus – Jüd. Künstler dominieren I.
Dass etliche der Zeichner damals jüdisch waren, hat damit zu tun, dass sehr, sehr viele Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aus Europa gekommen waren. Die osteuropäischen Pogrome hatten zu einer Auswanderungswelle geführt und dabei waren sehr viele Leute vor allem aus ländlichen Regionen, aus Handwerkerberufen und so etwas nach Amerika gekommen, die aber dort nicht unbedingt sofort Anstellungen wieder fanden in den Bereichen, die sie kannten, weil sie in den Städten blieben. Und da gab es dann vor allem Industriejobs und ähnliches, damit ließ sich nicht viel Geld verdienen, und dementsprechend war das Comic-Geschäft eine Art Ausstiegsoption. Da konnte man mit künstlerischer Begabung, die natürlich etliche Leute davon besaßen, tatsächlich etwas machen.
MUSIK 5 (The Chamber Orchestra Of London: First Mission 0’31)
SPRECHERIN
Ein Comic-Held wie der patriotische Captain America ist pure Propaganda. Erwartungsgemäß flaut nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg das Interesse an solchen, eindimensionalen Superhelden ab. Comichefte von Superman und Batman, die im New Yorker DC-Verlag erscheinen, bleiben aber weiterhin attraktiv, auch weil die Protagonisten höchst plausibel gestaltet sind.
MUSIK 6 ( Prince: Batdance – Prince 0’36)
SPRECHER
1939 veröffentlicht DC, die Abkürzung von Detective Comics, erstmals einen Band, in dem die Batman-Figur auftaucht. 1940 erhält der Fledermausmann eine eigene Heftchenreihe.
SPRECHERIN
Ausgedacht haben sich Batman der Autor Bill Finger und der Zeichner Bob Kane. Finger liebt sogenannte Pulp Fiction, Heftchenromane, die auf billigem, stark holzhaltigem Papier, im Amerikanischen Pulp genannt, gedruckt werden. In diesen Spannungsgeschichten ist der Held ähnlich wie Batman aus wohlhabendem Milieu - eine Figur, die es sich leisten kann, Detektiv zu spielen. Weil Szenarist Bill Finger zudem Expressionismus-Fan ist, spielen Batmans Abenteuer immer bei Nacht in einer dystopischen, düsteren Großstadt, einem anonymen Häusermeer, von Straßenschluchten durchzogen.
SPRECHER
Gotham City nennt Bill Finger diesen Ort, ein Synonym für Manhattan in New York. Finger erfindet auch Nebenfiguren wie den Commissioner James Gordon und Butler Alfred. Sie rufen oder unterstützen Batman alias Bruce Wayne, einen milliardenschweren Erben, der nach außen als Playboy auftritt.
SPRECHERIN
Bruce Wayne muss als Kind erleben, wie ein Gangster seine Eltern bei einem Raubüberfall erschießt, nachdem sie mit ihrem Sohn ein Kino besucht haben. Der verwaiste Junge schwört daraufhin Rache und wird zum Kämpfer für Gerechtigkeit. Bruce Wayne hat zwar keine Superkräfte, studiert aber Chemie, Kriminalistik, Mathematik und Physik und trainiert sich Kampfkünste an. Unter seiner Villa richtet er eine geräumige Höhle ein, die ein Labor und eine Garage für die Batmobile umfasst.
SPRECHER
Bruce Wayne, der die Stadt vom Verbrechen befreien will, inszeniert sich mit Kostüm und Maske als Fledermaus - ein Wesen, das lautlos durch die Nacht gleitet, - ein Regulator der Natur, der hilft, Schädlinge und Insekten zu reduzieren.
MUSIK 7 ( Neal Paul Hefti: Batman 0’24)
SPRECHERIN
Comic Strips, gezeichnete Bildfolgen, sind in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das perfekte Medium, um die imaginären Abenteuer von Superman und Batman in Szene zu setzen. Denn: Filme, die bis dato hauptsächlich im Studio gedreht werden, können Handlungen, die im Weltraum oder in der Stratosphäre spielen, nicht überzeugend abbilden. Im gezeichneten Bild hingegen bereitet das keinerlei Probleme.
Trotzdem verliert das Comic-Genre in den 50er Jahren an Popularität. Das hat zum Einen mit dem Fernsehen zu tun, das jetzt Einzug hält in die Haushalte und Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es hat zum Anderen damit zu tun, dass Comics während der McCarthy-Ära als minderwertig eingestuft werden – sie seien, heißt es, gefährlicher Schund, der die Jugend verderbe.
SPRECHER
Die Comic-Produzenten formulieren jedenfalls, um das Geschäftsmodell aufrecht zu erhalten, den sogenannten Comics-Code, ein selbstauferlegtes Regelwerk, dem sich die Branche unterwirft, eine Form der Selbstzensur. Nacktheit ist ab jetzt im Comic ebenso Tabu wie Drogenkonsum, Homosexualität, Scheidungen oder Flüche. Comic-Kenner Andreas Platthaus:
ZSP Andreas Platthaus – Folgen der Krise der 50er I. gadgets
Die Krise der 50er-Jahre (über den Comic Code) hat dazu geführt, dass bestimmte Geschichten nicht mehr so erzählt werden konnten, wie es vorher der Fall war. Es konnte nicht mehr so gewalttätig sein, es konnten auch beispielsweise keine Schurken mehr sterben, was vorher noch durchaus üblich gewesen ist. Und dementsprechend musste man andere interessante Dinge für eine jugendliche Leserschaft finden. Und da waren technische Gadgets natürlich sehr, sehr interessant. Plötzlich wurden die Superhelden viel aufwendiger ausgerüstet, als das vorher der Fall war, weil man mit solchen Sachen begeistern konnte.
MUSIK 8 ( Anne Clark - Sleeper in Metropolis 0’24)
SPRECHERIN
Batman hat beispielsweise von Anfang an einen Gürtel mit diversen, nützlichen Utensilien, mit Robin, seinem jungen Helfer, begibt er sich im Batmobil, einem phantastischen Vehikel auf Verbrecherjagd. Technische Elemente wie Gürtel und Fahrzeuge werden in den 50er Jahren ausführlich dargestellt.
SPRECHER
Zu Beginn der 60er Jahre geht in New York ein neuer Verlag an den Start, der wegweisend wird für das Comic-Geschäft. Marvel Comics mischt mit Reihen wie den Fantastischen Vier, Spiderman, Hulk und Thor, um nur einige zu nennen auf, die Comic-Branche auf.
ZSP Andreas Platthaus - Krise der 50er & Leserbindung
Man brachte ein neues Identifikationsmoment hinein, indem man die ganzen Helden mehr an den Alltag ihrer Leserschaft heranführte, dass es vor allem um die große Errungenschaft des Marvel-Verlags gewesen. Wenn man da plötzlich sieht, dass jemand wie Peter Parker aus einer Schule kommt und durch einen Biss einer radioaktiven Spinne zum Superhelden wird, dann ist das zwar vielleicht nicht das, was man sich selbst erträumt. Aber zumindest bringt einem das diese Figur wieder sehr, sehr nah und so abstrus das Ganze auch ist, war das dann etwas, womit man sich tatsächlich als jugendliche Leserinnen oder Leser, da waren es dann vor allem doch nur Männer, identifizieren konnte.
MUSIK 9 ( Metroboomin & Future - Superhero (Heroes & Villains) 0’27)
SPRECHERIN
Die Superhelden von Marvel sind nicht per se besonders, sondern Repräsentanten der weißen Mittelklasse, aus der sich auch die Leserschaft rekrutiert. Ihre Superkräfte erlangen sie meist durch einen Unfall mit radioaktivem Material. Die Entscheidung, ein Superhelden-Dasein zu führen, fällt ihnen nicht leicht.
SPRECHER
Die Fantastischen Vier sind vier gleichaltrige Wissenschaftler, im Grunde eine Familie. Mister Fantastic, der sich in jegliche Form dehnen kann, ist der Moderator der Gruppe. Susan, die Unsichtbare, ist seine Frau, Johnny, The Storm, ist ihr Bruder und Ben Grimm, das Ding, verfügt über einen versteinerten Körper, was dazu führt, dass er aushält, woran normal sterbliche zu Grunde gehen.
SPRECHERIN
Der Hulk heißt eigentlich Bruce Banner und ist promovierter Nuklearmediziner. Als er bei einem Unfall einer erhöhten Dosis von Gammastrahlen ausgesetzt ist, verwandelt er sich in ein wutschnaubendes, grünes Monster namens Hulk. Immer wenn sich Dr. Banner nach diesem Unfall aufregt, wiederholen sich die Anfälle und er wird zum Ungeheuer.
SPRECHER
Die Marvelhelden sind lebensnäher als die perfekten Superheroes der ersten Generation. Die Protagonisten von Marvel streiten, necken und ärgern sich wie die Fantastischen Vier, sie haben kleine Schwächen, sind eitel, neidisch oder unsicher wie der Teenager Peter Parker, der als Spiderman souverän durch die Straßenschluchten zischt. Dass er in einem Ganzkörperkostüm steckt, fördert die Identifikation mit dieser Figur: jeder könnte Spiderman sein.
MUSIK 10 (The Chamber Orchestra Of London: First Mission 0’32)
SPRECHERIN
Marvelhelden sind auch keine Solisten, häufig bilden sie Gemeinschaften, oft treten sie im Ensemble auf. Diese Tendenz zum Sozialen haben die Marvel-Macher nicht erfunden, sie greifen nur auf, sagt Comic-Experte Andreas Platthaus, was während der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in der Luft liegt.
ZSP Andreas Platthaus - Warum Marvel auf Zielgruppen achtet?
… Wenn wir uns an die Bürgerrechtsbewegung erinnern oder natürlich auch an die Unruhen unter den Studenten in Berkeley, die Hippie-Bewegung und so etwas, dann war das etwas, was einfach ins Gespräch natürlich auch der weißen Mehrheitsbevölkerung (gehörte), die letztlich den Hauptteil der Comic-Leserschaft stellte, auch interessierte.
SPRECHERIN
Marvel beginnt als erster Comic-Konzern Ende der 60er Jahre, schwarze Figuren in die Bildgeschichten einzubauen. Zuerst halten die Drucker die Angaben jedoch für Fehler und färben die Umrisse brauner bzw. schwarzer Passanten weiß ein, aber die Marvel-Macher lassen nicht locker. Im Marvel-Kosmos betreten schwarze Superhelden die Bühne. In Deutschland kommen Comichefte mit schwarzen Superhelden allerdings erst ein halbes Jahrhundert später auf den Markt, nach dem Erfolg der Black-Lives-Matter-Bewegung.
SPRECHER
Luke Cage etwa, ein schwarzer Söldner mit einer riesigen Kette als Gürtel. Um einer Gefängnisstrafe zu entkommen, stellt er sich für ein Experiment zur Verfügung, das ihm Superkräfte verschafft.
MUSIK 11 ( Soundtrack Black Panther: Vince Staples & Yugen Blakrok – Opps 0’37)
SPRECHERIN
Und dann ist da noch Black Panther, die afrofuturistische Reihe von Marvel, über den König des fiktiven afrikanischen Wakanda-Reiches, das vorgibt ein armer Staat zu sein. Tatsächlich hat es hier einen Meteoriteneinschlag gegeben, der die Vorkommen des Wundermetalls Vibranium vermehrt. Durch dieses Metall kann sich Wakanda unsichtbar machen, was vorteilhaft ist, denn die restliche Menschheit ist noch nicht bereit für den Wohlstand und den Reichtum von Wakanda.
SPRECHER
Natürlich erinnert der Name Black Panther an die gleichnamige, radikale Black-Power-Partei, die Ende der der 60er Jahre entsteht. Sie plädiert radikal antikapitalistisch - für schwarzes Unternehmertum, reformierte Bildung und Plebiszite des schwarzen Amerika. 1981 löst sich die Organisation auf.
SPRECHERIN
Verantwortlich für den Erfolg von Marvel ist der Redakteur und Szenarist Stanley Lieber. Seinen Vornamen zerlegt er für seinen Künstlernamen in zwei Silben: Stan Lee.
SPRECHER
In den frühen 60er Jahren revolutioniert er mit von ihm erfundenen Figuren wie Spiderman, den Fantastischen Vier und Hulk das Genre. Die Zeichner, mit denen er kooperiert, Jack Kirby und Steve Ditko, entwickeln einen klaren, dynamischen Stil, der Überschwang von Actionszenen lässt sich in ihren Panels, wie man einzelne Bilder im Comic nennt, unmittelbar nachvollziehen.
SPRECHERIN
Superhelden - ob von DC oder Marvel - erschließen dem Comic neue Zielgruppen im Teenager- und Jugendlichen-Alter, was aber nicht bedeutet, findet Andreas Platthaus, einer der besten Comic-Kenner, dass sie die Kunstform der Graphic Novel voranbringen.
ZSP Andreas Platthaus – Superhelden-C. ästhetisch regressiv
Da wurde relativ schlicht drin gearbeitet, da war kein Platz für grafische Experimente oder fantastische Arrangements und Seitenarchitekturen. … Dementsprechend würde ich sagen, dass alles das, was wir als Comics kennen, durch die Superhelden-Hefte extrem geprägt worden ist, dass das aber nicht besonders ästhetisch fortschrittlich war. // Der Comic war in den 10er und 20er Jahren des 20. Jahrhunderts viel, viel weiter ästhetisch, als es dann nach dem Zweiten Weltkrieg war, als Superhelden so ziemlich alles dominierten. Wir verdanken es dem japanischen und den französischen Comics, dass interessantere Seitenarchitekturen, dass großzügigere Grafik, dass experimentelles Erzählen zurückgekommen ist, und das haben dann irgendwann die Superhelden-Comics auch übernommen. Aber da haben Sie sich einfach an Erfolge angehängt. Ihr eigener Erfolg hat zu einem Rückschritt in der Entwicklung der Comic-Ästhetik geführt.
MUSIK 12 (John Williams – Theme From Superman 0‘46)
MUSIK 13 ( Red Man – Soopaman Luva 3 („It‘s A Bird? / It’s a Plane?) 0’06)
Zitator & Zitatorin: It’s Superman!
SPRECHER
In den 70er und 80er Jahren kommen alte DC-Helden wieder zum Zug. 1978 wird Superman aufwändig verfilmt, mit Christopher Reeve in der Hauptrolle. Eine Verfilmung ist deshalb nicht abwegig, weil die Bildsprachen von Comics und Film ähnlich strukturiert sind. Filmemacher und Regisseure arbeiten oft mit gezeichneten storyboards, mit Bilderfolgen, damit sich Team, Kameraleute und Darstellerinnen das Endergebnis vorstellen können. Ein solches storyboard sieht ähnlich aus wie die Seite eines Comichefts, nur die Sprechblasen fehlen.
MUSIK 14 ( War – Galaxy 0’30 aus: Superman Batman Dance All Night)
SPRECHERIN
Jüngere Comic-Künstler wie Frank Miller zeigen in den 80er Jahren Batman als gealterte, frustrierte Figur - ein Gewalttäter in kompromisslosem Schwarz-Weiß, der sich entfernt hat vom Pfad des tugendhaften Weltverbesserers.
SPRECHER
Diese aktualisierte Sichtweise des Superhelden bildet die Grundlage für Kinofilme, in denen der US-Schauspieler Michael Keaton Ende der 80er Jahre den Fledermausmann gibt.
MUSIK 15 ( Rod Stewart – Superman Batman Spiderman 0’15)
SPRECHERIN
Nach den Anschlägen vom Elften September geraten die USA erneut unter Druck und übernehmen die Rolle der Weltpolizei – zeitgleich steigt die Beliebtheit von Superhelden. Diesmal haben Helden aus dem Hause Marvel die Nase vorn. Was früher nur Zeichner und Comickünstler konnten, lässt sich jetzt durch Spezialeffekte und mit immenser Rechnerleistung als Bewegtbild herstellen und im Kino erleben. Millionen-Dollar-Erfolge wie Spiderman 1, 2 & 3 zeigen das enorme kommerzielle Potential, das der Marvel-Konzern für weitere Produktionen nutzt. Marvel-Filme sind durch Gastauftritte einzelner Schauspieler miteinander verknüpft, was ihre Attraktivität weiter steigert.
SPRECHER
Ab 2008 etabliert der Unterhaltungs-Konzern das sogenannte Marvel Cinematic Universe. Alte Helden wie Iron Man, Thor, Black Panther und sogar Captain America, als First Avenger tituliert, fliegen jetzt wieder über die Leinwand und begeistern erneut das Publikum - Helden, die alles tun, um die Welt und den Planeten zu retten. Über ein Jahrzehnt lang produziert Marvel einen Erfolgsfilm nach dem anderen.
MUSIK 16 ( Mark Graham – The Avengers 0’26)
SPRECHERIN
Marvel-Mastermind Stan Lee wird in einigen Filmen durch sogenannte Cameos, also Gast-Auftritte geehrt. 2018 stirbt der hochgeschätzte Comic-Pionier und Begründer des Marvel-Universums. Der Marvel-Konzern setzt da längst auf Zielgruppenforschung, wenn es darum geht, neue Heldinnen zu kreieren. Miss Marvel etwa ist, was man heute eine migrantisch gelesene Person nennt - eine Figur, die die große Zahl von Einwanderinnen und Einwandern aus Pakistan und Indien in den USA repräsentiert bzw. deren Nachkommen ansprechen soll.
SPRECHER
Kamala Khan ist 19, eine gute Schülerin und eine begeisterte Gamerin. Umgeben von einer Gluckenmutter, einem ehrgeizigen Vater und einem frommen Bruder findet sie Zuflucht im Schreiben von Fan-Fiction über Superhelden. Als sie in der Schule und zuhause in Schwierigkeiten gerät, kann sie sich retten, indem sie - wie ihre Idole - Superkräfte erlangt. Miss Marvel wird erst als gedruckte Comicreihe getestet, bevor die Figur 2022 zur Heldin einer TV-Serie wird.
SPRECHERIN
Superhelden sind fester Teil der westlichen Popkultur. Auch wenn jedem klar ist, dass es unmöglich ist: Wer würde nicht gerne einmal Kräfte haben wie Superman oder der Hulk?
MUSIK 17 ( Hildur Guðnadottir; The Hollywood Studio Symphony - Bad Comedian 1’03)
Aktuell sieht Andreas Platthaus das Superhelden-Genre sich in Richtung seiner Bösewichte bewegen. Die Geschichten insbesondere der Marvel-Superhelden sind für Andreas Platthaus auserzählt.
ZSP A. Platthaus - Schurken & gebrochene Helden angemessen
… Jetzt hat man eigentlich sämtliche prominente Figuren wirklich ausgemolken. Und ich glaube kaum, dass da noch irgendeine neue Facette zu erzielen ist. Darum sind Filme wie über Dead Pool oder eben den eben schon erwähnten Joker zurzeit viel interessanter und viel kassenträchtiger, weil die tatsächlich noch einmal etwas Neues erzählen, eben auch mit viel gebrocheneren Figuren. Und ich glaube, dass das wiederum etwas ist, was unserer Zeit entgegenkommt. Und wenn man danach fragt, inwieweit Superheldenfilme heute noch dem Unterhaltungsbedürfnis oder auch dem Belehrungs-Bedürfnis entsprechen, dann würde ich sagen, der Gespaltenheit unserer Gesellschaft und der Zwiespältigkeit, all dessen, was wir zurzeit weltgeschichtlich erleben, sind die Schurken und die gebrochenen Helden deutlich angemessener.
Wo sich früher karge Weiden erstreckten, breiten sich heute Büsche und Bäume aus. Tier- und Pflanzenarten, die auf offenen Landschaften angewiesen sind, haben dann keine Chance mehr. Forscher*innen versuchen, etwas dagegen zu unternehmen, die Flächen wieder freizuräumen und die ursprünglichen Bewohner zurückzuholen. Von Joachim Budde (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Joachim Budde
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Anna Graenzer, Sven Hussock
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Felix Helbing, Universität Osnabrück;
Prof. Thomas Fartmann, Universität Osnabrück
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Literaturtipp:
Thomas Fartmann et al.: Insektensterben in Mitteleuropa. Ursachen und Gegenmaßnahmen, Stuttgart 2021.
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Was macht Menschen anfällig für rechtsradikale Ideologien? Diese Frage stellten sich schon Denker der Frankfurter Schule wie Erich Fromm, und Theodor W. Adorno. Mit Psychoanalyse und Marx entwickelten sie den Begriff des "autoritären Charakters" - gehorsam, konform und destruktiv. Ein Modell das bis heute weltweit relevant ist. Von Jerzy Sobotta
Credits
Autor dieser Folge: Jerzy Sobotta
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Hemma Michel, Katja Schild, Peter Weiß
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. Philipp Lenhard, Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München. Autor von „Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule.“ (Ch. Beck 2024)
Prof. Oliver Decker, Sozialpsychologe und Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Co-Herausgeber der Leipziger Autoritarismus-Studie.
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"1984" von George Orwell - Widerstand ist zwecklos
"Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke" - so lautet die Parole der einzigen Partei in Orwells dystopischen Roman von 1948. Die Geschichte von Winston Smith im Überwachungsstaat Ozeanien gehört zu den meistgelesenen Werken des 20. Jahrhunderts, allein der Titel ist zum Signalwort geworden. Denn es ist ein Buch, das als Barometer der Gegenwart funktioniert: Wie steht's um unseren Staat, unsere Welt heute im Vergleich zu Ozeanien? Im Zeitalter von Fake News, Wahlmanipulation und Datendiebstahl? Winston Smith, die Hauptfigur von "1984", beginnt schreibend eine hoffnungslose Rebellion. Der mehrfach preisgekrönte Erzähler Christian Brückner (u.a. Robert de Niros Synchronstimme) liest Orwells Sci-Fi-Klassiker in vier Folgen. JETZT ENTDECKEN
Linktipps:
Hier kann man testen, wie man auf der F-Skala abschneidet (englisch): IDRLABS
Literatur:
Theodor W. Adornos Beitrag zu den „Studien zum autoritären Charakter“ erschien auf Deutsch erst 1974 bei Suhrkamp.
Für ein breiteres Publikum analysiert Leo Löwenthal 1949 in „Falsche Propheten“ die Techniken faschistischer Agitatoren.
Philipp Lenhard gibt in „Café Marx“ einen fesselnden wie detailreichen Überblick über die Geschichte des Instituts für Sozialforschung und ihrer Protagonisten.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER:
Die Betörung der Massen. Nirgends war sie größer und zerstörerischer als in Deutschland unter den Nazis. Bis heute ist sie der Inbegriff für den Autoritarismus.
Musik 2: Anthem… - 1:05 Min
SPRECHER:
Lange schien es, die Zeit der falschen Propheten ist für immer vorüber: Die Macht des Irrationalen hat keinen Platz in den westlichen Demokratien.
Eine Illusion, die immer weiter zerbricht.
02 ZSP Autoritär: Fromm OPENER
Solche Bedingungen können sich auch heute entwickeln und deshalb sind sie keineswegs auf 1933 beschränkt, keineswegs auf Deutschland beschränkt, sondern sie werden Probleme überall da, wo der Mensch sich ganz ohnmächtig fühlt und sich ganz gelangweilt fühlt.
03 ZSP Autoritär: Adorno OPENER
Dabei ist natürlich nicht zu unterschlagen: Das manipulierte und angedrehte all dieser Bewegungen, dass sie etwas vom Gespenst eines Gespensts haben.
04 ZSP Autoritär: We love Trump (Rufe)
SPRECHER:
Was wurde übersehen? Woher kommt die Sehnsucht nach Stärke? Was ist der Reiz des Autoritären, der die Massen elektrisiert?
MUSIK 3: Die Ermittler – 31 Sek
SPRECHERIN:
Darüber wird auch nachgedacht in dem massiven Bau aus Naturstein: Das Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main, 1929. Das Gebäude ähnelt einer Festung. Hier wird radikale Theorie betrieben: junge, kompromisslose Sozialforscher, die das krisenhafte Wesen der modernen Gesellschaft verstehen wollen.
05 ZSP Autoritär: Lenhard Programm
Das Programm einer so genannten Kritischen Theorie: Ein interdisziplinäres Programm, das versucht, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie, also die Marxsche Kapitalismuskritik, mit Psychoanalyse, mit Literaturtheorie, mit Musiktheorie, Philosophie und so weiter zu verbinden.
SPRECHERIN:
Es ist ein Kreis von brillanten Denkern, die später als Frankfurter Schule bekannt werden: Gruppiert um die Sozialphilosophen und Soziologen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Ihre Philosophie wird einmal das Geistesleben der Bundesrepublik prägen und sie zu einigen der wichtigsten Intellektuellen der Nachkriegszeit machen.
Nicht zuletzt, weil sie untersuchen, wie faschistische Propaganda und der Antisemitismus funktionieren.
Der Historiker Philipp Lenhard hat die Geschichte der Frankfurter Schule erforscht, in seinem Buch „Café Marx“.
06 ZSP Autoritär: Lenhard Faschismus
Also die Kritische Theorie, oder das Institut für Sozialforschung in dieser Zeit, hat natürlich auch den Faschismus als ein Krisenphänomen gesehen. Hat aber viel stärker auf das Bedürfnis und die Psychologie der Massen auch den Blick gelenkt. Also mehr auf die Frage – nicht so sehr, was die Faschisten selber für ein Programm vertreten – sondern eigentlich warum es verfängt.
Musik 4: Trapped! – 50 Sek
SPRECHER:
Am 1. August 1930 wird Max Horkheimer Universitätsprofessor und übernimmt er die Leitung des Instituts, das sich aus privaten Stiftungsgeldern eines reichen Unternehmersohns finanziert.
ATMO: 07 ZSP Autoritär: Fackelzug
SPRECHER:
Zwei Tage später spricht Adolf Hitler in Frankfurt. Er füllt eine riesige Festhalle mit 20.000 Zuschauern. Die erregte Menge jubelt den Fahnenträgern von SA und SS zu und spendet der Rede ihres „Führers“ frenetischen Beifall. Erfolgreiche Mobilisierung für die bevorstehenden Reichstagswahlen, bei denen die NSDAP mit mehr als 18 Prozent zweitstärkste Kraft hinter der SPD wird.
SPRECHERIN:
Am Institut für Sozialforschung ist man besorgt über die wachsende Stärke des Faschismus. Eine erste groß angelegte Studie entsteht zu dieser Zeit: Sie soll das politische Bewusstsein von Arbeitern und Angestellten in Deutschland untersuchen. Die Forscher wollen erfahren, wie deren politische Gesinnung zu ihrer unbewussten psychischen Struktur passt. Das Ergebnis ist ernüchternd:
08 ZSP Autoritär: Lenhard Arbeiter
Und das Entscheidende war wirklich: Wir können uns auf das Proletariat nicht verlassen. Das Proletariat wird den Faschismus nicht besiegen können, wird nicht ausreichend Widerstand leisten können. Teile der Arbeiterschaft werden zu den Nazis überlaufen.
SPRECHERIN:
Sagt Philipp Lenhard, Professor für jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
09 ZSP Autoritär: Lenhard Warum
Und dann hat man untersucht: Warum eigentlich? Was spricht die eigentlich da an?
Musik 5: Am Tatort – 1:39 Min
SPRECHER:
Die Studie hat Pionierqualitäten: Empirische Untersuchungen sind damals in Deutschland noch relativ neu. Vor allem aber ist die Methode Neuland: Die gezielte Nutzung der jungen Wissenschaft der Psychoanalyse in einer Sozialstudie.
SPRECHERIN:
Die Psychoanalyse betrachtet das menschliche Ich als fragile Steuerungsinstanz, die zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen und archaischen Triebregungen vermittelt. Unbewussten Mächten also, die jederzeit chaotisch und widersprüchlich aus der Tiefe der menschlichen Seele hervorbrechen können. Man wollte herausfinden: Welchen Einfluss nehmen verdrängte Ängste und unbewusste Bedürfnisse auf die politische Willensbildung? Das war der Schlüssel, um den immer weiter um sich greifen Irrationalismus in der Politik zu verstehen.
SPRECHER:
Diesen neuen Blick bringt damals der Soziologe und Psychoanalytiker Erich Fromm ein. Er ist Jurist, Soziologe und ein glühender Anhänger der Psychoanalyse, die er intensiv studiert. Am Institut für Sozialforschung leitet er die psychoanalytische Abteilung und ist einer der ersten, die Psychoanalyse, Marxismus und sozialwissenschaftliche Untersuchungen miteinander verbinden.
SPRECHERIN:
Schon in der Studie über die Arbeiter und Angestellten entwickelt Fromm einen zentralen Begriff, der die gesamte Kritische Theorie und ihr Verständnis von Massenpsychologie und Faschismus entscheidend prägen wird: den Autoritären Charakter.
10 ZSP Autoritär: Fromm: Autoritärer Charakter
Nun beim autoritären Charakter würde ich sprechen von – wenn man ihn mit einer psychoanalytischen Namensgebung bezeichnet – als den sadistisch-masochistischen Charakter.
SPRECHERIN:
So erklärt Erich Fromm den autoritären Charakter 1975 in einem Fernsehinterview. Die Begriffe Sadismus und Masochismus sind der Psychoanalyse entlehnt, wo sie sexuelle Neigungen beschreiben: Der Sadist erregt sich, indem er seinem Sexualpartner Schmerzen zufügt. Fromm jedoch beschränkt sich nicht auf das Sexuelle.
11 ZSP Autoritär: Fromm Sadist
Ich verstehe unter Sadismus den leidenschaftlichen Wunsch, über einen anderen Menschen die absolute Kontrolle zu haben. Man kann auch so sagen: Dass der Sadismus ein Ausdruck des Wunsches nach Allmächtigkeit ist.
SPRECHERIN:
Gleiches gilt für den Masochismus: die Lust gequält und gedemütigt zu werden. Auch er bekommt eine kulturtheoretische Bedeutung, die mehr meint als eine Sexualpraktik.
12 ZSP Autoritär: Fromm Masochist
Die Lust an der Unterwerfung unter etwas, was stärker ist. Die absolute Abhängigkeit. Und damit auch die Erfüllung des Wunsches, der eigenen Verantwortung ledig zu sein. Der Masochist, der sich unterwirft, braucht nicht mehr über sein Leben zu entscheiden. Er wird gelebt durch eine höhere Macht.
SPRECHERIN:
Das nimmt dem Menschen die Last, die Risiken des Lebens auf sich zu nehmen, Entscheidungen zu treffen, mit den Konsequenzen zu leben. Um den sadistisch-masochistischen Menschen zu beschreiben, hat Fromm ein eingängiges Bild: Den Radfahrer. Denn der Radfahrer duckt sich nach oben, während er nach unten tritt.
Die sadistisch-masochistischen Triebe sind also dafür verantwortlich, dass sich ein Mensch einer äußeren Macht oder einer Idee unterwirft und Schwächere unterdrücken und beherrschen will. Dass diese Triebe in einem Menschen Überhand nehmen, liegt nur zum Teil an seiner individuellen Veranlagung, seiner Erziehung. Ebenso wichtig sind die Lebensumstände, denen er ausgesetzt ist.
Politische und wirtschaftliche Krisen, Pandemien, Kriege aber auch starker technologischer Wandel treffen die Menschen und erzeugen bei vielen ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins.
15 ZSP Autoritär: Fromm Omnipotenz
Da entwickelt sich mehr und mehr der Wunsch zur Macht. Anstelle der inneren Ohnmacht, der inneren Impotenz - wenn sie so wollen -, eine Omnipotenz, eine Allmacht, in dem er alles kontrolliert. Alle. In dem er dann seine Ohnmacht übertönen kann, durch das Resultat dessen, was er mit anderen Menschen macht.
SPRECHERIN:
Die Studien des Instituts für Sozialforschung zu Beginn der 1930er Jahre ergeben, dass ein beträchtlicher Teil der Arbeiter und Angestellten diese Rad-Fahrer-Mentalität aufweist.
Musik 6: The Boss – siehe vorn – 35 Sek
16 ZSP Autoritär: Bücherverbrennung
SPRECHER:
Als Sozialisten, Marxisten, Juden und Psychoanalytiker verkörpern die Instituts-Mitarbeiter alles, was den Nazis verhasst ist. Als sie an die Macht kommen, besetzen sie sofort Horkheimers Wohnhaus in Kronberg und am 13. März 1933 das Institut für Sozialforschung. Doch die Mitarbeiter sind da bereits in die Schweiz geflohen.
MUSIK 7: „Nah“ – 49 Sek
SPRECHERIN:
Die meisten von ihnen sind zunächst in Genf, Paris oder London. Doch schon bald lässt Horkheimer den Hauptsitz des Instituts nach New York verlegen, nach Manhattan unweit der Columbia University. Eine lebensrettende Entscheidung. Für all jene zumindest, die ihm früh genug folgen.
SPRECHER:
1936 erscheint das bislang größte Forschungsprojekt des Instituts für Sozialforschung: Die Studien über Autorität und Familie. Auch hier steht der „Autoritäre Charakter“ im Mittelpunkt der Untersuchung, den Co-Autor Erich Fromm vornehmlich bei den kleinbürgerlichen Klassen verortet.
17 ZSP Autoritär: Fromm Kleinbürgertum
Weil das deutsche Kleinbürgertum, damals also die kleinen Geschäftsleute, der Mann, der einen kleinen Laden hatte. Alle die waren aus der Geschichte herausgeschleudert. Aber speziell auch der kleine Handwerker, der kleine Kaufmann. Die Entwicklung des Kapitalismus ging ja dahin, die alle auszumerzen. Es war eine Klasse, die gesellschaftlich und ökonomisch zum Tode verurteilt war. Sie sahen das, sie fühlten das. Sie fühlten ihre Ohnmacht wirtschaftlich und auch gesellschaftlich. Ja nun, aus diesem Gefühl der Ohnmacht kam dann der Wunsch zu herrschen, zu kontrollieren. Und wer blieb dann übrig, außer den Juden und den politischen Minoritäten?
Musik 8: The Boss – siehe vorn – 24 Sek
SPRECHER:
Hitler greift diesen Wunsch zu herrschen auf. Er manipuliert die emotionalen Bedürfnisse seiner Gefolgschaft: Indem er mit ihren archaischen Wünschen und irrationalen Ängsten spielt. Und indem er ihre Wut lenkt.
MUSIK aus
SPRECHERIN:
Die Kritische Theorie will weitaus mehr als eine rein psychologische Erklärung des Faschismus: Wieso Individuen geneigt sind, sich einem Demagogen zu unterwerfen. Vielmehr spiegeln sich im Individuum bis in die feinsten Verästelungen seiner Seele die gesellschaftlichen Verhältnisse, von denen es hervorgebracht wird.
SPRECHER:
Im entwickelten Kapitalismus wird das Individuum zum atomisierten Massenmenschen, höchst anfällig für propagandistische Manipulation. In seinem Geschmack, seinem Denken und Fühlen finden sich die gleiche Standardisierung und Stereotypie wieder, die am Fließband die industrielle Produktion bestimmen. Die Manipulierbarkeit des Massenmenschen nimmt im gleichen Maße zu, wie die Austauschbarkeit seiner Arbeitskraft durch die Maschine.
Musik 9: Faded Grandeur – 1:13 Min
SPRECHERIN:
Der Siegeszug des Faschismus zeigt an, wie fragil und anfällig der moderne Mensch für die Manipulation ist. Und zwar weltweit: Denn die gleiche Entwicklung ist auch in der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten zu beobachten.
18 ZSP Autoritär: Roosevelt (ca. 10 Sek. stehen lassen)
SPRECHER:
Präsident Roosevelt ruft nach dem Schock der Weltwirtschaftskrise die Politik des „New-Deal“ aus, die auf massive Intervention des Staates setzt.))
Droht auch in den USA ein offener Faschismus? Das will das American Jewish Committee herausfinden. Es finanziert ab 1943 eine große Studie über die Verbreitung von Antisemitismus: Wie schnell können geheime Wünsche in offenes Ressentiment umschlagen? Wie empfänglich sind die Amerikaner für die Manipulation durch antidemokratische Propaganda?
19 ZSP Autoritär: Adorno Propaganda
Die Propaganda ist also vorwiegend eine massenpsychologische Technik. Zugrunde liegt dabei das Modell der autoritätsgebundenen Persönlichkeit.
SPRECHERIN:
Der Philosoph Theodor W. Adorno ist einer der Studienautoren. Als er 1938 in die USA flieht, analysiert er unter anderem die Propaganda-Sendungen christlich-faschistischer Radioprediger. Gemeinsam mit Psychologen der Universität Berkeley arbeitet er an der Studie The Authoritarian Personality, die allerdings erst viel später veröffentlicht wird.
20 ZSP Autoritär: Lenhard USA
Es ging darum den potenziell faschistischen Charakter herauszufinden. Also wer ist in bestimmten Situationen bereit, den Nationalsozialisten zu folgen? Sei es bedingungslos, sei es in bestimmten Situationen oder sei es nur keinen Widerstand zu leisten. Es gibt da ja verschiedene Stufen. Und deswegen musste man da immer so Umwegfragen stellen, um da zu so einem Persönlichkeitsprofil zu gelangen letztlich.
Musik 10: Trapped! – siehe vorn – 43 Sek
Zitate der Forschungsfragen (Zitatoren-Duo liest abwechselnd, dann unter Sprecherin gezogen)
• Gehorsam gegenüber der Autorität sind die wichtigsten Tugenden, die Kinder lernen sollten.
• Wenn wir die Deutschen und die Japaner erledigt haben, sollten wir uns auf andere Feinde der menschlichen Rasse konzentrieren, wie etwa Ratten, Schlangen und Ungeziefer.
• Viel stärker als die meisten Menschen erkennen, wird unser Leben durch Verschwörungen bestimmt, welche die Politiker insgeheim aushecken.
• Vertrauen erzeugt Geringschätzung.
SPRECHERIN:
Entwickelt wird ein langer Fragekatalog für hunderte von Probanden: Wie starr hängen sie an konventionellen Werten und Stereotypen? Wollen sie Abweichlern unbedingt bestrafen? Neigen sie zum Aberglauben oder stellen sie Stärke übertrieben zur Schau? Sind sie zynisch gegenüber menschlichem Leben?
SPRECHER:
Daraus entwickeln die Forscher die Faschismus-Skala, auch F-Skala genannt. Sie zeigt an, wie stark eine Person faschistoide Meinungen hegt. Für Menschen mit einer starken Neigung zu Vorurteilen werden zudem typische Syndrome beschrieben:
Musik 11: A pause for... aus: The girl with the dragon tattoo - 1:05 Min
SPRECHERIN – SPRECHER - WECHSEL:
• Der Konventionelle hält sich an verbreitete Wertvorstellungen und hat eine starke Furcht davor, „anders“ zu sein. Sein Über-Ich war nie gefestigt und ist stark abhängig von äußeren Instanzen.
• Der Autoritäre wird vom Über-Ich beherrscht und muss unaufhörlich gegen starke und ambivalente Triebe ankämpfen. Er hat Angst davor, schwach zu sein.
• Beim Rebellen haben verdrängte Triebe die Oberhand gewonnen, er ist destruktiv und rebelliert oft pseudorevolutionär gegen alle, die in seinen Augen schwach sind. In der gröbsten Form wird er psychopatisch und quält hilflose Opfer mit roher Gewalt.
• Der Spinner ist ein stark selbstbezogener und in sich selbst zurückgezogener Mensch. Er hat die Realität weitgehend durch eine Phantasiewelt ersetzt. Seine innere Welt will er vor „Beschmutzung“ und dem Kontakt mit der schrecklichen Wirklichkeit beschützen.
21 ZSP Autoritär: Lenhard Amerika antisemitisch
Und all diese Studien, die man da angestellt hat, haben eben gezeigt, dass die amerikanische Gesellschaft in dieser Zeit eben auch sehr vom Antisemitismus geprägt war. Und das Institut für Sozialforschung hatte tatsächlich massiv Angst davor, dass auch die USA nationalsozialistisch oder faschistisch werden könnten. Man war sich da nie so ganz sicher.
SPRECHERIN:
Sagt Professor Philipp Lenhard von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Als die Studie 1950 unter dem Namen The Authoritarian Personality in Amerika veröffentlicht wird, revolutioniert sie die Sozialwissenschaften.
MUSIK 11: Die Ermittler – siehe vorn – 38 Sek
SPRECHER:
Die Nazis sind inzwischen militärisch geschlagen. Adorno und Horkheimer sind an die Universität in Frankfurt zurückgekehrt, wo sie das Institut für Sozialforschung wieder eröffnen. In den kommenden zwei Jahrzehnten werden sie zu Ikonen der Studentenbewegung. Auch in den Jahren nach amerikanischer Reeducation und dem Wirtschaftswunder behalten sie ein feines Gespür dafür, dass die Gefahr des Autoritären nicht gebannt ist.
22 ZSP Autoritär Adorno Nachleben
Ich möchte also davon ausgehen, meine Damen und Herren, dass die Voraussetzungen faschistischer Bewegungen, trotz des Zusammenbruchs, gesellschaftlich - wenn auch nicht unmittelbar politisch - fortbesteht.
SPRECHER:
Eine Warnung, die Adorno immer wieder ausspricht. In seinen Schriften und 1967 in Wien, bei einem Vortrag vor Studenten. Er spricht über die damals neu gegründete rechtsradikale NPD. Ihre Wahlerfolge bestätigen seine Annahmen über den Autoritären Charakter – auch 20 Jahre später.
23 ZSP Autoritär: Adorno Rechte Bewegungen
Dabei ist natürlich nicht zu unterschlagen, das manipulierte und angedrehte all dieser Bewegungen. Dass sie etwas vom Gespenst eines Gespensts haben. Es wäre falsch, wenn man heute etwa Deutschland – und es wäre hysterisch – wenn man heute in Deutschland unter diesen Dingen sich etwas wie eine spontane Massenbewegung vorstellen würde. Wohl aber kann eine solche sich herausbilden, wenn das durch die objektiven Bedingungen gegebene Potenzial ergriffen und in sich zuspitzenden Situationen gesteuert wird. Und in diesem Fall ist wohl sicher richtig, dass die extremistischen Gruppen, nach einer Dynamik, die sich immer wieder in solchen Situationen zeigt, die Oberhand gewinnt.
Musik 13: Let’s go out tonight – 32 Sek
SPRECHERIN:
Autoritäre Bewegungen sind kein Problem der gesellschaftlichen Ränder. Sie sind ein Symptom dafür, dass sich die Menschen durch die Marktmechanismen und den technologischen Wandel nach wie vor bedroht fühlen. Und zwar heute in steigendem Maße, sagt Professor Oliver Decker von der Universität Leipzig:
24 ZSP Autoritär: Decker Autoritarismus
Das Autoritarismus-Konzept hilft zu verstehen, wieso die Demokratie derzeit derart unter Druck ist.
SPRECHERIN:
Der Sozialpsychologe erforscht seit 2002 die Verbreitung antidemokratischer Einstellungen in Deutschland: Die Leipziger-Autoritarismus-Studien – früher Mitte-Studien genannt - sind vom Konzept des autoritären Charakters beeinflusst. Sie fragen nach dem latent autoritären und antidemokratischen Potential, das weit bis in die Mitte der Gesellschaft verbreitet ist. Dabei gilt damals wie heute:
25 ZSP Autoritär: Decker Regression
Wenn es zur ökonomischen Regression kommt, dann kommt es auch zur psychischen Regression. Der Autoritarismus steigt, die autoritären Aggressionen werden sichtbarer.
SPRECHERIN:
Allerdings haben sich die Formen verändert, in denen heute die Menschen auf Krisenphänomene reagieren, sagt Oliver Decker. Der harte Führerkult der Faschisten sei heute der Sehnsucht gewichen, möglichst vollständig mit einer Gruppe zu verschmelzen und sich gegen die bedrohliche Außenwelt abzuschotten.
26 ZSP Autoritär: Decker Verschwörung
Und das mündet ein in eine massive Realitäts-Verleugnung. Verleugnung ist momentan das zentrale Element, das ist sozusagen die Flucht aus der Realität, die diese autoritäre Dynamik mit kennzeichnet. Rein in die Verschwörungsmentalität.
27 ZSP Autoritär: Trump Globalists, Marxists, Fascist
28 ZSP Autoritär: Thank you Trump (Rufe)
29 ZSP Autoritär: Adorno Propaganda
Man sollte diese Bewegungen nicht unterschätzen, wegen ihres niedrigen geistigen Niveaus und wegen ihrer Theorielosigkeit. Ich glaube, es wäre ein völliger Mangel an politischem Blick, wenn man deshalb glaubte, dass sie erfolglos sind. Das Charakteristische für diese Bewegungen ist vielmehr: Eine außerordentliche Perfektion der Mittel, nämlich der propagandistischen Mittel in einem weitesten Sinn.
30 ZSP Autoritär: Lenhard Demagogen
Also wenn man sich beispielsweise die Studien des Instituts zu faschistischen Demagogen anschaut. Dann kann man diese Analysen erschreckenderweise fast eins zu eins auf die heutigen Demagogen übertragen. Also das ist auch verschiedentlich gemacht worden, beispielsweise Trump zu verstehen, mit diesen Analysen der Kritischen Theorie. Und das geht erstaunlich leicht.
Musik 14: Anthem – siehe vorn – 25 Sek
SPRECHERIN:
Sagt der Historiker Philipp Lenhard. Der Blick in die Bücher von damals verspricht also überraschend aktuelle Antworten für heute. Um den Reiz des Autoritären zu verstehen, muss man die Techniken seiner Propaganda durchschauen.
Die Angst davor in der Prüfung zu versagen, ist so groß, dass man sich zig Termine in den Kalender packt und keine Zeit mehr zum Lernen hat. Ein typischer Fall von Selbstsabotage. Was steckt dahinter - und wie kann man aufhören, sein größtes eigenes Hindernis zu sein? Von Susi Weichselbaumer
Credits
Autorin dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Berenike Beschle, Thomas Birnstiel, Marlen Reichert, Peter Weiß
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Malte Schwinger, Kinder und Jugendpsychologe Universität Marburg
Dr. Ulrich Goldmann, Leitung Ausbildungsgang Psychotherapie (MUNIP)
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ZITATORIN
Am Abend vor der Klausur war die Geburtstagsparty meiner besten Freundin.
ZITATOR
Es war null Zeit, die Präsentation für die Führungskräfte vorzubereiten. Für auf den letzten Drücker lief es puh: Okay.
ZITATORIN
Dieser Fahrprüfer lässt Frauen grundsätzlich durchfallen. Auch wenn ich dem protzigen SUV nicht die Vorfahrt genommen hätte…
MUSIK ENDE
SPRECHER
Die Klausur gerade mal knapp bestanden?
SPRECHERIN
Der Job Großraumbüro statt Chefetage?
SPRECHER
Die Fahrerlaubnis nicht erteilt? Der Pfad zum Erfolg ist gepflastert mit Hindernissen.
MUSIK
ZITATOR
Das Schicksal arbeitet gegen mich.
ZITATORIN
Heute ist nicht mein Tag.
ZITATOR
Die ganze Woche ist nicht meine Woche –
ZITATORIN
Mein ganzes Leben ist nicht mein Leben.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Das Wetter, der öffentliche Nahverkehr, die grantige Nachbarin –
SPRECHERIN
Möglicherweise steht man sich aber auch selbst im Weg. Durch die Art und Weise wie man Dinge angeht oder versucht, bestimmte Situationen zu vermeiden.
MUSIK
SPRECHER
Jedenfalls sicher gilt: Allein ist man als Sich-Selbst-Blockierender nicht. Die Ratgeberregale in den Buchhandlungen stehen voll mit Literatur zum Thema „Selbstsabotage“. In Social Media wird das Phänomen in diversen Facetten diskutiert. Das Internet bietet zig Fragebogen:
ZITATOR
Wann sabotierst Du Dich selbst?
ZITATORIN
Warum sabotierst Du Dich?
ZITATOR
Weswegen solltest Du das lassen?
ZITATORIN
Wie änderst Du Dich – und damit alles?
MUSIK ENDE
SPRECHER
Das Problem ist bloß: Was in bunten Bänden und auf knalligen Lifestyle-Webseiten angeboten wird, fällt aus wissenschaftlicher Sicht größtenteils in die Kategorie „Küchenpsychologie“. Und: Der Begriff „Selbstsabotage“ für jedwedes, was man sich selbst so in die Bahn werfen oder als Ausrede anführen könnte? Wohl eher ein Modewort:
1 ZU Goldmann 0.00
Wenn ich jetzt an Sabotage denke, da denke ich an Gleise, an Züge, an jemand, der Kabel in Brand steckt. Es ist ein bewusster Akt. Sabotage ist auch in gewisser Weise, ein gewalttätiger Akt.
SPRECHERIN
Erklärt Dr. Ulrich Goldmann. Er leitet den Bereich Psychotherapie am MUNIP, dem Münchner Universitären Ausbildungsinstitut für Psychologische Psychotherapie.
2 ZU Goldmann 0.00
In der Psychologie wird mehr im Englischen der Begriff „Self-Handicapping“ hergenommen, also „Selbstbehinderung“ übersetzt. Das ist etwas milder.
SPRECHERIN
Selbstbehinderung gilt nicht als klinische Diagnose, Krankheit oder Persönlichkeitsstörung. Die Wissenschaft sammelt unter dem Begriff eine ganze Reihe an Verhaltensmustern.
SPRECHER
Verhaltensweisen, mit denen Menschen ihre Erfolgschancen bewusst oder unbewusst selbst vermindern. Generell. Oder lediglich in speziellen Zusammenhängen. Das Ziel dabei ist stets – und das klingt auf den ersten Blick paradox: Auf Biegen und Brechen den Selbstwert erhalten.
SPRECHERIN
Sich keine Blöße geben, das Gesicht wahren – anderen und sich selbst gegenüber.
MUSIK
SPRECHER
Die Gründe dafür und Strategien dabei faszinieren Forscher wie Malte Schwinger. Er ist Professor für Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Marburg. Studien zum Thema Selbstbehinderung gibt es inzwischen vor allem im Segment „Lernen und Ausbildung“.
3 ZU Schwinger (0.09)
Der Grundgedanke dahinter ist immer der, jemand hat Angst vor einer bestimmten Situation, einer bestimmten Bewertung. Das ist bei Studierenden, wo wir das viel untersuchen, häufig irgendeine Art Prüfung, eine Art Klausur. Und da ist die Sorge, dass das schiefgehen kann. Und wenn das schiefgeht, hat man Angst, dass das den Selbstwert bedrohen könnte, dass man sich danach als Person nicht gut fühlt als wertlos fühlt.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Die Lösung:
SPRECHER
Eine eventuelle negative Bewertung unbedingt ausschließen.
SPRECHERIN
Und zwar schon im Vorfeld.
4 ZU Schwinger (0.09)
Wenn ich Angst habe, in der Klausur zu versagen, dann sollte ich mir irgendeine Ausrede zurechtlegen, die hinterher erklärt, warum ich nicht so gut war in der Klausur, das ist die Idee.
MUSIK
ZITATORIN
Das Radl hatte auf dem Weg einen Platten.
ZITATOR
Im Prüfungsraum war es wahnsinnig stickig.
ZITATORIN
Der Hund hat meine Vorbereitungsunterlagen gefressen.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Spannend dabei: Erklärungen dafür, warum es mit einer besseren Note in der Klausur nicht geklappt hat, suchen Selbst-Handicapper eher selten im Außen.
Solche Rechtfertigungen gibt es schon auch. Aber: In der Regel sucht man die Erklärung bei sich: Darum wir ich nicht so toll. Oder konnte nicht so toll sein. Halskratzen und leichter Husten – plötzlich fühlt man sich damit richtig krank. Genauso erklärt man es den Studienkollegen. Der wesentliche Punkt bei alldem: Trotz schwerer Grippe tritt man zur Prüfung an.
SPRECHERIN
Unter derlei Bedingungen muss man dann ja mehr als froh sein über ein gerade noch „bestanden“.
MUSIK
SPRECHERIN
Es kann aber auch das ganz große Programm von „Ich-reite-mich-wo-richtig-rein“ sein, erzählt der Münchner Psychotherapeut Ulrich Goldmann aus dem Praxisalltag.
5 ZU Goldmann 2.44
Das sind so Situationen, die häufig genannt werden, wenn man zu spät ins Bett geht, viel Alkohol trinkt oder ausgeht und am nächsten Tag ausgesprochen müde ist, die Prüfung schreibt. Und wenn es dann schiefgeht, hat man eine fertige und stichhaltige Erklärung, warum es denn schiefgegangen ist und in der Psychologie, und da gibt es einige Experimente dazu, wird angenommen, dass das im Dienste dessen steht, dass es situativ, also auf die Situation bezogen, nicht geklappt hat, weil ich zu lange aus war.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Der Grund des Scheiterns ist so nicht ehrenrührig und kratzt am Selbstwert. Man ist nicht etwa zu wenig intelligent, fachlich nicht geeignet – Nein! Die Partyeinladung ging einfach vor. Ehrensache. Lange ausgemacht. Freundschaftsdienst. Man ist eben ein Hecht.
SPRECHERIN
Allerdings ein ziemlicher „Kurzfrist-Hecht“.
6 ZU Schwinger 2.06
Ja, das ist der Haken da dran, man bleibt tatsächlich eigentlich eher unzufrieden.
SPRECHERIN
Bilanziert der Marburger Kinder- und Jugendpsychologe Malte Schwinger. Für den Moment nach der Klausur nimmt so eine Ausflucht – da war diese Party - womöglich den Druck aus der akuten Situation.
SPRECHER
Auf lange Sicht ist nichts gewonnen in Sachen angeknackster Selbstwert. Denn: Das ist der wunde Punkt. Die verletzliche Stelle.
7 ZU Schwinger 2.06
Die Angst resultierte ja vorher schon aus einer Erwartung, dass man das nicht kann. Und die wird natürlich durch dieses Schauspiel, was man da abgezogen hat, nicht anders. Also man ist weiterhin der Meinung, dass man es nicht kann. Und es hat ja, auch wenn man eine Ausrede hatte, keinerlei gegenteiliger Beweis stattgefunden. Das heißt wenn die nächste Prüfung ansteht, geht eigentlich alles von vorne los.
MUSIK
SPRECHERIN
Ein Kreislauf, der einen irgendwann gefangen nimmt und den man mitunter gar nicht als solchen begreift, erinnert sich Rita. Sie will anonym bleiben. Nach Coaching und Therapie ist Rita inzwischen überzeugt:
8 ZU Rita 8.40
Es ist sicher gut sich zu überlegen, will ich das oder nicht. Oder was will ich überhaupt? So.
Das führt ja auch zu mehr Zufriedenheit.
SPRECHER
Jahrelang war für Rita klar: Im Beruf will sie sich keine Patzer leisten, sondern perfekt sein und auch so wahrgenommen werden von ihrem Kollegenkreis, dem Chef.
SPRECHERIN
Um mögliche Fehler im Vorfeld abzupuffern, überfrachtet sie sich mit Projekten. Springt überall ein. Hebt die Hand. Und ist im Team bald abonniert auf Zusatzaufgaben. Ein Verhalten, das Psychotherapeut Goldmann von einigen Klienten kennt.
9 ZU Goldmann 04:10
Jemand muss einen Vortrag halten und auf PowerPoint etwas machen. Und es gibt eine neue Version, und man hat noch nicht Zeit gehabt aufgrund der vielen, vielen anderen Aufgaben, die man hat, sich in die neue einzuarbeiten, weil noch diese Besprechung gestern war und man noch in dem Projekt XY engagiert ist. Das wären auch selbstwertdienliche Aussagen.
SPRECHERIN
Auf den ersten Blick positive selbstwertdienliche Aussagen: Man ist vielbeschäftigt, hält alle Bälle in der Luft, auch die der Kollegen, deren Aufgaben man netterweise mit wuppt. Allein holt man die Kohlen aus dem Feuer und macht das Beste daraus. Auch wenn das dann nicht perfekt ist: Unter den gegebenen Umständen ist man über sich selbst hinausgewachsen. Für alle.
SPRECHER
Aber halt auch ohne alle.
MUSIK ENDE
10 ZU Goldmann 04:10
Wenn man sich überlegt, wie man sich dann präsentiert vor anderen, kann man sich auch vorstellen, auf die Dauer erzeugt das jetzt auch nicht unbedingt ein günstiges Bild von sich selbst.
SPRECHERIN
Studien zeigen: Je nach Situation sind die Strategien mannigfach, wer sich wann wie selbst manipuliert.
MUSIK
SPRECHERIN
Ein häufiges Beispiel: Man legt die Latte erst hoch und bekommt anschließend Bammel, den Mund zu voll genommen zu haben.
ZITATOR
Klar promoviere ich.
ZITATORIN
Klappt die Stelle in Frankreich nicht, wechsle ich die Firma.
ZITATOR
Diese Frau wird mich heiraten.
MUSIK ENDE
11 ZU Goldmann 5.52
Wenn ich so ein Ziel konkret gegenüber anderen kommuniziere, bin ich auch eine Art Selbstverpflichtung eingegangen. Dann kann ich ohne Gesichtsverlust oder ohne Erklärung nicht mehr hinter mein Vorhaben zurück.
SPRECHERIN
Irgendwann erkennt das auch Rita: Sie kommt – aus ihrer damaligen Perspektive – beruflich nicht vom Fleck. Trotz ihres Engagements an allen Ecken und Enden und obschon das Familie und Freunde von ihr zu erwarten scheinen. Im Team hat sie keinen Rückhalt, dabei reibt sich sich auf, um es den Kollegen und dem Chef recht zu machen, zuvorkommend und perfekt zu sein.
SPRECHER
Perfektion ist ihre Richtschnur.
SPRECHERIN
Elternhaus und Schule wünschten sich das Vorzeigekind. In späteren Beziehungen müht sich Rita, eine Musterpartnerin zu sein: Um jeden Preis perfekte Harmonie, totale Symbiose. Bloß:
12 ZU Rita 2:04
Auf längere Sicht sieht man auch, dass es sich nicht unbedingt auszahlt, also von wegen, dass man Respekt dadurch bekommt.
SPRECHERIN
Rita fängt an, genauer hinzuschauen: Was tut sie wann, um was damit zu erreichen? Und was ist tatsächlich das Resultat?
MUSIK
SPRECHERIN
Für viele kann eine ehrliche Selbstbeobachtung ein guter erster Schritt sein weg von den gewohnten selbstbehindernden Verhaltensmustern, empfehlen Therapeuten. Eine Paradelösung dafür, sich von heute auf morgen mal endlich nicht mehr selbst im eigenen Lebensweg zu stehen, gibt es nicht. Manchmal genügen offene Gespräche im engen Familien- oder Freundeskreis: Warum komme ich nicht ans Ziel, was meint ihr?
SPRECHER
Oft braucht es professionelle Untersützung: Veränderungscoaching. Gesprächstherapie, bei der man aufschlüsselt: Woher kommt mein innerer Druck, die häufige Unzufriedenheit und das Gefühl der Selbstunwirksamkeit, des Ausgeliefertseins?
SPRECHERIN
Hierin liegt eine Crux. Denn: In gewisser Weise handelt man ja aktiv. Sucht und konstruiert Ausflüchte, Erklärungen. Dennoch bleibt da der Eindruck von: Ich muss noch mehr tun, mehr vorbeugen, weitere Vorkehrungen schaffen – falls es schlecht ausgehen sollte.
SPRECHER
Dabei gilt: Selbstschädigendes Verhalten kann durchaus auf einen Bereich im Leben beschränkt sein und zieht sich nicht durch wie ein roter Faden. Wer in Prüfungssituationen den eigenen Erfolg torpediert, macht das nicht unbedingt auch bei Rendezvous oder ersten Dates. Wer sich im Job immer auf Festanstellungen bewirbt, für die er nicht geeignet ist, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass er viel lieber Freiheit lebt als Karriere zu machen – wie alle erwarten: Der weiß vielleicht beim Fußball sehr wohl, dass er linkes Mittelfeld spielen will und sonst nichts.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Studien zeigen: Je nach Situation sind die Strategien mannigfach, wer sich wann wie selbst manipuliert.
SPRECHER
Nach dem Motto: Schöner Scheitern. In der Sicht von außen auf mich, aber auch in der Innenperspektive.
MUSIK
SPRECHERIN
Die Innenperspektive austricksen und zugleich nach außen positiv wirken – nicht wenige versuchen das über die Taktik: Sich nie festlegen. Spannende Zukunftspläne oder Beziehungsabsichten werden durchaus angedeutet. Doch konsequent bleibt man im Ungefähren. Anderen gegenüber und sich selbst.
13 ZU Goldmann 5.52
Wenn ich den Schluss fest fasse, dann kann ich auch scheitern. Wenn ich ihn nicht fasse, dann kann ich ja immer sozusagen mich drum herummogeln ein Scheitern einzugestehen.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Ein Scheitern weniger schmerzhaft machen. Den Gesichtsverlust weniger groß. Das sind oft genannte Gründe für Selbstbehinderung. Ein ebenfalls bekannter Faktor, der jedoch weit schwerer dingfest zu machen ist: Ambivalente Motivation.
MUSIK
SPRECHER
Das heißt: Man möchte mehrere Dinge gleichzeitig erreichen, die sich aber gegenseitig ausschließen. Oder man meint, jenes eine zu wollen, weil man es seit jeher wollte. Oder weil einen andere an der Stelle, in der Rolle etc. sehen. Oder weil jede Logik diesen nächsten Schritt - nun ja - logisch macht.
SPRECHERIN
Innendrin würde eine leise Stimme etwas anderes sagen. Doch die umher sind lauter, überzeugender.
SPRECHER
Logischer.
ZITATORIN
Jetzt hat er so lange studiert!
ZITATOR
Im Freundeskreis sind inzwischen alle verheiratet. Man muss auch erwachsen werden!
ZITATORIN
Nach all den Jahren in der Firma gehört sie doch mal ins Management!
MUSIK ENDE
14 ZU Goldmann 7.03
Führungsposition. Naja, das bringt Verschiedenes mit sich. Ich muss mehr arbeiten. Ich werde mehr Verantwortung haben. Ich werde auch nicht umhinkommen, unangenehme Gespräche zu führen, Leute vielleicht mal einzugrenzen, schlimmstenfalls vielleicht mal sogar disziplinarische Maßnahmen oder Ähnliches auszusprechen. Und es gibt Leute, die einfach Scheu davor haben. Und wenn das nicht bis ins Detail bewusst durchdacht ist, dann können das gegenteilige Motivationen sein, die so ein angebliches Ziel immer wieder ausbremsen, sodass die Ambivalenz, die unter der Oberfläche da ist, eigentlich von der Verwirklichung eines Zieles dann uns immer wieder abbringen kann.
SPRECHER
Eigene Ambivalenzen zu erkennen und zuzugeben – das kann ein schwieriger Prozess sein, weiß Psychotherapeut Ulrich Goldmann. Zunächst hilft eine persönliche Kosten-Nutzen-Aufstellung: Was gefällt mir an diesem Job, diesem Lebensziel, an dieser Beziehung? Was nicht? Was traue ich mir im Bezug darauf zu? Was weniger?
SPRECHERIN
Dafür muss man reichlich ehrlich mit sich sein.
SPRECHER
Und: Überhaupt bemerkt haben, dass man in so einer Ambivalenz feststeckt.
MUSIK
SPRECHERIN
Rita stellt irgendwann fest: Die Angst davor, nicht perfekt zu sein oder nicht als perfekt wahrgenommen zu werden, reibt sie auf. Es tut ihr nicht gut, sich mit Arbeit zu überhäufen, ständig Zusatzprojekte anzunehmen, nur um zum Chef sagen zu können: „Es war drumherum noch derart viel anderes– 1000-prozentig ist es jetzt nicht geworden, aber unter den Umständen…“
SPRECHER
Jedoch: Ihr fehlt die eigene Mitte, aus der sie für sich Selbstwert schöpfen könnte. Den sucht sie in der Bestätigung von außen.
15 ZU Schwinger (4.44)
Natürlich sind Personen, die etwas unsicherer sind, etwas neurotischer sind, etwas geringeren Selbstwert haben gefährdeter, sich auch in ihrem Selbstwert bedroht zu fühlen.
SPRECHER
Bestätigt der Marburger Kinder- und Jugendpsychologe Malte Schwinger.
16 ZU Schwinger (4.44)
Und da reichen schon Kleinigkeiten in der Umwelt, die dann so ein Verhalten auslösen.
SPRECHERIN
Rita erkennt: Sie ist oft so damit beschäftigt, vorzubeugen und abzupuffern, dass jemand sie oder sie selbst sich nicht als „perfekt“ empfinden könnte, dass sie gar nicht weiß, was dieses „perfekt“ im Grunde meint und wohin es führen soll. Für sie ganz persönlich.
17 ZU Rita (9.36)
Was will ich? Mensch, alle wissen, was sie wollen. Aber wie finde ich denn raus, was ich will? Was sind meine Wünsche, meine Bedürfnisse, meine Ziele. Da habe ich gedacht, okay, wie möchte ich sein?
SPRECHER
Rita hilft es, regelmäßig Tagebuch zu schreiben. Was hat heute gut geklappt, was fühlte sich komisch an? Im Coaching nimmt sie sich wöchentlich neue Aufgaben vor: Ich traue mich „Nein“ zu sagen zu Zusatzaufgaben, konzentriere mich auf meine Arbeit. In diesem Rahmen werden für sie auch Fehler besprechbar.
SPRECHERIN
Und siehe da: Manches, was sie als Fehler fürchtet oder als „nicht perfekt“ wertet, beurteilen andere weit weniger drastisch. Das Coaching macht Perspektiven auf.
SPRECHER
Aber Achtung: Das klingt nach simpler Lösung für ein auf den ersten Blick vielleicht eh eher merkwürdig daherkommendes Selbstsabotage-Programm. So einfach ist es nicht.
SPRECHERIN
Meist steckt da ein zäher und auch schmerzhafter Kampf dahinter. Ein dauernd wieder neues Austarieren des eigenen Selbstwerts. Den man – und das ist die Herausforderung – nicht aus sich selbst schöpft.
SPRECHER
Sondern abhängig ist davon: Was schreiben andere mir zu?
18 ZU Schwinger (6.21)
Personen mit geringem Selbstwert, geringem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, wählen dann meistens auch Aufgaben, die entweder sehr einfach sind, wo sie nicht scheitern können, oder Aufgaben, die viel zu schwer sind. Dann haben sie wieder einen Grund, warum sie gescheitert sind. Und diese Aufgaben, die eigentlich uns im Leben weiterbringen, die immer so einen Ticken schwerer sind, als dass wir glauben, das schaffen zu können, die uns dann eben zu unseren besten Leistungen anspornen, diese Aufgaben wählen solche Personen nicht.
SPRECHERIN
Eine Entwicklung findet nicht statt.
SPRECHER
Man bleibt in der Selbstbehinderungsspirale stecken. Ein weiterer typischer Mechanismus dabei: Chronische Aufschieberitis. Stets alles auf den letzten Drücker. Was immer unter solchen Umständen noch geschafft wird, muss als Erfolg verbucht werden, weil: Zumindest besser als nichts.
SPRECHERIN
Der Fachbegriff für dieses ständige Hinausschieben ist Prokrastination. Und so Kavaliersdelikt-ig, wie es sich eben anhörte, ist das nicht unbedingt. Tatsächlich lassen solche Verhaltensweisen, sobald sie chronisch werden, Leben durchaus aus dem Ruder laufen. Das gilt für jegliche Art der Selbstbehinderung – wer sich über lange Zeit jeden Erfolg selbst verbaut, läuft etwa Gefahr in eine Depression zu geraten.
19 ZU Goldmann (13:23)
Natürlich kommen zu uns auch Leute, die schon länger Probleme mit der Zielverwirklichung haben. Und wenn mir das über Jahre nicht gelingt und da gibt es auch ein bisschen Forschung dazu, dann kann auch so etwas wie eine depressive Entwicklung stattfinden, weil es ist ja schließlich wirklich auch eine ganz wichtige Variable: Selbstwirksamkeit nennen wir die, dass wir etwas vorhaben, das versuchen zu gestalten. Und wenn das gelingt, dann ist es für unsere Psyche gut. Und wenn das permanent misslingt, dann ist es für unsere Psyche riskant. Und das wäre ein Faktor, der zur Entstehung von Depressionen beiträgt.
MUSIK
SPRECHERIN
Deshalb rät der Münchner Psychotherapeut Ulrich Goldmann dazu, vorsichtig zu sein, mit schnellen Urteilen und Ratschlägen mal eben aus der Hüfte:
ZITATOR
Sei Dir nicht im Weg!
ZITATORIN
Trau Dich einfach!
ZITATOR
Fang halt früher mit dem Lernen an!
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Gewohnte und für sich wenigstens phasenweise als hilfreich empfundene Strategien wirft niemand so schnell über Bord.
SPRECHER
Vor allem dann nicht, wenn sie darauf abzielen, den Selbstwert positiv aufzuladen.
20 ZU Goldmann (19:11)
Manche sind auch so cool, dass sie mit ganz wenig Lernen nicht nur Vierer abstauben, sondern bessere Noten. Das habe ich mehrmals in der Praxis gehabt, dass dies in der Schule gut ging. Dann geht jemand in das Studium. Aber es geht im Studium überhaupt nicht mehr rundum, weil die Anforderungen wesentlich höher sind, wenn man sich für eine Prüfungsphase mit fünf Prüfungen am Ende des Semesters wirklich strukturiert vorbereiten muss und planen muss. Das geht dann nicht mehr mit aus dem Ärmel schütteln. Und dann wird es manchmal wirklich ziemlich eng.
SPRECHERIN
Und frustrierend. Denn: Ausrede ist in dem neuen Umfeld nicht mehr.
Ab da fordert das Leben ernsthafte Entscheidungen.
SPRECHER
Wobei das nicht bedeuten muss: Ab jetzt nur noch Selbstgeißelung, Selbstabrechnung, gnadenlose Analyse des eigenen Ichs. Der Marburger Kinder- und Jugendpsychologe Malte Schwinger ist überzeugt: In Maßen betrieben darf man durchaus auch mal das Wetter, den Professor mit seinen unverständlichen Fragen, die Welt oder das Universum an sich dafür verantwortlich machen, dass es die Klausur verhagelt hat. In der Psychologie spricht man von Self Serving Bias, auf Deutsch: Selbstwertdienliche Verzerrung.
21 ZU Schwinger 07:29
Das kann man tun, dass man eben versucht, nicht überall selber sich verantwortlich für zu fühlen. Und eben wenn es nicht gut gelaufen ist, auch gerne mal anderen die Schuld zu geben. Das ist total in Ordnung. Man darf es halt nicht übertreiben und sollte ein bisschen realistisch bleiben. Aber ansonsten ist darin erst einmal nichts Schlimmes.
SPRECHERIN
Trotzdem: Rita hat für sich beschlossen, um rauszukommen aus der jahrelangen Selbstbehinderung, bleibt sie doppelt wachsam. Augen auf – bei sich und bei anderen.
22 ZU Rita (3.13)
Seitdem ich das bei mir entdeckt habe, sehe ich einige, die das haben. Und manchmal geht dann der Schuss nach hinten los, weil es too much ist. Und (4.40) es kommt irgendwann der Moment, da merkt man, das tut einem nicht gut und man merkt, dass man seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht verfolgen kann.
MUSIK
SPRECHER
Genau darum sollte es aber gehen: Eigene Wünsche erkennen.
SPRECHERIN
Sich ausprobieren, ohne die Sicherheitsausrede schon parat zu haben, um was immer passiert anderen und sich selbst ein positives Bild zu garantieren.
SPRECHER
Statt sich im Weg zu stehen, sich selbst zu behindert, auch mal aktiv den Kurs ändern, wenn der Pfad sich nicht mehr richtig anfühlt –
SPRECHERIN
Unterm Strich gilt schließlich: Nur wenn man alte Träume loslässt –
SPRECHER
Können neue wachsen.
Es sind nicht nur äußere Körpermerkmale, die Menschen schön machen, sondern auch Charakter und Sensibilität. Doch wie hängen Äußeres und Inneres zusammen? Und was macht schöne Menschen so anziehend? Zeigen sie eine 'schöne Seele‘? Die Antwort fällt in verschiedenen Kulturen und Zeiten unterschiedlich aus. Von Beate Meierfrankenfeld (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Beate Meierfrankenfeld
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Andreas Neumann, Friedrich Schloffer
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Lisa Katharin Schmalzried (PD Dr.; Universität Halle-Wittenberg / Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik);
Lia Darjes (Fotografin, Berlin)
Literaturtipps:
Lia Darjes, „Tempora Morte. A Documentary Still-Life Study of Kaliningrad’s Informal Street Markets”, Hartmann Books 2019.
Friedrich Nietzsche, „Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre“, Werke in sechs Bänden, herausgegeben von Karl Schlechta, Carl Hanser Verlag 1980.
Friedrich Schiller, „Über Anmut und Würde“, in: „Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik“, dtv/Carl Hanser Verlag 1975/1984, S. 44-93.
Lisa Katharin Schmalzried, „Menschliche Schönheit“, mentis Verlag (Herbst 2021).
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1
"Icefloe" - Komponistin und Ausführende: Zoë Keating - Album: Snowmelt - Länge: 0'40
ERZÄHLERIN:
Tiefschwarzer Hintergrund, davor – den Blick fest auf den Betrachter gerichtet – eine Frau. Nicht mehr jung, in braungrüner Winterjacke wohl auf einem Hocker sitzend. Ein pinkfarbenes Tuch, im Nacken zusammengebunden, auf dem Kopf, eine Tasche im Schoß, auf der ihre Hände liegen. Hände, die Arbeit gewohnt sind.
ERZÄHLER:
„Bildnis einer Marktverkäuferin“, Fotografie von Lia Darjes.
ERZÄHLERIN:
Ein klares, kraftvolles, intensives, ein schönes Bild. Von einem Menschen, den man beim ersten Hinsehen – und nach den gewohnten Maßstäben – vielleicht nicht unbedingt ‚schön‘ nennen würde.
ERZÄHLER:
Das Porträt gehört zur Serie „Tempora Morte“, die Lia Darjes, Fotografin aus Berlin, zwischen 2014 und 2016 in Kaliningrad aufgenommen hat. Am Straßenrand entdeckte sie dort während einer Künstlerresidenz kleine improvisierte Marktstände, an denen Obst, Gemüse und Blumen aus privaten Gärten verkauft wurde. Es brauchte einige Überzeugungsarbeit und mehrere Reisen, bis Darjes die Tische fotografieren durfte – und irgendwann auch die Menschen dahinter.
O-TON 1, LIA DARJES, Projekt Kaliningrad:
Das Misstrauen war da, dass ich das arme, verwahrloste Russland zeigen möchte, sozusagen diesen ganz westlichen, wohlhabenden Blick darauf werfen will, was Voyeuristisches. Und dann wurde es mit jeder Reise – also ich war insgesamt viermal dort in dem einen Jahr – wurde es mit jeder Reise leichter, weil ich immer Fotos mitgebracht habe und schon zeigen konnte: So möchte ich das fotografieren. Und mit jeder Reise wurde das leichter, dass sie verstanden haben, dass es eigentlich eher so eine Art kleine Huldigung ist.
ERZÄHLER:
Lia Darjes fotografierte die improvisierten Warentische wie barocke Stillleben: sattrote Früchte, helle Blüten, Fische auf Papier. Und die Verkäuferinnen und Verkäufer als herausgehobene Individuen in dunklem Umraum. Das erinnert an Porträts der Kunstgeschichte etwa in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts.
ERZÄHLERIN:
An Bildformate also, die das, was sie zeigen, „schön“ zeigen. Aber was ist das eigentlich, Schönheit? Und zeichnet die Schönheit des Menschen etwas Anderes aus als die von Dingen?
MUSIK 2
"Put off" - Künstler und Komponist: Rei Harakami - Album: Red Curb - Länge: 0'32
ERZÄHLER:
Schönheit liege, sagt ein Sprichwort, im Auge des Betrachters. Was erst einmal bedeuten kann, dass jeder nun einmal anderes schön finde. Richtig daran ist: Schönheit ist eine subjektive Erfahrung. Und das, obwohl Studien zeigen, dass bestimmte Merkmale für Schönheit im Sinne körperlicher Attraktivität immer wieder genannt werden – von unterschiedlichen Personen und sogar in unterschiedlichen Kulturen.
O-TON 2, LISA SCHMALZRIED, körperliche Merkmale:
Symmetrie scheint eine Rolle zu spielen, eine reine Haut scheint eine Rolle zu spielen, gewisse Körperproportionen sind entscheidend.
ERZÄHLER:
Erklärt die Philosophin Lisa Schmalzried vom Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik, die zur menschlichen Schönheit forscht. Bei Frauen gilt außerdem ein Gesicht nach dem Kindchenschema mit großen Augen durchschnittlich als schön, ebenso wie ein Taille-Hüft-Quotient von 0,7.
ERZÄHLERIN:
Doch auch wenn sich das so beziffern lässt – ein einfaches Rechenspiel mit Maßen und Proportionen ist Schönheit nicht.
O-TON 3, LISA SCHMALZRIED, Schönheitskriterien:
Was es nicht gibt, ist so ein Kriterienkatalog, den wir abarbeiten können. Also starre Schönheitsideale, Schönheitsregeln, wo ich sage, ich nehme jetzt irgendwie diese Maske, lege sie auf mein Gesicht und sehe meine Nase ist so und so viel Millimeter zu lang. Ich lasse sie korrigieren, dann bin ich schön. So funktioniert es nicht. Das heißt, es gibt gewisse Faktoren, also physische, körperliche Faktoren, die wir verändern können. Aber das gibt uns keine Garantie, dass wir tatsächlich schön werden.
ERZÄHLERIN:
Zu sagen, Schönheit sei nichts „Objektives“, bedeutet auch: Sie ist keine rein „objektiv“ gegebene Eigenschaft von etwas, so wie zum Beispiel Wasser eben die Eigenschaft hat, flüssig zu sein, oder ein Koffer fünfeinhalb Kilo wiegen kann. „Schön“ ist eher eine Beziehungsvokabel als ein einfaches Eigenschaftswort, und wer einen anderen Menschen „schön“ nennt, sagt damit ebenso viel über sich selbst.
ERZÄHLER:
Auch die Fotografin Lia Darjes antwortet auf die Frage, ob es ihr in der Arbeit mit Menschen um Schönheit gehe, sehr persönlich:
O-TON 4, LIA DARJES, Gesichter, die etwas erzählen:
Ich fühle mich hingezogen zu manchen Gesichtern oder zu manchen Gestalten. So ist es vielleicht eher, ein Impuls von: Den oder diejenige möchte ich gerne fotografieren, weil mich das fasziniert. Und ich glaube, es geht dann viel auch darum, dass man das Gefühl hat, Gesichter sprechen mich irgendwie an. Ich glaube, das klassische Schönheitsideal empfinde ich dann häufig vielleicht auch eher als langweilig.
ERZÄHLER:
Auch deshalb, weil dieses Ideal nicht selten simpel an Alter geknüpft wird – oder besser gesagt an Jugend.
O-TON 5, LIA DARJES, Jugend und Alter:
Und ich glaube, das ist für mich, wenn ich jetzt fotografiere, keine Kategorie. Also es ist für mich vollkommen unrelevant, ob jemand alt oder jung ist. Es geht da, glaube ich, eher darum, dass Gesichter irgendwie Geschichten erzählen.
ERZÄHLER:
Und vielleicht können das ältere Gesichter sogar besser als junge, blanke, glatte.
ERZÄHLERIN:
Jedenfalls aber ist die Suche nach menschlicher Schönheit eine komplexe Sehnsucht: im Sichtbaren, Sinnlichen dem auf die Spur zu kommen, was gerade nicht an der Oberfläche liegt – und ganz sicher nicht einfach zu vermessen ist.
MUSIK 3:
"Put off" - Künstler und Komponist: Rei Harakami - Album: Red Curb - Länge: 1'24
ZITATOR:
„Die Schönheit ist […] als die Bürgerin zweier Welten anzusehen“ …
ERZÄHLER:
… schrieb Friedrich Schiller 1793 in seinem Aufsatz „Über Anmut und Würde“.
ZITATOR:
„Ein glückliches Verhältnis der Glieder, fließende Umrisse, ein lieblicher Teint, eine zarte Haut, ein feiner und freier Wuchs, eine wohlklingende Stimme usf. sind Vorzüge, die man bloß der Natur und dem Glück zu verdanken hat.“
ERZÄHLER:
Die „Schönheit des Baus“ oder die „architektonische Schönheit des Menschen“ nennt Schiller das. Doch der Mensch ist eben nicht nur ein Naturwesen, sondern zugleich eine Person:
ZITATOR:
„Die Art seines Erscheinens ist abhängig von der Art seines Empfindens und Wollens, also von Zuständen, die er selbst in seiner Freiheit und nicht die Natur nach ihrer Notwendigkeit bestimmt.“
ERZÄHLERIN:
Was in der „Erscheinung“ des Menschen schön ist, soll also nicht nur der Körper sein, sondern auch die „schöne Seele“. Wer sie besitzt, ist auf eine freie, selbstverständliche, mühelose Weise er selbst – und strahlt genau das auch körperlich aus.
ERZÄHLER:
Die „schöne Seele“ ist ein Motiv, das im 18. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte, kulturgeschichtlich jedoch bis in die Antike zurückreicht, so die Philosophin Lisa Schmalzried:
O-TON 6, LISA SCHMALZRIED, schöne Seele Antike:
Bei Platon, in den platonischen Dialogen ist es so: Die schöne Seele steht über der physischen Schönheit. Platon hat so eine Stufenleiter des Schönen, und es beginnt eben mit der Schönheit einzelner Körper und steigt dann auf bis zur schönen Seele, die sehr nahe bei ihm an der Idee des Schönen ist. Und was wir eben in der Antike verwurzelt sehen, ist der Gedanke, dass wir den Charakter einer Person, die geistigen Fähigkeiten einer Person als schön bezeichnen können.
ERZÄHLERIN:
Dabei wird diese Schönheit, was von heute aus betrachtet nicht unbedingt naheliegend erscheint, eng mit Tugendhaftigkeit verbunden:
O-TON 7, LISA SCHMALZRIED, das Schöne und das Gute Antike:
Obwohl es in der Antike die Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Guten gibt, verschwimmt diese Unterscheidung eben in Bezug auf die schöne Seele: Die gute, die tugendhafte Seele wird, grob gesprochen, zugleich auch zur schönen Seele.
ERZÄHLER:
Im 18. Jahrhundert dann ist die schöne Seele bei Jean-Jacques Rousseau die natürlich empfindende Seele, die sich nicht verstellt, von Konvention und Gesellschaft aber immer wieder zur Verstellung genötigt wird. Immanuel Kant beschreibt Schönheit als „Ausdruck des Sittlichen“, Goethe widmet ein ganzes Kapitel im „Wilhelm Meister“ unter dem Titel „Bekenntnisse einer schönen Seele“ der Selbst-Suche eine Frau zwischen Liebe, Intellekt und Spiritualität.
ERZÄHLERIN:
Auch in all diesen Beschreibungen schwingt etwas Moralisches mit: Die schöne Seele als empfindsam, feinfühlig, in sich ruhend. Nicht abhängig vom Blick der Leute oder den Launen der Mode.
ERZÄHLER:
„Wahre Schönheit kommt von innen“, noch so ein geflügeltes Wort. Aber ist das nicht eigentlich eine Umdefinition der Schönheit? Ein schaler Trost gegenüber den Ungerechtigkeiten, die die Lotterie der Gene dem Körper auferlegt? So jedenfalls sah es Friedrich Nietzsche, der in einer bösen Kritik über die Theoretiker der „schönen Seele“ festhielt:
ZITATOR:
„Sie verachteten den Leib: sie ließen ihn außer Rechnung: mehr noch, sie behandelten ihn wie einen Feind. Ihr Wahnwitz war, zu glauben, man könne eine ‚schöne Seele‘ in einer Mißgeburt von Kadaver herumtragen […], bis endlich ein bleiches, krankhaftes, idiotisch-schwärmerisches Wesen als Vollkommenheit, […] als höherer Mensch empfunden wurde.“
ERZÄHLERIN:
Auf diesen Einwand ist zu antworten: Wenn man von „innerer Schönheit“ spricht, heißt das noch nicht, dass es auf das Äußere gar nicht ankäme. Sondern nur, dass das Äußere, unmittelbar Sichtbare eben nicht alles ist. Für Lisa Schmalzried macht gerade das menschliche Schönheit aus:
O-TON 8, LISA SCHMALZRIED, das Expressive:
Schönheit als ästhetische Eigenschaft hängt am Erscheinungsbild einer Person. Aber der zentrale Punkt ist zu sagen, dass das menschliche Erscheinungsbild nicht mit dem rein physischen Erscheinungsbild zusammenfällt, sondern wie eine andere Person uns auch rein sinnlich erscheint, hängt eben auch von expressiven Aspekten ab. Wir glauben in der Gestik, in der Mimik, teilweise vielleicht auch in den Mikro-Expressions, Hinweise auf den Charakter einer Person zu finden. Ich glaube, das können wir auch gar nicht ausblenden. Sobald wir eine Person als Person, als Menschen sehen, sind wir uns immer klar: Das Physische und das Expressive ist miteinander verschränkt, und dadurch spielt mehr in menschliche Schönheit rein als nur Körperlichkeit.
ERZÄHLERIN:
Das wäre dann auch ein Unterschied zwischen menschlicher Schönheit und der Schönheit von Dingen, für die diese Dopplung so nicht gilt. Oder allenfalls vermittelt: Wenn wir es etwa mit einem Kunstwerk zu tun haben, dann suchen wir darin vielleicht wieder nach dem Ausdruck menschlicher Erfahrung.
ERZÄHLER:
Schönheit als Individualität – das betont auch das Spiel mit kleinen Abweichungen von der Makellosigkeit: Schon im Rokoko klebte man sich künstliche Muttermale auf, die den Teint nur umso verführerischer strahlen lassen sollten. Und heute lächeln Models und Schauspielerinnen mit reizvollen Zahnlücken in die Kameras oder verzichten darauf, ihre zusammengewachsenen Augenbrauen zu korrigieren. Schönheit nicht als Perfektion, sondern als Persönlichkeit.
MUSIK 4:
"Icefloe" - Komponistin und Ausführende: Zoë Keating - Album: Snowmelt - Länge: 0'47
ERZÄHLERIN:
Ein schwules Paar auf einem eleganten Bett vor einer fliederfarbenen Wand. Der eine Mann trägt Hemd und Hose, der andere einen orientalischen Seidenanzug, beide blicken selbstbewusst in die Kamera. Zwei Katzen sind mit im Bild: eine schwarze, aufrecht im Vordergrund auf dem Laken sitzend, dem Paar zugewandt, eine graue rechts an das Bein des einen Mannes geschmiegt.
ERZÄHLER:
„El-Farouk und sein Ehemann Troy, Toronto“, Fotografie von Lia Darjes.
ERZÄHLERIN:
Ein stilisiertes, ästhetisch fein abgestimmtes Bild aus der Serie „Being Queer. Feeling Muslim“. Lia Darjes fotografierte queere Musliminnen und Muslime weltweit, in ganz unterschiedlichen Posen und Kompositionen, zu Hause, in der Moschee, in Nahaufnahmen der Figur oder zusammen mit sprechenden Attributen.
ERZÄHLER:
Die alte Idee, im Körper drücke sich die Seele aus, ist in der Fotografie noch immer lebendig. Denn Fotos zeigen das Äußere – und wollen mehr als das Äußere zeigen. Wie nähert sich Lia Darjes der Aufgabe, Menschen ins Bild zu setzen, ihnen Raum zu geben für ihre Geschichte und Persönlichkeit?
O-Ton 9, LIA DARJES, queere Muslime:
Von Projekt zu Projekt gehe ich da unterschiedlich vor. Bei den queeren Muslimen war das eine ziemliche Herausforderung für mich, weil es da eigentlich nicht so eine visuelle Komponente gab, die sich durchzog, sondern weil es eher von der Diversität gelebt hat. Und dann musste ich mir überlegen: Okay, wie gehe ich damit um? Und hab mich dann eben auch für eine ganz diverse Bildsprache entschieden, wo ich wirklich an jedem Ort neu geguckt habe: Wie baue ich ein Bild auf? Das sind tatsächlich sehr konstruierte Porträts. Aber auch dort fühle ich mich der Dokumentarfotografie verhaftet in dem Sinne: Ich schlepp jetzt niemanden in einen Raum, wo er gar nicht hingehört oder ich gehe nicht mit jemanden in ein Studio, sondern ich gucke dann einfach, was vor Ort ist, und dann ist das eigentlich auch so ein Miteinander.
ERZÄHLER:
Einen Menschen zu zeigen, heißt immer, ihn zu inszenieren. Und Mittel und Möglichkeiten der Inszenierung haben längst nicht mehr nur Fotografinnen. Mit den neuen digitalen Medien führt jeder und jede Regie in einer alltäglichen Bilderpolitik der eigenen Person – und das vor den Augen der ganzen Welt.
ERZÄHLERIN:
Damit verändert sich auch unser Blick auf menschliche Schönheit. Philosophin Lisa Schmalzried:
O-TON 10, LISA SCHMALZRIED, Bilder:
Schönheit ist ein gesellschaftlich riesengroßes Thema. Das sieht man daran, dass schöne Menschen medial überrepräsentiert sind, das sehen wir an den sozialen Netzwerken. Gekoppelt daran die ganzen Filter, die uns dort zur Verfügung stehen, um uns selbst zu inszenieren und auch unser eigenes Aussehen zu verändern.
MUSIK 5:
"Put off" - Künstler und Komponist: Rei Harakami - Album: Red Curb - Länge: 1'02
ERZÄHLER:
Farbfilter, Photoshop, digitale Übermalung und Retusche als Korrekturen der Wirklichkeit: Das muss man nicht kritisieren, weil es „unechte“ Bilder erzeugt – denn „echte“ Bilder gibt es vermutlich gar nicht. Und selbst wenn es sie gäbe: Warum sollten wir uns nicht so zeigen, wie wir gesehen werden möchten, wenn Schönheit doch mit Persönlichkeit und Selbstentwurf zu tun haben soll?
ERZÄHLERIN:
Das Problem ist weniger die Inszenierung selbst als die Art, wie sie in der inflationären Bildermasse des Digitalen funktioniert. Dass sie nämlich zu Standardisierung und Einheitlichkeit tendiert: zu Jugend, Glätte, dem offensiven Flirt mit der Kamera. Bildformate wie Selfies oder Menschen in Landschaften ähneln sich bis in die Details, Gesichtsausdrücke, Körperhaltungen, Gestik und Mimik werden wiederholt und nachgeahmt.
O-TON 11, LISA SCHMALZRIED, Medien und Bilder:
Durch diese Standardisierung, durch die Filter, durch die Art, wie man sich aufnimmt da wird der expressive Aspekt weggenommen, also die Individualität, die mit reinkommt, die wird zurückgenommen. Teilweise wirkt hier die Schönheit wenig menschlich und mehr maskenhaft.
ERZÄHLER:
Und Maskenhaftigkeit kann schon in sehr einfachen und sehr gängigen Bildkonventionen liegen, sagt Lia Darjes:
O-TON 12, LIA DARJES, Lächeln:
In der Popkultur oder auch einfach im Mainstream werden ja eigentlich nur noch lächelnde und freundliche Bilder akzeptiert. Und das ist etwas, was für mich als Fotografin – und ich weiß auch für ganz viele meiner Kolleginnen – keine Option ist. Dass nämlich irgendwie das Lächeln auch häufig so einen Zugang zu den Personen wie versperrt, also in der Fotografie natürlich, nicht in der Realität. Was für mich das ist, was Porträtfotografie ausmacht, dass man den Zugang zu Personen bekommt, die man nicht kennt, mit denen man nicht gemeinsam an einem Tisch sitzt. Und wenn Menschen lächeln, ist das irgendwie wie unterbrochen.
ERZÄHLERIN:
Eine interessante Beobachtung darüber, wie Bilder Individualität und Ausdruck einzufangen versuchen, das also, worauf es ankommt: Sie wollen keinen flüchtigen Moment erfassen, sondern – zugegeben, ein großes Wort – das Wesen eines Menschen.
ERZÄHLER:
Und die eigentlich unmögliche Kunst der Fotografie besteht darin, etwas von diesem Wesen genau in einem Moment einzufangen. Dazu muss Schönheit nichts Gefälliges oder Verbindliches haben. Sie muss nicht lächeln, sie kann kühl, vielleicht sogar verschlossen sein – und dennoch etwas preisgeben.
ERZÄHLERIN:
Diese Magie des Augenblicks hat auch eine dunkle Seite: Menschliche Schönheit ist vergänglich. Ihre Wahrnehmung durchzieht immer ein melancholisches „Noch“, das nicht weniger ist als eine Erinnerung an die Sterblichkeit – gegen die dann wieder die Intensität der Schönheit gefeiert werden will.
MUSIK 6:
"Put off" - Künstler und Komponist: Rei Harakami - Album: Red Curb - Länge: 1'01
ERZÄHLER:
Wir inszenieren uns nicht nur auf Bildern, sondern auch im Leben. In den Dingen, mit denen wir uns umgeben, in Kleidung und Habitus, Sprache und Gestik. Und auch hier lässt sich die Natur korrigieren: Das Pendant zu Photoshop wäre dann das Skalpell der Schönheitschirurgie.
ERZÄHLERIN:
Dabei ist, wie für die Bilder auch, das Natürliche selbst oder das „Echte“ noch kein gutes Argument gegen jeden Eingriff. Ein paar Falten zu glätten, abstehende Ohren anzulegen oder Lider zu straffen – wer das prinzipiell verwerflich findet, der müsste eigentlich auch gegen Schminke und Make-Up sein.
ERZÄHLER:
Wie Friedrich Schiller, wenn er von der „Toiletten-Schönheit“ spricht …
ZITATOR:
… „die am Putztisch aus Karmin aus Karmin und Bleiweiß, falschen Locken […] und Walfischrippen hervorgeht“.
ERZÄHLER:
Eine Bemerkung allerdings aus der Zeit einer sehr „künstlichen“ Mode, die den Körper mit Korsetts und schwere Perücken traktierte. Vielleicht stellte Schiller auch deshalb für seine ein wenig schwärmerische Idee von Anmut fest, sie dürfe nie kalkuliert oder auch nur bewusst aussehen, um nicht zur „nachgeahmten“ oder „gelernten“ Anmut zu werden ...
ZITATOR:
… „die ich die theatralische und die Tanzmeistergrazie nennen möchte.“
ERZÄHLER:
Man kann der Schönheit vielleicht nachhelfen, heißt das, sie aber nie erzwingen. „Jag sie, sie hört auf – Jag sie nicht, und sie verweilt“, schrieb die US-amerikanische Dichterin Emily Dickinson im 19. Jahrhundert in knappen Versen.
ERZÄHLERIN:
Und Dickinson hielt auch fest, es sei die Definition der Schönheit, sie nicht zu definieren.
Musik 7:
"Put off" - Künstler und Komponist: Rei Harakami - Album: Red Curb - Länge: 1'44
ERZÄHLER:
Was es also ist, was den Menschen schön macht, lässt sich so leicht nicht sagen. Schönheit entzieht sich – und zieht unwiderstehlich an. Anders als Kunstwerke betrachtet man schöne Menschen seltener mit „interesselosem Wohlgefallen“. Sie sind attraktiv und begehrenswert, vielleicht sogar dann, wenn ihnen niemals nahezukommen ist: Idole und Stars werden auch für ihre ferne Schönheit verehrt.
ERZÄHLERIN:
Tatsächlich ist die Schönheit, so hat sich gezeigt, in sehr unterschiedlichen Hinsichten „Bürgerin zweier Welten“, wie Schiller es formuliert hat: Schönheit entfaltet sich zwischen Subjekt und Objekt, einem Blick und einer angesehenen Person. Sie gehört zum Körper, ist aber auch der sinnliche Ausdruck von etwas Nicht-Körperlichem, das man Charakter, Inneres oder Seele nennen kann. Sie folgt einem allgemeinen Ideal, findet aber erst in der unverwechselbaren Individualität zu sich selbst. Sie ist sichtbar – und bleibt ein großes Geheimnis.
ERZÄHLER:
Und sie ist verletzlich, die Schönheit des Menschen, so wie der Mensch verletzlich ist.
MUSIK 8:
"Icefloe" - Komponistin und Ausführende: Zoë Keating - Album: Snowmelt - Länge: 0'32
ERZÄHLERIN:
Ein kleiner, sehr hellhäutiger Junge, eine Frau mit dunklen Haaren, ein mittelalter Mann: alle in Frontalporträts des Gesichts bis zur nackten Schulterpartie aufgenommen.
ERZÄHLER:
Fotoserie „Eo ipso“ von Lia Darjes, eine frühe Arbeit aus dem Studium.
O-TON 13, LIA DARJES, Eo ipso:
Meine Idee damals war, dass ich den Hintergrund der Hautfarbe anpasse. Und das ist dann tatsächlich in zwei Porträt-Sitzungen entstanden, nämlich immer in der ersten, wo ich mit Acrylfarbe den Hautton angemischt habe der Person, und im zweiten das Porträt gemacht habe und dadurch eigentlich so ein bisschen versucht habe, die Begrenzung der Person aufzuheben, wenn man so will: dass man ein ganz neutrales Bild schafft, wo eigentlich nichts mehr Außermenschliches stattfindet.
MUSIK 9
"Icefloe" - Komponistin und Ausführende: Zoë Keating - Album: Snowmelt - Länge: 0' 45
ERZÄHLERIN:
Fotografien, die die Personen buchstäblich aller Attribute ihres Alltagslebens entkleiden – und dennoch als erstaunliche Steigerung der Subjektivität wirken. Pures, nacktes Menschsein. Keine erotische Attraktivität, zugleich aber eine seltsame Anziehungskraft und Nähe. Diese Bilder halten das, was menschliche Schönheit ausmacht, in fragender Schwebe – als blickte man wirklich in Gesichter und in Seelen hinein.
ERZÄHLER:
Ein verheißungsvolles, ein unerfüllbares Versprechen.
Mit Romanen wie "Caspar Hauser" oder "Der Fall Mauritius" schuf Jakob Wassermann internationale Bestseller. Der deutsche Erzähler jüdischer Herkunft war einer der populärsten Autoren seiner Zeit. Doch dann verbrannten die Nazis seine Bücher. Von Dirk Kruse (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Dirk Kruse
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Annette Wunsch, Heiko Ruprecht, Florian Schwarz, Jenny Güzel
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Professor Dr. Gunnar Och (Literaturwissenschaftler, Nürnberg);
Dr. Alexander Mayer (ehemaliger Stadtheimatpfleger, Fürth);
Dr. Dierk Rodewald (Literaturwissenschaftler, Berlin)
Literaturtipps:
Beatrix Müller-Kampel, „Jakob Wassermann. Eine biographische Collage“ – Der Grundstein für die noch zu schreibende große literaturwissenschaftliche Wassermann-Biographie mit vielen Zitaten aus Wassermanns Umfeld.
Dierk Niefanger, Gunnar Och und Daniela F. Eisenstein, „Jakob Wassermann. Deutscher, Jude, Literat“ – reich bebilderte Sammlung mit Aufsätzen und Essays zu Leben und Werk Wassermanns.
Jakob Wassermann, „Mein Weg als Deutscher und Jude“ – die noch erhältliche Ausgabe im Jüdischen Verlag hat ein kluges Nachwort von Marcel Reich-Ranicki. Wassermann maßgebliches autobiographisches Werk.
Jakob Wassermann, „Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens“ – dieser schöne Roman, der auch historische Quellen auswertet, die aber im Wassermann-Erzählton präsentiert werden, ist noch im Cadolzburger Ars Vivendi Verlag erhältlich mit einem erhellenden Nachwort von Gunnar och lieferbar.
Jakob Wassermann, „Der Fall Maurizius“ – Wassermanns größter Erfolg von 1928. Die Geschichte eines Justizirrtums, die sich spannend wie ein Krimi liest.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wild Wild Web - Geschichten aus dem Internet
Wild Wild Web erzählt Geschichten aus dem Internet. Mal Wissenschaft, mal Tech, mal Investigativ-Recherche und mal Tier-Doku.
ZUM PODCAST
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zitator
Jakob Wassermann ist der Romancier von Geblüt. Hätte es vor ihm den Roman nicht gegeben, er wäre der Mann gewesen, ihn zu erfinden…
Sprecherin
Diese Eloge veröffentlichte Heinrich Mann anlässlich des 60. Geburtstags von Jakob Wassermann am 10. März 1933 in der „Neuen Rundschau“.
Zitator
… Für seinesgleichen setzt das Leben sich in Bewegung, um wunderbare Verwicklungen hervorzubringen. Der Roman behauptet bei ihm seinen volkstümlichen Sinn, Spannung, Geheimnis, Enthüllung, großer Aufbau, die Befriedigung durch deutliche Handlungen…
Sprecherin
Auch die Freunde und Kollegen Thomas Mann, Stefan Zweig, Hermann Hesse und Alfred Döblin gratulierten dort feierlich.
Zitator
… - und in dem allen schlägt fortwährend ein Herz, wacht immer ein menschlich bemühter Geist und offenbart sich ein herrlicher Dichter.
Sprecherin
Nur zwei Monate später wurden die Bücher Jakob Wassermanns, und die der meisten Glückwünschenden, von den Nationalsozialisten auf öffentlichen Scheiterhaufen verbrannt. Doch während viele der damals verfemten und verfolgten Autoren heute immer noch gelesen werden, ist das Werk Jakob Wassermanns trotz einiger Wiederbelebungsversuche kaum noch präsent. Dabei war Wassermann im ausgehenden Kaiserreich und in der Weimarer Republik einer der meistgelesenen, deutschsprachigen Erzähler. Ein internationaler Bestsellerautor, der unterhaltsam schrieb, ohne ein Unterhaltungsschriftsteller zu sein. Mit dem Schlachtruf "Der neue Wassermann ist eingetroffen!" stürzten die Leser damals in die Buchhandlungen und schnappten sich den neusten Roman des fränkischen Autors gegenseitig aus den Händen, versicherte ein Rezensent 1931. Sein Freund Thomas Mann bezeichnete ihn sogar als „Weltstar des Romans“.
Wer war dieser Autor, der sich in die Herzen seiner Leserinnen und Leser schrieb, und der heute nur noch wenigen etwas sagt?
MUSIK 2 ( Fiona Brice: And You Know I Care 0‘55)
Sprecherin
Jakob Wassermann wird am 10. März 1873 in Fürth geboren.
Zitator Wassermann
Erstickend in ihrer Engigkeit und Öde die gartenlose Stadt, Stadt des Rußes, der tausend Schlöte, des Maschinen- und Hammergestampfes, der Bierwirtschaften, der verbissenen Betriebs- und Erwerbsgier, des Dichtbeieinander kleiner und kleinlicher Leute, der Luft der Armut und Lieblosigkeit im väterlichen Haus.
(Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude)
Sprecherin
Wassermann wächst in kleinbürgerlichen, ärmlichen Verhältnissen auf. Sein kühler Vater, ein jüdischer Kurzwarenhändler, hat geschäftlich Pech, so dass die Familie innerhalb Fürths mehrfach die Wohnung wechseln muss. Am längsten lebt der kleine Jakob in der Theaterstraße 17, in der jetzt der ehemalige Fürther Stadtheimatpfleger Alexander Mayer wohnt. Heute ein schmuckes Gründerzeithaus mit renovierter Sandsteinfassade. Damals steht es inmitten rußgeschwärzter Häuser im Herzen der fränkischen Industrie- und Handwerksstadt, so Mayer.
O-Ton 1 Alexander Mayer
Er hat über Fürth ja meistens sehr negativ geredet. Fürth war die „Stadt der tausend Schlöte“, so wie er es beschrieben hat. In jedem Hinterhof war ein Schlot. Hier war ein Gehämmer und Gestampfe und die Häuser waren schwarz. Das war für ihn nichts als sensiblen Jungen, vor allem auch, weil hier in der Wohnung seine Mutter mit 32 Jahren an Mittelohreiterung tragisch starb. Und er beschreibt auch den Leichenzug rüber zum jüdischen Friedhof, wie also die Goldschläger und Messingschläger vor die Tür treten und den Leichenzug begleitet haben mit Tränen in den Augen. Das beschreibt er in seinem Roman „Engelbert Rathgeber“ und in seiner ersten Novelle „Schläfst du Mutter?“.
Sprecherin
Der Tod der geliebten Mutter bedeutet für den Neunjährigen das Ende der behüteten Kindheit. Der Vater heiratet schnell wieder, doch Jakobs Stiefmutter benimmt sich ähnlich böse wie die im Märchen.
Zitator Wassermann
Die zweite Frau meines Vaters war uns Kindern aus erster Ehe nicht wohlgesinnt und ließ uns ihre Abneigung auf jede Weise spüren. Abgesehen von ungerechten und überharten Züchtigungen, steten Klagen, die sie vor dem Vater führte, schränkte sie die Nahrung aufs äußerste ein, versah die Brotlaibe mit Zeichen, so dass sie erkennen konnte, wenn einer von uns sich zu Unrecht ein Stück abgeschnitten hatte, und trug Sorge, dass das Vergehen schwer bestraft wurde.
(Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude)
Sprecherin
Der phantasiebegabte Junge erzählt und schreibt gerne Geschichten. Doch statt ihn zu fördern, wird sein Talent mit Gewalt unterdrückt.
O-Ton 2 Alexander Mayer
Er ging ja um die Ecke in die Schule, in die Königliche Realschule, später Hardenberg-Gymnasium. Da hat er ja sein erstes literarisches Werk in einer Zeitung veröffentlicht. Dafür hat er aber gleich Karzer bekommen, weil das für einen Schüler ungehörig war. Und auch der Vater war, wie Wassermann schreibt, im ersten Moment stolz auf ihn und dann zuckt er und sagt das ist ungehörig. Und ab da gab es nur Ärger. Und er hat immer Angst gehabt, dass eine Stiefmutter ihm seine Manuskripte verbrennt. Angeblich hat er deshalb so klein geschrieben, damit er sie gut verstecken kann überall.
MUSIK 3 (Fie Schouten: Press Release 0‘50)
Sprecherin
Mit 17 Jahren entflieht Jakob Wassermann seiner Heimatstadt Fürth, bricht eine Kaufmannslehre in Wien ab und träumt davon Schriftsteller zu werden. Er erlebt üblen Antisemitismus beim Militärdienst in Würzburg und vagabundiert, verstoßen von der Familie, in Hunger und Armut als Bohemien durch Süddeutschland, bis er schließlich Sekretär des Münchener Autors Ernst von Wolzogen wird. Dem legt er schließlich schüchtern das Manuskript eines Romans zur Begutachtung vor.
Zitator
Ein echter Dichter sprach daraus. Merken Sie sich den Namen: Jakob Wassermann! Er wird berühmt. Und ist er es, dann denken Sie daran, dass ich es Ihnen heute sagte.
Sprecherin
Ernst von Wolzogen fördert den Jungautor und stellt ihn seinem Verleger Albert Langen vor, wo 1896 Wassermanns erster, noch unbedeutender Roman „Melusine“ erscheint. Aber Wassermann hat Talent, so der Nürnberger Germanist Gunnar Och.
O-Ton 3 Gunnar Och
Er ist ein Erzähler von Geblüt. Das sagt auch Thomas Mann. Er ist tatsächlich einer, sagt Thomas Mann, der könnte auf dem Markt sitzen und die Leute würden ihm zuhören. Da liegt sein Talent. Er selber sagt ja, er hätte schon seinen Geschwistern die Ängste vertrieben. Da wäre das Scheherazade-Motiv. Er hat immer aufgehört und am nächsten Tag weitererzählt. Er ist schon einer, der gerne fabuliert.
MUSIK 4 ( Gustav Mahler / Chimaera Trio: Ablösung im Sommer 1‘10)
Sprecherin
Wassermann veröffentlicht Novellen, Theaterstücke und mit „Die Juden von Zirndorf“ einen beeindruckenden zweiten Roman. Wegen einer unglücklichen Liebegeschichte verlässt er München und geht nach Wien. Dort stößt er in die Literatenkreise vor und befreundet sich eng mit Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler. Über die neuen Freunde lernt er Samuel Fischer, den berühmtesten und erfolgreichsten Verleger der damaligen Zeit kennen. Natürlich hat Wassermann ein fertiges Manuskript dabei, wie sich die Verlegergattin Hedwig Fischer erinnert.
Zitatorin
Der dunkle Jüngling, der aussah wie ein Savoyardenknabe, war ein Franke aus Fürth. Seine früh verstorbene Mutter muss eine besondere Schönheit gewesen sein, und sicher hatte Wassermann seine funkelnden schwarzen Augen und sein zigeunerhaftes Wesen von ihr. Das Buch gefiel uns so gut wie sein Autor, mein Mann nahm das Werk an, und das bedeutete bei ihm immer die Gesamtveröffentlichung des Verfassers. Jakob Wassermann wurde einer unserer erfolgreichsten Schriftsteller.
Sprecherin
Dieser erste Roman bei S. Fischer „Die Geschichte der jungen Renate Fuchs“ erscheint 1901 und wird ein schöner Verkaufserfolg. Endlich geht es für den ewig klammen Autor auch finanziell bergauf, was mehr noch an der stattlichen Mitgift liegt, die Fabrikantentochter Julie Speyer mit in die Ehe bringt. Doch mit Geld umgehen können beide nicht. Sie leben über ihre Verhältnisse und werfen sich gegenseitig Verschwendung vor, so der Literaturwissenschaftler Dierk Rodewald, der seit Jahren an einer kommentierten Edition der Tagebücher Wassermanns arbeitet.
O-Ton 4 Dierk Rodewald
Wenn Wassermann wandern ging, was er sehr gerne tat, weil er dann die Romane, wie er immer wieder betonte, träumte, dann bemisst sie das Reisegeld. Und er muss dann Rechenschaft ablegen, dass er die teure Fahrkarte genommen hat. Nein, schreibt er, er habe die billige Fahrkarte genommen. Und dass er ganz karg lebt. Also sie hält ihn kurz. Sie ist der Finanzminister.
Sprecherin
Es ist keine einfache Ehe mit der fordernden und kontrollwütigen Julie. Doch ist sie nicht ohne Grund misstrauisch. Der sensible Autor mit dem melancholischen Blick wird von Leserinnen umschwärmt.
O-Ton 5 Dierk Rodewald
Er verliebte sich dauernd. Und die Frauen verliebten sich in ihn. Und die sind auch alle irgendwie in einem Roman vorgekommen. Er hatte ziemlich viele Beziehungen zu Frauen nebenher neben der Ehe. Dass hat seine Ehefrau Julie aber gefördert, damit er bei ihr bleibe. Sie hat damit sogar angegeben hin und wieder. Gegenüber Schnitzler hat sie mal gesagt: Und er hat jetzt sogar eine Gräfin.
Sprecherin
Doch nicht die Frauen, sondern das Schreiben hat für Wassermann höchste Priorität. Mit einem Bein im 19. Jahrhundert stehend, aber die literarische Moderne begierig aufsaugend, sucht er seinen Erzählton.
Zitator Wassermann
Kunst machen heißt: verzehrt werden. All mein Geschaffenes der letzten Jahre müsste verbrannt werden, - doch wer kann auf den Berg kommen, ohne von unten angefangen zu haben! Ich will erschüttert sein und Andere erschüttern!
MUSIK 5 (Django Reinhardt Trio: I’ll See You In My Dreams 1‘15)
Sprecherin
Literarisch ambitionierte Romane wie „Der Moloch“ oder „Alexander in Babylon“ floppen beim Publikum und Wassermann sorgt sich nicht zu Unrecht um seine Finanzen. Doch dann findet er in seiner fränkischen Heimat den Stoff zu einem neuen Erfolgsroman. Er recherchiert über das wohl berühmteste Findelkind Europas und schreibt 1908 mit „Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens“ einen echten Longseller. Spätestens mit dem Nürnberger Künstlerroman „Das Gänsemännchen“ von 1915 kommt die Wassermannsche Bestsellerproduktion dann so richtig in Fahrt. Dabei hilft ihm auch, dass er zu seiner eigenen großen Enttäuschung wehruntauglich ist. Die Jahre des Ersten Weltkriegs erlebt er nicht an der Front. Stattdessen publiziert Wassermann unermüdlich im Jahrestakt und schreibt einen gut verkauften Roman nach dem anderen: „Christian Wahnschaffe“, „Faber oder die verlorenen Jahre“, „Laudin und die Seinen“ bis hin zum größten seiner Erfolge „Der Fall Maurizius“ im Jahr 1928. Bücher, die auch heute noch zur Lektüre taugen, so Dierk Rodewald.
O-Ton 6 Dierk Rodewald
Weil er gut erzählen kann. Es ist so interessant, wenn ein Roman von Wassermann anfängt, dann fängt der mit etwas scheinbar ganz Nebensächlichem an, das aber direkt in die Mitte des Problems führt. Das ist technisch großartig gemacht. Und außerdem, das ist ja ein billiges Vergnügen von mir, sind die Sachen spannend. Und dann hat mich immer interessiert, dass er schriftstellerisch und stilistisch so wandelbar war. Der hat nicht einen eigenen Ton entwickelt. Er hat mit jedem neuen Buch eine neue Erzählform gefunden.
Sprecherin
Mit dem großen Erfolg kommt der Neid der Kollegen. Auch die Freunde sind nicht ganz frei davon. Selbst Thomas Mann schielte mitunter neidisch auf Wassermanns hohe Auflagen und witterte Konkurrenz, weiß der Germanist Gunnar Och.
O-Ton 7 Gunnar Och
Als der „Christian Wahnschaffe“ entstanden war, ist das ganz spannend in den Thomas Mann‘schen Tagebüchern nachzulesen. Thomas Mann arbeitet am Zauberberg und sieht dann den „Christian Wahnschaffe“ erscheinen und hat wirklich Angst, dass ihm jetzt das Wasser abgegraben wird. Das kommt einem völlig absurd vor, weil „Wahnschaffe“ kein guter Roman ist. Aber es sind verwandte Bestrebungen erkennbar. Und auf den ersten Seiten ist Thomas Mann ganz betroffen. Dann liest er weiter und steigert er sich rein: das taugt nichts. Am Schluss sagt er: was für ein Mist. Aber am Anfang ist die Angst groß, dass ihm da einer die Show stiehlt.
MUSIK 6 (Fiona Brice: Retreat 1‘10)
Sprecherin
Die Literatenfreunde nehmen den sozialen Aufsteiger aus der bayerischen Provinz nicht immer ganz für voll. Man mokiert sich über seine fränkische Aussprache, die Seitensprünge und Ehekräche, das ständige Notizenmachen auf der Suche nach neuen Erzählstoffen, die ewigen Geldsorgen. Im Grunde genommen bleibt Wassermann ein Außenseiter. Auch unterschwelliger Antisemitismus spielt da womöglich eine Rolle. Wassermann hat sensible Antennen dafür. In seinem autobiographischen Essay „Mein Weg als Deutscher und Jude“, seinem heute vielleicht wichtigsten Buch, beschreibt er schon Anfang der 20er Jahre sehr hellsichtig den täglichen Judenhass und die Unmöglichkeit trotz aller Integrationsanstrengungen als Deutscher akzeptiert zu werden.
Zitator Wassermann
Am Rand der Gesellschaft stehend, haarbreit neben dem Abgrund, galt ihr meine Sehnsucht. Das Verlangen, von ihr aufgenommen und anerkannt zu werden, als Gleicher unter Gleichen, überwog jedes andere.
Sprecherin
„Mein Weg als Deutscher und Jude“ ist ein ergreifendes Zeitdokument. Eine Anklage an die Gesellschaft und bekenntnishaft, weil der Autor sich selbst nicht schont.
O-Ton 8 Gunnar Och
Was ihn immer interessiert hat, ist die Psychologie des Antisemitismus, vor allem in der Rückwirkung auf Juden. Und dieses Thema schildert er an der eigenen Person. Wie es ihn etwa gekränkt hat als er in Würzburg beim Militär mit dem Antisemitismus der einfachen Leute in Kontakt gekommen ist. Oder im literarisch-kulturellen Bereich mit dem Antisemitismus der Literaturkritik konfrontiert wurde. Und dann hinterfragt er, was das für die eigene Psyche und Identität bedeutet. Und da fällt der schöne Ausdruck, das alles sind „Engramme des Leidens“. Dadurch ist buchstäblich etwas in den Körper eingeschrieben und er sieht da auch eine seelische Verkrüppelung.
Zitator Wassermann
Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören, Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage.
Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul.
Es ist vergeblich, unter ihnen zu gehen und ihnen die Hand zu bieten. Sie sagen: was nimmt er sich heraus mit seiner jüdischen Aufdringlichkeit?
Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches.
Es ist vergeblich für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: er ist ein Jude.
Sprecherin
Thomas Mann findet diesen Klageschrei seines Freundes aus dem Jahr 1921 übersensibel und hypochondrisch und hält den Antisemitismus für ein schwaches Pflänzchen ohne tiefe Verwurzelung. Ein Irrtum, den er zwölf Jahre später, als die Nationalsozialisten die Macht ergreifen, beschämt eingesteht. „Mein Weg als Deutscher und Jude“ ist noch heute, hundert Jahre später, von einiger Aktualität.
MUSIK 7 (Philip Glass: The Cockney Brothers 1‘10)
Sprecherin
Jakob Wassermann ist Ende der 20er Jahre auf dem Höhepunkt seines Ruhms, geht auf ausverkaufte Vortragsreisen nach Schweden, Holland und in die USA, doch innerlich fühlt er sich müde und verbraucht. Julie, von der er sich nach langen Jahren des zermürbenden Rosenkriegs endlich hat scheiden lassen, überzieht ihn auch danach mit überhöhten Geldforderungen und einer Flut von gerichtlichen Klagen. Sie akzeptiert Wassermanns zweite Ehe mit der Autorin Marta Karlweis nicht und verschleißt über 20 Rechtanwälte, die ihr Exmann ironischerweise auch noch zahlen muss. Trotz hoher Einkünfte bricht Wassermann unter der Last, die eigene Villa in Aussee und die seiner Exfrau Julie in Wien zu finanzieren, fast zusammen.
Zitator Wassermann
Marta will unser Leben auf eine schmalere Basis stellen. Aber wie? Leute entlassen, die dann brotlos werden? Sie spricht sogar vom Verkauf des Hauses. Unvorstellbarer Gedanke.
Sprecherin
Wassermann reibt sich auf vor lauter Schreibarbeit, um Geld ranzuschaffen. Seine Gesundheit ist zerrüttet, er hat Diabetes, ein Nieren- und ein Herzleiden und benötigt kostspielige Krankenhaus- und Kuraufenthalte. Dazu kommt die zunehmende Vereinsamung. Nacheinander sterben die Freunde, zuerst sein Lektor Moritz Heimann, dann Hugo von Hofmannsthal, schließlich Arthur Schnitzler. Und die politische Lage verdüstert sich zusehends. Der Aufstieg der Nationalsozialisten scheint unaufhaltsam.
MUSIK 8 (Owen Devlin: Transcendence 1’00)
Als Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wird, und Deutschland binnen Monaten in eine Diktatur verwandelt, wird es finster für den Autor. Doch sein Verleger beschwichtigt Wassermann, obwohl der Absatz seiner Bücher drastisch zurückgeht und eine Lesereise durch Deutschland abgesagt wird.
Zitator Wassermann
Deine Mahnung, ich soll Ruhe bewahren, kommt mir so vor, wie wenn Du jemand, dessen Haus in Brand steht, zurufen würdest, er solle sich zunächst ins Bett legen und abwarten. Du schreibst, Du teilst nicht meine Besorgnis, dass durch neue Gesetze und dergleichen eine Beeinträchtigung der Vertragserfüllung erfolgen könnte. Ich wiederum kann hierin Deinen Optimismus nicht teilen.
Sprecherin
Natürlich hat Wassermann recht. Als jüdischer Autor werden seine Bücher in Deutschland verboten, aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt und verbrannt. Ende November 1933 lässt S. Fischer seinen einstigen Bestsellerautor dann sang und klanglos fallen. Die Einkünfte versiegen, während gleichzeitig Exehefrau Julie die Wassermannsche Villa pfänden lassen will. Ausgelaugt und zutiefst deprimiert stirbt Jakob Wassermann in der Nacht zum 1. Januar 1934 an einem Herzanfall.
MUSIK 9 (Ryuichi Sakamoto: disintegration 0’55)
Zitator
Wassermanns Tod ist ein Schreck und eine Trauer. Merkwürdigerweise ist das Erschreckende diesmal gerade, dass man es so deutlich kommen sah und so grausam voraussagte, er machte die letzten Male ja einen betrüblichen Eindruck. Schauerlich ist der sogenannte Lebensabend, den dieser Mann hatte, der sich mit seinem enormen Ehrgeiz sehr hoch heraufgearbeitet hatte, um schließlich wieder auf die gemeinste Art zu stürzen und wieder ganz arm zu sein – durch die Schuld einer verrückten Frau und eines verrückten Diktators.
Sprecherin
Das schreibt Klaus Mann dem Kollegen Hermann Kesten. Beide Schriftsteller waren da schon im Exil. Wenigstens das bleibt Jakob Wassermann durch seinen frühen Tod erspart. Den Mord an Millionen deutscher und europäischer Juden muss er nicht mehr erleben. Posthum erscheint 1934 noch der letzte große Roman „Joseph Kerkhovens dritte Existenz“ im Exilverlag Querido in Amsterdam, dann wird es still um Jakob Wassermann.
O-Ton 10 Gunnar Och
Es gab eine große Ungerechtigkeit nach 1945. Da sind viele andere allmählich wieder aufgetaucht, Feuchtwanger, Zweig, Werfel, Schnitzler und andere. Und das ist zunächst an Wassermann vorbeigegangen. Da hat wohl auch die Familie Anteil. Der Sohn hat die Rechte relativ billig an Buchclubs verramscht. Da gabs dann keine Kontinuität in der Veröffentlichung. Man hat auch nichts mehr aus dem Nachlass publiziert, was auch möglich gewesen wäre. Also, es ist kein Autor der ersten Reihe. Das muss man deutlich sagen. Aber ein sehr respektabler Autor der zweiten Reihe, der mit einzelnen Texten auf jeden Fall nochmal gelesen zu werden verdient.
Sprecherin
An die Qualität von Schnitzler, Hofmannsthal, Rilke oder Thomas Mann reicht Wassermann nicht heran. Dazu hat sich zu viel Staub auf seiner Prosa abgesetzt. Aber mit Feuchtwanger, Werfel, Zweig oder Heinrich Mann kann er es durchaus aufnehmen. Alle Bemühungen Wassermann ab den 70er Jahren wieder für ein Lesepublikum zugänglich zu machen sind bislang gescheitert.
MUSIK 10 (Hannes Hugo: Tramonto 0‘50)
Derzeit sind fast alle Bücher nur noch antiquarisch oder als Print-on-Demand in schlechten Druckfassungen erhältlich. Dabei lohnt sich eine Lektüre. „Caspar Hauser“, „Der Fall Maurizius“ und „Mein Weg als Deutscher und Jude“ sollte man unbedingt gelesen haben. Die Bedeutung Wassermanns, so Dierk Rodewald, liegt…
O-Ton 11 Dierk Rodewald
In der gekonnten Praktizierung der Lust, den Menschen etwas zu erzählen, was nicht ohne humanen Sinn ist. Er wollte schon, dass die Menschen etwas davon haben, wenn sie seine Romane lesen. Also dass es sie bereichert in irgendeiner Weise. Wobei er niemals wollte, dass man ihn als moralischen Autor betrachtet. Das ganz gewiss nicht.
Dinkel liegt schon länger im Trend, auch Emmer und Einkorn machen Karriere - alle drei sind nahe Verwandte des Weizens. "Urgetreide" sorgt für mehr Vielfalt auf dem Acker und auf dem Tisch. Von Renate Ell (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Ell
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Christian Schuler
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Dr. Friedrich Longin, Leiter der Arbeits¬gruppe Weizen, Landessaatzuchtanstalt, Universität Hohenheim, Stuttgart
Susanne Geisenhofer, Bio-Landwirtin, Reichertshausen an der Ilm
Andreas Karl, Backstubenleiter, Bäckerei Breitner, Pfaffenhofen an der Ilm
Prof. Dr. Dr. Detlef Schuppan, Direktor des Insti¬tuts für Translationale Immunologie und Leiter der Ambulanz für Zöliakie, Dünndarmerkrankun¬gen und Autoimmunität, Universität Mainz
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Prof. Friedrich Longin hat Backrezepte für Dinkel, Emmer und Einkorn veröffentlicht, kostenlos im Internet.
Friedrich Longin, Charlotte Grill: "Mein Brot. Einfach. Gut." HIER
Link zur Uni Hohenheim HIER
Link zum Institut für Translationale Immunologie HIER
Urgetreide in der Weihnachtsbäckerei HIER
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Der historisch erste Streik ereignete sich im alten Ägypten. Doch in welchen Epochen wurde am härtesten um Verbesserungen der Arbeitsbedingungen gekämpft? In welchen Ländern wird besonders viel gestreikt? Und welche Streiks waren am erfolgreichsten? Klar ist: Streiks sind ein wichtiger Faktor des sozialen Fortschritts. Von Georg Gruber (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Georg Gruber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Inka Kübel, Andreas Neumann
Technik: Tim Höfer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Linktipps:
Zu den Streikkosten von Lufthansa September 2022:
tagesschau.de | BEITRAG JETZT LESEN
Streikkosten gesamtwirtschaftlich pro Streiktag sind schwer zu errechnen:
mdr.de | BEITRAG JETZT LESEN
Literaturtipps:
Michael Kittner, Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart, Verlag C.H.Beck, 2005
Umfangreiches Buch, eine Gesamtdarstellung über Arbeitskämpfe und Streikgeschehen, vom alten Ägypten bis zur Gegenwart.
Streik. Realität und Mythos, herausgegeben im Auftrag des Deutschen Historischen Museums von Agnete von Specht, Argon Verlag, 1992.
Nur noch antiquarisch, interessant wegen der Darstellung von Streiks und Arbeitskonflikte in Gemälden und Zeugnissen aus verschiedenen Jahrhunderten.
Alexander Gallas, Exiting the Factory. Strikes and Class Formation Beyond the Industrial Sector, Bristol University Press 2024.
Habilitationsschrift von Alexander Gallas über Streiks in postindustriellen Gesellschaften.
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Es begann mit Diskriminierungen und endete in der Ermordung. Über Jahre hinweg betrieb das NS Regime die Ausgrenzung der jüdischen Deutschen, isolierte sie gesellschaftlich, vernichtete sie wirtschaftlich, deportierte sie dann während des Zweiten Weltkrieges in den besetzten Osten und ermordete sie dort.
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Amberger, Burchard Dabinnus
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Ernst Grube, Zeitzeuge
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Literatur:
Stadtarchiv München (Hsg): "…verzogen, unbekannt wohin" Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941. Zürich, 2000. Detaillierte Darstellung mit Fotos und Dokumenten
Maximilian Strnad: Zwischenstation Judensiedlung. Verfolgung und Deportation der jüdischen Münchner 1941-45. München 1941
Akribisch recherchierter Überblick über das Barackenlager Milbertshofen: Bau, Nutzung, Ablauf der Deportationen
Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt 2005.
Umfassende Darstellung des Zusammenspiels zwischen Judenverfolgung und Bereicherung des NS Staates bzw. der nichtjüdischen Bevölkerung
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Im Mittelalter galt er als böses Omen. Dabei steckt hinter Blutregen und Blutschnee nur Saharastaub. 200 Millionen Tonnen trägt der Wind pro Jahr bis in die Arktis. Der Staub kann unter Umständen der Gesundheit schaden. Aber er ist auch ein wertvoller Dünger und sorgt für Regen. Von Roana Brogsitter
Credits
Autorin dieser Folge: Roana Brogsitter
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Julia Fischer
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Patric Seifert, Leibniz-Institut für Troposphärenforschung
Prof. Anke Friedrich, Institut für Geologie Ludwig-Maximilians-Universität München
Prof. Dennis Nowak, Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Leibniz-Institut für Troposphärenforschung HIER und HIER
Deutscher Wetterdienst HIER
Deutsche Meterologische Gesellschaft HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Am 26. Mai 1554 kam es in der mittelfränkischen Stadt Dinkelsbühl zu einem seltenen Naturereignis. Es regnete Blut vom Himmel. So viel, dass sich die Wäsche, die zum Trocknen vor dem Stadttor hing, rot verfärbte. Der sogenannte Blutregen sorgte für Angst und Schrecken. Kündigte er Krieg und Blutvergießen an? Gott möge gnädig und barmherzig sein, bittet der Autor des Textes, der von dem Ereignis berichtet. Ergänzt werden seine Zeilen durch eine bildliche Darstellung des Blutregens, angefertigt vom Nürnberger Buchdrucker Hans Glaser. Das Original liegt heute in der Zentralbibliothek Zürich.
MUSIK (kurz hochziehen)
SPRECHERIN
Seit der Antike gibt es zahlreiche Belege für Blutregen. Roms berühmtester Redner Cicero berichtete beispielsweise im letzten Jahrhundert vor Christus, dass ein Effekt wie Blut entsteht, wenn sich Wasser mit bestimmten Bodenarten vermischt, die vom Südwind herangeweht werden. In Friedenszeiten würde das kaum einer bemerken, so Cicero sachlich, in Zeiten von Angst und Gefahr dagegen würde es als Vorzeichen interpretiert. So war es noch mehrere hundert Jahre später, als 580 zufällig nach einem Blutregen in Paris die Pest ausbrach.
1 O-TON SEIFERT
Es wurde genutzt, um Angst zu machen. Wenn ein König gestorben ist, wenn es einen Unfall gab, wenn es eine Krankheit gab von einer wichtigen Person, und es gab dann zufällig diesen Blutregen, dann war das ein Omen. Die dokumentierten Ereignisse treffen nahezu immer mit gesellschaftlichen oder kulturellen politischen Ereignissen zusammen. Dann haben eben Historiker dieses Ereignis genutzt, um die Dramatik zu erhöhen.
MUSIK: Skyline 0‘22
SPRECHERIN
Der Meteorologe Dr. Patric Seifert arbeitet am Leibniz-Institut für Troposphärenforschung, kurz TROPOS, und beschäftigt sich intensiv mit dem Phänomen Saharastaub, das die Ursache von Blutregen ist.
2 O-TON SEIFERT
Der Staub befindet sich bevorzugt in den untersten sechs Kilometern Höhe, kann aber sporadisch auch bis an den Oberrand der Troposphäre reichen, also bis in eine Höhe von zwölf oder 13 Kilometern.
SPRECHERIN
Rund eine Milliarde Tonnen Saharastaub landen Jahr für Jahr in der Atmosphäre. Zur Veranschaulichung: Wenn man diese Menge gleichmäßig über Deutschland verteilen würde, lägen am Ende rund 2,8 Kilogramm Staub auf jedem Quadratmeter Boden. Zum Glück verteilt er sich aber großräumig – vom äußersten Süden der Erde bis in den höchsten Norden, erklärt Patric Seifert.
3 O-TON SEIFERT
Es ist nicht untypisch, dass auch die Arktis von Wüstenstaub getroffen wird. Also wir haben selber mit unseren Messgeräten auch über der Arktis Wüstenstaub Ausbrüche beobachtet. Es gibt auch auf Spitzbergen eine
Beobachtungsstation, wo durchaus mehrere Male im Jahr Wüstenstaub Ausbrüche beobachtet werden.
SPRECHERIN
Spitzbergen liegt Luftlinie rund 5.800 Kilometer vom Zentrum der Sahara entfernt. Die Wüste bedeckt über 9,2 Millionen Quadratkilometer Afrikas und erstreckt sich über elf Länder - von der Atlantikküste im Westen bis zum Roten Meer im Osten und vom Mittelmeer im Norden bis zur Sahelzone im Süden. Wie kommt der Staub von hier bis nach Spitzbergen?
4 O-TON SEIFERT
Besonders häufig treten Saharastaubausbrüche auf, wenn die Wetterküche sehr aktiv ist. Und das ist meistens im Frühjahr und im Herbst. In diesem Zeitraum reichen die Tiefdruckgebiete häufig bis in die Wüstenregion hinein. Und wenn dann so ein Tiefdruckgebiet über die Sahara hinwegzieht, dann kommt es eben auch zu den entsprechenden starken Winden und diesbezüglich dann auch zur Emission von dem Saharastaub in die Atmosphäre.
ATMO STURM
SPRECHERIN
Tiefdruckgebiete, die sich entgegen dem Uhrzeigersinn drehen, schaufeln Luft aus Südwesten Richtung Nordosten. Durch die Winde entstehen regelrechte Staubstürme in der Sahara, die die Staubpartikel bis in große Höhen aufwirbeln und weiter Richtung Europa tragen.
5 O-TON SEIFERT
Der erste Kandidat, der meistens getroffen wird, das sind die afrikanischen Länder wie Marokko, Algerien. Dann geht es über Mallorca, Sardinien und eben auch die typischen Länder wie Spanien, Italien und dann zunehmend seltener bis an die Alpen heran und noch seltener nach Skandinavien.
SPRECHERIN
Bis zu sechs Monate bleibt der Staub in der Luft. Dabei gilt die Regel, je größer die Nähe zur Sahara, desto mehr Staub. Rund 60 Mal pro Jahr erreicht der Wüstenstaub auch Deutschland in relevanter Menge. Wobei Bayern deutlich häufiger und stärker betroffen ist als zum Beispiel Schleswig-Holstein.
MUSIK: Whispering dunes (b) 0‘26
SPRECHERIN
Wer den Kopf nach oben richtet, kann bei Saharastaubausbrüchen unter Umständen einen milchigen bis ockerfarbenen Schleier am Himmel sehen, durch den die Sonne schwer durchdringt. In seltenen Fällen kommt es zum spektakulären Blutregen, nämlich dann
ATMO REGEN (unterlegen)
6 O-TON SEIFERT
wenn Regentropfen durch diese Wüstenstaub Schicht hindurchfallen, dann nehmen Sie diese Staubkörner auf. Der Regen fällt zu Boden, und es bleibt dann dieser bräunlich gelbliche Schleier oder rötlich-gelblich Schleier zurück auf Autos, auf Wegen. Das Gleiche passiert bei Schneefall. Die Schneeflocken, die haben ja auch eine sehr komplexe, schwammige Struktur und wenn die dann zwei, drei, vier Kilometer durch die Atmosphäre nach unten sinken, dann kollidieren die auch mit dem einen oder anderen Wüstenstaubpartikel. Und das ergibt dann eben am Boden diese Färbung.
SPRECHERIN
Eine Färbung, die das Herz von Prof. Anke Friedrich höherschlagen lässt. Sie ist Geologin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und freut sich immer, wenn sie Blutschnee sieht.
7 O-TON FRIEDRICH
Jeder, der schon mal hinter einem Schneepflug hergefahren ist, der dann so eine meterdicke Schneewand anschneidet, da sieht man ja dann die feinen Lagen, dunkle Lagen drin, im Wechsel mal mehr, mal weniger.
MUSIK: Frozen nights 0‘41
SPRECHERIN
Nicht immer ist der Staub so gut sichtbar wie im März 2022, als es in Deutschland ein außergewöhnliches Blutschnee-Ereignis gab. Große Mengen von Saharastaub verfärbten damals nicht nur die schneebedeckte Zugspitze. Auch in tieferen Lagen fuhren Skifahrer plötzlich über rötliche Pisten und selbst im Flachland überzog der Staub alles mit einer dünnen Schicht.
8 O-TON FRIEDRICH
Saharastaub ist was Faszinierendes, weil wir Hinweise bekommen auf die Herkunft. Das sind alles Gesteinsteilchen, die schon lange im Kreislauf der Erde vorhanden sind und die erzählen eine ganz tolle, spannende Geschichte, die weit über die Bildungszeit der heutigen Sahara hinausreicht, zurück in die Frühgeschichte der Erde.
SPRECHERIN
Bereits die Farbe des Staubs erzählt Anke Friedrich viel über sein Herkunftsgebiet innerhalb der Sahara. Sie variiert von weißlich-gelb, über ockerfarben bis rötlich-braun.
9 O-TON FRIEDRICH
Rot ist ja die Farbe von Eisen, also dreiwertigem Eisen, das entsteht durch Oxidation von Gesteinen oder von Eisen selbst. Sie sehen hier, die
Sandsteine sind eigentlich alle rot, also oxidiert, dreiwertiges Eisen. Und wenn er eher weißlich hell ist, dann könnten andere Komponenten eine Rolle spielen, wie zum Beispiel Calciumcarbonat oder aber auch Kieselalgen, die dann eben auch heller sind.
SPRECHERIN
Kieselalgen? Um das zu erklären, muss Anke Friedrich weit in der Erdgeschichte zurückgehen. In Zentralafrika, dort wo heute der Tschad liegt, befand sich bis vor wenigen Tausend Jahren eine gigantische Seenlandschaft, die dort über mindestens zwei Millionen Jahre existiert hatte, erzählt die Geologin.
10 O-TON FRIEDRICH
Wenn natürlich so eine große Seenlandschaft eintrocknet, dann kann man sich vorstellen, dass die Sedimente der Seeablagerung wieder freigelegt werden. Und jetzt im Fall von diesem Seenbereich von Tschad, da ist es so, dass Kieselalgen, so kleine Lebewesen aus Silikat, was nachher aussieht wie Quarzkörner dominieren und die dann in die Luft mitgenommen werden.
SPRECHERIN
Wenn in Deutschland heller Saharastaub Autos bedeckt, kann das also der Staub von Kieselalgen aus den ehemaligen, ausgetrockneten Seen in Zentralafrika sein. Andere Male kommt er eher aus Nordostafrika, wo der helle sogenannte nubische Sandstein dominiert, der zum Bau von Tempeln verwendet wurde, erzählt die Geologin. Ist der Staub hingegen rötlich, kommt er eher aus der Westsahara wie beispielsweise Algerien, wo roter Sandstein dominiert.
MUSIK: Cans and computers (b) 0‘29
SPRECHERIN
Doch warum fliegt Saharastaub bis zu uns nach Deutschland – und nicht Sand? Zum einen ist Sand zu schwer, um über weite Strecken zu fliegen, erklärt Anke Friedrich, zum anderen besteht die Sahara entgegen landläufiger Meinung gar nicht aus so viel Sand. Dünen wie an der Nordseeküste sind eher die Seltenheit. Die Basis der Landschaft bildet ein mehr als 600 Millionen Jahre altes Grundgebirge. Seine Gesteine treten heute noch teilweise in Form von Erhebungen und Gebirgszügen an die Oberfläche. Wegen der starken Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht gibt es in der Sahara generell viel Wind.
11 O-TON FRIEDRICH
Es kann man sich ja vorstellen, wenn Winde sehr stark sind, dann können die Material transportieren. Das ist ungefähr wie in der Waschmaschine, wenn man Jeans waschen will und legt dann auch Steine mit rein. Diese Abrasion, der Abrieb, der dann stattfindet, das produziert sehr kleine Teile.
MUSIK: Hinter dem Nebel (reduced 1) 0‘14
SPRECHERIN
Saharastaub ist Feinstaub, aber kein Ultrafeinstaub. Die einzelnen Partikel sind kleiner als 10 Mikrometer.
13 O-TON FRIEDRICH
Also das ist fünf bis zehnmal dünner als ein menschliches Haar, ist vielleicht ein Vergleich, den man sich noch gerade vorstellen kann.
SPRECHERIN
Der Hauptbestandteil von Saharastaub ist Quarz, der entweder aus der Erosion der Grundgebirgsgesteine der Sahara stammt oder aus alten Lebewesen wie Kieselalgen besteht. Weitere wichtige Bestandteile sind Aluminosilikate, Eisenoxide, Kalzid und Gips. Wüstenstaub enthält aber auch kleine Mengen von Phosphor.
14 O-TON FRIEDRICH
Es ist kein Hauptaustrag, aber da schon geringe Mengen an Phosphor reichen, um dort, wo sie dann landen, Böden fruchtbar zu machen, ist natürlich die Bedeutung von Phosphor entsprechend wichtig.
SPRECHERIN
Passatwinde tragen den Wüstenstaub nämlich auch in das auf der Südhalbkugel liegende Amazonasbecken. Rund 30 Millionen Tonnen landen dort Jahr für Jahr - wegen seines Phosphat- und Eisengehalts ein kostenloser Naturdünger, erklärt die Geologin Anke Friedrich.
15 O-TON FRIEDRICH
Höchstwahrscheinlich wäre die Fruchtbarkeit dieses Amazonasbeckens, das ja im Bereich des Äquators liegt, längst nicht so hoch, würde es nicht solche zusätzlichen Mengen an Staub bekommen.
MUSIK: Wait and see 0‘40
SPRECHERIN
Seine Düngeleistung ist nicht das Einzige, was Patric Seifert an Saharastaub fasziniert. Viel bedeutsamer für ihn ist sein Einfluss auf das Klima. Denn die Saharastaubpartikel sind kleine Wolkenmacher. Wolken entstehen, wenn
Wasserdampf aufsteigt, abkühlt und kondensiert. Damit sich große Tropfen bilden können, muss sich die Feuchtigkeit jedoch an eine Art Träger oder Kondensationskeim anheften können.
16 O-TON SEIFERT
Und durch seine Häufigkeit bildet Wüstenstaub einen sehr markanten und häufigen Wolkenkeim in der Atmosphäre und das heißt letztlich, da, wo sich Wüstenstaub befindet, bilden sich mehr Wolkentropfen, und auch mehr Eiskristalle. Wäre der Wüstenstaub nicht vorhanden, gäbe es weniger Wolkentropfen oder im Extremfall, würden sich gar keine Wolkentropfen oder Eiskristalle bilden.
SPRECHERIN
Da der Saharastaub über sehr lange Zeit in der Luft bleibt, trifft er zwangsläufig irgendwann auf Regionen mit hoher Luftfeuchtigkeit. Und hilft dann als Kondensationskeim bei der Tropfenbildung. Besonders wichtig sind die Wüstenstaubpartikel für die Bildung von Eis, erklärt Patric Seifert. Sie liefern bereits die Kristallstruktur, die Eis benötigt, und beschleunigen so die Eisbildung. Ohne Aerosole, das heißt, winzige Partikel, die in der Luft schweben, gäbe es also weniger Niederschlag auf der Erde. Und Wüstenstaub macht über die Hälfte der gesamten Aerosolmasse in der Atmosphäre aus. Ohne sie gäbe es
17 O-TON SEIFERT
eine viel langanhaltendere Bewölkung ohne Niederschlag auf der Erde. Und es gäbe im Prinzip nur Nieselregen. Also das, was in Deutschland häufiger im November auftritt. Und man weiß, dass so Nieselregen nicht effizient ist. Das reicht nicht aus, um irgendwie ein Feld zu bewässern und alle relevanten
Niederschläge mit großen Tropfen oder Hagel, Graupel, Schneeflocken, da sind immer auch die Aerosolartikel beteiligt.
SPRECHERIN
Das heißt, Saharastaub spielt eine wichtige Rolle im Wasserkreislauf und bei der Wetterbildung. Denn der größte Teil des Wüstenstaubs kommt laut Patric Seifert über Niederschlag zum Boden herunter. Weil er als eine Art Keim in die Wolkenbildung involviert ist und die Wolkentropfen während ihres Fluges weitere Wüstenstaubpartikel aufnehmen. Der weitaus geringere Teil setzt sich einfach bodennah als Staub ab.
MUSIK: Disturbing elements 0‘56
SPRECHERIN
Selten kommt es in Deutschland zu so relevanten Saharastaubausbrüchen wie am 29. und 30. März 2024. Der damals am Hohenpeissenberg in Bayern gemessene Wert zählte mit über 300 µg/m³ zum höchsten seit 25 Jahren. Zum Vergleich – normalerweise liegt er bei 8-10 µg. Auch wenn der Saharastaub in Deutschland selten in großen Mengen auftritt, hat er für manche Menschen gesundheitliche Auswirkungen, sagt Prof. Dennis Nowak, der das Institut und die Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München leitet.
18 O-TON NOWAK
Es ist in verschiedenen Studien gezeigt worden, dass Saharastaub ein Risikofaktor für Atemwegserkrankungen und für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist. Eine besondere Problematik ist bei denjenigen Menschen, die diese Erkrankungen bereits haben. Und da konnte in verschiedenen
Studien gezeigt werden, dass die Krankenhausaufnahmen mehr werden an Tagen, an denen Saharastaub rumfliegt.
SPRECHERIN
So wie am 23. und 24. April 2024, als eine außergewöhnlich intensive Saharastaubwolke über Griechenland zog und den Himmel orange-rot verfärbte. Vielerorts füllten sich die Notaufnahmen der Krankenhäuser mit Menschen, die über Kurzatmigkeit, Husten und Brustschmerzen klagten. Betroffen waren vor allem Menschen mit chronisch obstruktiver Bronchitis, Asthma oder andere Lungenerkrankungen. Saharastaub ist Feinstaub, kleinere Partikel können in die tiefen Atemwege eindringen. Ein Teil schafft es laut Dennis Nowak sogar, die dünne Schicht zwischen den Lungenbläschen und den Blutgefäßen zu überwinden.
19 O-TON NOWAK
Und damit haben Sie dann Partikel im Blut und das stößt Entzündungsprozesse an und ist letztendlich die Ursache für Herzinfarkt und Schlaganfall, um es mal plakativ zu sagen.
SPRECHERIN
Da Wüstenstaub von seiner Zusammensetzung her aber mineralisch ist, sind seine gesundheitlichen Auswirkungen insgesamt jedoch sehr gering - nicht zu vergleichen mit den Effekten des Rauchens oder mit verkehrsbedingtem Ultrafeinstaub wie er beispielsweise durch den Abrieb von Autoreifen entsteht, erklärt der Umweltmediziner.
20 O-TON NOWAK
Kraftfahrzeugbedingte Emissionen sind Verbrennungsprodukte, die eine viel höhere Toxizität haben. Insofern unterscheidet sich der Saharastaub vom städtischen, verkehrsbedingten Staub in der qualitativen Zusammensetzung und natürlich auch in der Menge. Der Saharastaub kommt so als Feinstaub als Peak zwei, dreimal im Jahr, während die städtische Luftstoffbelastung durch Kraftfahrzeuge leider das ganze Jahr einwirkt.
MUSIK: Genetics 0‘37
SPRECHERIN
Dennis Nowak warnt vor Panik. Eine Zunahme von Saharastaub in der Außenluft um zehn Mikrogramm pro Kubikmeter würde zu einem minimalen Anstieg der Sterblichkeit führen. Trotzdem rät der Umweltmediziner Betroffenen, an Tagen mit viel Saharastaub eine FFP2 Maske zu tragen und Medikamente besonders sorgfältig einzunehmen. Vor allem dann, wenn der Saharastaubausbruch auch noch mit Pollenflug zusammentrifft.
21 O-TON NOWAK
Gesunde, arbeitsfähige Leute werden keinen Schaden erleiden. Das muss man mal ganz klar sagen. Und wer intensiv und stark Sport treiben will, der muss sich ja nicht die Zeit aussuchen, wo der Sahara-Staub gerade am stärksten fliegt. Wenn es nun wirklich rot vom Himmel kommt, da würde ich sagen, dann warte ich eine Stunde und gehe dann joggen.
SPRECHERIN
Relativ neu ist die Erkenntnis, dass mit den Staubpartikeln auch blinde Passagiere in Form von Mikroorganismen mitreisen. Das können Bakterien, Viren oder Pilze sein. In verschiedenen Laboruntersuchungen fanden sich in bis zu Dreiviertel der Wüstenstaubproben Krankheitserreger. In der Sahelzone wurde laut Dennis Nowak auch bereits ein zeitlicher Zusammenhang zwischen einem Saharastaubausbruch und Meningokokken-Infektionen dokumentiert und
22 O-TON NOWAK
es gibt Berichte über Lungenentzündungen, die im Zusammenhang mit Saharastaub-Expositionen aufgetreten sind. Es gibt Berichte über Lungentuberkulose. Und in Spanien und Griechenland Lungenentzündungen im Zusammenhang mit Saharastaub-Expositionen.
SPRECHERIN
In Deutschland traten bisher noch keine derartigen Erkrankungen im Zusammenhang mit Wüstenstaub auf, aber der Umweltmediziner hält das für potenziell möglich, wenn es Saharastaub künftig immer öfter und in größeren Mengen bis nach Deutschland schafft.
MUSIK: Surviving victims 1‘11
SPRECHERIN
Feststeht, die Verschmutzung durch Mineralstaub hat bereits stark zugenommen. Laut einer Studie der University of California hat sich die Menge seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als verdoppelt und pro Jahr verwandeln sich nach UN-Angaben 120.000 Quadratkilometer Land in Wüste. Auch die Sahara wächst. Sorgen bereiten dem Meteorologen Patric Seifert aber auch der Südbereich des Amazonas, in dem intensiv abgeholzt wird.
O-TON SEIFERT
Was bleibt danach? Das sind die freien Flächen, und das sind die zukünftigen Wüsten gleichzeitig. Auch der Süden der USA, Arizona zum Beispiel. Der ehemalige Aralsee ist ein großes, ein sehr wichtiges Beispiel, eine völlig neue Wüstenstaub Quelle, die an Bedeutung gewinnt, auch für Europa und auch andere Regionen, wo es einfach zukünftig immer trockener wird, aufgrund von Grundwasserentnahme und Regenmangel. Natürlich Australien nicht zu vergessen.
MUSIK (hochziehen)
SPRECHERIN
Aus allen Wüsten zusammen landen heute rund zwei Milliarden Tonnen Staub in der Atmosphäre. Die Forscher der University of California haben errechnet, dass sich das Klima, dadurch, dass die Staubpartikel Sonnenlicht reflektieren, um 0,1 Prozent abkühlt. Aber das ist angesichts der rasanten Klimaerwärmung nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Zudem verstärken die Staubstürme den Klimawandel an anderer Stelle, erklärt Patric Seifert.
23 O-TON SEIFERT
Wenn Wüstenstaub in Regionen transportiert wird, wo sich Schnee oder Eis befindet, verdunkelt er die Eis und Schneeflächen, entsprechend wird mehr Sonnenstrahlung absorbiert. Der Schnee schmilzt schneller, der Boden erwärmt sich stärker, weil weniger Sonnenstrahlung zurückreflektiert wird. Das sind dann schon Komponenten, die gerade in Gletscherregionen oder in der Arktis schon große Einflüsse haben können.
SPRECHERIN
Wegen seiner wachsenden Bedeutung hat der Wüstenstaub mittlerweile auch den Sprung in die Wettervorhersagen des Deutschen Wetterdienstes geschafft. Eine wichtige Information für Menschen mit entsprechenden Vorerkrankungen und laut Patric Seifert vom Leibniz-Institut für Troposphärenforschung ein großer Fortschritt. Denn trotz aller Faszination für das Phänomen Saharastaub, blickt er mit gemischten Gefühlen in die Zukunft.
Musik: Nocturnal research red. 0‘43
25 O-TON SEIFERT
Die Wechselwirkung Klimawandel Wüstenstaub ist eine sehr unglückliche. Denn durch die Erwärmung des Klimas, der Atmosphäre vergrößern sich die Wüsten zwangsläufig, und es kommt zu mehr Emissionen von Wüstenstaub. Und das ist eigentlich ein gewisser Teufelskreis. Denn durch die Vergrößerung der Wüsten da hat man vielleicht ein bisschen ein paar mehr Eiskeime vorhandeln und ein bisschen mehr Abschattung durch diese Schleierwolken des Wüstenstaubes, aber am Ende bleibt die Wirkung einfach, dass man wirklich viel mehr staubige Situationen hat, es kommt zu mehr Emissionen von Wüstenstaub.
Was ist überhaupt ”das Fränkische"? Die Frage bewegt Linguisten und Gemüter in Ober-, Mittel- und Unterfranken. Denn was umgangssprachlich als "Fränkisch" bezeichnet wird, meint nur die ostfränkischen Dialekte - also alles, was im Norden Bayerns ”gefrängglt" wird. Doch das ist zu kurz gegriffen, wettern viele. Von Markus Mähner (BR 2022)
Credits
Autor dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse und Andreas Neumann
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak und Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER
Weitere Linktipps:
Der Sprechende Dialektatlas Bayerns:
EXTERNER LINK | www.dialekte.schule.bayern.de
Das Unterfränkische Dialektinstitut:
EXTERNER LINK | unterfraenkisches-dialektinstitut-wue.de
Fränkisches Wörterbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften:
EXTERNER LINK | wbf.badw.de
Bayerns Dialekte Online:
EXTERNER LINK | bdo.badw.de
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Einen neuen sowjetischen Menschen wollte die junge UdSSR erschaffen, durch Wissenschaft, Bildung und - Umerziehung. Das Ergebnis ist jedoch umstritten: Kritiker sagen dem sogenannten Homo Sovieticus oft nach, politisch desinteressiert zu sein und nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen. Wer war der Homo Sovieticus - und gibt es ihn noch heute? Von Fiona Rachel Fischer
Credits
Autorin dieser Folge: Fiona Rachel Fischer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Sebastian Fischer
Technik:
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Maja Soboleva, Professorin am Institut für Philosophie an der Philipps-Universität Marburg
Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Literatur:
Klaus Gestwa: „Der Sowjetmensch. Geschichte eines Kollektivsingulars“, in: Nackte Seelen. 68 (2018), S. 55-82. Ein informativer Artikel, der sowohl die Begriffsgeschichte des „Homo Sovieticus“ in historischen Kontext setzt, als auch den Begriff selbst kritisch beleuchtet.
Maja Soboleva: “The Concept of the ‘New Soviet Man’ and Its Short History”, in: Canadian-American Slavic Studies 51 (2017), S. 64-85. Soboleva diskutiert hier das sowjetische Moralverständnis hinter dem Neuen Sowjetischen Menschen.
Zitate aus Alexander Sinowjew: Homo sovieticus. Roman. Aus dem Russischen von G. von Halle. Zürich 1984.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Man nehme: einen starken Körper, Sportlichkeit …. dazu einige Schöpfer Loyalität … und jetzt noch eine gute Handvoll Bildung …. Ahh, und eine Prise Leidenschaft. Dann ist er fertig –
SPRECHER:
– der Neue Mensch.
O-TON 1 – Klaus Gestwa
Die Idee dass sich der Mensch neu erfinden kann, dass er sich selbst transformiert, ist ja in der Menschheitsgeschichte wiederholt vorgekommen. Und die Vision vom neuen Menschen gehört, glaube ich, ganz zentral zu den sozialen und politischen Obsessionen des zwanzigsten Jahrhunderts.
SPRECHERIN:
- sagt Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen. Spätestens seit der Verbreitung von Darwins Evolutionstheorie weiß man, dass sich der Mensch entwickelt und nicht gottgegeben ist. Also müsste man doch in diese Entwicklung eingreifen können.
SPRECHER:
Die junge Sowjetunion belässt es jedoch nicht nur beim Träumen; die kommunistische Partei macht sich ans Werk, einen Neuen Sozialistischen Menschen zu erschaffen. Denn damit das mit dem Kommunismus klappen kann, da ist man sich unter den Revolutionären sicher, braucht es im ehemaligen Zarenreich eigentlich eine ganz andere Art von Mensch.
SPRECHERIN:
Für eine Herrschaft des Proletariats, die nach der Marxschen Theorie der Revolution folgen soll, benötigt man erst einmal eine Arbeiterklasse. Die gibt es per Definition aber nur in einer Industriegesellschaft. Und das Zarenreich war keine.
O-TON 2 – Klaus Gestwa
Die neuen Moskauer Machthaber sahen sich natürlich auch vor die Herausforderung gestellt, dass sie einen Staat übernahmen, der im Wesentlichen bäuerlich geprägt gewesen ist, also im Januar 1917, stellten über 80 Prozent der Bevölkerung des Sowjetrusslands damals noch Bauern und Nomaden dar. Und dann ging es jetzt eben darum, auch eine soziale Machtbasis zu schaffen. Und diese soziale Machtbasis sollte ebenso durch die Formung eines neuen Menschen tatsächlich auch an Stabilität und auch an Festigkeit und Dauerhaftigkeit gewinnen.
SPRECHER:
Die Bewohner der Sowjetunion sollen eine schnelle Entwicklung durchlaufen und zu Menschen werden, die den Kommunismus errichten können.
O-TON 3 – Klaus Gestwa:
Und da gehört eben die Aufopferung für dieses sowjetische System ganz zentral dazu das Enthusiastische, das Kämpferische, was damit verbunden gewesen ist, auch immer wieder das Aufopferungsvolle. Dass man als Asket lebt, um eben seine ganze Kraft und seine ganze Energie einbringen zu können in diesen Aufbau des Sozialismus, der ja in den 20er und in den 30er-Jahren ganz oben auf der politischen Agenda stand.
SPRECHERIN:
Es geht also um einen Typus Mensch, den man bislang noch nicht in ausreichender Zahl und Ausprägung vorgefunden hatte. Es geht um die Utopie eines sozialen, moralischen und weltoffenen Menschtyps, die jetzt Wirklichkeit werden soll.
SPRECHER:
Lenin und anderen führenden Parteimitglieder wollen den Neuen Menschen so bald wie möglich und nötigenfalls auch künstlich erschaffen, um mit den Zielen der Revolution vorankommen. Die Methoden, mit denen sie diese gezielte Beeinflussung der Menschen, Social Engineering, betreiben, sind sowohl produktiv als auch repressiv. Ganz vorne bei den produktiven Maßnahmen stehen die Alphabetisierung der breiten Bevölkerungsmasse und enge Bildungswege für junge Menschen an neu eingerichteten Arbeiter- und Bauernfakultäten.
O-TON 4 Klaus Gestwa
Ende der 30er-Jahre gab es tatsächlich schon mehrere Millionen Industriearbeiter, die tatsächlich diesem neuen sowjetischen Regime eine feste soziale Basis gegeben haben und auch Hunderttausende von Spezialisten, die über diese stalinistischen Bildungsprogramme dann auch in Führungspositionen aufgestiegen sind.
SPRECHERIN
Auch die Kultur steht im Dienst der Erschaffung eines neuen Menschen. In Literatur, bildender Kunst und Theater stellt die neu erfundene Strömung des sozialistischen Realismus die Sowjetgesellschaft und ihre Bürger so dar, wie sie werden sollen.
O-TON 5 – Maja Soboleva
Und sozialistische Propaganda war omnipräsent. […] Auch die öffentlichen Organisationen einschließlich der Organisationen für die Jugend, das waren so jugendliche kommunistische Organisationen wie Pioniere, Komsomol, und so weiter gab es auch für kleine Kinder eine Organisation für Kinder von sieben bis zehn Jahre. Das waren die sogenannten Oktjabrjate, die Kinder des Oktobers, also ganz junge Leninisten.
SPRECHER:
Maja Soboleva, außerplanmäßige Professorin am Institut für Philosophie an der Philipps-Universität Marburg, ist in den späten Jahren der Sowjetunion aufgewachsen und forscht seit ca. 20 Jahren in Deutschland.
SPRECHERIN:
Der sozialistischen Umformung kann niemand entrinnen. Auch nicht die, die die Partei eigentlich aus der neuen Gesellschaft ausschließt. Denn während sich die Sowjetbürger mit sozialistischer Literatur bilden und Massensportfeste auf dem roten Platz feiern, werden diese Ausgestoßenen in Arbeitslagern „umerzogen“ – den Gulags.
SPRECHER:
„Perekovka“, „Umschmiedung“ nennt die Propaganda euphemistisch diesen Prozess, der aus ehemaligen Großbauern, „Kulaken“, Verbrechern oder ganzen unerwünschten Ethnien neue Menschen, also rechtschaffene sowjetische Bürgerinnen und Bürger machen soll. Neben Zwangsarbeit sollen Bildungsmaßnahmen und Kulturprogramm die Umerziehung abrunden. Die Häftlinge verfassen Berichte oder veranstalten Theaterstücke, nachdem sie stundenlang schwerste körperliche Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen verrichtet haben.
SPRECHERIN:
Ein Vorzeigeprojekt der Sowjetunion in den frühen 30er-Jahren ist der Bau des Belomor, ein 227 km langer Kanal von der baltischen zur weißen See, der tausende Todesopfer fordert und in nur 20 Monaten fertiggestellt wird.
SPRECHER:
Im Jahr 1933 reist eine Gruppe sowjetischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller unter der Leitung des Autors Maxim Gorkij in das Arbeitslager, um die Insassen zu befragen und über ihr Leben vor und in dem Lager zu schreiben. Der Sammelband, der sich in englischer Übersetzung auch an das Ausland richtet, schildert glühend die erstaunliche Umformung der Zwangsarbeiter zu guten Sozialisten: der Kulaken, Diebe und Prostituierten, die in der Arbeit und der Gemeinschaft einen neuen Sinn finden und zu Höchstleistungen beflügelt werden. Die literarische Gruppe zeichnet ein glänzendes Bild davon, was wir heute als ein System des Schreckens kennen.
O-TON 6 – Klaus Gestwa
Ich bezeichne des Gulag-System als den Hades der stalinistischen Industriezivilisation. Von 1928 bis 1956 mussten etwa 18 Millionen Menschen diesen Hades durchlaufen. Wir wissen anhand der Statistiken, dass vermutlich zwei Millionen Menschen ihre Zeit im Gulag nicht überlebt haben. Viele andere waren gesundheitlich und auch psychisch dauerhaft geschädigt durch ihre brutalen Lagererfahrungen. Und das ist etwas, was natürlich ganz massiv auf die weitere Sowjetgeschichte sich ausgewirkt hat.
SPRECHERIN:
Die Angst, als Klassenfeind gemeldet und in ein Arbeitslager deportiert zu werden, ist ebenso gegenwärtig wie es die Denunzianten sind. Denn die oberste Loyalität der Menschen soll nicht mehr den Freunden und Verwandten gehören, sondern dem sowjetischen Staat und – bald nach Lenins Tod – speziell Stalin, der sich als Übervater der UdSSR inszeniert.
SPRECHER:
Das berühmteste Beispiel ist wahrscheinlich das Leben des Pavlik Moroz, ein Bauernjunge, der im Jahr 1932 seinen Vater anzeigt, weil dieser Getreide vor den Behörden versteckt. Während der Vater also inhaftiert, und später, wie man heute weiß, bei einer Massenerschießung hingerichtet wird, erschlagen Pavliks Verwandte den Jungen für seine Denunziation. Dieses Schicksal macht ihn zu einer Art Märtyrer und zum Helden einiger Büchern und später auch Filme. Erst in den 80er Jahren wird im gelockerten politischen Diskurs offengelegt, wie sehr sich die Kinder der Sowjetunion von dieser Geschichte unter Druck gesetzt fühlen.
SPRECHERIN:
Doch haben all diese Maßnahmen den gewünschten Effekt und produzieren tatsächlich eine neue Art von Mensch? Das beschäftigt auch den Westen, der noch vor der Sowjetgesellschaft untersucht, wie der tatsächlich existierende Sowjetmensch nun tickt. 1958 analysiert der Osteuropaforscher Klaus Mehnert erstmals auf einer Reise die Einwohner der UdSSR und konstatiert in seinem Buch „Der Sowjetmensch“:
SPRECHER:
Die sowjetische Umerziehung der Menschen habe schon angesetzt, doch wenn man am glänzenden sowjetischen Lack kratzt, so Mehnert, stecke darunter immer noch der biedere Russe von früher. Also – die ganze sozialistische Umerziehung fruchtlos?
SPRECHERIN:
Eine Forschergruppe aus Harvard sieht das anders. Sie hat seit 1945 Migrantinnen und Migranten aus der UdSSR befragt und stellt fest, dass nicht einmal an denen, die die Sowjetunion aus politischer Überzeugung heraus verlassen haben, die ideologische Erziehung spurlos vorbeigegangen ist.
O-Ton 7 Klaus Gestwa:
Also da hatte man schon die Idee, dass aufgrund dieses propagandistischen Trommelfeuers, dieser Vereinnahmung in den sozialen Praktiken es für die Sowjetmenschen unheimlich schwierig gewesen war, sich dem zu entziehen. Also diese Formierung des Sowjetmenschen hatte tatsächlich eine gesellschaftliche Tiefenwirkung, die wir nicht unterschätzen sollten.
SPRECHER:
Das Jahr 1961: 22. Kongress der Kommunistischen Partei. Nikita Chruschtschow verkündet, dass die UdSSR erfolgreich einen neuen Menschen, den sowjetischen Menschen geschaffen habe. Dieser neue Mensch, in den 1930er Jahren ein mutiger und aufopfernder Revolutionär, ist nun der Erbauer des Kommunismus. Ist die Utopie also Wirklichkeit geworden? Die Sowjetunion beantwortet diese Frage mit „Ja“.
O-TON 8 Maja Soboleva
Und dann 1976 berichtete Breschnew auf dem fünfundzwanzigsten Parteitag, dass der sowjetische Mensch das wichtigste Ereignis oder Ergebnis der letzten 60 Jahre sei, also das heißt, das wurde per Dekret festgestellt.
SPRECHERIN:
Als sich die Versprechungen nicht erfüllen, dass bald der ersehnte Zustand des Kommunismus erreicht ist, tritt die Sowjetgesellschaft in den 70er Jahren in ihre konsumistische Phase ein: Politische Apathie wird mit steigendem Lebensstandard belohnt.
O-TON 9 Klaus Gestwa:
Es gab dann seit den 60er-Jahren die Massenmobilisierung, der private Pkw erlaubte Möglichkeiten, sein Umfeld zu erweitern. Es gab Urlaubsreisen, es gab Konsum, und damit wurde der neue Sowjetmensch nicht immer nur als Asket, als Arbeiter und als Enthusiast dargestellt, sondern eben auch als Konsument, als jemand, der sein Freizeitleben genießt und der sich aus den Zumutungen des sowjetischen Alltags immer wieder zurückzieht in sein eigenes Privatleben
SPRECHER:
Mit dieser neuen Lebensrealität wandelt sich das, was unter „Sowjetmensch“ verstanden wird. Aus dem glänzenden, moralisch überlegenen Sozialisten wird zunehmend ein politischer Mitläufer.
SPRECHERIN:
In den 80er Jahren beantworten einige sowjetische Schriftsteller die Frage nach der Existenz des Sowjetmenschen mit „Ja, leider“. Der Autor und Dissident Alexander Sinowjew macht den Begriff des „Homo Sovieticus“, und die Abkürzung „Homosos“, mit seinem gleichnamigen Roman populär.
ZITATOR:
„Mein Verhältnis zu diesem Wesen ist zwiespältig: ich liebe und hasse, achte und verachte es gleichzeitig, bin von ihm entzückt und entsetzt zugleich. Selbst ein Homosos, bin ich schonungs- und mitleidlos in seiner Darstellung. Richtet uns, denn ihr selbst werdet von uns gerichtet werden!“
SPRECHERIN:
– so übersetzt G. von Halle Sinowjews Vorwort. Der Homo Sovieticus ist dem Roman nach ein Opportunist und Zyniker, der nach außen hin ideologiekonform und autoritätstreu ist, aber das System für seine egoistischen Bedürfnisse ausnutzt und sich ansonsten ins Private und ins Nichtstun zurückzieht.
SPRECHER:
Die Verniedlichungsform „Homosos“, die auch „Menschensauger“ bedeutet, zeigt, dass Sinowjew die Utopie eines neuen sozialistischen Menschen, der eine bessere Welt aufbauen sollte, als gescheitert erachtet.
ZITATOR:
„Der Homosos ist ein ziemlich widerliches Geschöpf. Das weiß ich von mir selbst. Als ich noch in der Sowjetunion lebte, träumte ich davon, in einem demokratischen Staat zu leben. Trittst in irgendeine Partei ein oder gründest eine eigene, gehst auf Demonstrationen, nimmst an Streiks teil, prangerst an! Kein Leben – eine Pracht! Nachdem ich einige Zeit im Westen gelebt hatte, änderte ich die Richtung meiner Träume um hundertachtzig Grad. Jetzt träumte ich davon, in einem gut funktionierenden Parteistaat zu leben, in dem linke Parteien verboten sind, Demonstrationen auseinandergetrieben und Streiks niedergeschlagen werden. Mit einem Wort, nieder mit der Demokratie! Warum ich davon träumte? Eben weil ich – ein Homosos bin.”
O-TON 10 Maja Soboleva:
Und würde ich sagen, dieser Definition liegt die Annahme zugrunde, dass sich das fehlerhafte soziale kanonisches System des realen Sozialismus in der mangelhaften Struktur des Charakters und der Mentalität des sowjetischen Menschen reproduzieren. […]Also wir haben so wir sehen, dass der Homo Sovieticus ein äußerlich ambivalenter Begriff ist, ja, je nach Blickwinkel und was denke ich, glaube beide Versionen diesen Menschentypus haben, existiert sowohl die positive Reaktionen als auch die negativer und ist ein gelungenes, würde ich sagen. Und die zweite ist ein misslungenes Ergebnis dieses Social Engineering.
SPRECHER:
In den späten 80er Jahren beginnt dieses politische System zu bröckeln. Es ist die Zeit von Glasnost und Perestroika, in der der starre Diskurs aufweicht und zunehmend Platz macht für politische Diskussionen und das Gefühl von Enttäuschung über die Entwicklung der Sowjetunion.
SPRECHERIN:
In der Sowjetunion spricht man nun von „Sowok“ eine weitere Verniedlichungsform von „Homo Sovieticus“, die aber im Russischen auch „Kehrschaufel“ heißt, also das, was es braucht, um Dreck aufzukehren. Die sowjetische Identität wird mit diesem Wortspiel buchstäblich zu etwas Schmutzigem.
O-TON 11 Klaus Gestwa
Es wird tatsächlich auf die Menschen selbst bezogen. Das hat auch etwas mit einem masochistischen Selbsterniedrigungsdiskurs zu tun, der in der Perestroika-Zeit tatsächlich auch als kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen sozialen Dasein eine Breitenwirkung entfaltet hat.
SPRECHER:
Diese Auseinandersetzung bringt beispielsweise das Levada-Zentrum hervor, das zu Meinungen und Eigenschaften in der UdSSR forscht. Auch diese Umfragen ergaben 1989, dass sich durch die sowjetische Bevölkerung bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen ziehen:
O-TON 12 Klaus Gestwa:
Und die beiden wichtigsten, die damals aufgefallen sind und die auch in die heutige Zeit hineinschwappen, die jetzt immer wieder große Aufmerksamkeit finden, das ist zum einmal die Staatszentriertheit, also eine paternalistische Haltung gegenüber dem Staat, dass der Staat doch bitte alle Probleme lösen soll für die Menschen. […] Und der zweite Punkt gilt vor allen Dingen für die russische Gesellschaft. Das ist der imperiale Komplex, dass sich die Meinung festgesetzt hat, dass Russland als Großmacht, als geachtete, respektierte Großmacht existieren müsse.
SPRECHERIN:
Als 1991 die Sowjetunion zerbricht, ist davon jedoch wenig zu spüren. Das Imperium wird mit Jubel verabschiedet, nachdem Millionen von Menschen auf die Straße gegangen sind.
O-TON 13 Maja Soboleva:
Viele dieser sowjetischen Intelligenzia, die in den Jahren der Sowjetunion entstand, ist irgendwann anti-sowjetisch geworden. Aus der historischen Perspektive erstreckt sich die Spannweite für den Begriff Homo sovieticus zwischen noch nicht und nicht mehr. Das heißt, man versuchte jahrzehntelang aus den nichtsowjetischen Menschen, die noch vor der Revolution gelebt haben, die sowjetischen zu formen und am Ende, am Ende dieser Umformung, stand dann irgendwie der anti-sowjetische Mensch.
SPRECHER:
Es scheint in diesem Moment der Geschichte, als hätten sich die Sowjetmenschen vom Imperialismus getrennt und wollten gar keine Supergroßmacht mehr sein. Es wirkt, als habe der Sowok in einer Zeit der Wirrungen, der zusammengebrochenen Staatsleistungen und ausbleibenden Löhnen gelernt, wieder aktiv und eigenständig zu werden.
SPRECHERIN:
Doch mehr als 30 Jahre später sprechen viele immer noch vom Homo Sovieticus, auch um die aktuelle politische Kultur in Putins Russland zu beschreiben.
O-TON 14 Maja Soboleva:
Dieses Phänomen sowjetischer Mensch hat immer noch politische Relevanz in der Hinsicht, dass die sowjetische Menschen noch nicht alle ausgestorben sind, das heißt es in einer Schicht der gegenwärtigen Gesellschaft in Russland die sowjetischen geprägt worden ist […] Diese passive Mehrheit, die so erzogen worden sind, dass sie keine Entscheidungen treffen dürfen oder können und die dazu glaube ich, zum großen Teil verantwortlich ist, was jetzt passiert, weil das sind eben die Leute, die nicht gewohnt sind, Entscheidungen zu treffen, denke ich. Das ist die sowjetische Erbschaft, die immer noch eine Auswirkung auf das politische Leben in Russland hat.
SPRECHER:
Wenn der Westen heute vom „Homo Sovieticus“ spricht, dann meint er primär die russische Bevölkerung. Doch in den ehemaligen Sowjetstaaten steht dieser Begriff auch für die Russifizierung, die in der UdSSR „sowjetisch“ ab den 30er Jahren mit „russisch“ gleichgesetzt hat. Im postsowjetischen Diskurs wird dieses aufgedrückte Erbe auch sehr kritisch gesehen.
SPRECHERIN:
Kann man aber mit diesem Begriff, in dem Autoritätshörigkeit und Imperialismus mitschwingen, wirklich das Russland der Putin-Herrschaft erklären?
O-TON 15 Klaus Gestwa:
Wir hier in Deutschland nehmen den Homo Sovieticus immer sehr schnell und sehr vorschnell. […] Also das ist ein Interpretationsangebot, was wir übernehmen, um uns aus dieser komplexen und sehr komplizierten Situation, so wie sie sich uns in Russland darstellt uns ein einfaches Bild zu machen.
SPRECHER:
Putins Propaganda macht sich verschiedene Bezüge zur Sowjetzeit zu Nutze. Schon in den Nullerjahren zielt sie auf den imperialen Komplex ab, den nach wie vor viele in der Bevölkerung verinnerlicht haben, und nährt und mobilisiert die Minderwertigkeitsgefühle in der russischen Gesellschaft. Mit der Digitalisierung und den sozialen Medien stehen heute für ideologische Beeinflussung ganz andere Mittel zur Verfügung als zu Zeiten der Sowjetunion.
SPRECHERIN:
Trotzdem ist es schwierig, diesen Begriff als Erklärungsschablone für die russische Gesellschaft zu nehmen, ohne ihn zu hinterfragen. Denn damit unterstellt man diesen Menschen auch unabänderliche Eigenschaften und dass sie sich gar nicht weiterentwickeln können.
O-TON 16 Klaus Gestwa:
Dann hat das natürlich etwas mit einer hoffnungslosen Diagnose zu tun, die letztlich, wenn man das kritisch sehen möchte, natürlich auch schon so eine rassistische Grundierung hat. Also die Russen waren immer so. Das baut natürlich auf überlieferten Stereotypen auf, die wir schon aus der Zeit des Kalten Krieges haben.
SPRECHER:
Und man schließt sich Putins Propaganda an, dass die russische Bevölkerung sich aufgrund ihrer sowjetischen Vergangenheit von dem Rest der Menschheit unterscheiden müsse und damit einen Sonderstatus habe.
SPRECHERIN:
Russland war und ist eine Gesellschaft, die aus einer Vielzahl an Ethnien und Kulturen besteht. Das kann man nur schwer mit einem solchen Sammelbegriff umschreiben. Aber würden sich Russen heute noch selbst so bezeichnen? Maja Sovoleva verwendet die Bezeichnung “Homo Sovieticus” dabei etwas anders:
O-TON 17 Maja Soboleva
Nicht jeder versteht sich selbst als ein Homo Sovieticus, ich schon. Ich denke manchmal ja, ich bin so ein sowjetischer Mensch in dem Sinne, dass ich also dass ich internationalistisch bin. Ich bin auch pazifistisch. Ich bin also feministisch.
SPRECHER:
Soboleva versteht sich als Sowjetmensch in dem Sinne, wie er in den 20er Jahren geschaffen werden sollte. Zwar wäre auch sie in der ausgehenden Sowjetunion noch ideologisch indoktriniert worden, aber sie habe auch gelernt, über ihr Sowjetischsein kritisch nachzudenken.
O-TON 18 Maja Soboleva
((Und wenn man so selbst reflektiert, ja, dann muss man auch über die Begriffe nachdenken können, die man nicht selbst in sein Lexikon aufgenommen hat. Ja, und das ist natürlich der Begriff Homo Sovieticus.)) Einerseits ist es natürlich ein geschichtlicher Zufall, wo du geboren bist und welche Zeit und so weiter. Aber andererseits bist du immer noch frei, glaube ich, dich der geschichtlichen Situation gegenüber zu positionieren.
SPRECHERIN:
Die Frage ist nicht, ob der Begriff des Homo Sovieticus noch immer passt, sondern, zu welchem Zweck ihn wer verwendet. Als pauschale Erklärungsschablone –
SPRECHER:
als historische Analysekategorie, die sich auf Kontinuitäten richtet,
SPRECHERIN:
als kritische Selbstbezeichnung von ehemaligen Sowjetbürgerinnen und -bürgern,
SPRECHER:
als Fingerzeig für russische Beeinflussung damals wie heute
SPRECHERIN:
oder gar als mobilisierendes Propagandamittel für Putinanhänger.
Ob beim Aufhängen von Wahlplakaten, bei öffentlichen Veranstaltungen oder im Privatleben: Auseinandersetzungen finden immer häufiger pöbelnd, drohend und gewalttätig statt. Im Sommer 2024 kam es zu einer bis dahin nicht dagewesenen Anzahl von gewalttätigen Angriffen auf Politikerinnen und Politiker. Verroht unsere Gesellschaft? Von Daniela Remus (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Hemma Michel
Technik: Anton Wunder
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Nicole Deitelhoff, Politikwissenschaftlerin, Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt/M.
Prof. Claudia Gatzka, Historikerin, Universität Freiburg/Brsg.
Prof. Wilhelm Heitmeyer, Soziologe, Universität Bielefeld
Prof. Nina Kolleck, Bildungsforscherin, Universität Potsdam
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
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Aktuell Studie zur Ungleichheit in der Gesellschaft:
*Dorothee Spannagel, Jan Brülle: Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme – verunsicherte Mitte. WSI-Verteilungsbericht 2024. WSI Report Nr. 98, November 2024. Download:
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SPRECHERIN
Im Mai 2024 wird der SPD-Politiker Mathias Ecke in Dresden beim Aufhängen von Wahlplakaten von vier Männern krankenhausreif geschlagen. Nur wenige Tage später wird ein Team von Grünen-Politikern bespuckt und angegriffen, ein Kamerateam ist dabei und filmt alles – die Angreifer hält das nicht ab. Kurz darauf greift ein Mann die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey bei einem öffentlichen Termin in einer Bibliothek an.
MUSIK ENDE
ATMO
SPRECHERIN
Das alles passiert im Mai 2024, innerhalb weniger Tage.
SPRECHERIN
Und das sind nur die Fälle, über die in den landesweiten Nachrichten oder den überregionalen Medien berichtet wird. Angriffe auf Politiker und Politikerinnen finden aber sehr viel häufiger statt, und das nicht erst im Jahr 2024 und nicht nur in aufgeheizten Wahlkampfphasen. Vor allem gegen diejenigen, die in kleineren Gemeinden oder Kommunen arbeiten, die keinen Personenschutz haben wie diejenigen, die an der Regierung beteiligt sind.
ATMO ENDE
MUSIK privat Take 006 „On Powdered Ground (Mixed Lines)“, Album: Mr Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble, Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 00:29
SPRECHERIN
2023 hat das Bundeskriminalamt insgesamt 2790 Angriffe auf Politiker gezählt: Davon 1219 Attacken auf Repräsentanten der Partei die Grünen, 478 auf AFD-Mitglieder. Auch Politiker und Politikerinnen der anderen Parteien sind solchen Angriffen ausgesetzt. Und es werden kontinuierlich mehr. Seit 2019 hat sich ihre Anzahl verdoppelt. So weit so ernüchternd.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Was bedeutet das für uns und unsere Gesellschaft? Verroht unser Zusammenleben, weil Konflikte und Meinungsverschiedenheiten nicht mehr ausdiskutiert werden, sondern stattdessen geschubst, gespuckt, gemobbt, gehetzt und geprügelt wird? Ist da etwas ins Rutschen geraten, was uns als gesellschaftliche Umgangsform über viele Jahre selbstverständlich erschien?
TAKE 1 (O-Ton Gatzka) L: 0, 15
Wir haben sicherlich insgesamt in der Geschichte der Bundesrepublik eine Kultur, die gerade politische Konflikte ohne Gewalt versucht zu lösen. Die hat sich allerdings erst ausprägen müssen. Und da ist ein Konsens aktuell womöglich langsam im Aufbrechen.
SPRECHERIN
Sagt die Historikerin Claudia Gatzka von der Universität Freiburg.
Sie forscht zur Geschichte der Bundesrepublik.
Zunächst, nach Ende des 2. Weltkriegs, war Gewalt im politischen Umfeld nicht ungewöhnlich, es kam zu politischen Morden und tätlichen Angriffen. Manche Forschende sprechen deshalb von einer anarchischen Übergangszeit. Ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre konnte die Gewaltbereitschaft nach und nach eingehegt werden. An ihre Stelle trat eine politische, wirtschaftliche und demokratische Ordnung, die sich als Norm durchgesetzt hat. . Mit dem Ergebnis, dass Gewalt in der Folgezeit immer stärker aus dem Alltag verdrängt wurde. Und auch als Mittel der politischen Auseinandersetzung gegen Politiker und Politikerinnen war Gewalt bei der gesellschaftlichen Mehrheit verpönt.
TAKE 2 (O-Ton Gatzka) L: 0, 30
Der Gesamtkonsens, dass wir keine Gewalt in der Politik wollen, ist noch da, und der hat sich auch erst im Laufe der Bundesrepublik so herausgestellt. Das war in den 50er Jahren tatsächlich noch gar nicht so sagbar. In den 50er Jahren wurde weder von den Parteien noch von der Öffentlichkeit politische Gewalt als solche thematisiert und auch versucht zu delegitimieren. Da wurde noch nicht der Zusammenhang hergestellt zwischen Demokratie und friedlichem Konfliktaustrag. Das hat sich erst im Laufe der 60er und 70er Jahre herausgebildet.
SPRECHERIN
Auch wenn das nicht heißt, dass es im öffentlichen Leben keine gewalttätigen Auseinandersetzungen gab: Beispielsweise die Morde, die die Terroristen der RAF auf Repräsentanten des Staates verübten. Oder die Attentate auf die Politiker Oskar Lafontaine und Wolfgang Schäuble. Die Neonazis, die in den 1980er Jahren in deutschen Großstädten linke Punks durch die Straßen hetzten oder die rechten Gruppierungen, die in den 1990er Jahren auf den Straßen Ostdeutschlands, Jagd auf Menschen machten. Ob auf vietnamesische Vertragsarbeiter oder sogenannte Links-Alternative. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen oder Magdeburg sind dafür Beispiele. Hinzu kamen in Westdeutschland Mordanschläge auf Türkeistämmige Menschen in Mölln oder Solingen.
MUSIK „Radar“; ZEIT: 01:46
SPRECHERIN
Gewalt im öffentlichen Raum gab es in Deutschland also immer, aber sie ging meistens von klar benennbaren gesellschaftlichen Gruppen aus, wie etwa den RAF-Terroristen oder den Neonazis. Die breite Öffentlichkeit dagegen war sich einig, dass Gewalt abzulehnen sei. Das hat sich auch bis heute nicht grundlegend geändert, betont Claudia Gatzka. Auch Wenn sich sogenannte Reichsbürger-Netzwerke wegen mutmaßlicher Umsturzpläne vor Gericht verantworten müssen oder wenn rechtsextremistische Organisationen bei paramilitärischen Schießtrainings verhaftet werden, oder, wenn immer mehr Kommunalpolitiker wegen Drohungen gegen ihre Familie aufgeben. Es handelt sich um eine gesellschaftliche Minderheit, die Gewalt in der politischen Auseinandersetzung akzeptiert, so die Historikerin. Trotzdem ist die Entwicklung extrembeunruhigend, auch weil sie sich verstärkt, wie der Bericht des Bundeskriminalamts von 2023 zeigt.
Denn Gewalt schädigt und verändert nicht nur diejenigen, die Opfer von Attacken und Angriffen werden, sondern letztendlich die ganze Gesellschaft, betont die Historikerin Gatzka. Gewalt,sagt sie, schafft Unsicherheit, schürt Mißtrauen, sät Zweifel am Staat und seinen Institutionen, weil Bürger nicht geschützt werden. Deshalb ist es existentiell wichtig, zu verstehen, warum und von wem Gewalt in der Politik für angemessen gehalten werde.
MUSIK ENDE
TAKE 3 (O-Ton Gatzka) L: 0, 20
Dass es zu diesen Gewaltausbrüchen kommt, auf offener Straße, ist, denke ich, letztlich auch dem Umstand geschuldet, dass wir eine wachsende Wut haben auf Repräsentanten der Parteiendemokratie, die in der Form neu ist.
SPRECHERIN
Schon in der alten Bundesrepublik haben Forschende in manchen gesellschaftlichen Gruppen Vorbehalte gegen die Parteiendemokratie beobachtet. Nur in der Zeit zwischen 1960 und 1975 identifizierten sich große Teile der Gesellschaft damit. Damals traten viele Menschen in die Parteien ein und engagierten sich politisch. Diese Euphorie schwächte sich dann ab den 1980er Jahren ab. Hinzu kommt die Wiedervereinigung und die Entwicklung in der sogenannten Nach-Wendezeit in Ostdeutschland. Auf die kurze Euphorie in den frühen 1990er Jahren folgen schon bald persönliche und politische Enttäuschungen, auf unterschiedlichsten Ebenen. Auch ohne sie alle hier im Einzelnen diskutieren zu können ist klar, dass diese Erfahrungen bei manchen eine Abkehr von der Parteiendemokratie bewirkt hat. Und die äußert sich heute emotional, affektiv und in Wut:
TAKE 4 (O-Ton Gazka) L: 0, 30
Heute haben wir eine wachsende Wut, die damit zusammenhängt, dass Erwartungen lange sehr hoch waren, weil die Bundesrepublik ja eine sehr gute Erfolgsbilanz hatte und hat. Und die seit einigen Jahren offensichtlich wegbröckelt.
SPRECHERIN
Gewaltbereitschaft kann also, zumindest in bestimmten Gruppen, mit wachsender Demokratieverdrossenheit zu tun haben.
Und diese Demokratieverdrossenen, Wütenden sind ein bundesweites Phänomen. Selbst wenn sich die Motive zwischen Ost und West unterscheiden, diese Gruppen eint, dass sie sich nicht repräsentiert fühlen von der Mehrheit der Politiker und Politikerinnen in Deutschland. Denn, auch darauf weist die Historikerin Gatzka nachdrücklich hin, die Gesellschaft sei im Ganzen betrachtet, nicht unbedingt demokratischer und liberaler geworden:
MUSIK „Radar“; ZEIT: 00:55
SPRECHERIN
Gesellschaftliche Entwicklungen verlaufen nicht linear. Und nicht immer werden liberale Veränderungen beispielsweise in der Gesetzgebung von der Mehrheit der Gesellschaft mitgetragen. Besonders in unsicheren, krisenhaften Zeiten, das belegt ein Blick in die Geschichte, so Claudia Gatzka, verlieren Menschen das Vertrauen in die jeweilige Regierung oder gleich in ihren Staat. So wie wir es zurZeit auch beobachten können. In einigen gesellschaftlichen Gruppen scheint sogar das Vertrauen in die demokratische Staatsform grundlegend erschüttert zu sein. Das zeigen auch Untersuchungen der Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff vom Leibniz Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt/M. Demokratie gilt den meisten Menschen, abstrakt gefragt, zwar als die beste Staatsform.
TAKE 6 (O-Ton Deitelhoff) L: 0,30
Dann sind die Werte plötzlich ganz anders, dann sehen wir, dass sie stark abnehmen und zwar ungefähr seit 2015,16 sehen wir diesen Knick nach unten, in den ostdeutschen Ländern noch viel stärker als in den westdeutschen Ländern und bei denjenigen, die sich selbst für sozial abgehängt halten, nochmal viel stärker als bei den Gutverdienenden.
SPRECHERIN
Und auch zwischen den Generationen sind Unterschiede sichtbar: Je älter und besser verdienend, desto größer ist die Zustimmung zur gegenwärtigen demokratischen Praxis, je sozial schwächer und je jünger die Menschen sind, desto stärker nimmt diese Akzeptanz ab.
TAKE 7 (O-Ton Deitelhoff) L: 0, 15
Generell haben wir eher das Problem jeder findet die Demokratie als Idee noch prima, aber das Gefühl ist, dass die Demokratie, die um mich herum ist, irgendwie defizitär ist, mit der stimmt irgendetwas nicht, da hab ich nichts zu sagen, die kümmern sich nicht um mich.
SPRECHERIN
Das diffuse Gefühl von „da hab ich nichts zu sagen”, wird nicht nur im Internet in den unterschiedlichsten Foren genährt, sondern auch von einigen Politikerinnen und Politikern. Und zwar indem diese existentielle Untergangsszenarien skizzieren. Die sind, so erklärt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer letztendlich eine Kampfansage an das demokratische System, weil sie Zweifel daran säen, dass die Demokratie die gegenwärtigen Krisen meistern kann.
TAKE 8 (O-Ton Heitmeyer) L: 0, 30
Wir haben es gerade auch aus dem rechten, rechtsextremen Spektrum mit einer Emotionalisierung aller Probleme zu tun, und diese Emotionalisierung führt an vielen Stellen weg von rationalen Auseinandersetzungen mit Argumenten. Sondern die Emotionalisierung liefert dann gleichzeitig auch Entsicherungen mit. Und das sind dann Legitimationen für Gewalt.
SPRECHERIN
Diese „Entsicherungen” von denen Wilhelm Heitmeyer spricht, steigern die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden und führen nicht selten tatsächlich zu Gewalttaten. Sie speisen sich aus Gefühlen, die vor allem mit Angst zu tun haben: Kontrollverlust, sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit.
Dazu kommen „sprachliche Grenzverschiebungen“ durch bestimmte Politiker, die das Klima aufheizen. Und diese Sprache bereitet den Boden für Taten, für gewalttätiges Verhalten, so der Soziologe:
TAKE 9 (O-Ton Heitmeyer) L: 0, 30
Und wenn dann …mit einer Untergangsrethorik gearbeitet wird, also Untergang des deutschen Volkes, Untergang der deutschen Kultur etc. dann kann man daraus – und wer will schon untergehen – daraus dann ein Notwehrrecht konstruieren. Und Notwehr legitimiert immer Gewalt!
SPRECHERIN
Denn Notwehr suggeriert eine existentielle Bedrohung, die „eingedämmt“ werden muss. Und damit werden diejenigen, die in der politischen Auseinandersetzung eine andere Meinung oder einen anderen Lösungsansatz vertreten, zu Gegnern, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, sagt Claudia Gatzka:
TAKE 10 (O-Ton Gatzka) L: 0,30
Die Legitimität des Gegners wird ja fundamental in Frage gestellt, wenn ich Gewalt ausübe, ihm gegenüber. Ich möchte ihn weghaben, ich möchte ihn im Grunde eliminieren, ich erkenne ihn nicht an, auch als Mensch!
MUSIK privat Take 006 „On Powdered Ground (Mixed Lines)“, Album: Mr Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble, Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 00:42
SPRECHERIN
Diese Delegitimierung, also Nicht-Anerkennung, ist ein entscheidender Aspekt, um die Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker zu erklären, da sind sich die Forschenden einig. Die Ursachen dafür sind, soziologisch betrachtet, sehr komplex. Sie lassen sich nicht allein auf demokratiefeindliche, extremistische Untergangsrhetorik und die damit verbundenen Verlustängste erklären. Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld, versteht diese Entwicklung, die er „Durchrohung“ nennt, auch als Ergebnis struktureller Ungleichheiten, die unsere Gesellschaft prägen:
MUSIK ENDE
TAKE 11 (O-Ton Heitmeyer) L: 0, 20
Die kapitalistische Gesellschaft spricht nur Anerkennung aus für Gewinner. Das heißt, für diejenigen, die sich durchsetzen…, ob das mit Geld ist oder mit Status, das sind solche Entwicklungen, die in diese Durchrohung mit hineinführen.
SPRECHERIN
Die Strukturveränderungen sind demnach ein weiterer, entscheidender Faktor um zu erklären, warum sich bestimmte Gruppierungen nicht von diesem Staat repräsentiert fühlen. Je stärker die Prinzipien der kapitalistischen Logik auch die sozialen Beziehungen formen, ihre Lebenswelten also nach Effizienz und Nützlichkeit bewerteten, desto mehr Menschen bleiben als Verlierer zurück, meint der Soziologieprofessor. Zumindest fühlten sie sich als solche, selbst wenn sie gut versorgt zur Mittelschicht gehörten. Aber das ökonomistische Denken, so Wilhelm Heitmeyer, beeinflusst die Gefühlslage vieler Menschen. Die sich deshalb, verstärkt durch die Untergangsrethorik extremistischer Gruppen, das Recht herausnehmen auf die politischen Vertreterinnen und Vertreter des Staates, emotional zu reagieren. Hochaffektiv, mit Null-Toleranz, Wut und Gewalt:
TAKE 12 (O-Ton Heitmeyer) L: 0, 30
Kriminologen und Soziologen sprechen davon, dass je dominanter die Ökonomie wird, umso poröser werden die Bindungen an Werte und Normen. Und das hat dann durchaus Folgen, …und das setzt auch Aggressivität und verrohtes Verhalten dann frei. Also es geht immer wieder um das Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen und Verhaltensweisen.
MUSIK privat Take 006 „On Powdered Ground (Mixed Lines)“, Album: Mr Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble, Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 00:56
SPRECHERIN
Dieses Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen oder gruppenspezifischen Verhaltensweisen wird seit rund 20 Jahren zusätzlich durch die digitale Kommunikation gestaltet. Die quasi unbegrenzten Möglichkeiten im Netz, die Wut herauszulassen, den Frust in miesesten Haß-Reden abzulassen, verstärkt bei manchen das Gefühl, im Recht zu sein und endlich den Gegnern mal so richtig die Meinung zu sagen. Insofern spielen die digitalen Medien eine entscheidende Rolle bei der Radikalisierung und De-Legitimierung der vermeintlichen politischen Gegner. Denn durch die Algorithmen mit denen dort sichergestellt wird, dass Menschen mit den Inhalten bedient werden, die ihren Interessen entsprechen, verstärken sich die Gefühle derjenigen, die in diesen Gruppen unterwegs sind. Ein Effekt, der mittlerweile auch an den Schulen zu beobachten ist.
MUSIK ENDE
TAKE 13 (O-Ton Kollek) L: 0, 20
Und auch die Sprache, das lässt sich ja auch sehr gut nachzeichnen (…) da sehen wir ja auch, dass der sprachliche Austausch sich hier verändert hat und wir die Verrohung der Sprache auch sehr stark sehen, im Umgangston miteinander. Insbesondere unter jungen Menschen.
SPRECHERIN
Sagt die Bildungsforscherin Nina Kollek von der Universität Potsdam. In Schulen und an Universitäten habe sich eine Sprache etabliert, die durchaus gewaltverherrlichend sei, antisemitisch und rassistisch. Das ist gefährlich, so die Bildungsforscherin, denn Sprache ist im¬mer beides: Einerseits formt sie das Denken und Handeln der Menschen, die sie nutzen, und an¬der¬erseits drückt sie deren Denken aus.
TAKE 14 (O-Ton Kolleck) L. 0, 30
Und die jungen Menschen, wenn man mit denen darüber ins Gespräch kommt, … die sehen das auch so, viele fühlen sich auch bedroht dadurch. Manche machen dann aber auch irgendwie mit. Das sind verschiedene Effekte, die da eine Rolle spielen, einerseits lassen sie sich davon anstecken, von dem Umgangston in den Schulen selbst, aber viele sagen auch, dass es die sozialen Medien sind, die die jungen Leute dahingehend pushen.
MUSIK „In your head now“, ZEIT: 01:05
SPRECHERIN
Aber die sozialen Medien sind aus dem Leben nicht mehr wegzudenken, sie sind vielmehr ein fester Bestandteil davon. Beschimpfungen, Demütigungen und massive Ausgrenzungen können so eine enorme Wucht entfalten, denn dank der digitalen Medien verbreiten sie sich effektiver als je zuvor, wie verschiedene Studien gezeigt haben. Die Folge: Lügen stehen neben Fakten, haltlose Anschuldigungen neben berechtigten Klagen, Menschen werden mit Shitstorms überzogen, manche sogar in den Suizid getrieben. Und bei denen, die in diesen Foren und Chatgruppen unterwegs sind, entsteht dann der nicht zutreffende Eindruck, sie seien die Mehrheit, sie würden die Gesellschaft oder zumindest einen überwiegenden Teil davon repräsentieren. Für den Zusammenhalt in diesen Gruppen erweisen sich Verschwörungserzählungen als identitätsstiftend, zeigen Forschungen von Nina Kolleck:
MUSIK ENDE
TAKE 15 (O-Ton Kollek) L: 0, 30
Wir selber haben uns jetzt auch solche Verschwörungserzählungen angeschaut und da sehen wir, dass es schon Verschwörungserzählungen sind, verbunden mit einer Verrohung der Sprache, weil so oft dieses Freund-Feind Schema aufgebaut wird. Wir sind die Freunde und ihr seid die Feinde, und die Feinde gilt es zu bekämpfen oder gar auch zu vernichten, mit Gewalt zu vernichten! Da sehen wir, dass solche Verschwörungserzählungen in Zeiten der Unsicherheit besonders tragfähig sind, besonders weit verbreitet.
SPRECHERIN
Im Gegensatz zur Vor-Internet- und zur Vor-Smartphone-Zeit gibt es nicht mehr die eine Öffentlichkeit, sondern es entstehen immer mehr Öffentlichkeiten. Und das bedeutet, dass sich auch normativ einiges verschiebt, was über Jahrzehnte als selbstverständlich galt. Denn jede und jeder kann in der eigenen Internet-Blase anderen Normen folgen. Und deswegen verlieren solche normativen Übereinkünfte, wie der Gewaltverzicht in der politischen Auseinandersetzung, oder das Ideal einer rationalen Diskussion, um bestmögliche Lösungen zu finden, in immer mehr gesellschaftlichen Gruppen an Rückhalt und Bedeutung.
Verstärkend kommt hinzu, dass sich die meisten Menschen vor allem im eigenen sozialen Umfeld bewegen. Freunde, Wohnung, Schulen und Arbeitsstätte, es kommt immer seltener zu Vermischungen zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Und zwar in der realen Welt genauso wie im Internet, so Nicole Deitelhoff:
TAKE 16 (O-Ton Deitelhoff) L: 0, 30
Zusammengenommen ist das sehr unschön für den Zusammenhalt. Weil wir einerseits nicht mehr in Kontakt miteinander kommen und dadurch unsere Differenzen auch nicht verhandeln können, sondern eigentlich bauen wir die dadurch nur immer mehr auf und finden die immer natürlicher. Und auf der anderen Seite, wenn wir uns nicht miteinander auseinandersetzen, (…) dann sind wir auch sehr viel grober miteinander, weil wir eben denken, da gibt es nichts zu verhandeln.
SPRECHERIN
Das Desinteresse, das durch das Schweigen, durch die Sprachlosigkeit zum Ausdruck kommt, ist für Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff ein ganz entscheidender Grund dafür, warum sich unser Umgang verändert hat, und warum Gewalttätigkeit zunimmt. Jede Gruppe interessiere sich ausschließlich für ihre eigenen Probleme, Bedürfnisse und Lebensplanungen, andere kommen dabei höchstens als Störenfriede oder als politische Gegner vor. Deshalb würden viele gesellschaftlichen Konflikte nicht mehr ausgehandelt. Da ist auch die Einschätzung von Nina Kolleck:
TAKE 17 (O-Ton Kolleck) L: 0, 30
Wir müssen auf jeden Fall viel mehr ins Gespräch gehen, wir müssen viel mehr wieder in die Gesellschaft bringen, wie wichtig es ist, auch eine Kommunikationskultur zu haben, … weil das Problem was wir haben ist, wenn wir das Ganze einfach laufen lassen, es wird überall überschwappen, es wird dann normal sein, so übereinander zu reden und zu hetzen und es wird dann in der Konsequenz auch zu noch mehr physischer Gewalt führen …wenn wir da jetzt nichts tun und Maßnahmen dagegen ergreifen, gerade auch an den Schulen, dann wird sich das höchstwahrscheinlich noch mehr zuspitzen.
MUSIK privat Take 006 „On Powdered Ground (Mixed Lines)“, Album: Mr Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble, Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 00:44
SPRECHERIN
Dieser Teufelskreis führt letztendlich dazu, dass sich manche Menschen und einige Gruppen aus unserer demokratischen Gesellschaft verabschiedet haben. Wie Studien zeigen, ist es diese Distanz zu unserer Gesellschaft und unserem Staatswesen, die dazu führt, Gewalt gegen Andersdenkende nicht nur für legitim, sondern sogar für geboten zu halten. Das ist alarmierend. Und wir alle sind aufgerufen, uns in Gesprächen, Diskussionen, bei Demonstrationen und im täglichen Leben für unser demokratisches Gemeinwesen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt einzusetzen.
Automagnat und Antisemit, US-Unternehmergenie und Nazi-Sympathisant, Wohltäter und Hitlers Vorbild: Henry Ford gilt als Mann mit zwei Gesichtern. Forschungen rücken das in ein neues Licht. Von Sebastian Kirschner (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Sebastian Kirschner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Rahel Comtesse, Carsten Fabian, Jerzy May, Andreas Dirscherl
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Dr. Stefan Link (Wirtschaftshistoriker, Dartmouth College, Hanover/USA)
Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam)
Zitierte Literatur:
Henry Ford / Samuel Crowther, My life and work (1922)
Samuel S. Marquis, Henry Ford: An interpretation (1923)
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Stan Laurel und Oliver Hardy haben als ikonisches Duo der Stumm- und Tonfilmzeit das Genre der Filmkomik revolutioniert, mit Slapstick und universell verständlichem Humor. In Deutschland wurden sie als "Dick und Doof" bekannt, als populäre Massenware belächelt und in ihrer Bedeutung vielfach verkannt. Von Florian Kummert
Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie:
Es sprach: Susanne Schroeder
Technik:
Redaktion: Karin Becker
Im Interview:
Sven Hanuschek, Literaturwissenschaftler und Autor „Laurel und Hardy – eine Revision“
Wolfgang Günther, Laurel & Hardy Museum, Solingen
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Literatur:
Sven Hanuschek: Laurel und Hardy – eine Revision (Zsolnay/Kino, 2010)
Gianluca Buttolo: Laurel und Hardy (Splitter, 2024)
Norbert Aping: Das kleine Dick und Doof-Buch (Schüren, Neuauflage 2022)
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ERZÄHLERIN
Ein paar Takte dieser Musik genügen und sie transportiert uns in eine andere Welt. Die Welt eines Komiker-Duos, so gegensätzlich und doch untrennbar vereint. Der eine schlaksig und mit Strubbelhaaren, der andere korpulent und mit gestutztem Schnurrbart. Der eine trägt Fliege, der andere Krawatte, beide schwören auf ihre Hüte, Modell Melone. Stan und Ollie, mit vollem Namen: Stan Laurel und Oliver Hardy. In Deutschland auch bekannt als „Dick und Doof“.
Der Kuckuckstanz ist das musikalische Markenzeichen für die Stan und Ollie-Filme, die seit Generationen die Fans verzücken. So wie den Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek, Jahrgang 1964.
OTON Sven Hanuschek 1
Meine Leidenschaft begann natürlich in der Kindheit. Es gab so eine evangelische Wochenendfreizeit, die immer Samstagnachmittag Kinofilme gezeigt haben, und da gab es Buster Keaton und Laurel und Hardy. Ich denke, dass einer der Laurel und Hardy Filme der erste Kinofilm ist, den ich überhaupt gesehen habe auf der großen Leinwand.
ERZÄHLERIN
Slapstick-Abenteuer mit Titeln wie „Die Wüstensöhne“, „Die Klotzköpfe“ oder „Alles in Schlagsahne!“. In vielen lösen sie eine Verehrung aus, die in der Kindheit beginnt und das ganze Leben hält. Im Fall von Sven Hanuschek geht sie so tief, dass er über das Komiker-Duo ein Buch geschrieben hat: „Laurel und Hardy - eine Revision“.
Denn in Deutschland sind die beiden nun mal vor allem als „Dick und Doof“ bekannt. So wurden und werden sie oft reduziert auf Brachial-Komiker, die Torten werfen und auf Bananenschalen ausrutschen. Für Hanuschek ist die Geschichte von Dick und Doof in Deutschland eine - wie er sagt - „Schändungsgeschichte“.
OTON Sven Hanuschek 2
Es sind ja zum Teil Langfilme, große Spielfilme und im deutschen Fernsehen wurden die eigentlich immer nur gekürzt gezeigt, irgendwelche lieblos zusammengestellten Schnipsel, manchmal auch etwas liebevoller zusammengestellt, also man sieht nicht den eigentlichen Film. Es gibt sogar Kombinationen von verschiedenen Filmen, die dann zusammengeschnitten wurden, irgendwie, wo die meinten, das passt doch gerade.
MUSIK Väter der Klamotte
„Guten Abend, liebe Gäste, wir erfreuen euch aufs Beste, mit Klamotten, Komödianten,… (dann abblenden)
ERZÄHLERIN
Sendungen wie „Väter der Klamotte“, „Es darf gelacht werden“ oder eben - ab 1970 freitags im ZDF-Vorabendprogramm - der Straßenfeger „Dick und Doof“.
(( OTON Sven Hanuschek 3
Das sind immer so 20-Minüter gewesen, wo halt irgendwas zusammengebastelt, manchmal moderiert und mit merkwürdigen Tonspuren versehen wurde, die manchmal mehr, manchmal weniger gelungen, also öfter weniger gelungen waren, fand ich, auch sehr kalauerhaft und zum Teil einfach unterirdisch. Und das, was eigentlich die Filme ja ausgemacht hat, welche Ideen da drin stecken, die ja auch eigene Rhythmen haben, eine eigene Dramaturgie, das ist dadurch natürlich völlig zerstört worden und das meine ich mit Schändungsgeschichte. ))
ERZÄHLERIN
Das herablassende deutsche „Dick und Doof“ führte zu einer Geringschätzung in akademischen Kreisen und auch in cineastischen Nachschlagewerken. Andere Komiker der frühen Filmgeschichte, allen voran Charlie Chaplin, Harold Lloyd und Buster Keaton, werden als Meister ihres Fachs gewürdigt, die mit Poesie und akrobatischer Präzision große Kunst erschaffen haben, humorvolle Allegorien über den Umgang mit Armut, den Tücken der Moderne und den politischen Umbrüchen der Zeit.
OTON Sven Hanuschek 4
Das sind die Komiker, mit denen man sich beschäftigt, über die man schreiben kann, die auch als Meilensteine in der Kinogeschichte gelten und Laurel und Hardy sind eben Dick und Doof. Also die sind offenbar nicht satisfaktionsfähig, mit denen beschäftigt man sich nicht oder man benutzt sie sogar als Abgrenzung, um zu sagen, das ist jetzt eher so das Kleingeld der Komik oder das einfache, das primitive oder für die Kinder vielleicht auch nur.
ERZÄHLERIN
Eine Fehleinschätzung, die aber zunehmend korrigiert wird. Das liegt auch an der Materiallage. Die restaurierten Originalfassungen der Filme werden seit der Jahrtausendwende veröffentlicht, mit der englischsprachigen Tonspur und den diversen deutschen Synchronfassungen. Sie ermöglichen endlich einen unvoreingenommenen Blick auf die Leistung von Laurel und Hardy. Auf einzigartige Weise haben sie die Tücken des Alltags verarbeitet und uns als Publikum den Spiegel vorgehalten.
TRENNER, Sound gemütlich
ERZÄHLERIN
Dabei legen Laurel und Hardy-Filme eine bewusst andere Geschwindigkeit ein als die Konkurrenz. Während viele Slapstick-Werke der 1920er Jahre auf Rasanz setzen, nutzen Stan und Ollie die Komik der Langsamkeit. Slowburn nennt sich die Technik, das langsame, genüssliche Abfackeln des Feuerwerks, das in der gedehnten Handlung erst die volle Wirkung entfaltet und dem Publikum im Kinosaal Zeit zum Lachen gibt, ehe der nächste Gag inszeniert wird. Wenn Ollie etwa beim Servieren einer Torte stolpert und hinfällt, natürlich mit dem Gesicht in der Creme-Pampe, bleibt er erstmal liegen. Schicksalsergeben hebt er langsam den Kopf, so dass die Sahnecreme genüsslich Ollies Backe hinabläuft. Und als Finale ein weiteres Markenzeichen: der Blick direkt in die Kamera. Ein Blick, der das Publikum zu Komplizen macht.
OTON Sven Hanuschek 5
Da wird man ja einbezogen als Zuschauer. Die vierte Wand wird aufgemacht und dadurch hat man natürlich auch eine andere Art von Empathie, auch wenn das dann irgendwann zum Selbstzitat wird, wie bestimmte Motive sich ja doch wiederholen, bestimmte Gesten.
ERZÄHLERIN
Ollie, der - wenn er nervös wird - seine Krawatte zwischen den Fingern knotet. Stan, der - wenn er mal wieder auf der langen Leitung steht - die Stirn in Falten legt und sich am Kopf kratzt. Beide behalten aber immer ihre Würde, egal in welche Fettnäpfchen sie treten. Und sie bleiben gutherzige Typen und Freunde, auch wenn sie sich manche Gemeinheiten antun. Das Rezept: man nehme eine kleine Alltagsreiberei, und lasse sie dann Schritt für Schritt eskalieren. Laurel und Hardy, die Meister des „tit for tat“, zu Deutsch: „Wie du mir, so ich dir“.
OTON Sven Hanuschek 6
Das ist eigentlich eine Eskalationsstrategie in der Auseinandersetzung. Man tut dem anderen etwas an und der hat dann alle Zeit, sich zu überlegen, wie reagiere ich drauf und ich muss was dagegen setzen. Und das ist immer eins drauf und der andere sitzt dann da gespannt und wartet, was kommt jetzt, was ist die nächste Stufe und hindert den eben gar nicht. Der kann das dann ausführen und dann geht es wieder auf die andere Seite. Es geht hin und her, und auf die Weise kann das in ungeahnte Höhen getrieben werden.
ERZÄHLERIN
Eine Bananenschale kann zur Keimzelle einer riesigen Tortenschlacht werden, wie in „Der Kampf des Jahrhunderts“. Darin kauft sich Stan eine Unfallversicherung. Um schnell an das Geld zu kommen, legt Ollie für ihn Bananenschalen aus. Doch nicht Stan rutscht aus, sondern ein Kuchenhändler. Der rächt sich an Ollie, indem er ihm eine Torte ins Gesicht drückt. Daraus entwickelt sich eine irrwitzige Tortenschlacht, die ein ganzes Stadtviertel ins Chaos stürzt. 3000 Torten waren bei dem Finale im Einsatz. Bis heute steht die Szene im Guinness Buch der Rekorde für die „meisten verwendeten Torten in der Filmgeschichte.“
SOUND Torten werfen o.ä.
ERZÄHLERIN
Manchmal steht im Drehbuch nur ein einziges Wort, der Rest wird improvisiert. Das Wörtchen „Klavier“ wird die Grundlage zu einem ihrer erfolgreichsten Kurzfilme: „The Music Box - Das verrückte Klavier“, eine moderne Variation des Sisyphos-Mythos. Stan und Ollie versuchen ein Klavier anzuliefern, und müssen den schweren Kasten eine steile, lange Treppe hochtragen. Immer wieder entgleitet ihnen ihr Transportgut und rumpelt nach unten, zurück zum Ausgangspunkt. 1932 gewinnt „The Music Box“ den Oscar für den besten komödiantischen Kurzfilm.
MUSIK frei Introduction
“What’s your name?” “Stanley Laurel”
ERZÄHLERIN
Stan Laurel ist Brite und stammt aus einer Künstlerfamilie. 1890 kommt er im nordenglischen Ulverston zur Welt, als Arthur Stanley Jefferson. Von klein auf will er im Showbusiness auftreten, so wie sein Vater, ein Schauspieler und Theatermanager. Mit 16 Jahren gibt er sein Debut, erarbeitet sich ein Repertoire als Pantomime und tritt in Varieté-Theatern auf, den Music Halls. Dabei fällt er dem Produzenten Fred Karno auf, der komische Nachwuchstalente versammelt und mit ihnen auf Tour geht, darunter auch in die Vereinigten Staaten. Mit dabei: ein gewisser Charlie Chaplin, der bald zum Star der Truppe aufsteigt und mit dem sich Stanley zeitweise ein Zimmer teilt. Doch als Chaplin die Truppe verlässt, um sich seiner Filmkarriere zu widmen, ist dies das Ende der Tour. Stanley Jefferson beschließt in den USA zu bleiben. Er arbeitet weiter im Theater und ergattert 1917 seine erste Filmrolle.
MUSIK humorvoll, z.B. The Trail of the Lonesome Pine Intro
ERZÄHLERIN
Stanleys damalige Lebensgefährtin und Bühnenpartnerin Mae Dahlberg verhilft ihm zu seinem Künstlernamen. Als sie in einer Zeitung blättert, sieht sie das Bild eines römischen Generals mit einem Lorbeerkranz - auf Englisch „laurel“. Mehrmals sagt sie laut „Stan Laurel“ vor sich hin. Stan gefällt der Klang und bleibt dabei.
Als Stan Laurel dreht und dreht und dreht er, aber für den großen Durchbruch in Hollywood reicht es nicht. Eine kreative Heimat findet er in den Studios des Produzenten Hal Roach. Dort entscheidet er sich, seine Karriere vor allem hinter der Kamera weiter zu verfolgen, arbeitet zunehmend als Drehbuchautor und Regisseur. Bis er bei dem Projekt „Get’em Young“ wieder als Darsteller einspringen muss. Ein Schauspieler hatte sich beim Zubereiten einer Lammkeule den Arm verbrannt. Sein Name: Oliver Hardy.
MUSIK frei Introduction
“What’s your name?” “Oliver Norvell Hardy”
ERZÄHLERIN
Oliver Norvell Hardy, Spitzname Babe, geboren 1892 in Harlem, aber nicht im berühmten New Yorker Stadtteil, sondern in Harlem im US-Bundesstaat Georgia. Hardys wichtige Lehrjahre sind nicht wie bei Stan Laurel auf Theaterbühnen, sondern in der Lobby eines Hotels. Hardys Mutter ist Hotelmanagerin und ihr Sohnemann liebt es im Eingangsbereich zu sitzen und die Mimik der Gäste zu studieren und nachzumachen. 1910 wird er Vorführer im örtlichen Kino, sieht so gut wie alles, was damals auf den Markt kommt, und ist der Meinung: was die auf der Leinwand darbieten, das kann ich auch, oder sogar noch besser. So verschlägt es ihn schließlich nach Hollywood.
Oliver „Babe“ Hardy: ein Meter 85 groß, um die 140 Kilogramm schwer. Dank seiner Physis, aber auch seines Talents bekommt er bald erste Rollen. Aber nicht als komischer Ollie, sondern als Fiesling. Hardy ist zunächst abonniert auf Schurken-Rollen. Schließlich landet auch er bei den Hal Roach Studios und steht ab 1927 gemeinsam mit Stan Laurel vor der Kamera.
MUSIK Ku-Ku
ERZÄHLERIN
Schnell ist den Kreativköpfen im Studio klar: Laurel und Hardy sind eine Traumbesetzung. Die beiden so gegensätzlichen Typen harmonieren, und zwar nicht nur gut, sondern perfekt. Sie heben sich gegenseitig empor, sind gleichberechtigt und ausdrucksstark, zugängliche und wiedererkennbare Archetypen: zwei unschuldige Kinder im Körper von Erwachsenen, die die Leute zum Lachen bringen und die Leinwand zum Leuchten.
MUSIK/SOUND Laugh
OTON Wolfgang Günther 1
Das Faszinierende an Stan und Ollie ist natürlich die Art der Komik. Sie haben also keine Zoten, nicht irgendwelche Dinge, wo sich vielleicht andere drüber aufregen. Die Komik ist ja menschlich, alltäglich, und irgendwie sind wir ja alle „Dick und Doof“. Jedem passiert ja schon mal ein Missgeschick im Alltag, oder mal ein Zoff mit dem Partner oder mit dem Freund. Also jeder kann sich in den beiden wiederfinden und vielleicht ein bisschen in den Filmen über sich selber lachen, nicht?
ERZÄHLERIN
Findet Wolfgang Günther, der über die Filme noch lachen kann, obwohl er sie schon mehrere Hundert Mal gesehen hat. Günther betreibt mit seiner Frau in Solingen das Laurel und Hardy-Museum. Fünf Räume, eine Art begehbares Kuriositätenkabinett, vollgestopft mit Andenken an das Komiker-Duo: Figuren, Schmuckdöschen, Kaffeebecher, Autogrammkarten, Programmhefte, Plakate, Schellackplatten, und sogar ein Stan und Ollie-Flipperautomat, der noch in Betrieb ist.
Mit zehn Jahren sieht Wolfgang Günther im Kino „Dick und Doof im Wilden Westen“. In dem begeisterten Jungen erwacht eine Passion, die ihn nicht wieder verlassen soll. 1985 gründet er den ersten deutschen Stan und Ollie-Fanclub, zwei Jahre später das Museum, zunächst in der Privatwohnung, seit 2003 in einem historischen Gebäude in Solingen.
OTON Wolfgang Günther 2
In dieser Vitrine, da sind Schallplatten, darunter auch eine Schellackplatte aus dem Jahr 1932, die in London aufgenommen wurde, nach der ersten Europatour von Stan und Ollie. Aber wo die beiden dann ankamen im Hafen, da stand der ganze Hafen schwarz von Menschen, die dachten erst, da wäre ein Staatspräsident am Schiff, aber diese Tausende von Menschen, die wollten Stan und Ollie in England willkommen heißen. Und am Ende haben sie dann tatsächlich diese Platte produziert, als Dankeschön an die Engländer. Ein sehr seltenes Stück und eines meiner Lieblingsstücke aus ganz bestimmt.
ATMO/MUSIK kurzer Ausschnitt aus Platte
Pfeifen Dance of the Cuckoos, „Will you please stop annoying me while I make this speech?” “I’m not annoying you!” “Ladies and gentleman.” (lacht) (stop wiggling your tie, abblenden)
ERZÄHLERIN
107 Filme haben Stan Laurel und Oliver Hardy gedreht, drei bleiben verschollen. Die restlichen 104 aber hat Wolfgang Günther gesammelt und führt sie den Gästen im Museum auf einer Leinwand vor, auf Schmalfilm, Video oder DVD. Bei Wunsch in allen möglichen Sprachen. Sind französische Fans zu Besuch, parlieren Stan und Ollie en français…
ATMO frei: Film auf Französisch „Je suis Ollie…“
(( OTON Wolfgang Günther 3
Ich beschäftige mich ja schon mein halbes Leben mit Stan und Ollie, und wir haben eine sehr große Bibliothek hier in unserem kleinen Museum, hab viele Bücher gelesen und vor allen Dingen habe ich auch noch Menschen kennengelernt, die mit den beiden gearbeitet haben. Bei meiner ersten Convention in Amerika habe ich zum Beispiel einen alten Herren kennengelernt, der wirklich diese ganzen Props gemacht hat, also die Requisiten, die Autos, die auseinanderfallen mussten, präpariert und so weiter. Ich habe noch Schauspielerinnen kennengelernt, die mit den beiden gedreht haben. Das war schön und ich sage ja meinen Museumsbesuchern immer, sie müssen wissen, ich bin ja nicht mehr so jung, wie ich aussehe.))
ERZÄHLERIN
Wolfgang Günther, im Museum mit Stan und Ollie-Weste und Krawatte gekleidet, dazu die typische Melone auf dem Kopf, hat etliche Anekdoten auf Lager. Etwa dass Stan Laurels Nummer für alle sichtbar im Telefonbuch von Santa Monica stand, bis zu seinem Tod 1965. Und meist sprach er auch mit allen, die anriefen. Vor allem mit den Fans, den großen und den kleinen, und erzählte ihnen Geschichten über Stan und Ollie, ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen.
ERZÄHLERIN
Die Arbeit zwischen Laurel und Hardy ist dabei klar verteilt:
Oliver Hardy gibt vor der Kamera 100 Prozent, aber wenn die letzte Klappe fällt, bleibt er keine Sekunde länger als nötig und entschwindet in den Feierabend, zu seinem Lieblingshobby, dem Golfspielen. Stan Laurel hingegen ist der kreative Kopf, der mit einem Team von jungen Drehbuchautoren an den Gags und Geschichten feilt, der lange nach Drehschluss im Schneideraum sitzt und am Timing jeder Szene bis ins Detail arbeitet.
Sven Hanuschek:
OTON Sven Hanuschek 7
Man kann sich das, glaube ich, schon so vorstellen, dass Laurel der Besessene ist, also dem quasi egal ist, wer unter ihm Regie führt, der auch nie unbedingt genannt wird als Regisseur, aber er ist natürlich der Kopf hinter allem. Er denkt sich die Nummern aus, er macht die Nachbearbeitung, er macht den Schnitt, er bereitet den Dreh für den nächsten Tag vor, das ist auch ganz aufregend, dass er ein unglaublich genaues Gespür hatte, wie Timing sein muss.
Frei Dialog: “I want to be in Dixie”
“Well, I’m from the South, too.” “South of what?” “South of London”…
ERZÄHLERIN
Als Anfang der 1930er Jahre der Tonfilm zum Standard in den Kinos wird, geraten viele Stummfilm-Stars ins Straucheln und müssen ihre Karriere beenden. Nicht so Stan und Ollie - im Gegenteil. Sie nutzen die neuen Gestaltungsmöglichkeiten und werden noch populärer.
OTON Sven Hanuschek 8
Dieser Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm, das fand ich immer ganz beeindruckend. Der Ton, Geräusche, auch das wird zur Komik sofort eingesetzt. Und was auch zum Tonfilm ja gehört, zum Sprechen, wenn mehrere Personen im Raum sind, ist die Filmkonvention eigentlich gewesen im frühen Tonfilm, dass man nacheinander spricht, dass die sich abwechseln. Und das ist, glaube ich, auch nur bei Laurel & Hardy sofort so, dass die durcheinander reden, dass man gleichzeitig verschiedene Stimmen hört, was ja unserem Alltag entspricht. Ich meine, wir reden nicht geskriptet wie ein Drehbuch nacheinander säuberlich, sondern wir reden ineinander, übereinander. Und das hat Laurel sofort gesehen, gemacht, umgesetzt und auch Komik draus gezogen.
ERZÄHLERIN
Gar nicht komisch, sondern regelrecht tragisch sind dagegen die persönlichen Krisen, vor allem die Ehekrisen, die Oliver Hardy und Stan Laurel durchstehen müssen. Oliver Hardy ist dreimal verheiratet, bleibt kinderlos und leidet vor allem unter der jahrelangen Alkoholsucht seiner zweiten Ehefrau, bis er schweren Herzens 1937 die Scheidung einreicht. Stan Laurel ist insgesamt siebenmal verheiratet, tritt aber mehrfach mit denselben Frauen vor den Altar. Mit seiner ersten Ehefrau, Lois, hat er eine Tochter und einen Sohn, der neun Tage nach der Geburt stirbt. Ein Schicksalsschlag, an dem die Ehe zerbricht. Ehefrau Nummer Zwei, Ruth, heiratet er gleich zweimal. Sie wird später jede Nacht die Feuerwehr, die Notfallambulanz und die Polizei zu Stan ins Haus schicken, um ihren Ex zu ärgern.
Und Ehefrau Nummer Drei, Illeana, ehelicht Stan Laurel - dreimal. Dazwischen liegen erbitterter Streit, viel zerbrochenes Geschirr und enorme Anwaltskosten. Sie verursacht betrunken Autounfälle, er gräbt wütend ein Loch im Garten, um die verhasste Gattin darin zu begraben. Erst mit Ehefrau Nummer Vier, oder eben nach anderer Zählweise, Ehefrau Nummer Sieben, findet Stan Laurel sein Glück, spät im Leben.
MUSIK melancholisch, evtl. In my canoe
ERZÄHLERIN
Da hat die Karriere von Laurel und Hardy bereits etliche Dämpfer hinnehmen müssen. Hal Roach ist die endlose, schlechte Publicity um die Ehekrisen bei Stan Laurel leid und feuert ihn, nur um ihn später doch wieder einzustellen. Die Filmprojekte mit Oliver Hardy ohne Stan Laurel will niemand sehen. 1940 endet aber die Zusammenarbeit mit den Hal Roach Studios. Laurel und Hardy heuern bei 20th Century Fox und MGM an, drehen dort gutbezahlte Spielfilme, büßen aber an künstlerischer Freiheit ein. Sie müssen sich streng ans Drehbuch halten und haben kaum Freiraum für Improvisationen. 1951 entsteht in Europa ihr letzter Film, „Atoll K“, auch bekannt als „Dick und Doof erben eine Insel“. Ein Flop, der zu den schwächsten des Duos zählt, und bereits während der Dreharbeiten aufgrund einer schweren Erkrankung von Stan Laurel unter keinem guten Stern steht.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Neues Material gibt es nun nicht mehr, aber die Popularität bei den Fans bleibt ungebrochen, vor allem als das Fernsehen aufkommt, und die früheren Erfolge zu Quotenhits werden, in den USA und in Europa.
In Großbritannien gehen Stan und Ollie Anfang der 1950er Jahre nochmals auf Bühnentour. Die Menschenmassen, die sie bei ihren öffentlichen Auftritten empfangen, sind Balsam für die alternden Künstler-Seelen. Im Mai 1954 findet die letzte gemeinsame Bühnenshow statt. Dann lässt die Gesundheit nach. Stan Laurel erleidet einen leichten Schlaganfall. Oliver Hardys Herz wird immer schwächer. Er magert stark ab und stirbt 1957 mit 65 Jahren.
Stan Laurel überlebt ihn um gut sieben Jahre, tritt aber nie wieder in einem Film oder auf der Bühne auf. 1961 erhält er noch einen Ehren-Oscar für sein Lebenswerk, gern hätte er die Goldstatue gemeinsam mit seinem Freund und Partner Oliver Hardy entgegengenommen.
MUSIK Way Out West / At the Ball that’s all (mit Jodel-Sound)
ERZÄHLERIN
Vielleicht hätten sich die beiden mit einem Sketch bedankt, oder einem ihrer zauberhaften Synchron-Tänze, so wie in ihrem eigenen Lieblingsfilm, dem Western „Zwei ritten nach Texas“, als sie einen staubigen Flecken Erde vor einem Saloon in eine magische Kinolandschaft verwandeln.
Vulkanausbrüche auf La Palma (2021) und Heimaey (1973) zeigen, welch umgreifenden Folgen solche Naturkatastrophen auf die Bewohner und die Landschaft haben. Doch nicht alles ist katastrophal: Landgewinnung, geothermale Energie, Lava-Tourismus und neue fruchtbare Erde bringen auch Vorteile. Von Brigitte Kramer (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Andreas Neumann, Julia Fischer, Peter Lersch
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Juana Vegas (Geologin, Spanisches Institut für Geologie und Bergbau, Madrid);
Azucuhae del Rosario Martín (Vorsitzender Bürgerverein, La Palma);
Kristín Johannsdótir (Leiterin Vulkanmuseum Insel Heimaey, Island);
Andreas Klügel (Geologe, Universität Bremen)
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Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
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Grönlandhaie werden bis zu 600 Jahre alt und sind damit die ältesten bekannten Wirbeltiere. Sie sind auch sehr langsam, sie schaffen nur rund drei Stundenkilometer. Ob sie gefährdet sind, weiß man nicht. Mit der Eisschmelze in der Arktis nimmt aber die Fischerei und damit die Bedrohung ihres Lebensraums zu. Von Brigitte Kramer (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Irina Wanka
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Jürgen Kriwet, Paläobiologe, Universität Wien;
Matthias Schaber, Biologe, Ozeanograph, Thünen-Institut (Institut für Seefischerei), Bremerhaven
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Literaturtipps:
Katherine Rundell: The golden mole and other living treasure. Faber & Faber Ltd, 2022
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Von Kaiser Neros grünem Smaragd, den er sich bei Gladiatorenkämpfen vor die Augen hielt, über den Lesestein der mittelalterlichen Mönche bis hin zu computergeschliffenen Gleitsicht-Gläsern, von der Sehhilfe zum Mode-Accessoire: Die Geschichte der Brille erzählt über Jahrtausende hinweg vom Wandel der Gesellschaft. Von Florian Kummert
Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Sebastian Fischer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Florian Breitsameter, Kurator für Medizintechnik, Deutsches Museum München
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Literatur:
Herbert Schwind: Brillengeschichten – grandios und kurios: Eine Zeitreise (Wagner Verlag, 2015)
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Die Geschichte der Brille, sie beginnt mit einem Verrückten: dem römischen Kaiser Nero.
Berühmt-berüchtigt dafür, dass er Rom anzünden ließ, und dazu die Leier spielte. Tolle Geschichte - aber eine, die eher ins Reich der Legenden gehört.
SOUND Ende
ERZÄHLERIN
Genauso wie die Idee zu Neros Brille.
evtl. MUSIK Hans Zimmer GLADIATOR
ERZÄHLERIN
Der Kaiser - so schreibt Plinius der Ältere - sah leidenschaftlich gerne Gladiatorenkämpfe (SOUND Schwerterkampf), auch an sommerlichen Tagen, wenn der Sand im Kolosseum hell erstrahlte. Und eben diese Kämpfe - verrät Plinius - habe Nero durch einen geschliffenen Smaragd betrachtet. Konnte er so das Spektakel schärfer sehen? Der grüne Edelstein als frühe antike Sehhilfe?
OTON Florian Breitsameter 1
Die Geschichte mit dem Smaragd, die mag stimmen. Das war allerdings gar kein Brilleneffekt, was man heute als Brille kennt, also zum Ausgleich einer Fehlsichtigkeit, sondern was er gemacht hat, war eigentlich sich zu schützen vor dem grellen Licht. Das war eher die Erfindung der Sonnenbrille, mit dem Smaragd.
ERZÄHLERIN
Sagt Dr. Florian Breitsameter. Er ist im Deutschen Museum München Kurator für Medizintechnik, und hat in der Ausstellung auch der Geschichte der Brille viel Raum gewidmet. Passend zum Thema ist Breitsameter Brillenträger, seit seinem neunten Lebensjahr.
OTON Florian Breitsameter 2
Wir sind jetzt in der Ausstellung Gesundheit im dritten Stock des Deutschen Museums. Und wir haben eine Vitrine, die hat ungefähr eine Höhe von 3,50 Meter und geht runter fast bis in Bodenhöhe und haben hier 25 Brillen, die wir hier präsentieren, die auch tatsächlich so einen Gang durch die Geschichte der Brille und die Entwicklung der Brille zeigt. Und das älteste Exponat, was den Ursprung zeigt, ist auf Augenhöhe hier die mittelalterliche Lederbrille.
ERZÄHLERIN
Denn die Brille als Sehhilfe ist eine Erfindung des Mittelalters. Kaiser Nero und andere antike Römer müssen sich ein paar Jahrhunderte vorher noch anders behelfen. So beklagt sich Cicero in einem Brief an seinen Freund Attikus, dass altersbedingt seine Sehkraft nachlasse und er nicht mehr lesen könne. Seine Lösung: er lässt sich alles von einem Sklaven vorlesen.
MUSIK z.B. Der Name der Rose - Main Titles, darüber:
ERZÄHLERIN
Mit dem Niedergang des Römischen Reichs verschwinden nicht nur die Vorlesesklaven, sondern auch in weiten Teilen der Gesellschaft das Interesse und die Fähigkeit zu lesen, auch im Adel und bei den Regenten. Das Mittelalter: eine Zeit der Analphabeten. Die Kunst des Lesens und Schreibens wird vor allem hinter dicken Klostermauern gepflegt, bei den Mönchen. Die hüten in ihren Bibliotheken wahre Wissensschätze und schaffen mit ihren Handschriften Kunstwerke.
Eine Arbeit, die die Augen anstrengt. Viele Mönche leiden mit zunehmendem Alter an Sehschwäche. Ihnen hilft ein so genannter Lesestein, aus einem besonderen Mineral.
OTON Florian Breitsameter 3
Das Wort Brille, das kommt eigentlich vom Mineral Beryll, schön klar, kann man gut verarbeiten auch, und daraus waren sogenannte Lesesteine gefertigt. Lesesteine sind eigentlich was relativ Einfaches: ovale Halbkugeln, die man auf etwas drauflegen kann und durch diesen optischen Effekt, wie beim Wassertropfen, vergrößert sich das, was drunter ist. Das kann man Zeile für Zeile abfahren, quasi ein Lupeneffekt.
ERZÄHLERIN
Experimentierfreudige Mönche finden heraus, dass der Lesestein nichts von seiner vergrößernden Wirkung einbüßt, wenn man ihn flacher schleift. Zudem kann man ihn bequem vors Auge halten, am besten in einem Rahmen aus Holz, Knochen oder Horn, mit einem kurzen Haltegriff versehen. So wird aus dem Lesestein das Einglas.
Es muss vor dem Jahr 1300 gewesen sein, vermutlich in Norditalien, als ein erfindungsreicher Geist auf die Idee kommt, zwei solcher Eingläser an den Enden der Haltegriffe zu vernieten. Daraus entsteht die erste Form der heutigen Brille, die Nietbrille. Allerdings kein Modell zum Aufsetzen, seitliche Bügel gibt es nicht.
OTON Florian Breitsameter 4
Sie war nicht dafür gedacht, dass man die auf die Nase klemmen konnte, sondern man musste die tatsächlich vor die Augen halten, wenn man was anschauen wollte. Man hat es selber so lange eingestellt, bis man einigermaßen wieder scharf sah. Natürlich mit allen Fehlern, die das Glas damals auch hatte, das heißt, es hatte Schlieren, es hatte im schlimmsten Fall Einschlüsse, war nicht sauber geschliffen, hat an dem Rand schon stark verzerrt, man hatte eigentlich bloß einen kleinen Ausschnitt, wo man wirklich einigermaßen scharf sehen konnte damit. Aber wie gesagt: besser als nichts.
MUSIK z.B. Der Name der Rose - End Titles, darüber:
ERZÄHLERIN
Die Nietbrille hilft vor allem Mönchen beim Lesen und Schreiben. So wird sie beim Volk und auch in der darstellenden Kunst zum Symbol für Bildung und Gelehrsamkeit. Bildhauer und Maler zeigen Propheten und Philosophen gern bebrillt, auch bei Petrus an der Himmelspforte darf die Nietbrille nicht fehlen. Die erste Darstellung einer Brille nördlich der Alpen findet sich 1403 auf dem Altar der Stadtkirche von Bad Wildungen. Der darauf abgebildete „Brillenapostel“ ziert heute noch das Siegel der Kirchengemeinde.
SOUND Knarzen, Buchdruck-Presse
ERZÄHLERIN
Weltliche Brillenträger außerhalb von Klostermauern finden sich erst mit dem Beginn der Neuzeit. Als Johannes Gutenberg 1450 den Buchdruck erfindet, revolutioniert er die abendländische Gesellschaft. Texte sind leicht und billig zu vervielfältigen, der Bildungsdurchschnitt steigt, immer mehr Menschen lernen lesen.
Die Nebenwirkung: der Bedarf an Brillen wächst.
Der Nürnberger Ratserlass für Brillenmacher von 1478 gibt erste schriftliche Hinweise auf die Herstellung von Brillen in der Stadt. 1535 wird in Nürnberg dann die erste Brillenmacher-Zunft gegründet, Regensburg, Augsburg und Fürth folgen. Die Technik wird immer weiter verfeinert: ab dem 16. Jahrhundert sind konkav geschliffene Gläser gegen Kurzsichtigkeit nachgewiesen.
Der im frühen 17. Jahrhundert lebende Philosoph und Naturwissenschaftler René Descartes schreibt über die Bedeutung der Brille:
ZITATOR
„Unsere gesamte Lebensführung hängt ab von unseren Sinnen, und die Tatsache, dass das Sehen der umfassendste und prächtigste von ihnen ist, lässt keine Zweifel daran, dass alle Erfindungen, die der Erweiterung seiner Kraft dienen, zu den nützlichsten gehören, die es gibt.“
ERZÄHLERIN
Abergläubische Menschen wiederum sehen keinen Nutzen in der Brille, sondern halten sie für Teufelszeug. Die Wirkung des geschliffenen Glases können sie sich nicht erklären, also müssen hier dämonische Zauberkräfte mit im Spiel sein. Für dieses Klientel entwickeln findige Wunderheiler die absonderlichsten Arzneien und Augenwässerchen.
Wie wäre es mit diesem Rezept aus dem 14. Jahrhundert?
ZITATOR
Eselsmilch, Majoran, Augentrost, Schöllkraut, Fenchel und Rosskümmel mischen und alles trinken.
ERZÄHLERIN
Und dann auf die heilende Wirkung warten. 300 Jahre später warnt der Dresdner Okulist Georg Bartisch:
ZITATOR
Lasst euch nicht auf eine „gefährliche“ Brille ein. Nehmet stattdessen meine Tropfen mit „gepülvert Gämsenleber“ und „gepülvert Rebhühnerherz“.
ERZÄHLERIN
Andere Arzneibücher empfehlen zur Verbesserung der Sehkraft, sich eine gedörrte Fuchszunge um den Hals zu hängen.
MUSIK, evtl. Sarabande Händel (für Welt des reichen Adels)
ERZÄHLERIN
Wer sich dennoch für die Brille entscheidet, hat die Qual der Wahl. Vom Billigglas bis zur Luxusvariante. Am teuersten und begehrtesten: reines, weißes Glas aus Venedig, von der Glasbläser-Insel Murano. Glas, das standesgemäß in ein exquisites, aufwändig verziertes Gestell eingepasst wird. Vor allem der Adel entdeckt mit der neu erwachten Lust aufs Lesen auch die Brille als modisches Accessoire. Am Spanischen Hof kommt es im 17. Jahrhundert gar zu einem regelrechten Brillen-Hype. Selbst adelige Damen, die sich bester Sehkraft erfreuen, tragen - si claro - Brille, nur eben mit gerahmtem Fensterglas.
SOUND (Brillen-)Glas bricht oder knackst
ERZÄHLERIN
Kaputtes Fensterglas ist leicht auszutauschen. Kaputte geschliffene Gläser passend zu ersetzen hingegen ein Problem. Und wer noch dazu auf edles Murano-Glas beharrt, braucht viel Geduld. Der englische Kanzler, Thomas Morus, hatte wohl eine kaputte Murano-Brille. Doch das neue Glas kam und kam nicht. So musste er sich vom Maler Hans Holbein mit gesprungenem linken Brillenglas porträtieren lassen.
OTON Florian Breitsameter 5
Eine ganz interessante Entwicklung ist beispielsweise hier die Glasbrille, das ist quasi so ein Vorläufer der randlosen Brille. Das heißt, Sie haben beide Gläser und der Mittelsteg ist ein Stück aus Glas und links und rechts sind bloß Ösen und damit haben Sie ein Band befestigt und das quasi um den Kopf gebunden und damit hatten Sie eine randlose Brille und konnten damit schön sehen, hatten beide Hände frei auch tatsächlich für Ihre Arbeit und ja, es sah jetzt nicht unbedingt schön aus, aber war relativ praktisch. Aber natürlich, da das Ganze aus einem Stück Glas gefertigt war: wenn die einmal runterfiel, war sie kaputt. Also in der Hinsicht dann doch eher unpraktisch.
SOUND Glas zerbricht
MUSIK leicht ironisch, z.B. Kite Flying Society, Soundtrack Rushmore
ERZÄHLERIN
Die Brille mag zwar das Symbol für Bildung und Gelehrsamkeit sein, schnell werden ihre Trägerinnen und Träger aber auch Zielscheibe für Spott. Es gibt Karikaturen über die Büchernarren, die tief in ihre Werke versunken sind und jenseits des Brillenrahmens die Welt gar nicht mehr wahrnehmen. Und neue Wortschöpfungen: Brillenschlange, Blindschleiche. Die Sehkrücke oder das Spekulier-Eisen. Was vom lateinischen Wort „speculare“ für „beobachten“ abstammt. Daher sagt man in den USA zu den Brillen auch „specs“. Aber egal in welchem Jahrhundert - mit ihren „specs“ können sich viele gar nicht anfreunden, jenseits und diesseits des Atlantiks.
MUSIK kurz hoch (leicht ironisch, z.B. Kite Flying Society, Soundtrack Rushmore)
ERZÄHLERIN
Der prominenteste Brillen-Hasser hierzulande: Deutschlands Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe. Er ist kurzsichtig und kann bei Theaterbesuchen das Ensemble auf der Bühne nur unscharf sehen, was ihn nervt. Noch mehr nerven ihn aber seine Sehhilfen, wie er schreibt:
ZITATOR
„Sooft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selber nicht. Ich sehe mehr, als ich sehen sollte. Die schief gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Inneren, und ich lege die Gläser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist.“
ERZÄHLERIN
Gesprächspartner, die Brille tragen, sind Goethe höchst suspekt. Mit ihnen könne man sich nicht unbefangen unterhalten. Außerdem – so wird es in Herbert Schwinds Buch über „Brillengeschichten“ zitiert - habe er stets das Gefühl, dass sein Gegenüber ihm bei der erstbesten Gelegenheit etwas Unverschämtes sagen wolle. Gefühle, die Goethe 1827 in dem Gedicht „Feindseliger Blick“ verewigt:
ZITATOR
Du kommst doch über so viele hinaus,
Warum bist du gleich außer‘m Haus,
Warum gleich aus dem Häuschen,
Wenn einer dir mit Brillen spricht?
Du machst ein ganz verflucht Gesicht
Und bist so still wie Mäuschen.
(…)
Was ist denn aber beim Gespräch,
Das Herz und Geist erfüllet,
Als dass ein echtes Wortgepräg
Von Aug zu Auge quillet!
Kommt jener nun mit Gläsern dort,
So bin ich stille, stille;
Ich rede kein vernünftig Wort
Mit einem durch die Brille.
OTON Florian Breitsameter 6
Es klingt paradox, wir verbinden Goethe mit Dichter und Denker als einen Intellektuellen und heute werden Intellektuelle sehr gern mit Brille gesehen, eigentlich auch dargestellt. Goethe sah das anders, der war sehr eitel, wollte eben als eitler Mensch nicht mit Brille dargestellt werden. Es gibt auch keine Darstellung von ihm mit Brille, man weiß nur, dass er eine Scherenbrille benutzt hat, tatsächlich, wenn es notwendig war.
ERZÄHLERIN
Eine Scherenbrille, wie sie auch in der Ausstellung im Deutschen Museum München zu sehen ist. Das Konzept der Scherenbrille ist ähnlich dem der Nietbrille, nur dass man sie sich nicht von oben vor das Gesicht hält. Stattdessen nimmt man die beiden längeren Griffe mit den eingefassten Gläsern, klappt das Gelenk wie eine Schere auf und hält sie von unten im passenden Abstand vor die Augen. Manche Modelle haben im Griff gleich ein Etui integriert, so dass die Brille schnell und unauffällig wieder verstaut werden kann. Scherenbrillen sind von 1750 bis ins 19. Jahrhundert hinein im Einsatz. Dann werden sie von der in Frankreich bei adeligen Damen populären Lorgnette abgelöst, der Stiel-Brille. Bei ihr können sich Frauen wie Männer die Brille am Ende eines langen Stiels vors Gesicht halten. Dank eines Kettchens am Stil hängen sich viele die Lorgnette wie ein Schmuckstück um den Hals, aufwändig verzierte, silbern oder golden gefasste Miniaturkunstwerke. Florian Breitsameter zeigt ein besonderes Exemplar, das zugleich als Sehhilfe und als Hörhilfe dienen kann: die Hör-Lorgnette.
OTON Florian Breitsameter 7
Das ist ein sehr gutes Beispiel über die Wahrnehmung zwischen schlecht hören und schlecht sehen. Die Hörlorgnette einerseits sieht aus wie eine normale Lorgnette. Das heißt, Sie haben Gläser drin und man hält es sich elegant vor das Auge. Und jeder denkt, ah, die Person sieht schlecht. In Wirklichkeit aber ist es eigentlich ein verstecktes Hörrohr. Wir haben oben am Ende, kurz über den Gläsern, eine kleine Olive. Die können Sie sich ins Ohr stecken. Und unten am Griff ist eine Öffnung und der ganze Griff ist hohl. Und es ist eigentlich nichts anderes als ein langes Schallrohr, ein verstecktes Hörrohr. Denn das Schlechthören war noch peinlicher als das Schlechtsehen. Schlechthören hieß auch, dass man eben Gesprächen nicht gut folgen konnte. Man war schnell die Außenseite. Man ist getrennt von den Menschen. Es gibt zum Beispiel auch den Spruch: „Nicht sehen können, trennt von den Dingen, nicht hören können von den Menschen.“
ERZÄHLERIN
Die Brille als modisches Accessoire - etwa in Form einer verzierten Lorgnette. Mit Eleganz und Grazie wird die Sehschwäche kaschiert. Eine Eleganz, die den Hörhilfen fehlt. Das beschleunigt die gesellschaftliche Ausgrenzung und die verhängnisvolle Haltung: Wer schlecht hört, ist auf der Seite der Dummen. Deutlich zeigt dies das englische Wort für taub, deaf, eng verwandt mit dem deutschen Wort doof.
OTON Florian Breitsameter 8
Es war viel peinlicher, schlecht zu hören und ein Hörrohr benutzen zu müssen, als es peinlich war, eine Lorgnette oder eine Sehhilfe benutzen zu müssen. Und es hat sich auch heute nichts daran geändert. Im Grunde, ein Mensch, der quasi durch eine Brille sieht, kann man sagen, der wird vielleicht wahrgenommen als intellektuell, als schlau und sonst etwas. Während ein Mensch, der ein Hörgerät trägt, das sieht eher aus wie ein Makel, ehrlich gesagt. Das ist immer noch so in der Gesellschaft.
MUSIK preußisch streng, passend zu Monokel/Wiener Kongress
ERZÄHLERIN
Eine Gesellschaft, die lange Zeit das Tragen einer Brille vor allem den Männern zugesteht. Während die Damenwelt sich nur im Bedarfsfall die Lorgnette vors aparte Gesicht halten soll, wird die Brille zum festen Bestandteil des männlichen Erscheinungsbilds. Preußische Strenge und Autorität vermittelt dabei insbesondere das Monokel, das Einglas, das am Auge eingeklemmt wird. Auf dem Wiener Kongress 1814 bis 1815 zeigen sich die ersten Diplomaten mit Monokel, damals in Österreich als „Ringstecher“ bekannt. Bald wird das Monokel zum Symbol einer elitären Aristokratie und des höheren Militärdienstes. Als Ausdruck einer guten Erziehung zählt in diesen Kreisen eine regungslose Mimik, und die war dringend nötig, um das Einglas im Gesicht zu behalten. Auch das aufstrebende, wohlhabende Bürgertum idealisiert zunehmend eine bewusste, aufrechte Körperhaltung. Die nehmen nicht nur Monokel-Träger ein. Ende des 19. Jahrhunderts werden auch Klemmer oder Kneifer populär. Die hält eine elastische Federspange zwischen den Gläsern auf der Nase, aber da die Seitenbügel fehlen, sind allzu hastige Bewegungen nicht ratsam. So betont der bis zum 1. Weltkrieg beliebte Kneifer eine aufrechte, militärisch stramme Haltung.
MUSIK Charleston, Roaring Twenties, kurz
ERZÄHLERIN
Mit den 1920er Jahren und den aufkommenden Roaring Twenties setzt sich dann die Bügelbrille endgültig durch. Deutsche Firmen wie Zeiss oder Rodenstock revolutionieren mit ihren Patenten den Weltmarkt für geschliffene Gläser. Carl Zeiss etwa patentiert 1936 das Verfahren zur Entspiegelung von Gläsern, allerdings dauert es weitere zwei Jahrzehnte bis Zeiss 1959 als erster Hersteller für den breiten Markt entspiegelte Gläser anbieten kann. In den 1950er Jahren werden auch die ersten Prototypen der Gleitsichtgläser entwickelt, denen dank aufwändiger Berechnungen der nahtlose Übergang von Fern- zu Nahsichtkorrekturen gelingt.
SOUND Gläser schleifen
ERZÄHLERIN
Der Vorgänger der Gleitsichtgläser, die Bifokal-Brille, hat übrigens einen berühmten Erfinder: Benjamin Franklin. Der amerikanische Staatsmann und Verleger entwickelt unter anderem den Blitzableiter und eine frühe Form der Taucherflossen und wird einer der entscheidenden Autoren der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung der Vereinigten Staaten. Ein Mann, der viel liest und schreibt und seine Augen nicht schont. Gegen seine Kurzsichtigkeit trägt Benjamin Franklin eine Fernbrille, für die zunehmende Altersweitsicht braucht er aber eine Lesebrille. Das ständige Wechseln der beiden Brillen wird ihm lästig. Also schneidet er um 1770 die Gläser der beiden Brillen in der Mitte auseinander und setzt die beiden Teilstücke in einer einzigen Fassung übereinander. Mit diesem „Franklin-Glas“ bastelt er sich die erste Bifokal-Brille. Schaut Benjamin Franklin nach unten, kann er lesen. Sieht er nach oben, kann er den Blick in die Ferne schweifen lassen und die Aussicht in allen Details genießen.
MUSIK Top Gun Anthem - Harold Faltermeyer
ERZÄHLERIN
Und heute? Hat die Brille durch die Kontaktlinsen und Laserchirurgie moderne Konkurrenz bekommen - und hat sich dennoch von den Augen dieser Welt einen festen Platz auf Millionen, ach was, auf Milliarden von Nasenflügeln gesichert. Als Sehhilfe und - ebenso wichtig - als Schutz für die Augen, als Sonnenbrille.
Die hat sich zum Tausendsassa entwickelt. Schützt vor der Sonne - wie einst Neros grüner Smaragd. Und spielt mit der eigenen Persönlichkeit. Sie lässt einen elegant erscheinen - wie Audrey Hepburn auf Shopping-Tour in „Frühstück bei Tiffany“. Oder heldenhaft cool - wie Tom Cruise im Flieger-Abenteuer „Top Gun“.
(Musik kurz frei bzw. hochziehen)
Er trägt eine Ray Ban Aviator, mit klassisch grün gefärbten Gläsern, gut gegen UV-Strahlung. Mit ihrem ikonenhaften Design darf sie auch im Deutschen Museum in Florian Breitsameters Sammlung zur Brillengeschichte nicht fehlen.
OTON Florian Breitsameter 9
Die klassische Ray Ban Aviator, die man aus Top Gun kennt, ist die erste Art dieser Brille, die für die normalen Gebraucher, also für die normalen Menschen gedacht war. Denn entwickelt wurde diese Brille tatsächlich für Piloten. Und zwar für amerikanische Piloten, die im Krieg sozusagen gegen die Sonne fliegen mussten und deswegen einen guten Schutz für ihre Augen brauchten. Und deswegen hat man extra die Entwicklung einer Sonnenbrille in Auftrag gegeben. Die Besonderheit, was sozusagen immer charakteristisch war für diese Brille, ist oben ein sehr, sehr dicker Steg. Und dieser Steg war gedacht nicht nur für Stabilität, sondern dieser Steg sollte Schweißtropfen, die von der Stirn kommen, aufhalten.
Die Sonnenbrille hat sehr stark auch mitgeholfen, dass die Brille etwas Modisches wurde und dann wird es eben zur Normalität etwas auf der Nase zu tragen und wird auch nicht mehr unterschieden, ist es jetzt wegen Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit oder weil ich einen Sonnenschutz will oder ich will einfach modisch eine Brille tragen.
Lieferketten halten die Welt zusammen und sind dabei anfällig für geopolitische Spannungen, Cyberkriminalität und Produktionsbedingungen. Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz und die europäische Lieferkettenrichtlinie sollen sie nun transparenter und widerstandsfähiger machen. Digitalisierung ist dabei sehr wichtig. Von Brigitte Kramer
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Anja Scheifinger
Es sprach: Rahel Comtesse
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
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Was für eine Gratwanderung. Wer sich um eine Arbeitsstelle bewirbt, muss eigene Ansprüche formulieren und zugleich versuchen, mögliche Erwartungen des Gegenübers zu erfüllen. Außerdem gilt: bloß nicht bedürftig wirken! Das war vor 200 Jahren anders. Damals schrieben Jobsuchende noch richtiggehend Bettelbriefe. Von Justina Schreiber (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Florian Schwarz
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
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Literaturtipps:
Timo Luks, „In eigener Sache: Eine Kulturgeschichte der Bewerbung“ – gut geschriebenes, fachlich kompetentes Buch, das die Historie der Bewerbung vom Bittschreiben bis zur Selbstinszenierung an Hand schöner Beispiele darstellt.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Jetzt wird nachgekocht: Iska Schreglmann erweckt in der 3. Podcast-Folge das Familien-Kochbuch von 1871 wieder zum Leben. Mit ihrem 25jährigen Sohn Ben kocht sie eines der ungewöhnlichen Rezepte: Schnepfen-Pastete. Mithilfe einer Ahnenforscherin wird klar, wem das Kochbuch vor 150 Jahren wahrscheinlich gehörte.
Credits
Autorin dieser Folge: Iska Schreglmann
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Iska Schreglmann, Christoph Jablonka
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak, Yvonne Maier
Dramaturgische Beratung: Till Ottlitz, BR Story Team
Im Interview:
Iskas Sohn Ben
Thomas Morawetz, Historiker, BR Redakteur
Susanne Merkle, Ahnenforscherin
Hier geht es zu Folge 1 - Meine Familie und der Hungerwinter
Hier geht es zu Folge 2 - Mein Onkel und der Wald
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Genussexperte Helmut Gote liefert bei Alles in Butter nicht nur Rezepte mit einem besonderen Twist, sondern auch ganz praktische Küchentipps.
Auf seinen kulinarischen Reisen vom Rheinland bis ans Mittelmeer spricht er außerdem mit Küchenchefs und Herstellern von regionalen Spezialitäten.
https://1.ard.de/alles-in-butter
Literatur:
Bettina Alberti: „Seelische Trümmer. Geboren in den 50er und 60er Jahren. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas.“ Kösel Verlag, 2019.
Christine Charlotte Riedel: „Lindauer Kochbuch für guten bürgerlichen und feineren Tisch.“ Lindau, 1871. Verlag von Johann Thomas Stettner.
Linktipp:
Ahnenforschung in Oberbayern mit Detective-of-the-Past
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Iska Schreglmann sucht mit einer Pflanzen-Expertin im Wald nach Essbarem. So haben es auch ihre Mutter und ihr Onkel als Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht. Im Dorf ihrer Vorfahren lernt Iska die Überlebens-Tricks der Menschen von damals kennen. Und sie ist in der 2. Podcast-Folge weiter auf der Spur des rätselhaften Kochbuchs aus der Kaiserzeit.
Credits
Autorin dieser Folge: Iska Schreglmann
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Iska Schreglmann, Christoph Jablonka, Peter Weiß
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak, Yvonne Maier
Dramaturgische Beratung: Till Ottlitz, BR Story Team
Im Interview:
Gerlinde Rößner, Wildpflanzen-Expertin
Verwandte von Iska Schreglmann
Thomas Zapf, heutiger Besitzer des Urgroßelternhauses in Oberdachstetten
Robert Krusche, Ort-Chronist in Oberdachstetten
Dipl.-Psych. Betinna Alberti, Psychotherapeutin und Buchautorin
Thomas Morawetz, Historiker, BR Redakteur
Hier geht es zu Folge 1 - Meine Familie und der Hungerwinter
Hier geht es zu Folge 3 - Meine Vorfahren und das Kochbuch
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Immer mehr Menschen entdecken den Garten für sich. Mit dem Podcast machen Garten-Experte Ralf Walter und Garten-Neuling Martina Witt auch Einsteigern Lust auf das Gärtnern und beantworten viele Fragen mit unterschiedlichen Gärtnerinnen und Gärtnern aus Niedersachsen, wie zum Beispiel: Wie geht Pflanzenschutz im Einklang mit der Natur? Welcher Garten ist am besten für Bienen und Vögel?
https://www.ardaudiothek.de/sendung/gartenpodcast-alles-moehre-oder-was/74769062/
Literatur:
Bettina Alberti: „Seelische Trümmer. Geboren in den 50er und 60er Jahren. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas.“ Kösel Verlag, 2019.
Robert Krusche: „Am Ursprung der Rezat. Historisches von und um Oberdachstetten.“ Überarbeitete Kleinauflage, 2024
Christine Charlotte Riedel: „Lindauer Kochbuch für guten bürgerlichen und feineren Tisch.“ Lindau, 1871. Verlag von Johann Thomas Stettner.
Wir danken den Bayerischen Staatsforsten in Rothenburg ob der Tauber für Ihre Unterstützung.
Linktipp:
Website von Gerlinde Rößner, FrauenPower & KräuterKraft
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Ein Kollege fälscht die Spesenabrechnungen. Das Kind in der Nachbarwohnung wird von den Eltern geschlagen. Darauf angesprochen streiten die Beteiligten alles ab. Und nun? Petzen oder lieber wegschauen? Petzen hat ein schlechtes Image. Andererseits ist es manchmal nötig, Missstände zu benennen. Von Karin Lamsfuß (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Hemma Michel, Peter Weiß
Technik: Christine Frey
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Christiane Jendrich, Systemische Familientherapeutin;
Dr. Holger Flöttmann, Psychiater
Dr. Nico Herold, Jurist;
Johannes Ludwig, emeritierter Professor für Management;
Wolfgang Weinem Altenpfleger
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Literaturtipps:
Johannes Czwalina: Wer mutig ist, kennt die Angst. Brendow, 2008.
Kurt Singer: Zivilcourage wagen. Wie man lernt, sich einzumischen. Reinhardt, 2003.
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Iska Schreglmann findet im Nachlass ihrer Mutter ein Kochbuch von 1871. Und sie erfährt, dass ihre Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg als Kinder nicht genug zu essen hatten - wie Millionen von Menschen in Europa. Schon in der 1. Podcast-Folge wird klar: Unser Umgang mit dem Essen ist bis heute durch die Erlebnisse unserer Vorfahren geprägt.
Credits
Autorin dieser Folge: Iska Schreglmann
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Iska Schreglmann, Christoph Jablonka, Peter Weiß
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak, Yvonne Maier
Dramaturgische Beratung: Till Ottlitz, BR Story Team
Im Interview:
Verwandte von Iska Schreglmann
Thomas Morawetz, Historiker, BR Redakteur
Dipl.-Psych. Bettina Alberti, Psychotherapeutin und Buchautorin
Hier geht es zu Folge 2: Rezepte des Überlebens - Mein Onkel und der Wald
Hier geht es zu Folge 3: Rezepte des Überlebens - Meine Vorfahren und das Kochbuch
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Bei Tatort Geschichte verlassen Niklas Fischer und Hannes Liebrandt, zwei Historiker von der Ludwig-Maximilians-Universität in München, den Hörsaal und reisen zurück zu spannenden Verbrechen aus der Vergangenheit: eine mysteriöse Wasserleiche im Berliner Landwehrkanal, der junge Stalin als Anführer
https://1.ard.de/tatort-geschichte-rezepte
Literatur:
Bettina Alberti: „Seelische Trümmer. Geboren in den 50er und 60er Jahren. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas.“ Kösel Verlag, 2019.
Christine Charlotte Riedel: „Lindauer Kochbuch für guten bürgerlichen und feineren Tisch.“ Lindau, 1871. Verlag von Johann Thomas Stettner.
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1877 gelang es Thomas Alva Edison, Töne auf einem Tonträger zu speichern. Doch wie funktioniert das eigentlich? Und wie war der Weg von der knisternden Schellackplatte zum weltweit verfügbaren HiFi-Stream? Von Wolfgang Zehentmeier
Credits
Autor dieser Folge: Wolfgang Zehentmeier
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Thomas Loibl, Katja Amberger
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dipl.-Ing. Luise Allendorf-Hoefer, Hauptabteilung Technik am Deutschen Museum in München
Silke Berdux, Hauptabteilung Naturwissenschaften am Deutschen Museum in München
Carmen Zarrin-Naal, Eigentümerin eines Second-Hand-Schallplatten-Ladens in München
Linktipps:
Kleine Geschichte der Tonträger
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Eine kleine Geschichte der Schallaufzeichnung
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Der Wettstreit um die letzten weitgehend unberührten Regionen der Erde ist in vollem Gange: Es geht um Rohstoffe und Fischgründe auf der hohen und in der tiefen See. Schätze, die es sich - auch wegen des Klimawandels - zunehmend zu heben lohnt. Von Lukas Grasberger (BR 2023)
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Andreas Neumann und DIana Gaul
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Matthias Haeckel, Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung GEOMAR, Kiel;
Dr. Michael Paul, Stiftung Wissenschaft und Politik SWP, Berlin;
Prof. Alice Vadrot, Professur für Internationale Beziehungen und Umwelt, Universität Wien;
Dr. Edyta Roszko, Forschungsprojekt TransOcean, Chr. Michelsen Institute, Bergen
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Linktipps:
Gefährlicher Tiefseebergbau – Zerstörte Unterwasser-Landschaften | BR IQ - Wissenschaft und Forschung
In den Tiefen der Ozeane verbirgt sich ein wertvoller Schatz: Manganknollen. Und verschiedene Staaten und Firmen sind entschlossen, diesen Schatz zu bergen. Warum? In Manganknollen stecken wertvolle Metalle, die immer wichtiger wollen: Kobalt, Nickel und andere wertvolle Ressourcen, die für die Herstellung von Batterien, Elektrofahrzeugen, Windrädern und vielen anderen Technologien dringend benötigt werden.
Tiefseebergbau hat ungewisse Folgen | WDR 5 Quarks
Der Boden der Tiefsee gehört immer noch zu den geheimnisvollsten Orten auf der Welt. Rohstoff-Konzerne haben großes Interesse daran, dieses Terrain zu erkunden. Die Folgen aber könnten irreparable Naturschäden sein.
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Was macht den Mensch zum Menschen? Während auch andere Tiere lernen, Werkzeuge gebrauchen, kommunizieren und kooperieren, scheint sich der menschliche Geist deutlich von dem der übrigen Tiere zu unterscheiden. Von Prisca Straub (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann
Technik: Robin Auld
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Julia Fischer, Verhaltens- und Primatenforscherin am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen; Prof. Thomas Suddendorf, Entwicklungspsychologe an der University of Queensland in Brisbane, Australien
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Im Grunde gut? - Das Menschenbild im Wandel
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Unsere körperliche Ausstattung ist recht dürftig. Der Mensch kann weder besonders gut hören, noch besonders scharf sehen. Außergewöhnlich schnell oder überdurchschnittlich kräftig ist er auch nicht. Trotzdem neigen wir dazu, uns für etwas Besseres zu halten. Oder doch zumindest für anders als alle anderen Tiere auf diesem Planeten. An unserer Kraft, unserer Schnelligkeit, unseren Sinneswahrnehmungen kann es nicht liegen - da sind viele Tiere dem Menschen haushoch überlegen. Was also hat die Spezies Mensch so erfolgreich gemacht? Wo genau liegt der entscheidende Unterschied?
Atmo: 0‘37
SPRECHER
Werfen wir also einen Blick auf unsere genetischen Grundlagen. Ein Erbgutvergleich mit den sogenannten Großen Menschenaffen enthüllt zunächst einmal Erstaunliches: Rund 99 Prozent unserer Gene teilen wir mit unseren nächsten lebenden Verwandten - mit Schimpanse und Bonobo. Eine beeindruckende Zahl. Aber wie aussagekräftig ist ein Vergleich der Gensequenzen, wenn es darum geht, der Kluft zwischen Mensch und Tier auf die Spur zu kommen?
1 ZSP Julia Fischer 1
Das ist immer die Frage: Was heißt das, wenn man viele ähnliche Gene hat oder eine große Überlappung im Genpool hat? Wir teilen auch 30 Prozent unserer Gene mit der Kartoffel! Viele von diesen Genen sind sogenannte 'Housekeeping-Gene', die gewissermaßen für physiologische Funktionen da sind.
SPRECHER
Julia Fischer ist Biologin, Verhaltens- und Primatenforscherin und Professorin für ‚Kognitive Ethologie‘ und Leiterin der gleichnamigen Forschungsgruppe am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen. Jahrelang hat sie das Verhalten von Affenpopulationen in freier Wildbahn beobachtet. - Die überwältigend große genetische Übereinstimmung zwischen Mensch und Menschenaffe ist wenig erstaunlich: Schließlich sind wir aus demselben Fleisch und Blut - unser Körperbau und unsere Körperfunktionen sind weitgehend deckungsgleich:
2 ZSP Thomas Suddendorf 1
Der Unterschied körperlich ist eigentlich gering. Da sind nur wenige Dinge: Wir haben längere Beine als Arme und laufen aufrecht. Wir haben eine Lederhaut in den Augen, die weiß ist, während die der anderen Primaten dunkel ist. Da kann man sehen beim Menschen, wo wir hinschauen. Frauen haben keine äußerlichen Anzeichen ihrer fruchtbaren Phasen und Menschen haben keinen Penisknochen. Das sind Unterschiede, aber nicht unbedingt Unterschiede, die sofort offensichtlich machen, was bei uns so besonders ist oder warum wir die Welt verändert haben - und andere Primaten immer noch in den Wäldern leben.
SPRECHER
Thomas Suddendorf ist Entwicklungspsychologe und Professor an der University of Queensland in Brisbane, Australien.
Z8030896114 Factual operation (reduced 2) 0‘42
Sein Spezialgebiet: die Evolution des menschlichen Geistes. Wie konnte der Mensch dieses außergewöhnliche Tier werden, das so viele Dinge tut, die andere Tiere nicht tun? Was motiviert uns Fußball zu spielen, Geburtstagsfeste zu veranstalten, ein Konto zu eröffnen.
Welche Merkmale erlauben uns, Weltraumteleskope zu bauen und über unsere eigene Existenz nachzudenken? Mehr als zehn Jahre hat Suddendorf systematisch Studienerkenntnisse gesammelt und 2013 in einem Standardwerk veröffentlicht. - Mit dem Titel: 'Der Unterschied. Was den Mensch zum Menschen macht'.
3 ZSP Thomas Suddendorf 1
(…) Ich denke, dass der Unterschied hauptsächlich darin zu finden ist, dass unser Geist sich entwickelt hat in einer Form, wie wir das bei anderen Tieren nicht sehen.
SPRECHER
Der menschliche Geist also. Macht er uns zu etwas Einzigartigem? Werfen wir zunächst einen Blick auf unser zentrales Steuerungsorgan, das Gehirn.
4 ZSP Thomas Suddendorf 2
Sicherlich spielt es eine Hauptrolle, weil das Gehirn die neurologische Basis für unseren Geist ist. Aber es ist nicht der Fall, dass wir das größte Gehirn haben. Die Gehirne von Säugetieren sind sehr ähnlich. Und doch haben wir mit unserem recht großen Gehirn - 1,2 bis 1,5 Kilogramm - nicht die größten Gehirne. Elefanten zum Beispiel haben Gehirne mit bis zu vier Kilogramm und Wale sogar bis zu neun Kilogramm.
Z8025542102 Brain puzzle (b) 0‘32
SPRECHER
Die absolute Gehirngröße ist also wenig aussagekräftig für geistige Leistungen. Sobald man jedoch die jeweilige Körpergröße in die Rechnung miteinbezieht, ändert sich das Bild: Die relative Gehirngröße des Menschen liegt nämlich deutlich über der Gehirngröße von Walen und Elefanten. Das menschliche Gehirn ist etwa siebenmal größer als es für ein durchschnittliches Säugetier seiner Größe zu erwarten wäre, erklärt Thomas Suddendorf:
5 ZSP Thomas Suddendorf 2
(…) Es stimmt wohl, dass, wenn man das Körpergewicht mit einbezieht, dann haben Menschen so zwei Prozent ihres Körpers Gehirn. Wale und Elefanten haben weniger als ein Prozent. Also sind wir da besser als die Wale, wenn Sie so möchten. Allerdings ist es nicht der Fall, dass alle Tiere weniger relative Gehirngröße haben. Einige Mäusearten haben bis zu zehn Prozent ihres Körpergewichts Gehirn. Also hat uns die Neurowissenschaft da bisher noch nicht ganz so weit gebracht.
C1576660110 working brain 0‘32
SPRECHER
Die Gehirngröße in unterschiedliche Relationen zu setzen - auch das führt schlussendlich nicht zu stichhaltigen Erkenntnissen über unsere geistigen Fähigkeiten. Wie sieht es mit weiteren Kriterien aus - Gehirnstruktur? Anzahl der neuronalen Verbindungen? Zelltypen? Beim systematischen Versuch, diese Zusammenhänge zu enträtseln, wirft die moderne Neurowissenschaft allerdings bisher mehr neue Fragen auf, als sie beantworten kann, erklärt Julia Fischer:
6 ZSP Julia Fischer 32
Die Größe des Gehirns ist wichtig, aber vor allem ist auch die Vernetzung des Gehirns wichtig. Welche Areale sind mit welchen verknüpft? Dann die Dichte der Neuronen? Da gibt es große Debatten. Was ist jetzt eigentlich wichtig? Ist das ganze Gehirn wichtig oder ist nur der Cortex wichtig? Da kann man trefflich drüber streiten und lange Debatten führen. Als Faustformel kann man schon sagen: Wenn das Gehirn relativ zur Körpergröße größer ist, dann sagt einem das was. Aber was das einem genau sagt, das muss man dann genauer angucken: Welche Areale des Gehirns sind eigentlich für was zuständig? Da wird es schon wieder nicht mehr so einfach, da wirklich klare Zusammenhänge herzustellen.
SPRECHER
Gehirngröße, Gehirnstruktur, Gehirnaktivität - nach jetzigem Stand können auch die Neurowissenschaften nicht endgültig klären, was genau den menschlichen Geist zu etwas Besonderem macht.
Wie also kann man das Vorhandensein oder die Abwesenheit geistiger Fähigkeiten bei Tieren systematisch feststellen? Um mehr darüber zu erfahren, was genau den Unterschied ausmacht, bleibt vorerst nur ein indirekter Weg - die vergleichende Verhaltensforschung.
C1576650106 Hard brain work 0‘32
SPRECHER
Geist ist ein schillernder Begriff. - Wir können uns zum Beispiel Dinge vorstellen, die unseren Sinnen nicht direkt zugänglich sind. Wir haben eine Vorstellung von vergangenen Erlebnissen und können uns auch künftige Szenarien plastisch ausmalen. Wir sinnen über abstrakte Konzepte nach und stellen uns Fragen über unser eigenes Dasein.
Atmo 0‘8
Was in einem Tier vorgeht, darüber können wir zunächst nur mutmaßen. Hat ein Affe beispielsweise eine Vorstellung davon, was es heißt, ein Affe zu sein?
7 ZSP Julia Fischer 6
An diese Frage kommen wir nicht gut ran. Das ist, würde ich sagen, außerhalb unserer Reichweite. Ich gehe davon aus, dass Affen nicht dasitzen und sagen: 'Ja, ich bin ja eher jemand, der introvertiert ist' (lacht). Oder: 'Ich bin jemand, der immer Schwierigkeiten hat!' Also, dass sie so über sich selbst räsonieren. Davon gehe ich nicht aus. Aber ich kann das nicht nachweisen.
SPRECHER
Die vergleichende Entwicklungspsychologie hat in den vergangenen Jahrzehnten eine beeindruckende Reihe experimenteller Tests zur Erforschung von geistigen Fähigkeiten bei Tieren vorgelegt. Unter ihnen: der sogenannte Spiegeltest, den es inzwischen in vielen unterschiedlichen Varianten gibt. Zum Hintergrund: Ab einem gewissen Alter sind Kleinkinder in der Lage, ihr eigenes Abbild im Spiegel zu erkennen. Menschenkinder erwerben eine Vorstellung davon, wie sie aussehen - und zeigen sich im Test irritiert, wenn sich ihr Spiegelbild nicht mit ihren Erwartungen an das eigene Aussehen deckt.
Wenn man ihnen zum Beispiel einen Farbklecks auf die Stirn setzt. Viele unterschiedliche Vergleichsstudien haben ergeben: Auch bestimmte Tiere sind dazu in der Lage. Die Primatenforscherin Julia Fischer:
8 ZSP Julia Fischer 8
Der Spiegeltest ist ja schon lange Gegenstand der Debatte. (…) Wir haben als Menschen dauernd mit Spiegeln zu tun. Wir lernen irgendwann zu verstehen, dass das, was wir da sehen, wir selbst sind. Und wenn man Affen genügend Gelegenheit gibt, in den Spiegel zu gucken, dann lernen die das auch. Man hatte das erst bei Großen Menschenaffen gesehen oder auch bei Delfinen. Und jetzt gibt es auch eine Studie mit Rhesusaffen. Man hat den Rhesusaffen einfach lange Spiegel in ihren Käfig gestellt und irgendwann haben die verstanden, dass das miteinander zusammenhängt - was sie fühlen und was sie sehen da drüben. Das muss aber nicht unbedingt heißen, dass man ein Selbstverständnis hat und sagt: 'Das bin ja ich!' Oder ein Konzept hat: 'Ich bin ein Affe!' Das kann man daraus so oder so gar nicht schließen.
SPRECHER
Ein reiner Lerneffekt - oder tatsächlich eine komplexe Geistesleistung, die auf einem tieferen Verständnis von grundsätzlichen Zusammenhängen beruht?
Atmo 0‘17
Z8028916122 Path finder red. 0‘31
Ähnlich kompliziert ist die Frage, wie die Verwendung von Werkzeugen bei Tieren zu beurteilen ist. Schimpansen zum Beispiel knacken Nüsse mit Steinen oder angeln mit Stöckchen nach Termiten. Schaffen sich also Tiere - so wie Menschen - einen Werkzeugkasten an, mit dem sich künftig wieder auftretende, ähnliche Probleme lösen lassen? Und basteln sie vielleicht sogar eigens Werkzeuge für einen möglichen Gebrauch in der Zukunft?
9 ZSP Julia Fischer 28
Ja (lacht), das ist sehr schönes Bild mit dem Werkzeugkasten, das gefällt mir. Aber es gibt da keine Evidenz. Es gibt ein paar Berichte darüber, dass die Tiere zum Beispiel, wenn sie jetzt einen guten Stein gefunden haben zum Nüsse knacken, dass sie den aufheben. Aber es ist nicht so, dass man zum Beispiel kommunal irgendwie ein Lager hat, wo die ganze Gruppe sich bedienen kann. Oder: 'Wir haben hier die kleinen Steine für die kleinen Affen und die großen für die großen' oder so (lacht). Das gibt es auch nicht.
SPRECHER
Vielmehr fällt auf, dass die unbestreitbare Kreativität der Tiere beim Einsatz von Werkzeugen offenbar seit Jahrmillionen keine entscheidenden Technologiesprünge hervorgebracht hat. Erfinden Affen sozusagen das Rad jedes Mal wieder neu? Viele Experimente haben inzwischen gezeigt, zu welchen kognitiven Leistungen Tiere fähig sind - aber auch, wo ihre Grenzen liegen. Wie diese Befunde allerdings zu bewerten sind, das ist in der Wissenschaft nach wie vor umstritten. Es gibt beide Trends - einerseits die 'romantische Position', die das gemeinsame Erbe betont und mit verblüffenden Ergebnissen über tierische Leistungen aufwartet, die man eigentlich nur dem Menschen zugetraut hätte. Auf der anderen Seite: die sogenannten 'Spielverderber', die 'schlanke' Erklärungen bevorzugen. Zu ihnen gehört Julia Fischer:
10 ZSP Julia Fischer 9
Nein, ich bin da nicht so besonders romantisch veranlagt.
Julia Fischer 2
Es gibt eine Debatte in der Wissenschaft, wie wir das am besten verstehen können, was die Gemeinsamkeiten sind und was die Unterschiede. (…) Und ich denke, dass es einerseits die Suche danach gibt: Was sehen wir in den Affen, was wir mit ihnen teilen, was uns was darüber sagt, was gewissermaßen ein altes Primaten-Erbe ist. Und die andere Frage ist dann aber: Was ist denn Mensch-spezifisch? Worin unterscheiden wir uns, was macht uns aus? Was definiert uns als Mensch?
Z8030896104 Genetics 0‘16
SPRECHER
Also wenden wir nochmals den Blick: Weg von den mitunter erstaunlichen Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier - hin zu den ganz offensichtlichen Unterschieden. Finden wir heraus, was Tiere nicht können:
82221060W01 Glass 1. Akt 0‘32
SPRECHER
Menschen greifen auf Sprache zurück, um einander mitzuteilen, was in ihren Köpfen vor sich geht. Tiere tun das nicht. Die Fähigkeit zu sprechen ist eine der elementarsten menschlichen Eigenschaften. Unsere Sprachfähigkeit ist ein Alleinstellungsmerkmal. Womit natürlich keinesfalls behauptet werden soll, dass Tiere nicht kommunizieren.
Atmo 0‘41
Im Gegenteil! Tiere haben extrem ausgefeilte Kommunikationsstrategien - Bienen tanzen, Wale singen, Chamäleons kommunizieren über Farbpigmente in ihrer Haut. Tiere haben eine bemerkenswerte Fülle an akustischen, chemischen und visuellen Strategien, mit denen sie in der Lage sind, Informationen auszutauschen. Aber ist das Sprache? Julia Fischer hat Kommunikation und Sozialverhalten von Primatenpopulationen im Freiland erforscht. Über was also tauschen sich Affen untereinander aus?
11 ZSP Julia Fischer 19
Es geht um Futter. Nicht alle Arten interessanterweise, aber viele haben Futterlaute, wenn sie etwas Leckeres zum Fressen gefunden haben. Dann gibt es Alarmrufe, wenn Gefahr droht. Das haben wirklich wahnsinnig viele Tiere, das scheint einen hohen Überlebenswert zu haben, dass das unabhängig voneinander in verschiedenen Tiergruppen evolviert ist. Und dann gibt es diese sozialen Laute, also Protestschreie oder Drohlaute oder den Ausdruck von einer positiven Stimmung. Und das war es dann meistens auch schon. Dann gibt es vielleicht noch Paarungslaute. Oder die Männchen, die ihre Kampfkraft anzeigen, also 'Display-Laute' machen, wo man dann sehen kann, dass die Männchen jetzt in besonders toller Form sind. Die haben besonders lange Rufe oder besonders laute Rufe (lacht) oder die hören sich irgendwie noch toller an als andere. Aber es gibt da keine Gespräche.
Z8025542104 Statistic research 0‘35
SPRECHER
Was am menschlichen Kommunikationssystem einzigartig ist: Wir verwenden ein enorm komplexes, anpassungsfähiges und grundsätzlich offenes Sprach-System. Sprache wird erworben und verläuft bei allen Menschenkindern nahezu gleich –
Atmo 0‘10
sie beginnen zunächst mit Nachbrabblen.
Atmo 0‘5
Tierische Kommunikationsstrategien hingegeben sind angeboren. Sie werden evolutionär weitergegeben und sind damit wenig flexibel - und nahezu ausschließlich funktional:
12 ZSP Julia Fischer 18
(…) Wenn ein Affe sich einem anderen annähert, (…) dann machen die oft bestimmte Laute vorher, Grunzlaute zum Beispiel bei Pavianen. Und diese Grunzlaute signalisieren gewissermaßen eine gutmütige Einstellung, eine wohlwollende Attitüde, sodass der andere weiß: 'Oh, ich muss nicht aus dem Weg gehen!' Selbst wenn ein hochrangiges Tier kommt, macht aber diese Laute, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass der mir etwas tun wird, sehr gering. Und dann kann ich sitzen bleiben. Und dann krault er mir vielleicht sogar das Fell. (…) Die teilen sich dann schon etwas mit, nämlich: 'Ich tu dir nichts!', aber es bezieht sich nicht auf eine Idee, oder es ist nichts, wo wir sagen können: 'Ich sage zu Dir, ich tu Dir nichts!' Oder: 'Du musst keine Angst haben!' Sie haben auch keine verschiedenen Möglichkeiten sich auszudrücken, sondern sie drücken ihre Stimmung aus.
SPRECHER
Tiere unterhalten sich also nicht, so wie Menschen das tun. Sie teilen zwar ihre Stimmungen mit, geben Alarm- und Futterlaute - aber teilen keine Gedanken miteinander. Reicht es, Informationen auszutauschen oder muss man Geschichten erzählen können? Soweit wir wissen, erzählen sich Tiere keine Geschichten. Ihnen fehlt das Bedürfnis, sich über das auszutauschen, was sie gerade erlebt haben. Sie unterhalten sich weder über die Vergangenheit, noch machen sie Pläne für die Zukunft. Menschen machen das ständig. Der Entwicklungspsychologe Thomas Suddendorf spricht in diesem Zusammenhang von der Fähigkeit zum 'Entwerfen verschachtelter Szenarien':
13 ZSP Thomas Suddendorf 3
(…) Das heißt, unsere Vorstellungskraft, mit der wir uns Situationen, die wir nicht direkt wahrnehmen, vor Augen führen können. Zum Beispiel die Vergangenheit oder die Perspektive eines anderen oder auch zukünftige Szenarien. Wir können uns natürlich vorstellen, was wir morgen machen werden, oder die nächste Woche. (…) Wir stellen uns verschiedene Szenarien vor und können Versionen davon vergleichen und evaluieren. Zum Beispiel im Sinne von: Wie wahrscheinlich ist, dass die Situation so stattfinden wird? Oder wie wünschenswert ist das? Und dann suchen wir uns einen Plan aus und nicht einen anderen.
C1589890104 Forbidden business red. 0‘46
SPRECHER
Wir machen detaillierte Pläne. Wir sammeln Informationen, von denen wir glauben, dass sie uns später nützlich sein könnten. Wir malen uns Konsequenzen aus, indem wir über das Hier und Jetzt hinausdenken. Wir lernen von der Erfahrung anderer. Wir schlussfolgern, was im Kopf unserer Mitmenschen vor sich geht, und können deren nächsten Schritte vorhersagen - und vieles, vieles mehr. Nach allem, was wir bisher wissen, sind solche komplexen geistigen Leistungen ausschließlich dem Menschen vorbehalten. Julia Fischer über ihre Freilandbeobachtungen von Affen:
14 ZSP Julia Fischer 9
(…) Wir untersuchen Affen ja in Afrika. Und die leben in toll komplexen Gruppen. Die haben sehr ausdifferenzierte Sozialbeziehungen, die haben Freundschaften, die finden sich zurecht, die kennen sich genau aus in ihrer Gegend. Die kennen sich alle individuell, also das ist schon sehr beeindruckend, wie außergewöhnlich, auch individuell unterschiedlich die einzelnen Affen sind. Was das für Persönlichkeiten sind. Und dann leben die ihr Leben und trotzdem sind denen abstrakte Probleme verschlossen. Das ist für die einfach nichts, womit sie zu tun haben in ihrer Welt. Und dafür gibt es dann vielleicht auch gar keine besondere Notwendigkeit. Die können sehr viel lösen. Einfach, indem sie beobachten und einfache Schlüsse ziehen. Und damit kommt man sehr weit. Und das finde ich eigentlich faszinierend, wie weit man kommt im Leben, ohne dass man ein Crack in Mathematik ist.
SPRECHER
Menschen dagegen haben Imaginationsfähigkeit - also die Möglichkeit 'verschachtelte Szenarien' zu entwerfen. Und sie verfügen darüber hinaus sogar noch über eine ganz besondere Motivation: das tiefe Bedürfnis nach geistiger Verbindung, den Wunsch, sich in die geistige Welt der Mitmenschen sozusagen 'einzuklinken'. Bereits Kleinkinder haben den unbändigen Drang, ihren Geist mit dem anderer zu verknüpfen: Ständig wollen sie uns etwas zeigen und geben keine Ruhe, bis wir uns auf sie einlassen. Der Entwicklungspsychologe Thomas Suddendorf:
15 ZSP Thomas Suddendorf 4
Davon sehen wir in der Tierwelt eigentlich nichts. Menschen tun das permanent: (…) Das Austauschen über unsere Erfahrung. Die beste Art und Weise zum Beispiel, den zukünftigen Urlaubsort auszusuchen, ist, jemand zu fragen, der schon mal da war. Oder sich eine Karriere auszusuchen. Die beste Informationsquelle ist, jemanden zu fragen, der diese Karriere gemacht hat. Und wir geben uns gegenseitig Ratschläge. Wir erzählen Geschichten, und dadurch lernen wir. Durch die Erfahrungen anderer über die Welt können wir die eigenen Vorhersagen verbessern und natürlich auch besser kooperieren. Wir können gemeinsame Ziele erstellen in einer Art und Weise, wie wir das in anderen Tierarten so nicht finden.
C1595010105 sensitive thinking 0‘54
SPRECHER
Wir haben ein unstillbares Bedürfnis, unser Wissen mit anderen zu teilen, uns mental auszutauschen. Und Menschen geben ihr Wissen über Generationen weiter. Dadurch verfügen wir über einen gewaltigen, immer weiter wachsenden Schatz an wertvollen Erfahrungen, die wir selbst gar nicht gemacht haben müssen.
Wir können sogar Lösungen für Probleme finden, die noch gar nicht aufgetreten sind - und der nächsten Generationen nicht nur unsere Antworten, sondern sogar unsere offenen Fragen hinterlassen. Das gibt uns unendlich viele Möglichkeiten, die anderen Geschöpfen auf diesem Planeten verwehrt sind. Mit diesen Fähigkeiten hat der Mensch seine Welt verändert.
"Remigration" ist heute ein Leitbegriff identitärer und völkisch-nationaler Politik, wobei meist unklar bleibt, wer eigentlich genau "remigriert" werden soll und wie. Ursprünglich wurde der Begriff in einem ganz anderen Kontext geprägt: Er bezeichnete die selbstgewählte Rückkehr Exilierter ins Heimatland. Von Marita Krauss
Credits
Autorin dieser Folge: Marita Krauss
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Thomas Birnstiel, Friedrich Schloffer, Katja Schild
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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ERZÄHLERIN
„Remigration“ war 2023 das „Unwort des Jahres“. Es ist ein Leitbegriff rechter, völkisch-nationaler Politik. Und es ist ein gekaperter Begriff. Aus Frankreich kommend entwickelte sich „Remigration“ zu einem Schlüsselbegriff der sogenannten „identitären“ Bewegungen. Er wird als verharmlosender Begriff für die Ausweisung ganzer Bevölkerungsgruppen verwendet. Ein Beispiel aus Deutschland:
Björn Höcke, rechtsextremer Vorsitzender der AFD Thüringen, schrieb bereits 2018 in seinem Buch Nie zweimal in denselben Fluss:
ZITATOR (Höcke)
Man wird, so fürchte ich, nicht um eine Politik der „wohltemperierten Grausamkeit“ […] herumkommen. Existenzbedrohende Krisen erfordern außergewöhnliches Handeln. Die Verantwortung dafür tragen dann diejenigen, die die Notwendigkeit dieser Maßnahmen mit ihrer unsäglichen Politik herbeigeführt haben. […] Ich bin sicher, dass – egal wie schlimm sich die Verhältnisse auch entwickeln mögen – am Ende noch genügend Angehörige unseres Volkes vorhanden sein werden, mit denen wir ein neues Kapitel unserer Geschichte aufschlagen können. Auch wenn wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen. (…) Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen. Dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt, denn die größten Probleme von heute sind ihr anzulasten.
Musik 2
"Schieflage" - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) Länge: 0'11
ERZÄHLERIN
Björn Höcke fasst diese Überlegungen unter dem Schlagwort „großangelegtes Remigrationsprojekt“ zusammen. Der Begriff Remigration bezeichnet aber eigentlich etwas ganz anderes: die Rückkehr von Menschen, die viele Jahre in einem anderen Land gelebt hatten in ihre Heimat. Diese Rückkehr ist biografisch meist eine ganz eigene Entscheidung mit allen Schwierigkeiten des Ankommens und der Integration. Remigration ist ein statistisch schwer greifbares, individuelles Migrationsphänomen, das bis in die 1960er Jahre kaum beforscht wurde. Vor allem die Sozialwissenschaften und die Exilgeschichte nahmen sich dann des Themas an.
ERZÄHLER
Heute halten Rechtsextreme bei Demonstrationszügen Schilder mit „Remigration jetzt“ oder „Schnelle Remigration schafft Wohnraum“ hoch. Was diese Demonstranten unter Remigration verstehen, ist im Einzelnen schwer nachvollziehbar. Es kursieren in den Medien und den Sozialen Netzwerken verschiedene Versionen von Remigrations-Konzepten, die mindestens eines gemeinsam haben: Sie richten sich gegen zugewanderte Geflüchtete und verlangen deren Abschiebung. Dieses Hin und Her um die Frage, wer eigentlich das „Remigrations-Potential“ sein soll, ist fatal: Sind nicht integrierte Migrantinnen und Migranten gemeint? Oder auch Deutsche mit Migrationshintergrund? Oder weitere Gruppen? Gerade die offenen Formulierungen ermöglichen es der eigenen Klientel, ihre jeweiligen Feindbilder beliebig damit zu verbinden. Remigrations-Propagandisten können sich dann mit ihrem Publikum darauf verständigen, man wisse ja, was und wer eigentlich gemeint sei. Der Begriff Remigration ist jedenfalls inzwischen ideologisch kontaminiert. Er bezeichnet nun definitiv etwas ganz anderes, als ihn die Migrationsforschung definierte.
Musik 3
"Fallen" - Ausführende: Balanescu Quartet - Album: Diaz (Un film di Daniele Vicari) [feat. Il balanescu quartet] - Komponist: Teho Teardo-
Länge: 1'25
ERZÄHLERIN
Remigration als Phänomen ist alt: Schon immer wanderten Menschen aus und suchten ihr Glück in anderen Ländern und Kontinenten. Große weltgeschichtliche Mythen wie die Odyssee thematisieren Irrfahrten durch die Welt und die schwierige Heimkehr. In der Bibel ist es die Geschichte des verlorenen Sohnes, bei dessen Rückkehr der Vater ein gemästetes Kalb schlachtet. Weggehen und Rückkehr werden hier zu Bildern für die Lebenswanderung.
Die Rückkehr nach einer Auswanderung ist, wie die Geschichte vom verlorenen Sohn zeigt, nicht immer Zeichen von Erfolg; die Betroffenen versuchen meist schnell wieder in der Herkunftsgesellschaft aufzugehen und nicht über ihre Erfahrungen zu sprechen. Oft löst auch Heimweh den Wunsch aus, etwa den Ruhestand wieder im eigenen Land mit der eigenen Sprache zu verbringen; viele Italienerinnen und Italiener beispielsweise zog und zieht es nach der Auswanderung zurück. Es gibt aber auch die Rückkehr der Erfolgreichen, die als wohlhabende Leute in die alte Heimat kommen. Wenig bekannt ist über diejenigen, die im Einwanderungsland neue Ideen aufgreifen und nun versuchen, diese im Herkunftsland fruchtbar zu machen.
ERZÄHLER
Geforscht wird in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften über die Rückkehr von Arbeitswanderern des 19. und 20. Jahrhunderts, die eigentlich nur kurz im Zielland bleiben wollten, dann aber doch ihr ganzes Berufsleben dort verbrachten. Oft blieben die Alten und die Kinder zurück. Nach einer Rückkehr war die Heimat zur Fremde geworden.
ERZÄHLERIN
Und dann gab und gibt es die Opfer von Verfolgung und Vertreibung, die viele Jahre im Exil zubringen müssen, bevor sie nach dem Sturz des verfolgenden Regimes in die alte Heimat zurückkehren können. Ihre Migration ist nicht freiwillig, oft erleben sie Entrechtung und Demütigung, bevor sie ins Exil entkommen können. Dort sind sie auf Hilfen der Aufnahmegesellschaft angewiesen und müssen ihr Leben mühsam neu beginnen. Eine Rückkehr ist daher keine leichte Entscheidung.
MUSIK 4
"Rythmus Rythme" - Komponist: Bugge Wesseltoft - Album: Playing Länge: 0'45
ERZÄHLERIN
Die Remigration nach dem Ende der Hitlerdiktatur wird als Teil der deutschen Exilgeschichte erforscht. Der Weg über viele Grenzen ins Exil war ein lebensgeschichtlich nicht revidierbarer Prozess, eine „journey of no return“, wie sich der emigrierte Schriftsteller Carl Zuckmayer ausdrückte: „Einmal Emigrant, immer Emigrant“. Schmerzhafte Abschiede und tiefe Verletzungen, aber auch neue Erfahrungen und eine gewisse Weltläufigkeit gehörten zum Emigrationsgepäck. Nach 1945 reaktivierten die Überlegungen, ob man zurückkehren sollte, zunächst alle Traumata. Eine solche Rückkehr bedeutete eine erneute Entscheidung zur Migration und eine Lebensbilanz des Exils.
ERZÄHLER
Man schätzt die gesamte deutschsprachige Emigration nach 1933 auf etwa eine halbe Million Menschen. Die meisten von Ihnen, wohl fast 95 Prozent, waren durch rassistische Verfolgung wegen ihres jüdischen Familienhintergrunds zur Auswanderung gezwungen worden. Die Grenzen sind jedoch nicht immer genau zu ziehen, wurden doch etliche der von den Nationalsozialisten zu Juden erklärten Menschen gleichzeitig politisch verfolgt. Das Kriegsende 1945 bedeutete für sie den entscheidenden Einschnitt.
O‘Ton 1 („Kampf um die Ätherwellen“, W1215234 01/001):
BBC-Zeichen: Big Ben schlägt – Beethoven, 5. Symphonie – Victory-Pauke: „Hier ist England – Hier ist England – Hier ist England“
O’Ton 2 (Bestand: DRA / Tonträger DRA Frankfurt: Archivnummer / Take: 9201051 01/015)
Deutsche Hörer! Wie bitter ist es, wenn der Jubel der Welt der Niederlage der tiefsten Demütigung des eigenen Landes gilt. Wie zeigt sich darin noch einmal schrecklich der Abgrund, der sich zwischen Deutschland, dem Land unserer Väter und Meister, und der gesitteten Welt aufgetan hatte. ... Der Deutsche aber, der von den Allerunberufensten einst sein Deutschtum abgesprochen wurde, der sein grauenvoll gewordenes Land meiden und sich unter freundlicheren Zonen ein neues Leben bauen mußte, er senkt das Haupt
in der weltweiten Freude. Das Herz krampft sich ihm zusammen bei dem Gedanken, was dies für Deutschland bedeutet, durch welche dunklen Tage, welche Jahre der Unmacht zur Selbstbestimmung und der Erniedrigung es nach allem, was es schon gelitten hat, wird gehen müssen. Und dennoch. Die Stunde ist groß. Nicht nur für die Siegerwelt, auch für Deutschland. Die Stunde, wo der Drache zur Strecke gebracht ist. Das wüste und krankhafte Ungeheuer, Nationalsozialismus genannt, verröchelt, und Deutschland von dem Fluch wenigstens befreit ist, das „Land Hitlers“ zu heißen.
ERZÄHLERIN
Der in die USA emigrierte deutsche Literaturnobelpreisträger Thomas Mann hielt zum Kriegsende am 10. Mai 1945 über den „Deutschen Dienst“ der BBC eine viel beachtete Rede an seine ehemaligen Landsleute. Wie er sahen sich auch andere Emigrierte als Vertreter eines „anderen Deutschlands“, eines Deutschlands, das den Weg ins „Dritte Reich“ nicht mitgetragen hatte. Dazu gehörten Schriftsteller und Journalisten, aber vor allem Politiker der von den Nationalsozialisten gehassten linken Parteien.
ERZÄHLER
Die Gesamtzahl der Rückkehrer und Rückkehrerinnen nach Deutschland wird auf etwa 30.000 geschätzt. Die meisten von ihnen hatten politische Emigrations- und daher auch Remigrationsgründe. Es gibt keine genaueren Zahlen. Das hängt nicht zuletzt mit der Definition zusammen: Remigration führte nicht zwangsläufig in die ehemalige Heimat- oder Geburtsstadt oder in die ehemalige Heimatregion. Remigranten und Remigrantinnen in diesem Sinne sind vielmehr Personen, die durch nationalsozialistische Verfolgung emigrieren mussten und mit der Erfahrung von Vertreibung und Exil nach 1945 zurückkamen, um zumindest eine gewisse Zeit wieder in Deutschland zu leben.
ERZÄHLERIN
Die Juden, die im Nationalsozialismus verfolgt und vertrieben wurden, sahen sich meist als Auswanderer, nicht als Exilierte, und blieben in den Aufnahmeländern. Viele der aus politischen Gründen Verfolgten wollten hingegen am Neuaufbau des zerstörten Landes mitarbeiten und suchten Wege der Rückkehr: Je „politischer“ der Emigrationsgrund, desto größer der Rückkehrwunsch. Es kamen aber auch Emigranten und Emigrantinnen aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen zurück, sei es die Rückkehr zur deutschen Sprache bei Schriftstellern, Journalisten oder Theaterleuten, sei es die Wiedergewinnung entzogenen Besitzes bei Geschäftsleuten oder verlorener Pensionsansprüche bei ehemaligen Beamten und Beamtinnen.
ERZÄHLER
Weit größer, wenn auch noch schwerer fassbar, ist der Anteil derer, die niemals ganz zurückkamen, die jedoch mit Korrespondententätigkeit, mit Beteiligungen an Anwaltskanzleien, mit Gastdozenturen oder als Vortragsreisende wieder in Deutschland aktiv wurden. Diese Rückkehr auf Zeit bildet einen wichtigen Teil der Wirkung des Exils, ohne Remigration im eigentlichen Sinne zu sein.
MUSIK 5
"Rythmus Rythme" - Komponist: Bugge Wesseltoft - Album: Playing Länge: 0'35
ERZÄHLERIN
Willkommen waren die Remigrantinnen und Remigranten in Deutschland erst einmal nicht. Lange genug hatte die NS-Propaganda sie als „Vaterlandsverräter“ gebrandmarkt, als Menschen, die ihr Land im Stich gelassen hatten. Dass dies nur unter Lebensgefahr geschah, wurde verdrängt. Dazu 1947 der Nürnberger Schauspieler und Spielleiter Franz Cuno:
ZITATOR
Einfache Menschen verstehen unter Emigranten Personen, die sich vor ihrer Verantwortung als Deutsche dadurch gedrückt haben, dass sie 33 oder später ins Ausland gingen. Im großen und ganzen sehen sie auf diese herab und stehen ihnen misstrauisch gegenüber.
ERZÄHLERIN
Außerdem standen die Emigrierten nun auf der Seite der Sieger, auch das konnte man ihnen nicht verzeihen. Hinzu kam die Furcht vor der Rache der Vertriebenen; hatte man ihnen nicht genug Grund gegeben, zu hassen? Wie die Rede von Thomas Mann zum Kriegsende zeigt, gab es auch Emigrierte, die Anklage erhoben und Forderungen stellten, zumindest Forderungen nach einem Schuldeingeständnis. In einer Umfrage von 1947 im Nachkriegsbayern, ob Thomas Mann nach Deutschland zurückkehren solle, entluden sich Groll und Wut. Thomas Manns Haltung sei „fragwürdig“, er habe bewiesen, dass man ein „großer Schriftsteller und dennoch ein sehr zweifelhafter Mensch“ sein könne, er habe sich „schlecht benommen“ und müsse nun gut über die Deutschen schreiben, „um seinen ehemals guten Ruf bei den Deutschen zurückzuerobern“.
MUSIK 6
"Rythmus Rythme" - Komponist: Bugge Wesseltoft - Album: Playing Länge: 0'40
ERZÄHLER
Hinzu kam, dass der Antisemitismus 1945 nicht wie durch Zauberhand verschwunden war. Offen oder versteckt stand er hinter den Stellungnahmen gegen Remigrantinnen und Remigranten. Der emigrierte Schriftsteller und Journalist Hans Habe, damals als Chefredakteur der in München erscheinenden „Neuen Zeitung“ im Dienste der amerikanischen Besatzer in Deutschland, beschrieb das so:
Zitator
Sie kehrte nicht zurück, die Hitleremigration, sie rieselte zurück, tropfte ein, oder blieb draußen ... Als ein emigrierter Schauspieler zum ersten Mal wieder auftrat, in München, erhob sich das Publikum, es applaudierte fünf lange Theaterminuten lang, gleich darauf schrieb ein Kritiker, wie denn ein solcher Mann einen deutschen Klassiker inszenieren könne.
ERZÄHLER
Es war der große Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner, den das Premierenpublikum der Münchner Kammerspiele im Oktober 1949 bei seinem Auftreten in Strindbergs „Der Vater“ mit minutenlangem Applaus auf offener Szene begrüßte. Im Rückblick schrieb Fritz Kortner in seinen Erinnerungen „Aller Tage Abend“:
ZITATOR (Kortner)
Ich sah mich mit den Augen der Betrachter: ein herausgefressener Amerikaner, der keine Ahnung von den durchgestandenen Höllenqualen haben kann. Ich bemerkte, dass das meinesgleichen Zugefügte im Bewusstsein der Mehrzahl derer, denen ich begegnete, keine Rolle spielte. Erwähnte ich – in einem Verteidigungsversuch, denn die Rolle des schicksalsverwöhnten Juden lag mir nicht – dass allein meiner Familie elf Verwandte vergast worden waren, so war die Reaktion darauf kondolenzartig höflich. Ich kämpfte um die Anerkennung meiner Gleichberechtigung am Unglück, am erlittenen Elend. … Die meisten verharrten im Gefühl, kein Leid reiche an ihres heran. Wahrscheinlich brauchten sie das Bewusstsein des am schwersten erlittenen Unrechts zur Beruhigung ihres Unterbewusstseins.
Musik 7
"Fallen" - Ausführende: Balanescu - Album: Diaz (Un film di Daniele Vicari) [feat. Il balanescu quartet] - Komponist: Teho Teardo-
Länge: 1'25
ERZÄHLERIN
Es gab aber auch einen ganz anderen Blick auf die Rückkehr. Dazu die Schriftstellerin Hilde Domin:
ZITATORIN (Domin)
Vielleicht hat mich das Glück der Rückkehr in das Land meiner Sprache, meiner Kindheit, also mein Land, blind gemacht. Ich war ja ganz betrunken vor so viel Wiedersehen ... Sicher hat dabei eine Rolle gespielt, dass in der Rückkehr Freiheit war; im Gegensatz zu all den Fluchten und Exilen, Freiwilligkeit der Entscheidung. Die Rückkehr, nicht die Verfolgung, war das große Erlebnis meines Lebens. Ein Erlebnis von äußerster Zerbrechlichkeit.
ERZÄHLER
Remigration war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Sie war ein höchst schwieriger Schritt, den jeder und jede einzelne genau überlegen musste. Wer nicht klare politische Aufgaben für sich in Deutschland sah, hatte meist gute Gründe, im Exilland zu bleiben und von dort aus zunächst die Entwicklung in Deutschland zu verfolgen. Die Erkenntnis über das volle Ausmaß der Judenverfolgung machte es den meisten Juden unmöglich, an eine Rückkehr auch nur zu denken. Deutschland, das war keine Heimat mehr, das war das Land der Mörder.
ERZÄHLERIN
Diese Perspektive änderte sich, je mehr die Bundesrepublik zum festen Bestandteil der westlichen Staatengemeinschaft wurde. Der Internationalisierungsschub seit Ende der 1950er Jahre führte immer mehr Studierende sowie junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Stipendien in die USA oder nach England, sie kamen mit neuen Ideen zurück. Gastprofessorinnen oder Gastprofessoren aus Emigrantenkreisen wirkten an westdeutschen Universitäten, sie veränderten den Unterrichtsstil und die Inhalte.
ERZÄHLER
Die Erfolgsgeschichte der internationalen Wissenschaft, um diese hier exemplarisch zu benennen, schließt immer mit ein, dass etliche Emigrantinnen und Emigranten nicht zurückkamen, weil sie zu alt, zu müde oder zu traurig waren, dass sie im Exil vergessen wurden und nach 1945 keine wissenschaftliche Wiedergeburt erlebten; dass einige zurückkamen, die hier nicht mehr Fuß fassten; dass Begegnungen zwischen den dagebliebenen Profiteuren und den Emigranten schwierig blieben; dass Ablehnung und Vorurteile zumindest die ersten zwanzig Jahre mitprägten, also bis Mitte oder Ende der 1960er Jahre. An Einzelschicksalen und ihrer Tragik lässt sich das Verbrecherische jeder Vertreibung zeigen.
MUSIK 8
"Schieflage" - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) Länge: 0'20
ERZÄHLERIN
Trotz des Wissens um die deutsche Geschichte, um Vertreibung und millionenfachen Mord, wird der Begriff "Remigration" inzwischen umgedeutet und neu aufgeladen:
ERZÄHLER
Zum Schlagwort der Neuen Rechten wurde „Remigration“ von Frankreich ausgehend im Rahmen rechter Verschwörungstheorien. Es sei angeblich ein „großer Bevölkerungsaustausch“ durch „Masseneinwanderung“ und „Islamisierung“ geplant, dem man durch „Rückführung“ „kulturfremder Menschen“ begegnen müsse.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht hier von einer „Handlungsanweisung“, die auf „die Ausweisung aller Volksfremden“ abstelle.
ZITATOR (Bundesverfassungsschutz, Glossar, s.v. Remigration)
Dieser Leitvorstellung folgend setzen sich neurechte Akteure in Deutschland die Bewahrung der „ethnokulturellen Identität und Substanz“ des deutschen Volkes zum Ziel.
Musik 9
"Schieflage" - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) Länge: 0'25
ERZÄHLERIN
Mit solchen Konzepten dreht sich das Schreckenskarussell von der „Remigration“ zurück zu den Ursachen der Emigration nach 1933. Damals wurden diejenigen aus Deutschland vertrieben, die aus politischen oder rassistischen Gründen nicht in die angebliche nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ passten.
Schon als Kind lernen wir, die Welt in Kategorien einzuteilen. Wer ist Freund, wer Feind? Evolutionär betrachtet waren Vorurteile vorteilhaft. Heute sind sie oft diskriminierend. Was können wir dagegen tun? Von Maike Brzoska (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Katja Amberger
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Juliane Degner, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Hamburg
Andreas Beelmann, Professor an der Universität Jena und Direktor des Zentrums Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
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Die Poincaré-Vermutung erfasst Geometrie höherer Dimensionen - und bringt uns damit nichts weniger als die Form des Universums näher. Über 100 Jahre blieb diese Vermutung eines der schwersten mathematischen Rätsel der Welt. Von Lavina Stauber
Credits
Autorin dieser Folge: Lavina Stauber
Regie: Irene Schuck
Es sprach: Berenike Beschle
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Prof. Dr. Michael Eisermann, Abteilungsleiter für Geometrie und Topologie an der Universität Stuttgart
George Szpiro, Mathematiker, Journalist und Autor
Dr. Johann Beurich, Mathe-Youtuber „DorFuchs“
Dr. Norbert Blum, theoretischer Informatiker und emeritierter Professor an der Universität Bonn
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Literatur:
Der Geschichte des Beweises der Poincaré-Vermutung geht George Szpiro in seinem Buch „Das Poincaré-Abenteuer: Ein mathematisches Welträtsel wird gelöst“ nach.
Eine Biographie über Gregori Perelman liefert Masha Gessen mit: „Der Beweis des Jahrhunderts – Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman“
Einen Überblick über alle sieben ausgeschrieben Millennium Probleme beschreibt Keith Delvin in: „The Millenium Problems – The Seven Greatest Unsolved Puzzles of Our Time”
Und die wichtigsten mathematische Rätsel, auch diejenige, die Hilbert auf seiner Liste 1900 stehen hatte, fasst Ian Stewart in seiner Publikation „Die letzten Rätsel der Mathematik“ niedrigschwellig zusammen.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'24
SPRECHERIN:
Russland, im November 2002. Es ist ein Montagnachmittag, kurz nach 16 Uhr, als auf der Plattform „arXiv“ ein neuer Artikel hochgeladen wird. In Mathematiker-Kreisen wird kurz darauf gemunkelt, dass hier etwas ganz Großes publiziert wurde: die Lösung eines Jahrhundert-Rätsels.
ZSP 01_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Also die Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Niemand hatte das erwartet. Perelman war bekannt, schon damals als brillanter Mathematiker, aber niemand wusste, dass er an der Poincaré-Vermutung arbeitet. Innerhalb von Stunden ging die Nachricht um die ganze Welt.
Musik 2
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'7
SPRECHERIN:
Dass das Who is Who der Mathematik so schnell von diesem Artikel erfährt, liegt auch an der Art der Veröffentlichung.
ZSP 02_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Das arxiv ist ein sogenannter Preprint Server, wo die Leute ihre PDFs einfach ablegen können und andere das dann auch im vollkommen offenen freien Zugang kostenlos herunterladen und anschauen dürfen.
Musik 3
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'35
SPRECHERIN:
Die Dokumente, die dort hochgeladen werden, durchlaufen keine Peer-Review wie es bei wissenschaftlichen Publikationen sonst üblich ist. Das, was dort geschrieben steht, ist nicht zuvor auf die Korrektheit überprüft worden.
Und dennoch haben viele bedeutende Mathematiker dieses Bauchgefühl; dass der Urheber dieses Artikels eine korrekte Lösung für ein mathematisches Rätsel gefunden hat, das seit fast hundert Jahren ungelöst ist. Die sogenannte Poincaré-Vermutung, benannt nach dem Mathematiker Henri Poincaré aus Frankreich.
ZSP 03_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
In den 100 Jahren ihres Bestehens von 1904, als Poincaré sie formuliert hat, hat diese Vermutung ja viel schöne Mathematik generiert. Viele Menschen haben versucht, diese Vermutung zu lösen, zu beweisen oder zu widerlegen. Das hat nicht geklappt, aber dabei sind viele neue Erkenntnisse entstanden. Also man hat sich daran die Zähne ausgebissen. Aber vielleicht positiv formuliert, man hat die Werkzeuge geschärft.
SPRECHERIN:
Michael Eisermann ist Professor an der Universität Stuttgart am Institut für Geometrie und Topologie, also genau dem Fachbereich, dem die Poincaré-Vermutung zuzuordnen ist.
ZSP 04_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
In der Geometrie geht es um Längen und Winkel und Flächeninhalt und solche Dinge. Also Dinge, die man messen kann. Das heißt ja das Wort: Geometrie ist die Vermessung der Erde. Und in der Topologie versucht man, von diesen Maßzahlen etwas wegzukommen. Was dann übrig bleibt, ist sozusagen die globale Form.
Also wenn Sie auf der Erdoberfläche umherwandern, können Sie sich fragen, hat die Erdoberfläche die Form einer Scheibe? Oder ist vielleicht die Oberfläche einer Sphäre, also einer Kugel? Oder ist es die Oberfläche eines Schwimmreifens? Das würde man einen Torus nennen. Und da geht es nicht mehr um Geometrie. Da geht es nicht darum, wie groß oder klein das ist, wie sind die Winkel? Sondern da geht es um die globale Form, um die Topologie dieses Raumes, in dem wir uns da bewegen.
Musik 4
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'40
SPRECHERIN:
Also um den ganz großen Blick auf unsere Welt. Ein Mathematiker, der auch in der Topologie zu Hause ist, ist: Gregori Perelman. Jener Mann, der 2002 den Artikel zu Poincaré-Vermutung veröffentlicht und damit ein Rätsel löst, das ihn 1-Million-Dollar und eine Fields-Medaille reicher hätten machen können.
Johann Beuerich hat in Mathematik promoviert und sich dann mit dem YouTube-Kanal „Dor Fuchs“ selbstständig gemacht, um die Faszination der Mathematik mit der Welt zu teilen. Auch über die sieben sogenannten „Millennium-Probleme“ informiert er dort, die Poincaré-Vermutung ist eine davon:
ZSP 05_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Inhaltlich sind das Fragen aus der Forschung, die auch bewusst aus sehr breiten Themenspektren gewählt wurden, also von eher informatischen, eher physikalischen Themen bis zu reiner Mathematik, so dass jedes Fachgebiet so sein Millenniumproblem bekommen hat, wo man sagen kann: so jeder Mathematiker arbeitet in irgendeiner Weise an einem Thema, was irgendwo zu so einem Problem führen könnte.
SPRECHERIN:
Die Wurzeln der Millennium-Probleme führen zurück auf den bedeutenden deutschen Mathematiker David Hilbert - genau 100 Jahre bevor der 1-Million-Dollar-Preis eingeführt wird.
ZSP 06_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Hilbert war, als er die Probleme vorgestellt hat, im Jahr 1900 auf dem Internationalen Mathematikerkongress als Redner eingeladen. Das ist schon eine der höchsten Ehren, die man als Mathematiker bekommen kann, wenn man auf dem internationalen Kongress dort ein Plenarvortrag halten darf. Und Hilbert dachte sich halt: Na ja, jetzt beginnt ein neues Jahrhundert. Deswegen spreche ich mal so ein paar Probleme an, die das nächste Jahrhundert prägen könnten.
SPRECHERIN:
Und er behielt Recht. Was Hilberts Probleme so außergewöhnlich macht, ist, dass sie nicht nur Antworten auf mathematische Fragen verlangt, sondern neue Wege des Denkens erschließt. Seine Rätsel inspirieren, provozieren, und oft führen sie zu völlig neuen mathematischen Disziplinen. Sie erinnern daran, dass Mathematik nicht statisch ist, sondern sich stetig erweitert, wie ein unaufhörlich wachsender Kosmos des Wissens.
Musik 5
"It's not working" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'37
SPRECHERIN:
Paris, im Mai 2000 – zwei Jahre, bevor Gregori Perelman seinen Artikel auf arXiv hochladen wird.
Gerade hat die Welt das neue Jahrtausend, also das Millennium, gefeiert und kluge Köpfe aus Mathematik und Naturwissenschaft sitzen im Collège de France zusammen, brüten darüber, was in ihren Fachgebieten heute wohl die schwersten und entscheidenden Rätsel sind. Rätsel, die wegweisend für die Mathematik des kommenden Millenniums sein werden.
Und für die Lösung setzt das Clay Mathematics Institute ein Preisgeld aus von: jeweils 1 Million Dollar.
ZSP 07_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Jeder kann 1 Million Dollar verstehen, aber kaum jemand kann die Schwierigkeit der Poincaré-Vermutung einschätzen. Insofern sind diese Preise außerhalb der Mathematik ein soziales Signal, sozusagen für die Wertschätzung, die Schwierigkeit der Arbeit und die soziale Anerkennung.
ZSP 08_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Ich glaube, die meisten Mathematiker waren schon sehr überrascht, dass es nur nach zwei Jahren schon möglich war, eins der Millennium-Probleme zu lösen.
SPRECHERIN:
Und dann steht diese erste Lösung sogar noch öffentlich einsehbar, für jeden, nicht nur für die Abonnenten der wissenschaftlichen Fachzeitschriften, sondern für die ganze Welt zugänglich im Netz.
ZSP 09_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Und das ist im Prinzip das Interessante bei Perelman, dass er es nicht für nötig gehalten hat, das auch noch einem Journal zu schicken und sozusagen in diese peer-reviewten Fach-Publikationsliste aufnehmen zu lassen.
SPRECHERIN:
Die Poincaré-Vermutung ist nach dem französischen Mathematiker Henri Poincaré benannt. Sie sagt etwas sehr Grundlegendes und Wichtiges über die Topologie aus.
Genau darüber hat der studierte Mathematiker George Szpiro ein Buch veröffentlicht: „das Poincaré-Abenteuer“.
ZSP 10_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Poincaré war ein brillanter Mathematiker. Eigentlich hatte er Ingenieurstudien gemacht, aber dann wandte er sich der Mathematik und der Physik zu. Und da hat er wirklich Bahnbrechendes geleistet in der Physik. Die Himmelsmechanik, wie Planeten herumfliegen im Weltall, in der Optik, Elastizität, Thermodynamik und auch, was viele vielleicht nicht wissen, die Relativitätstheorie hätte er fast noch vor Albert Einstein entwickelt.
Musik 6
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'21
SPRECHERIN:
Doch was verbirgt sich hinter dieser Vermutung, deren Lösung 1 Million Dollar wert ist?
Stellen wir uns eine Kugel vor, wie sie unsere Erde ist. In der Topologie spricht man da von einer Sphäre.
ZSP 11_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Wenn Sie irgendwo einen Pflock in die Erde rammen und eine Reise von dort aus starten und hinter sich so eine Schnur herziehen, dann können Sie eine Rundreise machen und kommen irgendwann zu diesem Pflock zurück und können dort die Schnur wieder schließen.
Musik 7
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'34
SPRECHERIN:
Wenn wir den Versuch aber auf einem Schwimmreifen wiederholen, dann verfängt sich die Schnur in dem Loch in der Mitte und kann nicht zusammengezogen werden. So lässt sich der Unterschied zwischen der Oberfläche einer Sphäre und eines Torus, also einem Ball und einem Schwimmreifen, messen.
Die Poincaré-Vermutung besagt nun genau dasselbe in weiteren Dimensionen – also dass Ball und Schwimmreifen immer unterschiedlich sind. So lassen sich durch sie Aussagen und Gedanken über die Beschaffenheit unseres Universums formulieren.
ZSP 12_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Wie sieht denn unser Universum, in dem wir leben, global aus? Wir kennen so einen kleinen Teil, das ist dreidimensional, aber wir wissen nicht, wie das global aussieht. Ist das eine Sphäre oder ist das ein komplizierter Raum? Das hat natürlich starke physikalische Hintergründe, aber es ist auch eine topologische Frage. Welche Räume sind denn überhaupt denkbar?
SPRECHERIN:
Es geht um das Verständnis, das wir von unserer Welt haben. Leider können wir uns mehr als drei Dimensionen aber nicht vorstellen und schon gar nicht ein Experiment dazu machen – die Lösung kann nur eine mathematische sein.
Aber Poincarés Vermutung konnte lange nicht bewiesen werden. Poincaré selbst schrieb seine Entdeckung auf, aber ohne Beweis blieb seine Vermutung eben genau das: eine Vermutung. Etliche hatten sich schon an Poincaré versucht und behauptet, das Problem gelöst zu haben. Sie alle irrten.
ZSP 13_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Aber bei Perelman war es halt wirklich tatsächlich so, dass er eine vernünftige Theorie weiterführen konnte und auch die Ansätze, die schon andere Leute auch vor ihm hatten, weiterführen konnte.
Musik 8
"Life out Balance" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'42
SPRECHERIN:
1966 wird Grigori Perelman in Leningrad geboren, dem heutigen St. Petersburg. Schon früh zeigt sich seine außergewöhnliche Begabung für die Mathematik, die er wohl von seiner Mutter geerbt hat. Auch sie ist Mathematikerin, ihr Talent wird in den 1960er Jahren der Sowjetunion aber nicht weiter gefördert, als Frau und Jüdin.
Sie aber tut alles in ihrer Macht Stehende, um ihren Sohn zu fördern. Sie schickt ihn in einen Matheclub, in dem er bald als unbestrittene Nummer Eins gilt, später wird er an einer renommierten Leningrader mathematischen Fachschule unterrichtet.
ZSP 14_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Mathematik wurde in der Sowjetunion als Symbol für die intellektuelle Überlegenheit und den Fortschritt des sozialistischen Systems betrachtet. Mathematiker wurden als Helden der Wissenschaft gefeiert und ihre Leistungen galten als Beweis für die Stärke und den Fortschritt der Nation.
Musik 9
"Life out Balance" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 1`04
SPRECHERIN
Zu dieser Zeit ist Mathematik in der Sowjetunion beinahe wie ein Nationalsport. Das sowjetische Team dominiert regelmäßig die Mathematik-Olympiade. In Budapest 1982 nimmt auch Perelman daran Teil, im Alter von 16 Jahren. Er bekommt am Ende die Goldmedaille überreicht, einen Sonderpreis, weil er die höchstmögliche Punktzahl erreicht hat, und eine automatische Zulassung an einer Universität.
Perelman ist erst 24 Jahre jung, als er promoviert und die Uni auf der Suche nach einer Anstellung verlässt. Und er hat das Glück, in eine Zeit des
Wandels hineinzuwachsen, als die Sowjetunion eine Modernisierung ihres politischen und wirtschaftlichen Systems angeht. Anfang der 90er-Jahre kann Perelman so in die USA reisen, er forscht und lehrt ein paar Jahre, bevor er wieder zurückkehrt und sich einem mathematischen Teilgebiet zuwendet: der Topologie.
Und damit verschwindet er zunächst von der Bildfläche – zu diesem Zeitpunkt ist er 29 Jahre alt.
ZSP 15_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Niemand wusste mehr, wo er war. Niemand wusste auch genauer, woran er arbeitete. Deswegen war es dann so überraschend, dass er die Vermutung bewiesen hat.
SPRECHERIN:
Perelman gilt als Eigenbrötler unter den Mathematikern, als jemand, der nur für die Mathematik lebt und dabei strenge moralische Erwartungen an sich selbst und sein Arbeitsumfeld hat. Gut 7 Jahre arbeitet er an der Poincaré-Vermutung und zieht sich in der Zeit immer weiter zurück.
ZSP 16_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Das Klischee der Mathematikerin, des Mathematikers ist natürlich wirklich: Die sitzen in einem stillen Kämmerlein und brüten da über Probleme, die außer ihnen kaum jemand versteht. Also, Perelman entspricht diesem Klischee in extremer Weise, das muss man schon sagen.
Ich denke, dass dieses Klischee auch dadurch bestätigt wird, dass man über diese Fälle halt besonders gerne redet. Die sind extrem und man spricht natürlich über die Extremfälle am liebsten.
SPRECHERIN:
Ein anderer, berühmter Extremfall ist die Lösung von „Fermats letztem Satz“. Pierre de Fermat wird Anfang des 16. Jahrhunderts in Frankreich geboren, arbeitet als Anwalt, auch wenn seine Liebe der Mathematik gilt. Er veröffentlicht wenig, sondern schreibt über seine mathematischen Entdeckungen in Briefen.
Im Laufe der Zeit werden viele seiner Sätze bewiesen, bis auf einen: sein letzter Satz. Es dauert fast 400 Jahre, bis in England Ende der 1970er der Mathematiker Andrew Wiles von diesem Satz so eingenommen wird, dass er gut 30 Jahre im Geheimen daran arbeitet, grübelt, ausprobiert, bis er ihn schließlich beweisen kann.
ZSP 17_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Die meisten Mathematikerinnen sind vermutlich nicht so, sondern eher extrem kommunikativ in ihrer Arbeit. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten werden viele mathematische Probleme im Team und manchmal sogar in weltweiten Kollaborationen gelöst. Das Eigenbrötlerische, das gibt es. Es kommt vor, es ist Teil der Arbeit. Manchmal muss man alleine arbeiten, aber dann will man sich auch wieder mit anderen austauschen, prüfen, nachdenken, neue Ideen sammeln.
SPRECHERIN:
Denn von mathematischen Rätseln, gerade solchen, an denen sich schon seit Jahrzehnten Mathematiker die Zähne ausbeißen, geht eine besondere Faszination aus. Von diesem Reiz berichtet auch Nobert Blum, ein ehemaliger Professor an der Universität Bonn für das Fachgebiet der theoretischen Informatik. 2017 war er selbst nah dran, eines der sieben Millennium-Probleme zu lösen.
ZSP 18_rW_Poincare-Vermutung_Blum
Andere haben es probiert, haben es vielleicht rausgekriegt und das hat mich dann gereizt. Wenn das andere gute Leute probiert haben und ich probier's. Da hab ich sehr häufig auch nichts rausbekommen, aber manchmal doch. Und das hat auf mich schon ungeheuren Reiz ausgeübt
SPRECHERIN:
Norbert Blum hat das Millennium-Problem, an dem er gearbeitet hat, nicht gelöst. Kollegen fanden einen Fehler in seinem Beweis, den er mit seinen Methoden nicht korrigieren konnte.
ZSP 19_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Bei Perlmanns Beweis war es ja auch so, dass kleinere Lücken aufgetaucht sind bei der Prüfung, die aber dann geschlossen wurden. Das heißt, man hat es nicht nur geprüft, sondern auch verbessert. Dieser Prozess ist ganz normal, dass man das nicht nur als fertiges Produkt prüft, sondern auch verbessert, durcharbeitet und dadurch besser versteht.
Musik 10
"It's not working" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'26
SPRECHERIN:
Die Welt benötigt zunächst Zeit, um Grigori Perelmans Beweis zu verstehen. Gute 2 Jahre dauert es, bis Expertengruppen gemeinsam Perelmans Artikel überprüfen und für richtig empfinden können.
Und doch: es bleibt eine Rest-Unsicherheit, ob Grigori Perelman durch die Veröffentlichung auf einer Plattform wie arXiv einen Beweis erbracht hat, den man als solchen anerkennen kann.
ZSP 20_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Eigentlich hat das Clay Mathematics Institut gesagt: Wir akzeptieren eine Lösung erst, wenn sie wirklich in einem Fachjournal angekommen ist. Und auch dann muss noch mindestens ein Jahr vergangen sein. Und eigentlich hat das Institut auch die Regel: man soll auch zu seiner Lösung bereit sein, Fachvorträge zu halten und seinen Kollegen das zu erklären und auf Konferenzen damit Vorträge zu halten, damit wirklich die Fachwelt darüber diskutieren kann und auch Nachfragen stellen kann.
SPRECHERIN:
Obwohl Perelman die Poincaré-Vermutung bewiesen hatte, bleiben die Auszeichnungen, die Ehrungen, die mit der Lösung solch eines Rätsels zu erwarten waren, also zunächst aus.
ZSP 21_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Sein Beweis ist so kompliziert. Er wusste, das wird lange dauern. Ich glaube, es war ihm mehr oder weniger egal auch. Am Anfang hat er Leuten geholfen, wie er in Amerika war, zu erklären, und dann hatte er gesagt: Kümmert euch darum, mich geht es nichts mehr an! Er ist völlig von der Bildfläche verschwunden.
SPRECHERIN:
Drei Jahre nach seiner Lösung der Poincaré-Vermutung legt er seine Stelle nieder und zieht sich komplett aus der Mathematik zurück. Er sei enttäuscht, lässt er die Welt wissen. Die Mathematik hat ihr Wunderkind vergrault.
Musik 11
"It's not working" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'39
SPRECHERIN:
Und dann geschieht etwas Eigenartiges: im darauffolgenden Jahr erscheint eine wissenschaftliche Publikation zweier Kollegen, die behaupten, in ihrem Artikel einen vollständigen Beweis der Poincaré-Vermutung zu liefern. Ihrer
Ansicht nach hat Perelman nur den Anfang eines Beweises geliefert, sie jedoch die letzten Sprossen der Leiter erklommen, die zu einem tatsächlichen Ergebnis führen.
Es ist Gesetz der Mathematik, dass derjenige, dem der allerletzte Schritt eines Beweises gelingt, die ganzen Lorbeeren dafür erhält.
ZSP 22_rW_Poincare-Vermutung_Szpiro
Vor allem Perelman hat alle seine Vorarbeiter benannt. Natürlich wird ein mathematischer Beweis nicht aus dem Nichts erschaffen. Immer steht man auf den Schultern vom anderen Riesen und er hat Vorarbeiten anderer Mathematiker benützt und erwähnt.
SPRECHERIN:
So ist sein Beweis auch nach ihm und seinem mittlerweile verstorbenen Vorarbeiter Richard Hamilton benannt.
Wie sich später jedoch herausstellen wird, ist der angebliche Beweis der Kollegen ein Plagiat. Durch diesen Artikel aber scheint sich die Welt der Mathematiker letztlich einen Ruck zu geben:
Musik 12
"Life out Balance" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'38
SPRECHERIN:
2006 beim internationalen Mathematikerkongress wird Perelman endlich als derjenige anerkannt, der die Poincaré-Vermutung gelöst hat.
Für Grigori Perelman aber hat diese Anerkennung zu lange auf sich warten lassen. Als er 2006 mit der Fields-Medaille ausgezeichnet werden soll, lehnt er ab. Und auch als 2010 das Clay Institut ihm den Millennium-Preis und das dazugehörige Preisgeld von einer Million Dollar zuspricht, lehnt er ab.
ZSP 23_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Perelman war unzufrieden mit der Verleihung des Preises oder mit der Wertschätzung, die verschiedenen Beiträgen seinem und anderen gegenüber gebracht wurde und hat deshalb gesagt: Diesen Preis, den unterstütze ich nicht. Ich will damit nichts zu tun haben.
SPRECHERIN:
Grigori Perelman demonstriert, dass der Antrieb für mathematische Forschung die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis ist, dass Mathematik nicht nur ein abstraktes Schulfach, sondern eine sich ständig entwickelnde Disziplin voller Herausforderungen und Rätseln ist, die unser Verständnis der Welt erweitern kann.
ZSP 24_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Eines von den sieben ist jetzt gelöst, die anderen sechs sind noch offen und wenn es nach mir geht, dürfen die auch noch eine Weile offen bleiben, weil der Prozess da wirklich sehr wichtig ist und Mathematik erzeugt.
Musik 13
"It's an Abstract" - Album: Steve Jobs (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführender: Daniel Pemberton - Länge: 0'34
SPRECHERIN:
Wer auch immer sich an ihrer Lösung versuchen wird, eines steht aber jetzt schon fest:
ZSP 25_rW_Poincare-Vermutung_Beurich
Die Millenium-Probleme zu lösen, ist der wahrscheinlich schwerste Weg, um an 1 Million Dollar zu kommen.
ZSP 26_rW_Poincare-Vermutung_Eisermann
Ich zitiere Carl Friedrich Gauß, der gesagt hat: Es ist nicht das Wissen, sondern das Lernen, nicht das Besitzen, sondern das Erwerben, nicht das da sein, sondern das Hinkommen, das den größten Genuss gewährt.
Ursprünglich stammen Sinti und Roma aus Indien, von dort aus wanderten sie über viele Jahrhunderte nach Westen. Auf deutschem Boden zunächst geduldet, erklärte man die "Fremden" bald zu Vogelfreien. Danach kam es immer wieder zu Tötungen und Vertreibungen. Von Maike Brzoska (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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BR Themen | Sinti und Roma - Verfolgt, ermordet, ausgegrenzt
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BR Mediathek | ARD alpha | Geschichte der Sinti und Roma
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BR | RESPEKT | Antiziganismus
ZUR BEITRAGSSEITE
Literaturtipps:
Karola Fings: Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit. C.H.Beck. 2019.
Sehr guter geschichtlicher Überblick mit einem Schwerpunkt auf der Zeit des Nationalsozialismus. Verständlich und anschaulich geschrieben.
Anja Reuss: Kontinuitäten der Stigmatisierung. Sinti und Roma in der deutschen Nachkriegszeit. Metropol Verlag. 2015.
Die Autorin zeigt sehr umfassend, wie sich Vorurteile über die Minderheit gebildet und entwickelt haben und wie sie das Leben von Sinti und Roma beeinträchtigen.
Oliver von Mengersen (Hrsg.): Sinti und Roma. Eine Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation. Bundeszentrale für politische Bildung. 2015.
Gut lesbarer Sammelband, der sowohl einen geschichtlichen Abriss als auch die wichtigsten heutigen Themen – Sinti und Roma in den Medien, Schwerpunkte der Bürgerrechtsarbeit – umfasst.
Revolution oder Resignation - wie reagiert der Mensch, die Gemeinschaft auf Arbeitslosigkeit? Eine Sozialstudie aus den 1930er Jahren sucht Antworten durch ungewöhnliche Methoden und verändert die Forschung bis heute. Von Marlen Fercher (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Marlen Fercher
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Amberger, Marlen Reichert, Julia Cortis, Frank Manhold, Katja Schild
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Reinhard Müller, Soziologe im Ruhestand, davor beim “Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich” an der Universität Graz
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Literatur:
Jahoda; Lazarsfeld; Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. Frankfurt a.M., 2020.
Müller, Reinhard: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. Innsbruck, 2008.
Linktipps:auf der Homepage der Universität Graz finden Sie umfangreiches Material zur Studie
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Was machen drei Deutsche? - Einen Verein gründen. Aber ist das Vereinswesen wirklich eine typisch deutsche Leidenschaft? Es gab noch nie so viele Vereine wie heute. Und: die Mitgliederzahlen sinken. Wie passt das zusammen? Von Birgit Magiera
Credits
Autorin dieser Folge: Birgit Magiera
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Susanne Schroeder
Technik: Anton Wunder
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Bettina Hollstein, Geschäftsführerin Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt, Habilitation zu „Ehrenamt“
Dr. Arnd Kluge, Historiker, Vereinsforscher, Leiter Stadtarchiv Hof, Universität Regensburg
Marie Stadler, stellvertr. Abteilungsleitung DCA beim ESV Laim, Cheerleading-Trainerin
Nicole Wagner, Kulturunternehmerin „Volx-Gesang“ gemeinn. GmbH
Julia Daum, 1. Vorstandsvorsitzende „Freunde des Bertolt-Brecht-Gymnasiums e.V.“
Helmut Pfundstein, 1. Vorstand beim „Männergesangverein Germania Aubing“
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Literatur:
Deutsche Vereinsgeschichte, Arnd Kluge, Franz Steiner Verlag, 2024
Ehrenamt verstehen, Bettina Hollstein, Campus Verlag, 2015
Weiterführende Links:
Dynamic Cheer Athletics HIER
Männergesangverein Germania Aubing HIER
Volxgesang HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
1 OT Pfundstein
Also, ich bin mit 17 Jahren zum Chor gekommen. Mein Vater war schon Sänger in diesem Gesangverein. Mein Großvater mütterlicherseits war dort Sänger, und mein Vater und meine Mutter haben sich bei der Gelegenheit kennengelernt und haben geheiratet. Also ich bin so zu sagen ein Kind des Gesangvereins.
SPRECHER
…Des Männergesangvereins – (also) ohne „s“ - Germania Aubing. Seit vielen Jahrzehnten ist Helmut Pfundstein erster Vorstand in dem Traditions-Männerchor, gegründet 1894. Für ihn war der Eintritt in den Gesangverein damals ein wichtiger Schritt ins eigene Erwachsenenleben:
2 OT Pfundstein
Mein Großvater hat nach dem Krieg, als ich einigermaßen erwachsen war, gesagt: Bursch, ich ging eigentlich noch in die Oberrealschule, war 17 Jahre alt, Geh amal mit, wir brauchen junge Sänger, geh mit, schaus dir an, ob es dir Spaß macht. Und es war ein Abend in der Woche, den man ausgehen konnte. Wir damals, wir Jugendlichen konnten nicht jeden Tag ausgehen. Es war also schon ein Privileg, und der Gesangverein war ein Stück Freiheit.
SPRECHER
Freiheit und eine gesellschaftliche Größe im Ort: der Gesangverein gab nicht nur – wie heute auch noch - Konzerte, er richtete auch Bälle aus, war bei allen wichtigen Anlässen präsent:
3 OT Pfundstein
Also der Gesangverein war im Stadtteil eine Hausnummer, und man ging dort gerne hin. Man hat sich getroffen. Es war immer eine große gesellige Komponente dabei, etwas, das man woanders so nicht gefunden hat.
Musik 1: Und was sagen die Freunde? 45 Sek
SPRECHER
Erzählt Helmut Pfundstein über seine Zeit im Chor in den 1950er und 60er Jahren. Der Verein als ein kultureller und sozialer Mittelpunkt, in den man durch die Familie ganz automatisch reinwächst – das gibt es heute immer seltener. Von Seiten der Älteren kommt dann schon mal der Vorwurf, die Jüngeren hätten keine Lust mehr, sich zu engagieren.
Das stimmt so pauschal nicht, sagt Bettina Hollstein, Professorin am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Sie forscht zu freiwilliger Arbeit und Gemeinsinn. Die Anzahl der Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, nimmt sogar zu, sagt sie. Die Bereitschaft, in irgendeiner Form etwas für die Gesellschaft zu tun, sei gestiegen. Aber:
4 OT Hollstein
(Aber) die Dauer des Engagements, also wieviel man sich in einer Woche zum Beispiel engagiert, die geht zurück, weil die Zeiträume, die man zur Verfügung hat, für ihr Engagement nicht mehr so fest planbar sind. Wenn Sie viel mehr Bereitschaftszeiten haben, immer wieder zwischendrin arbeiten müssen. Dann haben sie nicht mehr so verlässliche Zeiten, an denen Sie sagen können ja, donnerstags, nachmittags mache ich immer das Bambini-Training.
Musik 2 - Schnelle Schritte 1:21 Min
SPRECHER
Erklärt die Forscherin. Arbeits- und Lebenswelten haben sich verändert, Menschen wechseln öfter die Firma, den Wohnort, ihre kompletten Lebensumstände, als noch vor einer Generation. Dadurch wird es für viele schwieriger, sich langfristig und kontinuierlich festzulegen. Leichter zu stemmen sind einzelne, zeitlich begrenzte Projekte.
Ob Vereine Zulauf haben oder nicht, hängt noch von einem anderen Umstand ab. Und der liegt auf der Hand: in einigen ländlichen Regionen, kleinen Orten, leben schlicht insgesamt weniger Menschen als früher. Dort werden reine Männerchöre oft zu gemischten Chören. Fußballmannschaften benachbarter Vereine schließen sich zu Spielgemeinschaften zusammen, um noch genug Spieler und Trainer auf den Platz zu bringen. Woanders treten mehr Menschen in Sport-Vereine ein: In der Summe hatte z.B der bayerische Landes-Sportverband als Dachverband im Herbst 2024 so viele Mitglieder wie noch nie, mehr als vor der Corona-Pandemie. Gerade in Großstädten und Ballungszentren werden nach wie vor mehr Vereine oder Abteilungen neu gegründet als aufgelöst.
ATMO Turnhalle Cheertraining
SPRECHER
Marie Stadler steht in einem neu gebauten Turnhallen-Komplex des ESV, des Eisenbahnsportvereins in München-Laim. Die Studentin trainiert hier an mehreren Abenden in der Woche Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Außerdem ist sie selbst Teil eines Teams. Nachwuchs haben sie mehr als genug, sagt sie.
5 OT Stadler
Wir haben dieses Jahr zum ersten Mal von unserer jüngsten Altersklasse zwei Teams, weil wir so nen Andrang hatten. Und das überlegen wir eben auch, mit der Jugend zu machen und uns quasi noch breiter aufzustellen.
SPRECHER
Wettkampf-Cheerleading heißt Maries Sportart, die in Deutschland noch relativ jung ist: eine Mischung aus Turnen, Akrobatik und Tanzelementen. Die Dynamic Cheer Athletics, - so nennt sich die Abteilung innerhalb des Vereins - nehmen erfolgreich an Meisterschaften teil, in allen Altersklassen.
Und die Abteilung wächst: das heißt dann natürlich auch, man braucht mehr Trainer und Trainerinnen.
6 OT Stadler
Wir ziehen unsere Trainerinnen mit 14, 15, 16 ran. Die sind dann voll mit eingespannt, werden immer wieder in größere Aufgaben ran geführt. Und so war es ja auch bei mir. Und dann brennt man auch immer mehr dafür.
SPRECHER
Ins Vereinsleben und in den Sport investiert Marie Stadler einen großen Teil ihrer Freizeit. Ihr Freund unterstützt sie, fährt auf Meisterschaften mit, um vor Ort die Teams mit zu betreuen. Wenn’s dann drauf ankommt – der Moment, wenn das Team auf der Matte steht und die Musik losgeht – immer wieder großartig, schwärmt die Trainerin:
ATMO Cheer Musik
7 OT Stadler
Als Trainer, sitzt man bei uns in der Sportart vor der Matte und kann gar nicht mehr eingreifen. Und die Mädels sind zweieinhalb Minuten auf sich selber gestellt, und man hofft einfach, dass man alles in den letzten sechs Monaten, so gut es geht, beigebracht hat. Und dann im Moment, wenn der letzte Ton der Musik kommt und alles vorbei ist, dann fällt so dieser Druck ab. Und man sieht die Mädchen sich so krass freuen. Und das schwappt so auf einen über. Stimme oben
Musik 3: Und was sagen die Freunde? – siehe vorn – 39 Sek
SPRECHER
Diese Momente sind es, die der Studentin ein besonderes Glücksgefühl geben. Sie gibt ihr Können gerne weiter und genießt die gemeinsame Freude, wenn etwas lang Geübtes endlich klappt. Aber: ein Ziel oder Ergebnis zu erreichen, der gewonnene Pokal, das erfolgreiche Chor-Konzert, das ist nur ein Grund von mehreren, wenn sich jemand freiwillig einbringt, sagt die Sozialwissenschaftlerin Bettina Hollstein. Die häufigste, eher schwammige Antwort lautet: „Das macht einfach Spaß!“
8 OT Hollstein
Dass man im Tun selbst erlebt: Da spüre ich mich. Ja.
Im Engagement erfahren die Menschen Resonanz. Erlebnisse also. Und das verändert die Menschen auch. Ja, das sind also ganz wesentliche Elemente, die im Tun passieren.
SPRECHER
Selbstwirksamkeit, Zugehörigkeit, Sinnhaftigkeit, Anerkennung… all das erfährt, wer freiwillig tätig ist. Und – das ist Bettina Hollstein wichtig zu betonen – es gibt einen Unterschied zum Spenden:
Wer Geld spendet, oder auch eine Petition im Netz anklickt, fühlt sich zwar auch gut, so die Forscherin, dabei delegiert man aber das Tun und erfährt nicht dieselbe Freude wie Menschen, die ihre Energie und die eigene Lebenszeit aufwenden.
Musik 4: Meine Doktorarbeit 36 Sek
Fast 29 Millionen Menschen engagieren sich hierzulande freiwillig, das sind fast 40% aller Jugendlichen und Erwachsenen. Deutlich mehr als noch vor 20 Jahren. Das zeugt von einem starken Gemeinsinn, auch wenn oft anderes behauptet wird. Es stimmt nachweislich nicht, dass jeder nur noch an sich selbst denkt. Und überhaupt – sind wir Deutschen nicht die weltweit führenden Vereins-Meier? Immer gewesen?
ZITATORIN
„Treffen sich drei Deutsche – was machen die?
Gründen einen Verein“!
Musik aus
SPRECHER
In manchen Bereichen stimmt das Klischee, wenn man in die Geschichte des Vereinswesens schaut:
Gerade die Gründungswelle der Männergesangvereine im 19. Jahrhundert – ein zunächst deutsches Phänomen, das erfolgreich in alle Welt exportiert wurde. Genauso wie die Turnvereine. Oder auch: die sozialistischen Arbeitervereine. Auch hier wurden die ersten im deutschsprachigen Raum gegründet, ebenfalls im 19. Jahrhundert, erklärt Arnd Kluge. Er ist Historiker, Stadtarchivar im oberfränkischen Hof und er hat die deutsche Vereinsgeschichte erforscht. Haben also tatsächlich wir das Vereinswesen erfunden?
9 OT Kluge
Nein, das stimmt so nicht. Viel häufiger ist der Fall, dass in Deutschland Vereinsideen vom Ausland übernommen worden sind, also in der frühen Neuzeit. Zum Beispiel hat man sich an italienischen Gelehrten-organisationen, den sogenannten Akademien, orientiert. Dann wurden Freimaurerlogen gegründet, die stammen aus England und Schottland, Fußballvereine ebenfalls nach britischem Vorbild oder in etwas jüngerer Zeit dann die Serviceclubs, also Rotary, Lions und ähnliche Clubs nach US-amerikanischem Vorbild.
ATMO Fussballtraining
SPRECHER
Die erfolgreichen Fußball-Vereine sind es auch, die heute die mit Abstand meisten Mitglieder hierzulande haben. Mehr als 28 Millionen Menschen waren im Jahr 2024 Mitglied in einem Sportverein. Mehr als eine Million allein die fünf erfolgreichsten Fußball-Bundesliga-Clubs. Aber auch in anderen Sportarten gibt’s annährend solche Dimensionen: einzelne Sektionen des Deutschen Alpenvereins zum Beispiel haben weit über 100tausend Mitglieder. Und die Frage drängt sich auf: Ab welcher Größe und Aktivität erscheint ein Verein eher als Dienstleistungs-Unternehmen?
So wie der allgemeine deutsche Automobilclub ADAC – der gilt vielen eher als eine Art Pannenversicherung, ist aber der mit Abstand größte Verein - mit vielen Millionen Mitgliedern, Tendenz weiter steigend.
Auch der TÜV läuft unter dem juristischen Label Verein, obwohl seine Aufgaben eher an eine staatliche Behörde erinnern. Was ein Verein ist und was er leisten soll, hat sich immer wieder verändert, erklärt der Historiker.
10 OT Kluge
Zum Beispiel Bündnisse von Aufständischen zählten im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zum Vereins Wesen. Heute würde man das eher organisierte Kriminalität nennen. Bis ins neunzehnte Jahrhundert waren wirtschaftliche Vereine sehr weit verbreitet, zum Beispiel Aktiengesellschaften oder Genossenschaften. Und das jüngste Beispiel sind politische Parteien. Eigentlich sind das Vereine, aber für sie gibt es ein Spezialrecht, eben das Parteiengesetz, sodass man sie heute so nicht mehr als Vereine ansehen würde.
ATMO Schützenverein
SPRECHER
Und welche heutigen Vereine waren - umgekehrt – früher keine?
Die rund 14tausend Schützenvereine in Deutschland. Sportschützen sind sehr stolz auf ihre sehr lange Tradition. In vielen Regionen gelten sie als die ältesten Vereine überhaupt, gegründet im frühen Mittelalter, lange vor allen anderen. Vereinsforscher Arnd Kluge sieht die Schützenvereine allerdings anders:
11 OT Kluge
Denn das, was man da im Mittelalter findet, waren noch keine Vereine, sondern das waren Veranstaltungen der Gemeinden oder der Städte. Man musste ja seine Stadt von der Stadtmauer aus verteidigen können oder möglicherweise auch mal auf einen Kriegszug ziehen zugunsten der Stadt. Und um das tun zu können, mussten die Bürger der Städte mit den Waffen üben. Und die Menschen gingen dort auch häufig nicht freiwillig hin, sondern sie waren verpflichtet, so und so viel Schießübungen im Jahr abzuhalten.
Musik 5: Schnelle Schritte – siehe vorn – 26 Sek
SPRECHER
Schützenvereine nach heutigem Verständnis haben sich laut Arnd Kluge erst vor 400 Jahren oder noch später herausgebildet. Damals hat neue Kriegstechnik die bewaffneten Bürgerwehren auf der Stadtmauer nach und nach überflüssig gemacht. Man fing an, sich aus reiner Geselligkeit zu treffen. Die Schießveranstaltungen waren keine Wehr-Pflicht-Übung mehr, sondern wurden sportlicher Zeitvertreib und Wettbewerb.
Mehr als 600tausend eingetragene Vereine gibt es in Deutschland.
Von denen werden jedes Jahr mehrere tausend aus dem Register gelöscht, lösen sich auf.
Gleichzeitig werden ungefähr genauso viele neu gegründete Vereine ins Vereinsregister eingetragen.
12 OT Kluge
Es gibt seit den 1990er-Jahren eine Tendenz hin zu ganz vielen Fördervereinen und Fördervereine sind ja eigentlich reine Geldsammelstellen. Da wird für irgendeinen guten Zweck, zum Beispiel für eine Schule oder für ein Museum Geld gesammelt. Das Vereinsleben ist minimal. Und da ist natürlich die Bindung der Mitglieder an den Verein nicht sehr groß in dieser Vereinsart.
Musik 6: Und was sagen die Freunde? – siehe vorn – 22 Sek
SPRECHER
Julia Daum ist Vorstandsvorsitzende im Förderverein einer Schule.
Geld sammeln und verwalten, das klingt vor allem nach trockener Buchhaltung. Und doch, sagt sie, ist da schon viel Verbundenheit:
13 OT Daum
Wir an unserer Schule sprechen immer von der Schulfamilie. Und das ist ja wie eine Familie, man hilft sich gegenseitig. Mal braucht einer ein bisschen mehr Zuwendung, mal ein anderer, und genauso findet es bei uns statt.
SPRECHER
Denn der Förderverein finanziert nicht nur Theaterbesuche, workshops oder Preise für den Mathematik-Wettbewerb, er unterstützt auch einzelne Schülerinnen und Schüler, wenn nötig. So stehts in der Satzung:
14 OT Daum
…dass der Förderverein auch dann dafür da sein soll, wenn ein Kind zum Beispiel an einer Studienfahrt nicht teilnehmen könnte, weil die Eltern finanziell nicht so gut gestellt sind. Und das sollte der Förderverein auch tragen.
SPRECHER
Und damit allen eine Teilhabe am ganzen Schulprogramm ermöglichen. In ihrem sozialen und kulturellen Engagement kommen private Fördervereine oft in den Dunstkreis dessen, was eigentlich Aufgaben der öffentlichen Hand wären: sehr deutlich wird das bei den Tafeln, die kostenlos oder gegen einen sehr kleinen Geldbetrag Lebensmittel an bedürftige Menschen ausgeben. Der deutschlandweite Verein die Tafel – gegründet Mitte der 1990er Jahre - ist eines der bekanntesten Beispiele für die vielen vergleichsweise jungen Verbände und Interessengruppen, die gesellschaftspolitische Ziele verfolgen. Auch in der Umwelt- und Klimabewegung, oder im Bildungsbereich.
Die vielen Neugründungen der vergangenen Jahrzehnte zeigen: die Vereinslandschaft in Deutschland ist lebendig, aber die Formen des Engagements und der Geselligkeit ändern sich. Während zum Beispiel traditionelle Chöre vor allem in kleineren Orten Nachwuchs suchen, boomen sogenannte Kneipenchöre und Mitsing-Konzerte in den großen Städten:
ATMO Singabend (düse im Sauseschritt)
SPRECHER
Mitsing-Konzerte: Sie nennen sich Rudelsingen, Go-sing-choir (engl. Aussprache) oder Volxgesang – mit „x“: Menschen zahlen Eintritt und singen für einen Abend gemeinsam, dann geht man wieder auseinander.
Manchmal wird anspruchsvoll mehrstimmig und mit Noten ein Lied einstudiert, manchmal wird auch einfach losgesungen, nach dem Motto:
Es gibt kein zu laut. Es gibt kein zu falsch!
15 OT Wagner
Wenn dann über 350 Leute singen, was, 400. Das ist natürlich wahnsinnig wunderbar und unheimlich berührend für mich, weil ich zu den Menschen gehöre, die in ihre Kindheit und Schulzeit nicht singen durften. Weil ich wahnsinnig falsch singe. Und das ist das Tolle, das spielt bei uns hier überhaupt keine Rolle. Der Einzelne kann so schlecht singen, wie er will. Die Gruppe klingt immer toll, und das ist das, warum ich das gemacht habe. Und das ist die ganze Organisation und hin und her und rum kalkulieren,
das ist das alles wert.
ATMO Kanon…
SPRECHER
Nicole Wagner steckt viel Zeit in die Singabende. Reich wird sie damit nicht, es ist mehr Leidenschaft als Geschäftsmodell. Ihre GmbH „Volxgesang“ ist gemeinnützig. Denn zusammen mit ihren Musikern organisiert Nicole Wagner auch MitsingKonzerte in Seniorenheimen, die sind kostenlos.
Für den Gesangsabend in der Kneipe zahlen die Leute Eintritt. Dazu mindestens ein, zwei Getränke… man gibt schon Geld aus. Und anders als in regelmäßigen Chorproben steht man neben wildfremden Menschen. Trotzdem sind die Volxgesang Termine meist schnell ausverkauft.
16 OT Wagner
Also ich glaube, das ist einfach so, weil es keinen Druck gibt wie in einem Chor. Man muss die Töne nicht treffen können. Und dieses Laute, das ist einfach wahnsinnig befreiend. Ja, das ist einfach dieses laute Singen und atmen. Also singen macht glücklich. Gemeinsam singen macht überglücklich.
SPRECHER
Das sieht Chor-Vorstand Helmut Pfundstein genauso. Auch wenn im Männergesangverein der Anspruch an das klangliche Ergebnis schon ein anderer ist. Und während es beim Kneipensingen eng wird, hätten die Männer von der Germania Aubing schon noch Platz für ein paar mehr Sänger.
Knapp 30 Männer kommen jede Woche zur Probe in den Pfarrsaal. Der jüngste ist Mitte 30, der Älteste über 90. Hellmuth Pfundstein ist zuversichtlich, dass sein Chor auch noch ein 150jähriges Jubiläum erlebt. Was ihn im Chor glücklich macht? Natürlich die Musik! So wie es auch Kneipensängerin Nicole beschrieben hat. Aber dann kommt noch die Idee dazu, gemeinsam etwas erreichen zu wollen.
Und: der Stolz, das dann vor Publikum präsentieren zu können.
ATMO Chorprobe
18 OT Pfundstein
Wenn wir ein reines Konzert haben, wie das Frühjahrskonzert, dann zieht der Chor von hinten in den Saal ein, die dann vorn Platz, um dann zu singen. Da beim Reingehen, da sitzen Leute im Publikum, die winken dem Einzelnen zu, und da ist die Kommunikation auch mit dem Publikum da. Und das freut auch den einzelnen Sänger natürlich. Dass er irgendwo gekannt und respektiert wird in der Gesellschaft.
Und wenn sie dann nach Wochen noch die Resonanz bekommen: „mai des war fei scheeee - wann machts denn wieder was? Wir wollen wieder gerne hingehen.“ Also das gibt ein gutes Gefühl.
ATMO Männerchor
SPRECHER
Die Vereinslandschaft in Deutschland verändert sich und auch die Formen beim freiwilligen Engagement – was gleichbleibt, ist der Wunsch, sich selbst zu organisieren und gemeinsam Ideen und Vorstellungen in die Gesellschaft einzubringen, betont die Soziologin Betina Hollstein:
19 OT Hollstein
Das, was wir als notwendig betrachten, zum Beispiel, dass es eine Krankenversicherung gibt oder so etwas. Das sind Dinge, die muss der Sozialstaat leisten und Dinge, von denen wir sagen. „Aber so wünschen wir unsere Gesellschaft“, das ist alles Teil des Engagements in Vereinen, Organisationen und so weiter.
Musik 6: Maybe this time 2:09 Min
SPRECHER
Ob ganz klassisch in der Freiwilligen Feuerwehr und im Burschenverein, oder im Umweltschutz, in der Nachbarschaftshilfe: Vereinsarbeit stärkt gesellschaftlichen Zusammenhalt. Untersuchungen zeigen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen gemeinnütziger Arbeit und Zustimmung zu demokratischen Grundwerten. Sich im Verein zu organisieren ist aber auch ganz direkt demokratiefördernd, von Mensch zu Mensch. Man übt, „sich gegenseitig auszuhalten“, so die Wissenschaftlerin.
20 OT Hollstein
Also wir müssen dann auch auf den Rücksicht nehmen, den wir vielleicht nicht so gut leiden können. Aber der ist halt auch mit im Chor, und den brauchen wir auch. Und deswegen lernen wir da auch miteinander umzugehen. Und das ist noch mal was anderes als nur die eigene Selbstvergewisserung. Ich stehe jetzt für dieses oder jenes, sondern wir stehen hier gemeinsam für bestimmte Dinge, die uns in unserer Gesellschaft wichtig sind.
SPRECHER
Dieses „miteinander wirksam sein“, das ist für Marie Stadler, die Cheerleading-Trainerin in der Turnhalle genauso spürbar, wie für Julia Daum vom Förderverein, wenn sie in der Schulaula steht.
21 OT Daum
Man merkt das auch, wenn wir ein Schulfest haben und wir unser Popcorn ausgeben und die Zuckerwatte. Und dann abends wenn wir alle zusammenräumen und auch die Lehrer und die Schulleitung und wir uns angucken und sagen Mensch war ein toller Tag, und das macht Spaß. Es macht Spaß, weil man sowohl im Team ein tolles Team hat, aber auch die Schule einem schon Rückmeldungen gibt und sagt, hey, es ist schön, dass es euch gibt. Es ist toll, dass ihr mitarbeitet. Und das tut gut.
22 Stadler
Es sind schon auch im Training die kleinen Momente, wenn es immer nicht geklappt hat. Und dann geht es plötzlich. Ich glaube, das, was man dann bei den Mädchen, in den Gesichtern für Freude und Fortschritt sieht, dass das schon viel in einem auslöst.
Der soziale Wohnungsbau war wichtig für den Wiederaufbau in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Wohnungsnot groß war. Eine Erfolgsgeschichte, doch heute ist das Konzept umstritten. Von Georg Gruber (BR 2019)
Credits
Autor dieser Folge: Georg Gruber
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Michael Hafner
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Im Jahre 2022 wurden in Deutschland etwa 5,67 Milliarden Euro privat gespendet. Jeder zweite Deutsche hat schon einmal Geld für einen guten Zweck verschenkt. Warum tun wir das? Warum geben Menschen etwas von ihrem Besitz ab? Setzt man sich mit den Ursachen und der Geschichte des Spendens auseinander, so lernt man viel darüber, wer wir eigentlich sind. Autor: Andreas Hauber (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Hauber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Pfarrer Hans Lindenberger, ehem. Direktor des Caritasverbandes i.d. Diözese München-Freising;
Franca Parianen, Neurowissenschaftlerin, Berlin;
Prof. Mario Gollwitzer, Psychologe, München
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Literaturtipps:
Parianen, Franca, Teilen und Haben – Warum wir zusammenhalten müssen, aber nicht wollen, Dudenverlag, Berlin 2021.
Schneider, Bernhard, Christliche Armenfürsorge- von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Verlag Herder, Freiburg-Basel-Wien, 2017.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie-Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
Es ist wieder Weihnachtszeit. Die Zeit der Besinnlichkeit und Ruhe. Aber auch die Zeit der Nächstenliebe und der Großzügigkeit. An Weihnachten beschenken wir uns gegenseitig, sind aber auch eher bereit mit denen zu teilen, die weniger Glück haben - denen es schlechter geht. Nie wird so viel zu Spenden aufgerufen und auch gespendet, wie an Weihnachten.
O-Ton 01 Lindenberger
Es ist wirklich ein Phänomen, ich merks an meinem Briefkasten, fast täglich kommt ein Spendenaufruf von irgendeiner Organisation, die Bundesweit oder in Bayern tätig ist.
Sprecherin
Pfarrer Hans Lindenberger, langjähriger Direktor des Caritasverbandes der Erzdiözese München und Freising ...
O-Ton 02 Lindenberger
Woher kommt das auf Weihnachten hin? Weihnachten, so heißt es ja, ist das Fest der Liebe und da hoffen dann die Spendenempfänger, die zu den Spenden aufrufen und darum bitten, dass das Herz geöffnet ist, mehr geöffnet ist als im Trubel des ganzen Jahres über - deshalb die Aufrufe zum Spenden.
Sprecherin
Weihnachten - das Fest der Liebe, an dem der Geburt Jesu gedacht wird, dem Mann, der als Sohn Gottes Nächstenliebe vorgelebt und diese auch von seinen Anhängern verlangt hat.
Auch wenn der Einfluss der Kirchen und des Christentums immer mehr zurückgeht, die Idee der Nächstenliebe scheint geblieben zu sein.
O-Ton 03 Lindenberger
Die Humanität, die menschliche Nächstenliebe. Das ist schon eine Prägung vom Christentum her, aus unserer Tradition heraus, in unsere Gesellschaft hinein. Des wäre ja eine Katastrophe, wenn Menschen, die sich nicht als Christen bezeichnen auch Abschied nehmen würden und müssten von der Humanität. Christsein ist immer auch human sein. Und daher mein ich, dass die Bereitschaft zum Geben zum Spenden in unserer Gesellschaft ganz hoch ausgeprägt ist. Auch wenn die Kirche schwächelt.
Musik 2
"Part VII" - Komponist und Ausführender: Fred Frith - Album: Rivers and Tides - Länge: 1'17
Sprecherin
Unsere Gesellschaft ist vom Christentum geprägt. Aber Werte wie Humanität und Nächstenliebe finden sich auch in anderen Religionen, in den Gedanken der Aufklärung und dezidiert antiklerikalen oder atheistischen Bewegungen wieder. Weihnachten als Fest der Liebe hat aber offenbar eine besondere Strahlkraft über die christliche Tradition hinaus. Als könnten sich alle darauf einigen sich besonders zu dieser Zeit auf die Nächstenliebe zu besinnen…
Aber irgendwie ist das auch seltsam … Denn das würde ja überspitzt gesagt bedeuten, dass wir immer eine höhere Instanz, sei es einen Gott, eine Lehre oder eine Theorie bräuchten, um miteinander zu teilen. Als müssten wir zu jeder guten Tat aufgefordert werden, weil wir nicht bereit sind von selbst etwas herzugeben … das ist doch ein etwas düsteres Menschenbild.
Schauen wir genauer hin: Wie ist es mit uns Menschen und dem Teilen? Hat Teilen jenseits aller Forderung von außen, aller Moral oder Religion vielleicht nicht etwas Grundsätzliches mit unserem Menschsein zu tun?
O-Ton 04 Parianen
Wenn wir sagen, Kinder müssen Teilen lernen, dann meinen wir meistens dieses großzügige Teilen, also abgeben von dem, was ich habe.
Sprecherin
Die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen hat sich in ihrem Buch „Teilen und Haben“ detailliert mit der Frage nach dem Teilen beschäftigt und untersucht, wie wichtig das Teilen für uns Menschen ist. Ein Blick auf das Verhalten der Kleinsten kann sehr aufschlussreich sein, wenn man herausfinden will, wie unser Wesen grundsätzlich beschaffen ist.
O-Ton 05 Parianen
Und wenn man jetzt kuckt: Können das Kinder besonders gut? stellt sich gerade bei so ganz Kleinen raus: Naja – Grade am Anfang sind wir nicht richtig begeistert von der Vorstellung was hergeben zu müssen von unserer Schokolade, von unseren Keksen.
Sprecherin
Also stimmt es?! Wir sind Egoisten … die anderen sind uns egal ... Wir schauen nur nach unserem eigenen Vorteil ...
Oder doch nicht?
O-Ton 06 Parianen
Das heißt aber von Anfang an nicht, dass uns andere Kinder jetzt egal sind, nämlich, wenn wir die Wahl haben, ob wir einfach selbst für uns ein Keks haben können, oder zwei Kekse für uns beide, aber dafür müssen wir Zusammenarbeit eingehen, dann riskieren wir von ganz klein auf die Zusammenarbeit, d.h., wir wollen eigentlich, dass beide was haben.
Und jetzt könnte man sagen: Naja gut (...) das heißt ja, dass wir großzügig sind, wenn wir selbst nicht verzichten müssen, das kann ich auch(...). Aber wahrscheinlich ist das der Kontext in dem Menschen gelernt haben zu teilen, denn ziemlich am Anfang stand wahrscheinlich eine Situation, wo man zusammen gejagt hat, und danach stand jeder mit mehr da.
Sprecherin
Unsere Vorfahren haben irgendwann damit angefangen zusammen zu jagen, weil damit die Chance ein großes Tier zu erlegen viel größer war. Davon hat jeder schon gehört. Dass wir soziale Wesen sind, hängt irgendwie mit der gemeinsamen Jagd zusammen. Aber gemeinsam Jagen allein bringt noch nicht viel. Schaut man auf unsere nächsten Verwandten, dann wird das deutlich: Stellt man zwei Schimpansen vor eine Aufgabe, in der sie zusammenarbeiten müssen, um eine Belohnung – z.B. einen Obstkorb - zu erhalten, dann tun sie das, aber ….
O-Ton 07 Parianen
Schimpansen sind überhaupt nicht doof, die verstehen sofort was von ihnen verlangt wird. Die gehen in einen Raum rein, ziehen zusammen an einem Seil und danach isst der Ranghöhere alles auf und der andere sitzt beleidigt in der Ecke. Das Ganze funktioniert exakt einmal.
Sprecherin
Mit Kooperation allein ist es also nicht getan.
O-Ton 08 Parianen
Das heißt, wir müssen erstmal abgeben lernen, damit wir Zusammenarbeit möglich machen.
Musik 3
"Part VII" - Komponist und Ausführender: Fred Frith - Album: Rivers and Tides - Länge: 0'20
Sprecherin
Nur wer teilen kann, für den macht Kooperation wirklich Sinn. Und es sieht ganz so aus, dass das Teilen eine wesentliche Fähigkeit gewesen ist, die unsere Entwicklung zu dem, was wir heute sind, erst möglich gemacht hat. Denn das Ganze bleibt nicht bei der Jagdbeute stehen:
O-Ton 09 Parianen
Sondern, indem wir zusammen teilen, teilen wir z.B. auch das Jagdrisiko, d.h. wenn wir heute das teilen, was wir gefunden haben, sitzen, wir morgen nicht alleine da, wenn wir mal nichts finden.
Sprecherin
Doch gibt es noch viel tiefgreifendere Bereiche, in denen das Teilen essenziell ist, betont Franca Parianen:
O-Ton 10 Parianen
Und ganz wichtig: Wir teilen auch von Anfang an Wissen. Es ist nämlich so, dass ohne gewisses Wissen, ohne das Wissen darum, wie man Feuer macht, wie man Fleisch verarbeitet, die ersten Steinkeile und sowas, wir gar nicht in der Lage gewesen wären unser großes Gehirn, wie wir es jetzt haben zu ernähren.
Sprecherin
Auch unsere geistige Entwicklung hängt also zutiefst damit zusammen, dass unsere Vorfahren irgendwann den Vorteil des Teilens erkannt haben.
O-Ton 11 Parianen
Das heißt, in gewisser Weise mussten wir erst sozial werden, um dann klug werden zu können.
Sprecherin
Um klug zu sein, ist ein großes, flexibles Gehirn, das auch nach der Geburt weiterwachsen kann, nötig. Das hat aber zur Folge, dass der menschliche Nachwuchs sehr hilflos und - man könnte sagen - unfertig auf die Welt kommt.
O-Ton 12 Parianen
Wenn man sich das ankuckt, in irgendwelchen Tierdokus, da sieht man immer schon: Und hier, die Giraffe läuft kurz nach ihrer Geburt die ersten Schritte, Kinder können das lange nicht, genau genommen können wir noch nicht mal unseren Kopf besonders gut halten. Und das heißt mit ziemlicher Sicherheit, dass man uns so nicht alleine groß ziehen kann in der Wildnis, als eine Person.
Sprecherin
Im Grunde braucht es, wie ein Sprichwort sagt: Ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.
O-Ton 13 Parianen
... Und das hat uns wiederum ermöglicht, auch unser Gehirn nach der Geburt noch so viel weiterwachsen zu lassen. (...) Viele andere Tiere, die relativ fertig auf die Welt kommen, haben deswegen aber nicht so eine große Möglichkeit ihr Gehirn plastisch anzupassen und zu lernen. Menschen haben diese Möglichkeit, aber sie sind deswegen auch sehr arbeits- und energieaufwändig. Das bedeutet wieder eine große Herausforderung zu teilen.
Sprecherin
Genauso wichtig wie die geteilte Jagd mit der geteilten Beute ist auch die Versorgung der Kinder und das Weitergeben von Wissen. Alles hängt zusammen und wäre nicht möglich, ohne die Fähigkeit miteinander zu teilen. Der Mensch braucht also den anderen, um Mensch sein zu können. Das ist tief in uns angelegt.
Noch eine kleine Geschichte am Rande: Wahrscheinlich sieht man uns das Teilen sogar an. Zumindest stellt die sogenannte cooperative eye hypotesis diese Möglichkeit in den Raum
O-Ton 14 Parianen
(...) und da geht es um unsere Augenfarbe, und zwar nicht um die Farbe der Iris, also das worüber wir immer reden, blaue Augen oder grüne Augen, sondern um das, was drum rum ist, das Weiß. Das hat nämlich tatsächlich keine andere Primatenspezies ...
Sprecherin
Der weiße Augenhintergrund bringt uns aber keinen Vorteil, wir können deshalb nicht schärfer oder weiter sehen. Ganz im Gegenteil ...
O-Ton 15 Parianen
Und sie sind dadurch unpraktisch, weil alle Menschen um uns rum können plötzlich sehen, wo wir hinkucken. Ob wir was zu essen entdeckt haben, ob wir irgendwem hinterherkucken, das heißt: Wir können Geheimnisse sehr schlecht für uns bewahren. Aber: Wir können uns auch mit den Augen koordinieren, wir können sagen Du gehst da lang, ich geh da lang, ohne ein Wort dabei zu verlieren. d.h. für unsere Vorfahren war es wahrscheinlich wichtiger, diese Koordination hinzubekommen, zusammenzuarbeiten, als Wissen für sich zu behalten, (…). Wissen teilen war also von Anfang an von Vorteil.
Sprecherin
Irgendwann, ganz am Anfang seiner Entwicklung, hat der Mensch also erkannt, dass er besser dran ist, wenn er zusammenarbeitet. Zusammenarbeit lohnt sich aber nur, wenn alle davon profitieren. Sie muss auf Augenhöhe stattfinden und auf Gegenseitigkeit beruhen. Dazu ist die Fähigkeit zu Teilen, also in gewissem Sinne das Wohl des anderen mitzudenken von grundlegender Bedeutung.
Musik 4
"Ecartele: Erna's Theme, Reprise" - Album: Ecartele - Ausführende: Szymanowski Quartet, Marina Baranova & Damian Marhulets - Komponist: Damian Marhulets - Länge: 0'31
Sprecherin
Aber – Hand aufs Herz. Wenn es so ist, dass wir Wesen sind, die geradezu auf das Teilen hin ausgerichtet sind, warum ist die Welt dann so wie sie ist? Warum brauchen wir ein Fest der Liebe, warum muss uns immer wieder die Not der anderen ins Gedächtnis gerufen werden – Warum lassen wir die Ungerechtigkeit zu?
O-Ton 16 Parianen
Ja, das ist tatsächlich n großes Problem, wenn ich über diese Sachen rede: (…) wir haben zusammen gejagt, dann haben wir aufgeteilt, dann ist das natürlich nicht wie die meisten Interaktionen heute im Alltag stattfinden.
Sprecherin
In den Anfängen lebte der Mensch noch in kleinen, nomadisch umherziehenden Gruppen, die alles geteilt haben. Ganz anders als heute.
Musik 4
"Duos of the Past" - Album: Passare - Komponist und Ausführender: Peter Scherer - Länge: 0'29
Sprecherin
Heute sind wir sesshaft und da, wo wir uns niedergelassen haben, versuchen wir so viel Privatbesitz wie möglich anzuhäufen. Reichtum ist ein hoher Wert. So werden die einen immer reicher und mächtiger und die anderen immer ärmer und abhängiger. Die Ungerechtigkeit wächst.
O-Ton 17 Parianen
(…) ich habe vorhin gesagt, dass das, was uns sozial gemacht hat, das, was uns erstmal aufgefordert hat zu teilen, die Erkenntnis war, dass die anderen sonst nicht mehr mit uns zusammenarbeiten, also dass wir gegenseitige Abhängigkeiten verstehen. Jetzt haben wir aber, seit wir sesshaft sind, in der Lage Reichtum zu vererben über Generationen hinweg, plötzlich keine gegenseitige Abhängigkeit mehr, wie wir sie vorher hatten, sondern sind in der Lage zu sagen: Das sind meine Bedingungen: take it or leave it. Es verhandelt sich nicht leicht, wenn die eine Person nichts zu essen hat und die andere alles Geld der Welt.
Sprecherin
Durch die Sesshaftigkeit hat sich die Lebensstruktur fundamental verändert. Unser erlerntes und gewohntes Verhalten wurde immer weniger wichtig, stattdessen rückten andere Qualitäten in den Vordergrund. Der Blick verengte sich vom Wohl der Allgemeinheit weg stärker hin auf den Schutz des Eigenen. Das heißt nicht, dass wir vollkommene Egoisten geworden wären. Wir sind soziale Wesen – auch heute noch. Dennoch ist die Welt zunehmend in eine Schieflage geraten.
Musik 5
"Duos of the Past" - Album: Passare - Komponist und Ausführender: Peter Scherer - Länge: 0'43
Sprecherin:
Die Menschen leben schon lange nicht mehr auf Augenhöhe zusammen. Im Gegenteil, 2021 beispielsweise waren 82% des weltweiten Vermögens in der Hand der reichsten 10% der Weltbevölkerung. Der Besitz, wie auch die Macht, sind ungleich verteilt.
Uns allen ist die Ungerechtigkeit bewusst. Aber strukturelle politische Veränderungen sind schwierig, langwierig und oft scheint es am Willen der Verantwortlichen zu fehlen. Weil wir nicht mehr von vorneherein teilen, hat sich das Teilen, so könnte man sagen, nach hinten verschoben. Wir erarbeiten uns Besitz und geben dann von diesem etwas ab.
Musik 6
"Part VII" - Komponist und Ausführender: Fred Frith - Album: Rivers and Tides - Länge: 0'23
Sprecherin :
Hier kommen Begriffe wie Großzügigkeit und Barmherzigkeit ins Spiel. Genau das, was an Weihnachten verstärkt gefordert wird. In dieser Situation können wir uns aussuchen, ob und wem wir etwas geben oder spenden.
O-Ton 18 Gollwitzer
Naja, es gibt ne ganze Reihe von Motiven oder Gründen aus denen heraus Menschen sich prosozial verhalten und teilen oder etwas abgeben, obwohl sie es gar nicht müssten …
Sprecherin
Prof. Mario Gollwitzer, Sozialpsychologe an der LMU München, erforscht, wie Menschen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit wahrnehmen. Und hierzu gehört auch prosoziales Verhalten.
O-Ton 19 Gollwitzer
Da ist zum einen mal das Erlebnis von Ungerechtigkeit, wenn ich sehe, wie jemand leidet, oder wie jemand etwas nicht verdient, was ich für ungerecht halte, wenn das, was ich da sehe mich empört. Oder wenn das, was ich da sehe, wenn ich das Leid, das ich auf der Welt sehe mit nem Schuldgefühl verbinde, also, wenn man zum Beispiel konstruiert, dass die Tatsache, dass es anderen Menschen schlechter geht, damit zusammenhängt, dass es mir persönlich oder meiner Gruppe oder meinem Land besser geht -und ich sag mal – da ist ja auch was dran, wenn man solche Gefühle der sog. Relativen Privilegierung empfindet, dann ist das ein sehr, sehr starker Motivator dafür, dass man teilt, oder etwas abgibt.
Sprecherin
Wenn uns ein Unrecht emotional berührt, sind wir gerne bereit zu geben. Für viele Menschen geht es auch darum aus Überzeugung zum Entstehen einer gerechten Welt beizutragen.
O-Ton 20 Gollwitzer
Und eine ganz wichtige Komponente oder ein ganz wichtiger Grund, ein Motivator dafür, warum Menschen helfen, ist, dass sie für sich selber eine persönliche Verantwortung erleben, zu helfen, also dafür zu sorgen, dass Leid auf der Welt durch ihr eigenes Handeln etwas gemildert wird.
Sprecherin
Andere wiederum, haben ganz andere Motive ...
O-Ton 21 Gollwitzer
Und dann gibts natürlich noch viele andere Gründe, aus denen heraus Menschen helfen. Manche Menschen - und das wär dann eher was Egoistisches - helfen nur dann, oder helfen deswegen, weil sie von sich selber gegenüber der Außenwelt ein bestimmtes Bild vermitteln wollen, sie wollen sich als ne nette, moralische, prosoziale, hilfsbereite Person gerieren.
Sprecherin
Es ist auch interessant darauf zu schauen, wen wir bevorzugen. Wenn wir überzeugt sind, dass jemandem offensichtlich zu Unrecht ein Leid widerfahren ist, geben wir leichter und mehr …
O-Ton 22 Parianen
... und das funktioniert besonders gut, wenn gerade eine Katastrophe ist, da ist ein akutes Problem, das ist, wo Menschen Spendenrekorde brechen ...
Sprecherin
Grundsätzlich scheint es aber so, als gäben wir eher dem, der uns nähersteht, mit dem wir uns leichter identifizieren können …
O-Ton 23 Gollwitzer
Ein wichtiger Faktor ist die sog. „Psychologische Distanz“, die man zu einer anderen Person hat, also einem Familienmitglied gibt man mehr als einem Bekannten, einem Bekannten gibt man mehr als nem Unbekannten, Mitgliedern, die zur eigenen Gruppe gehören, zur sog. Ingroup, denen gibt man mehr als Mitgliedern von Outgroups, von Gruppen, denen man nicht angehört ...
Musik 6
"Ecartele: Erna's Theme, Reprise" - Album: Ecartele - Ausführende: Szymanowski Quartet, Marina Baranova & Damian Marhulets - Komponist: Damian Marhulets - Länge: 0'25
Sprecherin
Unser Leben ist global geworden. Uns erreichen Nachrichten vom Leid aus den entferntesten Winkeln der Erde. Wenn man bedenkt, dass wir leichter etwas geben, wenn wir eine persönliche Bindung zu den Betroffenen haben, wird erkennbar, wie wichtig es ist, dass es große etablierte Hilfsorganisationen gibt. Sie sind wie Brücken in die weite Welt.
O-Ton 24 Parianen
... wenn wir spenden an Organisationen, die uns gefallen, dann gibt uns das ein gutes Gefühl. (...) Das heißt, es ist total wichtig, dass es die gibt ...
Musik 7
"Ecartele: Erna's Theme, Reprise" - Album: Ecartele - Ausführende: Szymanowski Quartet, Marina Baranova & Damian Marhulets - Komponist: Damian Marhulets - Länge: 0'36
Sprecherin
Hilfsorganisationen kümmern sich stellvertretend für uns darum, die Ungerechtigkeit wenigstens zu vermindern. Sie zeigen zudem die Not auf und verstetigen die Hilfe, denn die Spendenbereitschaft lässt nach, wenn sich ein Ereignis in die Länge zieht. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass sie glaubwürdig und vertrauenswürdig sind. Denn wer etwas spendet, tut das nur, wenn gesichert ist, dass das Geld auch da ankommt, wo es gebraucht wird und die Spende auch etwas bringt.
O-Ton 25 Gollwitzer
Ja, ich glaube, die Forschung zeigt ziemlich deutlich, dass einer der wichtigsten Gründe dafür, prosoziales Verhalten zu unterminieren, also dass mans nicht tut, obwohl man es eigentlich gerne möchte, erstens das Gefühl ist: Es bringt sowieso nichts, also die Menge an Leid auf der Welt ist so groß, da wäre mein prosoziales Verhalten nur ein Tropfen auf den heißen Stein, das ist was, dass Leute sehr schnell dazu führt, dass sie sagen: dann lass ichs ...
Musik 8
"Part VII" - Komponist und Ausführender: Fred Frith - Album: Rivers and Tides - Länge: 0'31
Sprecherin
Wenn also wieder Weihnachten ist, das Fest der Liebe, erinnern wir Bewohner der Wohlstandsgesellschaften uns verstärkt an die Ungerechtigkeit in der Welt und an unsere eigene Verantwortung. Viele folgen den Aufrufen von Hilfsorganisationen, um damit das Leid und das Elend zu lindern. Es ist gut, dass es das gibt ….
O-Ton 26 Parianen
…. aber wir dürfen uns nicht nur auf diese Großzügigkeit verlassen, weil die irgendwann wieder versiegt, weil es irgendwann zu kompliziert wird, und weil wir einfach Gerechtigkeit brauchen, schon in der Art wie wir das Geld verteilen - von Anfang an, anstatt danach immer nur die Folgen aufzuräumen, dass manche sehr viel mehr haben als andere...
Sprecherin
Oder, wie es Pfarrer Lindenberger ausdrückt, der viele Jahre gegen das Unrecht in der Welt gekämpft hat:
O-Ton 27 Lindenberger
Ich möchte gerne das Wort Barmherzigkeit ablösen auf das Wort Gerechtigkeit. Dass wir durch unseren freiwilligen Beitrag, unser Engagement, dass Menschen auf die Füße kommen, ihnen gerecht werden. Weil durch wie viele Ungerechtigkeitsstrukturen kommen Menschen nicht zum Leben oder fallen hinten runter, oder Kriegssituationen entstehen durch Unrecht für die Menschen. Es geht um Gerechtigkeit.
Musik 9
"Part VII" - Komponist und Ausführender: Fred Frith - Album: Rivers and Tides - Länge: 0'15
Sprecherin
Es ist wichtig, dass wir barmherzig sind, dass wir großzügig sind, spenden und uns einbringen für eine gerechtere Welt. Die aber dann erst erreicht wäre, wenn es all das gar nicht mehr braucht ….
Wir kennen die Göttin Isis als Göttin des Lebens und des Todes aus der Ägyptischen Mythologie. Isis kann heute als Verkörperung einer Sehnsucht nach der ursprünglichen Muttergottheit verstanden werden, die über die Jahrtausende einem überwiegend männlichen Gottesbild weichen musste. Von Andreas Hauber (BR 2022)
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Hauber
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Silke von Walkhoff, Hemma Michel, Christoph Jablonka
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Martin Stadler, Ägyptologe, Würzburg
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Krähen sind vielen Menschen unheimlich. Sie ernähren sich (auch) von Aas, und sie heben Nester aus - Sympathieträger sehen anders aus. Andererseits gehören Rabenvögel zu den klügsten Tieren, die wir kennen. Sie können strategisch denken, kooperieren und haben ein Gedächtnis, wie wir es sonst eher Elefanten zuschreiben. Von Christian Schuler
Credits
Autor dieser Folge: Christian Schuler
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Friedrich Schloffer
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Cord Riechelmann, Biologe und Autor
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Literatur:
Cord Riechelmann. Krähen. Ein Porträt. Reihe: Naturkunden, hg. von Judith Schalansky, Berlin (Matthes & Seitz) 2021 (8. Auflage).
Josef H. Reichholf: Rabenschwarze Intelligenz. Was wir von Krähen lernen können. München (Langen Müller) 2022.
Wolfgang Epple: Rabenvögel, Karlsruhe (G. Braun Verlag) 1997.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Erzähler
Der Schulhof einer kalifornischen Kleinstadt. Schwärme von Krähen – und mit ihnen Möwen und Spatzen - sammeln sich auf den Klettergerüsten. Als die Schule aus ist, gehen sie zum Angriff über und fallen über die Kinder und ihre Lehrerinnen her.
MUSIK: „We were right“ (0:40)
Erzähler
Eine in Erinnerung bleibende Szene aus dem Hitchcock-Film „Die Vögel“ aus dem Jahr 1963. Alfred Hitchcock erklärte in einem Interview, er sei zu dem Film inspiriert worden durch Zeitungsartikel über Raben, die Lämmer angegriffen haben sollen, und durch Berichte, wonach sie Tierkadavern und Menschenleichen die Augen aushacken. Hitchcocks Film, so raffiniert und kunstvoll er ist, fügt sich nahtlos ein in die westliche Kulturgeschichte, in der Rabenvögel seit Jahrhunderten dämonisiert und mit Tod und Verderben assoziiert werden.
Zitator Reichholf (S.241)
Zäh hält sich das Überkommene, sehr zäh ...
Erzähler
Schreibt der Biologe Josef H. Reichholf,
Zitator
... die Rabenvögel tragen das Stigma der Todesvögel. Alfred Hitchcock konnte darauf ohne Begründung zurückgreifen. Die Angst stieg ganz von selbst auf ... Verfemt sind sie alle, die schwarz gefiederten Flieger ... Und wenn die Krähenschwärme in der Düsternis des späten Herbstes ... quorrend die Baumgruppe am Stadtrand umkreisen, auf der sie nächtigen wollen, bedarf es keines weiteren Anstoßes, das unbestimmte Grauen zu empfinden.
ab ungefähr 0:40: Franz Schubert: Die Krähe (Klavierbegleitung evt. schon vorher unter den Text legen, dann eine Strophe singen lassen und ausblenden)
MUSIK: „Die Krähe“ (1:15)
Erzähler
Franz Schuberts Lied „Die Krähe“ aus dem Jahr 1827. Das Tier folgt dem liebeskranken, zu Tode betrübten Mann durch die winterliche Landschaft. „Krähe, wunderliches Tier, / Willst mich nicht verlassen? / Meinst wohl bald als Beute hier / Meinen Leib zu fassen?“ Der Vogel wird hier auf doppelte Weise mit dem Tod verknüpft: symbolisch als Schatten des Todes und ganz konkret als Aasfresser, der nur darauf wartet, sich endlich über den menschlichen Leichnam hermachen zu können.
Erzähler
Lieder, Filme, Gedichte spiegeln Mentalitäten wider. Die Krähe ist schwarz, sie frisst Aas und stößt krächzende Töne aus: ein Todesvogel par excellance. Ein Gedicht von Eugen Roth fast so ziemlich alle Vorurteile zusammen, die Menschen noch bis in unsere Zeit gegenüber Rabenvögeln äußern:
MUSIK: „Holcane attack“ (0:41)
Zitator
„Die Edelraben oder Kolk- / warn einst bekannt im deutschen Volk, / als man noch unter jedem Galgen / sie um die Leichen sah sich balgen. / Sie werden zahm zwar, lernen sprechen, / groß bleibt ihr Hang doch zum Verbrechen. / Der Rabe, schwarz an Leib und Seele, / sinnt ständig, wo, wie, was er stehle. / Er plündert jedes Vogelnest, / holt, was nicht niet- und nagelfest. / Der Rabe ‚Grab, Grab, Grab!‘ nur schreit; / er ist auch immer schwarz gekleidt.“
0:45 (promrtheus)
Erzähler
Dass Rabenvögel heute immer noch als Schädlinge verfolgt und – trotz EU-Schutzstatus - als sogenanntes „Raubzeug“ bejagt werden, hat oft konkrete handfeste Gründe. Sie machen Lärm und Dreck, sie schädigen zum Teil die Landwirtschaft, sie picken Silikon aus Fensterfugen, sie attackieren junge Feldhasen, rauben die Eier von kleineren Singvögeln, und – tatsächlich! – gelegentlich, wenn sie ihre eigene Brut gefährdet sehen, greifen sie sogar Menschen an. Aber reicht das, sie ganz zum Abschuss freizugeben, wie Jagdverbände es fordern? Wirken da die alten Mythen und Vorurteile nach? Und messen wir, wenn es um die Beurteilung von Tieren geht, vielleicht mit zweierlei Maß, wie der Biologe Josef H. Reichholf meint?
Zitator (Reichholf 247)
Nachbars Katze kann auch beißen und kratzen, wenn sie in bester Absicht auf den Arm genommen wird, sie dies aber nicht will. Das weiß und akzeptiert man. Als ‚gefährlich‘ werden Katzen deswegen nicht eingestuft.“
MUSIK everst: 0:41
Erzähler
Mensch und Krähe: ein zwiespältiges Verhältnis. In der Mongolei gelten Krähen als Beschützer der Liebenden, sie kommen in indigenen Schöpfungsmythen vor, und bei den Germanen galten zwei von ihnen, Hugin und Munin, als Boten des obersten Gottes Odin. Im christlichen Europa dagegen hat man sie zu Pest- und Galgenvögeln erklärt. Und im Mittelalter konnte eine Frau, die Krähen zu nahe kam oder gar mit ihnen Umgang pflegte, der Hexerei verdächtigt werden. In unserer Zeit wandelt sich das Image der Krähen allmählich, auch durch die Forschung.
01 Zsp Die Krähe Siering ab ca 13:30
Krähen sind teilweise sehr nah an uns, an unserer Kultur auch dran. Teilweise sind sie sehr scheu, wenn sie nämlich verfolgt werden und das merken. Die Krähen, sind sie so intelligent, dass sie sogar Menschengesichter unterscheiden können,
Erzähler
sagt Manfred Siering, Vorsitzender der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern.
02 Zsp Die Krähe Siering 14:30
Die Gruppe der Rabenvögel unter den weltweit elfeinhalbtausend Vogelarten, die es gibt auf dem Erdball, da sind die 142 Rabenvogelarten sicher, gehören zu den intelligentesten ... lernfähig, merkfähig und sozial, auch lebenslang verheiratet mit dem Partner, also das gehört alles mit zu hohen Intelligenzleistungen.
MUSIK: „Fun is over“ (0:24)
Erzähler
Franz Schuberts Lied handelt von einer Krähe, Eugen Roths Gedicht von Raben. Die Bezeichnungen sind auch regional verschieden und etwas verwirrend. Was ist denn nun der richtige Name, Raben oder Krähen?
03 Zsp Die Krähe Cord Riechelmann, 0:20
Sie sind im Grunde sind Synonyme ... Und wenn in einer Region alle Krähen Raben sind, ist das genauso richtig, wie wenn in einer anderen Region alle Raben Krähen sind ...
Erzähler
So der Berliner Biologe und Autor Cord Riechelmann. Der Oberbegriff lautet „Rabenvögel“. Zu ihnen zählt man die bei uns am weitesten verbreitete Rabenkrähe ebenso wie die grauschnäbeligen Saatkrähen, die vor allem im Herbst in großen Schwärmen aus Osteuropa kommen, um in Mitteleuropa zu überwintern. Zu den Rabenvögeln gehören aber auch Elstern und Eichelhäher, Tannenhäher und die deutlich kleinere Alpendohle, deren Flugkünste man auf Berggipfeln bestaunen kann. Der größte Rabenvogel ist der Kolkrabe, der in Mitteleuropa Mitte des 20. Jahrhunderts schon so gut wie ausgerottet war. Mittlerweile haben sich die Bestände wieder etwas erholt. Der Kolkrabe kann eine Flügelspannweite von fast 1,50 Metern erreichen, er ist damit so groß wie ein Mäusebussard – und der größte Singvogel der Welt. Tatsächlich werden alle Rabenvögel zu den Singvögeln gerechnet, einfach deshalb weil sie einen Syrinx zur Lauterzeugung besitzen, also einen Stimmkopf mit Membranen, die in Schwingung versetzt werden können.
04 Zsp Die Krähe Riechelmann, 21:30
Das ist keine willkürliche Einteilung. Das ist eine, die etwas mit der Anatomie der Vögel, mit der Evolution der Vögel zu tun hat, Krähen sind hochentwickelte Singvögel.
05 Zsp Die Krähe Riechelmann, 6:30
Und sie können auch meistens, aber nur in so ein paar Situationen ganz eng nebeneinander, können Sie auch sehr leise, sehr melodische Töne von sich geben.
Erzähler
Dass Rabenvögel zu den Singvögeln gehören, ist auch der Grund dafür, dass sie seit 1994 – sehr zum Entsetzen der Jäger - unter die europäische Singvogelverordnung fallen und daher als geschützt gelten. Allerdings haben die einzelnen Länder - bei uns die Bundesländer - weitgehend freie Hand, diese Verordnung anzuwenden und auszulegen. Und so kommt es dazu, dass Rabenvögel etwa in Brandenburg von Anfang Oktober bis Ende Dezember bejagt werden dürfen, also drei Monate, in Bayern sieben Monate, von Mitte August bis Mitte März. Auf der jägerfreundlichen Internetseite kraehenjagd.eu heißt es dazu:
Zitator
„Es sind jagdbare Arten und somit ist ein Abschuss rechtens! Das Ziel der Krähenjagd ist nicht die Ausrottung der Rabenvögel. Mit der Bejagung der schlauen Singvögel beabsichtigt man die Reduktion der Überpopulation auf ein erträgliches Maß.“
Erzähler
Nur, was ist ein erträgliches Maß? Darüber streiten Biologen und Vogelschützer mit Bauern und Jägern seit Jahrzehnten. Tatsächlich scheint der Bestand der Rabenvögel weitgehend unabhängig von Schutzmaßnahmen und Abschussgenehmigungen in den vergangenen Jahren relativ konstant geblieben zu sein. Keine Krähenart ist aktuell vom Aussterben bedroht, und Krähenplagen gibt es offenbar nur punktuell und kurzzeitig, meist mit überwinternden Saatkrähen.
Für eine Regulierung der Bestände sorgen zum Teil die Sozialstrukturen der Krähen selbst. Denn jedes Brutpaar etwa der Raben- und Nebelkrähen ist umgeben von Schwärmen an Nichtbrütern, Junggesellen also, die nicht nur die Nester von Artgenossen plündern, sondern nur darauf warten, die Stelle einer anderen Brutkrähe einzunehmen. Jedes Nest und jede Brut ist dadurch dauerndem Stress ausgesetzt. Die größten Feinde der brütenden Krähen sind also – noch vor Füchsen und Habichten – die nichtbrütenden Artgenossen.
Biologen wie Cord Riechelmann bezweifeln daher den Sinn, die Jagd auf Rabenvögel zu erlauben, um Bestände zu regulieren.
06 Zsp Die Krähe Riechelmann, ca 28
Und was es natürlich gibt, es gibt Probleme mit Krähen, also besonders mit Saatkrähen, wenn sie in großen Kolonien, zum Beispiel auf Friedhöfen, Friedhöfe sind friedliche Gebiete, die werden gern von Tieren angenommen, weil da wird normalerweise nicht geschossen und gejagt, und wenn sie da in der Nähe brüten, und so eine Kolonie, meinetwegen, sagen wir 100 bis 150 Paare, die machen natürlich Dreck. Also den Zusammenhang von Vögeln und Dreck gibt es überall auf der Welt ... Ich will damit nicht sagen, dass es keine Konflikte gibt. Die gibt es natürlich. Aber der Grund für das Abschießen sind nicht diese Art von Konflikten ... sondern es sind die, dass man ihnen etwas unterstellt, dass keine jungen Hasen mehr hochkommen und so etwas. Dass es keine jungen Hasen gibt, liegt an der industrialisierten Landwirtschaft und nicht an den Krähen ... Die wissenschaftlichen Fakten sagen, dass Krähen da besonders häufig sind, wo auch die anderen Singvögel besonders häufig sind, das ist der einzig nachweisbare wissenschaftliche Zusammenhang.
MUSIK: „A modell of universe“ (1:22)
Erzähler
Was Forscher ebenso wie Laien an Krähen fasziniert, ist zum einen ihr Sozialverhalten, zum anderen ihre besondere Intelligenz. Und sie können, wenn sie Menschen vertrauen, sehr zutraulich werden. Ein Mann erzählte im Bayern2-Tagesgespräch eine Geschichte aus seiner Kindheit in den 1960-er Jahren. Da hat sich eine Krähe sozusagen selbst gezähmt und wurde zum Freund eines ganzen Dorfes.
07 Zsp Die Krähe Peter Fabian (Tagesgespräch vom 8.2.24), ab 6:20
Ich komme ursprünglich aus dem unterfränkischen Dorf Gochsheim, bin dort aufgewachsen, und an den Lebensmittelladen kam eines Tages eine Krähe, und die hat sich dem Besitzer so angenähert, dass sie ihn nie mehr verlassen hat. Und das war dann im Dorf der Jacob. Und im Fränkischen sagt man zu Krähen Kracken und der Krack hat uns Kinder, wenn wir zum Einkaufen geschickt wurden, bis nach Hause begleitet. Er ist mit uns mitgeflogen. ... Der Jakob war bei uns im Dorf eine feste Größe und war überall beliebt, und wir haben es genossen, einen gefiederten Spielkameraden zu haben, der uns wirklich auf Schritt und Tritt manchmal gefolgt ist. Der ist mit uns zum Fußballplatz geflogen, hat sich auf die Planken gesetzt und hat gewartet, bis wir nach Hause gefahren sind mit den Fahrrädern. Und dann ist er wieder mit nach Hause geflogen und ist mit an seinen Lebensmittelladen.
Erzähler
Krähen können sich also an Menschen, denen sie vertrauen, sehr eng anschließen. Tatsächlich ist die Geschichte zwischen Krähe und Mensch eine der gegenseitigen Einfühlung. Das hat von menschlicher Seite der Verhaltensforscher Konrad Lorenz gezeigt, der mit Gänsen und Dohlen zusammenlebte, mit ihnen sprach, mit ihnen zum Baden ging, sich sogar von ihnen anbalzen ließ - und den selbst seine Kollegen um sein Einfühlungsvermögen beneideten. Umgekehrt wissen auch die Krähen bei Menschen genau, woran sie sind und mit wem sie es zu tun haben. Davon ist der Ornithologe Manfred Siering überzeugt:
08 Zsp Die Krähe Siering ca 13:30
Passanten, die harmlos sind, die ignorieren sie eigentlich. Sie blicken sie sehr wohl an. Das merkt man nicht, wenn so ein kleines Vogelauge sich auf einen Menschen fokussiert. Und wenn da ein Passant, vielleicht ein Jäger, der vorher geschossen hat, sich verkleidet und vorbeiläuft, erkennen Sie den am Gesicht, machen einen einzigen Alarmruf, und die ganze Krähengesellschaft geht auf Abstand oder auf hohe Bäume.
((Das wissen wir ganz genau aus verschiedenen Bejagungsversuchen.)) Oder wenn Falkner, die mit ihrem Wüstenbussard zum Beispiel auf Krähenjagd gehen oder so, wenn die aus dem Auto steigen, auch wenn sie ein anderes Auto benützen, sobald er aussteigt, wird er erkannt und Alarmrufe und alle Krähen verschwinden hinterm Horizont.
Erzähler
Auch der Biologe Cord Riechelmann weiß um diese genaue Beobachtungsgabe der Krähen und sieht darin eine entscheidende Technik, um zu überleben, allerdings noch in einer anderen Hinsicht. Krähen können nämlich nicht nur Freunde und Feinde unterscheiden, sie wittern förmlich das Aas, das sie fressen werden, noch bevor es entsteht.
09 Zsp Die Krähe Riechelmann 13:15
Sie haben ein ganz feines Unterscheidungsvermögen in Bezug auf Bewegung. Und das haben Sie auch in Bezug auf Hirsche im Winter zum Beispiel ... Krähen erkennen sehr gut und sehr schnell, ob jemand krank ist, also sich ein bisschen langsamer bewegt oder sich irgendetwas verstaucht hat und fangen dann auch an, das Tier zu beobachten, was aber natürlich auch was damit zu tun hat, dass sie Aasfresser sind ... ((Krähen sind keine Raubvögel. Also Krähen haben weder Greiffüße noch einen starken scharfen Schnabel ...)) Und als Aasfresser, ja, warten sie halt, bis jemand irgendwo stirbt.
Erzähler
Mit einem verendeten Tier, das unverletzt ist, können Krähen erst einmal wenig anfangen. Sie sind auf Arbeitsteilung und Kooperation angewiesen, zum Beispiel mit Kojoten oder Wölfen.
10 Zsp Die Krähe Riechelmann Forts.
((Dieses Beobachten, dieses feine Erkennen, ob jetzt einen Hirsch, besonders im Winter, ob der jetzt schwächer ist als ein anderer, hat aber für die Krähen selbst, besonders für Kolkraben in Nordamerika, zu beachtenswerten Symbiosen geführt)) Weil die Krähen nicht in der Lage sind, wenn ein Hirsch gestorben ist, das Fell aufzuhacken oder so. Sie können nur, daher auch dieser schreckliche Name ‚Galgenvogel‘, sie können nur an die Weichteile ran. Also sie können nur die Augen aushacken, können an den After und an den Mund und so, die Ohren ... Und deshalb gibt es so etwas wie eine Symbiose, besonders im Winter, in nordamerikanischen Wäldern mit Wölfen. Und diese Symbiose sieht so aus, dass die Kolkraben oder die Krähen den Wölfen zeigen, wo ein Tier verendet ist oder wo ein kranker Hirsch sich bewegt, und die Wölfe dafür den Krähen sozusagen das Fell aufreißen und das Fleisch oder die Knochen bereiten.
MUSIK: „Collateral“ (1:00)
Erzähler
Krähen wissen also sehr genau um die Fähigkeiten anderer und wie sie diese für sich nutzen können. Und natürlich wissen sie auch um ihre eigenen Fähigkeiten. Auf der zu Frankreich gehörenden Inselgruppe Neukaledonien im Südpazifik gibt es eine Art, die man bei der Herstellung von Werkzeugen beobachten kann. Die Neukaledoniakrähe bricht kleine Zweige von Sträuchern, bevorzugt solche, die am Ende krumm auslaufen, also einen Haken bilden. Damit angelt sich die Krähe Larven, die unter der Rinde von Bäumen sitzen. Und während sie die Larven verzehrt, hält sie ihr Werkzeug mit den Klauen fest.
Berühmt geworden sind die Krähen von Tokio, deren Nester jahrelang von der Stadtverwaltung mit Hilfe von Feuerwehrschläuchen aus den Bäumen gespritzt wurden. Nach einiger Zeit begannen die Krähen, ihre Nester aus durchlässigen Drahtkleiderbügeln zu bauen, denen der Wasserstrahl nicht mehr viel anhaben konnte.
Krähen sind offenbar lernfähig. Aber wie lernen sie? Durch Imitation? Der Biologe Cord Riechelmann vermutet, dass mehr dahinter steckt, gerade mit Blick auf die Krähen von Tokio.
11 Zsp Die Krähe Riechelmann 17:10
Und berühmt geworden sind diese Krähen außerdem, weil sie die ersten waren, die sich auf eine Ampel gesetzt habe und Nüsse, die sie selber nicht knacken konnten, vor Autos geworfen haben und dann gewartet haben, bis die Autos drüber gefahren sind, dann eben die Nüsse gegessen haben. Und da hat man am Anfang vermutet ja, das hat eine mal angefangen und die anderen machen das nach. Dann trat das aber etwas später in Kanada auf, und mittlerweile ist es so, dass sie wahrscheinlich auch hierzulande und gerade auch in Bayern keinen Menschen mehr mit einem Nussbaum finden, der nicht Krähen kennt, die Nüsse stehlen, und nicht auch Krähen schon mal gesehen hat, wie sie sie vor ein Auto werfen. Also, das ist mittlerweile eine verbreitete Technik, die schon durch die geografischen Unterschiede eben nicht durch Imitation entstanden ist, sondern durch Kombinatorik.
Erzähler
Das würde bedeuten, dass Krähen Vorkommnisse in ihrer Umwelt beobachten, verstehen und zueinander in Verbindung setzen: in diesem Fall Nüsse – Ampeln – Autos - Fressen. Dieses kombinatorische „Denken“, wenn man es so bezeichnen will, trat in verschiedenen Städten der Welt auf, und zwar, so Riechelmann, unabhängig voneinander und immer zirka 20 Jahre nach der Besiedlung durch die Krähen. Und da kaum eine Krähe 20 Jahre alt wird, könne es sich nicht um reines Imitationslernen handeln.
Zu den faszinierendsten Verhaltensformen von Krähen gehört auch ihr Spieltrieb. Auch er ist vielfach dokumentiert: Krähen, die sich einen Spaß daraus machen, Strafzettel zu klauen, die an den Windschutzscheiben von Autos festgeklemmt sind. Krähen, die in Fußgängerzonen „Grüß Gott!“ rufen. Krähen, die mit Steinen werfen, rein zum Spaß, und damit in Gebirgen kleine Lawinen auslösen können. Oder Krähen, die halbe Stunden lang ein abschüssiges Blechdach hinunterrutschen, wieder und immer wieder ...
Eine besondere Fähigkeit hat man an Eichelhähern bemerkt, diesen taubengroßen und verhältnismäßig farbenfrohen Rabenvögeln, die man wegen ihrer Warnrufe auch „Polizisten des Waldes“ nennt. Aber der Eichelhäher ist nicht nur ein aufmerksamer Polizist, sondern auch ein liebevoller Ehepartner. Angeblich können Männchen die aktuellen Futtervorlieben ihrer Partnerin erkennen.
12 Zsp Die Krähe Riechelmann ca 9:00
Und dieses Ergebnis hat damals tatsächlich über die Wissenschaft hinaus sehr viel Aufsehen erregt ... weil da erstens so etwas wie, ja so ein prospektiver Blick möglich war, der irgendwie auch darauf hindeutet, dass die ins Innere gucken können oder zumindest an äußeren Erscheinung absehen können, was der Frau, der Eichelhäherfrau, gefällt. Und das war schon eine kleine Sensation.
Erzähler
Eichelhäher verfügen zudem über ein herausragendes Gedächtnis, das selbst das des Menschen weit übertrifft.
13 Zsp Die Krähe Riechelmann (Forts.)
Also dass die im Herbst, wenn sie die Samen, die Eicheln wie der Eichelhäher oder auch andere Samen, verstecken, sich tatsächlich bis zu 6000 Verstecke merken können und dann auch noch wissen, welcher Samen an welcher Stelle lag, um die vor dem Auskeimen auszugraben. Und das sind schon so Gedächtnisleistungen, also man kann sich ja selber versuchen vorzustellen, sich mal 34 zu merken. Also das sind schon Gedächtnisleistungen, die sprengen den Rahmen des bisher Vorstellbaren.
Erzähler
Menschen und Krähen verbindet eine gemeinsame, manchmal ambivalente Geschichte. Die Vorfahren beider verließen vor Millionen von Jahren die Urwälder Afrikas, um sich in den Buschsavannen und Grassteppen neue Lebensräume zu erobern. Und wo immer Menschen sich niederließen, Tiere jagten oder schlachteten, wurden sie von Krähen beobachtet. Und heute, in Zeiten industrialisierter Landwirtschaft und weltweiter Verstädterung, haben sich auch die Krähen angepasst und sind zu Stadtvögeln geworden.
Viele Krähen suchen die Nähe des Menschen. Sie beobachten uns und wissen uns ziemlich genau einzuschätzen. Und gelegentlich – wer weiß – amüsieren sie sich vielleicht über uns und unsere Anstrengungen, sie zu vertreiben, so wie in Christian Morgensterns Gedicht von der Vogelscheuche:
MUSIK: „Beyond desolation“ (0:37)
Zitator
Die Raben rufen: "Krah, krah, krah! / Wer steht denn da, wer steht denn da? / Wir fürchten uns nicht, wir fürchten uns nicht / vor dir mit deinem Brillengesicht. / Wir wissen ja ganz genau, / du bist nicht Mann, du bist nicht Frau. / Du kannst ja nicht zwei Schritte gehn / und bleibst bei Wind und Wetter stehn. / Du bist ja nur ein bloßer Stock, / mit Stiefeln, Hosen, Hut und Rock. / Krah, krah, krah!"
Müdigkeit - ein Zustand des "Dazwischen", der inspiriert oder nervt. Für viele Menschen ist es unangenehm, müde zu sein, es kann zur Qual werden und einen davon abhalten, das Leben zu gestalten. Aber Müdigkeit eröffnet faszinierende Erfahrungen der Unschärfe. Von Kirsten Zesewitz ( BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Kirsten Zesewitz
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Thomas Birnstiel, Ruth Geiersberger
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Fabian Goppelsröder (Philosoph);
Julia Ingold (Literaturwissenschaftlerin);
Malin Miksch (Medizinerin);
Jens Haferkamp (Mediziner)
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Literaturtipp:
Iwan Gontscharow: Oblomow (Verlag A. Deubner, Berlin, 1885, Übersetzung Gustav Keuchel); Fabian Goppelsröder: Aisthetik der Müdigkeit (Diaphanes, Zürich, 2018)
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"Kult" und Mythos", nur wenige Künstler des 20. Jahrhunderts verkörpern diese Begriffe einer irrationalen Wirkmächtigkeit so eindringlich wie Maria Callas. Was machte sie, die bis heute wie kaum eine anderer Sängerin verehrt wird, zu solch einer Ausnahmeerscheinung? Von Markus Vanhoefer (BR 2008)
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Autor dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Markus Vanhoefer
Es sprachen: Katja Schild, Andreas Neumann, Detlef Kügow, Sabine Kastius
Redaktion: Petra Hermann
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Seit dem Ende des Kalten Kriegs wird der Begriff "Dritte Welt" in entwicklungspolitischen Gruppen, Medien und der Wissenschaft zunehmend durch "Globaler Süden" ersetzt. Was damit gemeint ist, bleibt oft unklar. Und die gemeinsamen Interessen ärmerer Länder sind oft auch nicht gegeben. Von Thomas Grasberger (BR 2023)
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Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Christian Baumann und Rahel Comtesse
Technik: Matthias Plez
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Stefan Lüder, Historiker für Geschichte Südasiens und des Himalaya
Nikolaus Werz, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Rostock
Michael Korbmacher, Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Peripherie. Politik - Ökonomie - Kultur“ in Münster
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Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Wenn wir Angst haben, schlägt unser Herz schneller. Oder haben wir Angst, weil unser Herz schneller schlägt? Es ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Einige Forschende sprechen von einer Art "innerem Sinn", mit dem wir Prozesse im Körper wahrnehmen. Wie beeinflusst uns das? Von Maike Brzoska
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Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Friedrich Schloffer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Thomas Forkmann, Professor an der Universität Duisburg-Essen
Beate Herbert, Professorin an der Hochschule Fresenius München
Christian Roggenhofer, Psychologe und Psychotherapeut in Pforzheim
Wolfgang Tschacher, emer. Professor an der Universität Bern
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Vor einigen Jahren machte ein Hautarzt in den USA eine erstaunliche Entdeckung. Seinen Patientinnen und Patienten spritzte er regelmäßig das Bakteriengift Botulinumtoxin, besser bekannt als Botox.
01 OT (Tschacher)
Also Botox ist ja so ein Gift, das man injizieren kann in kleinen Dosen und dann gehen die Falten weg.
SPRECHERIN
Sagt der Psychologe Wolfgang Tschacher. Er ist emeritierter Professor an der Universität Bern. Botox lähmt die Muskeln, in die es gespritzt wird. Wird es zum Beispiel in die tiefe Stirn injiziert, verschwindet die Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen. Eine gängige Behandlung, die auch der Dermatologe in den USA regelmäßig vornahm. Dabei fiel ihm mit der Zeit auf, dass bei einigen Patienten durch die Behandlung nicht nur die Sorgenfalten verschwanden – sondern auch die Sorgen. Der Faltenkiller Botox ein Antidepressivum? Mittlerweile haben auch Forschende das Phänomen untersucht.
02 OT (Tschacher)
Tatsächlich hat man einen geringen Effekt gefunden von solchen Interventionen. Also ich bin jetzt selbstverständlich nicht dafür, dass man Depressionen mit Botox-Injektionen behandeln sollte. Ich denke, da gibt es bessere psychologische und psychotherapeutische Verfahren. Aber der Effekt ist auch in dem Zusammenhang vorhanden.
SPRECHERIN
Die Muskeln in der Stirn haben also offenbar einen Einfluss auf die Stimmung. So als würden sie melden: Alles entspannt an der Stirnfront!
03 OT (Tschacher)
Mein Gesichtsausdruck ist so, als ob es mir gut geht. Und dann geht es mir ein kleines bisschen wirklich besser.
MUSIK 2 ( Lisa-Maria Puy: Hey Lovely (Instrumental)1‘10)
SPRECHERIN
Ähnliche Effekte haben Forschende auch in anderen Experimenten gefunden. So führte ein erzwungenes Lächeln dazu, dass die Teilnehmenden einen Cartoon lustiger fanden. Das Lächeln kam so zustande, dass die Probanden beim Anschauen des Cartoons einen Stift zwischen den Zähnen halten mussten. Auf diese Weise wird ein Muskel aktiviert, der auch beim Lächeln angespannt wird. Und auch hier zeigte sich: Eine körperliche Veränderung führte zu einer veränderten Stimmung, und – in diesem konkreten Fall – zu einer anderen Bewertung des Cartoons. Im Gesicht haben wir besonders viele Muskeln, um Stimmungen und Gefühle auszudrücken. Wenn wir lächeln, spannen wir Mund- und Augenpartien an. Wir runzeln die Stirn, wenn wir nachdenken oder zweifeln. Und wir machen große Augen, wenn wir erstaunt sind. Aber auch unser ganzer Körper spiegelt wider, wie es uns geht. Das zeigt sich zum Beispiel beim Gehen.
04 OT (Tschacher)
Wir gehen je nach Emotion unterschiedlich. Die Gangart, die ganze körperliche Koordination beim Gehen, beim alltäglichen Gehen ist geprägt durch die Stimmung. Wir gehen unterschiedlich, wenn wir trauriger Stimmung sind, als wenn wir fröhlich sind.
SPRECHERIN
Wenn Menschen bedrückt sind, niedergeschlagen, dann bewegen sie auch entsprechend: Sie gehen eher nach vorne gebeugt und sind gekrümmt. Sind sie hingegen fröhlich, dann gehen sie aufrecht und federn leicht nach oben. Und auch hier kann man über den Körper – genauer: über die Körperhaltung – Einfluss nehmen auf die Gefühle. Das zeigen entsprechende Studien, aber ein Stück weit ist das auch Alltagswissen. So sagen wir zu jemandem mit gedrückter Stimmung: Kopf hoch! Oder nach vorne schauen! Wir empfehlen also Körperhaltungen, bei denen man sich eher aufrichtet.
05 OT (Tschacher)
Und wenn man das Gehen beeinflusst, dann hat es ne Rückwirkung auf die Psyche, auf die Emotion. Also es geht in beide Richtungen, und das findet man nicht nur beim Gehen, sondern in vielerlei anderer Hinsicht auch.
SPRECHERIN
Körper und Psyche beeinflussen sich gegenseitig. Forschende sprechen von Embodiment, zu deutsch: Verkörperung. Das bedeutet, Stimmungen, Gedanken und Gefühle auf der einen Seite und Mimik, Haltung und vegetative Reaktionen, wie ein beschleunigter Puls, auf der anderen Seite sind untrennbar miteinander verbunden. Es gibt ständig wechselseitige Rückmeldungen – ähnlich wie in einem Pingpong-Spiel. Dieses Wissen macht man sich inzwischen bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen zunutze.
06 OT (Tschacher)
Das ist was, was sich schon durchgesetzt hat in vielen Bereichen, also man macht Yoga, man macht Kampfsportarten, man macht Achtsamkeitstraining und Meditation, was sehr stark körperlich fundiert ist, durch geregeltes Atmen, spezielle Form des Sitzes. Also da ist es schon so, dass man sich in bestimmte psychische Zustände hineinbegeben kann, und zwar dadurch, dass man den Körper variiert und in die richtige Position und Positur bringt.
MUSIK 3 ( Konstantin Gropper & Ziggy Has Ardeur - Lesson 3 – Communication 0‘40)
SPRECHERIN
Eine beliebte Achtsamkeitsübung ist der sogenannte Body-Scan. Dabei wird die Aufmerksamkeit nacheinander auf verschiedene Körperteile gelenkt.
ZITATOR
Richte deine Aufmerksamkeit nun deine Füße. Was nimmst du wahr? Den Kontakt mit dem Boden? Vielleicht Wärme oder Kälte? Nun wandere mit deiner Aufmerksamkeit von deinen Zehen über die Füße und Knöchel weiter zu den Unterschenkeln….
SPRECHERIN
Durch den Body-Scan kann man lernen, den eigenen Körper besser wahrzunehmen, ihn besser zu spüren. Denn darin unterscheiden sich die Menschen. Das zeigt zum Beispiel der sogenannte Herzraten-Test.
07 OT (Forkmann)
Der klassische Test sieht vor, dass man im Prinzip seinen Herzschlag zählen soll, ohne Hilfsmittel, also ohne die Uhr zur Hilfe zu nehmen oder den Puls zu fühlen.
MUSIK 4 ( Massive Attack: Teardrop 1‘00)
SPRECHERIN
Sagt der Psychologe Thomas Forkmann. Er ist Professor an der Universität Duisburg-Essen.
08 OT (Forkmann)
Und gleichzeitig wird ein EKG aufgezeichnet, das heißt, die tatsächlich stattfindenden Herzschläge werden gemessen und aufgenommen. Und dann kann man daraus eine Übereinstimmung berechnen, also letztlich errechnen, wie gut die eigene gezählte Wahrnehmung der Herzschläge mit der objektiv gemessenen übereinstimmt.
SPRECHERIN
Es zeigte sich, dass die meisten Menschen eine ungefähre Ahnung haben, wie oft ihr Herz schlägt. Aber ein kleiner Teil, etwa 10 bis 20 Prozent, nimmt den eigenen Herzschlag ganz genau wahr, kann also praktisch mitzählen, wie oft das Herz schlägt. Der Herzraten-Test gilt als Maß für die sogenannte Interozeption. Das ist eine Art innerer Sinn für die Signale aus dem eigenen Körper.
09 OT (Forkmann)
Unter Interozeption verstehen wir quasi den Prozess, mit dem das Nervensystem Signale vom Körperinneren wahrnimmt, interpretiert und integriert. Also das heißt zum Beispiel unseren Herzschlag oder unsere Atmung oder die Körpertemperatur, die werden wahrgenommen und vom Gehirn weiterverarbeitet.
MUSIK 5 ( Lisa-Maria Puy - My Secret Language (Instrumental) 0’30)
SPRECHERIN
Auch Hunger oder Durst sind Signale aus dem Körperinneren.
10 OT (Herbert)
Das ist ja sehr wichtig, weil wenn wir Hunger empfinden – das müssen wir können – dann müssen wir handeln. Dann muss ich losgehen, muss ich mir was zu essen holen.
SPRECHERIN
Sagt die Psychologin Beate Herbert. Sie ist Professorin an der Hochschule Fresenius München.
11 OT (Herbert)
Und wenn ich dann esse, dann muss ich auch wahrnehmen können: Jetzt muss ich aufhören, jetzt bin ich voll.
SPRECHERIN
Neben diesen Signalen, die wir bewusst wahrnehmen, gibt es aber auch eine ganze Reihe von Signalen, die unbewusst ablaufen.
12 OT (Forkmann)
Wir können sicherlich davon ausgehen, dass ein Großteil dieser Signale eher unbewusst weiterverarbeitet werden und wir das in vielen Fällen gar nicht mitkriegen. Die Organe melden eigentlich über sogenannte afferente Nervenbahnen, also Nervenbahnen von den Organen zum Gehirn, mehr oder minder fortlaufend so was wie Statusmeldungen, Informationen darüber, was in den Organen gerade so passiert. Und da kann man sich gut vorstellen, dass wir vieles davon nicht bewusst verarbeiten.
SPRECHERIN
Die interozeptive Wahrnehmung ist eng verknüpft mit Gefühlen wie Angst, Trauer oder Freude. Zum Beispiel, wenn wir körperliche Veränderungen bemerken und bewerten. Etwa wenn das Herz plötzlich sehr schnell schlägt. Dann kann das daran liegen, dass man gerade die Treppe hochgelaufen ist…..
13 OT (Forkmann)
Oder aber, wenn es keine gute, naheliegende Erklärung dafür gibt, kann es auch schon mal sein, dass das Ganze irritierend oder vielleicht auch als gefährlich bewertet wird. Und das ist ein Beispiel, wo Körperwahrnehmungen ganz unmittelbar auch Gefühle auslösen können.
SPRECHERIN
Zum Beispiel Angst vor einem Herzinfarkt.
14 OT (Forkmann)
Aber auch, wenn wir das nicht so direkt bewusst wahrnehmen, was wir bewerten, spielen diese körperlichen Aspekte bei der Entstehung von Gefühlen immer eine große Rolle.
MUSIK 6 ( Aus.Gleich – Libellenflug 0’37)
SPRECHERIN
Wie hängen Körperwahrnehmung und Gefühle zusammenhängen? Was bedeutet es, dass wir etwa über ein erzwungenes Lächeln unsere Stimmung verändern können? Im Grunde sind das sehr alte Fragestellungen, die Forschende diskutieren. Angestoßen hat die Debatte der Psychologe William James bereits Ende des 19. Jahrhundert.
15 OT (Herbert)
William James hat sozusagen die Wissenschaftswelt damals etwas auf den Kopf gestellt und hat gesagt: Gefühle entstehen aus der Wahrnehmung von körperlichen Veränderungen und nicht umgekehrt.
SPRECHERIN
Also zum Beispiel:
16 OT (Herbert)
Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen.
MUSIK 7 ( Shanice – I Love Your Smile 0’30)
SPRECHERIN
Ebenso könnte man fragen: Lächeln wir, weil wir gute Laune haben? Oder haben wir gute Laune, weil wir lächeln? Schlägt unser Herz schneller, weil wir Angst haben? Oder haben wir Angst, weil unser Herz schneller schlägt? Bis heute ist nicht ganz klar, wie Emotionen entstehen und was zuerst da war – aber dass unser Körper dabei eine bedeutende Rolle spielt, bezweifelt heute kaum noch jemand.
Das war ein Stück weit anders Ende des letzten Jahrtausends.
17 OT (Herbert)
Wo George W. Bush sozusagen diese decade of the brain ausgerufen hat.
SPRECHERIN
… also die Dekade des Gehirns …
18 OT (Herbert)
Die praktisch eine Initiative darstellen sollte zur Intensivierung der neurowissenschaftlichen Forschung, um mehr über uns herauszufinden. Und da hat man sich eben lange Zeit primär auf das Gehirn konzentriert. Also nur das Gehirn.
SPRECHERIN
Man hoffte, auf diese Weise, menschliches Verhalten, auch Emotionen, entschlüsseln zu können.
19 OT (Herbert)
Wir haben tolle neue Technologien, wir haben bildgebende Verfahren, und dann hat man auch ganz viele Erkenntnisse hervor befördert. Hat aber schnell gemerkt, das langt nicht. Wir verstehen diese Befunde gar nicht.
SPRECHERIN
Beate Herbert, die sich schon sehr lange mit dem Thema Körperwahrnehmung beschäftigt, wundert das nicht.
20 OT (Herbert)
Unser Gehirn ist im Prinzip ja eingeschlossen in so einem knöchernen Schädel. Das hat ja überhaupt keinen Zugang, weder zur externen Welt als auch nicht zum eigenen Körper, sondern dieser Zugang geschieht im Prinzip über Sensoren.
SPRECHERIN
Also über externe Sinne wie Sehen, Riechen oder Schmecken. Aber eben auch über den inneren Sinn für die Signale aus dem Körper.
21 OT (Herbert)
Das heißt, nur dadurch ist das Gehirn in der Lage, Reize zu bekommen aus der Welt, aber auch aus dem eigenen Körper, die es dann zusammenbringen muss, um die Bedeutung dieser Reize zu entschlüsseln.
MUSIK 8 ( Mittekill – Krittler 0’55)
SPRECHERIN
Wir sind mehr als unser Gehirn. Auftrieb bekam diese Sichtweise auch aus einer ganz anderen Richtung – der Robotik-Forschung.
22 OT (Herbert)
Weil die Künstliche-Intelligenz-Forschung auch ganz schnell verstanden hat: Um intelligent zu sein, braucht man einen Körper, der mit der Umwelt interagieren kann. Ich brauche Sensoren, ich brauche Extremitäten. Und dann kann ich sozusagen intelligentes Verhalten ermöglichen.
SPRECHERIN
Das gilt für Roboter, aber auch für uns Menschen. Denn es hat sich gezeigt: Je besser unser innerer Sinn, also unsere Interozeption, desto besser ist auch unsere Intuition.
23 OT (Forkmann)
Es gibt eine Reihe von Studien, die nahelegen, dass sozusagen ein guter Zugriff auf diese körperinneren Informationen von Vorteil sind, zum Beispiel bei Entscheidungsaufgaben. Oder anders formuliert: Menschen, die da weniger guten Zugriff darauf haben, die neigen dazu, zum Beispiel riskantere Entscheidungen zu treffen in Studien, wo letztlich bestimmte Verhaltensweisen dann erfragt werden.
SPRECHERIN
Eine gute interozeptive Wahrnehmung ist also so eine Art Bauchgefühl.
24 OT (Forkmann)
Man geht davon aus, dass eben diese körperinneren Informationen eine wichtige Informationsquelle darstellen und letztlich so was wie eine somatische Repräsentation, ne körperliche Repräsentation von Vorerfahrungen darstellen kann, die dann in solchen Kontexten, wo es wenig klare Argumente für eine Entscheidung gibt, den Personen, die solche Entscheidungen treffen müssen, eben zu Hilfe kommen können und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine günstigere Entscheidung getroffen wird. Es geht dabei natürlich nicht um die Frage, möchte ich mir lieber einen roten und blauen Pullover kaufen, sondern eher bei wirklich so unklaren Situationen, die dann aus dem Moment heraus letztlich entschieden werden müssen.
SPRECHERIN
Der Herzraten-Test ist ein sehr häufig eingesetztes Maß dafür, wie stark jemand eigene Körpersignale spürt. Aber es gibt auch noch andere. Beate Herbert hat selbst Testverfahren mitentwickelt, vor allem im Bereich des Hunger- und Sättigungsgefühls.
25 OT (Herbert)
Das interessiert mich auch in den letzten Jahren ganz besonders, weil das eben mit so ganz vielen wesentlichen Prozessen assoziiert ist, also mit der Verhaltensregulation beim Essen, Übergewicht, Adipositas, aber auch den Bereich der Essstörungen, da gabs lange Zeit gar nicht so viel. Da muss ich natürlich mir dann auch Gedanken darüber machen, wie kann ich denn gastrische Funktionen untersuchen?
SPRECHERIN
Mithilfe neuer Technologien ist auch das heute möglich.
26 OT (Herbert)
Das heißt, ich kann gastrische Aktivität messen mit dem Elektrogastrogramm, um zu prüfen, was macht denn der Magen im Moment? Und dann haben wir uns da auch Paradigmen überlegt, die es ermöglichen, den Magen auf kontrollierte Art und Weise zu befüllen, zum Beispiel mit Flüssigkeiten verschiedener Art. Also dass der Proband diese Flüssigkeiten trinkt und dann den Probanden immer zu befragen, dass er angibt, wann fühle ich denn schon erste Signale von Völle-Empfindung. Und dann kann ich das abschätzen, wie gut ist denn diese Völle-Wahrnehmung. Fängt die schon früh an in Relation zur eigentlichen Füllung des Magens oder fängt die erst ein bisschen später an?
SPRECHERIN
Bei solchen Tests zeigte sich zum Beispiel, dass übergewichtige Menschen die Fülle ihres Magens weniger gut wahrnehmen. Ob das allerdings Ursache des Übergewichts ist oder die Folge davon, ist unklar. Man sieht lediglich, dass es einen Zusammenhang gibt.
Auch viele psychische Erkrankungen gehen mit einer gestörten Interozeption einher.
27 OT (Herbert)
Man kann sagen, dass eine gestörte Interozeption so ein transdiagnostischer Prozess ist, der bei ganz vielen psychischen Störungen eine ganz wesentliche Rolle spielt. Das fängt an bei affektiven Störungen wie einer Depression oder Angststörungen. Bis hin aber auch zu solchen Störungen wie eben Essstörungen.
MUSIK 9 ( BenFolds – Waiting For Snow 1’05)
SPRECHERIN
Eine Depression ist eine sehr komplexe Erkrankung, die sich auf vielfältige Weise äußern kann. Dennoch gibt es inzwischen viele Hinweise darauf, dass Depressionen einhergehen mit einer verringerten interozeptiven Wahrnehmung.
28 OT (Forkmann)
Das zeigt sich am stärksten bei mittelgradig depressiv erkrankten Menschen. Und die Befunde legen auch nahe, dass wenn eine Depression vorliegt, dann scheint so eine verringerte interozeptive Genauigkeit auch einherzugehen mit Schwierigkeiten bei Entscheidungsaufgaben oder auch einer verringerten Intensität in der Emotionswahrnehmung.
SPRECHERIN
Mit anderen Worten: Depressive Menschen haben Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen, sie nehmen eigene Gefühle schlechter wahr und sie spüren ihren eigenen Körper weniger gut. Und aus Sicht der Embodiment-Forschung hängt das vermutlich alles zusammen. Daneben sind depressive Menschen oft antriebslos und bewegen sich wenig. Im Rahmen einer Therapie geht es deshalb auch darum, wieder körperlich aktiver zu werden.
29 OT (Tschacher)
Da gibt es Aktivierungstherapien, die erstens mal darin bestehen, dass man sagt okay, erste Aufgabe ist, jeden Tag Sport treiben, jeden Tag eine Aktivität durchführen und nicht zu Hause hocken bleiben. Und das hat eine Wirkung. Ich denke, die Aktivierung spielt eine große Rolle im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung von Depression.
SPRECHERIN
Bei Angst- und Panikstörungen ist die gestörte Körperwahrnehmung ein sehr wichtiger Aspekt der Erkrankung. Denn es kommt zu einer Angststörung, wenn körperliche Veränderungen, etwa ein schnell klopfendes Herz oder starker Schwindel, falsch interpretiert werden. Am Anfang einer solchen Angststörung steht oft eine schwere Panikattacke, sagt der Psychologe und Psychotherapeut Christian Roggenhofer.
30 OT (Roggenhofer)
Dass wir aus heiterem Himmel einen ganz massiven Angstzustand erfahren, der wirklich nicht nur durch ganz heftiges Angstgefühl gekennzeichnet ist, sondern auch durch körperliche Symptome wie Herzrasen, Übelkeit, Schwindel, Zittern und auch ganz starke Hitzewallungen.
MUSIK 10 ( Lisa-Maria Puy - Exploring Bliss (Instrumental) 0’45)
SPRECHERIN
Häufig ist eine Panikattacke ein sehr einschneidendes Erlebnis für die Betroffenen.
31 OT (Roggenhofer)
Und deshalb suchen ganz viele Betroffene dann eben auch den Arzt auf. Oder es wird der Krankenwagen gerufen, um dann aber die Rückmeldung zu bekommen, dass keine lebensbedrohlichen Ursachen zu finden sind.
SPRECHERIN
Nicht selten war übermäßiger Stress letztlich Auslöser für eine solche Panikattacke. Das massive Erleben der Angst kann dann aber zur Folge haben, dass allein schon die körperlichen Symptome – Herzklopfen, Schwindel – angstauslösend sind. Es könnte ja wieder der Beginn einer Panikattacke sein.
32 OT (Roggenhofer)
Sprich das, was der Patient wahrnimmt aus seinem Körper, wird bei den Patienten oftmals als bedrohlich, als lebensgefährlich interpretiert, und daraus entsteht dann die eigentliche Angstreaktion, die Panik.
SPRECHERIN
In Studien zeigte sich, dass Menschen mit einer Panikstörung oft eine stark ausgeprägte interozeptive Wahrnehmung haben.
33 OT (Roggenhofer)
Das heißt, sie können relativ genau wahrnehmen, was im Körperinneren passiert. Und oftmals bezieht sich das vor allem auf die Herztätigkeit.
SPRECHERIN
Roggenhofer geht davon aus, dass Betroffene die intensive Körperwahrnehmung bereits vor ihrer Angststörung hatten. Die Erkrankung selbst führt dann aber oft dazu, dass Betroffene noch mehr in sich hineinhorchen. Schlägt mein Herz gerade schneller? Fange ich an zu schwitzen? Warum kriege ich so schlecht Luft?
34 OT (Roggenhofer)
Ich beobachte auf einmal Dinge im Körper, im Inneren, über die ich mir zuvor nie Gedanken gemacht habe. Und je aufmerksamer ich da ins Körperinnere hinein höre, hinein fühle, hinein spüre, werde ich da auch Dinge entdecken, die ich als nicht gesund oder bedrohlich bewerte.
MUSIK 11 (Warhaus – Shadow Play 1’10)
SPRECHERIN
Im Rahmen einer Therapie geht es dann in der Regel um zweierlei: Einerseits lernen Betroffene, was eine Angststörung ist und was sie ausgelöst haben könnte. Das ist, wenn man so will, die Ebene des Verstehens, also die kognitive Ebene. Andererseits sollen sie aber auch am eigenen Körper spüren, dass bestimmte körperliche Empfindungen nicht lebensbedrohlich sind.
35 OT (Roggenhofer)
Speziell bei der Panikstörung macht man ganz bestimmte körperliche Übungen. Also man sucht quasi bestimmte Körperzustände auf, die eigentlich mit dem Angsterleben eine Panikattacke assoziiert sind.
SPRECHERIN
Zum Beispiel soll der Patient 30 Sekunden lang Kopfschütteln, bis ihm schwindelig wird. Oder er läuft ein paar Minuten möglichst schnell auf der Stelle, bis das Herz rast, der Körper schwitzt und er nach Luft schnappt.
36 OT (Roggenhofer)
Und dann wird quasi der Patient angehalten, diese Übungen zu wiederholen, um dadurch Schritt für Schritt eine Gewöhnung, eine sogenannte Habituation, an diese unangenehmen Körpersymptome zu erfahren.
SPRECHERIN
Auf diese Weise lernen Betroffene, Körperwahrnehmungen wieder richtig einzuschätzen. Sie verstehen, dass sie körperliche Veränderungen fehlinterpretiert haben. Aber sie spüren es eben auch am eigenen Leib. Denn beides gehört zusammen: Verstehen und fühlen. Man könnte auch sagen: Gehirn und Körper.
MUSIK 12 ( BenFolds – Waiting For Snow 0’20)
37 OT (Tschacher)
Wir sind nicht einfach nur unser Gehirn, sondern wir sind Gehirn und Körper und überhaupt alles zusammen in dauernder Wechselwirkung.
Schon einfache Organismen besitzen einen Abwehrmechanismus, um sich vor Veränderungen durch Krankheitserreger zu schützen. Das menschliche Immunsystem ist hochkomplex, es besteht aus vielfältigen mechanischen und biochemischen Schutzstrategien. Von Daniela Remus (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Johannes Hitzelberger
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Marylyn Addo (Professorin; Infektiologin, Universitätsklinikum Eppendorf, Hamburg);
Thomas Kamradt (Professor; Immunologe, Universitätsklinikum Jena);
Carsten Watzl (Professor; Molekularbiologe, Leibniz Institut an der TU Dortmund);
Jürgen Wienands (Professor; Immunologe, Universität Göttingen)
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Der Timuridenfürst Ulugh Beg (1394-1449) übernahm den Thron in Samarkand, heute Usbekistan, von seinem Großvater. Doch statt wie dieser als gefürchteter Herrscher andere Reiche zu erobern, zog er die Wissenschaft vor: Als Astronom und Mathematiker leistete er in seinem Observatorium Erstaunliches - lange vor Erfindung des Teleskops. Von Julia Smilga
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Smilga
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Susanne Schroeder, Thomas Loibl, Peter Weiß
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Karin Becker
Im Interview:
Ikromeddin Siroshidinov, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museums „Sternwarte“ in Samarkand, Usbekistan
Benno van Dalen, Astronomie- und Mathematikhistoriker an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
17. Juni 1941, Samarkand, Usbekische Republik. Sowjetische Wissenschaftler um den berühmten Anthropologen Michail Gerassimow öffnen im Mausoleum Gur Emir ein fünfhundert Jahre altes Grab. Sie wollen die Gebeine des berühmten Herrschers Amir Timur – in Europa bekannt als Tamerlan - und seines Enkels Ulugh Beg untersuchen. Das Ziel: anhand der Schädelreste das Aussehen der beiden zu rekonstruieren. Als Ulugh Begs Grab geöffnet wird, entdecken sie, dass der Schädel vom Rest des Skeletts abgetrennt liegt. Anthropologe Gerassimow schreibt in das Protokoll der Untersuchung:
Musik hoch
Zitat 1 Zitator :
„Ulugh Begs Grab bestätigt die tragischen Umstände seines gewaltsamen Todes. An einem der Wirbel sind deutliche Spuren eines Hiebes mit einer scharfen Klinge sichtbar. Nur ein Schlag von enormer Kraft und Erfahrung konnte eine solche Wirkung haben. Er wurde von rechts nach links ausgeführt, das heißt, der Täter stand vor dem knienden Opfer...“
Musik 2: Dastan and Tamina escape - 49 Sek
Sprecherin:
Ulugh Beg starb am 3. November 1449 mit 56 Jahren in einem Dorf in der Nähe von Samarkand. Er hatte eine Schlacht gegen seinen eigenen Sohn Abd al-Latif verloren und war aus seiner Residenz in Samarkand vertrieben worden. Heimatlos und des Reiches beraubt hatte sich Ulugh Beg auf eine Pilgerreise nach Mekka begeben. Doch kam er nicht weit…Angeblich hatte Abd al-Latif den Befehl zur Ermordung des Vaters gegeben. Mit dem Leben von Ulugh Beg endete im Jahr 1449 auch die Blütezeit der islamischen Wissenschaft in Mittelasien.
Atmo Stadt LS 102465
Sprecherin:
Samarkand. Ehemalige Hauptstadt des grausamen Kriegers Amir Timur, Großvater Ulugh Begs. Zwischen 1370 und 1405 eroberte er weite Teile Zentralasiens. Sein riesiges Reich umfasste Gebiete der heutigen Staaten Iran, Armenien, Georgien, Syrien, Irak sowie Teile Nordindiens. Sein Enkel Ulugh Beg, der am 22. März 1394 in Soltanije im heutigen Iran geboren wurde, bekam nach dem Tod seines Großvaters im Jahr 1405 die prächtige Stadt Samarkand zusammen mit der Provinz Westturkestan als Herrschaftsgebiet übertrage. Ulugh Beg war damals erst 15 Jahre alt. Der junge Herrscher erwies sich als ein exzellenter Verwalter, beschäftigte sich aber auch mit Wissenschaft und Kunst. Das war damals für einen Herrscher außergewöhnlich, sagt Benno van Dalen. Der niederländische Astronomie- und Mathematikhistoriker forscht an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zur Geschichte der mittelalterlichen Astronomie in Europa und Asien.
OT 01 van Dalen [0:14:17] :
Ulug Berg war ja der Enkel von Tamerlan, und das war nicht gerade jemand, der bekannt ist für seine wissenschaftliche Aktivitäten, sondern eher für seine Eroberungen (..) Und die meisten Sultane und Prinzen, die haben sich eher beschäftigt mit diesen Konflikten statt mit Wissenschaft. Also Ulug Beg war da wirklich eine Ausnahme.
Atmo Registan
Sprecherin
Der ehemalige Marktplatz Samarkands, mitten in der Altstadt: Gesäumt wird er von drei prächtigen, mit bunten Ornament-Kacheln und leuchtend blauen Kuppen verzierten Medresen. Eine Medrese oder arabisch „Madrassa“ ist eine Lehreinrichtung, eine Koranschule, in der nach islamischen Grundsätzen das Wissen der Zeit vermittelt wird.
Eine der Medresen, die älteste auf dem Platz, ließ Ulugh Beg errichten, im Jahr 1417.
OT 02 van Dalen
15:25 Wir wissen, dass er zum Beispiel den Koran auswendig kannte und zu jeder Zeit zitieren konnte. Aber das Interesse für Mathematik und Astronomie hatte er insbesondere dann entwickelt, und das hat dazu geführt, dass er in seinem Madrassa all diese berühmten Wissenschaftler, sehr fähigen Wissenschaftler gesammelt hat, und in der Sternwarte ein sehr ausführliches Beobachtungsprogramm hat durchführen lassen.
Atmo Innenhof UlughBeg Medrese LS 102526+ LS 102527
Sprecherin
Der quadratische Innenhof der Koranschule ist von zweistöckigen, mit bunten Mosaiken geschmückten Bauten umgeben, in denen einst vier Hörsäle und Wohnzellen für Studenten untergebracht waren. Mittelalterliche Quellen bezeugen, dass die Koranschule zweistöckig war, mit vier Kuppeln und vier Minaretten an den Ecken, jedes Zimmer war in zwei Wohneinheiten für zwei Studenten unterteilt. Hier hatten etwa hundert Studenten Unterricht. Heute sieht die restaurierte islamische Schule wohl fast genau so aus, wie zu Zeiten von Ulugh Beg. Nur: statt Studenten schlendern durch den Innenhof Touristen aus aller Welt. In den ehemaligen Studentenwohnzellen findet man zahlreiche Souvenirgeschäfte: Steinmetze, Schmiede und Holzschnitzer arbeiten und verkaufen dort, wo einst hitzige Diskussionen über mathematische Formeln geführt wurden.
Musik 3: Heading to the Old Palace - 1.14 Min
Zitat 2 Zitator
„Wie hier in Samarkand Mathematik und Astronomie gelehrt werden, ist in ganz Persien ohne Beispiel. Es gibt allein 24 Meister, die Euklidische Geometrie studieren und den Himmel beobachten.“
Sprecherin
schreibt der Mathematiker und Astronom Al Kaschi als Lehrer der Koranschule an seinen Vater, begeistert von den Forschungsmöglichkeiten in der Stadt an der Seidenstraße. Diese Briefe, die al-Kaschi ins etwa 2000 km entfernte Kaschan in Persien schickt, sind die wichtigsten historischen Quellen, die Einzelheiten über das Leben am Hof und in den Koranschulen von Ulugh Beg liefern. Mindestens ein Dutzend Medresen hat Ulugh Beg persönlich gestiftet.
Zitat 3 Zitator
„Ulugh Beg unterstützt zahlreiche Studenten mit Stipendien und ermutigt alle zum Lernen. Seine königliche Majestät hatte eine wohltätige Gabe in Höhe von dreißigtausend Dinar gestiftet, von denen zehntausend an Studenten vergeben werden sollten. Es wurden etwa zehntausend Studenten aufgelistet, die ständig lernen und lehren und für eine finanzielle Unterstützung in Frage kommen.“
Musik aus
Sprecherin
Heute sind in Usbekistan drei von Ulugh Beg errichtete Koranschulen erhalten: eine in Buchara, eine in Gischduwan und die wichtigste, in Samarkand. Sie war die Wirkungsstätte des persischen Mathematikers Al Kaschi. Aber auch Ulugh Beg war in der Koranschule oft anzutreffen- unangekündigt. Gerne mischte er sich laut al Kaschi in den Unterricht ein
OTon 3 van Dalen
[0:28:20) Er hat beschrieben, dass (...) er sehr häufig dabei war, als die Wissenschaftler und die Studenten ihre Probleme besprochen haben. Und dass er dann sehr kluge Bemerkungen gemacht hat. Dass er die Probleme, auch die schwierigen geometrische Probleme, wirklich gut verstanden hat.
Sprecherin
Geometrische und astronomische Probleme, mit denen sich Studierende und Professoren in der Koranschule von Ulugh Beg beschäftigten und für die sie Lösungen fanden, wurden in Europa erst Jahrhunderte später berechnet. Über elegante Lösungen etwa, die Al Kaschi in seinem 1424 verfassten Lehrbuch „Schlüssel für Arithmetik“ aufstellt, schreibt 1949 der deutsche Arabist und Mathematikhistoriker Paul Luckey:
Musik 4: Erupting Light – 42 Sek
Zitat 4 Zitator:
„Wäre sein Lehrbrief über die Berechnung des Kreisumfanges seinen Zeitgenossen im Abendland bekannt geworden, so hätte sich dieses Abendland in der Folgezeit einige beschämende Leistungen und Erörterungen auf dem Gebiet der Kreisberechnung ersparen können. Hätte seine klare theoretische und praktische Einführung der Dezimalbrüche Verbreitung gefunden, so wäre es nicht nötig gewesen, dass anderthalb Jahrhunderte später Männer wie Vieta, Stevin und Bürgi ihren Verstand und ihre Arbeitskraft auf die Neuerfindung der Dezimalbrüche richteten.“
Sprecherin
Viele der Berechnungen aus den Schulen Ulugh Begs wurden in der Astronomie angewendet. Aber auch Astrologen setzten auf sie: Die Herstellung von Zusammenhängen zwischen astronomischen Ereignissen und irdischem Geschehen spielte damals in der islamischen Welt eine große Rolle. Benno van Dalen:
OTon 4 van Dalen
[0:03:30.) Es gab Standardbücher zur Astrologie, die erklärt haben, wie die astrologischen Basistechniken funktionierten (..)und natürlich eine sehr wichtige Quelle waren die astronomischen Tafelwerke. Die hießen auf Arabisch Sidsch und da steht, womit man dann alle Berechnungen durchführen konnte. Und das wäre dann auch für die meisten Astrologen ihr wichtigstes Tool, damit sie die Berechnungen der Planeten durchführen konnten und damit eine Horoskope erstellen und aufgrund davon die Vorhersagen treffen, die die Kunden haben wollten.
Musik 5: Journey through the desert – 1:01 Min
Sprecherin:
Im Jahr 1424 beschließt Ulugh Beg, seit knapp 20 Jahren an der Macht, in Samarkand ein großes Observatorium zu bauen. Über den Baubeginn berichtet der zeitgenössische Chronist Abd al-Razzaq Samarqandi:
Zitat 5 Zitator
„Der Ort wurde an einem Hügel an der Nordseite von Samarkand gewählt, wo berühmte Astrologen einen günstigen Tag für den Beginn der Bauarbeiten bestimmten. Es entstand ein solides und erhabenes Gebäude. Die Fundamente und Säulen waren so stark, dass sie bis zum Tag des Jüngsten Gerichts stehen würden. Die Wandmalereien, die in diesen prächtigen Räumen angebracht waren, zeigten die sieben Stockwerke der himmlischen Sphäre, die Klimazonen, die Berge, die Flüsse und die Wüsten. Und so wurde befohlen, die Bewegung der Sonne und der Planeten zu beobachten und zu registrieren“.
OTon 05 Ikromeddin Siroshidinov russ
Sprecher OV
4:29 das Observatorium wurde in nur vier Jahren erbaut. Die Sternwarte war 46 Meter hoch, so hoch wie ein modernes zehnstöckiges Gebäude.
ATMO Straße
Sprecherin:
Ikromeddin Siroshidinov ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum „Sternwarte“, das heute neben der Ruine des sagenumwobenen Observatoriums steht. Beides befindet sich zwei Kilometer vom Stadtzentrum Samarkands entfernt, an einer heute vielbefahrenen Straße Richtung der usbekischen Hauptstadt Taschkent. (ATMO Stufen)
Am Fuße der Treppe, die zum Observatoriums-Hügel hinaufführt, begegnet man Ulugh Beg persönlich – in Form eines Bronze-Denkmals. Ulugh Beg sitzt auf dem Thron in einem langen Brokatmantel, den Blick in die Weite gerichtet, in der rechten Hand eine Papierrolle – Symbol für die Wissenschaft. Mehrere Stufen führen hinauf zu den Überresten eines riesigen astronomischen Instruments. Dieses hat im Jahr 1908 der russische Archäologe Vaissily Vjatkin ausgegraben – und damit bewiesen, wo genau sich die Sternwarte von Ulugh Beg einst befand.
OTon 06 Ikromeddin Siroshidinov russ
Sprecher OV
00:36 Wir sind mittendrin in den Ruinen der Sternwarte. 4:40 Im Inneren befindet sich das wichtigste Instrument, der Sextant.
Musik 6: Dark Waters (red) – 35 Sek
Sprecherin
Ein dunkler Tunnel, der in den Felsboden geschlagen nach unten führt. Eine Treppe in seiner Mitte ist seitwärts von zwei steinernen, mit glatten Marmorplatten verkleideten Mäuerchen begrenzt, die von oben wie breite Schienen aussehen und in einem Bogen weiter nach unten führen. Wir befinden uns innerhalb eines riesigen Messinstruments des Observatoriums. Siroshidinov nennt es einen „Sextanten“.
OTon 07 Ikromeddin Siroshidinov russ
Sprecher OV
6:53 Hier gibt es drei Treppen und zwei Schienen: auf der mittleren sind Ulugh Beg selbst und seine Professoren gegangen, an den Rändern haben ihre Studenten das Instrument gerollt, Reste von den Schienen sind erhalten geblieben. Auf dem rechten Teil des Bogens sind Grade aufgezeichnet, 72 Zentimeter entsprechen einem Grad (...) Es gab eine Fortsetzung der Schienen weitere 33 Meter nach oben, doch dieser Teil wurde zerstört, nur die 31 Meter des Unterteils sind übriggeblieben.
Sprecherin:
Insgesamt war das Messgerät also etwa 64 Meter lang. Allerdings: wie es genau aussah und funktionierte, darüber gibt es nur Hypothesen. Wahrscheinlich wurde das Licht, das durch das Ende des Tunnels ins Observatorium einfiel, auf einen scharf umrissenen Fleck fokussiert. Stieg die Sonne, wanderte dieser Lichtfleck über die Stufen. Wenn die Sonne nur ein einziges Grad höher oder tiefer stand, verschob sich der Lichtfleck um 72 Zentimeter, so Siroshidinov
OTon 08 Ikromeddin Siroshidinov russ
Sprecher OV
14:49 Tagsüber orientierten sie sich an dem Sonnenstrahl, um den Stand der Sonne zu bestimmen, so haben die Wissenschaftler einen Sonnenkalender erstellt (...) 15:14 Nachts beobachteten sie die Sterne und den Mond.
Musik 7: Dark Waters (red) – siehe oben – 33 Sek
Sprecherin:
Dank der ungewöhnlichen Größe des Instruments konnten die Wissenschaftler um Ulugh Beg etwa 300 Jahre vor Erfindung des Teleskops bereits genaue Positionen der Sterne und Planeten am Himmel und die Entfernungen zwischen ihnen bestimmen - ausgedrückt in Grad, Minuten und Bogensekunden. Ein unglaubliche Leistung.
Atmo Museum
Sprecherin:
Im Museum ist ein Modell des ganzen Observatoriums ausgestellt – so, wie es vermutet wird. Denn sicher überliefert ist nur, dass das Gebäude drei große Stockwerke umfasste, dass es im Grundriss rund und von innen reich geschmückt war.
OTon 09 Ikromeddin Siroshidinov russ
Sprecher OV
25:46 Hier sehen sie das Modell der Sternwarte. Das flache Dach diente als Beobachtungsplattform, auf der auch einige Instrumente aufgestellt waren. Grobe Berechnungen wurden auf dem Dach durchgeführt, genauere Berechnungen unten, im Keller, weil das große Instrument genauer ist.
Musik 8: Hicaz Pesrev – 48 Sek
Sprecherin
Die Ergebnisse der hier gemachten mathematischen und astronomischen Arbeiten wurden in den „Ulugh Begh Sternentafeln“ unter dem Namen „Zidsch-i-Sultani“ zusammengefasst, übersetzt: „Tafelwerk des Sultans Ulugh Beg“. Außer Tabellen für die Berechnung der Positionen der Sonne und Planeten und anderer Himmelsphänomene, enthielt das Werk einen Sternenkatalog mit genauen Positionen von 1018 Sternen am Himmel. Dieses Tafelwerk blieb für lange Zeit das umfangreichste und genaueste in der islamischen Welt.
Atmo Buch blättern
Sprecherin
Eine Faksimile–Ausgabe von Ulugh Begs Tafelwerk aus dem 15. Jahrhundert liegt auf dem Tisch des Münchener Astronomiehistorikers Benno van Dalen. Es ist ein dickes Manuskript in arabischer Schrift, das hauptsächlich aus Tabellen besteht. Die Buchstaben, erklärt der Wissenschaftler. stehen für Zahlen, die zur Berechnung der Sternenkoordinaten dienten.
Die Wissenschaftler von Ulugh Beg haben knapp 900 der aufgeführten Sterne, die sie von Samarkand aus beobachten konnten, völlig neu bemessen. Seit Ptolemäus in der Antike hatte kein Astronom mehr eine solche fundamentale Messarbeit geleistet.
OTon 11 van Dalen
35:18 Aso manche der Berechnungen, die waren so genau und so aufwendig, dass man annehmen muss, dass eine Gruppe von Wissenschaftler daran gearbeitet haben, vielleicht parallel gemacht haben, um die Ergebnisse gegeneinander zu überprüfen.
Musik 9: tears – 1:05 Min
Sprecherin
Über 20 Jahre lang, bis zum seinem Tod 1449, hat Ulugh Beg mit seinen Hofastronomen Sonne, Mond und Sterne erforscht. Aber das war nicht sein einziger Beitrag zur Wissenschaft des Mittelalters. Er verfasste auch ein historisches Werk, das zu einer der wertvollsten Quellen über die von Dschingis Khan gegründete Dynastie wurde - die „Geschichte der Vier Ulus“. Außerdem soll er ein hervorragender Dichter gewesen sein Auch seine mathematischen Fähigkeiten scheinen faszinierend gewesen zu sein. So berichtet sein treuer Weggefährte, der Mathematiker und Astronom al Kaschi:
Zitat 6 Zitator :
Einmal waren wir mit Pferden unterwegs und unterhielten uns über ein astronomisches Ereignis. Im Kopf hat er Datum und Verlauf präzise berechnet. Als wir zurück am Observatorium waren, sollte ich es überprüfen. Es stimmte perfekt!“
Sprecherin
Die insgesamt achtunddreißig Jahre von Ulugh Begs Herrschaft waren für sein Land Westturkestan eine friedliche Zeit. Im Unterschied zu seinem Großvater Tamerlan führte Ulugh Beg keine Eroberungskriege. Wenn er in die Schlacht zog, dann zu Verteidigungszwecken. Viel lieber hielt sich der Herrscher in seiner Koranschule oder im Observatorium auf. Doch 1447, nach dem Tod von Ulug Begs Vater Schahrukh in Herat, begann zwischen Ulugh Beg und seinem Sohn Abd al Latif ein erbitterter Kampf um die Macht, den Ulugh Beg 1449 verlor und dafür mit seinem Leben bezahlte.
Musik 10: Raid on Alamut – siehe vorn – 36 Sek
Sprecherin:
Wie lange das Observatorium nach Ulugh Begs Ermordung in Betrieb war- darüber gehen die Meinungen auseinander. Fest steht: nach dem Tod des spendablen Herrschers verließen die Wissenschaftler und die Studenten nach und nach die Stadt Samarkand. EinLieblingsschüler Ulugh Begs, der wohl auchder letzte Direktor seiner Sternwarte war, ein Astronom Namens Ali al-Quschdschi, konnte jedoch eine Kopie der Sterntafeln ins Exil mitnehmen.
OTon 13 van Dalen
al Kuschchi ist nämlich in Istanbul aufgetaucht und mit ihm wahrscheinlich auch einige der Kollegen und vielleicht der Studenten. Wir sehen dann in Istanbul astronomische Aktivitäten und wissen, dass Al Kuchschi da noch bis nach 1470 gelebt und gearbeitet hat.
Sprecherin
Ali al-Quschdschi lehrte an der Medresse an der Hagia Sophia in Istanbul. Dort wurden auch die Tafeln aufbewahrt - bis europäische Wissenschaftler sie dort Jahrhunderte später entdeckt haben, erzählt Van Dalen
OTon 14 Benno van Dalen
40:20 im siebzehnten, Jahrhundert, achtzehnten Jahrhundert gab es viele europäische Orientalisten, die Interesse hatten an der arabischen und persischen Kultur, die in die Türkei, in das Osmanische Reich gereist sind und die wichtigsten Handschriften mitgenommen habe nach Europa Da gibt es zwei englische Wissenschaftler, Thomas Hayde und John Greaves, die Handschriften mitgebracht haben. (..) Und dabei war auch ein Tafelwerk von Ulug Beg und Greaves hat dann Teile von diesem Tafelwerk ediert und veröffentlicht.
Sprecherin:
Im Unterschied zu astronomischen Arbeiten anderer islamischer Wissenschaftler, die bereits früher über das arabisch besetzte Spanien den Weg nach Europa fanden, wurde Ulugh Begs Wissen viel zu spät entdeckt, um es noch nutzbar zu machen. Als der Orientalist John Greaves 1643 Teile aus Ulugh Begs Sternentafeln ins Lateinische übersetzte und veröffentlichte, war dessen astronomisches Wissen veraltet. Seit 1610 benutzten europäische Astronomen das von Galileo Galilej erfundene Fernrohr mit Vergrößerungsglas und wussten, dass die Erde und die anderen Planeten sich um die Sonne drehen – und nicht die Erde im Zentrum des Universums steht, wie Ptolemäus und nach ihm auch Ulugh Beg einst glaubten.
Das mindere jedoch nicht die Bedeutung seiner Samarkander Schule, so der Historiker Benno van Dalen. Deren Absolventen prägten noch Jahre später die Wissenschaft in der islamischen Welt stark mit - und dadurch auch die in Europa:
OTon 15 Benno van Dalen
59:30 Und diese Rolle, dass Europa nicht auf sich steht, sondern eigentlich stark abhängig war von den Entwicklungen im islamischen Raum. - ich denke, dass das der wichtigste Punkt ist, weshalb wir immer noch mehr zu wissen brauchen über islamische Wissenschaften und deren Einfluss auf Europa.
Musik 11: Dark Waters (red) – siehe vorn – 48 Sek
Sprecherin
Immerhin: seit 1961 trägt ein Mondkrater und seit 1983 ein Asteroid den Namen des großen Astronomen aus Samarkand. In seiner Heimat im heutigen Usbekistan gilt Ulugh Beg als großer Held und Märtyrer der Wissenschaft. Ihm wird ein Zitat zugeschrieben, das die Quintessenz seines Lebens als Herrscher und Wissenschaftler fasst:
Zitat 7 Zitator:
„Die Religionen zerstreuen sich wie Nebel, die Herrscherreiche zerstören sich von selbst, aber die Arbeiten des Gelehrten bleiben für alle Zeiten. Das Streben nach Wissen ist die Pflicht eines jeden!“
Ein Murmeltierjahr ist kurz und dauert oft nicht einmal sechs Monate. In dieser kurzen Zeit heißt es, Junge zur Welt bringen, säugen, entwöhnen und ihnen und sich selbst schnell zu einer Speckschicht verhelfen. Von Anja Mösing (BR 2016)
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4372.html
Im Winter 1819 überquert eine hart umkämpfte Fracht die Alpen. Adressat ist der bayerische König Ludwig I., der nun endlich den sogenannten Barberinischen Faun sein Eigentum nennen darf. Bis heute fasziniert dieser Star der Münchner Glyptothek Publikum und Forschung. Von Isabel Hertweck-Stücken
Credits
Autorin dieser Folge: Isabel Hertweck-Stücken
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Berenike Beschle, Thomas Birnstiel, Silke von Walkhoff, Peter Veit
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Raimund Wünsche, Klassischer Archäologe
Jean Sorabella, Kunsthistorikerin, Columbia University, New York
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Literatur:
Raimund Wünsche, „Ludwigs Skulpturenerwerbungen für die Glyptothek“. IN: Glyptothek München 1830-1980. Hrgs. von Klaus Vierneisel und Gottlieb Lenz – Hier beschreibt Raimund Wünsche detailliert die Geschichte der Erwerbung des Fauns
Jean Sorabella, „A Satyr for Midas: The Barberini Faun and Hellenistic Royal Patronage. IN: Classical Antiquity (2007) 26 (2): 219–248 – In dem oft zitierten Artikel entwickelt Jean Sorabella ihre Hypothese zum ursprünglichen Sinnzusammenhang des Faun
Linktipps:
Ein frischer Blick auf den Faun von BR Alpha: HIER
Informationen zum Faun und vielen anderen Ausstellungsstücken bayerischer Museen gibt es in diesem empfehlenswerten Portal www.bavarikon.de HIER
Hier kann man ihn und viele andere einzigartige Meisterwerke antiker Skulptur besuchen
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Im Winter 1819 überquert ein besonderer Schwertransport die Alpen, über verschneite und vereisten Wege. Sechs Ochsen ziehen ein Fuhrwerk, das eine riesige Kiste geladen hat, der Inhalt: eine antike Skulptur.
O-ton : Raimund Wünsche
Um es mal so auszudrücken, es ist jetzt ein ganz einmaliges Werk, das wirkt wie vom Himmel gefallen, wie er da so rumliegt.
Er ist die einzige Figur, die man kennt, die seit der Auffindung nicht an Reputation verloren hat.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Der Fuhrmann, der auf dem Kutschbock sitzt, und das Gespann sicher von Italien nach München bringen soll, hat den Inhalt seiner kostbaren Fracht vermutlich nie gesehen. Den Anblick des alten, wilden Wesens kann man nur moralisch und sittlich gefestigten Personen zumuten. Denn die Skulptur arbeitet mit einem Effekt, der bis heute in Horrorschockern Emotionen ins Unkontrollierte steigert: Überraschung!
O-ton Jean Sorabella:
Overvoice:
Es gelingt ihm immer wieder, uns zu überraschen. Egal wie vorbereitet man ist. Und ich glaube, das muss von Anfang an ein Element seiner Wirkung gewesen sein.
And it never fails to surprise, no matter how prepared you are for it,
I think. And I think that that must have been an element of it from the beginning.
MUSIK privat Take A2 “Christ Is Born Indeed”; Album: The Green Knight; Label: Sony Classical – 19439908171; Interpret: Bridget Samuels; Komponist: Daniel Hart; ZEIT: 01:23
SPRECHERIN
In den über 2000 Jahren ihrer Geschichte war die Marmorskulptur immer wieder ein begehrtes Beutestück. Mächtige Kaiser und Könige wollten sie unbedingt besitzen – und so legte der sogenannte „Barberinische Faun“ eine weite Reise zurück. Von seinem „Geburtsort“ irgendwo in Kleinasien, über Rom bis nach München, in die Glyptothek, das erste öffentliche Museum Münchens und Prestigeobjekt des bayerischen Königs Ludwig I.
SPRECHER
Wir kennen heute nur kleine Ausschnitte dieser Reise – aber schon die zeigen: der Faun wechselte nicht einfach nur den Besitzer, er wurde umkämpft, geraubt, oder mit List und Tücke erobert.
Ein paar Körperteile hat er im Laufe dieser abenteuerlichen Geschichte verloren. Das rechte Bein, den linken Arm, die Nasenspitze. Aber im Rest stecken immer noch genug Spannung und Sex-Appeal, um in die Köpfe der Besucherinnen und Besucher vorzudringen.
SPRECHERIN
Einer der besten Kenner der Figur ist der ehemalige Direktor der Glyptothek, der Archäologe Raimund Wünsche. Der Star „seiner“ Ausstellung ist so positioniert, dass man ihn schon von weitem – durch mehrere Raumfluchten hindurch – sehen kann. So, dass man sich dem „unerhörten Anblick“ langsam annähern kann.
MUSIK ENDE
O-ton Raimund Wünsche:
Dargestellt ist ein Satyr, ein männliches Wesen mit leicht tierischen Zügen. Das kann man ganz gut sehen. Er kommt aus dem Rücken heraus, so ein kleines Schwänzchen, das hier nach vorne geführt ist, das man auch sieht.(..) Aber am besten erkennt man, dass es ein Satyr ist, wie er sich bewegt. So kann man in Griechenland nicht sitzen!
SPRECHER
So würde man auch heute nicht sitzen, normalerweise. Die Haltung ist die eines Volltrunkenen – totaler Kontroll- und Schamverlust.
SPRECHERIN
Die Pose kann man sich etwa so vorstellen: Vom Oktoberfest hat es einer nicht mehr ganz nach Hause geschafft – hat sich auf eine Parkbank fallen lassen – und hängt dort nun etwas schief, halb sitzend, halb liegend, mit leicht offenstehendem Mund. Die Beine fallen weit auseinander, das eine Bein am Boden, mit dem anderen stützt er sich auf der Parkbank ab.
SPRECHER
Ein wichtiger Unterschied zum typischen Oktoberfest-Bild: Der Mann in der Glyptothek ist komplett nackt. Nicht nur das Gesicht, sondern jeder Muskel im gut trainierten Körper erzählt vom Versuch, die Kontrolle über Körper und Geist wiederzugewinnen – oder nicht ganz aufzugeben.
O-ton Raimund Wünsche
Das Interessante ist, wie der Künstler hier fertigbringt,
nicht nur den Übergang vom Wachen zum Schlaf,
sondern auch in der Liegehaltung das vorherige Dasein,
was er gemacht hat auszudrücken, die Bewegtheit.
Er will also zeigen, das ist nicht irgendein Mensch, der schläft oder Eros, ein Liebesgott, sondern ist einer, der eigentlich gar nicht richtig schlafen kann, weil ihm tobt es noch immer im Kopf rum und sowas von seinen ganzen vorherigen Lustbarkeiten.
MUSIK „Ludi inter Pana atque nymphas“; ZEIT: 00:49
SPRECHERIN
Die Lustbarkeiten – dabei handelt es sich mutmaßlich um wilde Tänze, viel Wein und freie Liebe. Alles das gehört zur Sphäre und zum Machtbereich des griechischen Gottes Dionysos: Gott des Weines und der Ekstase, der Freude und der Fruchtbarkeit. Die Satyrn gehörten zu seinem Gefolge, bildlich zu erkennen an ihren Esels-oder Pferdeohren, Schwänzen und „barbarischen“ Gesichtszügen mit breiten Stupsnasen, weit entfernt vom griechischen Schönheitsideal.
SPRECHER
Die Trunkenheit der Satyrn zeigt die „göttliche Macht“ des Dionysos. So erklärten sich die Griechen das Phänomen des Alkohol-Rauschs. Die wesens-verändernde Wirkung des Weins schrieben sie seinem göttlichen Einfluss zu.
MUSIK ENDE
O-Ton Raimund Wünsche:
Junge Satyrn sind lebensfroh, lustig, geben im Grunde genommen auch ein Ideal wieder, dass man sagt, so kann man sich manchmal benehmen im gesetzten Rahmen. Und darum gab es auch Satyr-Feste, wo der Herrscher sogar Wein ausgab umsonst, damit sich alle wohlfühlen. Der Wein befreit von den Sorgen des Alltags. Das ist hier gegeben.
SPRECHERIN
Die Römer machten aus dem griechischen Dionysos den römischen Bacchus – und seine Begleiter, die Satyrn vermischten sich mit dem Bild eines altitalischen Wald-und Naturwesens: dem Faun.
SPRECHER
Und so taucht unsere Skulptur, die von heidnischen Feiern der Fruchtbarkeit und des Lebens erzählt, als Barberinischer Faun in den Annalen der Kunsthistoriker auf. In den 20-er Jahren des 17.Jahrhunderts, in der Zeit des Barock, in Rom.
Das Christentum hat da die heidnischen Götter längst verdrängt, über Rom herrschen die Päpste.
Irgendwann zwischen 1624 und `28 kommt der Faun dort ans Licht – er wird bei Bauarbeiten ausgegraben. Dass in Rom Zeugnisse der antiken Geschichte zum Vorschein kommen, ist nicht ungewöhnlich. Der Boden ist voll davon – doch diese Statue erregt sofort öffentliches Aufsehen.
O-Ton Raimund Wünsche
Da gibt es sogar Berichte, dass alle zusammenliefen, alle Künstler, um die zu sehen.
SPRECHERIN
Praktisch sofort nach ihrer Auffindung, kommt die Statue wieder unter Verschluss. Papst Urban VIII. ist ein barocker „Familienmensch“ – 12 Mitglieder seiner erweiterten Familie, den „Barberini“, macht er zu Kardinälen. Er schenkt den Faun seinem Neffen, Francesco Barberini. Und mehr noch: er verfügt mit päpstlicher Autorität, dass die Statue auf ewig Eigentum der Familie Barberini bleiben muss.
250 Jahre lang schmückt der Faun den Palazzo Barberini in Rom, bis die Französische Revolution und Napoleons Armee die alte Ordnung in Europa – und damit auch die Macht der alten römischen Clans – hinwegfegen. 1799 steht der Faun zum Verkauf.
MUSIK privat Take A2 “Christ Is Born Indeed”; Album: The Green Knight; Label: Sony Classical – 19439908171; Interpret: Bridget Samuels; Komponist: Daniel Hart; ZEIT: 00:59
SPRECHER
Und damit beginnt ein römisches Intrigenspiel, in dessen Verlauf der Faun mehrfach – teils unter Polizeischutz – quer durch Rom transportiert wird.
Die Familie Barberini versucht – nachdem sie den Faun zunächst an den Bildhauer und Kunsthändler Vicenzo Pacetti verkauft hat – die Statue zurückzubekommen, denn ihr Preis ist in der Zwischenzeit immens gestiegen. Dazu lassen sie ihren politischen Einfluss spielen: 1810 bringt die römische Polizei den Faun zurück in den Palazzo Barberini. Jetzt wird vor Gericht weitergestritten: Pacetti prozessiert gegen die Barberini und gegen seinen einstigen Partner, den Bankier Torloni, die Barberini prozessieren gegen Pacetti und untereinander.
Wem der Faun gehört, wird immer nebulöser:
MUSIK ENDE
O-Ton Raimund Wünsche
…. Und in dem Augenblick war dann, wo 1810,
Ludwig I., der war damals noch Kronprinz, der sehr gerne Antiken sammelte, dann seinem Agenten in Rom, Martin von Wagner, einem Bildhauer, sagt, er soll sich doch darum kümmern, ob man das nicht kaufen könnte. Und das ist dann schon fast eindrucksvoll, wie er das Allerwichtigste empfand, in diese Figur.
SPRECHERIN
Kronprinz Ludwig, Sohn des ersten bayerischen Königs Max I. Joseph, ist ein tief verunsicherter und zugleich schwärmerischer junger Mann. Er ist schwerhörig, stottert, und ist frustriert, weil sein Vater ihm viel weniger politischen Einfluss zugesteht, als er sich das wünscht.
Seine ganze Energie, und davon hatte er viel – steckt er in seine Sammelleidenschaft.
Dazu bedient er sich seiner Agenten, einer davon ein bärbeißiger Bayer mit losem Mundwerk und großem Kunstsachverstand: Martin von Wagner. Ein Bildhauer, den Ludwig dafür bezahlt, dass er in Rom lebt, und die Szene unablässig nach günstigen Kaufgelegenheiten abgrast. Er macht das gut, putzt Klinken in den römischen Adelshäusern, sammelt und streut Gerüchte und besticht Bedienstete, um an inoffizielle Informationen zu kommen. Ihn setzt Ludwig auf den Faun an.
O-Ton Raimund Wünsche
Und dann zieht sie das hin und dann ununterbrochen, fast in jedem Brief schreibt er, wie es mit dem Faun steht. … 1813 glückte es dann. Dann wird der Faun gekauft für 8000 Scudi.
SPRECHER
Ein enormer Preis. Martin von Wagner hatte ein Jahresgehalt von 600 Scudi. Doch mit dem Kauf des Fauns ist die Geschichte längst nicht abgeschlossen. Denn die päpstliche Regierung will den Faun nicht aus dem Land lassen. Um diese Hürde zu überwinden, setzt Ludwig auf die Hilfe eines weiteren „Agenten“ oder einer „Agentin“ – es handelt sich um eine der mächtigsten Frauen Europas. Zu der hat Ludwig gute Beziehungen – es ist nämlich seine Schwester: die österreichische Kaiserin Karoline Auguste.
MUSIK privat Take A3 “You Do Smell Like You've Been At Mass All Night”; Album: The Green Knight; Label: Sony Classical – 19439908171; Interpret: Bridget Samuels; Komponist: Daniel Hart; ZEIT: 01:08
SPRECHERIN
1819 kommt mit dem Besuch des Kaiserpaars in Rom eine einzigartige Gelegenheit. Der Plan: die österreichische Kaiserin soll dem greisen Papst Pius eine Bitte vortragen, die er nicht abschlagen kann.
Ihr Biograph stellte sich die Szene bei der Privataudienz etwa so vor:
ZITATORIN
„So bitte ich Euer Heiligkeit, antwortete Karoline „um die Herausgabe eines Gefangen“. „Eines Gefangenen? Frug verwundert Pius VII, und setzte hinzu: „Eure Majestät können sich für keinen Unwürdigen verwenden und haben mein Wort.“
SPRECHER
Und so kommt der „Gefangene“, der Barberinische Faun, frei. Kein Wunder, dass die Bayern sofort alles daransetzen, ihn so schnell wie möglich aus Rom wegzubringen. Notfalls auch mitten im Winter.
Dabei wäre die Statue beinahe im Inn versunken – so eine schwere Last hatte die Brücke in Kufstein noch nie tragen müssen. Man fürchtet, dass sie einstürzen könnte. Und baut dem Faun eine starke Notbrücke über den reißenden Fluss.
Am 6. Januar 1820 kommt der Faun dann glücklich in München an.
Staunend wird der Immigrant aus dem warmen Süden im Rohbau der Glyptothek empfangen. Leo von Klenze, Ludwigs Baumeister, gibt sich gönnerhaft.
MUSIK ENDE
O-Ton Raimund Wünsche
Und Klenze hat sich da ganz wunderbar gesagt, er wird jetzt bei der Kälte mit den Zähnen klappern, aber er ist am richtigen Platz, und man meint, das müsste man mit goldenen Lettern ins Buch der Stadt eintragen.
SPRECHERIN
Und der Faun lebt sich ein in seiner neuen Heimat. Erfüllt seine Rolle als Publikumsmagnet von europäischem Rang.
Stolz ist man auf dieses einzigartige Kunstwerk. Auch deshalb, weil es sich hier um ein griechisches Original handelt – nicht – wie bei so vielen anderen antiken Skulpturen, um die römische Kopie eines griechischen Originals.
SPRECHER
Man setzt einiges daran, diese These immer wieder zu bestärken – denn beweisen kann man es nicht, der „Herkunftsnachweis“ des Fauns ist lückenhaft.
Denn: als die Römer den Satyr bei einem ihrer Feldzüge in Kleinasien erbeuteten, haben sie damit auch alle Hinweise auf seinen ursprünglichen Kontext zerstört. Sie zweckentfremdeten das Werk wahrscheinlich als Brunnenfigur – darauf weist eine pietätlose Bohrung im Felsen unter dem linken Arm hin.
MUSIK privat Take 13 “The Peri (Zahra's Theme)”; Album: Prince of Persia: The Forgotten Sands; Label: Ubisoft Music; Interpret: Tom Salta; Komponist: Tom Salta; ZEIT: 00:45
SPRECHERIN
Über die ursprüngliche Heimat des Fauns ist wenig bekannt. Nur das: Der Marmorblock, aus dem er gemeißelt wurde, stammt aus einem Steinbruch in Kleinasien. Die Oberfläche der Statue ist gut erhalten, wenig verwittert, das weist darauf hin, dass der Faun wenig Zeit im Freien verbracht hat. Der Stil ist hellenistisch – genauer: weist auf eine Entstehung im 3.-2. Jahrhundert vor Christus hin. Mehr lässt sich über die Herkunft nicht sagen – oder gar über den Zweck der Statue – oder doch?
MUSIK ENDE
SPRECHER
Die amerikanische Kunsthistorikerin Jean Sorabella hat sich auf genau solche problematischen Fälle spezialisiert: heimatlose Gesellen ohne Herkunfts-Papiere, gestrandet in internationalen Museen. Vom „Faun“ ist sie sofort fasziniert: seine Ausstrahlung ist eine verstörende Mischung aus Sinnlichkeit und Fremdartigkeit:
O-Ton Jean Sorabella
OVERVOICE
Eines der Dinge, das einen wirklich beeindruckt, wenn man direkt neben ihm steht, das ist: wie groß er ist. Er ist so groß – so viel größer als man selbst! So wie er im Moment ausgestellt ist, ist der Kopf über Deiner Kopfhöhe – obwohl der Faun sitzt! Er ist also so viel größer als man selbst. Und ich habe den Eindruck, dass das – in gewisser Weise – diese sexuelle Ausstrahlung blockiert. Und stattdessen bekommt man das Gefühl, sich in der Nähe von etwas zutiefst Fremdem und Übermenschlichem zu befinden.
And one of the things that really impresses you when you're
right next to it, is how big it is. It's so big. It's so much bigger than you. Or, you know, it's, as it's displayed, its head is about where your head is, but it's sitting down. So it's so much bigger than you. And I feel like that, to some degree, sort of disables that sexuality. And instead, you become, you get the sense you're next to something profoundly alien and something that is really superhuman, that is larger than life
SPRECHERIN
Jean Sorabella versucht, zu rekonstruieren, wer und warum ein solches Kunstwerk in Auftrag gegeben haben könnte. In Frage kommt nur eine sehr wohlhabende, mächtige Person.
O-Ton Jean Sorabella:
OVERVOICE
Man vergisst oft, dass es in der Antike keine Museen, so wie wir sie heute kennen, gab. Auch keinen „Kunstmarkt“. D.h. dass kein Künstler Zeit und Mühe und die Kosten für das Material für die Herstellung einer so großen Statue wie dieser verschwendet hätte: es sei denn, er hatte einen sehr klar definierten Grund dafür.
I think it's easy to forget in ancient times, there were
no museums as we know them, there was no art market as we know it. So that no artist could have wasted his time and effort and the cost of the material on making a big statue like that, unless there was a very clear reason.
SPRECHER
Sorabella durchforstet jahrelang Forschungsbibliotheken nach Hinweisen - und findet irgendwann in einem Verzeichnis von Fragmenten griechischer Historiker die entscheidende Spur zu einem möglichen Auftraggeber.
Es geht um Antiochos IV. oder Antiochos Epiphanes (sprich: Antíochos Epifánes), der im 2. Jahrhundert vor Christus das mächtige Seleukidenreich in Kleinasien beherrschte. Von ihm heißt es in dem Fragment: er habe sich gern als Midas kostümiert.
Dieser Hinweis alarmiert Sorabella: denn von Midas gibt es eine Legende – wie er einen Satyr gefangen nimmt:
MUSIK privat Take 13 “The Peri (Zahra's Theme)”; Album: Prince of Persia: The Forgotten Sands; Label: Ubisoft Music; Interpret: Tom Salta; Komponist: Tom Salta; ZEIT: 01:05
ZITATOR
Der griechische Geschichtsschreiber Philostratos berichtet:
Midas wusste von seiner Mutter, dass ein Satyr vom Wein überwältigt, einschlafen würde, und sich danach freundlich verhalten würde. Also mischte er Wein aus seinem Palast in das Wasser einer Quelle. Der Satyr trank davon, und war gefangen.
SPRECHERIN
In einer der Versionen dieser Legende, ist es dieser Satyr, Silenos, der Midas einen Wunsch gewährt: Und der wünscht sich dummerweise, dass alles, was er anfasst, zu Gold wird.
SPRECHER
Aber: während Midas für uns heute vor allem ein Negativ-Beispiel für menschliche Gier ist, stand in der Antike möglicherweise ein anderer Aspekt seiner Persönlichkeit im Vordergrund. Midas sagenhafter Reichtum und seine Macht.
Der vom Wein überwältigte, oder gefangene Satyr, dieses wilde, fremde und machtvolle Wesen könnte damit für einen hellenistischen Herrscher ein Zeichen und eine Bestärkung der eigenen Macht gewesen sein.
MUSIK ENDE
O-Ton Jean Sorabella:
OVERVOICE
Ich habe sehr viele Belege für ein Phänomen gefunden, dass sich auch in anderen historischen Epochen zeigt: Etwas zu besitzen, etwas sehr exotisches und sehr bemerkenswertes, etwas, von dem die Menschen vielleicht geglaubt haben, dass es gar nicht existiert – ein solcher Besitz verleiht seinem Eigentümer Macht.
Wer das Horn eines Einhorns besaß, oder eine Reliquie der Dornenkrone, der glaubte, dieser Besitz würde ihn anderen Herrschern überlegen machen, in ihren Augen war das die Realität. Also: warum nicht ein Satyr? Einen Satyr besitzen? Wäre das nicht so, als hätte man – zumindest vorübergehend - Macht über einen der edelsten und schwer fassbarsten Götter?
I found all of these references that really showed that, and I think this is confirmed in other historical moments as well, that being the possessor of something very exotic or very remarkable, something that people have almost believed doesn't exist, confers power on the possessor of that person. So the people who believe they possess the unicorn's horn, the people who possess the relic of the crown of thorns, you know, owning these things, made them superior in their own eyes to other rulers, let's say, other very powerful people. So why not a satyr? Owning a satyr? Wouldn't that make you, or even holding on to one for a short time, that would make you really seem like you were in command of the earth's most precious and
most elusive goods, if you like?
SPRECHERIN
Es ist eine magische Denkfigur: und sie liefert eine hoch spekulative, aber verführerisch plausible Erklärung, für die Ausstrahlung des Faun: es geht nicht um Sex, sondern in erster Linie um eine Demonstration von Macht.
Vielleicht sah die Geburtsstunde des Fauns also so aus:
MUSIK privat Take 13 “The Peri (Zahra's Theme)”; Album: Prince of Persia: The Forgotten Sands; Label: Ubisoft Music; Interpret: Tom Salta; Komponist: Tom Salta; ZEIT: 01:04
SPRECHER
Im 2. Jahrhundert vor Christus gab ein hellenistischer Herrscher aus Kleinasien, der den mythischen König Midas als Vorbild betrachtete, und sich gern wie er kostümierte, und in einem Brunnen Wasser mit Wein zu mischen pflegte – dieser Herrscher, Antiochos mit Namen, gab die überlebensgroße Statue eines Satyrs in Auftrag, die den Höhepunkt aus einer Geschichte über Midas darstellen sollte: den Augenblick des Sieges über ein mächtiges, göttliches Wesen.
Vielleicht stand die Statue in seinem Palast, um Besucher zu beeindrucken und einzuschüchtern, vielleicht stand sie an einem heiligen Ort, zusammen mit anderen Figuren der Legende, die heute untergegangen sind.
SPRECHERIN
Lange stand er dort nicht, denn bereits im 2. Jahrhundert kämpfte das Seleukidenreich gegen das aufstrebende Rom ums Überleben.
Auch das lehrt die Geschichte: je schwächer die reale Macht, desto großspuriger das Imponiergehabe.
MUSIK ENDE
O-Ton Jean Sorabella:
OVERVOICE
Eine der eher ernüchternden Lektionen dieser sehr alten Geschichte ist, dass manchmal, als Ergebnis eines sehr hässlichen Wettbewerbs, oder sogar eines Scheiterns, sehr beeindruckende Kunst entstehen kann.
And one of the sort of sobering lessons, I think, of this very ancient history is that sometimes out of a very ugly competition, even out of a failure, can come very successful works of art.
MUSIK „The vikings & the barons”; ZEIT: 00:53
SPRECHER
Der Faun fasziniert uns auch heute noch durch die Rätsel, die er uns aufgibt. Er lässt uns den Höhepunkt einer Geschichte erleben, deren Anfang und Ende wir nicht kennen. Was passierte, bevor er einschlief? Und was geschieht, wenn er die Augen wieder aufschlägt?
Das verleiht ihm eine Lebendigkeit, deren Magie sich kaum jemand entziehen kann. Der französisch-amerikanische Fotograf und Schriftsteller Julian Green besuchte 1950 die geschlossene, vom Krieg schwer gezeichneten Glyptothek.
ZITATOR Julian Green:
Man geht durch weite Säle unter offenem Himmel, deren Mauern die Spur der Flammen tragen. Der Faun steht in einer Ecke, unter einer Art Dach, das man ihm aus Brettern errichtet hat. Er ist vom Schlaf übermannt. Man kann kaum über diese Statue sprechen, ohne in eine Begeisterung zu verfallen, die mir fremd ist. (...) Es ist die sinnlichste Statue der Welt.
Weil die Politik an einer nachhaltigen Zukunftspolitik scheitert, ist die globale Zivilgesellschaft aktiv geworden: Der Weltzukunftsrat versammelt 50 Vordenker aus 40 Nationen, die global lokale Modelle für enkeltaugliche Politik suchen und als Modelle für die Welt zur Verfügung stellen. Von Geseko von Lüpke (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Andreas Neumann, Florian Schwarz, Karin Schumacher
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Bernahrd Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Hafsat Abiola (Demokratie-Aktivistin, Nigeria), Claus Eurich (Umwelt-Ethiker),
Jakob v. Uexcüll (Philantrop, England), Otto Scharmer (Soziologie-Professor, USA),
Helmy Abouleish (Alternativer Nobelpreisträger & Unternehmer, Ägypten),
Wangari Maathai (Friedens-Nobelpreisträgerin, Kenia),
Alexandra Wandel, (Geschäftsführerin des Weltzukunftsrats),
Franz-Theo Gottwald (Vorstand Weltzukunftsrat),
Luc Gnacadja (Ex-Umweltminister, Benin),
Vandana Shiva (Alternative Nobelpreisträgerin & Aktivistin, Indien)
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Wie wir ticken - Euer Psychologie-Podcast
ZUM PODCAST
Literaturtipps:
Giradet, Herbert: A renewable World. A Report to the World Future Council, UIT Cambridge-Verlag 2009.
Lüpke, Geseko v.: Die Alternative. Wege und Weltbilder des Alternativen Nobelpreises, München, Riemann-Verlag 2003.
Uexküll, Jakob v. und Herbert Giradet: Die Zukunft gestalten – World Future Council: Aufgaben des Weltzukunftsrates, Kamphausen-Verlag 2005.
Uexküll, Jakob v.: Zukunft gestalten: JETZT, Europäische Verlagsanstalt 2017.
World Future Council (Hrsg.): Kinderrechte erleben. Unterwegs mit Jörg Pilawa, Europäische Verlagsanstalt 2017.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Arme Menschen sind selbst schuld, wenn sie hungern! Sie müssen nur richtig essen. Mit dieser Überzeugung führen Wissenschaftler im 19. Jahrhundert eine Maßeinheit für Ernährung ein: die Kalorie. Von Stefan Foag
Credits
Autor dieser Folge: Stefan Foag
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Karin Schumacher, Peter Weiß
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Nina Mackert, Universität Leipzig
Prof. Bernhard Watzl, DGE
Prof. Thomas Skurk, TU München
Literatur:
Wilbur Atwater, „Experiments on the metabolism of matter and energy in the human body“ – direkter Einblick in Atwaters Ernährungsforschung Ende des 19. Jahrhunderts
Nina Mackert, „The Career of the Calorie“ – Habilitationsschrift über die Geschichte der Kalorie
Weiterführende Links:
Wie ernähren wir uns in Zukunft gesund?
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Test zur Planetary Health Diet in der ARD Mediathek HIER
Erläuterung der Planetary Health Diet HIER
Bilder zu Atwaters Experimenten HIER
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Schon drei Tage lebt er in einer Kabine mit zweieinhalb Quadratmetern. Ein Mann tritt auf einem Fahrradergometer. Neben ihm Klappstuhl, Tisch und Feldbett. Außerhalb: Schläuche, Kabel, große Kessel, Ventilatoren. Die Kabine steht in einem Labor. Essen bekommt der Mann nur über eine Luke. Und das nach genauen Vorgaben:
ZITATOR:
„Zum Frühstück: 20 Gramm gebratener Schinken; 55 Gramm gekochte Eier, 20 Gramm Butter, 20 Gramm Brot, etwa 300 Gramm Kaffee…“
SPRECHERIN:
Der Amerikaner Wilbur Atwater leitet das Experiment. Er arbeitet in Middeltown, 160 Kilometer von New York entfernt, und hat in dieser Woche im Jahr 1897 eine Testperson in die Kammer geschickt – für vier Tage. Wilbur Atwater lässt ihn acht Stunden pro Tag strampeln.
ZSP 02 Kalorie Atmo Schlafen
SPRECHERIN:
Lässt ihn in der Kabine schlafen. Wiegt ihn, misst regelmäßig die Temperatur in der Kammer. Der Versuchsaufbau ist ein sogenannter „Kalorimeter“:
ZSP 03 Kalorie Mackert
Also der Kalorimeter war dazu gedacht, zu untersuchen, wie viel Wärme bei verschiedensten Tätigkeiten entsteht der Testpersonen und das dann in Bezug zu setzen zum Energiegehalt von Nahrung, der mit Kalorien gemessen wurde.
SPRECHERIN:
Sagt die Historikerin Nina Mackert von der Universität Leipzig, die sich mit der Geschichte der Kalorie beschäftigt hat.
Musik: Climate change more red 0‘28
Die Maßeinheit gibt an, wie viel Energie nötig ist, um ein Gramm Wasser um ein Grad Celsius zu erhitzen. Eingeführt haben sie Physiker. Wilbur Atwater ist Ende des 19. Jahrhunderts einer der Ersten, der Kalorien auf die menschliche Ernährung anwendet. Er will wissen, wie viel Essen man für eine bestimmte Arbeit braucht…
ZSP 04 Kalorie Mackert
Und er klassifizierte die Arbeit in unterschiedlich schwere Arbeit und versuchte, da Standards zu etablieren, wie viele Kalorien Menschen bei unterschiedlich schweren Tätigkeiten benötigen.
ZSP 05 Kalorie Atmo Kanalisation - Feuer / Flamme knistert
SPRECHERIN:
Wilbur Atwater verbrennt kleine Mengen Lebensmittel und misst wie viel Energie nötig ist, bis sie vollständig zu Asche verwandelt sind. Das gibt er in Kalorie bzw. Kilokalorie an.
ZSP 06 Kalorie Atmo Essen - Kauen 15 Schmatzen / Schlucken
SPRECHERIN:
So weiß er genau wie viel Energie er seinen Probanden mit dem Essen verabreicht. Er lässt sie Gewichte stemmen
ZSP 07 Kalorie Atmo Gewichtestemmen
SPRECHERIN:
Misst aber auch geistige Tätigkeiten wie Lesen…
ZSP 08 Kalorie Atmo Buch - aufschlagen, blättern, schnell und langsam
SPRECHERIN:
Ein Ergebnis: Wer sich nicht bewegt, braucht etwa 1400 Kilokalorien weniger als eine Person, die Sport macht. Wilbur Atwater führt etliche solcher Experimente durch. Schon lange glaubt er:
ZITATOR:
„Es ist unbestreitbar wahr, dass viel Geld für den Kauf von Lebensmitteln verschwendet wird.“
SPRECHERIN:
Wer hungert, ist also selbst schuld, behauptet Wilbur Atwater. Das ist Ende des 19. Jahrhunderts die Antwort auf die vielleicht drängendste Frage dieser Zeit.
ZSP 09 Kalorie Demonstration 05 Rufe / Geschrei / Schläge
SPRECHERIN:
Die Arbeitsbevölkerung leidet unter langen Arbeitszeiten, mangelndem Wohnraum, niedrigen Löhnen. Es bilden sich Arbeiterbewegungen. Streiks, Proteste, Straßenkämpfe folgen. Nina Mackert:
ZSP 10 Kalorie Mackert
Viele Menschen haben sich gefragt, ob nicht angesichts der schärfer werdenden sozialen Widersprüche eine andere Zukunft notwendig sei, eine nicht-kapitalistische Zukunft. Das heißt, es waren Arbeitsunruhen und Arbeitskämpfe mit großem sozialen Sprengstoff.
SPRECHERIN:
Und da kommt Wilbur Atwaters Blick auf die Ernährung gelegen. Zusammen mit Unternehmern und anderen Forschenden will er die Lage der Arbeiterklasse verbessern, ohne die Systemfrage zu stellen. Mithilfe der Kalorie…
ZSP 11 Kalorie OT NINA Mackert
Die Kalorie transportiert das Versprechen, eine wissenschaftlich objektive, genauestens messbare Lösung für gesellschaftliche Probleme zu liefern.
Sie ist wissenschaftlich autorisiert, aber sie ist ebenso politisch.
Musik: Take off 0‘30
SPRECHERIN:
Willibur Atwater wird vom US-amerikanischen Landwirtschaftsministerium beauftragt, zu erforschen, wie sich die Menschen ernähren. Nach damaligem Forschungsstand legt er fest: Ein Mann, der sich sehr viel bewegt, braucht maximal 3500 Kilokalorien am Tag. Andere deutlich weniger. Mit diesem Wissen lässt er in den Armenvierteln von New York forschen:
Im April 1895 sind die Forschenden bei einem arbeitslosen Mechaniker. Er, seine Frau und ihre drei Kinder leben zusammen. Ihre Lebensmittel werden genau aufgeschrieben: nach Gramm, Nährwert und Kosten. 30 Dollar im Monat geben sie aus. Und verbrauchen am Tag umgerechnet 3.900 Kilokalorien pro Kopf – also zu „viel“.
ZITATOR:
„Bei richtiger Verwendung ihres Geldes hätte die New Yorker Familie ihre Lebensmittel für 15 bis 20 Dollar statt für 30 Dollar pro Monat kaufen können.“
SPRECHERIN:
Folgert Wilbur Atwater in der Studie. Er kritisiert nicht nur, dass die Familie zu viel isst. Sondern auch das Falsche:
ZITATOR:
„Mehr als die Hälfte der Kosten für tierische Lebensmittel entfallen auf Rind-, Kalb- und Hammelfleisch und Fisch. Die hohen Kosten für pflanzliche Lebensmittel erklären sich durch die Verwendung von teurem Fertigmehl, 5 bis 7 Cent pro Pfund, Brötchen für 5 Cent pro Pfund, während Weizenmehl 2 Cent pro Pfund kostete.“
SPRECHERIN:
Es entstehen genaue Vorstellungen, was arme Menschen – mit Blick auf ihren Geldbeutel - essen sollen, erzählt die Historikerin Nina Mackert:
ZSP 13 Kalorie Mackert
Salat galt als besonders ökonomisch ineffizientes Lebensmittel und die ArbeiterInnen wurden tatsächlich aufgefordert, kein Salat und kein grünes Gemüse zu kaufen, weil das zu teuer sei und zu wenig Kalorien liefern würde. Also Bohnen und Haferflocken waren immer die klassischen Empfehlungen gegen Hunger und für eine hohe Kalorienzahl bei geringen Preisen.
Musik: Secret proofs red 0‘16
SPRECHERIN:
Die Kalorie ermöglicht also das perfide Argument: Arme Menschen verdienen nicht zu wenig Geld, sie verhalten sich nur falsch und sind für ihr Schicksal daher selbst verantwortlich:
ZSP 14 Kalorie Mackert
Das nennt man in der Forschung Responsibilisierung. Das Verantwortlichmachen des Individuums für die Lösung von Problemen.
SPRECHERIN:
Und so verändert sich auch das Köperbild: Schön ist jetzt, wer schlank ist. Lange galten dicke Bäuche als Zeichen von Wohlstand. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ändert sich das allmählich. Nicht nur, aber auch wegen der Kalorie:
ZSP 15 Kalorie Mackert
Vorher war zwar Dicksein etwas, das nicht von allen immer zu gutgeheißen wurde, das auf keinen Fall. Aber es war zumindest etwas, was eher als Schicksal betrachtet wurde und nicht als etwas, was Menschen individuell steuern konnten.
SPRECHERIN:
Sich gute Lebensmittel leisten und bei der Menge Maß halten, um einen schlanken, muskulösen Körper zu haben – so lautet das neue Ideal. Das aber zunächst nur für Männer gilt. Frauen wird, etwa in Frauenmagazinen, explizit vom Abnehmen abgeraten:
ZSP 16 Kalorie Mackert
Erstens, weil sie es ohnehin nicht schaffen würden, vermeintlich.
Und zweitens, weil man sich darum sorgte, dass sie damit ihre Fruchtbarkeit gefährden würden.
SPRECHERIN:
Aber auch das ändert sich…
ZSP 17 Kalorie Luftangriff - 1. Weltkrieg 01 Doppeldecker, MG-Salven
Musik: Inquiry procedure alt 0‘28
SPRECHERIN:
Der Erste Weltkrieg beansprucht viele Ressourcen an der Front. Die beteiligten Nationen rufen ihre Bevölkerung auf, Lebensmittel zu sparen. Die Regierung in Washington verteilt überall Plakate:
ZITATORIN :
„Nahrung wird den Krieg gewinnen! Wir achten auf fleischlose Tage“ Quelle
ZITATORIN :
„Sie sind hierhergekommen wegen der Freiheit. Jetzt müssen Sie helfen, sie zu bewahren. Die Verbündeten brauchen Weizen. Verschwenden Sie nichts!“ Quelle
ZITATORIN :
„Der Sieg ist eine Frage der Ausdauer - Senden Sie: Weizen, Fleisch, Fette, Zucker - den Treibstoff für Kämpfer“ Quelle
ZSP 18 Kalorie Mackert
Der Erste Weltkrieg, kann man sagen, hat die Kalorie als Maßeinheit des Energiegehalts von Nahrung nochmal popularisiert.
SPRECHERIN:
Sagt Nina Mackert. Mit dem neuen Wissen über Kalorien steuert die US-Regierung, wie Lebensmittel produziert und rationiert werden. Vor allem Hausfrauen ermuntert sie, freiwillig auf Essen zu verzichten. Und so wird auch Schlanksein immer wichtiger. Die Autorin Lulu Hunt Peters macht Kalorienzählen als Methode populär. 1918 schreibt sie:
ZITATORIN:
„In Kriegszeiten ist es ein Verbrechen, Nahrungsmittel zu horten. […] Dicke Menschen galten schon immer als Witz, aber Sie sind kein Witz mehr. Statt mit freundlicher Toleranz und Belustigung betrachtet man Sie jetzt mit Misstrauen, Argwohn und sogar Abneigung! Wie können sie es wagen, Fett zu horten, wenn unsere Nation es braucht?“ Quelle
SPRECHERIN:
Dass Übergewicht als komplett freiwillige Entscheidung wahrgenommen wird, liegt an der damaligen Vorstellung von Verdauung. Ernährungsforscher wenden auf den Menschenkörper die Wärmelehre aus dem Maschinenbau an – die Thermodynamik:
ZSP 19 Kalorie Mackert
mit der Thermodynamik wurde der Körper zu einem Motor, der mit einer Maschine vergleichbar war, der angetrieben wurde, nicht von einer Lebensenergie, die im Körper schlummerte, sondern von externen Kräften, von der gleichen Energie, die Maschinen antrieb,
SPRECHERIN:
Was oben reinkommt, wird im Körper durch Arbeit verbrannt. Wie bei einer Dampfmaschine oder einem Auto. Aber so einfach ist es nicht, wie man heute weiß….
ZSP 20 Kalorie Piepsen + Raumatmo
SPRECHERIN:
Es erinnert an eine Schwangerschafts-Untersuchung, wenn die Ernährungswissenschaftler ihr Experiment zeigen. Großer Bildschirm, langes Kabel, Ultraschallkopf. Doch statt dem Bauchraum, wird hier der Arm genauer untersucht. An dem ist Ultraschallgel…
ZSP 21 Kalorie Skurk
damit wir die Luft zwischen dem Schallkopf und dem Gewebe eliminieren.
SPRECHERIN:
Sagt Professor Thomas Skurk [gesprochen wie geschrieben], der in Freising für die Technische Universität München forscht. Ein Doktorand streift mit dem Ultraschallkopf über seinen Unterarm. Weil der einen Laser hat, tragen beide Schutzbrillen. Das Gerät untersucht Körperfett. Damit beschäftigt sich Skurk seit Jahren:
ZSP 22 Kalorie Skurk
Das Fettgewebe ist ein Speicherorgan. Als solches wurde es immer wahrgenommen. Aber das Fettgewebe kann noch viel mehr.
Musik: Still waiting 0‘35
SPRECHERIN:
Fett beeinflusst unser Ernährungsverhalten. Es hat zum Beispiel ein Hormon, das Alarm schlägt, wenn man zu viel isst. Außerdem gibt es unterschiedliche Fettgewebe: Weißes Fett dient dazu, Energie zu speichern. Das sogenannte braune Fett verwendet der Körper, um Energie zu verbrennen – etwa wenn ihm kalt ist. Bei Erwachsenen hat es nur einen kleinen Anteil am Gesamtfett. Es baut sich aber deutlich schneller ab als das weiße
ZSP 23 Kalorie Raumatmo
SPRECHERIN:
Und genau dazu forscht Skurk mit seinem Team in dem Experiment. Zur Veranschaulichung sitzt er wie die Testpersonen vor dem Ultraschall-Gerät – und zwar in einem Rollstuhl. Denn es soll keine Energie durch Bewegung verbraucht werden.
ZSP 24 Kalorie Skurk
Nachdem wir das aufgezeichnet haben, bekommen die Probanden ihr Testessen und werden dann in bestimmten Zeitintervallen, ja, monitoriert und von einer Station zur nächsten geschoben
SPRECHERIN:
Die Probanden bekommen Eier, Toast, Butter, Reis in unterschiedlichen Anteilen – je nachdem ob sie viel Fett, Kohlenhydrate oder Proteine essen sollen. Danach wird ihr Körper analysiert, ob und wie er Fett verbrennt. Das Ziel:
ZSP 25 Kalorie Skurk
wenn wir die richtigen Lebensmittel essen oder richtige Lebensmittel zukünftig vielleicht entwickeln können, dann könnte diese Aktivierung des braunen Fetts unterstützend wirken, Körpergewicht zu verlieren.
SPRECHERIN:
Musik: Precision on demand 0‘24
SPRECHERIN:
Die Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert ist also überholt: Der Mensch verdaut komplizierter als eine Maschine; wie viel Essen er braucht, ist sehr unterschiedlich. Trotzdem sind die Erkenntnisse von Wilbur Atwater im Grundsatz heute noch richtig, betont Thomas Skurk:
ZSP 27 Kalorie Skurk
Also prinzipiell geht es hier um die Berechnung des Energiegehalts in der Ernährung und diese Berechnungsformeln sind in der Regel noch gültig.
SPRECHERIN:
Dass die meisten Menschen ohne Sport grob zweitausend Kilokalorien am Tag brauchen, stimmt nach wie vor. Bis heute gilt das „Atwater-System“, das den Energiegehalt von Nährstoffen pro Gramm festlegt:
ZSP 28 Kalorie Skurk
Da rechnen wir eben 9 Kilokalorien für Fett, 7 Kilokalorien für Alkohol und jeweils 4 Kilokalorien für Kohlenhydrate und Protein.
ZSP 29 Kalorie Atmo Bombenkaloriemeter
SPRECHERIN:
Und wie viel Nährwert in einem ganzen Lebensmittel steckt, wird genauso wie damals ermittelt: durch Verbrennung. Im Labor steht ein Kasten – etwas größer als eine Bierkiste.
ZSP 30 Kalorie Atmo Bombenkaloriemeter läuft an
SPRECHERIN
Es ist ein „Bombenkalorimeter“. Lebensmittel-Proben mit wenigen Gramm werden hier hineingelegt und verbrannt. In dem Gerät ist auch Wasser, das dadurch wärmer wird. Denn die Maßeinheit Kalorie gibt ja an, wie viel Energie nötig ist, um Wasser zu erhitzen.
Allerdings: Forschende rechnen eigentlich schon lange mit Joule, nicht mehr mit Kalorien, erklärt Thomas Skurk.
ZSP 31 Kalorie Skurk
Die Kalorie ist ein sehr kurioses Konstrukt, die es ja eigentlich seit 1948 gar nicht mehr gibt.
SPRECHERIN:
Etwa vier Joule entsprechen einer Kalorie. Beide Einheiten geben an, wie viel Energie nötig ist, um ein Gramm Wasser um ein Grad Celsius zu erhitzen. Doch lange war nicht klar, von welcher Ausgangstemperatur gemessen wird. Es gab Verwirrung. 1948 hat die internationale Generalkonferenz für Maß und Gewicht beschlossen, nur noch die Einheit zu verwenden, die auch für andere Energieformen gilt: Joule.
ZSP 32 Kalorie Skurk
Aber in der Ernährungswissenschaft dürfen wir es nach wie vor verwenden, weil es einfach traditionell ist und jeder mit der Kalorie oder vielmehr der Kilokalorie relativ gut umgehen kann.
Musik: Consistent method (reduziert) 0‘26
SPRECHERIN:
Bis heute orientieren sich immer noch viele an der Kalorie. Seit 2016 muss EU-weit auf fast jedem Lebensmittel eine Nährwerttabelle angeben, wie viel Kalorien enthalten sind. Beim Kalorienzählen helfen Abnehm-Apps, Ernährungsberater und Fitness-Influencer…
ZSP 33 Kalorie OT Youtuberin
um deine Diät erfolgreich zu gestalten, brauchst ein Kaloriendefizit. Das heißt, du musst weniger essen als du verbrauchst, um dann schlussendlich Körperfett zu verlieren Link
ZSP 34 Kalorie OT Youtuber
Und gerade als Anfänger ist es natürlich super sinnvoll. Du musst ja erstmal ne Ahnung haben, was schaufelst du dir da jeden Tag rein. Link
ZSP 35 Kalorie OT Youtuber
die gute Nachricht ist, dass es Lebensmittel gibt, die gut schmecken und die dazu führen, dass du nahezu kalorienfrei satt wirst. Link
SPRECHERIN:
Das Bild vom Körper als Maschine hält sich bis heute. Auch Ernährungswissenschaftler lehnen es nicht grundsätzlich ab. Schließlich stimmt ja: Der Körper verbrennt Kalorien. Aber Hormone, Fettgewebe und Enzyme spielen eben auch eine Rolle. Dass bis heute so viele Menschen Kalorien zählen, hat aber nicht nur gesundheitliche, sondern auch gesellschaftliche Gründe, sagt die Historikerin Nina Mackert:
ZSP 36 Kalorie Mackert
Das ist wahnsinnig attraktiv in einer Zeit, in der die individuelle Selbstregierung so hervorhebt, die Notwendigkeit der individuellen Selbstregierung und die Pflicht. Das Zweite ist, dass das Kalorienzählen im Konsumzeitalter nicht nur Selbstdisziplin hervorhebt, sondern auch die Möglichkeit, prinzipiell alles zu essen.
Musik: Calculations 0‘21
SPRECHERIN:
Heißt: Wer abends Salat ist, kann sich mittags auch mal ein Schnitzel gönnen. Auch Schokolade ist dann - in Maßen – ok. Die Kalorie reguliert nicht nur, sie ermöglicht auch Konsum. Und da wächst seit Ende des Zweiten Weltkriegs das Angebot immer weiter:
ZSP 37 Kalorie Zucker-Werbung 1954
Ach, wie war das Leben traurig, gäbe es keinen Zucker mehr. Kinder hätten keine Freude, keine Lust zum Spielen mehr! Link
ZSP 38 Kalorie Burger King-Werbung
100% saftiges flame grilled beef, knackiger Salat, frische Tomaten und ein neues noch flluffigeres Bun. So lecker wie nie zuvor! Link
ZSP 39 Kalorie Kinderriegel-Werbung
Einfach Milch und Schokolade, einfach einzigartig im Geschmack.
SPRECHERIN:
Essens-Mangel ist in Industrieländern schon lange kein großes Problem mehr. Und gleichzeitig arbeiten immer mehr am Schreibtisch:
ZSP 40 Kalorie Watzl
Wir haben heute einen geringeren Energiebedarf, weil viele Menschen nicht mehr so körperlich aktiv und berufstätig sind, wie das in den 50er und 60er Jahren der Fall war.
SPRECHERIN:
Sagt Professor Bernhard Watzl, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. In den Anfängen der Ernährungsforschung ging es vor allem darum, Menschen ausreichend zu ernähren. Heute beschäftigten sich Forschende mit sogenannten „Wohlstandskrankheiten“. Diabetes und Adipositas sind weit verbreitet. Was dagegen hilft, ist allerdings prinzipiell klar, betont Bernhard Watzl:
ZSP 41 Kalorie Watzl
es gibt in unseren Lebenswelten verschiedene Ansätze, wo wir es dem Individuum leichter machen könnten, sich gesundheitsförderlich und nachhaltig zu ernähren. Aber die Realität ist so, dass wir eher motiviert werden, erstens zu viel zu essen und zweitens eher die ungesünderen Lebensmittel zu konsumieren.
Musik: Facts & data 0‘31
SPRECHERIN:
Viele Lebensmittel sind hochverarbeitet; haben zu viel Zucker, Salz, Fett. Sie sind permanent verfügbar und werden überall beworben. In Deutschland fordern Forscher eine Zuckersteuer; Politiker wollen Kinderwerbung für Ungesundes verbieten. Aber mehr Regeln für Unternehmen waren schon immer schwer durchzusetzen. Daran hat auch die Kalorie ihren Anteil, sagt Nina Mackert:
ZSP 42 Kalorie Mackert
Das Kalorienzählen erlaubte es im Feld des Abnehmens, aber auch in anderen Feldern […] gesellschaftliche Probleme, strukturelle Ungleichheit […] mangelnden Zugang zu gutem, gesundem Essen als Problem des Individuums zu markieren.
SPRECHERIN:
Also seit dem 19. Jahrhundert das gleiche Argument: Der Einzelne ist „selbst schuld“. Und so bekommen Adipöse bis heute verletzende Sprüche zu hören. Auch Ernährungswissenschaftler Watzl sagt: Es ist falsch, Menschen allein die Schuld für ihr Übergewicht zu geben. Dafür seien die ungesunden Anreize zu groß. Gleichzeitig dürfe man auch niemandem ganz seine Eigenverantwortung absprechen:
ZSP 43 Kalorie Watzl
der Mensch ist immer einzeln, wenn er isst. Er muss für sich die Entscheidungen treffen. Was esse ich? Und da geben wir ganz klar ein Muster vor.
Musik: Creative workshop red 0‘39
SPRECHERIN:
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung veröffentlicht seit ihrer Gründung 1953 alle paar Jahre Empfehlungen, wie man gesund isst und trinkt. Sie sagt, wie viel Hülsenfrüchte, Obst, Getreide, Fleisch es pro Woche braucht, um alle Nährstoffe zu bekommen. Heute geht es also nicht nur um Energiebedarf, sondern auch darum, ob das Essen alles beinhaltet, was man für die Gesundheit braucht. Dabei berücksichtigt die Gesellschaft für Ernährung auch, dass Menschen sich weniger bewegen. Oder dass sich immer mehr vegetarisch oder vegan ernähren.
ZSP 44 Kalorie Watzl
Und ganz neu durch die Empfehlungen, die wir jetzt im März dieses Jahres veröffentlicht haben, die Umweltauswirkungen der Art und Weise, wie wir Lebensmittel in unseren Speiseplan aufnehmen.
SPRECHERIN:
Die besagen: Noch weniger Fleisch und Milchprodukte, dreiviertel der Ernährung: pflanzlich. Bei den Empfehlungen hat sich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung auch an der „Planetary Health Diet“ orientiert. Forschende haben 2019 für das Wissenschaftsjournal The Lancet eine globale Ernährungstabelle erstellt. Das Ziel: Halten sich alle daran, kann die ganze Weltbevölkerung gesund leben und die Klimaerwärmung stoppen. Klingt gut, aber:
ZSP 45 Kalorie Mackert
Die Kommission, die die Planetary Health Diet ersonnen hat, ist eine erstens westlich geprägte Kommission und zweitens eine, die tatsächlich der ganzen Welt erzählen wollen, wie die sich zu ernähren haben.
SPRECHERIN:
sagt die Historikerin Nina Mackert. Der Ernährungswissenschaftler Thomas Watzl widerspricht:
ZSP 46 Kalorie Watzl
Die Daten, die im Rahmen der Planetary Health Diet veröffentlicht wurden, die zeigen ja auch eine Spanne an.
SPRECHERIN:
Bei Milch etwa empfiehlt die Kommission 0 bis 500 Gramm pro Tag. Es sei klar,
ZSP 47 Kalorie Watzl
dass es Länder gibt, wo traditionell kein Milchverzehr üblich ist, weil die Produkte nie verfügbar waren. Und auf der anderen Seite viele Länder Mittel- und Nordeuropas, die haben traditionell eine hohe Produktion und einen hohen Verzehr von Milchprodukten.
Insofern ist es eher ein schlampiger Umgang derjenigen, die das lesen.
Musik: Green planet red 0‘46
SPRECHERIN:
Nina Mackert kennt die Spannweiten und erkennt auch an, wie differenziert die Empfehlungen sind. Trotzdem befürchtet sie, dass auch beim Klimaschutz wieder vor allem die Einzelperson verantwortlich gemacht wird. Und das ist eben nicht alles:
ZSP 48 Kalorie Mackert
Wer produziert dieses Essen, auf welche Art und Weise zum Beispiel
Welche Menschen haben Zugang zu welchem Essen? Wie wird das Essen, wie werden die Nahrungsmittel transportiert, über welche Distanzen? Das sind alles Fragen, die meines Erachtens viel entscheidender für Fragen von Klimaschutz zum Beispiel sind als die Kalorienzahl der individuellen Ernährung.
Ob auf dem Jakobsweg, der indischen Kumbh Mela oder der muslimischen Haddsch: Pilgern liegt weltweit im Trend. Seit Jahrtausenden machen sich Menschen auf zu heiligen Orten, Flüssen, Bergen, Gurus. Warum eigentlich? Von Sylvia Schopf (BR 2015)
Autorin dieser Folge: Sylvia Schopf
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Caroline Ebner, Rainer Buck, Thomas Loibl
Technik: Max Meyke
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Wissenswertes zum Jakobsweg finden Sie bei der Deutschen St. Jakobus - Gesellschaft e.V.:
EXTERNER LINK |https://deutsche-jakobus-gesellschaft.de/index.php?id=startseite
Wir bedauern heute den Verlust unserer Privatsphäre durch Digitalisierung und Internet. Aber geschichtlich gibt es das Konzept der Privatsphäre noch gar nicht so lange. Von Sabine Straßer (BR 2020)
Credits
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Diskretion - das klingt nach einer altmodischen Tugend, ist aber eine komplexe soziale Übung. Gefühl, Körper, Geld: Diskretion zieht eine Grenze um das, was wir als besonders privat empfinden. Von Beate Meierfrankenfeld (BR 2020)
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Die Folgen des Klimawandels bedrohen das ewige Eis: Gletscher, Eisschilde, Meereis und Permafrostböden tauen auf. Infolgedessen wird es vermehrt zu Überflutungen, Lawinen, Erdrutschen und Steinschlägen kommen. Von Claudia Steiner (BR 2019)
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Es gibt wohl nur wenige Musikrichtungen, die so polarisieren wie Country-Music. Ihre Fans lieben sie als Inbegriff einer patriotisch-konservativen heilen Welt, Skeptiker betrachten sie als verlogene Cowboy-Romantik und reaktionären Farmer-Kitsch. Doch die Ursprünge der weißen Popularmusik liegen nicht in Nashvilles Tonstudios, sondern in der Wildnis der Appalachen. Von Markus Vanhoefer (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Stefan Wilkening, Peter Weiß
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Literaturtipps:
Kurt Wolff: “The Rough Guide to Country Music”. London 2000
Div. Autoren: “The Rough Guide World Music- Band 2”. London 2000
Thomas Jeiner: “Das neue Lexikon der Cpuntry-Music“. München 1992
Johnny Cash/ Patrick Carr: “Cash. The Autobiography”. San Francisco 1997
Colin Escott: “I Saw The Light”. London 2015 ( Biographie v. Hank Williams)
Seine Seereise von Portugal über Afrika nach Indien läutet Ende des 15. Jahrhunderts das Zeitalter der europäischen Dominanz in Afrika und Südostasien ein, eröffnet den Weg für Ausbeutung und Kolonialisierung. Von Steffi Illinger
Credits
Autorin dieser Folge: Steffi Illinger
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Peter Weiß
Technik: Heiko Hinrichs
Redaktion: Karin Becker
Im Interview:
Dirk Friedrich, Historiker, Übersetzer, Herausgeber
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Literatur:
Dirk Friedrich: Vasco da Gamas erste Fahrt nach Indien 1497-1499. Ein Augenzeugenbericht. 2014
Luis de Camoes: Die Lusiaden. Hrsg. Von Dirk Friedrich 2013
Roger Crowley: Die Eroberer. Portugals Kampf um ein Weltreich. 2015
Ulli Kulke: Vasco da Gama. Die Suche nach den Gewürzinseln. 2011
Vasco da Gama:Die Entdeckung des Seewegs nach Indien. Ein Augenzeugenbericht 1497-1499, hrsg. Von Gernot Gierz, 1980
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Eine simple Grabplatte in einer Kirche, eingelassen im steinernen Fußboden - viel mehr erinnert nicht an den Mann, der die Portugiesen durch damals für sie unbekannte Gewässer bis hierhergeführt hat – an die legendäre Malabar-Küste in Südindien.
Lediglich sein Name ist hier eingraviert: Vasco da Gama – so steht es in der Franziskaner-Kirche der Stadt Kochi, der ältesten von Europäern gegründeten Kirche Indiens.
Vasco da Gama hatte als erster Europäer den Seeweg nach Indien gefunden.
Aus indischer Sicht endete hier allerdings keine Heldenreise: denn dieser Vasco da Gama hat mit seiner Entdeckungsfahrt auch das Zeitalter der Unterdrückung und Ausbeutung Indiens eingeleitet.
Ganz anders ist das Gedenken bis heute in Portugal:
OT 1 Dirk Friedrich
Also auf die Figur Vasco da Gama blickt man nach wie vor sehr, sehr positiv.
Vasco da Gama begegnet einem im Alltag ständig und überall. Es gibt Straßen und Plätze, sind nach ihm benannt und Hotels und Restaurants und Schulen, das Vasco-da-Gama-Shopping-Center, also Vasco da Gama, begegnet einem überall und ständig.
SPRECHERIN
Der Historiker Dirk Friedrich lebt und arbeitet in Portugal und hat im Eigenverlag auch den Augenzeugenbericht über die erste Reise dieses Vasco da Gama herausgegeben, den roteiro da primeira viagem de Vasco da Gama a India.
GERÄUSCH - Meerrauschen
ZITATOR – Augenzeugenbericht – wie ein „historischer“ Ansager
„Im Namen Gottes, Amen! Im Jahr 1497 sandte König Dom Manuel, der erste dieses Namens in Portugal, vier Schiffe auf Entdeckung aus, die Gewürze bringen sollten. Als Kommandant der Schiffe fuhr Vasco da Gama und von den anderen Schiffen befehligte eines sein Bruder Paulo da Gama und ein anderes Nicolao Coelho…“
MUSIK veni sanctus spiritus 0‘42
SPRECHERIN
Vasco da Gama ist etwa 28 Jahre alt, als ihn der portugiesische König Manuel I. auf die Seereise Richtung Indien schickt:
Vermutlich wird er um 1469 in Südportugal geboren und stammt aus niedrigem Adel, sein Vater ist Provinz-Gouverneur in Sines. Als Jugendlicher wird er aufgenommen in den Orden der Christusritter, zu seiner Zeit eine Art portugiesischer Kreuzritterorden der Seefahrt.
Sehr viel weiß man nicht über das Vorleben des Mannes, den der portugiesische König an die Spitze dieser bestens vorgeplanten Expedition stellt:
OT 2
Also sprich, er hat diesen Job nicht bekommen, weil er ein besonderer Seefahrer war. Sondern vermutlich eher, weil er über andere Fähigkeiten verfügte. Also das Kommando eines Schiffes, das Kommando einer Flotte und die Navigation des Schiffes, das waren zwei recht unterschiedliche Dinge. Und was Vasco da Gama also für die Position brauchte oder mitbrachte, das war vermutlich Entschlossenheit und er brachte wahrscheinlich auch diplomatische Fähigkeiten mit.
SPRECHERIN
Schon mehr ist über Art und Ausstattung der Expedition bekannt:Vasco da Gamas Fahrt fußt auf jahrzehntelangen Bemühungen der Portugiesen, in den Atlantik Richtung Süden vorzustoßen, Schritt für Schritt hatten sie sich an der afrikanischen Küste vorangeschoben. Ihr Ziel: das sagenhafte Land, wo der Pfeffer wächst. Der Handel mit den kostbaren Gewürzen Indiens war fest in muslimischer Hand, seit Konstantinopel 1453 durch die Osmanen erobert worden war. Der Landweg nach Indien war den Europäern verschlossen, also galt es, den Seeweg zu finden.
MUSIK Manfredina e rotta (C1433700016) 0‘25
Rund 10 Jahre vor Vasco da Gama erreicht Bartolomeu Dias im Jahr 1488 das sturmumtoste Cap der guten Hoffnung an der Spitze Südafrikas. Er tut dies mit wendigen Karavellen, dreimastigen Segelschiffen mit wenig Tiefgang, ideal, um die Flüsse des unbekannten Kontinents zu erkunden – aber unpraktisch auf hoher See.
Nach der Umrundung des Caps zwingt ihn seine Mannschaft zur Umkehr, doch seit Dias` Fahrt ist klar: Afrika kann umfahren werden, der Weg Richtung Indien liegt im Bereich des Möglichen.
Für die erneute Expedition hat die Seefahrtsbehörde des Königs einen neuen Schiffstyp entwickeln lassen, die Nao: sie konnte härter am Wind segeln und der unruhigen Tiefsee trotzen, und gleichzeitig mehr Ladung und Proviant aufnehmen für die endlose Reise in unbekannte Gewässer.
MUSIK L’homme armé 0‘33
SPRECHERIN
Die Einschiffung von Vasco da Gama und seiner Mannschaft im Juli 1497 ist ein pompöser Staatsakt:
In der Lissaboner Kathedrale werden die Kommandanten der vier Schiffe feierlich gesegnet, König Manuel und die Bevölkerung verabschieden die Seefahrer ein zweites Mal an der Tejo-Mündung, bevor sie die Segel mit den markanten roten Kreuzen des Christusritterordens hissen und Richtung Atlantik am Horizont verschwinden.
Mit Vasco da Gama segeln:
rund 150 Mann Besatzung und 12 Strafgefangene, vorgesehen für Landgänge in unbekannten Territorien.
Mitgeführt werden außerdem Briefe König Manuels an die christlichen Herrscher in Indien, denn die Portugiesen gehen davon aus, dass sie christliche Königreiche finden werden.
An Bord sind zudem zwanzig Geschütze und die sogenannten Padroes, steinerne Wappensäulen, die die portugiesische Landnahme markieren sollen.
GERÄUSCH / Meeresrauschen
Vasco da Gama segelt südwärts, vorbei an den Kanaren und den Kapverden, doch dann bricht er mit der Schifffahrts-Route seiner Vorgänger. Er hangelt sich nicht an der Küste Westafrikas entlang, sondern folgt den Passatwinden und Meeresströmungen und schlägt Kurs Südwest ein, fährt mitten hinein in den atlantischen Ozean. Drei Monate befinden sich die Portugiesen auf hoher See, sehen nichts als Wasser, Wellen und Wolken, bevor der Kommandant Richtung Osten beidrehen lässt, um so besser um das gefürchtete Kap herum zu kommen – was ihm mit einigen Rückschlägen auch gelingt.
OT 3
Dem Bericht zufolge hat er genau die Eigenschaften, wegen der er vermutlich ausgewählt wurde. Also er war entschlossen.
Er war grundsätzlich diplomatisch und abwägend, war aber auch jederzeit in der Lage, hart durchzugreifen und sich Respekt zu verschaffen. Er lässt foltern, er lässt Geiseln nehmen, wenn ihm das eben unterwegs opportun erschien.
MUSIK Maluf 0‘29
SPRECHERIN
Mit seinen vier Schiffen tastet er sich an der Küste Ostafrikas entlang Richtung Norden und hinein in den arabisch-muslimisch geprägten Kulturraum – über Mosambique und Mombasa bis nach Malindi. Nicht überall sind die Fremden willkommen, doch im Hafen von Malindi nimmt der lokale Fürst die Fremden freundlich auf und stellt ihnen einen Lotsen zur Verfügung, mit dem Vasco da Gama die Überfahrt wagen kann, über den indischen Ozean.
Denn im Gegensatz zur Route entlang der afrikanischen Küste handelt es sich hier um einen vielbefahrenen Seeweg, auf dem Gewürze, Seide, Juwelen von China über Indien nach Persien und Ägypten verschifft werden.
Nach nur 23 Tagen taucht die palmengesäumte Küste Südindiens auf:
SPRECHERIN
Drei Tage später erreichen sie ihr Ziel, die Hafenstadt Kalikut, Umschlagplatz für den asiatisch-arabischen Gewürzhandel, Zwischenstation auf den Handelsrouten einer längst globalisierten Welt, in der die Europäer die eigentlichen Randfiguren sind.
OT 4
Ich glaube tatsächlich, dass das die Portugiesen davon überrascht waren, wie groß der dortige Handelsplatz ist, wie international dort Handel getrieben wird und in welch ein politisches und kulturelles Zentrum sie dort kommen. Das hat die Portugiesen ganz sicher überrascht. Und das ist ja auch letzten Endes etwas, was eigentlich bis heute in der auf jeden Fall Geschichtsschreibung aus europäischer Sicht deutlich zu kurz kommt.
SPRECHERIN
Vasco da Gama war durch feindselige Erlebnisse an der afrikanischen Küste vorsichtig geworden – bevor er selbst an Land geht, schickt er als Boten einen der Strafgefangenen in die Stadt, der nach seiner Rückkehr von einem seltsamen Erlebnis berichtet:
MUSIK Puer natus est 0‘10
ZITATOR
…und die, mit denen dieser ging, führten ihn zu zwei Mauren aus Tunis, die kastilisch und genuesisch sprechen konnten…
SPRECHERIN
Tatsächlich, die Portugiesen haben die längste Seereise der bisherigen Geschichte angetreten, um in europäischen Sprachen begrüßt zu werden.
MUSIK Puer natus est 0‘23
ZITATOR
Und der erste Gruß, den sie ihm zuriefen, war der folgende: „Hol dich der Teufel! Wer hat dich hierhergebracht?“ Und sie fragten, was wir so weit in der Ferne suchten, und er antwortete ihnen: „Wir kommen, um Christen und Gewürze zu suchen.“
OT 5
Kalikut, wo er gelandet ist, war eben ein ganz, ganz großes Zentrum. Und dort sind solche Nachrichten eben schneller angekommen als Vasco da Gama selber. Und die Mauren haben ihn zum einen ein bisschen gefürchtet, eben wegen möglicherweise auch wegen seiner, seiner Brutalität oder wegen seines Rufes, der Brutalität, der ihm vorausgeeilt ist. Aber dann, irgendwann haben sie ihn auch erkannt. Äh, da kommt ein neuer Player auf diesem Markt, der hier Geschäfte machen möchte. Man hat ihn, den Portugiesen, also auch unter wirtschaftlichen Aspekten eine Konkurrenz vermutet.
SPRECHERIN
Immer wieder unterliegen die Portugiesen Fehleinschätzungen, zeigt sich ihr eingeschränkter Horizont und ihre Unkenntnis anderer Kulturen.
Und sie bleiben überzeugt, gefunden zu haben, was sie neben Gewürzen auch suchen – nämlich Christen am anderen Ende der Welt. Dieser Gewissheit folgend deutet der Augenzeuge auch hinduistische Tempel zu christlichen Kirchen um:
Musik Harappa 0‘49
ZITATOR:
Der Gesamtbau der Kirche ist von der Größe eines Klosters, ganz aus behauenem Stein…und in der Mitte der Kirche ist ein Turm ganz aus Stein mit einer Tür…die aus Bronze war, und innen drin war ein kleines Bild, von dem sie sagten, dass es die Mutter Gottes sei…und viele andere Heilige waren an die Wände der Kirche gemalt, sie hatten Diademe, und ihre Darstellung war fremdartig, denn die Zähne waren so groß, dass sie einen Zoll aus dem Mund heraus kamen, und jeder Heilige hatte vier oder fünf Arme…
SPRECHERIN
Ausgestattet mit dem Selbstbewusstsein christlicher Eroberer müssen sie hier allerdings realisieren, dass man sie nicht wirklich ernst nimmt.
Ihr Ziel: eine Audienz beim Zamorin, dem regionalen Herrscher, den sie König nennen. Mit ihm soll Vasco da Gama Handels-Verträge abschließen.
Doch die Begegnungen leiden von Anfang an unter Missverständnissen und einer gestörten Kommunikation. Und das fängt schon bei den Gastgeschenken an. Mit ihren Gaben
MUSIK Puer natus est 0‘20
ZITATOR
… zwölf Bahnen gestreiftem Tuch, vier scharlachroten Kapuzzen, sechs Hüten, vier Korallensträngen, sechs Handwaschbecken, einer Kiste Zucker und jeweils zwei Fässer Honig und Öl…
SPRECHERIN
…können die Portugiesen nicht beeindrucken. Vasco da Gama kann sich nur in die diplomatische Ausflucht retten, bei einer nächsten Expedition von
OT 6
Er wurde immer wieder vertröstet. Es wurde eben gegen ihn intrigiert. Also er musste sich dieser schlechten Nachrede der Mauren beim Zamorin widersetzen. Und bei dem Ganzen natürlich gleichzeitig sehr, sehr diplomatisch und bedächtig bleiben.
Und zum einen waren die Portugiesen einfach dort der kleinste Fisch im Aquarium, also ganz, ganz schwach vertreten und …hatten ja noch keinen Fuß gefasst in der Region.
SPRECHERIN
Die Rückreise gestaltet sich dramatisch: Denn die Portugiesen brechen überstürzt auf, in Unkenntnis der Monsun-Zeiten und Strömungen.
Die Witterungsverhältnis machen diese Seefahrt für die Besatzung zu einer Katastrophe:
MUSIK Archaischer Gesang (C1480470044) 0‘47
Es herrscht Flaute auf hoher See, die genauso bedrohlich ist wie heftige Stürme: denn jetzt wird die Versorgung mit frischen Nahrungsmitteln zum Problem,…
ZITATOR
…derart, dass uns die ganze Mannschaft am Zahnfleisch krank wurde, das ihnen über die Zähne wuchs, so dass sie nichts essen konnten.
SPRECHERIN
Der gefürchtete Skorbut:
ZITATOR
Auch schwollen ihnen die Beine an, und es wuchsen auch sonst am Körper große Geschwüre, die einen Mann so schädigten, dass er starb, ohne irgendeine andere Krankheit zu haben. Daran starben uns in dieser Zeit 30 Leute… (S.77)
SPRECHERIN
Rund 100 seiner Leute verliert Vasco da Gama durch die Mangel-Krankheit. Sie werden 93 Tage und damit dreimal so lange für die Überquerung des indischen Ozeans brauchen, wie auf der Hinreise.
Und dann trifft den Kommandanten auch noch ein privater Schicksalsschlag:
Sein Bruder Paolo da Gama, der das Kommando über das zweite Expeditionsschiff hat, erkrankt schwer. Vasco da Gama lässt Halt machen auf den Azoren – und es bleibt ihm nur, seinen Bruder beim Sterben zu begleiten.
Das Ausmaß seiner Trauer lässt sich nur erahnen: Vasco zieht sich neun Tage in ein Kloster zurück, bevor er sich endgültig auf die Heimfahrt begibt nach Lissabon.
Da war das dritte Expeditionsschiff schon vorausgefahren und als erstes am Ziel. Vasco da Gamas Erfolg schmälert das nicht: Der Kommandant hatte für Portugal und für die Europäer den Seeweg nach Indien gefunden.
MUSIK L’homme armé 0‘39
Und nicht nur das: 1800 neue Orte haben die Portugiesen auf ihren Seekarten verzeichnen können, sechs neue Padroes, also Wappensäulen, als Wegmarken an der ostafrikanischen Küste und zwei in Indien gesetzt und damit ihren Anspruch bekräftigt über weite Landstriche dieses Globusses. Der König, Manuel I., nennt sich nun „Herr der Eroberungen, der Seefahrt und des Handels mit Äthiopien, Arabien, Persien und Indien.“
Geräusch Wasser + Kanonen
Bereits im Jahr 1500 startet die nächste Expedition, nun mit 13 Schiffen und rund 1500 Mann Besatzung. Diesmal heißt der Kommandant Pedro Alvarez Cabral, er lässt sich so weit nach Westen treiben, dass er nebenbei Brasilien entdeckt, bevor er Indien ansteuert.
Sein Ziel, in Kalikut eine Faktorei, also einen Handelsstützpunkt zu errichten, endet mit einer Eskalation: 50 Portugiesen und etwa 500 arabische Seeleute sterben in den Auseinandersetzungen, Cabral lässt Kalikut bombardieren, bevor er im südlicher gelegen Kochi freundlicher aufgenommen wird.
MUSIK Magnum miraculum 0‘41
SPRECHERIN
Und 1502 sticht auch Vasco da Gama wieder in See Richtung Indien. Diesmal führt er eine Flotte von 20 Schiffen, allesamt hochgerüstet und mit Kanonen bestückt.
Nun steht er keiner Expeditionsreise in unbekanntes Gebiet mehr vor.
Vasco da Gama wird von seinem König losgeschickt, um einen Handels- und Glaubenskrieg zu führen. Er soll sich nicht mehr mit Diplomatie aufhalten, sondern mit Bombardements Handelsniederlassungen erzwingen und die verhassten Mauren vertreiben. Entsprechend auch sein Titel: „Admiral der Indischen Meere“.
OT 7
Der Zweck diesmal war es, entlang der Route und in Indien Handelsstützpunkte zu errichten, die portugiesischen Interessen also durchzusetzen und vor allen Dingen auch lokale Widerstände zur Not mit Waffengewalt wieder niederzuschlagen... Wahrscheinlich sind es tatsächlich die Waffen und die Entschlossenheit, diese Waffen auch einzusetzen, die die Portugiesen da, …dort den Vorteil verschafft. Denn wie es nachher dargestellt wurde und wie es ja heutzutage noch ganz, ganz häufig zu hören ist, ist Portugal dorthin gekommen und hat sozusagen die Zivilisation dorthin gebracht. Also Handel und Zivilisation sind erst mit den Portugiesen dort nach Indien gekommen, aber das ist eben ist totaler Quatsch.
SPRECHERIN
Schon auf der Hinreise statuiert Vasco da Gama ein Exempel, das an Grausamkeit kaum zu übertreffen ist:
GERÄUSCH - KANONENHALL
Er lässt ein Schiff festsetzen, die Miri, auf dem sich über 300 Mekkapilger auf der Rückreise nach Indien befinden, Kaufleute mit ihren Frauen und Kindern. Diese glauben anfangs noch, dass es um einen Akt von Piraterie geht und versuchen, ein Lösegeld zu verhandeln. Doch der Admiral lässt das Schiff beschießen, Feuer legen und schaut ungerührt zu, wie es manövrierunfähig auf hoher See untergeht. Am Ende sind alle an Bord der Miri tot, Frauen, Männer und Kinder, bis auf 20, die Vasco da Gama mitnimmt, um sie später in ein portugiesisches Kloster zu zwingen.
Diesmal lässt sich Vasco da Gama auch nicht auf langwierige Verhandlungen ein mit dem Herrscher von Kalikut. Er fordert vom Zamorin, alle muslimischen Händler hinauszuwerfen – eine Ungeheuerlichkeit angesichts der Jahrhunderte andauernden Handelsbeziehungen. Und er lässt Geiseln nehmen:
MUSIK Wol auff wir werden s’laufen 0‘41
ZITATOR
Und als der Admiral in dieser Stunde sah, dass vom König keine Botschaft kam, nahm er zweiunddreißig Mauren, …und befahl, sie auf den Schiffen aufzuhängen, damit man sie von der Stadt sehen könne. Als sie aufgehängt waren, wurden Geschütze abgefeuert, und wir sahen Häuser und Palmen einstürzen. Am Nachmittag befahl der Admiral, alle Mauren herunterzunehmen und ihnen die Köpfe, Hände und Füße abzuschneiden und alles mit Ausnahme der Körper, die sie in das Meer warfen, mit einem Brief in ein kleines Boot zu legen. (S.165)
SPRECHERIN
Die Inder sehen in den Portugiesen brutale Piraten – doch Vasco da Gama kann die Rivalität der indischen Fürsten ausnützen. Freundliche Aufnahme findet er im südlicher gelegenen Kochi. Der dortige Raja, der lokale Herrscher, möchte seinerseits die Oberhoheit des Zamorins in Kalikut loswerden – und erlaubt den Portugiesen, ein Fort zu bauen, der erste Brückenkopf der Portugiesen in Indien.
MUSIK Archaischer Gesang 0‘24
Als Vasco da Gama 1503 von seiner zweiten Indienreise zurückkehrt, hinterlässt er an der Malabar-Küste eine Blutspur, der weitere und noch grausamere Eroberungsfahrten der Portugiesen folgen – sie verleiben Indien ihrem Königreich nach und nach ein.
Vasco da Gama selbst zieht sich nach dieser Reise ins Privatleben zurück, wird in den Hochadel aufgenommen, mit seiner Frau bekommt er sieben Kinder. Möglicherweise hatte er sich mehr Anerkennung von seinem König, Manuel I. erwartet – es werden 21 Jahre vergehen, bis er noch einmal nach Indien entsandt wird, von Manuels Nachfolger, König Joa III.
Diesmal wird Vasco da Gama als frischernannter Vizekönig von Indien dorthin geschickt, um für Ordnung sorgen. Denn die Herrschaft der Portugiesen über Südindien ist durch Misswirtschaft und persönliche Bereicherung geprägt. Da soll der Kommandant zweier erfolgreicher Indienfahrten nach dem Rechten sehen.
MUSIK Harappa 0‘41
Vasco da Gama trifft im September 1524 zum dritten Mal in Indien ein, diesmal mit 14 Schiffen und rund 3000 Mann Besatzung, und er beginnt aufzuräumen. Doch er ist geschwächt, Geschwüre am Hals hindern ihn am Sprechen, möglicherweise hat er sich mit Malaria infiziert.
Er stirbt noch im selben Jahr am Weihnachtstag, dem 24.Dezember 1524, in Kochi, und wird in einer Kirche bestattet, die portugiesische Franziskaner hier errichtet haben.
Doch seine Totenruhe währt nicht lange:
1538 werden seine Gebeine nach Portugal überführt, und viel später dann, 1898 wird er nochmals umgebettet:
er erhält ein prachtvolles Ehrengrab im Jeronimos-Kloster in Belém bei Lissabon.
Ein literarisches Denkmal hatte er da schon erhalten: In den „Lusiaden“ feiert der Schriftsteller Luis de Camoes 1572 den Seefahrer der Nation:
MUSIK L’homme armé 0‘19
ZITATOR
Vasco da Gamas, der mutvolle Kapitän,
der sich so großem Wagnis unterzog,
hochschwellenden und selbstvertrauenden Herzens,
dem jederzeit erwies das Glück die Gunst…
SPRECHERIN
Ein Heldenepos, das die portugiesische Geschichte ganz im Sinne nationaler Größe deutet, Vasco da Gamas Fahrt beschreibt als Endpunkt der portugiesischen Entdeckungsfahrten und Ausgangspunkt für ein portugiesisches Weltreich.
OT 8
Und er lässt ihn eben auch sämtliche Abenteuer dieser Reise bestehen, also Abenteuern, Widrigkeiten, die es tatsächlich gegeben hat. Er selber erfindet aber auch noch einiges dazu. Also etwa im mit ständigem Rückgriff auf die römische oder griechische Mythologie lässt er also verschiedene Götter für oder gegen Vasco da Gama und seine Flotte agieren. Und das Ganze wurde bald zum zum Nationalepos und hat dann eben sehr zur Verbreitung des Ruhmes Vasco da Gama beigetragen.
MUSIK 3 Recercari 0‘30
SPRECHERIN
In Portugal bleibt Vasco da Gama der gefeierte Entdecker des Seewegs nach Indien:
OT 9
Er wird nach wie vor tatsächlich als eine Art Held verehrt, bzw. ist die Personifizierung mittlerweile vergangener nationaler Größe. Also er selber wird sehr, sehr unkritisch betrachtet.
Umweltorganisationen gehen davon aus, dass nur große globale Schutzgebiete den Klimawandel und das Artensterben aufhalten können. 50 Prozent des Planeten müssten und könnten unter Schutz gestellt werden, es sei der günstigste und einfachste Weg. Von Marko Pauli (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Marko Pauli
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Irina Wanka, Andreas Neumann, Diana Gaul
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Eric Dinerstein, Biologe und Sachbuchautor;
Bernie Krause, Natur- und Klangforscher;
Günter Mitlacher, Leiter internationale Naturschutzpolitik beim WWF;
Jana Ballenthien, Jana Ballenthien, Waldreferentin bei Robin Wood;
Pierre Ibisch, Professor an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung;
Karin Neumann, Sprecherin Aktionsbündnis "Beltretter";
Ana Bugnot, Ökologin
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin
Nach der Auswertung von 14.000 Studien zur klimatischen Entwicklung ist der Weltklimarat zu dem Schluss gekommen, dass das Ziel von nur 1,5 Grad Erwärmung wohl nicht erst 2040 überschritten wird, sondern bereits Anfang der 2030er. Dürren, Stürme, Starkregen - Wetterextreme werden sich häufen. Der Meeresspiegel wird ansteigen, bis zum Jahre 2100 im ungünstigen Fall auf bis zu zwei Meter. Zeitgleich findet ein großes Artensterben statt, seit 1970 sind global 68 Prozent der Wirbeltierbestände zurückgegangen.
Musik 2
"Path leading to the high grass" - Album: Shenzhou - Komponist: Geir Jenssen - Touch TO 55 - Länge: 0'10
Sprecherin
Noch ist es nicht zu spät für Artenvielfalt und Klima. Doch schnelleres und konsequenteres Handeln ist nötig.
Atmo 02 Global Safety Net
Sprecherin
Das Global Safety Net ist eine Studie*, veröffentlicht im Fachblatt Science Advances, in der ein Wissenschaftlerteam ermittelt hat, in welchen Regionen auf der Welt Schutzzonen nötig wären, um das rasante Tempo, in dem Artensterben und Klimaerhitzung voranschreiten, zu verlangsamen. Große Schutzgebiete seien der logische, einfachste und finanziell günstigste Weg, um beides zu erreichen, sagt Eric Dinerstein [Aussprache: Dinnerstein (spitzes s)], US-amerikanischer Biologe und Hauptautor der Studie:
O-Ton 01 Dinerstein
What is the foundation ... we've done in the paper.
Overvoice (männlich)
"Zugrunde liegt, dass die Lösung des Problems des sechsten großen Artensterbens, des Verlusts der biologischen Vielfalt und die Lösung des Problems des Klimawandels voneinander abhängen. Man kann das eine nicht ohne das andere lösen. Wenn die Temperatur weiter steigt, verwandelt sich der Amazonas von einem Regenwald in eine Savanne. Wir verlieren dann nicht nur die dort lebenden Arten, sondern auch die Fähigkeit, eine riesige Menge an Kohlenstoff abzubauen. Es ist also eine doppelte Katastrophe. Deshalb ist es so wichtig, eine Lösung zu finden, die beide Probleme angeht, und genau das haben wir in diesem Papier getan."
Sprecherin
Die angedachten Schutzzonen im Global Safety Net, dem weltweiten Sicherheitsnetz, sind online auf einer Weltkarte zu sehen.
Musik 3
"Part 04" - Ausführender und Komponist: Stephan Micus - Album: Ocean Länge: 0'40
Sprecherin
Die erste Ebene, grün gezeichnet, lässt die bereits existierenden 15 Prozent Schutzzonen erscheinen. Hinzu kommen fünf weitere Ebenen: Gebiete für seltene Arten und solche mit hoher biologischer Vielfalt, Landschaften für große Säugetiere, derzeit noch intakte Wildnisgebiete und Gebiete zur Klimastabilisierung. Das Team um Eric Dinerstein hat zwei Jahre am Global Safety Net gearbeitet:
O-Ton 02 Dinerstein
And from there ... and so on.
Overvoice (männlich)
„Die verschiedenen Ebenen sind aus den wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnissen der verschiedenen Spezialisten für biologische Vielfalt auf der Welt entstanden: Wo gibt es gefährdete Vögel, Säugetiere, Reptilien, Amphibien und Pflanzen und so weiter.“
Sprecherin
Eric Dinerstein war 25 Jahre lang leitender Wissenschaftler beim WWF und dort u.a. beteiligt an Naturschutzplänen in aller Welt. Für das Safety Net am wichtigsten, so Dinerstein, sei der Schutz der tropischen Regenwälder.
Diese bedecken zwar nur noch rund sieben Prozent der Erdoberfläche, hier leben aber nach Schätzungen mehr als 30 Millionen Tier- und Pflanzenarten, und viele davon sind stark gefährdet.
Damit dort, aber auch in abgelegenen Gegenden auf der Nordhalbkugel Schutzzonen entstehen können, sei das Engagement westlicher Länder nötig.
O-Ton 03 Dinerstein
By far the single most important investment ... So that's critical.
Overvoice (männlich)
"Die bei weitem wichtigste Einzelinvestition, die wir tätigen können, um eine lebendige Biosphäre für künftige Generationen zu sichern, ist die Investition in die Unterstützung indigener Völker, um das Land, das sie beanspruchen, besser zu schützen. Etwa 37 Prozent des Safety Nets wird von indigenen Gruppen bewohnt. Wir können helfen, indem wir diese indigenen Gemeinschaften besser finanzieren und mit ihnen zusammenzuarbeiten - wenn sie sich denn dafür entscheiden, Teil des Safety Nets zu sein, und das ist natürlich ihre Entscheidung.
Sprecherin
Menschenrechtler geben zu bedenken, dass neue Schutzgebiete bisher oft eingerichtet wurden, ohne dabei die Rechte der indigenen Bevölkerung zu beachten. Das soll hier anders sein, betont Dinerstein. Die Bevölkerung möglicher Schutzgebiete soll ansässig bleiben, ansonsten aber der Kontakt zwischen Menschen und Wildnis stark eingeschränkt werden. Das könnte auch das Aufkommen und die Verbreitung neuartiger Viren verhindern.
O-Ton 04 Dinerstein
Overvoice (männlich)
Durch die Verringerung von Kontaktzonen retten wir nicht nur die Artenvielfalt dieser Wälder, erhalten den Kohlenstoff und schützen unser Klima, wir verringern auch die Wahrscheinlichkeit künftiger Pandemien.“
Atmo 03 Krause 01 - Tropischer Regenwald
Sprecherin
Was für einzigartige Lebensräume die tropischen Regenwälder sind, ist in den Aufnahmen des Bioakustikers Bernie Krause [Aussprache: Böhrni Krauss] zu erahnen. Krause spricht von "Biophonien" und meint das Zusammenspiel der einzelnen Tierstimmen - ein "Orchester der Tiere"**, in dem jede Tierart eine eigene akustische Nische besetze.
Atmo Krause hoch
Sprecherin
In den tropischen Regenwäldern leben nicht einfach nur Tierarten, hier wird nicht einfach nur CO2 gespeichert, betont Bernie Krause, hier lebten auch unsere Vorfahren einst selbst und eng verbunden mit der Natur. Hier seien die Ursprünge der menschlichen Kultur zu finden.
O-Ton 05 Krause
Animals taught us to dance and sing ... language, spirituality, medicine from it.
Overvoice (männlich)
"Aus den Tierstimmen, die aus den Lebensräumen kamen, in denen wir einst lebten, haben wir die Rhythmen, die Melodien und die Anordnung der Klänge herausgehört und nachgeahmt. Wir haben diese natürlichen Gaben dann in unseren musikalischen Ausdruck integriert.
Und daraus entwickelte sich nicht nur die Musik, sondern auch die Sprache.
Musik 4
"Part 04" - Ausführender und Komponist: Stephan Micus - Album: Ocean Länge: 0'55
Sprecherin
Die größten Schutzzonen im Global Safety Net würden weit im Norden der Erde entstehen, in abgelegenen Regionen in Nordasien und Kanada - Lebensraum für große Säugetiere wie Bären, Bisons, Pumas und Luchse. Zwischen den Schutzzonen sind Verbindungsstrecken geplant, mit denen es Wildtieren und Pflanzen ermöglicht werden soll, sich in andere Gebiete auszubreiten. Diese ohnehin notwendige Voraussetzung zum Überleben wird noch wichtiger werden, denn es ist davon auszugehen, dass sich die Bestände vieler Arten räumlich verschieben müssen, da sie aufgrund des Klimawandels zukünftig in ihrem bisherigen Biotop nicht mehr existieren können. Die Verbindung der Biotope spielt im Global Safety Net eine wichtige Rolle:
O-Ton 06 Dinerstein
How much land would it take ... traveling from A to B to C.
Overvoice (männlich)
"Wie viel Land würde man benötigen, um alle Schutzgebiete und alle intakten Gebiete der Erde miteinander zu verbinden?
Wenn wir das mit 2,5 Kilometer breiten Korridoren tun würden, benötigten wir dafür nur etwa 2,7 Prozent der Erdfläche. Im Falle des Klimawandels können Arten so auch von einem Gebiet in ein anderes umziehen."
Sprecherin
In Deutschland ist die Verbindung der einzelnen Biotope seit 2002 im Naturschutzgesetz als Ziel verankert, die Bundesländer sollen dafür eigentlich zehn Prozent ihrer Flächen zur Verfügung stellen. Doch davon ist man weit entfernt.
Musik 5
"Part 04" - Ausführender und Komponist: Stephan Micus - Album: Ocean Länge: 0'15
Sprecherin
Sind alle fürs Safety Net angedachten Ebenen aktiviert, ergibt sich ein riesiges Netz von Schutzgebieten, Kohlenstoffsenken und Verbindungen dazwischen.
O-Ton 07 Dinerstein
We come up with ... intact habitats on Earth.
Overvoice (männlich)
„Wir kommen insgesamt auf etwa 46 Prozent der Erdoberfläche, die geschützt werden müssen. 15 Prozent sind bereits geschützt, weitere 31 Prozent müssen hinzukommen, und dann noch ein bisschen mehr für Korridore, die alle intakten Lebensräume auf der Erde miteinander verbinden.“
Musik 6
"Path leading to the high grass" - Album: Shenzhou - Komponist: Geir Jenssen - Touch TO 55 - Länge: 1'17
Sprecherin
Die halbe Erde unter Schutz!? - Sehr schwierig das umzusetzen, meint Günter Mitlacher, Leiter Internationale Biodiversitätspolitik beim WWF Deutschland:
O-Ton 08 Mitlacher
50 Prozent der Erdoberfläche unter Schutz zu stellen wäre eine riesige Anstrengung. Man muss auch fragen, ob sie zum Erfolg führen würde, weil der Druck ist ja dann noch größer auf den anderen 50 Prozent. Und ob die Verteilung von Land auf dieser Erde so sein wird, dass 50 Prozent quasi für Natur und nachhaltige Bewirtschaftung reserviert werden würde, das glaube ich hat wenig Attraktivität bei Politikern.
Musik 7
"Path leading to the high grass" - Album: Shenzhou - Komponist: Geir Jenssen - Touch TO 55 - Länge: 1'17
Sprecherin
Entscheidend sei, so Günter Mitlacher, wie in geschützten und ungeschützten Gebieten mit dem jeweiligen Boden umgegangen wird:
O-Ton 09 Mitlacher
Die Idee ist einfach, dass man Gebiete hat, die anders bewirtschaftet werden, die ökologischer bewirtschaftet werden, und wenn man da schon mal 50 Prozent schaffen würde, dann hätte man schon sehr viel erreicht.
Sprecherin
Um das rasante Tempo, in dem Klimawandel und Artensterben fortschreiten, abzubremsen, sei die weltweite Aufforstung ein Schlüssel.
O-Ton 10 Mitlacher
Das ist ein wichtiger Punkt, um kurzfristig und halt auch mittelfristig mit ökonomisch überschaubaren Kosten dem Klimawandel zu begegnen. Und wenn man Wiederaufforstungsprogramme macht in einer ökologischen Weise, dann profitieren natürlich halt auch die Wildartenbestände davon. Da gibt's dann die großen Synergien.
Sprecherin
Insgesamt, da sind sich Umweltverbände, aber mittlerweile auch viele Entscheidungsträger aus der Politik einig, sind neue große Schutzgebiete unumgänglich.
O-Ton 11 von der Leyen
2021, I believe the world turns over new leaf for our planet.
Sprecherin
Ursula von der Leyen spricht beim Pariser Umweltgipfel One Planet Summit Anfang 2021 davon, dass ein neues Kapitel für den Planeten aufgeschlagen werde, denn 50 Staaten, darunter auch Deutschland, unterstützen das Ziel, 30 Prozent der Land- und Meeresflächen bis 2030 unter Schutz zu stellen.
Pläne für den Naturschutz gab und gibt es viele. In Deutschland haben sie meist gemein, dass das jeweilige Ziel weit in der Zukunft liegt und dann dennoch selten erreicht wird. Doch wie sieht praktizierter Naturschutz heute aus, z.B. im Wald, der etwa 32 Prozent der Landfläche Deutschlands ausmacht?
Atmo 05 Wald
Sprecherin
Dem Wald in Deutschland geht es laut Waldzustandsbericht*** schlecht. Das hängt mit dem Klimawandel, aber womöglich auch mit zu intensiver Forstwirtschaft zusammen. 2007 hat die Bundesregierung das Ziel ausgerufen, bis 2020 fünf Prozent der Wälder ganz aus der Nutzung zu nehmen. Heute liegt der Anteil von solchen Naturwäldern bei 2,8 Prozent. Dabei könnten gerade diese einen besonderen Wert für den Arten- und Klimaschutz darstellen: Hier stehen vorwiegend Laubbäume heimischer Ökosysteme, die alt und groß werden dürfen; sie bilden geschlossene Kronendecken, die für ein kühlendes Waldinnenklima sorgen und den Boden vor Sonnenstrahlen und Austrocknung schützen. Wenn hier die Bäume sterben, bleibt das Totholz liegen, was diversen Tier- und Pflanzenarten zu existieren hilft. Jana Ballenthien, Waldreferentin bei Robin Wood kniet vor einem abgestorbenen Baumstumpf:
O-Ton 12 Ballenthien
Hier können wir das ganze Spektrum des Lebens sehen, wir werden hier unterschiedliche Käfer finden, wahrscheinlich auch seltene Arten, wir werden hier unterschiedliche Pilze finden und auch Mikroorganismen. Und gleichzeitig ist das Totholz auch ein wunderbarer Fundus an Nährstoffen für den kompletten Rest des Waldes, das vermodert jetzt hier so nach und nach über die Jahrzehnte und Jahrhunderte.
Sprecherin
Im Waldboden herrscht eine riesige Vielfalt: Ein einziges Gramm enthält mehr als 50.000 verschiedene Bakterienarten und mehrere Hundert Meter an Pilzhyphen - von Pilzen ausgebildete Fäden.
Regenwürmer und Insekten sind in dieser Welt die Riesen, und so klingt es, wenn sie sich durch den Boden arbeiten:
Atmo 06 - Sounding Soil
Sprecherin (über Atmo sprechend)
Das Schweizer Öko-Akustik-Projekt Sounding Soil**** hat mit speziellen Mikrofonen das Leben im Boden aufgenommen.
O-Ton 13 Ballenthien
Dieser Humus, das ist ein Erbe, den uns diese Wälder schenken. Er ist unglaublich wichtig für uns. Dieser Humus speichert nämlich nicht nur Feuchtigkeit und Nährstoffe, sondern das ist auch unsere CO2-Senke, das ist unser Speicher. Das ist sozusagen ja ein Zersetzungsprozess, wenn es aber erstmal im Humus ist, dann ist das da auch über Jahrhunderte gebunden. Da kommt das nicht mehr raus.
Sprecherin
Etwa die Hälfte des von den Wäldern aufgenommenen Kohlendioxids steckt im Holz der Bäume, die andere Hälfte liegt darunter, im Boden. Eine Tatsache, die bei Berechnungen zur CO2-Speicherung im Wald häufig übersehen wird.
Der in Deutschland eigentlich heimische Laubmischwald wurde vielerorts durch schnell wachsende Fichten ersetzt. Doch die neuen klimatischen Bedingungen setzen insbesondere Fichten-Monokulturen gerade ein Ende.
Pierre Ibisch, Professor für Naturschutz an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, hat abgestorbene Fichtenhaine aufgesucht, um zu schauen, wie dort nun mit den Böden umgegangen und der zukünftige Wald geplant wird.
O-Ton 14 Ibisch
Der Waldboden wird fast flächig befahren, die Bäume werden teilweise sogar mit den Wurzeln entfernt. Das sind natürlich die denkbar schlechtesten Voraussetzungen, um hier einen neuen Wald zu starten. Ich mache mir große Sorgen tatsächlich, wie die Deutsche Forstwirtschaft umgeht, vor allem mit dem Fundament des Waldes der Zukunft, das ist nämlich der Boden.
Sprecherin
Neben den Ozeanen sind intakte Wälder entscheidend für die Bindung von CO2 und den Erhalt der Artenvielfalt. Doch egal wo man hinschaue, so Pierre Ibisch, überall auf der Welt werden Wälder immer stärker genutzt, anstatt sie zu schonen, dabei hätten sie ohnehin schon mit Bränden, Dürren und Stürmen zu kämpfen. Waldboden degradiert weltweit und wird unfruchtbar.
Ein Grund dafür, dass der Amazonas-Regenwald mittlerweile von einer Kohlenstoffsenke zur –Kohlenstoff - Quelle geworden ist.*****
O-Ton 15 Dinerstein
We know ... those are our sinks.
Overvoice (männlich)
"Gut die Hälfte aller Emissionen wird vom Land und vom Meer absorbiert, rund 25 Prozent von den Pflanzen an Land und rund 25 Prozent von den Ozeanen. Wir müssen diese natürlichen Kohlenstoffsenken erhalten, wenn wir auch nur den Hauch einer Chance haben wollen, unter dem Schwellenwert von 1,5 Grad Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur zu bleiben.
Musik 8
"Part 04" - Ausführender und Komponist: Stephan Micus - Album: Ocean Länge: 1'00
Sprecherin
Die Ozeane haben eine entscheidende Bedeutung für die Zukunft der Erde, so Eric Dinerstein. Hier müssten endlich Schutzzonen geschaffen werden, die ihren Namen auch verdienen:
O-Ton 16 Dinerstein
One of the critical … recover the oceans.
Overvoice (männlich)
"Ein entscheidender Unterschied zwischen Meeres- und Landschutzgebieten besteht darin, dass Meeresschutzgebiete weiterhin vielfältig genutzt werden können, zum Beispiel durch Fischfang, während in Schutzgebieten an Land z.B. kein Holzeinschlag mehr möglich ist.
Es wäre wichtig, strenge No-Take-Zonen einzurichten, in denen die Fischerei hundertprozentig ausgeschlossen ist. In solchen Gebieten können sich die Populationen erholen. Derzeit werden alle größeren Fische bis zum kommerziellen Aussterben befischt."
Sprecherin
Nur 2,7 Prozent der Weltmeere sind bislang streng geschützt. Viel zu wenig, sagen viele, um die Bestände gegen die radikalen Methoden der Fischerei zu verteidigen. Werden etwa Grundschleppnetze kilometerweit über den Meeresboden gezogen, sorgt das nicht nur für Unmengen an unerwünschtem Beifang, im Vorbeifahren wird auch der Lebensraum Meeresboden zerstört und zugleich viel CO2 freigesetzt. Größere echte Meeresschutzzonen kommen nicht nur der Artenvielfalt zugute, auch die Fischerei profitiert von sich erholenden Beständen - das zeigt eine im Fachjournal Nature publizierte Studie. ****** Auch in deutschen Gewässern darf in Meeresschutzzonen gefischt werden. Aber nicht nur das.
Atmo 08 Fehmarn
Sprecherin
Ganz im Norden der Republik, kurz vor Dänemark, auf der Insel Fehmarn:
O-Ton 17 Neumann
Genau hier ist geplant, die Ostsee über 18 Kilometer auszubaggern, um dort Betonelemente zu versenken für eine Autobahn, maut-finanziert, und auch eine Güterbahntrasse.
Sprecherin
Karin Neumann kämpft seit Jahren mit dem Aktionsbündnis "Beltretter" gegen den Fehmarnbelttunnel, der quer durch ein Meeresschutzgebiet führt. Fassungslos sieht sie über die noch ruhige Ostsee.
O-Ton 18 Neumann
Und genau hier soll eben über Jahre die Ostsee ausgebaggert werden, der Meeresboden tief und breit, also bis zu 200 m breit und 16 tief, und das wird über Jahre hier die Ostsee eintrüben. Wir haben hier Robben, wir haben hier den seltenen Schweinswal, der hat hier seine Kinderstube. Und auch die Riffe, die gefunden wurden, sind ja nach wie vor genau da wo auch die Tunneleinfahrt hier an Land kommen soll.
Sprecherin
Achteinhalb Jahre Bauzeit, Millionen von Kubikmetern aufgebaggerter Meeresgrund, tonnenweise vorgefertigte Tunnelteile aus Beton. Man hätte auch einen die Umwelt schonenden Tunnel unter dem Meeresboden bauen können, doch dieser hätte mehr gekostet.
Musik 9
"Path leading to the high grass" - Album: Shenzhou - Komponist: Geir Jenssen - Touch TO 55 - Länge: 1'00
Sprecherin
Der Tunnel ist nur ein Beispiel für nicht praktizierten Meeresschutz. In die Ozeane wird auf der ganzen Welt kaum reguliert eingegriffen. Erstmals wurde nun in einer Studie******* die bauliche Substanz in den Meeren vermessen - Häfen, Aquakulturanlagen, Tiefseekabel und vieles mehr - und deren Einfluss auf die Ökosysteme. Geleitet wurde die Studie von der Ökologin Ana Bugnot [Aussprache: Anna Banott] von der Universität Sydney:
O-Ton 20 Bugnot
"So if you add ... around the shorelines."
Overvoice (weiblich)
"Wenn man den physischen Fußabdruck plus Umgebung zusammenzählt, kommt man auf zwei bis vier Millionen Quadratkilometer Meeresboden, die auf ganz verschiedene Art und Weise verändert oder beeinflusst wurden. Und fast alles davon, nämlich 99 Prozent, spielt sich rund um die Meeresküsten ab."
Sprecherin
An den Küsten ist die Biodiversität am größten. Durch Bauten werden die Meere also an ihrer empfindlichsten Stelle beeinflusst. Den meisten Raum nehmen mittlerweile Aquakulturanlagen ein, durch sie gelangen großflächig Chemikalien und Medikamente ins Wasser. Den größten Einfluss auf die marinen Ökosysteme üben aber laut der Studie die Häfen in aller Welt aus.
O-Ton 21 Bugnot
The biggest impact ... in the world.
Overvoice (weiblich)
„Das Verkehrsaufkommen dort und drum herum, die Arbeiten in den Häfen, der gewaltige und weithin hörbare Lärm von den Schiffen – all das wirkt sich auf einen großen Teil der Küstenökosysteme der Welt aus.
Sprecherin
Die Ozeane haben nicht nur mit Plastikmüll, Versauerung und Überfischung zu tun, sondern auch mit kaum regulierten baulichen Maßnahmen.
O-Ton 22 Bugnot
What we are trying to do ... airports.
Overvoice (weiblich)
"Wir fordern ein angemessenes Management dafür, wo und wie im Meer gebaut wird, um die Auswirkungen so gering wie möglich zu halten. Die Raumplanung im Meer hat gerade erst begonnen."
Musik 10
"Part 04" - Ausführender und Komponist: Stephan Micus - Album: Ocean Länge: 0'45
Sprecherin
Eine Raumplanung, die die Bedürfnisse der Natur besser beachtet und große neue Schutzzonen - beides verlangt konsequentes gemeinsames Handeln der Nationen der Welt, kann man sich das überhaupt vorstellen?
O-Ton 23 Dinerstein
It requires ... will they inherit.
Overvoice (männlich)
"Es bedarf einer neuen Ära der globalen Verantwortung, wir müssen Politiker wählen, die eine umfassendere Weltanschauung haben als nur den Blick bis zur nächsten Wahl und was in den eigenen Hinterhöfen vor sich geht. Die auch an die folgenden Generationen denken und was für eine Welt diese erben sollen."
Sprecherin
Eric Dinerstein weist darauf hin, dass der Umgang mit der Corona-Pandemie doch beweise, was alles möglich ist, wenn nur alle an einem Strang ziehen.
O-Ton 24 Dinerstein
In the USA ... safety net in 10 years.
Overvoice (männlich)
"Allein in den USA werden Billionen Dollar für den Kampf gegen das Coronavirus und all seine Auswirkungen ausgegeben. Wenn wir nur einen Bruchteil davon für den Schutz der Natur und den Schutz unseres Klimas ausgeben, kann es uns gelingen, all diesen existenziellen Bedrohungen auf einmal zu begegnen. Einhundert bis Einhundertfünfzig Milliarden Dollar pro Jahr weltweit würden uns in zehn Jahren dieses Sicherheitsnetz geben."
Als der junge Bauingenieur Oskar von Miller 1881 die Internationale Elektrizitätsausstellung in Paris besucht, ist er begeistert. Er beschließt, dass auch seine Heimatstadt München elektrisch beleuchtet werden soll; und er treibt die Stromversorgung Bayerns mit Wasserkraftwerken voran. 1925 erfüllt sich ein weiterer Traum Millers: An seinem 70. Geburtstag eröffnet das Deutsche Museum in München. Von David Globig (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Katja Amberger
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Theodoros Reumschüssel, Pressesprecher für die Wasserkraftaktivitäten von Uniper in Deutschland;
Dr. Matthias Röschner, Leiter des Archivs des Deutschen Museums in München;
Dr. Wilhelm Füßl, ehem. Leiter des Archivs des Deutschen Museums, Autor einer Biografie über Oskar von Miller
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Literaturtipp:
Wilhelm Füßl: "Oskar von Miller. 1855-1934. Eine Biographie", München 2006:
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Geht ein Mann zum Arzt
An Apple a day? Es ist lange her, aber Raiko Thal traut sich endlich zum Arzt. Er erfährt alles am eigenen Leib, holt sich Fachleute ran, die ihm Hintergrundwissen vermitteln und lernt viel über sich und seinen Gesundheitszustand
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Frieden ist ein großes Ideal, ein alter Menschheitstraum - und mehr als die Abwesenheit von Krieg. Er schafft die Konflikte nicht aus der Welt, sondern hegt sie ein. Und vielleicht bedeutet nicht einmal der innere Frieden die absolute Stille aller Wünsche. Was macht Frieden aus? Von Beate Meierfrankenfeld (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Beate Meierfrankenfeld
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Thomas Loibl, Hemma Michel
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Christoph Quarch (Philosoph);
Susanne Buckley-Zistel (Professorin, Zentrum für Konfliktforschung an der Universität Marburg)
RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Der Traum vom Weltfrieden - Der chinesische Utopist Kang Youwei
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Vergebung als Chance - Ein Prozess der inneren Aussöhnung
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Literaturtipps:
Augustinus, „Vom Gottesstaat“, eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimm, Artemis-Verlag 1955
Hans J. Gießmann/Bernhard Rinke (Hrsg.), „Handbuch Frieden“, VS Verlag / Springer 2011
Thomas Hobbes, „Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates“, herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher, übersetzt von Walter Euchner, Suhrkamp 1984
Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“, in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe (hrsg. Von Wilhelm Weischedel) Bd. XI, Suhrkamp, 9. Auflage 1991
Dieter Senghaas (Hrsg.), „Den Frieden denken“, Suhrkamp 1995
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Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Gefühle gehören ins Private, m Job hingegen muss man sich einen dicken Panzer zulegen - so der Mythos. Gefühle wie Angst oder Ohnmacht gelten als unprofessionell. Doch der Preis dieser "Unberührbarkeit" ist hoch: Abstumpfung auch gegenüber den schönen Gefühlen. Von Karin Lamsfuß
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Wilkening
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Andrea Dederichs, Psychologin
Dr. Christoph Quarch, Philosoph
Prof. Giovanni Maio, Medizinethiker Uni Freiburg
Dirk Breitenbach, ehemaliger Polizist und Polizei-Poet
Renate Langenbach, Anästhesistin und Palliativmedizinerin
Hubert Liebertz, ehemaliger Schlachter
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Linktipps:
www.polizei-poeten.de
Literatur:
Giovanni Maio: Ethik der Verletzlichkeit, Herder 2024
Ankündigung: Barbara Schmitz: Offenheit und Berührbarkeit: Neue Wege zu Verletzbarkeiten und Resilienz, erschein am 12.2.2025
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Dirk Breitenbach, liest vor (0‘11“):
Mein Blick fällt auf die laut tickende Wanduhr. 4:30 Uhr. Wann bin ich gestern nach Hause gekommen? Halb zwölf? Oder war es doch erst heute Morgen? Heute kommt die sechste Schicht in Folge.
Musik hochziehen
O-Ton 2 Breitenbach, liest eigenen Text vor (0‘06“):
Jetzt schnell umziehen und nach Hause. Ich möchte meiner Frau möglichst gut gelaunt entgegentreten. Was kann sie für meine Erlebnisse?
Sprecherin:
Dirk Breitenbach, ehemaliger Polizist. Und Mitglied der Polizei-Poeten: einem deutschlandweiten Netzwerk von Polizisten, die ihre belastenden Erfahrungen nicht verdrängen und abspalten, sondern aufschreiben und im Netz veröffentlichen. Und so ein anderes Bild von vermeintlich knallharten Profis erschaffen.
O-Ton 3 Dirk Breitenbach, liest eigenen Text vor (0‘20“):
Auf ihre Frage nach dem Tag antworte ich nur, dass viel zu tun war. Hätte ich Ihr alle Gefühle berichten sollen, die Angst etwas verkehrt zu machen? Die Angst davor sich die Verletzungen der anderen ansehen zu müssen, die Angst davor bei einer Einsatzfahrt, oder sonst wie selber verletzt zu werden? Die Angst der Hilflosigkeit oder der Aggressivität anderer nicht adäquat begegnen zu können.
Klänge weg
O-Ton 4 Dirk Breitenbach (0‘24“)
Ich glaub, wir sind schon ziemlich stark. Nur die Art dessen, was auf uns einwirkt. Die Schrecklichkeit, die Intensität dessen, die Vielfalt, die Menge, das verlangt dann auch von einem starken Menschen auch tatsächlich das Allerletzte ab. Weil was wir in einer Woche oder einem Monat erleben, haben viele vielleicht in ihrem ganzen Leben nicht an schrecklichen Dingen, selbst wenn wir nicht stark sind, sind wir immer noch stark.
Sprecher:
Es gibt so etwas wie ein gesellschaftlich akzeptiertes, ungeschriebenes Gesetz: Im Job und generell im öffentlichen Leben sind vor allem positive Gefühle akzeptiert wie Freude oder Stolz. Vielleicht auch noch Wut. Was zählt, ist ein starker Intellekt. Gepaart mit Tatendrang, Zielstrebigkeit, Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit. Eine funktionierende Hülle also. Alle unliebsamen Gefühle wie Angst, Verzweiflung, Verzagtheit, Scham werden ins Private verbannt.
O-Ton 5 Andrea Dederichs (0‘19“):
Warum tun wir so, als wären wir zu 90 Prozent am Tag bewusste, kognitive Wesen, und diese 10 Prozent Emotionen, mit denen wir nicht umgehen können oder wollen, die sperren wir entweder ein oder bagatellisieren sie, auf jeden Fall aber wollen wir sie kontrollieren.
Sprecherin:
Dr. Andrea Dederichs ist Psychologin, Emotionsforscherin und Professorin an der Polizeiakademie. Sie schult unter anderem Beamte des Sonder-Einsatz-Kommandos in emotionaler Kommunikation. Trainiert mit ihnen, eine angemessene Sprache für den Druck, den Stress und manchmal auch ihre Todesangst zu finden.
O-Ton 6 Andrea Dederichs (0‘29“):
Wir machen Folgendes: Wir sagen „Jetzt ist Professionalität, also Emotionen dürfen nicht rauskommen, und was machen wir dann mit diesem aufgestauten emotionalen Ballast? Den wir auch als Ballast wahrnehmen und nicht als etwas, das einfach zu uns gehört? Wir gehen damit in die Privatheit, und wenn’s richtig scheiße gelaufen ist in unserem vernunftbegabten, kognitiven Tag, dann wird’s auch richtig scheiße im Privaten, weil es sich da nämlich komplett entlädt an Ort und Stelle – wo es nicht hingehört!
Sprecher:
Fühlen ist in der Öffentlichkeit nicht besonders beliebt. Tränen fließen eher im geschützten, privaten Raum. Fühlen heißt auch immer: durchlässig zu sein. Nackt und ungeschützt.
O-Ton 7 Dirk Breitenbach, unter Musik, liest eigenen Text vor (0‘14“):
Ich weiß jetzt wieder, warum ich Unfälle hasse. Du weißt nie, welcher Schrecken auf Dich wartet. Ist es nur zerknülltes Blech, oder müssen wir Gliedmaßen suchen? Kurz überkommt mich Panik. Das habe ich immer, wenn ich damit rechnen muss, dass es gleich blutig oder sonst wie erschreckend wird.
Musik kurz hoch
O-Ton 8 Dirk Breitenbach, unter Musik, liest Text vor (0‘16“):
Was hätte ich sagen sollen? „Jungs, es war nett mit Euch, aber ich habe gerade das Gefühl von Hilflosigkeit und kann außerdem nicht so gut Blut sehen. Ich würde jetzt gerne wieder fahren. Ich bitte euch, habt Mitleid mit mir?!“
PAUSE
Ich schaue zum Notarzt. Unsere Blicke treffen sich. Wortlos schüttelt er seinen Kopf und wendet sich ab.
O-Ton 9 Andrea Dederichs (0‘36“):
Das ist natürlich ne ganz extreme Situation, auf die man Menschen auch nicht komplett vorbereiten kann. Selbst Leute, die professionell in solchen Berufen arbeiten, also Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter… in so einem Moment passiert eigentlich etwas, was Schutz ist. Und Dinge, die wir in einem Moment vielleicht nicht verarbeiten können, wo vielleicht auch zu viele unterschiedliche Eindrücke aufeinanderprallen, und wir können es nicht mehr sortieren, da macht unsere Psyche so eine Art Cut und verschließt das.
Sprecherin:
Die Psychologin Andrea Dederichs sagt: emotional berührbar sind wir sowieso. Immer. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen.
O-Ton 10 Andrea Dederichs (0‘20“):
Bei solchen Berufen würde ich mir wünschen, dass es jede Woche ein Forum gibt, unabhängig vom Anlass, dass Menschen darüber sprechen, was sie gerade für Schwierigkeiten haben im Job, aber was auch gut läuft. Also dass es wirklich ritualisiert wird, über die eigenen Emotionen im professionellen Kontext zu sprechen.
Sprecher:
Gemeint ist dabei jedoch nur die echte, authentische Emotion. Also sind nicht diejenigen, die auf Knopfdruck während der Konferenz in Tränen ausbrechen, weil sie gerade ihren Willen nicht durchsetzen konnten. Oder die mit ewigen Dramen versuchen, andere zu manipulieren.
Musikakzent
Sprecher:
Die Frage nach der Berührbarkeit, dem Eingeständnis der eigenen Verletzlichkeit stellt sich in vielen Berufen. Sie taucht überall dort auf, wo Menschen mit dem Leid anderer konfrontiert sind: nicht nur bei Polizisten, Feuerwehrleuten und Rettungskräften, auch bei Profis, die in medizinischen, therapeutischen und sozialen Berufen arbeiten.
Sprecherin:
Der Philosoph Dr. Christoph Quarch hat an einer Fachhochschule für pädagogische Berufe das Fach Ethik unterrichtet:
O-Ton 11 Christoph Quarch (0‘26“):
Da gibt es eine Doktrin, die sagt: Du musst dich von jeder emotionalen Bildung zu deinen Klienten freihalten. In dem Bereich würde ich dem vehement widersprechen. Ich glaube, dass man als Pädagoge und auch als in sozialen Berufen tätiger Mensch seine Arbeit nicht machen kann, ohne ein hohes Maß an Empathie und Berührbarkeit und auch Mitgefühl zu kultivieren.
Sprecher:
Nur wer nichts fühlt, ist stark. Vermeintlich. Fühlen macht schwach, angreifbar, verwundbar. So empfinden es viele.
O-Ton 12 Christoph Quarch (0‘37“):
Generell würde ich sagen ist das Gefühl in der Arbeitswelt ein ganz entscheidender Faktor. Und nicht nur in sozialen Berufen und nicht nur in Pflegeberufen. Das Gleiche gilt für ne Bank und für ne Versicherung, und am Ende gilt’s wahrscheinlich auch sogar für die Justiz und von mir aus sogar für die Bundeswehr!
Auf der anderen Seite würde ich eben doch sagen: Wenn man sich jetzt emotional völlig fallen lässt und sich ohne Rücksicht auf Verluste von seinen Emotionen auch davontragen lässt, ist es auch nicht professionell. Es geht darum, eine gute Kultur des Fühlens zu entwickeln. Und die wird leider Gottes an den Ausbildungsstätten in der Regel nicht vermittelt.
Sprecher:
Es ist eine schwierige Gratwanderung zwischen Fühlen einerseits und Verdrängen und Abgrenzen andererseits.
Was mag die Richterin fühlen, wenn sie einen Menschen durch ihr Urteil hinter Gitter bringt - und vielleicht eine Familie auseinanderreißt?
Der Chirurg, während er ein Bein amputiert. Mitgefühl? Schwer zu leben. Bestimmte Professionen, bestimmte Rollen verlangen ein hohes Maß an Abgrenzung.
Folgenden O-Ton in Klänge einbetten:
O-Ton 13 Renate Langenbach (0‘18“):
Es gab Situationen, da musste man diesen kleinen Säugling mit nem winzigsten Tubus intubieren, man hatte ne kleine Maske und hatte überhaupt ne Riesenangst davor, diesem kleinen Etwas dann auch noch mal weh zu tun. Das war für mich das Stressigste und das Aufregendste und das Schwierigste in dieser Zeit der Anästhesie.
Sprecherin:
Dr. Renate Langenbach, Anästhesistin.
O-Ton 14 Renate Langenbach (0‘17“):
Ich durfte es im Nachhinein meinen Kollegen sagen, aber als ich dann in der Situation in der ich als Ärztin in der Anästhesie diejenige war, die die Verantwortung auch hatte, musste ich Kenntnis haben, musste ich Fertigkeiten haben und musste eine gewisse Souveränität haben.
Sprecher:
Ein Profi fühlt nicht, er funktioniert. Das ist oft das Dogma. Doch schlimmstenfalls wird der Profi dadurch vor allem eins: stumpf, leer und unlebendig.
Sprecherin:
Der Medizinethiker Prof. Giovanni Maio von der Uni Freiburg sagt: Ein Grund dafür liegt auch im falschen Verständnis der eigenen Verletzlichkeit. Wer verletzlich ist, der macht sich angreifbar, so der weitverbreitete Glaube:
O-Ton 15 Giovanni Maio (0‘35“):
Die Verletzlichkeit ist natürlich negativ konnotiert, aber wenn wir vertiefter drüber nachdenken, werden wir feststellen, dass wir diesen Modus der Verletzlichkeit brauchen, denn nur wenn wir verletzungsoffen sind, werden wir uns selbst auch entwickeln können. Nur dadurch, dass wir wissen: Wir sind verletzlich, können wir uns einfühlen in andere; wenn wir meinen, wir wären vollkommen unverletzlich im Sinne einer Unabhängigkeit, dann wähnen wir uns als selbstmächtige Herrscher über uns selbst.
Sprecher:
Natürlich erwarten wir von Helfern stets einen kühlen Kopf und kontrolliertes Eingreifen! Wer wünschte sich allen Ernstes unkontrollierte, gefühlsduselige Profis? Ein Polizist, der am Einsatzort weint? Oder einen Anwalt, der in Mitgefühl für seinen Mandanten versinkt? Eine Notärztin, die im Schockraum überflutet wird von ihren Gefühlen? Es kann durchaus sinnvoll sein, den Kopf ein und das Gefühl weitgehend auszuschalten – allerdings nur vorübergehend!
O-Ton 16 Renate Langenbach: (0‘13“)
Auf einem chirurgischen Visitenwagen stand geschrieben: „Bevor du in dieses Zimmer trittst, denke daran, dass die Wunde, die du eventuell öffnest, zu einem Menschen gehört, und konzentriere dich auch auf diesen Menschen!“
O-Ton 17 Giovanni Maio (0‘26“):
Je mehr wir uns selbst als verletzliche Wesen empfinden, desto mehr erkennen wir auch das Kostbare, was zerrüttet werden könnte. Die Verletzlichkeit ist ja auch ein Appell. Wenn wir uns vergegenwärtigen: Die anderen sind verletzlich, so wie ich, ist es ein Appell, alles dafür zu tun, damit die anderen nicht verletzt werden. Wir teilen diese Verletzlichkeit, und insofern gehören wir Menschen alle zusammen, im Bewusstsein dieses Bandes, das uns letzten Endes alle zusammenführt.
Musikzäsur
Sprecherin:
Natürlich gibt es Orte, wo Profis weich und gefühlvoll sein dürfen: Bei Supervisioren, Psychologinnen oder Seelsorgern. Für den Polizisten Dirk Breitenbach war das nie eine Option.
O-Ton 18 Dirk Breitenbach (0‘40“):
Es natürlich ein Schritt, zu sagen: „Hier, das war jetzt gerade zu viel für mich, das erfordert tatsächlich Mut und man muss auch das Gefühl haben, dass man in einem Kreis ist, der das auch akzeptiert und hinnimmt, wo man dann nicht nachher gemobbt wird und irgendwelche Ressentiments zu befürchten hat.
In einem Klima, wo alle stark sind, ist es schwierig, selber zu sagen „jawohl, ich bin hilflos, ich brauche Hilfe!“ Weil ich fest überzeugt war, ich brauche das nicht. Auch die Kollegen, denen ich gesagt hab: „Nehmt das doch in Anspruch“, die haben gesagt „Ich brauch das nicht. Das ist Quatsch! So schlimm war das jetzt gar nicht. Da gibt’s viel schlimmere Sachen!“
Heute rückblickend würde ich sagen: Hätte ich doch mal besser das ein oder andere in Anspruch genommen, einfach damit es raus kann. Damit dieses Ventil mal geöffnet wird.
O-Ton 19 Andrea Dederichs (0‘15“):
Ich behaupte ja, dass allein die Tatsache, dass ich darüber sprechen kann und es so etwas gibt, jemand, der mich versteht und nicht sagt: „Sag mal, was bist du denn fürn Bulle? Willste Sozialarbeiter werden?“ führt dazu, dass man gestärkter in den Job geht, und dann schafft man das auch!
Sprecher:
Sprechen über Zweifel, über Grenzen, Überlastung, Versagensängste, über Albträume – also über all das, was Menschen in diesen Berufen so umtreibt. Das würde eine völlig neue Kultur in Einrichtungen, aber auch in Unternehmen erfordern. Weg von der Coolness, hin zur Menschlichkeit und Lebendigkeit.
[[ O-Ton 20 Christoph Quarch (0‘30“):
Wir zahlen letztlich den Preis der Lebendigkeit, wenn wir meinen, wir müssten uns von unseren Gefühlen fernhalten. Wir werden dann zu einer erkalteten, erfrorenen Gesellschaft, und das kann niemand wünschen. Mir scheint es so zu sein, dass wir Menschen dann am meisten bei uns selber sind, dass wir dann am lebendigsten sind, wenn wir fühlen. Und um fühlen zu können, müssen wir uns berührbar machen.]]
Sprecher:
Wünscht sich die Gesellschaft überhaupt berührbare Menschen? Würde die Wirtschaft noch reibungslos funktionieren, lebten die Menschen ihre Berührbarkeit offen aus? Würden nicht ganze Branchen zusammenbrechen, wenn die, die dort arbeiten, plötzlich ihre Zartheit und Verletzlichkeit wieder zulassen würden?
O-Ton 21 Hubert Liebertz (0‘13“):
Emotionslos. Das erste Mal emotionslos. „Hier hast du nen Schussapparat, dein erstes Tier!“ Man denkt nicht drüber nach. Man verschwendet keinen Gedanken an das Tier selber.
Sprecherin:
Hubert Liebertz hat erst eine Lehre als Metzger gemacht und dann sechs Jahre lang im Schlachthof gearbeitet. Tiere töten und zerlegen. Das war seine tägliche Arbeit. Das Tier, das vor ihm auf der Schlachtbank lag, hat er nicht als fühlendes Wesen wahrgenommen.
O-Ton 22 Hubert Liebertz (0‘22“):
Es war wie ein Stück Holz, es war nichts Lebendes. Es war einfach nur… ja… Job! Man hat auch nicht viel Rücksicht auf die Tiere genommen. Wenn man im Nachhinein zurücksieht, ist es schon ziemlich grausam. Man verändert sich in dem Sinne, dass man härter wird. Man wird zu sich selber härter, man wird zu seiner Familie härter, meine Mutter hat damals mal gesagt „Junge, zu verrohst!“
Sprecherin:
Viele Grausamkeiten hat der Schlachter erlebt.
O-Ton 23 Hubert Liebertz (0‘23“):
Wenn Pferde geschlachtet werden, Schweine, Rinder, wenn Sie sehen, was die für ein Theater machen. Was meinen Sie, wie das Tier getrieben wird? Bullen wird vor die Hoden getreten, da wird die Rute, der Schwanz wird geknickt, denen wird auf die Beckenknochen mit dem Holzknüppel gehauen ... Und mir will dann irgendeiner sagen, dass die Tiere kein Empfinden haben – nee!!
Sprecherin:
Viele seiner Kollegen, so erzählt er heute, waren Alkoholiker. Ohne diese Eigen-Betäubung konnten sie den Job nicht durchstehen.
O-Ton 24 Hubert Liebertz (0‘30“):
Man stumpft so sehr ab, dass man das überhaupt gar nicht registriert, dass man da lebende Tiere hat. Man denkt da gar nicht drüber nach. Sie müssen sich vorstellen: Das ist Ihr Job, damit verdienen Sie ihr Geld. Zuerst macht es Ihnen was aus. Und wird das immer weniger, was Ihnen ausmacht. Und irgendwann ist das so wenn Sie im Stall 300 Schweine haben und die fangen auf einmal kollektiv das Schreien an – da werden Sie bekloppt bei! Da läuft es mir heute noch eiskalt den Rücken runter. Ewas Schlimmeres gibt es nicht. Das ist, als wenn kleine Kinder schreien.
Sprecherin:
Und dann kam der Tag, an dem sich beim scheinbar verrohten und gefühllosen Schlachter etwas zurückmeldete, das er ewig nicht gespürt hatte: Mitgefühl. Es tauchte aus dem Nichts auf.
O-Ton 25 Hubert Liebertz (0‘18“):
Wir waren Großvieh schlachten, nach dem Großvieh-Schlachten sind wir Kälber schlachten gegangen. Dann auf einmal Blöken, guck runter, setzt den Schussapparat an, ja, und dann flossen dann die Tränen, dem Kälbchen. Und dann war es vorbei. Dann konnt ich nicht mehr.
Sprecherin:
Rechts und links liefen zwei Tränen die Wangen des Kälbchens hinunter.
O-Ton 26 Hubert Liebertz (0‘07“):
Das war ein Knaller, war das. Was da in einem vorgeht, das kann man gar nicht beschreiben. Man denkt auf einmal, das ist nicht richtig! Da kann man nicht mehr!
Sprecherin:
Viele Tiere weinen vor dem Schlachten, sagt Hubert Liebertz. Er hatte es wohl immer übersehen. An dem Tag schaffte er es nicht mehr, wegzuschauen.
Er legte seinen Schussapparat zur Seite, streifte die Schürze ab und ging zur Tür raus. Den Schlachthof betrat er nie mehr. Wegen eines weinendenden Kalbs.
Sprecher:
Nicht zu leugnen ist aber auch: Die Gesellschaft in der jetzigen Form profitiert von Menschen, die sich innerlich stumpf machen. Stumpf machen müssen. Die gezwungen sind, sich von ihren Gefühlen abzutrennen. Würden alle Schlachter ihre Berührbarkeit und Verletzlichkeit leben, blieben die Fleischtheken leer.
Musikzäsur
Sprecherin:
Hubert Liebertz musste seinen Arbeitsplatz für immer verlassen, um wieder empfindsam zu werden. Aber wie sieht es in der übrigens Arbeitswelt aus?
Ein Chirurg, der offen zweifelt. Ein Polizist, der zugibt, am liebsten vom Unfallort wegzurennen. Ein Sanitäter, den abgetrennte Gliedmaßen bis in den Schlaf verfolgen. Undenkbar?
O-Ton 27 Quarch (0‘24“):
Ich denke, es ist zu nem Großteil auch die hochgetaktete, ökonomisierte Arbeitswelt, es ist so gesehen das System, aber das System nährt sich wiederum von Individuen, die dieses Spiel mitspielen. [[ Und dass Menschen dieses Spiel mitspielen, hat sehr viel damit zu tun, dass es eben eine riesige Angst vor Verletzung gibt. Wir verzichten ja deswegen auf Gefühl, weil wir Angst haben, emotional verletzt zu werden. ]]
O-Ton 28 Dederichs (0‘18“):
Die Emotionen, die nehmen wir an uns als das Ungezügelte, das Spontane, auch das Innerste, aber vor allem das, wo wir antastbar sind. So nehmen wir Emotionen wahr. Wir nehmen sie nicht als Quelle der Kraft wahr und deswegen trauen wir ihnen auch wenig zu.
Sprecher:
Hinzu kommt: So lange Emotionalität als gefühlsduselig gilt, allein rationales Denken und Handeln als professionell, haben Menschen kaum den Mut, sich zu öffnen und sich verletzlich zu zeigen. Schließlich glauben die meisten: einen Profi haut so schnell nichts um!
O-Ton 29 Giovanni Maio (0‘18“):
Das Problem der Resilienz ist ja, dass suggeriert wird, als würde man alles im Griff haben können, sofern man alles gut managt. Aber wir dürfen eben nicht verkennen, dass wir ohne gute Erfahrungen mit anderen eben diese eigenen Ressourcen gar nicht mobilisieren können.
O-Ton 30 Dederichs (0’22):
Es ist die Angst vor der Überflutung, aber es ist vor allen Dingen die Angst, falsch wahrgenommen zu werden. Die Angst nen Fehler zu machen und die Angst, nicht wertgeschätzt zu werden, glaube ich, die macht aus uns so Lemminge. Dass wir sagen: Eh wir uns auf das Risiko einlassen, die eigene Persönlichkeit auszuspielen, gehen wir lieber in so ne Kollektivpersönlichkeit.
Musikzäsur
Sprecherin:
Die Anästhesistin Renate Langenbach wollte Mitgefühl und Menschlichkeit leben. Im Krankenhausbetrieb, vor allem in der Notfallmedizin, sah sie dafür einfach keine Chance.
Erst in der Palliativmedizin fand sie wieder zu ihrer Berührbarkeit und Verletzlichkeit als Ärztin. In sicherlich einer der schwierigsten medizinischen Disziplinen stand nämlich etwas Bedeutendes im Vordergrund: der Mensch.
O-Ton 31 Langenbach (0‘30“):
Ich musste einem Mann mitteilen, dass seine Knochenmetastasen nicht mehr bestrahlbar sind und dass er wahrscheinlich nicht mehr laufen kann. Und wir haben dann dagesessen, beide, er lag, ich saß, und wir wussten nichts zu sagen, und wir mussten beide weinen. Und der Patient hat dann in sein Nachttischchen gegriffen und hat mir sein Herrentaschentuch gereicht. Und hat gesagt „Frau Doktor, trocknen Sie Ihre Tränen.“ Und das ist für mich ein ganz wichtiges Erlebnis: Ja, ich darf weinen beim Patienten.
Sprecherin:
Berührbar bleiben und trotzdem professionell – das darf Renate Langenbach bei der Begleitung und Versorgung von Sterbenden. Dafür müsste sie komplett aus dem akuten Klinikbetrieb aussteigen, in dem sie vergeblich versuchte, diesen Spagat hinzukriegen. Nun darf sie gleichzeitig verletzlich und berührbar sein UND professionell.
O-Ton 32 Giovanni Maio (0‘21“):
Und deswegen müssen wir unsere Verletzlichkeit anerkennen und in ihr die Ressource sehen, durch die wir überhaupt zur Empathie befähigt werden, wenn Sie unverletzbar bleiben wollen, sein wollen, unverwundbar, dann werden Sie sich nie auf eine tiefe Beziehung einlassen.
Musikzäsur
Sprecherin:
Polizist Dirk Breitenbach fand erst durch eine längere Krankheit zurück zu seinen Gefühlen. Irgendwann begann er zu schreiben. Über seine Einsätze, seinen Berufsalltag, sein Leben.
O-Ton 33 Breitenbach (0‘23“):
Also die Geschichten sind so aus mir rausgelaufen, dass ich mit dem Schreiben nicht nachgekommen bin. Worüber ich sehr erstaunt war, waren einfach diese vielen Gefühle, tatsächlich diese Wut, die dann erlebbar war. Tatsächlich dieser Schrecken, tatsächlich diese Ohnmacht, die ich erlebte, weil ich ja eigentlich dachte, dass die so tief vergraben habe, dass die kein Problem sind, und darüber war ich sehr überrascht, dass da so viele Emotionen noch in mir dringesteckt haben, die sich tatsächlich ihren Weg gesucht haben.
Sprecherin:
Seitdem gehört Dirk Breitenbach zu den Polizei-Poeten. Das sind Polizisten, die keine Lust mehr haben auf das unnahbare Macker-Image. Sie setzen sich in ihren erlebten Geschichten mit ihrer Hilflosigkeit auseinander, ihrer Angst und ihrer Ohnmacht.
O-Ton 34 Dirk Breitenbach (0‘16“):
Am Anfang war’s erschreckend für mich, weil ich damit nicht gerechnet habe. Ich dachte, das passiert nicht. Und dann war’s wahnsinnig wohltuend. Es war unheimlich befreiend, sich das selber einzugestehen und hat mir eigentlich gezeigt, dass ich noch ganz normal funktioniere und nicht abgestumpft bin.
In der frühen Neuzeit gab es rund ums Mittelmeer viel Sklaverei. Christen und Moslems gleichermaßen kaperten Handels- und Pilgerschiffe und verkauften Menschen auf riesigen Sklavenmärkten in Europa und Nordafrika. Deren Berichte wurden ein beliebtes literarisches Genre. Von Brigitte Kramer (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Benedikt Schregle, Gudrun Skupin
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Mario Klarer, Literaturwissenschaftler, Universität Innsbruck
Juliane Schiel, Historikerin Universität Wien
Teresa Peláez, Historikerin, Universität Valencia.
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Mario Klarer (Hg.): Verschleppt, Verkauft, Versklavt. Deutschsprachige Sklavenberichte aus Nordafrika (1550–1800), Böhlau Verlag Wien Köln Weimar, 2019
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Der Mensch ist ein soziales Wesen. Das wissen wir alle. Wir sind aufeinander angewiesen und füreinander da. Wir sind bereit zu helfen. Aber oft tun wir uns schwer damit uns helfen zu lassen. Warum ist das so? Von Andreas Hauber
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Hauber
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Thomas Birnstiel
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. Jeanine Grütter, Psychologin, München;
Michael Brugger, Theologe, Klinikseelsorger, Klinikum St. Georg, Leipzig
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Literaturtipps:
Schmidbauer, Wolfgang: Hilflose Helfer – über die seelische Problematik der helfenden Berufe, Rowolth Verlag, 22. Auflage, 1992.
Parianen, Franca: Teilen und Haben – Warum wir zusammenhalten müsse, aber nicht wollen, Dudenverlag 2021.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK: „Help“ (Z935712#001) 0:30
Help – I need somebody
Help – Not just anybody
Help – You know I need someone
- Heeeelp-
Jetzt ausblenden (when I was younger, so much ….)
MUSIK: „Piano 4“ 0:30
Sprecherin
Er ist wohl einer der bekanntesten Hilferufe überhaupt. Leidenschaftlich fordert John Lennon in dem Beatles-Song „Help“ Hilfe ein. Sein Leben hat sich verändert, er ist nicht mehr so selbstsicher, er kommt nicht mehr alleine klar. Er braucht jemanden, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen.
MUSIK: „Help“ 0:20
won`t you please, please help me…“
Sprecher
„Bitte hilf mir!“ Wenn uns jemand so bittet, ist die Sache klar. In den allermeisten Fällen helfen wir, wenn uns in unserem persönlichen Umfeld jemand direkt um Hilfe bittet.
Sprecherin
Denn wir sind soziale Wesen. Wir leben in Gemeinschaften, sind aufeinander angewiesen und sind bereit einander zu helfen. Helfen macht uns sogar glücklich.
MUSIK: „Piano 1“ 0:30
Sprecherin
Aber …. lassen wir uns auch gerne helfen? Ist es für uns auch ganz selbstverständlich, Hilfe anzunehmen?
Sprecher:
Schauen wir etwas genauer darauf, was es mit dem Helfen auf sich hat…. Und fangen wir ganz vorne an: Was ist Hilfe eigentlich?
01 Zsp Helfen-lassen Brugger
Ich würde sagen: Grundsätzlich bei dem Thema Hilfe ist eine Notlage oder ein Mangel, der beseitigt werden soll. Es geht dann um eine Beziehung zwischen zwei Menschen, Menschengruppen, Menschen – Tieren, wo die eine Seite versucht, der andern Seite (versucht) aus diesem Mangel herauszuhelfen. ((Also den ein Stückweit zu beseitigen oder abzuschwächen.))
Sprecherin
Sagt Michael Brugger, Theologe und Klinikseelsorger am Klinikum der Stankt Georg in Leipzig.
Sprecher:
Zunächst erscheint es also ganz einfach. Jemand will durch sein Tun bewirken, dass es jemand anderem besser geht. Wir alle kennen den Begriff „Hilfe“ und gehen täglich mit ihm um. Allerdings wird es recht schnell kompliziert, wie Professorin Jeanine Grütter von der LMU München betont:
02 Zsp Helfen-lassen Grütter
(…) und es ist ein riesiger Begriff, es gehört ganz viel dazu und es gibt verschiedene, ganz viele verschiedene Arten von Hilfen. Es gibt verschiedene Kontexte von Hilfen und es kann natürlich auch je nach Kontext unterschiedlich sein, was jetzt wirklich als Hilfe bezeichnet wird oder auch erwartet wird und … - Ja, genau - und auch vielleicht wie lange es dauert, oder was die Motivationen sind.
MUSIK: „Piano 1“ 0:30
Sprecherin:
Das Wort selbst bereitet keine großen Schwierigkeiten. Wenn man über Hilfe nachdenkt, scheinen vielmehr die Strukturen, in denen sie stattfindet, bedeutsam zu sein: Wie ist die Beziehung zwischen dem Helfenden und der Person, die Hilfe empfängt? Wie ist die Atmosphäre, in der das geschieht? Was sind die Motivationen, aus denen heraus wir helfen?
Sprecher:
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es verschiedene Arten von Hilfe gibt. Wenn es um eine akute Notsituation geht, wenn jemand auf der Straße einen Herzinfarkt erleidet, es darum geht schnell und wirkungsvoll zu helfen, ist die Hilfsbereitschaft groß.
Auch wenn jemand von Geburt an oder als Folge eines Unfalls oder einer Krankheit nicht in der Lage ist sein Leben frei und eigenständig zu leben, sind meistens Menschen bereit zu helfen.
03 Zsp Helfen-lassen Grütter
Notsituationen werden auch anders wahrgenommen. Da gibt es viel Forschungen dazu, die zeigen, dass Leute dann, wenn es wirklich eine klare Notsituation ist, dass die dann helfen …
Sprecherin
Wenn es wirklich darauf ankommt, sind wir da.
04 Zsp Helfen-lassen Grütter
(...) sobald es ein bisschen schwammig ist, ob es wirklich eine Notsituation ist, oder wenn auch noch viele andere Leute da sind - das kann sogar auch eher hemmen, dass man dann hilft.
Sprecher
Wenn die Not nicht so deutlich erkennbar ist, wird es schon schwieriger. Hilfsbedürftigkeit ist oft nicht so sichtbar, manchmal ist Hilfe langwierig und anstrengend. Oft ist es nicht eindeutig, wie man helfen kann.
05 Zsp Helfen-lassen Grütter
Also man kann jemanden materiell unterstützen. Man kann praktisch helfen, finanziell unterstützen. Ganz häufig geht es auch um informelle Unterstützung, also dass man auch Wissen weitergibt, dass man irgendwie ein Netzwerk vielleicht auch eröffnet. Und was wir ganz häufig vergessen, ist die emotionale Hilfe und Unterstützung, also dass man zuhört, vielleicht auch Trost spendet, Leute ermutigt. Das kann einen riesigen Unterschied machen, auch für die Person.
MUSIK: „Piano 3“ 0:22
Sprecherin
Hilfe ist sehr facettenreich. Man könnte aber vereinfachend sagen: Es gibt konkrete Situationen, in denen recht schnell und präzise etwas getan werden kann und es gibt langwierige, begleitende Hilfe, bei der die Bedürfnisse in einem längeren Prozess erst sichtbar gemacht werden müssen. Und gerade in solchen unscharfen Situationen, kommt es sehr stark auf die Beziehung zwischen den Akteuren an.
06 Zsp Helfen-lassen Brugger
Hilfsbeziehungen sind dabei immer asymmetrisch und ich glaube, das macht sie auch im Grunde problematisch: In einer Hilfsbeziehung ist immer eine gewisse Schieflage drin (…)
Sprecher
Eine Schieflage …. ein Gefälle. Die Person, die hilft ist in einer stärkeren Position. Sie ist ja die (Person), die aktiv werden kann und die gebraucht wird. Die Person, die auf Hilfe angewiesen ist, steht nicht so gut da. Aber natürlich gibt es auch hier Abstufungen.
Sprecherin
In Familien mit kleinen Kindern gibt es beispielsweise oft ein starkes Machtgefälle, aber ein Kleinkind ist natürlich auch sehr auf die Unterstützung der Eltern angewiesen.
07 Zsp Helfen-lassen Grütter
(...) Wenn wir an Freundschaften denken, dann haben wir auch einen anderen Kontext, dann ist jemand uns nahe. Dann sind wir schon in einem reziproken Verhältnis und dann weiß man zum Beispiel: es ist ein Geben und Nehmen. Also dann hat man hier nicht so diese, diese Abhängigkeiten oder Machtsituationen - aber das gibt es natürlich schon auch und dann ist es eher schwieriger, wenn man in so einem Machtgefälle ist. Zum einen geben Leute vielleicht auch Hilfe, um ihre Macht weiter auszubauen, das gibt es auch, das wird auch unterschieden.
Sprecherin
Die Schieflage ist grundsätzlich da. Aber es kommt darauf an, wie damit umgegangen wird. Wenn Menschen eine enge Beziehung zueinander haben und - das ist ganz wichtig - sich vertrauen, ist die Schieflage nicht so groß und nicht so problematisch. Auch wenn untereinander klar ist, dass die Hilfe Element eines reziproken Gefüges ist, also nicht einseitig, sondern wechselseitig funktioniert. Nach dem Motto: Ich helfe Dir und weiß gleichzeitig, dass Du mir auch hilfst, wenn es nötig wird.
Sprecher
Gefährlich wird es, wenn das Gefälle zu stark wird. Denn Menschen haben die verschiedensten Motive, um zu helfen. Die hängen stark von der jeweiligen Kultur und auch der konkreten Persönlichkeit ab, aber …
08 Zsp Helfen-lassen Grütter
… wenn wir das mal so ein bisschen wegdenken für den Moment. Dann gibt es verschiedene Motivationen. Also man möchte Schaden vermeiden von der anderen Person. Man möchte eben, dass die sich gut fühlt, dass da nichts Schlechtes passiert. Man hilft auch, wenn es ... also es kann auch selber gut sein für den Selbstwert, (oder) man hat geholfen, hat was Gutes getan. Fühlt sich dann auch in der Regel gut. Das zeigt auch die psychologische Forschung. Man kann eben vielleicht später auch eine Gegenleistung bekommen, weil man was geleistet hat. Je nach Kontext wird es anerkannt, dass man geholfen hat.
Sprecher
Es ist so, dass es um den Menschen geht, der Hilfe benötigt. Aber eben nicht nur.
09 Zsp Helfen-lassen Grütter
Wenn wir es eher von so einer negativen Seite sehen möchten, dann könnte man auch sagen: Ja Menschen wollen sich einfach nicht schlecht fühlen und wenn jetzt jemand, wenn man jemanden sieht in der Notsituation, dann löst es ja bei einem was aus. Und wenn man was dagegen tut, hilft es nicht nur der anderen Person, sondern auch mir, man fühlt sich weniger schlecht, weil man diese Not sieht. Man hat was dagegen gemacht.
MUSIK: „Piano 1“ 0:28
Sprecherin
Es geht immer auch darum, dass ich mich selber gut fühle. Das ist nichts Verwerfliches, im Gegenteil sogar notwendig und gesund. Dass man vom eigenen Tun profitieren möchte, etwas zurückbekommen möchte, sich Dankbarkeit oder Anerkennung wünscht, das ist völlig natürlich. Aber es besteht eben hier auch die Gefahr, dass die eigenen Bedürfnisse überhandnehmen. Dass es eher um einen selbst, als um den anderen geht. Dass es nicht so edelmütig zugeht. Und hier kann das Machtgefälle aus den Fugen geraten.
Sprecher
Wir sind also aus uneigennützigen, aber auch aus eher eigennützigen Gründen bereit dazu anderen zu helfen.
Es stellt sich aber auch noch die Frage: Wer sind eigentlich die anderen? Wem helfen wir denn lieber?
10 Zsp Helfen-lassen Grütter
Ja den Menschen ... schon den Menschen die uns nahe stehen ...
Sprecherin
Menschen, die uns bekannt sind und zu denen wir schon eine Beziehung haben, helfen wir am ehesten: Freunde und Familienmitglieder oder auch Arbeitskollegen, ganz allgemein Personen, an denen wir nahe dran sind.
11 Zsp Helfen-lassen Grütter
Etwas, was so ein bisschen weniger schön ist, ist, dass wir auch eher Leuten helfen, die ähnlich sind wie wir.
Sprecherin
Also die die gleiche Hautfarbe haben oder die gleiche Sprache sprechen. Im Grunde Personen, mit denen wir uns leichter identifizieren können.
12 Zsp Helfen-lassen Grütter
Es gab eine berühmte Studie, wo Menschen verschiedene Fußballtrikots getragen haben und die Fans von der einen Gruppe haben dann eher geholfen, wenn die Person das Trikot anhatte von der gleichen Mannschaft. Und genau da konnte man eigentlich ziemlich leicht zeigen, dass dann eben diese Hilfe auch von Ähnlichkeit geleitet wird...
MUSIK: „Piano 1“ 0:35
Sprecher
Ganz knapp zusammengefasst lässt sich also sagen, dass wir Menschen grundsätzlich bereit sind, auf jede Art und Weise zu helfen. Je näher uns eine Person steht, desto leichter helfen wir.
Bei der Hilfe kommt es sehr stark auf die Beziehung zwischen den Akteuren an. In einer Hilfsbeziehung gibt es aber immer ein gewisses Gefälle: der eine ist in einer stärkeren Position als der andere. Auch die Motive, warum wir helfen, sind verschieden, es geht dabei nicht nur um die andere Person, sondern immer auch um uns selbst.
Sprecherin
Kommen wir davon ausgehend also zu unserer Ausgangsfrage zurück: Warum fällt es uns oft schwer, uns helfen zu lassen?
Die Psychologin Professorin Jeanine Grütter stellt eine Grundfrage an das Helfen:
13 Zsp Helfen-lassen Grütter
Da gibts auch einen spannenden Unterschied: Ist die Hilfe, um Autonomie zu fördern oder um Abhängigkeiten zu fördern …?
Sprecherin
Das ist entscheidend, wenn wir herausfinden wollen, warum wir uns oft nicht so gerne helfen lassen. Denn beides ist möglich: Zielt die Hilfe auf die Autonomie dessen, der Hilfe benötigt - man kann auch gut Selbsthilfe dazu sagen - dann geht es tatsächlich darum, dass der, der Hilfe empfängt von seiner Hilfsbedürftigkeit befreit wird und wieder auf eigenen Beinen stehen kann. Dass der Helfende dabei in seinem Selbstwert oder auch in seinem Ansehen profitiert, ist für ihn dann nur ein angenehmer Nebeneffekt, aber nicht so wichtig. Denn es ist klar, dass es in allererster Linie um das Wohl des anderen geht.
Der Theologe Michael Brugger macht das anhand einer Bibelerzählung anschaulich:
14 Zsp Helfen-lassen Brugger
Im Markusevangelium trifft Jesus auf den blinden Bettler Bartimäus und er bittet ihn um Hilfe. Jesus stellt dann die Frage: Was willst Du, was ich Dir tun soll? Und der Bettler antwortet: Wieder sehen können. Und diese Erzählung vom blinden Bartimäus wird in den Christlichen Hilfsdiskursen gern als Inspiration für eine adäquate Form des Helfens genommen: Diejenigen, die Hilfe brauchen entscheiden selbst darüber, ob und wie ihnen geholfen werden soll. Damit will man ja so ne Übergriffigkeit des Helfenden, die in diesem Machtungleichgewicht der Hilfssituation lauert, die will man dadurch in den Griff bekommen.
Sprecher
Jemand, der jemand anderem hilft, sollte sich immer bewusst machen, dass es um den anderen geht. Der oder Die entscheidet, was er oder sie braucht und wie weit die Hilfe gehen soll.
15 Zsp Helfen-lassen Brugger
Und für diese Situation ein typisches Beispiel: Wenn ich auf der Straße von einem Obdachlosen angesprochen werde und um Geld gebeten werde, dann geh ich nicht zum Bäcker rein und kauf ihm ein Brötchen, weil ich denke, wenn ich dem jetzt Geld gebe, dann versäuft der das eh nur, sondern dann gebe ich ihm Geld, weil darum hat er mich gebeten.
Sprecher
Das ist etwas, das wahrscheinlich jeder schon einmal so oder ähnlich erlebt hat.
16 Zsp Helfen-lassen Brugger
(…) jemanden hilfsbedürftig zu sehen, das erzeugt bei vielen Menschen einen großen Handlungsdruck und (der) dieser Handlungsdruck ist nicht immer angemessen auf die Situation des Gegenübers. Wenn jemandem geholfen wird ohne, dass er es will, oder wenn jemand Hilfe bekommt, die er nicht braucht, dann erreicht Hilfe eigentlich ihr Gegenteil. Dann stellt sie diese Asymmetrie und Ohnmacht, die mit der Hilfsbedürftigkeit einhergeht, noch mehr vor Augen und noch mehr in den Vordergrund. Und so kann gut gemeinte Hilfe auch demütigen.
Sprecherin
Dient Hilfe dazu Abhängigkeiten zu schaffen oder zu verstärken, dann geht es eben nur scheinbar um den Menschen in Bedrängnis und ganz andere Dinge sind wichtig.
17 Zsp Helfen-lassen Grütter
Wenn man jetzt zum Beispiel an die Pandemie denkt: Viele Länder in benachteiligten Kontexten waren sehr stark betroffen und man hat denen ganz viele Impfstoffe irgendwann geliefert, aber nie das Patent, damit sie selber die Impfstoffe herstellen konnten. Also hat man zwar was getan, aber die sind ja weiterhin dann in unserem Abhängigkeitsverhältnis.
MUSIK: „Piano 4“ 0:30
Sprecher
Und in diese Situation möchte niemand geraten. Niemand will abhängig sein.
Aber Hilfe steht leicht im Verdacht in diese Richtung intendiert zu sein. Deshalb sind viele Menschen skeptisch gegenüber Hilfsangeboten von anderen.
Wenn man das Gefühl hat, man wird zum Werkzeug für das Wohlbefinden eines anderen. Wenn man das Gefühl hat in der Schuld zu stehen.
Wenn man den Eindruck bekommt, dass man trotz allem nicht wieder selbst auf die Beine kommt. Wenn man das Gefühl hat, nicht genug zu sein.
Sprecherin
Das alles schreckt ab, macht skeptisch und vorsichtig. Vor allem, wenn die Beziehung zu dem, der Hilfe anbietet, nicht ganz klar ist. Aber auch, wenn die Beweggründe nur schwer einzuschätzen sind. Denn der Eigennutz schwingt immer mit. Wenn es den Anschein hat, dass er die eigentliche Ursache für die Hilfe ist, will man sie lieber nicht annehmen.
18 Zsp Helfen-lassen Grütter
Es wird auch unterschieden, ob man jetzt eher Hilfe anbietet mit dem Zweck der Unterstützung, die nicht zu Selbstbestimmung befähigt. Oder will man wirklich jemanden Mithilfe zur Selbsthilfe geben? Und da sind die Leute, die Hilfe erhalten auch sehr gut drin abzuschätzen: Was bedeutet das jetzt langfristig? Also lasse ich mich jetzt da auf etwas ein, das für mich eigentlich nur auf den ersten Blick gut aussieht, aber auf den zweiten Blick vielleicht gar nicht so gut ist?
Sprecher
Das ist das Eine. Diese Skepsis entsteht eher auf einer persönlichen Ebene. Etwas Anderes aber ist die gesellschaftliche Atmosphäre, in der sich das Ganze abspielt.
Sprecherin
Denn hinter allem steht immer unser Selbstbild. Und dabei ist es wichtig, welches die gesellschaftlichen Werte sind, an denen wir uns orientieren. Gerade in unserer heutigen Zeit ist Individualismus ein hohes Gut.
Eigenständigkeit und Selbstbestimmung stehen hoch im Kurs. Man soll eine möglichst starke Person mit Ecken und Kanten sein. Man soll und will es alleine schaffen.
19 Zsp Helfen-lassen Grütter
Wenn das eben die Message ist, dass man sich dann auch danach ausrichtet (oder?) Man möchte ja zur Gesellschaft dazugehören.
Wie schafft man das: Wenn man eben stark ist, wenn man unabhängig ist. Wenn man so – Ja - auch anschaut wer sich eher helfen lässt und wer weniger, eben dann spielt schon Stolz und auch so ein Autonomiebedürfnis eine große Rolle.
Sprecherin
Allem Anschein nach leben wir oft in einer Atmosphäre, in der nicht sehr viel Platz für Hilfsbedürftigkeit ist, weil sie als Schwäche verstanden werden kann. Wenn die beste Hilfe aber die ist, in der derjenige, der Hilfe braucht, selbst entscheiden kann, was er braucht - Wenn er sagen kann, was ihm guttut und was ihm hilft - vorausgesetzt, er weiß es selbst – dann sind das schwierige Voraussetzungen.
Sprecher
Denn dafür muss er sich in einem Umfeld bewegen, in dem es möglich ist, seine Bedürfnisse zu äußern. Das muss eben ein Umfeld sein, in dem Bedürftigkeit oder auch Schwäche möglich sind.
20 Zsp Helfen-lassen Grütter
Häufig wird ja ganz viel versteckt, also auch wenn wir an Leute denken, die in Armut leben. Die sind auch häufig unsichtbar, weil die sich gar nicht trauen Hilfe in Anspruch zu nehmen. (Weil sie eben) weil das so schambehaftet ist. Und - in unserer Gesellschaft, warum können wir das nicht irgendwie schaffen, dass alle da eben sich auch äußern können, was Sie brauchen?
Sprecher
Natürlich ist unsere Gesellschaft sehr vielfältig. Es gibt durchaus Orte und Gruppen, in denen das alles möglich ist. Aber es gibt schon Tendenzen dazu Hilfsbedürftigkeit kritisch zu sehen. Das ist derzeit, 2024, wieder recht deutlich, da die wirtschaftliche Situation schwieriger wird. Wenn es darum geht zu sparen, dann wird in vielen politischen Wortmeldungen schnell weitgehend pauschal auf die Menschen verwiesen, die von staatlichen Hilfen abhängig sind. Der Ton wird rauer und wie so oft trifft es die, die ohnehin schon an den Rand gedrängt sind.
Sprecherin
Es ist nicht einfach in einer solchen Stimmung darauf hinzuweisen, dass man Hilfe braucht. Auch im persönlichen Umfeld. Da ist die Angst ausgeschlossen oder abgelehnt zu werden groß.
Sprecher
Es geht bei alledem also immer auch um den Blick, den wir auf Hilfsbedürftigkeit und Menschen, die Hilfe benötigen, haben. Denn nur, wenn ich mich in einem Umfeld bewege, in dem es kein Problem ist, wenn ich auch mal nicht alleine weiterkomme und Unterstützung brauche, kann ich auch lernen sie anzunehmen. Und um das zu lernen, muss ich gute Erfahrungen damit machen, mir helfen zu lassen.
21 Zsp Helfen-lassen Grütter
… was wir ja sehr stark lernen, wenn wir aufwachsen oder auch was in unserer Gesellschaft, was stark gefördert ist, ist, dass man anderen hilft, (...) das übt man und das wird anerkannt. Das wird wertgeschätzt und stark sozialisiert, aber dass man Hilfe annimmt, das lernt man eigentlich nicht so ...
MUSIK: „Piano 1“ 0:34
Sprecherin
Helfen ist etwas Gutes. Das steht außer Frage. Aber damit ist es nicht getan. Wirkliche Hilfe erfordert ein hohes Maß an Empathie, die Fähigkeit sich in den anderen hineinzuversetzen und in gleichem Maße Aufmerksamkeit für seine Bedürfnisse. Das gilt im persönlichen Umfeld, wie auch im Bereich der institutionalisierten Hilfe.
Sprecher
Das ist gar nicht so einfach. Vor allem dann nicht, wenn das Gegenüber Hemmungen hat, sich helfen zu lassen. Das geht natürlich nicht allen so. Das hängt von der Persönlichkeit des Betreffenden ab, seinen Erfahrungen und seinen Beziehungen. Auch von seinen Einstellungen und dem eigenen Selbstverständnis. Man darf auch nicht vernachlässigen, warum jemand Hilfe braucht. Was ist die Ursache für die Hilfsbedürftigkeit?
Sprecherin
Wer sich nicht Helfen-lassen kann oder will, der ist deshalb nicht gleich ein stur oder undankbar. Lässt man sich darauf ein, dann sind die Gründe dafür meist gut nachvollziehbar und verständlich. Wahrscheinlich ist es, wenn man es wirklich ernst meint mit dem anderen, das Wichtigste an einer guten und vertrauensvollen Beziehung zu arbeiten, die eine Atmosphäre schafft, in der Schwäche und Hilfsbedürftigkeit zugelassen sind. Das ist im Großen schwierig, im Kleinen aber möglich. Ein erster Schritt dazu wäre vielleicht, sich von jemandem, der sich nicht helfen lassen kann oder will, erst einmal selbst helfen zu lassen… Vielleicht könnte das ja helfen?
Verzicht klingt nach Entsagung und Verlust. Wem die Überzeugung fehlt, dass sich Nein-Sagen lohnen kann, tut sich schwer. Deshalb finden Aufrufe zu nachhaltigeren, sparsamen Lebensstilen so wenig Resonanz. Von Justina Schreiber
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprach: Katja Amberger
Technik: Christiane Gerhäuser-Kamp
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Dr. Ingo Balderjahn, Betriebswirtschaftswissenschaftler + Konsumforscher,
Angela Mauss-Hanke, Psychoanalytikerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Kann ich ohne Schlaf überleben? Wie überwinde ich meine Höhenangst? Und wie viel Nazi steckt in mir? Spannende Fragen, aber wer hat schon Lust, all das selbst auszuprobieren? – Kein Problem, denn Reporterin Daniela Schmidt stellt sich alle zwei Wochen einer neuen Herausforderung und nimmt euch mit, wenn Wissenschaft ihr Leben zum Abenteuer macht!
Literatur:
Ingo Balderjahn: Lust auf Verzicht, gekom Verlag 2024
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Nur eine Mahlzeit am Tag, und die darf kein Fleisch, keine Milchprodukte und keine Eier enthalten. Ganz schön karg! Doch die Mönche des Mittelalters kannten ihre Tricks, um die strengen Fastengebote vor Ostern zu umgehen. Sie ließen sich Fische, Biber, Truthähne und anderes Geflügel umso reichlicher schmecken. Mit der Begründung: laut Schöpfungsbericht hätte Gott die Fische und Vögel nicht am selben Tag erschaffen wie „die Tiere auf dem Lande“, die klassischen Bratenlieferanten Schwein oder Rind, die ja wohl mit dem Begriff „Fleisch“ gemeint waren. Man kann die listigen Klosterbrüder schon verstehen. Verzichten „zu müssen“ fällt dem Menschen einfach schwer, sagt der Konsumforscher Ingo Balderjahn.
O-TON 01: (Balderjahn)
„Der Mensch verzichtet nicht gerne. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften von 2002, das ist der Daniel Kahneman, der hat das sehr gut herausgearbeitet. Seine Theorie heißt „prospect Theory“, dass das Wesen des Menschen schon ist, dass der Mensch eine Verlustaversion hat. Das stellt sich in Studien sehr stark da. Also Verluste sollen vermieden werden, auf die Zukunft hingeschoben werden, Verluste schmerzen und führen zu emotionaler Betroffenheit.“
MUSIK Opposing forces M00537747 101 0.47
SPRECHERIN:
Abzuspecken und etwas Wohlstand aufzugeben, wird logischerweise als Einschränkung empfunden. Man stellt sein Konsumverhalten deshalb auch nicht ständig in Frage. Schließlich trinken andere Leute ebenfalls Alkohol, obwohl er als ungesund gilt, oder machen Kreuzfahrten, obwohl man sie aus Umweltgründen vielleicht besser sein lassen sollte. So tickt der Mensch. Er vergleicht und hat insgeheim Angst, meint Ingo Balderjahn. Angst, etwas her- oder aufgeben zu müssen. Zu kurz zu kommen, drauf zu zahlen.
O-TON 02: (Balderjahn)
„Man möchte auf Deubel-komm-heraus den Wohlstand und den jetzigen Status, oftmals sind ja auch andere Dinge damit verbunden, Macht und Ansehen. Oder das Schlimmste ist ja, was Menschen sich vorstellen können, sozial abzusteigen.
O-TON 02: (Balderjahn)
Sie müssen, was weiß ich, ihren Ferrari da vor der Tür wieder verkaufen oder so was, das geht ganz emotional an die Substanz.“
SPRECHERIN:
Auch wenn es „nur“ um materielle Dinge geht. Aber was heißt „nur“? Für die mittelalterlichen Mönche waren die strengen Fastengebote oft eine weitere Zumutung im harten Kampf ums Überleben, wenn Ernten ausfielen oder Krieg herrschte. Die Angst vor dem leeren Teller, die Angst vor dem Nichts hat schlicht biologische Ursachen. Nur so lässt sich der fast schon reflexhafte Widerstand erklären, etwa wenn einem von der Politik „jetzt auch noch“ die freie Fahrt auf Autobahnen genommen werden soll. Bloß nicht darben, bloß nicht verzichten müssen. Der Kampf gegen aufgezwungene Askese geht bereits mit der Geburt los, sagt die Psychoanalytikerin Angela (Anschela) Mauss-Hanke:
MUSIK Unfolding feelings Z9356382 032 0.32
O-TON 03: (Mauss-Hanke)
„Im Mutterleib geht ja alles von selber. Es gibt auch noch keine Bedürfnisse nach irgendetwas, weil das Atmen, das Essen ist einfach ein Ineinander, was von selber funktioniert. So, und dann flutschen wir da durch und kommen auf die Welt. Und warum finden wir es normal, dass jedes Baby schreit, wenn es auf die Welt kommt? Weil: es ist zum Schreien. Nix ist mehr von selber.
MUSIK Frames of motion Z93582 002 0.37
O-TON 03: (Mauss-Hanke)
Ne, es muss plötzlich aktiv atmen. Das Essen ist nicht immer von selber da, und von Anfang an ist eigentlich das Leben eine Übung im Verzicht darauf, dass Bedürfnisse sofort und unmittelbar befriedigt werden. Und das ist ein ganz langwieriger Lernprozess.“
SPRECHERIN:
Erwachsen zu werden, bedeutet aus psychoanalytischer Sicht: das innere Lustprinzip, das alle Wünsche erfüllt haben will, und zwar flott, mit dem äußeren Realitätsprinzip in Einklang zu bringen. Denn die totale Bedürfnisbefriedigung ist auf Erden leider unmöglich. Man kann selbstverständlich trotzdem Größenfantasien und Anspruchsdenken pflegen - nach dem Motto: „Es muss für mich Kaffee aus dem Vollautomaten sein. Sonst ist die Laune im Eimer.“ Aber wir kommen als mehr oder weniger soziale Wesen nicht umhin, laufend ureigene Triebe, Wünsche und Ziele aufzuschieben, umzulenken oder zu ignorieren. Sonst gäbe es nur noch Hauen und Stechen und das Wehklagen wäre groß. Je nach Erziehung, Persönlichkeit und Einflüssen gelingt die notwendige Selbstregulation mal besser, mal schlechter.
MUSIK Unfolding feelings Z9356382 032 0.18
O-TON 04: (Mauss-Hanke)
„Gehen wir noch mal ganz zurück. Das Baby hat Hunger und schreit, das weiß noch nicht, ich werde nicht sterben, wenn ich jetzt eine Minute warte oder 5 Minuten. Das muss es wirklich durch Erfahrung lernen und je befriedigender oder je unproblematischer, unkomplizierter die Erfahrungen sind, desto leichter lässt sich das auch lernen. Je mehr ich mich darauf verlassen kann, naja, ich muss ein bisschen Geduld haben. Und dann kommt das schon. Dann kann ich auch besser Geduld haben. Wenn es aber unsicher ist, wenn ich nicht weiß: oh, kriege ich jetzt was, kriege ich nix. Wie lange muss ich warten? In so einer unsicheren Bindung, dann wird es auch schwer zu verzichten.“ (oben)
MUSIK Sunnylands Z8034859 109 0.33
SPRECHERIN:
Der amerikanische Psychologe Walter Mischel (Betonung auf der zweiten Silbe) führte von 1968 bis 74 an der Stanford University ein Experiment durch, das unter dem Namen Marshmallow-Test berühmt und seither vielfach (auch mit Tieren) wiederholt wurde. Vierjährige Kinder wurden damals vor die Wahl gestellt: sie könnten sofort ein Marshmallow essen. Wenn sie es jedoch schafften, eine Weile zu warten, bekämen sie ein weiteres süßes Schaumstück dazu.
O-TON 05: The Marshmallow Test (youtube.com) bei 0:26
Kurz frei, dann drunter:
MUSIK Sunnylands Z8034859 109 0.44
SPRECHERIN:
Videoaufnahmen, die auch im Internet zu finden sind, zeigen, wie die Jungen und Mädchen mit sich ringen und zum Teil den Kampf um ihre Selbstbeherrschung verlieren. Über Jahre hinweg überprüfte Walter Mischel, wie sich die Kinder, die Standhaften und die Verführbaren, jeweils kognitiv und sozial weiterentwickelten. Sein Ergebnis: Kinder, die warten konnten beziehungsweise darauf vertrauten, dass sie die versprochene Belohnung erhalten werden, zeigten später auch beim Lernen oder in anderen Stresssituation mehr Frustrationstoleranz als die, die fast schon reflexhaft nach dem Marshmallow griffen. Das wirkt einleuchtend. Doch Wünsche aufzuschieben ist letztlich leichter als sie komplett aufzugeben. Was zum Beispiel beim Thema Umweltschutz eigentlich viel öfter angezeigt wäre, meint der Konsumforscher Ingo Balderjahn. Etwa ein konsequentes Nein zum neuesten Elektronikteil. Denn:
O-TON 06: (Balderjahn)
„Ob ich mir jetzt nun ein Smartphone kaufe oder in einer Woche, ist dem Klima höchstwahrscheinlich egal.“
SPRECHERIN:
Aber wirklich ganz darauf verzichten ohne irgendeine Belohnung? Schwierig. Religionen vertrösten ihre Gläubigen ja gern auf ein Paradies im Jenseits, in das sie eintreten werden, wenn sie sich an alle Regeln halten. Aber nehmen wir einmal an, jemand entscheidet sich, aus Umweltgründen auf den Flug nach Thailand oder die Autofahrt in die Provence zu verzichten, und reist stattdessen mit der Bahn ans andere Ende Deutschlands. In überfüllten, verspäteten Zügen unterwegs zu sein, ist kein Vergnügen. Wie sieht hier – bitte schön - die Gratifikation aus?
O-TON 07: (Balderjahn)
„Das Gute, was man tun kann, um den Klimawandel zu verhindern, kommt ja auch später, in zehn, 20, 30 Jahren.“
SPRECHERIN:
Aber wer weiß das schon so genau! Prognosen sind keine Versprechen.
MUSIK Jolly Stroll Z8036179 120 0.44
SPRECHERIN:
Der Begriff des Verzichts stammt aus der mittelalterlichen Rechtssprache. Wer einen Rechtsanspruch aufgab, übte Verzicht oder Verzeihung, wie man noch bis ins 18. Jahrhundert gleichbedeutend sagen konnte. Man entsagte oder verzichtete, um eine Schuld auszugleichen und die gegnerische Partei zufrieden zu stellen. Deshalb liegt bis heute das „Um zu“ so nahe. Man verzichtet auf Kohlehydrate oder Fett, um abzunehmen. Man spart Geld, um den Kindern etwas schenken zu können. Man verzichtet auf einen Seitensprung, um die Ehe nicht zu gefährden. Wenn sich nun aber kein einleuchtender Grund fürs Knapsen, keine „gefühlte“ Not-Wendigkeit finden lässt? Dann kauft man sich eben zweimal im Jahr neue Klamotten oder gönnt sich den One-Night-Stand. Verzicht braucht schon ein gewisses Maß an innerer Zustimmung, bestätigt die Psychologin Angela Mauss-Hanke. Sonst funktioniert der Deal nicht gut:
O-TON 08: (Mauss-Hanke)
„Wenn ich von außen gesagt bekomme: du, das wäre für uns alle besser, wenn du darauf verzichtet. Und ich denke darüber nach, also meine Vernunft, vielleicht auch sogar mein Einfühlungsvermögen sieht das dann ein, dass das besser wäre. Und ich bin dann vielleicht sogar ein sozialer Mensch, der es auch nicht unwichtig findet, dass es den anderen auch gut geht, dann fällt mir der Verzicht natürlich viel leichter, als wenn das Wichtigste ist, dass ich meine Wünsche, meine Triebe befriedigt kriege.“
MUSIK Frames of motion 2 Z9356382 002 0.42
O-TON 09: (Balderjahn)
„Was braucht es für einen Verzicht? Verantwortung, Verantwortung übernehmen. Der Mensch muss sagen: okay, ich bin auch daran beteiligt, dass sich die Erde aufheizt, also nur mal gesagt: mit jedem Euro, den wir ausgeben, circa 150 Gramm Treibhausgase, also wir sind alle daran beteiligt. Und wenn der Einzelne für sich auch die Verantwortung sieht, ich bin verantwortlich dafür, dann kann sich daraus schon eine Bereitschaft ergeben, etwas auch zum Klimaschutz zu tun. Nur, in einer Studie der Europäischen Union, Eurobarometer heißt das, da sagen zwei Drittel der Europäer, sie fühlen sich für den Klimaschutz nicht verantwortlich, und diese zwei Drittel fallen mit dieser Haltung erstmal komplett raus. Die machen nichts.“
SPRECHERIN:
Niemand hat gern ein schlechtes Gewissen. Auch wenn Menschen mittlerweile so etwas wie Flugscham empfinden können, geflogen wird trotzdem in gigantischem Ausmaß. Ein weiterer Feind des Verzichts ist nämlich die Bequemlichkeit. Verzicht zu üben, bedeutet, eine Komfortzone zu verlassen. Wer sein Gewicht reduzieren will, muss die Ernährung umstellen und auf die gewohnte abendliche Wurstplatte verzichten. Man muss sich aufraffen und dann vor allem dranbleiben. Der Wille ist gefragt. Und der Wille braucht gute Argumente. Sonst fällt er dem inneren Schweinehund zum Opfer. Selbstoptimierung kann ein starkes Motiv sein: ach ja, besser aussehen, gesünder sein! Dafür darbt man noch relativ gern.
O-TON 10: (Mauss-Hanke)
„Aber der Verzicht, sagen wir mal, auf Flugreisen eben zu verzichten, weil mir der Klimawandel bewusst ist, dass es eine viel schwierigere Forderung und das braucht schon wirklich viel Vernunft, viel abstraktes Einfühlungsvermögen in die nächste Generation. Und vor allen Dingen auch die Erkenntnis oder die Meinung kann man ja auch sagen, dass das was nutzen kann, wenn ich als Einzelner da etwas anders mache. Und das ist auch verständlich. Wenn ich in eine Millionenstadt komme, dann frage ich mich auch: warum soll ich hier irgendwie den Müll trennen und das dann trotzdem durchzuhalten, das braucht wirklich viel Vernunft, auch gedankliche Geduld vielleicht. Und da muss man dann eben sehen, wie kann man das für sich selber aufrechnen, dass man dann verzichtet.“
SPRECHERIN:
Die Regale in unseren Supermärkten sind voll. Lieferdienste bringen Waren bis an die Haustür. Vom USB-Stick bis zum Plantschbecken, von der Pizza bis zum Modeschmuck – fast alles kann man heute ruckzuck im Internet bestellen.
MUSIK All in one app Z8033488 114 1.15
SPRECHERIN
Die Versuchungen sind groß. Wir leben in einer Überflussgesellschaft. Immer noch. Außer es gibt Probleme mit den Lieferketten, und das Klopapier wird rationiert. Dann bricht Panik aus. Normalität bedeutet hierzulande, dass alles immer verfügbar ist, jetzt auch in Bio-Qualität.
O-TON 11: (Balderjahn)
„Es ist natürlich das, dass insbesondere von der Wirtschaft, von der Werbewirtschaft, vom Marketing Anreize gesetzt werden für bestimmte konsumintensive Verhaltensweisen. Und da sich kein Mensch von der Werbung wirklich entziehen kann, Werbung hat immer Wirkung. Wir brauchen nur einmal eine Marke zu sehen, und schon kriegen wir die aus dem Gehirn nicht mehr gelöscht. Also, da sind so Antreiber, Konsumantreiber. Und wir werden ja auch groß in einer Gesellschaft und leben in einer Gesellschaft, jetzt sage ich mal hier in Deutschland, die sehr, sehr konsumorientiert ist.“
SPRECHERIN:
Anregende Reize aus unzähligen Kanälen triggern den suchtmäßigen Konsum. Der Staat versucht durchaus, mit Kampagnen, Gebühren und Werbeverboten gegenzusteuern. Im Grunde aber bleibt es jedem und jeder Einzelnen überlassen, dem kapitalistischen Prinzip des „Höher, weiter, schneller, mehr!“ die Stirn bieten. Aber nur 15 Prozent der Deutschen schaffen es, konsequent weniger Geld für ihren Konsum auszugeben, als sie könnten, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Ingo Balderjahn. Von anderen Ländern gar nicht zu reden.
O-TON 12: (Balderjahn)
„Wir konsumieren tatsächlich viel zu viel. Wir ruinieren die Erde, da gibt es Zahlen. Wir verbrauchen die Fläche von 1,7 Erden, damit wir unsere Konsumbedürfnisse befriedigen können, aber diese Komma sieben, diese drei Viertel, die haben wir nicht. Das heißt, wir plündern, und wir heizen auch mit diesem maßlosen Konsum das Klima auf. Und das ist das Problem, wovor wir stehen.“
SPRECHERIN:
Die große Frage lautet: Wie lässt sich der Mensch zum Verzichten und Sparen motivieren? Wie lässt sich der maßlose Konsum reduzieren? Darauf läuft es ja hinaus. Trotz neuer energieeffizienter Technologien und nachhaltigerer Produktionsweisen. Was zu viel ist, ist zu viel. Die apokalyptischen Bilder aus aller Welt sprechen eine deutliche Sprache:
MUSIK Geiger involved Z8024281 104 0.42
SPRECHERIN
Sturzfluten, Bergrutsche, schmelzende Gletscher, Wirbelstürme, brennende Wälder...
O-TON 13: (Greta Thunberg W0507488 101)
„We should panic!... out of our comfort zones!“
OT 13 kurz frei, dann drüber:
SPRECHERIN:
„We should panic!“ und „I want you to panic“, sagte die Fridays-for-Future-Aktivistin Greta Thunberg immer wieder in ihren Reden und erntete dafür Kritik. Panikmache bringt nämlich gar nichts, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Im Gegenteil.
O-TON 14: (Balderjahn)
„Man sollte nie, und das machen viele Umweltaktivisten falsch, nie den Horror an die Wand malen. Horror mögen Menschen nicht und sortieren das gleich aus. Damit setzen sie sich nicht auseinander. Deswegen funktionieren ja auch diese Horrorbilder auf diesen Zigarettenpackungen nicht mehr.“
SPRECHERIN:
Man gewöhnt sich an den Schrecken. Oder steckt den Kopf in den Sand. Wird schon nicht so schlimm sein. Auch wenn das Meer so warm ist wie noch nie und die Korallenriffe sterben. Hauptsache Urlaub. Die moderne Lebensweise erschöpft auch die emotionalen Ressourcen. Jedem und jeder scheint hier alles immer offenzustehen: die persönliche Selbstverwirklichung, der Neuanfang mit 80, dieses haben, jenes machen oder werden zu können. Das kann stressen.
MUSIK Sunnylands Quintett Z8034859 110 0.38
SPRECHERIN:
Die Entwicklung liegt nahe: Zum Wellnesskurzurlaub gehört heute meist auch „digital detox“, der vorübergehende Verzicht auf digitale Medien und Endgeräte. Individuelle kleine Verzichtsübungen sind „in“, kleine Rettungs- oder Heilungsversuche, private Challenges, deren Verlauf gern in sozialen Netzwerken gepostet wird: Wie lange schaffe ich es, ohne Zucker, Weizen, Ablenkung, weiß nicht was, zu leben? Und ganz wichtig: wie fühle ich mich dabei? Eigentlich gar nicht so schlecht. Überraschenderweise. Studien, die Ingo Balderjahn an der Uni Potsdam durchgeführt hat, brachten ähnliche Ergebnisse:
O-TON 15: (Balderjahn)
„Wir haben Personen verglichen, die freiwillig verzichten und einen einfacheren Konsum und Lebensstil haben, mit anderen, die voll drauflos konsumieren. Und wir stellen fest: die, die freiwillig verzichten, die empfinden das nicht als Opfer oder als Verlust, sondern eher als Zugewinn an Unabhängigkeit und an Selbstbestimmung, Autonomie, also in der Tendenz sogar stellt sich heraus, dass Menschen, die einfacher leben, nicht alles auf den Kopf hauen, glücklicher sind als die anderen, die in diesem Konsumturbo stecken.“
SPRECHERIN:
Das Gefühl von Selbstdisziplin und Selbstwirksamkeit, nicht so getrieben und abhängig zu sein, tut offenbar gut. 70 Prozent der Deutschen wären – laut einer Studie des Bonner Briq-Instituts - rein theoretisch sogar dazu bereit, grundsätzlich kürzer zu treten, ihre Altgeräte zum Recyceln zu bringen, Kleidung second hand zu kaufen, öfters das Fahrrad zu benutzen und so weiter. Doch rechnen sie paradoxerweise nicht damit, dass sich ihre Mitmenschen auch dazu bewegen ließen. Also wagen sie sich nicht aus der Deckung. Wenn aber alle mitmachen würden, dann wäre etwa der Verzicht auf Fleisch oder Flüge „normal“. Gruppendruck und soziale Kontrolle spielen eine Riesenrolle, bestätigt die Psychoanalytikerin Angela Mauss-Hanke.
O-TON 16: (Mauss-Hanke)
„In großen Gruppen ist das ja häufig so, in Sekten zum Beispiel, es gibt ne Ideologie: wir sollten das und das tun oder was weiß ich, vegan leben. Und dann hilft es natürlich sehr, wenn man dann eine Ideologie hat, an die sich alle halten. Das heißt, da gibt der Einzelne seinen Moralkodex ab an das, was in der Gruppe sozusagen „in“ ist, und hält sich dann daran.
MUSIK All in one app Z8033488 114 0.55
O-TON 16: (Mauss-Hanke)
Ne, da muss ich nicht mehr überlegen, finde ich das richtig oder falsch, sondern ich tue das einfach und der Gewinn, die Zustimmung durch die Gruppe, das ist schon nicht zu unterschätzen.“
SPRECHERIN:
Alkoholfreie Getränke liegen heute voll im Trend. Aber autoritär von oben lässt sich ein generelles Bier- und Wein-Trink-Verbot in unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft kaum durchsetzen. Anders gesagt: der Zeitgeist müsste sich ändern, weg vom materiellen Denken hin zu einer besseren Moral und mehr sozialem Denken. Ohne Zwang. Der Konsumforscher Ingo Balderjahn hat 2024 ein Sachbuch mit dem Titel „Lust auf Verzicht“ veröffentlicht, um die wissenschaftlich belegten positiven Seiten der freiwilligen Beschränkung publik zu machen. Nach dem Motto: „Weniger ist tatsächlich mehr“.
O-TON 17: (Balderjahn)
„Da gibt es Parallelstudien, die von anderen Kolleginnen und Kollegen betrieben werden, die zeigen, dass je mehr Geld jemand hat, desto relativ weniger spendet er oder sie für gute Zwecke. Daraus ist es auch erkennbar: die Leute, die relativ wenig haben, spenden in Relation dazu zu dem, was sie haben, relativ viel und sind auch viel leichter bereit, etwas abzugeben mit anderen zu teilen.“
MUSIK Jolly stroll Z8036179 120 1.14
SPRECHERIN:
Genug zum Leben zu haben, ist wichtig. Aber die Frage: brauche ich das wirklich? verneinen zu können, schafft offenbar Freiräume und reduziert Ohnmachtsgefühle. Warum nicht auch mal einen Probelauf starten, um einen klitzekleinen Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten? Wenn irgendein Verzicht dann doch ein bisschen hart erscheint, kann man sich ja zum Trost die Bedingungen der menschlichen Existenz vor Augen halten. Verzicht zu üben, gehört nicht ohne Grund zum Standardprogramm aller Religionen. Wer sich bewusst auf wesentlich Erscheinendes konzentriert, lernt nämlich Abschied zu nehmen. Vielleicht auch von den Illusionen, die unsere Gesellschaft so gerne pflegt:
O-TON 18: (Mauss-Hanke)
„Das Leben ist immer ein Verzicht. Wir gehen auf den Tod zu, und wir müssen diese begrenzte Zeit irgendwie füllen. Wir werden niemals all das, was wir gerne tun würden, all das, was wir gerne hätten, erreichen, niemals. Wir kommen aus dem Verzichten nicht raus.“
Ein Duft sagt mehr als 1000 Worte. Schon immer schätzten die Menschen den Wohlgeruch. Doch welcher Duft wurde wann und wozu angewendet? Wie entstand das erste moderne Parfum? Die Geschichte des Parfums gibt spannende Einblicke in Vorlieben, Trends und Ansichten der Vergangenheit. Von Silke Wolfrum
Credits
Autorin dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Hemma Michel
Technik: Josef Angloher
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Justine Diemke, wiss. Mitarbeiterin für Alte Geschichte an der Universität Hamburg (promoviert gerade);
Johann Maria Farina, Nachkomme des Erfinders des Eau de Cologne, geschäftsführender Gesellschafter der ältesten noch Inhaber geführten Parfümfabrik der Welt (mit Museum)
Literaturtipps:
Collectif Nez & Jeann Doré: „Parfum: Alles über die Welt der Düfte“ – umfangreiche illustrierte Informationen
Andrea Dalmus: „Eau de Cologne. Farina 1709“ – anschaulicher Überblick über die 300jährige Geschichte des Eau de Cologne aus dem Hause Johann Maria Farina
Joachim Mensing: „Schöner Riechen. Die magische Wirkung von Parfums auf das Wohlbefinden“ – ausführliche und detailreiche Informationen rund um Geruch, Geruchsforschung und Parfum
Andrea Hurton: „Erotik des Parfums. Geschichte und Praxis der schönen Düfte“ – Überblick über die Geschichte des Parfums mit zahlreichen Anekdoten
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER: (immer verführerisch gesprochen wie in Werbung)
Das Kyphi! Lieblingsparfum der Alten Ägypter: Zyperngras, Kalmus, Wacholderbeeren, Pistazie, Kamelgras, Honig, Myrrhe, Rosinen und Wein …
SPRECHERIN:
Wohlgeruch hat etwas Magisches an sich. Er hebt die Laune, weckt Erinnerungen und Sehnsüchte, verschönert und verzaubert. Kein Wunder, dass er in vielen Kulturen als Attribut der Götter gilt. Aphrodite trägt den „himmlischen Wohlgeruch rosenduftender Salben“ und selbst der Schweiß Mohammeds soll besser duften als Ambra und Moschus. Schon die Steinzeitmenschen sollen Harze und Hölzer verbrannt haben, um den Göttern zu huldigen. Vermutlich verschönerten sie sich aber auch ihr Alltagsleben mit Wohlgeruch. In Südafrika fand man 77.000 Jahre alte Betten, die aus den duftenden Blättern der Kap-Quitte hergestellt wurden.
Musik: Dithyrambos 0‘17
Zur ersten großen Meisterschaft in der gezielten Herstellung des Wohlgeruchs brachten es die Alten Ägypter. Das Räucherwerk galt dort als heilig und oblag den Priestern. Mumien wurden mit einer ganzen Palette von Duftstoffen präpariert und für die Lebenden stellte man unterschiedlichste parfümierte Salben her, die auch therapeutischen Zwecken dienten. Trägersubstanzen waren Pflanzenöle und tierische Fette.
MUSIK: The villa of mysteries 0‘17
SPRECHER: (immer verführerisch gesprochen wie in Werbung)
Das Lieblingsparfum der Antike: Rosenöl: ein Duft aus Rosenblättern, Zitronengras, Kalmus, Honig und Olivenöl.
SPRECHERIN:
Die Griechen und Römer machten es den Ägyptern nach. Den anstrengenden Herstellungsprozess übernahmen Sklaven, die Rezepte stammten von Medizinern und Naturphilosophen. Parfümherstellung, Medizin und Pharmazie lagen Jahrhunderte lang nah beieinander. Parfums sollten in der Antike – und eigentlich sogar bis ins 19. Jahrhundert - auch viel mehr leisten als „nur“ gut zu riechen. Justine Diemke von der Universität Hamburg hat im Rahmen eines Lehrprojekts selbst antike Düfte hergestellt.
01 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Justine Diemke
Diese Duftöle wurden nicht nur, wie wir es heute kennen, dann auf die Haut aufgetragen, sondern auch in Salben gemischt oder als Pharmakon, also als Heilmittel, gegen verschiedene Krankheiten eingenommen. Eine heilende Wirkung wird zum Beispiel dem Rosen-Parfüm auch zugeschrieben, das von Ärzten gegen Kopfschmerzen oder auch Reizungen der Eingeweide verordnet wurde. Besonders beliebt waren Duftstoffe zum Beispiel auch bei Frauenkrankheiten, also hier vor allem gegen Menstruations-Beschwerden und da schlechte Gerüche in der Antike auch als ansteckend galten, wurden diese Duftöle auch häufig eingesetzt, um einfach den Gestank zu überdecken.
Musik: Pandura 0‘38
SPRECHERIN:
Tatsächlich muss es im Alten Rom grauenvoll gestunken haben, Urin entleerte man einfach auf die Straße, in den Mietskasernen wohnte man eng beieinander, die Thermen konnten nur die Reichen besuchen, wie auch gut riechende Parfums eine Sache der Oberschicht blieben. Cäsar soll übrigens nach dem so genannten Cyprinum geduftet haben, einer Kreation aus Henna, Olivenöl, Kalmus, Rotbusch, Gewürzen, Wein und Zimt. Parfümiert wurde aber nicht nur der Körper.
02 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Justine Diemke
Darüber hinaus wurde auch im privaten Raum alles Mögliche besprüht, also zum Beispiel Gegenstände wie Textilien, auch die Haustiere wurden parfümiert, Gardinen, Kissen und auch der städtische Raum, also wir waren ja gerade bei dem Thema Gestank in der Urbs, so in Rom, auch aufgrund der Latrinen. Da ist es so, dass auch einzelne Baustrukturen wie Theateranlagen oder Thermen, also Badeanlagen, parfümiert wurden, um dem Besucher den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.
SPRECHERIN:
Nicht immer wurde der Einsatz von Duftstoffen positiv gesehen. Als Kaiser Nero bei der Bestattung seiner zweiten Gattin Poppaea eine ganze Jahresernte Weihrauch verbrennen ließ, stieß das nicht überall auf Beifall. Manche Philosophen standen dem Luxus-Produkt Parfum generell recht kritisch gegenüber – rochen aber selbst nicht gut, wie Diogenes in seiner Tonne.
In Maßen eingesetzt gehörte der feine Duft allerdings durchaus zum guten Ton der Oberschicht. Im Theater versprühte man in den besten Reihen ein Safran-haltiges Parfum, das auf den weißen Togen der Senatoren rötliche Flecken hinterließ.
03 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Justine Diemke
Damit haben sich die Senatoren zum Beispiel profilieren können, indem sie gezeigt haben: Hier wir haben quasi das Prestige, die Möglichkeit überhaupt hier zu sitzen, und das haben sie quasi an diesen Farben dann zum Ausdruck gegeben, also an der Färbung ihrer eigenen Toga.
Musik: Orpheus 0‘22
SPRECHERIN:
Auch Hetären, die Prostituierten der Antike, benutzten Parfum, auch wenn es manchmal nutzlos war. Die Verbindung von Frauen, Erotik und verführerischem Wohlgeruch war immer eng – genauso wie heute:
04 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Justine Diemke
Also das sehen wir vor allem auf Vasen-Darstellungen, aber auch auf der Wandmalerei, dass die Frauen die verschiedenen süßen, lieblichen Düfte nutzen, um den Mann zu verführen. Das haben wir auch heute noch in der Werbung, also bei Chanel oder Dior zum Beispiel funktioniert das ähnlich, dass die Frau dann also sehr sexualisiert dargestellt wird, das sehen wir dann auch in antiken Darstellungen, um den Mann mit dem betörenden Duft zu entführen.
MUSIK: Ballade für Laute 1 0‘13
SPRECHER: (immer verführerisch gesprochen wie in Werbung)
Das Ungarische Wasser: Rosenwasser mit Rosmarin auf Alkoholbasis – lässt Frauen ewig jung aussehen …
SPRECHERIN:
Mit dem Christentum war es vorbei mit dem Verwenden von Parfums für so gottlose Zwecke wie Erotik. Der gute Duft hatte jetzt vorrangig zeremoniellen Zwecken zu dienen, wie etwa der Weihrauch in der Kirche. Nichtsdestotrotz studierten Mediziner wie Alchimisten das Wissen der Antike und entwickelten es weiter. Auch wenn die Alten Ägypter schon alkoholische Parfums hergestellt haben sollen, erst im Mittelalter fand die Kombination aus Alkohol, als Trägersubstanz, und ätherischen Ölen breite Anwendung. Alkohol verdampft viel schneller als Öl, verteilt also den Geruch schneller und feiner. Im 15. Jahrhundert erschien das erste europäische Handbuch der Destillation in Straßburg. Doch das Zentrum der Parfümkunst lag lange Zeit in Italien. Mit der Heirat Katharina von Medicis mit dem Bourbonen Heinrich II 1547 verlagerten sich die Machtverhältnisse aber allmählich nach Frankreich. Spätestens im 17. Jahrhundert ist der französische Hof tonangebend.
MUSIK: Entree pour quatre Medicins 0‘58
Hier wird parfümiert, was nur geht. Denn: Es stinkt überall. Im Louvre, in den Tuilerien wie in der Oper. Zeitgenossen nannten Paris ein „Amphitheater der Latrinen“ und auch in Versailles ist die Kloake gleich neben dem Palast. Die Füße Ludwig XIV sollen übrigens grauenerregend nach Schweiß gestunken haben. Wasser gilt als gefährlich und krankmachend, daher pudert man lieber, anstatt sich zu waschen, trägt kleine Stoffsäckchen mit aromatischen Substanzen oder Amulette mit Kampfer wie Schutzschilde gegen den Gestank mit sich herum und verwendet ausgiebig schwere Parfums, gern mit einer animalischen Note. Die Pestärzte trugen mit aromatischen Substanzen gefüllte Schnabelmasken, um sich den Pesthauch vom Hals zu halten.
MUSIK: The parting glass 0‘18
SPRECHER: (immer verführerisch gesprochen wie in Werbung)
Mischung zum „Bei sich Tragen“ an Hofe: 2g Moschus, 1g Zibet, 4 Tropfen Perubalsam …
SPRECHERIN:
Moschus ist das rötlich-braune intensiv riechende Sekret aus dem haarigen Beutel zwischen Nabel und Penis eines Moschustiers. Dem männlichen Moschus dient es dazu ein Weibchen anzulocken. Bis ins 20. Jahrhundert musste man die Tiere töten, um an den begehrten Inhalt ihre Drüse zu gelangen. Ähnlich unappetitlich ist die Herkunft von Amber, einem der kostbarsten Duftstoffe überhaupt. Amber entsteht aus den Verdauungsprodukten von Pottwalen, die diese erbrechen oder ihren Darm ins Meer entleeren. Dort treiben sie über Jahre und werden durch den Kontakt mit Licht, Luft und Salzwasser zu festen Klumpen, die dann sagenhaft riechen.
Musik: Sonate für Klavier f Moll K466 0‘30
Vor allem für seine pflanzlichen Düfte wurde Grasse berühmt, die Stadt im Hinterland von Cannes, an der französischen Riviera. Auf Erlass von Sonnenkönigs Ludwig XIV. legte man um die Stadt duftende Felder an, wahre Blütenmeere, und Grasse wurde zur Welthauptstadt des Parfums.
05 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Johann Maria Farina
Das hat historische Gründe, weil dort sehr viele Gerbereien waren, die natürlich dann, um ihre Handschuhe oder Stiefel verkaufen zu können, diese schon relativ früh parfümieren mussten, damit die nicht so stanken. Und daraus kam dann auch der Bedarf an Duftstoffen. Und dann ging auch der Lederbereich immer weiter zurück, und es entwickelt sich eigentlich eine reine Duftstoff-Manufaktur in Grasse mit den Gebieten drumherum, die das belieferten.
SPRECHERIN:
Johann Maria Farina leitet in 8. Generation die älteste noch Inhaber- geführte Parfümfabrik der Welt. Sie steht seit 300 Jahren am Jülichs-Platz, gegenüber dem Kölner Rathaus und beherbergt heute auch ein Duftmuseum. Bereits sein Vorfahre, der Italiener Giovanni Maria Farina, bezog seine Rohstoffe aus Grasse. Anfang des 18. Jahrhunderts schuf er einen Duft, der die Parfumwelt revolutionieren sollte
MUSIK: See, See für Harfe 0‘17
SPRECHER: (immer verführerisch gesprochen wie in Werbung)
Das Kölnisch Wasser, französisch Eau de Cologne, mit Zitrusnote - ein Duft wie ein italienischer Frühlingsmorgen nach dem Regen …
06 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Johann Maria Farina
Also bis er anfing in diesen Bereichen einzutreten, waren schwere Düfte vorherrschend, um Körpergerüche zu überdecken, aber auch schwere Düfte deswegen, also denken wir an Moschus, Zibet, Ambra, aber auch Rosmarin, die überdeckten natürlich den Alkohol, den man dann anfing zu benutzen, weil Alkohol oft danach roch, wo er herkam. Also sauberer Alkohol ist immer sehr schwierig und das war natürlich eine Sache, die auch Farina beherrschte, die Destillation, sodass dieser Geruch sehr Alkohol rein war und nicht nach den Beiprodukten wie Wein roch.
SPRECHERIN:
Ganz neu war auch die Zitrusnote des Kölnisch Wasser – es duftete nach Orangen, Zitronen, Pampelmusen und Bergamotte, eine Erinnerung an Farinas Heimat. Er war gerade mal 23 Jahre alt, als er den Duft erschuf, der die Stadt Köln weltberühmt machen sollte. Aufwendig und unter großem Aufsehen ließ er die exotischen Früchte von Italien nach Köln transportieren.
07 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Johann Maria Farina
Die Bergamotte ist eine Zitrusfrucht, die Ende des siebzehnten Jahrhunderts auf einmal auftaucht in Kalabrien, also ganz im Süden Italiens am Ionischen Meer, und man vermutet, dass es ein Hybrid ist, also eine Kreuzung zwischen einer Bitterorange und einer Zitronatzitrone. Genau gesichert ist das nicht, aber seitdem trat die auf, und die riecht anders als eine Zitrone oder auch anders als eine Bitterorange, hat alleine 350 Inhaltsstoffe, also das ist ein Parfüm für sich und gedeiht auch nur optimal in diesen Regionen um Reggio.
Musik: Allegro für Harfe 0‘47
SPRECHERIN:
Giovanni Maria Farina hatte nicht nur einen hervorragenden Geruchssinn, sondern auch eine Nase fürs Geschäft. Mühelos beherrschte er mehrere Sprachen und reiste viel, auch nach Paris, die Stadt, die sich langsam zur Metropole der Parfumeure wandeln sollte. Nach und nach gehörte es an allen europäischen Königshäusern zum guten Ton, sich mit Kölnisch Wasser zu betupfen oder auch zu waschen. Maria Theresia, Königin von Ungarn und Böhmen, schwor auf Farinas Eau de Cologne genauso wie Friedrich der Große oder die russische Kaiserin Katharina die Große.
Transportiert wurde das wertvolle Wässerchen in schmalen braunen Glasröhren.
08 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Johann Maria Farina
Glas war ja immer eigentlich das prädestinierteste Material zum Verpacken. Früher hat man natürlich alle Glasflaschen verkorkt, und dann muss man mit einem Korkenzieher die öffnen. Das war alles etwas mühseliger deswegen. Aber man hat ja auch im 18. Jahrhundert nicht das Gefäß benutzt, was man angeliefert bekam. Also die Glasflaschen waren ja auch oft nicht etikettiert, sondern hatten einen Zettel dran, was drin war. Man hat dann das umgefüllt, meinetwegen in Porzellan-Flakons oder in Glaskaraffen, die aber beim Transport ungeeignet wären, weil sie dann kaputtging, wenn sie gefüllt werden, weil die ja dann nicht dicht waren.
SPRECHERIN:
Farinas Eau de Cologne war auch deshalb so beliebt, weil es so leicht und erfrischend daherkam, nicht „den Körper verklebt, sondern den Geist beflügelt“, wie der französische Philosoph Voltaire sich ausdrückte. Und so wurde aus dem Markennamen „Eau de Cologne“ allmählich ein Gattungsbegriff, denn: Viele andere wollten an dem lukrativen Geschäft teilhaben und verkauften ihr Produkt einfach unter dem gleichen Namen. Farinas Kölnisch Wasser wurde unzählige Male kopiert, heute sind 1.200 Nachahmungen bekannt.
09 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Johann Maria Farina
Im 18. Jahrhundert gab es ja noch nicht den Begriff Parfum oder eau de parfum. Man hatte gar nicht die Definition, wie das Produkt benannt wurde und Eau de Cologne war das gängigste Produkt und der Marktführer. Und dadurch orientierte sich alles an diesem Begriff nachher, sodass das ein Gattungsbegriff aufgrund seines Erfolges wurde.
MUSIK: Suite bergamasque für Klavier 0‘35
SPRECHERIN:
Die Französische Revolution machte erstmal Schluss mit dem verschwenderischen Umgang mit Parfum. Luxus war verboten und gut zu riechen konnte einen schlimmsten Falls den Kopf kosten. „Ein Sansculotte parfümiert sich nicht“, war schließlich die Devise. Farina verkaufte seinen Duft trotzdem nach Paris, allerdings getarnt als „eau medicinalis“, also als Gesundheitswässerchen.
kurz Musik hoch
Im Zuge der Aufklärung gewann Reinlichkeit im 19. Jahrhundert hohe Bedeutung, Körperhygiene wurde zum Kult – man wusch sich auch bereits längst wieder mit Wasser. Seife konnten sich jetzt auch die Ärmsten leisten. Dank der Schriften von Louis Pasteur verblasste die Vorstellung schlechte Gerüche würden Krankheiten hervorrufen. Damit verlor das Parfum seine medizinische Funktion und sollte jetzt vorrangig nur noch eines: Wohlgeruch verbreiten.
Das leichte und zurückhaltende Kölnisch Wasser galt dabei als moralisch wesentlich vertretbarer als die lasziven Moschus- und Amber-Düfte, nach denen der dekadente Adel auch roch.
Selbst Napoleon setzte eher auf Schlichtheit, denn auf großen Pomp. Er bevorzugte einfache Kleidung und einfache Kost, am Eau de Cologne allerdings bediente er sich reichlich. Es wird sogar behauptet, er hätte es getrunken
MUSIK: Claire de Lune 0‘57
SPRECHERIN:
Das 19. Jahrhundert wird in Frankreich zum goldenen Zeitalter der Parfümkultur. Bisher waren Italiener führend in der Kunst der Parfümherstellung, nun gibt es mehr und mehr französische Parfümeure, wie Pierre François Pascal Guerlain. In Paris stellt er individuelle Düfte für bestimmte Personen oder auch nur für einen einzigen speziellen Abend her, beliefert den Prince of Wales genauso wie den Zaren von Bulgarien. Für Kaiserin Eugénie kreiert er …
SPRECHER: (immer verführerisch gesprochen wie in Werbung)
Das Eau de Cologne Impériale – eine Komposition aus Orangenblüten, Zitrone, Bergamotte, Lavendel, Rosmarin ... und vielleicht doch auch einem Hauch von Moschus?
SPRECHERIN:
Wer sich damals mehr mit Parfum betupfte, Männer oder Frauen, ist schwer zu sagen. Erst Ende des 19. Jahrhundert erfolgt eine Trennung in Damen- und Herrendüfte, wobei v.a. letzteren die Zitrusnoten zugeschrieben werden. Auch fand in diesem Jahrhundert die vielleicht größte Revolution in der Parfum-Herstellung statt: die Erfindung synthetischer Duftstoffe. Riechstoffe werden jetzt nicht aus Pflanzen und Tieren gewonnen, sondern mit chemischen Verfahren aus anderen Stoffen hergestellt. Damit entstehen ganz neue Duftfamilien: Orientalische Düfte mit Vanille oder die so genannten Fougères, ein Akkord aus Lavendel, Eichenmoos und Cumarin, in Verbindung mit Geranium, Bergamotte und Vetiver.
11 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Johann Maria Farina
Die Parfümindustrie ist eigentlich erst durch die synthetischen Duftstoffe groß geworden. Das begann schon Mitte des 19.Jahrhunderts mit ersten Jononen-Düften, das sind Duftrichtungen, die z.B. bei der Schwertlilie vorkommen, also bei verschiedenen Pflanzen, oder einfach Vanillin zum Beispiel und entwickelte sich dann ab dem Ersten Weltkrieg explosionsartig, dass der Markt riesig wurde, auch preiswert und natürlich für die großen Massen auch erschwinglich. Und die Parfumindustrie muss man ganz offen sagen: 99 Prozent sind keine natürlichen Inhaltsstoffe, denn sie können diese Mengen und auch diese niedrigen Preise nicht mit Naturstoffen hinkriegen.
SPRECHERIN:
Für ein Kilogramm Jasmin-Extrakt benötigt man acht Millionen handgepflückte Blüten, ein mühsames und extrem teures Unterfangen. Kein Wunder, dass das Parfum bis zur Erfindung der synthetischen Duftstoffe ein Luxus-Produkt der Privilegierten blieb. Das ändert sich nun. Ab 1870 gab es in Kaufhäusern die ersten Parfümtheken und in größeren Städten öffneten Geschäfte, die ausschließlich parfümierte Produkte anboten. Vor allem aber eröffneten die synthetischen Duftstoffe ganz neue Möglichkeiten.
MUSIK: Tulipe 0‘22
SRPECHER: (immer verführerisch gesprochen wie in Werbung)
Chanel N°5 – blumig-holziger Duft mit Aldehyden, Ylang-Ylang, Iris, Jasmin, Rose, Ambra, Sandelholz und Vanille. Für Frauen wie Marilyn Monroe …
13 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Johann Maria Farina
Mit Chanel N°5 kam eine neue Duftinnovation auf den Markt. Das war das erste Mal, das man Aldehyde, also ein synthetisches Aldehyd, verwendete oder besser gesagt, zwei waren dann drin, die einen völlig neunen Duft-Eindruck brachten. Und dieser Duft ist natürlich kontinuierlich weitergeführt worden, und das war natürlich ein großer Erfolg. Aber dieser Erfolg ist auch auf große Qualität zurückzuführen, denn es sind ja nicht nur Aldehyde drin, synthetische, sondern auch sehr hochwertige, natürliche Duftstoffe.
SPRECHERIN:
Coco Chanel ist eine der ersten Modeschöpferinnen, die unter ihrem Namen ein Parfum auf den Markt bringen. Erschaffen hat es der Parfümeur Ernest Beaux. In einer Zeit, in der visuelle Präsenz immer wichtiger wurde, konnten Modehäuser ihre Produkte zum Teil besser vermarkten als die Parfümhäuser. Viele Modeschöpfer folgten Chanels Vorbild: Jean Patou, Christan Dior, Yves Saint-Laurent, Wolfgang Joop und viele andere. Ihre Namen und Modenschauen verhalfen ihren Parfums zu immensem Erfolg, auf die Kreativität, Schaffenskraft und feinen Nasen ihrer Parfümeure waren und sind sie aber weiterhin angewiesen.
Im 20. Jahrhundert kommen neue Innovationen auch aus den USA.
14 Zsp. Der gute Duft – Die Geschichte des Parfüms Johann Maria Farina
Insbesondere durch Estée Lauder und auch andere sehr erfolgreiche Frauen, die Parfums auf den Markt brachten, in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, die natürlich im Gegensatz zu den französischen Düften sehr langanhaltend waren. Man wollte also Düfte haben, die nicht nach drei, vier Stunden verflogen waren, sondern man wollte hier einen Duft, der auch am nächsten Tag noch da war. Das war eine neue Parfümerie-Einstellung, also eine andere Schule. Diese amerikanischen Düfte, die man kennt von Estée Lauder als Vorreiterin sind natürlich eine andere Philosophie, aber kommen bei den Massen sehr gut an.
SPRECHERIN:
Der Trend heute geht zu Parfums, die nach Lebensmitteln riechen, nach Pfirsich, Kaffee, grünem Tee oder Schokolade. Die überwiegende Zahl neuer Parfums beruht jedoch auf alt Bewährtem, man wiederholt, was auf dem Markt Erfolg verspricht. Doch es gibt auch Gegenbewegungen: Die so genannte Nischenparfümerie, eine Gruppe kleinerer Firmen, die z.T. eigene Parfümeure beschäftigt, die Mut, Lust und die Freiheit haben Neues zu wagen, exklusiv zu sein, einzigartig, hochwertig und unkonventionell.
MUSIK: Slow awakening 2 0‘29
Und wer weiß schon, wofür kommende Generationen einen Riecher haben werden oder worüber sie die Nase rümpfen? Sicher ist, dass die Empfänglichkeit und das Bedürfnis nach dem flüchtigen Hauch eines olfaktorischen Feuerwerks so lange bestehen wird, wie es Menschen gibt.
In Frankreich wird das gesamte 18. Jahrhundert nach ihm benannt: "Le Siècle de Voltaire". Der Mann, der als die Stimme der Aufklärung und als einer der ersten modernen Intellektuellen gilt, war ein scharfer Geist und ein brillanter Spötter. Seine Schriften zu lesen, ist bis heute ein Vergnügen. Von Christian Schuler (BR 2022)
Credits:
Autor dieser Folge: Christian Schuler
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Thomas Loibl
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
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Historiker halten den Ski für eines der ältesten Sportgeräte der Menschheitsgeschichte. Wohl schon vor tausenden von Jahren benutzte man Bretter im Tiefschnee, allerdings zunächst zur Fortbewegung bei der Jagd. Das Skifahren als Sport und Freizeitvergnügen, wie wir es heute kennen, hat seinen Ursprung in Norwegen. Von Katrin Kellermann
Credits
Autorin dieser Folge: Katrin Kellermann
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling, Werner Härtl
Technik: Peter Urban
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Obmann Mag. Martin Krickl vom Bezirksmuseum & FIS-Zdarsky-Skimuseum Lilienfeld
Dr. Robert Groß, Umwelthistoriker von der Universität für Bodenkultur Wien (kurz BOKU)
Markus Wasmeier, Doppelolympiasieger, Ex-Skirennfahrer und Gründer des Markus Wasmeier Freilichtmuseums in Schliersee
Weiterführende Links und Buchtipps:
https://www.wasmeier.de/
Museum Lilienfeld aktuell wegen Umbau und Modernisierung geschlossen. Wiedereröffnung im Jahr 2025. Ab dann erreichbar unter https://www.museum-lilienfeld.at/
Die Anfänge des alpinen Skirennsports: The Golden Age of Alpine Skiing, zweisprachig deutsch/englisch, 2010, Max D. Amstutz, AS Verlag
Die Beschleunigung der Berge: Eine Umweltgeschichte des Wintertourismus in Vorarlberg/Österreich (1920-2010) von Robert Groß, Böhlau Köln, 2019
Das Skibuch: Alles über Alpinski, Snowboard & Langlauf, Skigebiete, Touren, Technik und vieles mehr in über 1000 Infografiken, Illustrationen und Karten, 2021
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Ein Wettlauf um Reichweite und Sendemasten: Das frühe Radio erreicht Millionen. Ein modernes Massenmedium, das verzaubert und verführt. Hoffnung und Krise, Aufklärung, Utopie und Propaganda - nirgends durchdingen sie sich so intim, wie in den Anfängen des Rundfunks. Von Jerzy Sobotta (BR 2022)
Autor dieser Folge: Jerzy Sobotta
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Peter Weiß
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Thomas Morawetz
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Alles Geschichte - History von radioWissen hat eine spannende Staffel zum Thema Krieg und (Des)information:
KRIEG UND (DES)INFORMATION - Im Ersten Weltkrieg
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KRIEG UND (DES)INFORMATION - Beispiel Kosovo
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KRIEG UND (DES)INFORMATION - Kriegsberichterstatterinnen
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Literaturtipps:
Jurij Murašov: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Kultur der 1920er und 30er Jahre. Paderborn 2021.
Russia in the Microphone Age: A History of Soviet Radio, 1919-1970. Oxford 2015.
Michele Hilmes: Radio Voices: American Broadcasting, 1922-1952. Minneapolis 1997.
Peter Dahl: Arbeitersender und Volksempfänger. Proletarische Radio-Bewegung und bürgerlicher Rundfunk bis 1945. Frankfurt 1978.
Carole E. Scott (State University of West Georgia): The History of the Radio Industry in the United States to 1940. eh.net
"Pan Tau", "Luzie, der Schrecken der Straße", "Der fliegende Ferdinand" oder die allweihnachtlichen "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel": Was heute als Kult gilt unter den Märchenfilmen und Kinderserien, ist zu seiner Entstehungszeit in den 1970er Jahren ein Brückenschlag zwischen Ost und West. Von Susi Weichselbaumer (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Julia Fischer, Friedrich Schloffer, Katja Schild
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Gert K. Müntefering, ehemaliger WDR Kinderfilm-Chef, Berlin;
Dr. Helena Srubar, Slavistin;
Katharina Schöde, Kinderfilmautorin, Regisseurin, Produzentin, Berlin;
Katharina Miebach, Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Das Wintermärchen. Königswinter: HEEL.;
Helena Srubar (Ambivalenzen des Polulären. Pan Tau und Co. zwischen Ost und West. Konstanz: UVK)
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Literatur:
Katharina Miebach - Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Das Wintermärchen. Königswinter: HEEL.;
Helena Srubar - Ambivalenzen des Polulären. Pan Tau und Co. zwischen Ost und West. Konstanz: UVK
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ERZÄHLERIN
Sanft fliegen die beiden Schimmel durch die weißverschneite Winterlandschaft. Auf dem einen Aschenbrödel im weißbauschigen Brautkleid, mit blitzendem Diadem in den wehenden braunen Haaren. Daneben reitet der Prinz im Prachtornat. Er greift ihre Hand, sie lächelt zu ihm hinüber.
ERZÄHLER
Er lächelt zu ihr herüber.
ERZÄHLERIN
Beide lächeln einander zu.
ERZÄHLER
Und lächeln. Und lächeln weiter. Und das jedes Weihnachten. Auf sämtlichen öffentlich-rechtlichen Sendern.
ERZÄHLERIN
Seit der Erstausstrahlung 1973 ist „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ abonniert aufs Adventsprogramm. In Deutschland und im Rest Europas. Generationen von Kindern haben im Fernsehen verfolgt, wie das arme schmutzige Mädchen Tag und Nacht im Gutshaus schuften muss für die böse Stiefmutter und die hinterlistige Stiefschwester. Bis sie schließlich in den Armen des Königssohns landet.
ERZÄHLER
Alle Weihnachten wieder… Aus jeder Zaubernuss purzelt ein neues Gewand.
1 ZU (Wally Drei Nüsse 0.00)
Erst kriegt sie so einen schicken Jägeranzug, dann kriegt sie ein Kleid für den Ball und dann kriegt sie ein Kleid zum Heiraten.
ZITATORIN
„Die Wangen sind mit Asche beschmutzt, aber der Schornsteinfeger ist es nicht…“
2 ZU (Wally Drei Nüsse 0.44)
Ich finde so lustig, dass Aschenbrödel so ein kleines Rätsel stellt. Weil sie sagt zum Beispiel, die hat ja immer im Haus gearbeitet: Wer ist so schwarz wie ein Kaminkehrer, ist aber kein Kaminkehrer?
ZITATORIN
„Ein Hütchen mit Federn, die Armbrust über der Schulter, aber ein Jäger ist es nicht…“
3 ZU (Wally Drei Nüsse 0.44)
Alle, die den Film bis dahin geschaut haben, wissen, das war Aschenbrödel.
ERZÄHLER
Das weiß jeder, weil alle Jahre Weihnachten...
ZITATORIN
„Zum Dritten: Ein silbergewirktes Kleid mit Schleppe zum Ball, aber eine Prinzessin ist es nicht, mein holder Herr.“
ERZÄHLERIN
Es ist kein Wunder, dass das alle immer wieder sehen, sagt die Berliner Kinderfilmregisseurin und Autorin Katharina Schöde. Für sie sind die tschechischen Märchenfilme und Kinderserien der 1970er und frühen 1980er Jahre Marksteine der Filmgeschichte. Und Inspiration für ihre eigene Arbeit heute:
4 ZU (Schöde 0.13)
Das Besondere daran ist, dass es so wahnsinnig phantasiereich ist und die Kinder so abgeholt hat, total auf Augenhöhe erzählt wurde und so eine bestimmte Magie hat, die nicht mit dem Zeigefinger daherkam, sondern Spaß gemacht hat.
MUSIK Pan Tau (0.46)
ERZÄHLERIN
„Die kleine Meerjungfrau“, „Prinz und Abendstern“, „Der dritte Prinz“, „Der Salzprinz“, „Däumling“ – die tschechische Kinderfilmbranche boomt in jener Zeit. Und bringt Stars hervor wie Aschenbrödel-Darstellerin Libuse Safránková.
ERZÄHLER
Im Folgejahrzehnt und darüber hinaus Dauerprinzessin auf den Bildschirmen!
ERZÄHLERIN
Auch in den prominent besetzten Reihen für Kinder geht es magisch und märchenhaft zu: „Pan Tau“, „Der Fliegende Ferdinand“, „Luzie, der Schrecken der Straße– die Prager Filmstudios Barrandov produzieren damals einen Hit nach dem anderen.
ERZÄHLER
Immer nur stetig nach oben führt der tschechische Weg zum Erfolg nicht. Die politischen Umstände sind schwierig. Nach einer Phase der Öffnung scheitern 1968 die Reformbemühungen der Kommunistischen Partei KSC. Der Prager Frühling ist zu Ende. Die Tschechoslowakei nimmt politische Lockerungen wieder zurück. Presse- und künstlerische Freiheit werden beschnitten. Wer als oppositionell eingestuft wird, erhält Berufsverbot oder erlebt zumindest Einschränkungen.
5 ZU (Schöde 0.58)
Es gibt Leute, die sagen, dass gerade diese Kinderserien oder Märchenserien aus Tschechien auch so ein Zufluchtsgenre waren, dass viele Regisseure, die damals nicht die Filme machen durften, die sie wollten, sich einfach da ausgetobt haben, und viele tolle Leute diese Filme gemacht haben und das merkt man glaube ich auch.
ERZÄHLERIN
Für etliche Regisseure, Drehbuchschreibende, Schauspielerinnen und Schauspieler, aber auch Kameraleute ist die Karriere nach dem Prager Frühling eigentlich jäh zu Ende. Doch eine Nische öffnet sich, besser: ein Mann schließt sie auf.
MUSIK All clued up (0.38)
ERZÄHLER
Ota Hofmann, national gefeierter Kinder- und Jugendbuchautor, der in dieser Rolle sämtlichen politischen Umstürzen trotzt. Seit 1955 arbeitet der Prager als Dramaturg für Kinderfilme in den renommierten Filmstudios Barrandov. Dort wird er Leiter der Kinderfilm-Produktionsgruppe. Auf einem Filmfest Mitte der 60er Jahre lernt er den Kinderfilm-Verantwortlichen des Westdeutschen Rundfunks kennen, Gert Müntefering. Die beiden verstehen sich sofort, tauschen sich über mögliche Kooperationsprojekte aus. Die Telefone zwischen Köln und Prag stehen nicht mehr still.
6 ZU (MÜNTEFERING 28.00)
In Prag 65 bis 68, da konnten die Geschichten sich entfalten, den Hintergrund muss man auch wissen, dass in dieser Zeit ein neues Gefühl in Prag war, das wirkte sich eben auch auf die Arbeit sachlich aus, bis die Russen kamen, die kamen 68, die Drehbücher waren fertig und ich hörte dann im Radio, dass die Truppen des Warschauer Paktes sich breitmachten.
ERZÄHLERIN
Drei Wochen bangt Müntefering in Köln um gemeinsam verabredete Drehpläne dies- und jenseits der Grenze.
MUSIK All clued up Z8034434 107 (0.43)
ERZÄHLER
Plötzlich erhält er wieder ein Besuchsvisum. Die Zusammenarbeit zwischen Ost und West im Kinderfilm geht weiter und nimmt nach dem Prager Frühling richtig Fahrt auf.
ERZÄHLERIN
Offenbar gelingt es Ota Hofmann, die Zensur zu umschiffen.
ERZÄHLER
Vielleicht ist der Kinderfilm und -fernsehbereich auch politisch unverdächtig. Oder man freut sich über das internationale Renommee, das die Kinderproduktionen aus der Tschechoslowakei inzwischen gewinnen.
ERZÄHLERIN
Auch aus Qualitätsgründen erhält Ota Hofmann die Zusammenarbeit mit Kollegen aufrecht, die er gemäß politischer Weisung nicht mehr beschäftigen dürfte, erzählt die Slavistin Helena Srubar.
7 ZU (Srubar 0.34)
Es war ein großes Glück, weil offenbar unter seiner Hand mit den Künstlern oder Filmemachern, die bis dahin beschäftigt waren, möglich war, dass da weitergearbeitet werden konnte. Und es ist dann praktiziert worden unter Ota Hofmann, dass man beispielsweise Drehbücher von verbotenen Autoren unter anderem Namen umgesetzt hat. Zum Beispiel die „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ waren von Franticek Pavlicek geschrieben, und der durfte eben nicht mehr arbeiten. Und es wurde dann unter einem anderen Namen gemacht.
ERZÄHLER
Dieses – bald etablierte – Vorgehen täuscht die Zensurbehörde wohl nur bedingt. Trotzdem schreitet sie nicht ein.
ERZÄHLERIN
Solange ein anderer Name auf dem Skript steht –
ERZÄHLER
Schwierig wird es nur bei Darstellern, die eigentlich ganz verbannt sein sollten von den tschechoslowakischen Bildschirmen.
ERZÄHLERIN
Aber auch dafür findet sich eine Lösung. Denn die DDR und andere osteuropäische Nachbarländer zeigen großes Interesse daran, die aufwendig inszenierten Märchen- und Fantasyproduktionen anzukaufen. Oder als Co-Produktionen mitzufinanzieren. Und auch Westdeutschland, gerade der Westdeutsche und der Bayerische Rundfunk, mischen bald mit.
8 ZU (Srubar 2:33)
Dadurch, dass durch die Co-Produktion Devisen ins Land, ins System gespült wurden und man natürlich auch ein Feigenblatt hatte zu zeigen eben hier die sozialistische tschechoslowakische Kultur liefert auf so hohem Niveau auf die westdeutschen Bildschirme, wurde da sicherlich dann doch durchaus manches toleriert, was man intern, also nur für den tschechoslowakischen Markt, möglicherweise nicht toleriert hätte.
MUSIK Vincek und die drei Haselnüsse C1590140 110 (0.44)
ERZÄHLER
In dieser Gemengelage wird der tschechische Kinderfilm international. Der Tross an Filmschaffenden ist ab den späten 60er Jahren dauernd in Bewegung. Für die „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ wird eine Burg 30 Kilometer von Pilsen umgebaut. Aus der stolzen Anlage mit Wassergraben, mehreren Mauerringen und dicken Türmen entsteht der Gutshof der Stiefmutter mit Scheunen und Wirtschaftsgebäude. Die Kulissengestalter setzen ein zweiflügliges Tor in die Außenmauer ein.
ERZÄHLERIN
Durch das reiten später Aschenbrödel und der Prinz –
ERZÄHLER
Andauernd ein und aus und hin und her.
ERZÄHLERIN
Am Ende dann gemeinsam…
ERZÄHLER
Davor braucht es aber noch die Begegnung im Wald und auf dem Ball.
ERZÄHLERIN
Das Drehbuch sieht romantische Szenen im Frühling vor, warme erste Sonnenstrahlen, blühende Wiesen. Für Regisseur Václav Vorlíček muss die Geschichte in der Renaissance spielen.
ERZÄHLER
Zu üppig für das tschechoslowakische Budget.
ERZÄHLERIN
Ota Hofmann lässt seine Kontakte zur DEFA spielen. Die Filmgesellschaft der DDR steigt finanziell und personell mit ein, hat aber im Sommer keine Kapazitäten mehr. Aus Aschenbrödel muss ein Wintermärchen werden. Die ideale Fügung, wie sich später herausstellt, der perfekte Weihnachtsfilm. WDR-Kinderfilm-Chef Gert Müntefering sieht die ersten Szenen bei einem Besuch in Prag und kauft sofort an.
9 ZU (MÜNTEFERING 18.33)
Entscheidend war dann, dass wir ein System finden mussten, um nicht nur Käufer zu sein.
ERZÄHLER
Erinnert sich Müntefering. Man wollte mitgestalten, ähnliche Projekte gemeinsam umsetzen. Wieder wird viel telefoniert…
10 ZU (MÜNTEFERING 18.33)
Ich habe dann in Prag mit Vorlíček, der diese berühmten „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ gedreht hat und wunderbare Märchenfilme, den hab ich dazu gebracht und das tschechische Fernsehen dazu überredet, dass sie dann „Die Märchenbraut“ gedreht haben. Das war ein Auftrag des WDR, der zu einer Coproduktion mit dem tschechischen Fernsehen geführt hat, und das hat gut geklappt.
MUSIK Märchenbraut (Rechte geklärt mit WDR, Musik: Luboš Fišer 1981;
Dagmar Patrasová – Xenie A Arabela / Co Se Děje V Groteskách;
Label: Panton – 8143 0180, Vinyl, 7", 45 RPM, Repress
Czechoslovakia; WDR Archimedes 0118248, 17.07.1982,
Die Märchenbraut, Folge 01 (1.00)
ZITATORIN
„Die Märchenbraut“, Serie 1979 bis 1981: Der Schauspieler und Märchenerzähler Karl Majer gerät zufällig an ein magisches Glöckchen, das den Zauberer Rumburak aus dem Märchenreich herbeiruft. Nun geht es hin und her zwischen echter und Märchenwelt. Figuren der Brüder Grimm tauchen auf, genauso Fantomas oder Tarzan.
Liebe gibt es auch: Arabella, die jüngere Tochter des Königs, verguckt sich in Peter, den Sohn von Herrn Majer. Rumburak möchte sie für sich und entführt Arabella auf seine Burg. Peter sucht, findet und verliert sie andauernd wieder. Die beiden kommen nie dazu, sich zu küssen. Immer gerät was oder wer dazwischen. Erst in der allerletzten Szene der allerletzten Folge…
ERZÄHLER
Die Serie läuft in der Tschechoslowakei und in der BRD recht erfolgreich. Die Achse Barrandov in Prag – WDR in Köln wird in der Folgezeit besonders produktiv. Klassiker wie „Pan Tau“, der schweigsame Zauberer mit der schwarzen Melone, dessen Künste meistens wenig helfen und die Lage eher grotesk verschlimmern, entstehen bis 1978 zusammen. Oder 1980 „Luzie, der Schrecken der Straße“.
ERZÄHLERIN
Für die Berliner Kinderfilmregisseurin und Autorin Katharina Schöde ein absoluter Hingucker:
11 ZU (Schöde 6.30)
„Luzie, Schrecken der Straße“ hat mich damals geprägt, sie war ein Mädchen, das waren ja damals noch nicht so viel in den Serien, sie war cool, hatte schon auch so ihre Probleme mit der Bande und wollte dazugehören, dann hatte sie diese lustigen Friedrich und Friedrich, die sie da begleitet haben.
MUSIK Luzie, der Schrecken der Straße (Rechte geklärt mit WDR, Video-Überspielung WDR; Musik: Angelo Michajlov 1980)
12.10.1980: Luzie, der Schrecken der Straße, Folge 1: Luzie will nicht allein sein. WDR Archimedes 0113301 (1.25)
ERZÄHLERIN
Die frechen Knetmännchen Friedrich und Friedrich, die alle möglichen Farben und Formen annehmen können und zu jedem Zauberquatsch bereit sind. Sie unterstützen die sechsjährige Luzie im Sommer vor der Einschulung, in dem alle Freundinnen in Urlaub sind, und nur Luzie daheim in der Stadt bleiben muss.
ERZÄHLER
Luzies unbedingtes, aber hoffnungsloses Ziel: Sie will aufgenommen werden in die Bande des älteren Nachbarsjungen Oswald. Sechs ganze Folgen lang.
ERZÄHLERIN
Die bis heute regelmäßig wiederholt werden:
12 ZU (Luzie/ Wally 0:10)
Als Erstes musste eigentlich der Kühlschrank repariert werden und der, der den Kühlschrank repariert hat, hat dann das Kabel aus Versehen durchgerissen und die Tapete kaputt gemacht und dann mussten immer mehr Helfer kommen, weil immer mehr kaputtgegangen ist. // Also da war die Luzie und auf einmal war in ihrem Wohnzimmer eine Schlittschuhbahn, da war alles voller Eis und dann sind sie mit den Freundinnen Schlittschuh gefahren. // Aber am Ende ist dann doch irgendwie alles gut gegangen.
ERZÄHLER
Auf reichlich magische Art und Weise gut gegangen.
ERZÄHLERIN
Dank Friedrich und Friedrich.
ERZÄHLER
Naja, eher trotz Friedrich und Friedrich. Deren fröhlich überbordende Magie ist selten wirklich zielführend…
ERZÄHLERIN
Aber auf jeden Fall gut gegangen, denn das macht viele der damaligen Kinderfilme und Serien aus der Tschechoslowakei aus. Die Kinder finden eine Lösung. Gerne mit zauberhaften Freunden.
ERZÄHLER
Nie mit kompetenten Eltern –
ERZÄHLERIN
Denn die gibt es nicht.
13 ZU (Luzie/ Wally 5:10)
Die Mama, als erstes schimpft sie total und dann ist sie wieder total nett, und der Papa ist schon immer nett und ist manchmal auch so unsicher und einmal hat er auch zu der Mama von der Luzie gesagt, das ist nichts für Dich. Also ich finde die Eltern nicht so toll.
MUSIK Die Tintenfische aus dem zweiten Stock (Rechte geklärt mit WDR, Video-Überspielung WDR; Musik: Angelo Michajlov 1986) WDR Archimedes 0186301; 19.8.1990; Folge 1: Der Fliegende Ferdinand (0.47)
ERZÄHLERIN
Für die jungen Hauptfiguren heißt das: Sie müssen selber ran. Zum Beispiel „Tintenfische im zweiten Stock“ in der gleichnamigen Serie im Zaum halten.
Außerirdische unbemerkt durch den irdischen Alltag lotsen wie in „Die Besucher“. Da wird geflogen und verwandelt, hergezaubert und in Luft aufgelöst.
14 ZU (Schöde 2.00)
Aus heutiger Sicht sieht das alles sehr nostalgisch und niedlich aus, aber für damalige Zeiten waren das unglaubliche Sachen, die da ausprobiert wurden. Mit Special Effects und Knete und Kameratechnik wurden da fantastische Sachen erzählt in Science Fiction und Fantasy-Filmen und Serien, die wegweisend waren.
ERZÄHLER
Schwärmt die Berliner Kinderfilmerin Schöde.
15 ZU (Schöde 2.50)
Vom Technischen sind diese Barrandov-Studios in Prag immer schon toll gewesen und die hatten tolle Leute, die viel ausprobiert haben.
ERZÄHLERIN
Speziell auch in Produktionen für Kinder. Während die in der BRD in den 1960er, 70er, ja noch 80er Jahren vor allem didaktisch daherkommen und kaum Sendeplätze erhalten, darf sich der tschechoslowakische Kinderfilm thematisch und technisch austoben, erklärt die Slavistin Helena Srubar.
16 ZU (Srubar 3.04)
Man muss sagen, dass im tschechoslowakischen Filmschaffen der Kinderfilm nicht eine Kategorie B war. Das galt genauso als künstlerisch anspruchsvoll, schon vor 68 wie hinterher. Das heißt es, es haben Kameraleute wie auch Schauspieler in allen Bereichen gespielt. Deshalb waren auch diese Produktion in der Tschechoslowakei so beliebt, weil die Schauspieler kannte man zum Teil aus dem Nationaltheater und aus den Erwachsenenfilmen. Also, es war nicht, dass man gesagt hat, für Kinder muss man irgendwie ein extra Repertoire haben, oder es sei eben künstlerisch weniger wertvollen. Es hatte den gleichen Anspruch.
ERZÄHLERIN
Anders als in Deutschland steht die Kategorie „Märchen“ im Film gleichauf mit Drama.
ERZÄHLER
Märchen haben in der tschechischen Kultur einen hohen Stellenwert, waren immer zuhause im Theater und in der Hochliteratur. Abstruses, Unerklärliches –
ERZÄHLERIN
Gruseliges –
ERZÄHLER
Zauberhaftes –
ERZÄHLERIN
Wunderbares –
ERZÄHLER
Ohne schweren didaktischen Überbau…
17 ZU (Srubar 9:44)
Diese Freude daran, Autoritäten zu dekonstruieren und lächerlich zu machen, das zieht sich überall durch. Das gibt es auch ganz stark in der tschechischen Märchentradition, also in der literarischen Märchentradition. Im Film genauso, definitiv, das haben sie ja im Aschenbrödel auch, dass der König, quasi genauso ein kleiner Bub ist, von der Königin gerügt wird, wie sein eigener Sohn, dass er nicht tanzen kann, wenn er ihr auf die Füße getreten ist, und so weiter.
MUSIK Sendung mit der Maus Z8034995 213 (0.23)
ERZÄHLER
Für den ehemaligen WDR-Kinderfilmchef Gert Müntefering das perfekte Programm. Im WDR hatte er die „Sendung mit der Maus“ mitentwickelt. Darin laufen ab 1971 Lach- und Sachgeschichten, die die echte Welt erklären. Mehr ist dem deutschen in erster Linie Bildungsfernsehen für Kinder noch nicht abzuringen. Allerdings: Den Kleinen Maulwurf kauft Müntefering als tschechoslowakischen fantastischen Import dazu, gleich nach einem Treffen mit dessen Zeichner und Erfinder, dem Trickfilmer Zdeněk Miler:
MUSIK/ TV Der Kleine Maulwurf (Rechte mit WDR geklärt) Video-Überspielung WDR, WDR Archimedes 0706806, Geschichten vom Maulwurf – Der Angler (0.42)
18 ZU (MÜNTEFERING 44.00)
Und nun ja, Maulwurf – wer nicht erkannte, dass das eine liebenswerte Figur mit Überlebensdauer ist, der sollte sich doch einwecken lassen.))
ZITATORIN
Rotes Spitznäschen, runde schwarze Augen, drei Haare in die Luft – so tapst der Kleine Maulwurf vergnügt durch Wald und Wiesen.
Mit seinen besten Freunden Hase, Igel und Maus erlebt er meist unaufgeregte Abenteuer, ein Picknick im Regen, einen Badeausflug an den See. Manchmal trifft er auf Menschen oder wird mit dem so ganz anderen Leben in der Stadt konfrontiert. Damit er überall auf der Welt verstanden wird, spricht der Kleine Maulwurf nicht. Sein glucksendes Lachen ist sein Markenzeichen.
19 ZU (MÜNTEFERING 44.00)
Insofern habe ich 65 das gesehen, da habe ich gesagt, wir kaufen gleich die nächsten Filmoptionen, ich habe gesagt, der WDR kauft ihn und der Etat war ja da. Diese Figur entfaltete sich dann und ich habe auch längere Geschichten mit ihm gemacht.
ERZÄHLERIN
Herzige Geschichten –
ERZÄHLER
Traurige –
ERZÄHLERIN
Versöhnliche Geschichten über ein gutes Miteinander.
ERZÄHLER
Wie der Kleine Maulwurf bleiben viele Serienfiguren und Kindersujets aus der Tschechoslowakei weitgehend fantastisch-ideologielos. Ihre Macher sind oft Regimekritiker, die nach dem Prager Frühling ins Kindersegment ausweichen. Sozialistische Propaganda zu verbreiten, liegt ihnen fern.
ERZÄHLERIN
Was dagegen für das Publikum daheim, aber auch in den östlichen und westlichen Nachbarländern funktioniert, ist das grundsätzliche Ideal der Freundschaft, die mehr zählt als schnödes Geld. Manch ein Bösewicht in „Pan Tau“ fährt schon mal Mercedes und spricht mit englischem, französischen oder italienischen Akzent, übrigens nur im tschechischen Original.
ERZÄHLER
Trotzdem erzählen die wenigsten Serien und Filme den Kapitalismus als das Böse.
MUSIK Der Fliegende Ferdinand (Rechte geklärt mit WDR, Musik: Karel Svoboda 1983: Návštěvníci / Létající Čestmír Composer: Karel Svoboda; Label: Supraphon 1985 Vinyl; Type TV Series/TV film; Der Fliegende Ferdinand Folge 1, Der Stein, WDR Archimedes 0127071 (0.46)
ERZÄHLERIN
Eher den einzelnen Kapitalisten, dem es um Geld und damit um persönliche Macht geht. Beispiel:
ZITATORIN
„Der fliegende Ferdinand“, Serie 1983/ 84: Der Junge Ferdinand wird von einem Meteoriten verschluckt und auf den Planeten der Blumen befördert wird. Von dort bringt er Zaubergewächse mit. Riecht er an der einen Blume, kann er fliegen.
Schnuppert er an der anderen, wird er erwachsen und sieht aus wie sein Vater. Sein Lehrer will auch solche Blumen – um die Menschheit zu retten. Die Kinder unterstützen das. Der Friseur ums Eck jedoch stiehlt die Blumen, um sie ohne Rücksicht auf nichts und niemanden zu Geld zu machen.
ERZÄHLER
Es siegt die Gerechtigkeit, nicht der Egoist, der sich bereichern will.
ERZÄHLERIN
Ein Motiv, das Ost und West damals verband, sagt die Slavistin Helena Srubar. Wie überhaupt die tschechoslowakisch-deutschen Kinderserien und Filme der 1970 und 1980er Jahre zur Völkerverständigung beitrugen:
20 ZU (Srubar 14.17)
Meine Eltern sind 1969 aus Prag emigriert, und ich bin zweisprachig mit Tschechisch groß geworden und zusätzlich zu der allgemeinen Faszination für diese Serien war das für mich total schön. Wenn im Fernsehen Prag gezeigt wurde oder meine Eltern kamen und sagten, das ist der Schauspieler so und so, das war irgendwie total schön. Wenn quasi von der anderen Seite vom Eisernen Vorhang also einen Gruß kam und auch plötzlich meine Freundinnen damit etwas anfangen konnten, weil über tschechische Kultur war zu dem Zeitpunkt eigentlich ansonsten nicht viel bekannt oder präsent. Und das hat mir natürlich sehr gut gefallen.
MUSIK Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (1.00)
ERZÄHLER
Heute gefallen diese Serien und Filme immer noch.
ERZÄHLERIN
Manche Tricktechnik mutet im Computerzeitalter vielleicht etwas nostalgisch und langsam an.
ERZÄHLER
Dafür besitzen die märchenhaften Geschichten nach wie vor Zauber. „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ zum Beispiel. Wenn Aschenbrödel und der Prinz auf ihren Schimmeln Seite an Seite durch den Schnee reiten. Ihr weißbauschiges Brautkleid flattert im Wind. Sie halten sich reitend an den Händen und lächeln sich an.
ERZÄHLERIN
Weil sowas in echt nicht geht, mussten die Schauspieler beim Dreh auf dem Bauch eines Kameramanns sitzen. Der wurde auf einem Schlitten gezogen und filmte sie von unten. Nicht so romantisch.
ERZÄHLER
Aber im Film funktioniert es. Der wichtigste Weihnachtsfilm.
ERZÄHLERIN
Auf sämtlichen Sendern.
ERZÄHLERIN/ ERZÄHLER
Alle Jahre wieder.
"Blaue Zonen" beschreiben Regionen, in denen die Menschen überdurchschnittlich alt werden. Dazu gehören u.a. die griechische Insel Ikaria und die japanische Insel Okinawa. Einige Erfolgsrezepte: Familie, Bewegung, Ernährung, soziales Engagement. Welche weiteren Tipps haben die Hundertjährigen? Von Bernd-Uwe Gutknecht
Credits
Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Caroline Ebner, Jerzy May, Peter Veit, Andreas Dirscherl, Christian Schuler, Jenny Güzel, Gabi Hinterstoißer
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Iska Schreglmann
Interviews:
Prof. Dr. Peter Tessarz, Alterswissenschaftler, Radboud-Universität, Nijmegen, Niederlande
Dr. Laura Richardson, Professorin für Bewegungswissenschaften an der University of Michigan, USA
Älteren Menschen auf Ikaría
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Lea Ypi - Frei
Hörbuch. Die kleine Lea ist fest überzeugt davon, frei zu sein. So haben ihre Eltern ihr das erklärt. Doch es ist 1990, und auch in Albanien, dem letzten sozialistischen Land in Europa, ändert sich alles. Können die Menschen endlich leben, wie sie wollen? Verblüffend und erhellend erzählt Lea Ypi ihre eigene Geschichte, in der "frei" und "wahr" für fast jeden etwas anderes bedeuten. Es liest Katja Bürkle. HIER
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Erzählerin:
Ein Kafenio (Betonung auf e), wie es viele auf Ikaría (Betonung auf zweitem i) gibt. Die griechische Insel liegt in der Nördlichen Ägäis. Egal, wie klein die Dörfer sind, egal ob an der Küste oder in den Bergen, Café und Kirche sind nicht wegzudenken. An runden Tischen sitzen vor allem ältere Männer, spielen Karten...
ATMO 02 Karten
Erzählerin:
...im Hintergrund läuft rund um die Uhr der Fernseher...
ATMO 03 TV
Erzählerin:
Manchmal organisiert der Wirt Stamatis Foudouli (sprich: Fuduli) auch kleine Musik-Konzerte:
O 01 Musik OV Sprecher 1:
„Es ist sehr wichtig, dass die Einwohner der Dörfer hier Plätze haben, an denen sie zusammenkommen können, wo sie immer Bekannte antreffen. Es ist noch immer sehr üblich auf Ikaría, sich daheim zu besuchen. Aber es ist auch wichtig, dass an einem Ort wie diesem Lokal praktisch immer jemand da ist, den man kennt, mit dem man sich unterhalten kann, auch über Probleme und Sorgen. Wenn wir Live-Musik haben, ist es natürlich voll, denn wir Griechen lieben unsere Musik!“
ATMO 04 greek coffee
Erzählerin:
Zwischendurch setzt der Wirt für seine Gäste griechischen Kaffee auf, den kleinen starken mit Kaffeesatz, Ellinikó. So wie seit Jahrhunderten.
Am runden Tisch, wo etwa zehn grau-und weißhaarige Männer sitzen, wird diskutiert. Über Gott und die Welt und was sonst noch wichtig ist. Sie nennen sich „Das kleine Parlament“:
ATMO 01 Café
O 04 Winter OV Sprecher 1:
„Vor allem in den kühlen Monaten verbringen wir den halben Tag hier. Viele von uns sind 80 oder 90 Jahre alt! Mit 65 bin ich der Jüngste. Wir debattieren über die politische Lage, über die finanzielle Situation, und wir reden auch oft über unsere Frauen! Die sind daheim und sprechen eher über praktische Dinge: was sie gerade im Garten ernten, wie es ihnen gesundheitlich geht und so.“
ATMO 05 frappe
Erzählerin:
Jetzt mixt der Wirt einen Frappé mit Milch. Den starken Ellinikó verträgt er nicht mehr, sagt dieser 83-Jährige:
O 06 Paradies OV Sprecher 2:
„Ich habe mein ganzes Leben als Bauer gearbeitet. Auch heute noch stehe ich früh auf, kümmere mich als Erstes um meine Ziegen. Am Vormittag komme ich runter in dieses Café. Jeden Tag, immer zur selben Zeit. Es ist wichtig, gewisse Routinen im Leben zu haben. Hier einen Kaffee zu trinken, aufs Meer zu schauen und alte Freunde zu sehen, macht mich einfach glücklich. Und natürlich meine fünf Kinder und bisher neun Enkelkinder! Wenn ich auf mein Leben hier zurückblicke, kann ich nur sagen: ich lebe im Paradies!“
MUSIK Perfect rotation 0.48 Min.
Erzählerin:
Solche Orte, an denen Seniorinnen und Senioren auffallend gesund sind und alt werden, gibt es in verschiedenen Regionen der Erde. Der belgische Forscher Michel Poulain kreierte im Jahr 2000 den Begriff „Blue zones“, also „Blaue Zonen“, dafür. Der amerikanische Wissenschafts-Journalist Dan Buettner schrieb 2003 ein Sachbuch darüber. Seitdem untersucht auch die Gerontologie, also die Alterswissenschaft, was es mit der Langlebigkeit in den „Blauen Zonen“ auf sich hat.
O 07 blau:
„Blaue Zonen sind ein paar Gegenden, die sehr lokal begrenzt sind und wo die Menschen überdurchschnittlich alt werden. Und die Frage ist, inwieweit diese blauen Zonen tatsächlich so existieren oder ob es ein statistisches Problem ist, weil häufig liegen die tatsächlich in Gegenden, die ökonomisch nicht gut gestellt sind, also häufig sehr arm, wo vielleicht Geburtenregister nicht so toll geführt sind, wie man es kennt. So dass da zumindest statistisch und epidemiologisch durchaus viele Fragezeichen zu sehen sind, ob es die wirklich so gibt.“
Erzählerin:
Professor Peter Tessarz ist Human-Biologe und Alterswissenschaftler, lehrt und forscht an der Radboud (sprich: Radbaud) Universität im niederländischen Nijmegen (sprich: Neimechen). Er sieht die Lokalisierung blauer Zonen eher kritisch, erkennt aber ähnliche Verhaltensweisen der Bewohner dort. Vor allem die gesellschaftliche Teilhabe der Menschen bis ins hohe Alter, wie eben auf der griechischen Insel Ikaría:
O 08 Ika:
„Das liegt natürlich wahrscheinlich auch zum großen Teil daran, dass es dort noch eine intakte soziale Struktur gibt.“
MUSIK Chassapiko romance 0.54 Min.
O 08 Ika:
„Die Menschen ernähren sich gesund, bis ins hohe Alter bewegen die sich, weil es einfach Teil der Kultur dort ist, die arbeiten noch viel tatsächlich draußen an frischer Luft und all das trägt dazu bei, dass diese Menschen durchaus alt werden.“
Erzählerin:
Erhebungen einer Universität in Athen haben schon im Jahr 2009 ergeben, dass es auf Ikaría relativ gesehen die meisten über 90-Jährigen weltweit gab, jeder dritte Einheimische wurde mindestens 90. Es gab zudem überdurchschnittlich viele Hundertjährige. Die Rate von Herz-Kreislauf-Erkrankungen war im internationalen Vergleich um 50 Prozent niedriger. Und 95 Prozent der über 90-Jährigen wohnten im eigenen Haus und versorgten sich selbst. So wie Nikos Fakaris (Betonung auf zweitem a), 93 Jahre alt und: aktiv!
O 09 Tanz OV Sprecher 3:
„Ich gehe jeden Tag ins Café und treffe dort meine Freunde. Und ich bekomme auch viel Besuch daheim. Mit meiner Frau gehe ich bei jeder Gelegenheit zum Tanzen, Walzer mögen wir am liebsten!“
Erzählerin:
Nikos Fakaris` Frau ist 73. Ihre zwei Söhne leben in Athen. Auf die Frage nach seinem Lebenselixier sagt er:
O 10 glücklich OV Sprecher 3:
„Ich bin glücklich mit meinem Leben, auch wenn ich immer für Zwei gearbeitet habe. Als Bauunternehmer habe ich vielen Menschen Freude bereitet, weil ich ihnen ein schönes Haus gebaut habe. Außerdem habe ich eine wunderbare Familie. Dafür danke ich Gott!“
Erzählerin:
Beim Treppensteigen benutzt er einen Stock, ansonsten ist der 93-Jährige sehr fit, sieht mit seinem vollen Haar und wenigen Falten auch viel jünger aus. Sein Lebenswandel überrascht allerdings: so hat Nikos Fakaris sein ganzes Leben Tabak konsumiert:
O 12 Tsi OV Sprecher 3:
„Ich rauche jetzt nur noch zehn Zigaretten am Tag, weil mir der Doktor das empfohlen hat. Aber ich schneide sie in zwei Hälften, so kann ich mir weiterhin 20 Mal am Tag eine anzünden. Nach dem Aufstehen trinke ich als erstes einen Tsipouro-Schnaps (sprich: Tsipuro, Betonung auf i), dann Kaffee zum Frühstück. Ansonsten essen wir vor allem Salat und Gemüse aus unserem Garten, ab und zu Ziegenfleisch. Na ja, und Rot-Wein trinke ich regelmäßig, so vier bis fünf Gläser am Tag.“
MUSIK Kriti Sirtaki 1.00 Min.
Erzählerin:
Wie geht das? Regelmäßig Nikotin und Alkohol nicht gerade in kleinen Mengen? Wahrscheinlich hat Nikos Fakaris gute Gene.
O 13 genetisch:
„Dann gibt es Studien, die sagen, dass die genetische Veranlagung tatsächlich so zwischen 25 und 30 Prozent liegt, der Rest ist Lebensstil. Wie beweglich ist man auch im Alltag, läuft man die Treppen, sitzt man viel, isst man gesund usw. Und das hat einen deutlich größeren Anteil gegenüber der genetischen Veranlagung.“
Erzählerin:
Für Nikos Fakaris hat das gesund Altern auch damit zu tun, von der Jugend nicht ausgeschlossen zu werden. Auf Ikaría unternehmen die verschiedenen Generationen viel zusammen, ob im Familien-Betrieb, auf Familienfeiern oder einfach innerhalb der Dorf-Gemeinschaft:
O 14 positiv OV Sprecher 3:
„Wir Alten und die Jungen hier sind sehr offen füreinander, hören uns zu! Und wenn ein Junger herumjammert, dann sag ich ihm: meckere nicht über die schlechten Dinge, sondern freu dich über die guten!“
Erzählerin:
Dann nippt er an seinem selbstgekelterten Rotwein, nickt seiner Frau zu und gibt den griechischen Philosophen:
O 15 Wind OV Sprecher 3:
„Auf Ikaria gibt´s keinen Stress! Wir sagen immer: der starke Wind, der hier das ganze Jahr weht, der bläst all unsere Sorgen davon!“
Erzählerin:
Und da treffen sich die Lebensweisheit des alten Mannes und die evidenzbasierte Forschung des Alterswissenschaftlers Peter Tessarz:
O 16 Optimist:
„Das sind auch soziale Bindungen, wie wohl fühle ich mich, bin ich ein Optimist, habe ich viel Familie und Freunde um mich herum, geht´s mir vielleicht auch finanziell gut und als letzter Punkt die Bildung: je höher ich gebildet bin, eine desto höhere Chance habe ich, länger zu leben. All diese Punkte zusammen machen es aus.“
ATMO 06 Meer / MUSIK Hellenistic mystery 0.53 min.
Erzählerin:
Bisher wurden fünf „Blaue Zonen“ der Langlebigkeit identifiziert: eines haben alle gemeinsam: sie liegen direkt am oder in der Nähe des Meeres: die japanische Insel Okinawa, eine Region auf Sardinien, eine Halbinsel in Costa Rica, eine Ortschaft bei Los Angeles und eben Ikaría.
ATMO 07 Kies
Erzählerin:
An diesen Orten geben sich Alterswissenschaftler, Ernährungs-Expertinnen, Genforscher, Anti Aging-Jünger und interessierte Touristinnen und Touristen die Klinke in die Hand:
O 17 Kuwait OV Sprecher 4:
„Wir sind aus Kuwait vom Arabischen Golf. Wir haben in Sozialen Medien einige Filme und Berichte über die Blauen Zonen gefunden. Eine davon ist Ikaría. Da haben wir beschlossen, es einfach auszuprobieren
OV-Sprecher 5
Daheim versuchen wir auch, einen gesunden Lebensstil zu führen, aber im Alltag mit dem ganzen Stress ist das nicht leicht!
ATMO 06 Meer
Erzählerin:
Ahmed und Hamed aus Kuwait sind gerade aus dem Meer gestiegen. In der Therma-Bucht sprudelt aus dem Meeresboden heißes Wasser herauf:
018 hot spring OV Sprecher 4
“Es ist echt erstaunlich, das Wasser aus der Quelle ist richtig heiß und dann vermischt es sich mit dem kalten Wasser des Meeres. Diese Mischung macht ein ganz spezielles Gefühl
OV-Sprecher 5
Und man riecht die Mineralien, eine tolle Erfahrung!
Erzählerin:
Das eisen-und radonhaltige Quellwasser wird in Therma auch für Heilkuren-und bäder verwendet. Einheimische nutzen die heißen Quellen schon lange bei Rheumabeschwerden, Hautkrankheiten oder Atembeschwerden. Seit um die Blauen Zonen ein regelrechter Wissenschafts-Hype entbrannt ist, gehört die Heilquelle auch zum Pflichtprogramm internationaler Forscher. Dr. Laura Richardson ist Professorin für Bewegungswissenschaften an der University of Michigan und mit einer Studien-Gruppe auf Visite in Ikaría. Davor waren sie zur Recherche in der „Blauen Zone“ Sardiniens:
O 19 isolation OV Sprecherin 1:
“Was wir an beiden Orten festgestellt haben: beide Regionen sind relativ isoliert von der Außenwelt, vor allem früher war das so. Gleichzeitig bilden sie innerhalb dieser isolierten Orte aber starke Gemeinschaften, in der Familie, in der Nachbarschaft, den Dorfgemeinden. Und ich glaube, diesen Faktor haben wir lange vernachlässigt: es gibt wohl kein Geheimmittel für ein langes Leben, sondern es sind die zwischenmenschlichen Beziehungen!“
Erzählerin:
Was die amerikanische Wissenschaftlerin überrascht: im Gegensatz zu den USA spielt sportliches Training auf Ikaría so gut wie keine Rolle:
O 20 activities OV Sprecherin 1:
„Die alten Menschen hier machen keinen Sport, es ist schlicht ihr traditioneller Lebensstil, weil sie ihre Arbeit in hügeligem, oft steilem Gelände ausführen. Die Bauern etwa bewegen sich ständig bergauf- und ab, wie ein tägliches Training. Und das ist natürlich eine ganz andere Bewegungsart, als wenn wir ins Fitnessstudio gehen.“
MUSIK Kriti Sirtaki 0.59 Min.
Erzähler:
Tatsächlich erzählen die meisten alten Menschen auf Ikaría, dass sie auch mit 80 oder 90 noch ihren Weinberg oder Olivenhain bearbeiten, mit ihrem Fischerboot rausfahren oder ihren Kindern und Enkeln in deren Läden helfen. Zum Radfahren oder Joggen ist die Insel sowieso zu bergig, Sportstätten gibt es sehr wenige. Trotzdem nimmt Laura Richardson Anregungen für die Langlebigkeit mit nach Hause:
O 21 clock OV Sprecherin 1:
“Wir können die Uhr nicht aufhalten, aber was wir tun können, ist, unseren Körper anzupassen. Zum Beispiel die respiratorische Fitness, die kann man auch mit 60 oder 70 noch aufbauen. Aber man kann auch im Alter noch viel mehr Vitalität erlangen. Auch wenn man übergewichtig ist und die Knie weh tun, kann man sich bewegen, gesund ernähren, sich mit netten Leuten umgeben. Und diese mehrdimensionalen Maßnahmen helfen uns, gesünder zu leben.“
Erzählerin:
Tatsächlich hat die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie veröffentlicht,
dass sich der Wechsel zu einem gesunden Lebenswandel auch im Alter noch lohnen kann: wer etwa mit 60 Jahren seine Ernährung auf die sogenannte Mittelmeerkost umstellt, kann acht Lebensjahre gewinnen. Mit 60 das Rauchen aufzugeben, kann vier weitere Jahre bringen. Und körperliche Betätigung kann dafür sorgen, dass man nicht nur älter, sondern auch robuster alt wird. Alterswissenschaftler Tessarz:
O 22 super:
„Und das sollte dann im besten Fall dazu führen, dass die Spanne, in der wir krank sind und leiden, besonders kurz ist. Das sieht man zum Beispiel bei den Supercentenarians, die deutlich über 100 werden, dass die ganz lang ganz fit sind und dann nur im letzten Teil, nur wenige Wochen oder Monate, erkranken und leiden und dann sterben. Und im Endeffekt ist das auch der Ansatz, den wir versuchen, auf die größere
Bevölkerung auszudehnen.“
Erzählerin:
Damit zählt Peter Tessarz zu den sogenannten Healthspanners, die ganz anders als die Immortalists, also die Unsterblichkeits-Visionäre, denken und forschen:
O 23 healthspanner:
„Die Immortalists arbeiten darauf hin, dass wir vielleicht sogar ewig leben und dort gibt es auch so Ideen, dass man sich einfrieren lässt bis zu einem Zeitpunkt, wo man vielleicht länger leben kann. Und die Healthspanners, bei denen ist es eher so, dass wir eher daran arbeiten, die Spanne zu steigern, in denen wir gesund sind.“
MUSIK Perfect rotation 1.07 Min,
Erzählerin:
Bei den Empfehlungen für einen gesunden Lebensstil sind sich die meisten Experten einig: regelmäßige körperliche Betätigung, gesellschaftliche Teilnahme, bewusste Ernährung, ausreichend Schlaf, möglichst wenig Stress. Die häufigsten Todesursachen sind die Folgen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall, Stoffwechselstörungen wie Diabetes 2, Krebs sowie neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer oder Demenz. Forschungen legen nahe, dass die Ursachen für die meisten dieser Erkrankungen schon Jahre vor dem Auftreten entstehen, zum Teil bereits in der Kindheit. Auch genbedingte bzw. vererbte Krankheiten sind bei Alterswissenschaftlern wie Peter Tessarz besonders im Fokus. Hauptverantwortlich für die Verschlechterung des Gesundheitszustands im Alter sind die sogenannten seneszenten Zellen. Unsere DNA, die unsere individuelle Erbinformation enthält, liegt in einer kettenartigen Form vor:
O 24 telo:
„Das Problem ist, dass wir am Ende dieser Kette ein Stück DNA haben, das bei jeder Zellteilung kürzer wird. Dann gibt es da eine kritische Grenze, dass sie sich nicht mehr teilen können. Und wenn sich Zellen nicht mehr teilen können, dann können sie sich in sogenannte seneszente Zellen verwandeln, und was wir wissen, dass sich diese seneszenten Zellen im Alter anreichern.“
Erzählerin:
Diese schädlichen Zellen werden vom Immunsystem bekämpft. Wird dieses Abwehrsystem überfordert, können sich chronische Entzündungen im Gewebe bilden, die letztlich zum Tod führen können.
O 25 tötet:
„Es gibt mittlerweile ein paar klinische Studien auch am Menschen, da müssen wir noch warten, ob was rauskommt. In Tierversuchen kann man sehen, dass - wenn man seneszente Zellen tötet – es einen sehr positiven Einfluss auf die Lebensspanne hat.“
Erzählerin:
Was eine signifikante Verlängerung der menschlichen Lebenszeit für unsere Gesellschaften und für die Ressourcen der Erde bedeuten würde, ist letztlich auch eine politische sowie philosophische Frage.
ATMO 07 Fest 1
Erzählerin:
Zunächst bleibt uns nur, die Feste zu feiern, wie sie fallen! Und das tun die Menschen auf der griechischen Insel Ikaría zur Genüge. Im Bergdorf Oxé (Betonung auf e) findet gerade ein Panigiri (sprich: Pannigiri) statt. Ein Panigiri ist eigentlich ein Fest für den Heiligen der Gemeindekirche - oder Kapelle. Aber auch wer nicht gläubig ist, ist herzlich willkommen. Ein Panigiri dient einem guten Zweck: Gemeindemitglieder kochen für viele Menschen, der Erlös kommt Bedürftigen zugute oder wird zur Renovierung von kirchlichen Einrichtungen verwendet. Vor allem ist ein Panigiri aber ein gern gesehener Anlass zum Feiern:
O 26 Pani 2 OV Sprecher 6:
„Zum einen trifft sich die Gemeinde regelmäßig, um sich auszutauschen, wichtige Sachen zu besprechen. Andererseits sammeln wir Geld, zum Beispiel um das Dach unserer Kirche zu reparieren. Vom Staat kriegen wir dafür nichts.
Erzählerin:
Eleftherios Elefteriou (sprich: Ellefterios Ellefteriu, Betonung jeweils auf drittem e) ist 87. Seine Frau Archontula (sprich: Archontula, Betonung auf o) ist 78. Angesprochen auf die Langlebigkeit auf Ikaría sagt sie.
O 27 Pani 1e OV Sprecherin 2:
„Früher haben alle auf der Insel so gelebt wie wir Alten heute. Ganz einfach, sehr billig, sehr natürlich. Zum Beispiel unser Tee: ich kaufe nie Tee, sondern sammle Kräuter: Salbei, Minze, Thymian, Lorbeer, und damit brühen wir Tee auf.“
O 28 Pani 1b OV Sprecher 6:
“Jeden Tag bin ich bei meinen Ziegen. Melke sie, schau nach, ob sie gesund sind. Wir müssen nicht überlegen, was wir essen, das nimmt uns der Garten ab. Viel Gemüse, ab und zu etwas Ziegenfleisch. Ich persönlich trinke keinen Wein und rauche auch nicht. Ich bin also ganz brav!“
O 29 Pani 1a OV Sprecherin 2:
„Wir reden gar nicht über gesundes Essen, für uns ist das ganz normal. Wir essen halt das, was unser Garten gerade hergibt. Das ist kein Hexenwerk!“
Erzählerin:
Aber zuviel Süßes isst du! Sagt die 78-Jährige zu ihrem 87-Jährigen Mann. - Ja, weil du zu gute Sachen bäckst, antwortet er charmant.
O 30 Pani 1d
(ohne OV stehen lassen)
ATMO 08 Fest 2
Erzählerin:
Auf dem Tisch des 86-Jährigen George (sprich: Chorche) Poulos (sprich Pulos), seiner 75-Jährigen Frau Toula (sprich: Tula) und einiger Freunde stehen Baklava, Ziegenkäse, Honig, Wein, Brot, Oliven, mit Fetakäse gefüllte Teigtaschen, alles aus eigenem Anbau bzw. selbst gebacken.
O 31 Stress OV Sprecherin 3:
„Ein gutes Leben, das bedeutet für uns hier: nicht zu viel vom Leben erwarten, denn das verursacht Stress!
Erzählerin:
Einer der weißhaarigen Männer verabschiedet sich, er muss heim Ziegen melken! „So ein Stress“! Antwortet ein anderer: „Was soll ich da sagen? Ich habe Stress, denn ich habe 12 Ziegen!“
ATMO 11 Lachen
Erzählerin:
Humor gehört ganz sicher auch zu den Eigenschaften, die die Alten von Ikaría so gesund alt werden lassen.
ATMO 12 Fest 3
Erzählerin:
Auf dem Panigiri ist auch Voula Glarou (sprich: Wula Glaru, Betonung jeweils auf u): sie ist geboren auf der Insel, ging nach der Schule nach Athen, entschied sich dort aber gegen eine Karriere als Kinesiologin und kam nach einigen Jahren zurück. Sie kennt beide Welten: die moderne eilige der Großstadt und die ruhige beschauliche des Eilands. Und sie hat etwas Interessantes bezüglich der Besuche bei den Hundertjährigen beobachtet:
O 33 bad eye OV Sprecherin 4:
“Es ist einige Male passiert, dass alte Leute, kurz nachdem sie von Reportern über das Thema langes Leben interviewt worden waren, plötzlich gestorben sind! Deshalb weigern sich manche jetzt, mit Reportern zu sprechen. Es ist ein Aberglaube, klar, aber so sind sie halt. Viele glauben ja auch an den „bösen Blick“!
MUSIK Hellenistic mystery 0.54 Min.
O 34 work OV Sprecherin 4:
„Auf manche Besucher wirkt die Insel touristen-unfreundlich. Wie die Menschen auf Ikaria wirklich ticken, lernt man nur, wenn man sich auf uns einlässt, Zeit mit uns verbringt, mit uns spricht. Eine gute Idee ist es, mit uns zu arbeiten. Denn unser Alltag besteht vor allem aus Arbeit, wobei wir beim Arbeiten viel lachen, singen, wir nehmen uns auf den Arm. Wir arbeiten und haben gleichzeitig Spaß zusammen!“
Erzählerin:
Vielleicht ist das das Elixier fürs lange Leben. Eigentlich eine gute Erkenntnis, meint der Alterswissenschaftler Peter Tessarz, denn somit haben wir es größtenteils selbst in der Hand, was wir aus unserer Lebenszeit machen: eigentlich ist die Blaue Zone eine Einstellung und eine Charakterfrage:
O 35 Pille:
„Und leider gibt es tatsächlich noch nicht die magische Pille, die das alles übernimmt, so dass wir weiterhin einfach unser Leben leben und das herauszögern. Auf der anderen Seite ist es natürlich sehr positiv, weil wir alle etwas dafür tun können.“
Die Beschäftigung mit den Gestirnen, ihre Beobachtung und ihre Bedeutung für das Leben der Menschen, dürfte beinahe so alt sein wie das Menschengeschlecht selbst. Erst in der Aufklärung kam es zur scharfen Trennung von Astronomie und Astrologie. Doch die Geschichte der Astrologie ging weiter ... Von Martin Trauner (BR 2022)
Credits:
Autor und Regie dieser Folge: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Jerzy May
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Autor dieser Folge: Christian Schiffer
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Andreas Neumann, Peter Veit, Katja Schild
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Andrea Bräu
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Immer größere Flächen des Dauerfrostbodens oder Permafrosts in der Arktis tauen im Sommer auf - eine Folge des Klimawandels, aber auch eine Ursache für die weitere Erwärmung, denn der aufgetaute Boden setzt Klimagase frei. Von Renate Ell (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Ell
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Anna Greiter
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Dr. Guido Große und Dr. Moritz Langer, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, Potsdam;
Elena Popova, Doktorandin aus Jakutien, University of Manitoba, Kanada;
Sheila Watt-Cloutier, Inuit-Aktivistin, Kanada
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EXTERNER LINK | https://www.awi.de/im-fokus/permafrost/permafrost-eine-einfuehrung.html
Spanende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
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ERZÄHLERIN
Die Eiszeiten sind zehntausende Jahre her – aber im hohen Norden, in Sibirien und Nord-China, Grönland, Alaska und Nord-Kanada sind sie immer noch gegenwärtig. In weiten Ebenen erstreckt sich die Tundra, wo nur Flechten, Moose, Gräser und Zwergsträucher wachsen, in Gegenden mit milderem Klima auch Nadelwälder. Und darunter: Permafrost, ein Relikt der Eiszeit.
(1 ZUSP.) GUIDO GROßE
Das ist ein gefrorener Boden, mindestens zwei Jahre, das ist die einzige Definition, die wir haben, für Permafrost.
ERZÄHLERIN
Erklärt Guido Große vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Potsdam. Der Permafrost kann einige Hundert Meter in die Tiefe reichen.
(2 ZUSP.) GUIDO GROßE
Die Oberfläche wird von der Auftauschicht bestimmt, die jährlich im Sommer auftaut, im Winter gefriert, eine dünne Schicht von 10, 20, 30 Zentimetern in der Hocharktis, je weiter wir nach Süden kommen, im Süden Alaskas oder im Süden Sibiriens, finden wir auch tiefere Auftauschichten, die zwei, drei Meter tief sein können.
ERZÄHLERIN
Aber fast überall reicht diese Auftauschicht heute tiefer als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Arktis erwärmt sich sehr viel schneller als andere Teile der Welt. Und das heißt nicht nur: Die Auftau-Saison für den Permafrost-Boden ist länger. Sondern die Sommer sind auch wärmer. Manchmal rutscht ein ganzer Hang ab, dann sieht man, was unter der Oberfläche ist. Meistens nur Boden, stellenweise auch Eis.
(3 ZUSP.) GUIDO GROßE
Zum Beispiel sogenannte Eiskeile entstehen durch Frostrisse, die in den Böden sich bilden, wenn die Böden sehr, sehr tief durchfrieren in den Wintern, dann aufreißen, das ist ähnlich wie Trockenrisse, und in diese Frostrisse dringt Wasser ein, im Frühjahr mit der Schneeschmelze, das gefriert dann dort im tiefen Boden, und das ist ein Prozess, der über viele Jahrhunderte oder Jahrtausende auch ablaufen kann und dann große Eiskörper im Boden bildet.
MUSIK: „BUGS“ – C143243#003 (0:35)
ERZÄHLERIN
Wo Eis im Boden steckt, ist im Sommer manchmal an der Oberfläche erkennbar – wenn es auftaut, sinkt der Boden ein; Straßen bekommen dann auf einmal Wellen. Wo der Boden viel Eis enthält, kann sich die Landschaft dramatisch verändern.
(4 ZUSP.) GUIDO GROßE
In einigen Gebieten kann es 80 Prozent erreichen, von Volumen her, und wenn das natürlich auftaut, dann entstehen große Senken, die nennen wir Thermokarstsenken; die füllen sich recht schnell mit Wasser, so genannte Thermokarstseen; und diese Seen führen auch dazu, dass viel mehr Wärme noch in den Untergrund abgegeben wird.
ERZÄHLERIN
Denn das Wasser der Seen ist dunkel, es schluckt das Sonnenlicht, erwärmt sich und gibt diese Wärme an den Untergrund ab. Es ist eine so genannte positive Rückkoppelung im Klimawandel: Es wird wärmer, Permafrost taut auf, ein See entsteht, dadurch wird der Boden wärmer – und so weiter. Ein See – egal ob neu entstanden oder schon alt – kann aber auch verschwinden: Wenn die aufgetauten Ufer nach und nach abbrechen, bis sie an ein Flussufer oder die Meeresküste kommen, kann ein See auslaufen.
(5 ZUSP.) GUIDO GROßE
Das heißt also die Landschaft ist ein Mosaik, ein Mischmasch aus existierenden Seen verschiedenen Alters und alten Seebecken verschiedenen Alters. Das ist also eine sehr dynamische Landschaft, und es beschleunigt sich tatsächlich diese Landschaftsdynamik.
MUSIK: „SPACE MOOD 5“ – C1484140032 (0:44)
ERZÄHLERIN
Die Jakutin Elena Popova (Betonung auf dem zweiten O) kennt die Folgen dieser dynamischen Landschaft aus eigener Erfahrung. Nirgendwo leben so viele Menschen auf Permafrost wie in Sibirien. Die Republik Jakutien im Nordosten Russlands hat rund eine Million Einwohner, ist allerdings fast so groß wie Indien. Die Hauptstadt Jakutsk mit rund 270.000 Einwohnern ist die größte Stadt auf Dauerfrostboden. Dort und in vielen anderen Orten stürzen immer wieder Gebäude ein, wenn der Boden instabil wird.
(6 ZUSP.) ELENA POPOVA
OVERVOICE WEIBLICH
Ich komme vom Land, da sind die Veränderungen noch auffälliger. Die Straßen dort sind nicht asphaltiert. Wenn der Permafrost taut und es viel regnet, sind manche Orte unerreichbar, wegen Straßenschäden oder Überflutung. Pfade für die Jagd werden auch beschädigt. Und durch den schlechten Zustand von Weideland sinkt die Qualität des Futters, dann können Tiere krank werden.
I come from a rural area, and there, the changes are more visible, I would say. Deformation of roads leads to inaccessibility to communities, because roads in my area is not asphalt, it's ground roads, so permafrost thaw and when we have lots of rain, it’s just flooded. Also degradation of hunting trails, and the melting can disrupt the condition of pastures. And then the quality of feed and eventually affect health of animals.
ERZÄHLERIN
In Jakutien werden Rinder, Pferde und Rentiere gehalten, für die Selbstversorgung mit Milchprodukten und Fleisch. In den Dörfern gibt es meist keinen Supermarkt. Deshalb hat der Dauerfrostboden auch ganz praktische, gleichwohl lebenswichtige Funktionen: Als Vorratskammer – und für die Trinkwasserversorgung.
(7 ZUSP.) ELENA POPOVA
OVERVOICE WEIBLICH
Wir beginnen im Mai, uns auf den Winter vorzubereiten, mit Jagen, Fischen, Beeren sammeln, Heu machen – wir gehen jeden Tag in die Natur wie zur Arbeit. Alles wird in Eiskellern eingefroren. Die Vorbereitung endet im Oktober mit der Massenschlachtung von Rindern, Pferden und Rentieren. Stellen Sie sich vor, wie viel Essen wir für die kalten neun Monate für die ganze Familie unterbringen müssen, fünf, sechs Leute plus Verwandte. Im Winter heben wir alles draußen auf, da wird es bis minus 55 Grad kalt. Im Sommer brauchen wir die Eiskeller vor allem für Trinkwasser. In manchen Dörfern gibt es eine Wasserversorgung, in meinem nicht. Wir müssen Eis von zugefrorenen Seen holen, im Frühjahr bringen wir es in den Eiskeller.
Basically we start preparing for winter in May, when the hunting season begins and picking berries, fishing, haymaking time, and every day we go to the nature like to the work. Then everything is frozen in ice cellars, and the preparation season ends at the beginning of winter like around October with the mass slaughter of cattle, cows, horses and reindeer and just imagine that all this food that you eat during cold nine months needs to be stored for five, six people and also for relatives; in winter, we usually keep everything outside, all the food, because temperature reaches down minus 55 centigrade, so it's kind of fridge itself. In summer, ice cellars are mainly used for drinking ice. In some villages they have water supply but not in mine, we need to prepare ice from the lake, and then we put it outside and when when spring comes we put it into these ice cellars.
ERZÄHLERIN
Immer häufiger brauchen die Menschen in Jakutien jetzt allerdings im Sommer große Tiefkühltruhen für ihre Vorräte.
MUSIK: „SPACE MOOD 5“ – C1484140032 (0:06)
[[Wenn der Permafrost auftaut, kommt manches zum Vorschein, was lange eingefroren war. Bekannt sind vor allem Mammut-Stoßzähne, sogar ein perfekt erhaltenes, wolliges Mammut-Jungtier wurde gefunden, und auch andere, zehntausende Jahre alte Tierkadaver.]] Wissenschaftler haben darin Bakterien und Viren entdeckt, die sie im Labor wieder zum Leben erwecken konnten. Tote Tieren aus jüngerer Zeit enthielten [[Milzbrand-Bakterien, mit denen sich Weidetiere und Menschen infizierten. 2016 starb dadurch ein Kind in Jakutien, inzwischen wird gegen Milzbrand geimpft. Es gibt allerdings auch so etwas wie chemische Altlasten:]]
Zwar ist die Arktis weit weg von den dicht besiedelten, industrialisierten Weltregionen – aber giftiges Quecksilber wird seit langer Zeit mit Luftströmungen von dort in den Norden transportiert, wo es dann kondensiert wie Wasser an einer kalten Fensterscheibe.
(8 ZUSP.) MORITZ LANGER
Da ist jetzt ganz große Sorge, dass durch das Auftauen der Böden dieses Quecksilber eben wieder frei wird wird, das gelangt dann teilweise wieder zurück in die Atmosphäre, aber dann eben auch über den Wasser-Kreislauf in verschiedene Bereiche.
ERZÄHLERIN
Erklärt Moritz Langer vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeres¬forschung in Potsdam. Die Ökosysteme werden belastet, und letztlich landet das giftige Metall auch auf den Tellern der Menschen: Mit Beeren, die sie sammeln, mit dem Fleisch von Rentieren oder Jagdwild, oder mit Fisch.
[[(9 ZUSP.) MORITZ LANGER
Und am Ende kann es dann auch bei uns wieder auf den Teller landen, wenn wir über die Fischerei in der Arktis in arktischen Gewässern nachdenken, dann kommt das eben zurück.]]
ERZÄHLERIN
Es gibt aber auch Schadstoff-Quellen in der Arktis selbst. Weil manches genauso ist wie in südlicheren Breiten: Die Menschen fahren Auto und verwenden Einweg-Verpackungen. Es wird nach Öl und Gas gebohrt, es gibt Erz-Bergbau und Industriebetriebe, die diese Rohstoffe verarbeiten, außerdem Tourismus, Jagd und Fischerei, mancherorts Landwirtschaft und nicht zuletzt Militärbasen. Aber eines ist anders als im Süden: Alles, was man für gewöhnlich im Supermarkt kauft und alles, was die Industrie braucht, muss über riesige Distanzen dorthin transportiert werden. Und was davon übrig bleibt, wird nicht wieder weggebracht.
(10 ZUSP.) MORITZ LANGER
Aufgrund der wahnsinnigen Kosten, die dabei entstehen würden; weil sich dann das ein oder andere Geschäftsmodell, aber auch das Leben teilweise gar nicht mehr lohnen würde.
ERZÄHLERIN
Anders ausgedrückt: Die Müllgebühren wären extrem hoch. Deshalb landen alle Abfälle dort in Deponien. Die aber nicht immer mit Folien oder ähnlichem nach unten abgedichtet wurden – denn der gefrorene Boden galt als ausreichende Abdichtung. Und jetzt? Ist es schon für Siedlungsabfälle problematisch, wenn diese natürliche Abdichtung auftaut, insbesondere aber für Industrieabfälle wie etwa Bohrschlämme aus dem Bergbau. Damit ein Bohrer nicht stecken bleibt, füllt man Flüssigkeiten in das Bohrloch. Früher war das oft Kerosin oder Diesel, heute sind es zwar wasserbasierte Flüssigkeiten, sie enthalten aber viel Salz und weitere chemische Zusatzstoffe. Aber wo lagert wie viel solchen Sondermülls?
(11 ZUSP.) MORITZ LANGER
Das ist eines unserer größten Probleme momentan zur Beurteilung dieser Gefahren: Über den größten Teil der Arktis, nämlich den in Russland, haben wir so gut wie keine Informationen und auch keine uns zumindest öffentlich zugängliche Dokumentation.
ERZÄHLERIN
In Nordamerika dagegen gibt es schon lange die Pflicht, alle Abfälle zu dokumentieren, und sie müssen auch bis zu 30 Jahre lang überwacht werden. Aber was passiert, wenn diese Zeit abgelaufen ist?.
(12 ZUSP.) MORITZ LANGER
Die werden sozusagen sich selber überlassen. Und die Schäden, die dabei entstehen, werden dann eben der Allgemeinheit überlassen.
ERZÄHLERIN
Inzwischen sind die Verpflichtungen zur Sicherung und Überwachung gefährlicher Abfälle strenger geworden. Was aber nichts daran ändert, dass in alten Deponien giftige und salzhaltige Bohrschlämme oder andere problematische Hinterlassenschaften liegen – und der Permafrost drumherum auftaut. So gibt es in der Nähe von Erzminen auch Abraumhalden für Gestein, das weiter auszubeuten sich nicht lohnt.
(13 ZUSP.) MORITZ LANGER
Es gibt immer wieder Berichte darüber, dass es Probleme gibt, vor allem mit Schwermetallen, die austreten, zum Beispiel in Alaska gibt es die Red Dog Mine, die weltweit größte Zinkmine, da wird sehr, sehr darauf geachtet, dass bei dem Austrag von diesen Abwässern keine Grenzwerte überschritten werden, und das wird zunehmend problematisch. Das liegt vor allem am auftauenden Permafrost: Natürlich gebundene Schwermetalle, also Quecksilber vor allem, belasten zunehmend die Gewässer, sodass man jetzt schon auf natürliche Art und Weise durch den auftauen Permafrost sehr stark an den Grenzwerten ist; sie müssen große Becken anlegen oder teilweise die Mine selbst verwenden, um diese Abwässer zu speichern, um eben die geforderten Grenzwerte nicht zu überschreiten.
MUSIK: „FULL CIRCLE“ – C124798#015 (0:44)
ERZÄHLERIN
In welchem Zustand wohl die Flüsse sind, wo nicht so penibel auf die Grenzwerte geachtet wird? Und wie sicher sind die Becken – könnte bei einer Havarie doch noch das ganze schwermetall-belastete Abwasser in die Landschaft fließen? Im sibirischen Norilsk, an einer großen Nickelhütte, gab 2020 der Boden unter einem Dieseltank nach – 21 Millionen Liter Treibstoff liefen aus, das meiste in den nächsten Fluss. Ursache war eine Hitzewelle schon im Mai. Und auch in Nordamerika passieren Unfälle im Umfeld von Industrieanlagen, weil der Boden nachgibt. Dann wird versucht, kontaminiertes Wasser aufzufangen und kontaminierte Böden auszugraben.
(14 ZUSP.) MORITZ LANGER
Das Problem ist, dass man diese Bodenmaterialien nicht aus der Arktis wegtransportiert und nach Standards, wie man sie unseren mittleren Breiten kennt versucht zu behandeln und gegebenenfalls zu entsorgen, sondern diese Stoffe verbleiben normalerweise in der Arktis, verbleiben auf Permafrost, werden dann aber durch technische Maßnahmen versucht zu sichern; also das Problem verlagert sich dann sozusagen nur lokal an eine andere Stelle und meist dann gewinnt man auch Zeit, aber auch da können diese technischen Maßnahmen, die ergriffen werden, dann wieder dem auftauenden Permafrost zum Opfer fallen.
Es wäre tatsächlich die einzige Möglichkeit, nachhaltig mit diesem Problem umzugehen, industrielle Abfallstoffe langfristig wieder aus der Arktis abzutrans¬portieren, um sie dann einem Recycling oder einer vernünftigen Entsorgung zuzuführen. Ich sehe allerdings nicht, dass das in naher Zukunft passieren wird.
ERZÄHLERIN
Der Abtransport ist schlicht zu teuer. Vorerst bleibt nur, alle Industrieabfälle sorgfältig zu dokumentieren und zu lagern.
Bei Siedlungsabfällen hingegen gibt es schon Überlegungen, die Situation zu verbessern, weil der Boden unter den Deponien auftauen kann. Zudem entsteht das Treibhausgas Methan, wenn Abfälle verrotten. Manchmal geraten sie auch unkontrolliert in Brand, dann können Schadstoffe bis hin zu Dioxinen entstehen.
(15 ZUSP.) MORITZ LANGER
Es gibt tatsächlich auch schon erste Anstrengung, Müllverbrennungsanlagen zu installieren, vor allem in den größeren Siedlungen, auf Grönland ist man da zum Beispiel auch dabei, eben aufgrund eines erhöhten Umweltbewusstseins. Aber die Praxis ist sehr neu und auch tatsächlich noch nicht überall verbreitet.
ERZÄHLERIN
Moderne Müllverbrennungs-Anlagen emittieren weniger Schadstoffe als eine Deponie, sie reduzieren die Menge des Mülls auf ein Minimum – und was übrig bleibt kann nicht mehr chemisch reagieren. Ganz nebenbei lässt sich aus dem Müll auch noch Energie erzeugen – bislang sind die Orte in der Arktis meist auf Diesel angewiesen.
MUSIK: „SPACE MOOD 5“ – C1484140032 (0:08)
ERZÄHLERIN
Altes Quecksilber, undichte Deponien und ausgelaufene Dieseltanks verursachen erstmal nur lokale Umweltprobleme – aber langfristig können alle Schadstoffe, die in der Arktis in die Umwelt gelangen, über Flüsse und das Meer bis weit in den Süden kommen – nicht zuletzt mit Fisch aus dem arktischen Ozean direkt auf unseren Teller. Doch solche Schadstoffquellen gibt es – glücklicherweise – nur auf einer insgesamt kleinen Fläche der gesamten Arktis. Ganz anders sieht es aus mit den natürlichen Inhaltsstoffen des Permafrosts, die zu einem gewaltigen globalen Problem werden, erklärt Guido Große vom Alfred-Wegener-Institut für Polar und Meeresforschung.
(16 ZUSP.) GUIDO GROßE
Wenn man eine Handvoll Permafrost-Boden an die Nase halten würde, das würde fast wie Kompost riechen, und da weiß man, da ist sehr viel Kohlenstoff drin. Die organische Substanz im Permafrost sind hauptsächlich alte Pflanzen- und Tierreste.
ERZÄHLERIN
Wie im Komposthaufen machen sich Mikroorganismen darüber her. Je mehr Permafrost auftaut, desto stärker können sie sich vermehren. Und wo der Boden nicht wieder komplett einfriert, sogar noch im Winter. Aus der organischen Substanz im Boden, genauer gesagt, aus dem Kohlenstoff, erzeugen sie: Treibhausgase. Kohlendioxid oder Methan. Je nachdem, ob der Boden trocken oder nass ist.
(17 ZUSP.) GUIDO GROßE
Durch das tiefere Auftauen kann es sein, dass das Wasser stärker abläuft aus der Auftauschicht, und damit wird der Boden trockener. In diesen trockener werdenden Böden wird hauptsächlich Kohlendioxid gebildet.
ERZÄHLERIN
Denn im trockenen Boden gibt es genug Sauerstoff. Wo das Wasser aber nicht abfließen kann, kommt keine Luft in den Boden, und der Sauerstoff ist schnell aufgebraucht.
(18 ZUSP.) GUIDO GROßE
Unter diesen Bedingungen existieren vor allem Methan produzierende Mikroben.
ERZÄHLERIN
Methan ist das zweitwichtigste Treibhausgas. Es wird geschätzt, dass durch auftauenden Permafrost insgesamt so viele Treibhausgase entstehen können wie in einer großen Industrienation. Bisher wird das aber in den Klima-Prognosen noch nicht berücksichtigt – und damit auch noch nicht in der internationalen Klimapolitik.
MUSIK: „BUGS“ – C143243#003 (0:34)
ERZÄHLERIN
Das ist umso beunruhigender, als das Auftauen des Permafrosts ja erst begonnen hat – aber so schnell nicht enden wird. Selbst wenn die Menschheit ab morgen keine Treibhausgase mehr produzieren würde, ginge die globale Erwärmung erstmal weiter – durch die Treibhausgase, wie wir in den letzten Jahrzehnten ausgestoßen haben.
Überall rund um den Nordpol wird die Tau-Saison also in den kommenden Jahrzehnten noch früher beginnen, die Auftauschicht im Sommer dadurch noch tiefer reichen. Und mancherorts friert der Boden im Winter nicht mal komplett wieder ein.
(19 ZUSP.) GUIDO GROßE
Es können sich ungefrorene Zonen entwickeln, zwischen dieser Auftauschicht, die jährlich gefriert und dem eigentlichen Permafrost, und das ist der Startschuss für ein breiteres Auftauen des Permafrost ist in diesen Regionen. In Westsibirien zum Beispiel oder in Teilen Alaskas und Kanadas ist der Permafrost mittlerweile verschwunden bzw. in große Tiefen abgetaucht.
ERZÄHLERIN
Und ungefrorener Boden heißt: Bakterien sind weiter aktiv, erzeugen Kohlendioxid und Methan. Das passiert vor allem in milden, schneereichen Wintern, und die werden wohl in Zukunft häufiger.
(20 ZUSP.) GUIDO GROßE
Weil wir weniger Meereis haben, auf dem Arktischen Ozean, kann die Atmosphäre mehr Feuchtigkeit aufnehmen, das heißt, wir haben mehr Schnee auf Permafrost, und damit kann die Winterkälte weniger gut in den Permafrost-Boden eindringen und ihn runterkühlen.
ERZÄHLERIN
Denn die Schneedecke wirkt wie eine Isolations-Schicht. In der warmen Jahreszeit setzt der Regen dem Permafrost zu, sickert ein, transportiert Wärme in den Untergrund. Der Boden wird also immer instabiler, immer mehr Gebäude, Pipelines, Tanks und Deponien sind in Gefahr.
(21 ZUSP.) GUIDO GROßE
Es gibt ingenieurstechnisch Möglichkeiten, wie man den Untergrund unter Gebäuden oder einer Pipeline kühlen kann. Durch Kühlflüssigkeiten zum Beispiel, aber zum einen ist eine teure Methode, zum anderen ist es an vielen existierenden Infrastrukturen bisher nicht eingebaut.
ERZÄHLERIN
Wo der Boden gekühlt wird, sieht man dünne Rohre, die senkrecht aus dem Boden ragen. Im Winter wird die Kälte der Luft sozusagen auf Vorrat in den Boden transportiert. Im Sommer hilft eine Isolation, die Kälte im Boden zu halten, oder man muss die Rohre kühlen. Die Technik ist allerdings viel zu aufwändig, um ganze Orte oder Industrieanlagen zu sichern. Sie wird den vielen Indigenen nicht helfen, die oft in abgelegenen Dörfern in einfachen Häusern leben, nicht selten unter prekären Verhältnissen. Sie verlieren buchstäblich den Boden unter den Füßen, vor allem an den Küsten, wo das wärmere Meer an aufgetauten Stränden nagt. Für einige kleine Orte der Inuit gibt es bereits Umsiedlungs-Pläne. Damit bedroht der Klimawandel eine ganze Kultur – wie die bekannte kanadische Inuit-Aktivistin Sheila Watt-Cloutier schon seit Jahrzehnten mahnt.
(22 ZUSP.) SHEILA WATT-CLOUTIER
OVERVOICE WEIBLICH
Die Jagd ist Teil unseres kulturellen Erbes. Dabei geht es nicht um das Töten von Tieren. Es lehrt unsere Jugend, Stress auszuhalten, nicht impulsiv zu sein, sondern nachzudenken, im richtigen Moment geduldig oder mutig zu sein. Letztlich geht es um ein sicheres Urteilsvermögen. Das sind Fähigkeiten, die unsere Jugend auch in der für uns so rasant modernisierten Welt braucht. Und das Essen zu teilen ist eine so wundervolle Art, Familien- und Gemeinschaftssinn weiterzugeben. Unser Volk ist sehr eng verbunden mit seiner Jahrtausende alten Lebensweise.
It’s part of our cultural heritage to be hunters. And its not about going out and the killing of animals it is our training ground for young people. How to withstand stress, how not to be impulsive, to be reflective, how to be patient and couragious at the right times, and ultimately it’s the sound judgement we are after, these are transferable skills for our young people in this new world of modernization that has hit us so very quickly. And the sharing of the food is a wounderful way in which the sense of family and community carry on. We are a people that remains still very closely connected to the way of life that we had for millennia.
ERZÄHLERIN
Auch die junge Jakutin Lena Popova (Betonung auf dem zweiten O) kennt diese kulturelle und spirituelle Bindung an ihre Heimat.
(23 ZUSP.) ELENA POPOVA
OVERVOICE WEIBLICH
Die Verbindung ist praktisch, durch Tierhaltung, Jagd, Sammeln in der Natur. Aber der spirituelle Aspekt ist noch wichtiger, glaube ich. Das ist schwer in Worte zu fassen, eine unsichtbare Verbindung mit dem Land und den Ahnen. Ich habe das Gefühl, dass ich in der Stadt diese Verbindung verliere, wenn ich nicht in die Natur komme, und ich versuche, zu meinem „Alas“ zu gehen. Das ist eine Thermokarst-Senke, die durch Tauen und Gefrieren entsteht, mit einem See und Wald. Jede Familie hat zwei, drei „Alasse“, wir fühlen uns verbunden mit ihnen, und wenn sie verschwinden, ist das sehr traurig. Aber selbst wenn wir den Permafrost verlieren, und trotz der engen Verbindung glaube ich nicht, dass wir unsere 5000 Jahre alte Kultur verlieren. Denn wir tragen sie in uns.
This relationship is both physical and spiritual, and physical is manifested in our everyday life like traditional husbandry, hunting, gathering, how we interact with nature, and the spiritual is I think its more important and I can’t explain it in words, it’s like invisible connection you have with your land with your ancestors, for instance personally me, when I live in the city I feel that I am loosing that connection if I don’t go to nature, so I try to go to my alas, alas is a land form which is formed by melting and freezing of permafrost a few times, with a lake and surrounded by forest, each family has two or three of this kind of alasses, and we are interelated, if it degrades it’s very sad. Even assuming that we loose permafrost, I don’t think we will loose our culture, despite our very close connection, we preserved our culture for 5000 years and maybe more, so culture is a manifestation of what we have inside, I think.
MUSIK: „MIST“ – C143243#004 (1:03)
ERZÄHLERIN
Das Auftauen des Permafrosts ist eine Zäsur für die Menschen in der Arktis – und für einen Abschnitt der Erdgeschichte, der vor mehreren Zehntausend Jahren begann, mit dem Ende der letzten Eiszeit.
(24 ZUSP.) GUIDO GROßE
Auf dem jetzigen Kurs, auf dem wir uns befinden, werden wir wahrscheinlich bis zu 75 Prozent der Permafrostregion verlieren bis zum Ende des Jahrhunderts, und der Permafrost wird auftauen in den obersten drei Metern. Das ist natürlich ein ganz bedeutsamer Prozess, der alles in diesen Regionen beeinflusst.
ERZÄHLERIN
Und das wird den Klimawandel noch weiter beschleunigen. Es besteht keine Aussicht, dass sich in absehbarer Zeit wieder neuer Permafrost entwickeln kann.
MUSIK AUF ENDE
"Heureka” - soll der Grieche Archimedes in seiner Badewanne gerufen haben, "Ich hab es gefunden!" Was er gefunden hat? Na, das wissen die meisten von uns gar nicht so genau. Denn wir kennen zwar die Namen, kennen unter Umständen die Experimente, aber mal ehrlich, was die Experimente für die Physik, für die Wissenschaft, für uns bedeuten, da ist vielen nicht klar. Von Martin Trauner (BR 2022)
Autor dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Florian Schwarz
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Literaturtipp:
Adam Hart-Davis: „Schrödingers Katze“ – und 49 andere Experimente, die die Physik revolutionierten
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Fakt oder Verschwörung? Im Zweifel an der Wirklichkeit kann sich das Denken in Verschwörungstheorien verlieren. Doch auch Philosophie zweifelt an der Wirklichkeit. Wo hört Denken auf - wo fängt der Wahn an? Eine Gratwanderung in die Abgründe der Skepsis. Von Jerzy Sobotta (BR 2022)
Credits
Autoin dieser Folge: Jerzy Sobotta
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Stefan Merki und Beate Himmelstoß
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Philipp Felsch, Kulturwissenschaftler an der HU Berlin
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Literaturtipps:
Michael Butter: Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien. Bonn 2018
Aus Politik und Zeitgeschichte: Verschwörungstheorien. Heft 35-36, August 2021.
Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Berlin 2013.
Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2. München 1975. S. 120ff.
Richard Hofstadter: The Paranoid Style in American Politics. Harper’s Magazine, Nov. 1964, S. 77ff.
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O, wär' ich doch, ach, hätt ich bloß! Wir wünschen, was das Zeug hält. Wir wünschen uns reich, schön, geliebt; wir wünschen den einen Glück und den andern die Pest an den Hals. Wir sind wahre Wunschmaschinen, weil uns das Wünschen guttut, weil wir es brauchen, weil es zu uns gehört und das Leben erträglicher macht. Von Simon Demmelhuber (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Simon Demmelhuber
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Hemma Michel, Johannes Hitzelberger
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. Brigitte Boothe, Professorin em. für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse am Psychologischen Institut der Universität Zürich, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin
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Wie wir ticken - Euer Psychologie-Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST
Mia Insomnia
Was ist das Hörspiel "Insomnia"? Und warum ist Podcasterin Mia die einzige Person auf der Welt, die sich an diese Hörspiel-Kassette aus ihrer Kindheit erinnert? Die Suche nach Antworten führt sie zu einer unheimlichen Erkenntnis: Entweder ihre Erinnerungen sind nicht echt - oder die Welt um sie herum. Mit ihrem Aufnahmegerät nimmt uns Mia auf ihre Suche mit. Was als scheinbar harmlose Reise beginnt, entwickelt sich zu einer großen Verschwörung. "Mia Insomnia" ist die Mystery-Hörspiel-Serie für Podcast-Fans und alle, die mit Detektivhörspielen aufgewachsen sind und eine Portion Horror nicht missen wollen.
ZUM PODCAST
Literaturtipps:
Brigitte Boothe (Hg.): Wenn doch nur – ach hätt ich bloß. Die Anatomie des Wunsches. Zürich [rüffer & rub Sachbuchverlag] 2013.
Brigitte Boothe (Hg.): Verlangen, Begehren, Wünschen. Einstieg ins aktive Schaffen oder in die Lethargie. seelisches und poetisches Phänomen wird erkundet. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1999.
Brigitte Boothe, Res Wepfer, Agnes von Wyl (Hg.): Über das Wünschen. Ein seelisches und poetisches Phänomen wird erkundet. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1998.
Brigitte Boothe, (Hg.): Wie kommt man ans Ziel seiner Wünsche? Modelle des Glücks in Märchentexten. [Psychosozial Verlag] 2002.
Barbara Gobrecht, Harlinda Lox, Thomas Brücksteeh (Hg.): Der Wunsch im Märchen. Kreuzlingen/München [Heinrich Hugendubel Verlag] 2003.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO: Altarschellen (als Satztrenner)
ZITATOR (seufzend)
Ach, wär' ich bloß!
O, hätt' ich doch!
Ach, könnt' ich nur!
Musik: Z8035449105 Life goes on 0‘40
SPRECHER
Wir tun es dauernd; wir tun es bei jeder Gelegenheit: Wir wünschen, was das Zeug hält. Wir wünschen uns Liebe, den Traumjob, den Lottosechser oder auch nur, dass am Wochenende die Sonne scheint. Wir wünschen einander Glück oder die Pest an den Hals.
ERZÄHLERIN
Es passiert einfach. Wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir wollen. Wenn etwas oder jemand fehlt, wenn uns Ungewissheiten, Zweifel, Ängste oder Entbehrungen plagen.
SPRECHER
Die Misere beginnt früh.
ATMO: Ein Baby weint
ERZÄHLERIN
Ein Baby weint. Es will trinken. Jetzt! Sofort! Aber es muss warten. Der Blutzuckerspiegel fällt, Stresshormone fluten, das Kind schreit sich in Rage.
ATMO: Das Weinen lässt nach
ERZÄHLERIN
Dann geschieht etwas Seltsames: Das Baby leckt sich die Lippen, als würde es schmatzend an einer Brust oder Milchflasche saugen und beruhigt sich allmählich.
SPRECHER
Kein Wunder, meint die Psychologieprofessorin Brigitte Boothe. Das Baby hat soeben zwei wichtige Erfahrungen gemacht: Es hat die Not des Wartens und die Kraft des Wünschens entdeckt.
01 O-TON BOOTHE (ca. 020 Sekunden)
Die Fähigkeit, wünschen zu können, entsteht in der Säuglingszeit, in der Individuen in ihrer Abhängigkeit von Pflegeinstanzen darauf angewiesen sind, in ihrem Überleben gesichert zu werden. In dieser Wartesituation schaffen sie sich etwas Tröstendes.
SPRECHER
Das trockene Nuckeln des Babys hat offensichtlich den Hormonalarm gedämpft. Die Milch kommt keinen Augenblick früher, aber irgendwie wird das Warten leichter.
Musik: Z8035049119 Lake views 0‘20
ERZÄHLERIN
Einen bewussten Wunsch hat der Säugling natürlich weder gedacht noch ausgesprochen. Aber sein vegetatives Nervensystem hat Erinnerungen an früher erlebte Sättigungswonnen aktiviert und dadurch ein beruhigendes Gefühl, eine Art körperlicher Vorfreude ausgelöst.
SPRECHER
Sein Gehirn wird diese Erfahrung nie verlernen. Es wird sie ein Leben lang nutzen, um Mängel auszugleichen, Unrast zu mildern und Sorgen abzuwehren.
ZITATOR
O, nichts wünsch ich mir mehr!
Wenn ich mir was wünschen dürfte!
Ach, wenn es doch immer so bliebe!
02 O-TON BOOTHE (ca.020 Sekunden)
Das Wünschen ist ein Lückenfüller. In Situationen, in denen ich selbst bedürftig bin, aber nicht handeln kann, kann das Wünschen als imaginatives Verfahren eingesetzt werden, um zu einer vorübergehenden Befriedung zu führen, um die Zeit auszufüllen, bis dann die Situation eintritt, in der das, worum es mir geht, genossen, konsumiert, erfahren werden kann.
MUSIK: Z8028906109 The awakening 0‘32
SPRECHER
Stopp! Langsam! Das würde ja bedeuten, dass der Wunsch nicht nur etwas herbeisehnt, sondern zugleich auch Vorstellungen und Gefühle produziert, die ein akutes Bedürfnis befriedigen?
ERZÄHLERIN
Ja! Genau das bringt die Sache auf den Punkt, erklärt Brigitte Boothe, die das Wünschen als Professorin für Klinische Psychologie an der Uni Zürich und als Fachautorin intensiv erforscht hat:
03-TON BOOTHE (ca. 018 Sekunden)
Das Wünschen ist in einer Situation der Erwartungsspannung, die sich noch nicht gelöst hat, ein Surrogat für das reale Geschehen. Und dieses Surrogat ereignet sich in der Phantasie, in der Imagination, durchaus aber auch mit körperlichen Aspekten.
SPRECHER
Reines Kopfkino also! Nichts ist passiert, nichts hat sich verändert. Trotzdem sind wir gelassener und haben ein kleines, versonnenes Lächeln auf den Lippen. Wie geht das zu?
Musik: Z8028906117 Childhood 0‘50
ERZÄHLERIN
Es gelingt, weil jeder Wunsch seine Erfüllung halluziniert. Es gelingt, weil ein mentales Bild das Gehirn erfolgreich austrickst und dazu bringt, das Fantasiegebilde vorübergehend als real zu akzeptieren. Dass reine Vorstellungen tatsächlich Emotionen und körperliche Reaktionen auslösen, belegen mittlerweile zahlreiche Studien. Fantasien stimulieren dieselben Zentren, nutzen dieselben neuronalen Verbindungen wie Sinneswahrnehmungen und wirkliche Ereignisse.
Sie muten täuschend echt an, deshalb kann das Gehirn zumindest kurzzeitig ein tatsächliches Geschehen von einer imaginären Wunscherfüllung kaum unterscheiden.
SPRECHER
Wünschen wirkt! Wenn auch nur, weil wir uns erfolgreich etwas vormachen. Der fantasierte Zauber verfliegt zwar rasch, aber zuvor schenkt er uns einen zufriedenen, erfüllten Moment.
ERZÄHLERIN
Auf diese Wirkung kommt es an. Sie ist ein Spezifikum des Wunsches, ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Genau das unterscheidet ihn vom Wollen, vom Begehren, Erhoffen, Verlangen und ähnlichen Zuständen, die eine Absicht, eine Forderung oder ein Erstreben ausdrücken.
SPRECHER
Aber wollen, begehren, wünschen – sind das nicht einfach verschiedene Wörter für ein und dieselbe Sache?
ERZÄHLERIN
Nein! Auch wenn es die Alltagssprache nicht so genau nimmt, und das Wort "wünschen!" oft nichts anderes als fordern, begehren oder ersehnen ausdrückt – beliebig austauschbar sind die Begriffe nicht. Es stimmt zwar, dass auch im Wünschen stets ein ungestilltes Verlangen steckt. Doch das ist lediglich der Auslöser. Was der Wunsch bewirkt, das macht den Unterschied.
SPRECHER
Nur der Wunsch hat die Kraft, akute Versorgungs- und Wohlfühllücken durch den imaginierten Genuss des Entbehrten zu füllen. Das ist seine Essenz, sein eigentlicher Markenkern. Das macht ihm kein Wollen, kein Gelüsten oder Erstreben nach.
Musik: Z8034755101 Bright ideas 0‘30
ERZÄHLERIN
Wer begehrt, verlangt, ersehnt, erhofft, steht im Soll: Was fehlt, muss noch geliefert, geleistet, beigebracht werden. Es ist noch nichts getan, die Gegenwart ist unverändert defizitär, alles liegt in der Zukunft. Der Wunsch ist anders gestrickt: Er schöpft aus dem Vollen und schafft das Vermisste, das Erhoffte und Ersehnte mühelos im Nu herbei.
04 O-TON BOOTHE (ca. 010 Sekunden)
Das Wollen will meine Aktivität zur Veränderung der Welt. Das will der Wunsch noch nicht. Der Wunsch macht mich passiv und friedlich.
Musik: Z8026958106 Nature existence 0‘20
SPRECHER
Wünsche müssen nichts erreichen, alles ist schon da. Sie spendieren großzügig kurze Glücksmomente, die wir ohne Realisierungsdruck, ohne Rücksicht auf den Ernst des Lebens einfach nur wohlig seufzend genießen.
ZITATOR
Ach ja!
SPRECHER
Wünsche lindern leidvolle Erfahrungen mit Hilfe imaginierter Gegenwirklichkeiten. Dieses Potenzial, diese ganz besondere Wunschenergie hat sich auch kultur-, ideen- und geistesgeschichtlich als fruchtbar erwiesen.
ATMO: Altarschellen
ZITATOR
Gib, was mein Herz begehrt!
O, stille meine Not!
Steh mir bei, erhöre mich!
ERZÄHLERIN
Die Frage, wie sehr das Wunschdenken die geistige Wirklichkeit des Menschen formt, treibt Mitte des 19. Jahrhunderts den Philosophen und Anthropologen Ludwig Feuerbach um. Seine furchtlosen Überlegungen münden in einer These, die im Wünschen den innersten Antrieb religiöser Phänomene ausmacht:
C1616750111 Minimal Sphere A 0‘38
ZITATOR
Der Ursprung, ja das eigentliche Wesen der Religion ist der Wunsch. Hätte der Mensch keine Wünsche, so hätte er auch keine Götter.
ERZÄHLERIN
Angesichts einer übermächtigen Natur, eines sicheren Todes, seiner unklaren Bestimmung und seiner zutiefst ungewissen Essenz erlebt sich der Mensch als ausgeliefert, machtlos und verängstigt. Auf unsicheren Grund gestellt, wünscht er herbei, was ihm fehlt: Schutz, spirituelle Geborgenheit, Unsterblichkeit, Herrschaft über Schicksal und Natur.
SPRECHER
Erfüllung finden diese existenziellen Wünsche im Glauben an allmächtige, ewige Götter, mit denen der Mensch in kultische Beziehung tritt. Es sind Götter, die er nach seinem Ebenbild formt und zur Beschwichtigung seiner Nöte an den Himmel projiziert.
ZITATOR
Was der Mensch sein möchte, aber nicht ist, dazu macht er seinen Gott. Wo der Mensch nichts mehr vermag, da kann er wenigstens noch beten, noch wünschen.
ERZÄHLERIN
Auch Sigmund Freud, der dem Wunsch sechs Jahrzehnte später eine Schlüsselrolle im Seelen- und Traumleben zumisst, teilt die von Feuerbach entwickelte Idee einer aus schierer Wunschenergie geformten Gottesgewissheit:
ZITATOR
Religiöse Vorstellungen sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, dringendsten Wünsche der Menschheit. Sie entspringen den Wünschen nach Schutz, Gerechtigkeit und Verlängerung der Existenz.
SPRECHER
Ob man Feuerbach und Freud zustimmt, ist Ansichtssache. Kaum übersehbar ist freilich, was Wunsch und Glaube funktional betrachtet äußerst eng verbindet: Beide gleichen Mangelerfahrungen aus, und beide tun es, indem sie das Fehlende als bereits erhalten oder zumindest glaubwürdig zugesichert imaginieren.
ERZÄHLERIN
Vom Triumph über eine ungerechte, grausame, kränkende Welt erzählen auch besondere Wunschgeschichten, wie sie alle Volkskulturen hervorgebracht haben.
MUSIK: CD 447320W01 1. Satz 0‘47
Rimsky Korsakow, Sheherazade (Beginn)
ZITATOR (träumerisch, mit Musik unterlegt)
Es war einmal …
in einem weit entfernten Land …,
in einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat ...
ERZÄHLERIN
Alles ist möglich. Die Regeln, Gesetze und Schranken der Wirklichkeit sind aufgehoben. Tiere sprechen, Gott und seine Heiligen wandeln auf Erden, was zerbrochen war, egal ob Dinge, Herzen oder Leben, kann wieder heilen.
SPRECHER
Der Bettler wird König, der Kater Minister, das Gute wird belohnt, das Böse bestraft, die Not hat ein Ende, das Glück währt ewig.
ZITATOR
Ach ja!
ERZÄHLERIN
Wir wissen, dass die Dinge in Wirklichkeit anders laufen. Aber es tut gut, sich eine Welt herbei zu fabulieren, die uns reich, kräftig, sorgenfrei, pappsatt, geliebt und glücklich macht. Das Kunststück gelingt, weil das Märchen über ganz besondere Ressourcen verfügt:
ZITATOR (Hall)
Zauberei! Wunschmagie!
ERZÄHLERIN
Im Märchen haben Wünsche Zauberkraft. Sie bringen Engel, Heilige und gute Geister dazu, im Namen Gottes fromme Bitten zu erhören und Segen zu wirken. Ins Dunkle gewendet, zwingen sie den Teufel, Dämonen und böse Geister, das Verlangte herbeizuschaffen und Verwünschungen zu vollstrecken.
SPRECHER
Magie? Zauberkräfte? Fluch und Segen? Das riecht schon stark nach Mittelalter, nach Aberglauben, nach Vorstellungen, die wir schon längst überwunden und abgelegt haben.
ERZÄHLERIN
Vielleicht aber auch nicht! Vielleicht hat der Glaube an magisch wirksame Wunschenergien ja doch, wenn auch unbewusst, bis in die Gegenwart überdauert!
Musik: C1589890115 Healing process 0‘20
ZITATOR
Ich wünsch dir
Glück,
Erfolg,
Gesundheit,
alles Gute!
SPRECHER
Aber das sind doch nur dahin geplapperte Allerweltsfloskeln?! Was man halt so sagt, um nicht unhöflich zu erscheinen und weil es alle tun.
ERZÄHLERIN
Keineswegs, meint Brigitte Boothe. Wir gebrauchen diese Formeln, nicht nur aus Gewohnheit. Wir verwenden sie auch, weil wir dem Wünschen unbewusst und unterschwellig noch immer eine segnende, letztendlich magische Wirkung zuschreiben.
ERZÄHLERIN
Wie ungebrochen magisches Denken noch immer nachwirkt, belegt auch ein Esoteriktrend, der dem Wunsch ganz besondere Kräfte zugesteht.
MUSIK: Z8037020109 Nexus of life 1‘50
ZITATOR
Wünschen 3.0: Bestellen beim kosmischen Vollversorger!
ERZÄHLERIN
Wünschen ist in. Eine Flut von Ratgebern, Coachingangeboten, Apps, Off- und Online-Seminaren vermarktet die Kraft des Wünschens als himmlischen Lieferdienst für Reichtum, Schönheit, Liebesglück oder Karriere. Zahllose Webseiten dienen sich als Allroundsortimenter für ein perfektes Wunschmanagement und den reibungslosen Bestellservice beim Universum an. Besonders hochwertige Gesamtpakete umfassen neben der Hilfestellung zur korrekten Wunschfindung, Wunschformulierung und Wunschgestaltung auch den optimalen Wunschversand bis hin zur Darstellung der persönlichen Wunsch-Erfüllungs-Statistik.
ZITATOR
Mit unserer einzigartigen Infrastruktur verschickst Du Deinen Wunsch ans Universum online. Du lädst Deine persönlichen Nachrichten in Form von Texten, Bildern, Videos oder Audiodateien hoch, wir senden sie als elektromagnetische Impulse ins All.
ERZÄHLERIN
Um das eigene Leben via Wunschenergie endlich aufs Erfolgsgleis zu setzen, braucht es nicht viel: Es genügt, etwas tief im Herzen zu wünschen und so realistisch zu visualisieren, als hätte es sich schon erfüllt. Den Rest liefert das Universum frei Haus.
ZITATOR
Bäumchen, Bäumchen schüttle dich,
wirf Gold und Silber über mich!
SPRECHER
O ja! Einfach nur dasitzen, die Augen schließen, ganz fest wünschen und auf die kosmische Gewinnausschüttung warten, schön wär's!
ERZÄHLERIN
Aber so läuft das nicht, warnt die Psychologin Brigitte Boothe. Wünsche fühlen sich rundum gut an, sie malen uns ihre Erfüllung in heitersten Farben aus und nehmen mühelos jede Hürde. Das ist ein sehr verlockendes Angebot, das bisweilen eine verfängliche Frage aufwirft:
SPRECHER
Warum noch schuften, wenn man so schön schwelgen kann?
ERZÄHLERIN
Und genau hier sitzt der Haken, meint Brigitte Boothe:
06 O-TON BOOTHE (ca. 030 Sekunden)
Die Gefährlichkeit besteht darin, dass man das Handeln versäumen kann und das man in so was wie ein Phlegma versinkt. Es kann dann mit vielen Selbsttäuschungsaspekten verbunden sein: Hätte man mich nur gelassen, dann wäre ich ein ganz toller Violinist geworden. Aber das ist ja leider nicht gegangen. Und dann träumt man von diesen Dingen und legt sich die Welt und das eigene Schicksal eher träumerisch zurecht. Also nicht ganz der Realität entsprechend.
Musik: C1512220017 Scraps and pieces 0‘40
ERZÄHLERIN
Ein entspannendes, süßes Wunschkonfekt hin und wieder ist ausgesprochen bekömmlich und keineswegs schädlich. Trotzdem: Wünsche sind und bleiben Kopfgeburten. Sie funktionieren im Kopf, aber die Realität braucht Taten. Sie braucht das Wollen, das Planen, es braucht die Bereitschaft, sich aufzuraffen, sich einzusetzen und anzupacken. In der bequemen Passivität des Wünschens zu verharren, macht aus einem harmlosen Vergnügen langfristig ein gefährliches Konzept.
SPRECHER
Damit steht ein schwerer Vorwurf im Raum: Wünsche machen faul und lebensuntüchtig. Sie verleiten zu Tagträumerei und Trägheit, sind Ausdruck einer unreifen Wirklichkeitsverweigerung, sie lassen uns in Scheinwelten abdriften und führen letztlich dazu, dass wir in einer irrealen Komfortzone stagnieren, statt das Leben aktiv, gezielt und planvoll anzugehen.
Musik: Z8033909110 Dream 0‘25
ERZÄHLERIN
Das ist die eine Seite. Die Seite der Wunschskeptiker. Zahllose Motivationspsychologen und Vertreter der Coachingszene sind allerdings vom Gegenteil überzeugt. Ihnen gilt das Wünschen als unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass wir Vorsätze fassen, Pläne entwickeln, Projekte angreifen und in die Gänge kommen.
SPRECHER
Was stimmt? Wer hat recht? Macht uns erst das Wünschen strebsam, ehrgeizig, mutig, tatendurstig, weil es uns Ziele vorgibt? Brauchen wir die fantasierte Anschubhilfe? Oder lässt uns das Wünschen schlaff, antriebslos und wirklichkeitsfremd mit dem Sofa verwachsen?
ERZÄHLERIN
Weder noch, sagt Brigitte Boothe. Solche konträren Zuspitzungen sind wertlos, weil Wunsch und Tat auf jeweils unterschiedliche Anforderungen mit je eigenen Strategien und Wirkungen antworten.
07 O-TON BOOTHE (ca. 040 Sekunden)
Wir können sagen, dass unser geistiges Leben, unser mentales Leben gespeist wird einerseits aus der Kraft der Wünsche, und dann gestalten wir eine Welt, in der es um uns und unser Menschenleben geht. Das ist eine kreative Leistung der Situations- und Weltgestaltung, die uns dient. Das andere ist der Blick auf die Welt, in der wir Dinge verstehen wollen, in denen wir schauen wollen, indem wir mit Mitteln der Rationalität, des Explorierens auf die Welt zugehen, um sie zu verstehen. Wenn wir das Phänomen Klimaveränderung begreifen wollen, geht es darum, dass wir unser Können, unser Wissen, unsere Beobachtungsgabe, unser wissenschaftliches Können einsetzen, um zu verlässlichen Einschätzungen der Realität zu kommen. Da hilft uns das Wünschen nichts.
SPRECHER
Ansporn oder Realitätsflucht, der Wunsch kann beides sein. Oder nichts davon. Es kommt einzig und allein darauf an, wie wir diese Fähigkeit einsetzen. Der Wunsch selbst liefert nur ein autosuggestives Placebo, eine angenehme Fantasie. Und dabei hält er sich weder an Vernunft, noch Regeln oder Verbote. Er schenkt einfach, was momentan am meisten fehlt.
Musik: Z8030262105 Introspection (b) 0‘27
ERZÄHLERIN
Wünsche verändern die Wirklichkeit nicht aus eigener Kraft, nicht unmittelbar und schon gar nicht magisch. Aber sie tun gut. Und sie vermögen sogar noch ein bisschen mehr. Sie helfen zu klären, was in unserem Leben zählt, was eher Beiwerk und was tatsächlich wichtig ist:
09 O-TON BOOTHE (ca. 20 Sekunden)
Wir erfahren über uns etwas, wenn wir unsere Herzenswünsche genauer kennenlernen und damit umgehen. Wenn dann beispielsweise die Situation eintritt, auf die wir uns lange gefreut haben, die wir uns gewünscht haben, dann erlaubt uns die Fähigkeit zu wünschen, das Eingetretene auch tatsächlich wertzuschätzen und zu genießen.
MUSIK: Z8019017121 Time traveller red. 0‘30
SPRECHER
Wir sind wünschende Wesen! Kein Zweifel. Das macht uns gesünder, ausdauernder, geduldiger. Aber auch anfälliger für Versuche, diese Fähigkeit auszubeuten. Denn unsere Wünsche machen uns manipulierbar. Je besser wir unsere Sehnsüchte, Anliegen und Wünsche kennen, je mehr wir unsere Verführbarkeit durchschauen, desto stärker werden unsere Abwehrkräfte gegen Missbrauchs- und Manipulationsversuche! Und diese Immunisierung ist nötiger denn je.
ERZÄHLERIN
Moderne Wachstumsgesellschaften leben zu großen Teilen von der Erzeugung, Formulierung und Kanalisierung immer neuer Wünsche. Wer keine Wünsche hat, konsumiert wenig, wer viele Wünsche hat, konsumiert viel. Erfolgreich ist, wer es schafft, uns ständig Neues wünschen zu lassen. Erfolgreich ist, wer es schafft, Wunschenergien zu entfesseln und seine Produkte als Versprechen der Wunscherfüllung zu inszenieren. Denselben Mechanismus greifen politische und spirituelle Heilsversprecher ab, um unsere Emotionen zu steuern, um uns zu manipulieren und vor den eigenen Karren zu spannen.
SPRECHER
Trotzdem: All das rechtfertigt nicht, das Wünschen als eine unserer wesentlichen kreativen Fähigkeiten infrage zu stellen. Was diese geistige Kapazität so einzigartig, unersetzlich und kostbar macht, hat Brigitte Boothe in einem ihrer Bücher so formuliert:
Musik: Z8032981120 Slow proressions 0‘40
ZITATOR
Die Fähigkeit, mit wunscherfüllenden Vorstellungen das Befinden zu regulieren, ist mindestens so nützlich wie das stimmungshebende Jogging oder der Genuss von Schokolade. Sie hat aber den Vorteil, wirksam zu sein auch dann, wenn die Schokolade ausgegangen und wenn man schlecht zu Fuß ist.
SPRECHER
Damit ist eigentlich alles gesagt. Bleibt nur noch eins zu tun: uns selbst, einander und der ganzen Welt von Herzen alles erdenklich Gute zu wünschen!
Es gibt Gegenden, da wissen Menschen, dass die Erde regelmäßig bebt. Was sie aber nicht wissen, ist, wann sich ein Erdbeben ereignen wird, denn bis heute ist der genaue Zeitpunkt eines Erdbebens nicht vorhersehbar. Und so sehr sich die Menschen innerlich darauf vorbereiten - wenn der Boden wackelt, bricht meist Panik aus. Starke Erdbeben können ganze Landstriche verwüsten, so wie Ende März (2025) in Myanmar und Thailand - deshalb ist eine sichere Bauweise besonders wichtig. Von Claudia Steiner (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Rahel Comtesse
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Dirk Becker, Geophysiker am Deutschen GeoForschungsZentrum Potsdam.
Prof. Dr.-Ing. Max Gündel von Wölfel Engineering aus Höchberg,Prof. am Lehrstuhl für Stahlbau und Stahlwasserbau, Universität der Bundeswehr in Hamburg.
Prof. Dr. Charlotte Krawczyk vom Deutschen GeoForschungsZentrum Potsdam
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Um kurz nach 4 Uhr in der Früh erschütterte erst eines und kurz darauf ein zweites schweren Beben ein Gebiet westlich der südtürkischen Großstadt Gaziantep…. /
Die Lage in der Erdbebenregion ist schwer in Worte zu fassen. Zehntausende Wohnungen sind zerstört. Dazu tiefe Temperaturen und Schneefall…. /
Auf den Philippinen graben sich Helfer durch Trümmer auf der Suche nach Vermissten. Ein Erdbeben der Stärke 6,7 hat den Inselstaat erschüttert…
Das schwere Erdbeben in Marokko hat großes Leid verursacht. Mehr als 2.100 Todesopfer wurden bisher gezählt. Viele Menschen sind noch unter Trümmern verschüttet. Ihre Bergung ist ein Rennen gegen die Zeit
O-TON 0 (Englisch mit deutscher Übersetzung, Ausschnitt aus Erdbeben - Schweres Erdbeben in Afghanistan, Erlaubnis von Autor, Peter Hornung, liegt vor)
When we woke up, everything was shaking… wir hatten solche Angst, unsere ganze Familie hatte Angst
Musik: Deserted and destroyed 0‘44
SPRECHERIN
…sagt ein Mann, der 2022 ein starkes Erdbeben in Afghanistan erlebt hat. Es muss ein schreckliches Gefühl sein, wenn sich der Boden unter den Füßen plötzlich bewegt. Je nach Stärke schwingen Lampen hin und her, fallen Bilder und Vasen aus Regalen, stürzen Möbel um, schwappt Wasser aus Swimmingpools, entstehen Risse in Wänden. Im schlimmsten Fall werden Straßen und Brücken zerstört. Der Erdboden reißt auf. Kirchtürme und Minarette stürzen ein. Mehrstöckige Gebäude fallen wie Kartenhäuser in sich zusammen. Starke Erdbeben mit Stärken über acht ereignen sich weltweit im Schnitt einmal pro Jahr, Erdbeben zwischen sieben und acht durchschnittlich 15 mal. Kleinere Beben der Stärke drei bis vier gibt es jährlich schätzungsweise 130.000 mal.
ATMO (Wellen/Tsunami)
SPRECHERIN
Das schwerste, jemals gemessene Erdbeben wurde 1960 in Chile registriert. Es hatte eine Stärke von 9,5. Das sogenannte "Große Chile-Erdbeben" löste einen Tsunami aus. Tsunamis entstehen, indem sich der Meeresboden plötzlich anhebt oder absenkt, das darüberliegende Wasser wird dadurch in Schwingungen versetzt. Die Riesenwellen wanderten damals Tausende Kilometer über den Pazifik und trafen sogar auf Hawaii, Neuseeland und Japan.
ATMO (Wellen/Tsunami)
SPRECHERIN
Manchmal bebt die Erde plötzlich, manchmal grummelt es im Untergrund schon länger und es gibt Vorläufer, sagt Professorin Charlotte Krawczyk (sprich: Kraftschick) vom Deutschen GeoForschungsZentrum in Potsdam:
O-TON 1
Bei diesem monströsen Chile-Erdbeben, da waren die Vorläufer so groß, dass man dachte, das sind schon die großen Beben. Und dann kam das richtig große Beben sogar noch hinterher.
ATMO (Riesenwelle)
SPRECHERIN
In Chile kamen Schätzungen zufolge mehrere Tausend Menschen ums Leben. Ein ähnlich großes Beben in einer dicht besiedelten Region hätte deutlich mehr Opfer zur Folge gehabt – so wie in Indonesien im Jahr 2004. Das Seebeben vor der Nordwestküste Sumatras hatte eine Stärke von 9,1 und verursachte ebenfalls einen Tsunami. Die zerstörerischen Riesenwellen überschwemmten Küstenregionen unter anderem in Indonesien, Indien, Malaysia, Sri Lanka und Thailand. Mehr als 220.000 Menschen starben.
MUSIK: Unexpected signals 0‘50
SPRECHERIN
Die Skala zur Messung von Erdbeben funktioniert nicht linear, sondern exponentiell. Das bedeutet: Der Unterschied von einer Magnitude zur anderen ist immens. Ein Beben der Stärke 7 ist zum Beispiel zehnmal so stark wie ein Beben der Stärke 6 und 100 Mal so stark wie ein Beben der Stärke 5. Ab Stärke 5 gibt es in der Regel Schäden.
SPRECHERIN
Doch warum bebt die Erde überhaupt? Erdbeben treten vor allem dort auf, wo Erdplatten aufeinandertreffen. Wenn die Spannung zwischen den Platten zu groß wird, bricht das Gestein ruckartig, erklärt Dirk Becker, Geophysiker am GeoforschungsZentrum Potsdam.
O-TON 2
Man muss sich das so ein bisschen vorstellen, so wie Eisschollen auf dem See oder auf dem Meer. Und die ganze Erdoberfläche besteht aus einzelnen Schollen, und die verschieben sich gegeneinander. Und diese Verschiebung gegeneinander baut dann Spannung auf, weil sich die Platten untereinander verhaken. Und dieses Verhaken sorgt dann irgendwann dafür, dass es zu einem impulsartigen Freisetzen dieser Spannung kommt, im Prinzip dann zu einem sogenannten Bruch-Prozess.
Musik: Hard decisions 0‘40
Atmo Erdbeben
SPRECHERIN
Besonders häufig gibt es See- und Erdbeben, aber auch Vulkanausbrüche entlang des 40.000 Kilometer langen Pazifischen Feuerrings, der den Pazifik von drei Seiten umrahmt. Auslöser für die zahlreichen Beben sind häufig Subduktionszonen. Das heißt: Dort treffen zwei tektonische Platten aufeinander und die Ozeanische Platte taucht unter die Kontinentalkruste ab. Grundsätzlich können sich Platten aneinander vorbei- oder auch übereinander schieben. Charlotte Krawczyk:
O-TON 3
Die Platten bewegen sich so im Millimeter- bis Zentimeterbereich pro Jahr. Das hört sich erst einmal recht wenig an. Wenn ich jetzt aber mal zum Beispiel das, was ja auch ein noch sehr präsentes Beispiel ist, an das Erdbeben in der Türkei (…) in 2023 denke, da bewegen sich die Platten mit etwa (…) zwei Zentimeter pro Jahr aneinander vorbei. (…) Wenn man das jetzt übertragen wollen, auf irgendetwas, was wir als Menschen besser einschätzen können. Stellen Sie sich einfach vor: Das ist ungefähr so schnell wie ihre Fingernägel wachsen.
Musik: Secret proofs 0‘38
SPRECHERIN
In der Türkei treffen die anatolische, die eurasische, die arabische und die ägäische Platte aufeinander. In Kalifornien reiben sich die amerikanische und die pazifische Platte. In Japan sorgen die pazifische, die philippinische und die eurasische Platte immer wieder für Erschütterungen. Istanbul, San Francisco und Tokio gehören damit zu den stark gefährdeten Großstädten. Dirk Becker forscht zu den Verwerfungslinien, also den tektonischen Bruchstellen, rund um Istanbul.
O-TON 4
Für den Großraum Istanbul nimmt man zum Beispiel an, dass die Wiederkehrrate eines so starken Erdbebens, wie es das letzte war in dem Gebiet, das der ungefähr bei 250 Jahren liegt. Also im Mittel kann man sagen, dass alle 250 Jahre dort ein Erdbeben auftreten wird, was zerstörerisch für die Metropolregion Istanbul ist. Aber man kann halt nicht sagen, ob das jetzt innerhalb der nächsten 20 Jahre stattfindet oder ob es innerhalb der nächsten 80 Jahre stattfindet, weil es natürlich eine gewisse Unsicherheit, eine gewisse Varianz gibt. Was man weiß, ist, dass es irgendwann stattfinden wird. Und das letzte ist schon relativ lange her, das ist halt über 250 Jahre her.
SPRECHERIN
In der Stadt am Bosporus wird die Platte an der nordanatolischen Verwerfungszone brechen, so viel steht fest. Die Frage ist, wann, wie stark und wo genau der Bruch stattfinden wird. Dirk Becker:
O-TON 5
Die interessante Frage für Istanbul ist zum Beispiel, wo der Bruch seinen Ausgang nimmt, weil es für Istanbul durchaus von Interesse sein kann, ob es direkt südlich von Istanbul ist und dann nach Westen läuft. Oder ob es weiter im Westen seinen Ausgang nimmt und dann auf Istanbul zuläuft, weil das halt für die seismische Gefährdung von Istanbul durchaus sehr, sehr unterschiedlich sein kann. Die schlimmere Version wäre wahrscheinlich, dass es im Westen seinen Ausgang nimmt und dann auf Istanbul zuläuft, weil sich dann halt im Prinzip die Erdbebenwellen so ein bisschen aufbauen würden. So wie man das davon kennt, wenn man zum Beispiel einen Krankenwagen hat, der auf einen zufährt. Dann hört man ja zuerst die höheren Frequenzen. Und dann, wenn es wegfahren würde, dann würde man die tieferen Frequenzen hören. Und so einen ähnlichen Effekt sieht man auch bei Erdbeben: Wenn sich der Bruch in eine Richtung ausbreitet und in die Richtung, in die es sich ausbreitet, in der sind dann in der Regel die Beben-Amplituden (…) deutlich höher als in die entgegengesetzte Richtung.
Musik: Meandering (reduced) 0‘42
SPRECHERIN
Die Menschen in Istanbul, die schon 1999 die Ausläufer des Izmit- -Erdbebens (sprich: Ismitt, Stimmhaftes S, Betonung auf erster Silbe) der Stärke 7,6 zu spüren bekommen haben, achten inzwischen auf die Lage ihrer Wohnung. In manchen Vierteln – zum Beispiel in Richtung Schwarzes Meer – ist der Untergrund aus Granit und damit recht stabil. In anderen Stadtteilen wie in der Nähe des Marmarameeres ist der Boden dagegen sandig und feucht. Hier kann es zu einer Verstärkung der Bodenbewegung kommen oder sogar zu einer sogenannten Bodenverflüssigung. Das passiert, wenn sich Wasser unter dem Druck der Erdbebenwellen zwischen die Sandkörner schiebt. Die einzelnen Körner verlieren den Kontakt, der Reibungswiderstand sinkt, der Boden wird zu Brei. Gebäude, die auf so einem Untergrund gebaut sind, können einsinken oder zur Seite kippen. Dass Stein oder Sand einen Unterschied bei der Auswirkung von Erdbebenwellen machen, konnte man auch 2004 in Indonesien beobachten, sagt Charlotte Krawczyk:
O-TON 6
Zum Beispiel konnte man gut auch in Sumatra sehen (…), dass besonders in dem Bereich von Banda Aceh sehr viel Zerstörung stattgefunden hat. Und das lag unter anderem mit daran, dass ganz viele Gebäude auf einem sandigen Bereich gestanden haben. Die Gebäude, die auf Felsen und Festgestein gestanden haben, da war weniger Schaden und vor allen Dingen auch weniger Verlust von Menschenleben zu verzeichnen.
SPRECHERIN
Auch bei dem Erdbeben der Stärke 6,2 im neuseeländischen Christchurch im Jahr 2011 kam es zu einer Bodenverflüssigung. Straßen und Gehwege brachen ein, Häuser versanken und aus dem Boden trat tonnenweise Schlamm an die Oberfläche.
MUSIK: Sad and heavy (reduziert) 0‘21
SPRECHERIN
Nach großen Erdbeben dauert es oft Wochen, manchmal auch Monate, bis sich die Erde wieder beruhigt. Charlotte Krawczyk:
O-TON 7
Die Nachbeben sind eine Art von (…) weiterer Energieentladung, weil nicht alles bei dem großen Impuls frei geworden ist. Und so habe ich dann eine Serie von Nachbeben, wo das ganze System noch nicht in Ruhe ist, sondern sozusagen nachschwingt. Also stellen Sie sich vor, es ist ein elastisches Verhalten wie ein Gummiband oder eine Feder. Das sind so die Analoge, die wir dafür oft benutzen. Wenn ich die einmal auslenke und flitschen lasse, ist es ja auch nicht sofort das Gummiband wieder nur an seiner Stelle, sondern es bewegt sich ja auch noch so ein bisschen hin und her.
SPRECHERIN
Oft werden noch Hunderte Nachbeben registriert, die mit zunehmender Dauer meist schwächer werden. Nicht nur die Stärke, auch die Tiefe von Erdbeben spielt eine große Rolle, erklärt Charlotte Krawczyk:
O-TON 8
Eine Welle breitet sich (…) im Idealfall kugelförmig in alle Richtungen aus. Das heißt: Auch wenn ein Beben in 50 Kilometer Tiefe geschieht, wird irgendwann an der Oberfläche ein Signal davon ankommen. Wenn ich jetzt ein Beben in 300 Kilometer Tiefe hab‘, meinetwegen Magnitude vier, das werden wir es kaum merken. Ist aber ein Beben der Magnitude vier in nur zehn Kilometer Tiefe und ganz nah unter uns, dann werden wir diese Auswirkungen viel stärker spüren, weil wir halt viel dichter an diesem Energiezentrum noch dran sind und die Wellen sich noch nicht sozusagen auf ihrem langen Laufweg durch die Erde (…), hat sie noch keine Energie verloren.
MUSIK: Morbid thought 0‘59
SPRECHERIN
Auch in Deutschland bebt die Erde manchmal, doch die Erdbebengefahr ist relativ gering: Dennoch kommt es vor allem im Rheingebiet, auf der Schwäbischen Alb sowie in Ostthüringen und Westsachsen immer wieder zu Erschütterungen. Eines der stärksten Erdbeben der jüngeren Vergangenheit ereignete sich nach Angaben des GEOFON-Netzwerkes des GeoForschungsZentrums 1992 im deutsch-niederländischen Grenzgebiet. Es hatte eine Stärke von 5,9. Das Epizentrum, also der Erdbebenherd, lag vier Kilometer südwestlich von Roermond in den Niederlanden.
SPRECHERIN
Trotz wissenschaftlicher Fortschritte ist es bis heute nicht möglich, den genauen Zeitpunkt eines Erdbebens vorherzusagen. Forscher können nur sagen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Erdbeben in einer Region auftritt. Dirk Becker:
O-TON 9
Erdbeben vorherzusagen, ist natürlich der Heilige Gral der Seismologie und der Wissenschaft. Aber die Problematik ist die: Erstens kann man nicht so schön reingucken in den Ort, wo das Erdbeben entsteht, wie man es zum Beispiel beim Wetter machen kann. Man kann sich vorstellen: das Erdbeben nimmt seinen Ursprung in einer Tiefe von zehn, 15 Kilometern. Und da sind wir dann halt auch - wenn wir gut sind, auch immer noch zehn, 15 Kilometer mit unseren nächsten Messinstrumenten entfernt. Das heißt, wir wissen eigentlich gar nicht genau, was da vor sich geht an dem Ort, wo das Erdbeben seinen Ausgang nimmt. (…) Das andere Problem ist, dass es von diesen ganz, ganz großen Erdbeben, die man hat, die halt zerstörerisch sind, dass man da in der Geschichte auch relativ wenig Aufzeichnungen hat. Es ist nicht so, wie wenn man sich zum Beispiel Sturmsysteme anguckt, wo man in Norddeutschland den Effekt hat, dass alle sechs, sieben, acht Tage immer wieder ein Sturmsystem aus Westen vorbeikommt, sondern bei diesen ganz großen Erdbeben ist es so, dass die alle hundert Jahre teilweise nur stattfindenden in einigen Gebieten. Das heißt wir haben in vielen Gebieten eine oder teilweise auch gar keine instrumentelle Aufzeichnung von einem ganz großen Erdbeben.
Musik: Obscure intrigue 0‘45
SPRECHERIN
Zudem haben große Erdbeben ihre eigenen Charakteristika und unterscheiden sich oft deutlich voneinander. All das zusammen macht eine präzise Vorhersage unmöglich. Gerade deshalb ist in gefährdeten Gebieten eine erdbebensichere Bauweise wichtig. Ein typischer Spruch von Erdbeben-Ingenieuren lautet: Earthquakes don’t kill people, buildings do, also: nicht Erdbeben, sondern Gebäude töten Menschen. Ausnahmen sind Opfer durch Tsunamis und durch Hangrutsche oder Felsstürze in bergigen Regionen. Professor Max Gündel von Wölfel Engineering aus Höchberg lehrt an der Universität der Bundeswehr in Hamburg am Lehrstuhl für Stahlbau und Stahlwasserbau.
O-TON 10
Stellen Sie sich vor: Ein starkes Erdbeben erwischt sie in Neuseeland, und sie stehen auf einer grünen Wiese. Sie werden vielleicht schwanken, sie werden vielleicht auch umkippen, aber sie werden definitiv keine Verletzungen davonziehen. Wenn sie aber in einem Gebäude stehen, was schlecht gebaut ist oder das Erdbeben nicht aushält, dann kann das Gebäude einstürzen. Und dann können sie verletzt oder getötet werden.
SPRECHERIN
Gebäude können verstärkt werden, zum Beispiel indem zusätzliche Wände eingezogen werden. Zudem können Materialien verwendet werden, die gut verformbar sind, sagt Max Gündel.
O-TON 11
Ein Erdbeben bringt eine Energie in das Gebäude, was das Gebäude zum Schwingen anregt, und diese Energie muss irgendwie weg. Wenn diese Energie durch (…) plastische Verformung dissipiert wird, also in eine andere Energie umgewandelt wird, was für das Gebäude wieder weniger schädlich ist, dann hilft es dem Gebäude. Und ein großes Verformungsvermögen haben Gebäude, die verformungsfähige Materialien haben. Das kann Stahl sein, das kann ein Stahlbetongebäude sein (…) Also vergleichen Sie vielleicht mal die Büroklammer. Die können sie stark plastisch verformen. Die können sie hin und her biegen und sie bricht nicht. Wenn sie ein Stück Kreide haben, um sie das hin und her biegen wollen, dann bricht es durch.
SPRECHERIN
Manchmal reichen diese Maßnahmen nicht aus, dann gibt es die Methode der seismischen Isolierung. Sie ist allerdings sehr aufwändig, sagt Max Gündel.
O-TON 12
Das heißt, wir entkoppeln das Gebäude vom Boden zum Beispiel (…) durch Elemente, die ein leichtes (…) horizontales hin- und hergleiten des Gebäudes ermöglichen. Was passiert? (…) Die Erde schwingt hin und her, und das Gebäude bleibt quasi an der gleichen Stelle, weil wir dazwischen Elemente haben, die es ermöglichen, dass die Erde hin und her schwingt, ohne das Gebäude mitnimmt.
Musik: Eartquake 0‘42
SPRECHERIN
Bei Hochhäusern kommen Schockabsorber, Gleitpendel- oder Gummilager zum Einsatz. Die Gebäude werden zudem durch tief verankerte, flexible Fundamente und robuste Stahlskelette erdbebensicher gemacht. Beispiel „Taipeh 101“: Der über 500 Meter hohe Turm in der Hauptstadt von Taiwan hat viele Stahlstützen und tief verankerte Pfähle, aber auch eine 660 Tonnen schwere Kugel, die in den oberen Stockwerken aufgehängt ist, erklärt Max Gündel.
O-TON 13
Das ist tatsächlich ein Hochhaus, wo ein großes Pendel eingebaut worden ist, was auch gegen Erdbeben wirken soll. Im Wesentlichen wird es aber gegen Schwingungen von Wind genutzt. Was ist da die Idee? (…) Wenn wir auf dem Gebäude einen Schwinger, zum Beispiel ein Pendel installieren, was ungefähr die gleiche Eigenperiode hat wie das Gebäude selbst, dann schwingt statt dem Gebäude stärker dieses Pendel hin und her, und die Energie von Gebäude wird quasi an das Pendel abgegeben. Das heißt, das Pendel schwingt stark beim Erdbeben hin und her. Das Gebäude wird dadurch beruhigt.
MUSIK: Rivalry fight 0‘39
Atmo Erdbeben
SPRECHERIN
Auch das richtige Verhalten bei Erdbeben kann dazu beitragen, die Zahl der Opfer zu reduzieren. So sollten Bewohner nicht in Panik auf die Straße rennen, weil sie dort von herabfallenden Gegenständen verletzt werden können. Besser ist es, sich von Fenstern, die bersten könnten, zu entfernen und sich zum Beispiel unter einen Türrahmen zu setzen. In Erdbeben-gefährdeten Regionen wird dieses Verhalten regelmäßig geübt, ebenso das richtige Verhalten bei Tsunamis, sagt die Geophysikerin Charlotte Krawczyk vom Deutschen GeoForschungsZentrum in Potsdam.
O-TON 14
Da wird trainiert, dass man zum Beispiel alles stehen und liegen lässt, geregelt aus dem Gebäude geht, aber dann bergauf rennt. Also so, dass die Welle, die dann an Land läuft, dass man möglichst nicht von der ersten starken Wucht direkt unten an der Küstenlinie getroffen wird, sondern vielleicht nur den ausrollenden Ausläufer, der dann bergauf ja auch sich abschwächt, maximal abkriegt. (…) Wenn die Sirene angeht, dann weiß da jedes Kind. Das ist jetzt die Erdbeben- und Tsunami-Warnung. Jacke anziehen, raus und bergauf rennen.
Musik: Transition process 0‘49
SPRECHERIN
In Japan – wo pro Jahr im Schnitt 1.500 spürbare Erdbeben registriert werden - gibt es ein Erdbebenfrühwarn-System. ATMO (Sirene, Handy-Piepsen)
Dieses schickt unmittelbar nach den Erdstößen Warnungen aufs Handy. Allerdings beträgt die Vorlaufzeit – je nach Entfernung zum Epizentrum – nur wenige Sekunden. Doch diese kurze Zeit reicht in der Regel aus, um den Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen automatisch zu bremsen oder auch Gasleitungen abzusperren. So oder so, selbst mit einer Warnung wie sie derzeit in Japan praktiziert wird, bleibt Menschen in Gebäuden kaum Zeit, um angemessen zu reagieren, sagt Dirk Becker.
O-TON 15
Man muss sich das mal vorstellen. Man befindet sich irgendwo im Haus, im fünften Stock. Und jetzt weiß man, dass in fünf Sekunden eine starke Erdbebenwelle kommen wird. Da kann man das Haus nicht mehr verlassen. Das Einzige, was man noch machen kann, ist, man kann sich da unter den Türrahmen stellen, sich von den Fenstern entfernen und unter einen Tisch gehen. Das sind die Möglichkeiten, die man noch hat.
SPRECHERIN
Noch ist die Vorhersage nicht möglich, doch KI, also Künstliche Intelligenz könnte künftig Seismologen helfen, Erdbeben besser zu verstehen. Dafür werden große Datensätze ausgewertet, sagt Dirk Becker.
O-Ton 16 neu
…dass man sich teilweise anguckt: Was ist in den Daten eigentlich drin, bevor man große Erdbeben sieht. Und das sieht man als Mensch, wenn man so raufguckt, nicht. Aber wenn man zum Beispiel seinen Computer trainiert, mit (…) ganz, ganz vielen Datensätzen von vielen, großen, vergangenen Erdbeben, dann ist der teilweise halt in der Lage, irgendwelche Muster darin zu erkennen, die man selbst übersehen hat und die einem dann möglicherweise ein Vorläufer Phänomen für ein so großes Erdbeben liefern könnte.
Musik: Constant fear red 0‘29
SPRECHERIN
Bis dahin können Menschen in gefährdeten Regionen nur erdbebensicher bauen und das Verhalten bei einem Beben immer wieder trainieren, denn noch wissen Seismologen nur, ob und nicht wann, wo genau und wie stark ein Erdbeben zu erwarten ist.
Sie wurde von der rangniederen Konkubine zur mächtigsten Frau im Reich der Mitte: Kaiserinwitwe Cixi. Unter ihrer Herrschaft schlitterte das alte China seinem Untergang entgegen. Doch war Cixi wirklich die machtgierige, sadistische Furie ohne Weitblick, wie lange behauptet wurde? Von Isabella Arcucci (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Isabella Arcucci
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Meinhardt und Thomas Birnstiel
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Die Fähigkeit zu sprechen und Botschaften zu artikulieren, zeichnet uns Menschen aus. Doch ab und zu kommt es - bei jedem von uns - zu Fehlern bei der Sprachproduktion. Diese kleinen kognitiven Aussetzer sind normal und meistens harmlos. Von Katrin Kellermann
Credits
Autorin dieser Folge: Katrin Kellermann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Rahel Comtesse
Technik: Heiko Hinrichs, Lorenz Kersten
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. Dr. Horst M. Müller, Ag Experimentelle Neurolinguistik, Universität Bielefeld,
Prof. Dr. Sebastian Markett, Psychologe Humboldt-Universität zu Berlin, Gedächtnistrainerin Gitte Rollenhagen u. Teilnehmer,
Dr. Nina Jeanette Hofferberth, Buchautorin Sprachproduktion & Lehrerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Linktipps:
Fragebogen von Gesprächspartner Prof. Sebastian Markett HIER
Bundesverband Gedächtnistrainingb e.V. mit einer Liste zertifizierter Gedächtnistrainer HIER
Assoziationsspiel zur Erforschung des mentalen Lexikons HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 Zsp Wortfindungsstörungen Gitte Rollenhagen 00:27
„Es geht los (…) Jetzt. Magst du anfangen? Atmo Miau, trampeln.
Ja super, Ihr macht das super, und das ist halt richtig, richtig anstrengend. Das Schwierige ist, dass man eben zwischen Handlung und Worten wechseln muss und dass man halt spricht, was man tut. Weil wir nicht multitaskingfähig sind.“
Musik: Creative workshop 0‘22
Sprecher
Gedächtnistrainerin Gitte Rollenhagen leitet einen Kurs an der Münchner Volkshochschule. Sie stellt Rätselfragen, gibt Denkanstöße und erklärt die Aufgaben. Die Teilnehmenden haben Spaß beim Knobeln, Raten, Überlegen, Kombinieren. Sie kommen auf Ideen und haben kreative Einfälle. Und genau darum geht’s:
02 Zsp Wortfindungsstörungen Gitte Rollenhagen 00:20
„Kreuzworträtsel bringt nicht so viel, weil, man macht ja immer das Gleiche. Und irgendwann weiß man den Fluss mit den fünf Buchstaben und beim Gedächtnistraining lernen wir eben immer wieder anders zu denken. Um die Ecke zu denken, und wenn ich so nicht weiterkomme, eine andere Lösung zu finden, also viel flexibler einfach zu werden.“
Musik: New ideas red 0‘25
Sprecher:
‚Use it or loose it‘ – dieser Spruch gilt nicht nur für unsere Muskeln, sondern auch für das Gehirn. Denn Verbindungen zwischen Nervenzellen können trainiert oder vernachlässigt werden und dementsprechend gut oder schlecht Signale übertragen. Was man häufig braucht, lässt sich leicht abrufen. Was man dagegen nicht so oft braucht, wird verschüttet. Und dann kann es passieren, dass uns plötzlich ein Wort nicht mehr einfällt:
03 Zsp Wortfindungsstörungen Gitte Rollenhagen 00:32
„Das werde ich immer gefragt, wie kann ich mir, wenn mir ein Wort nicht einfällt, das herholen? Es gibt keine Patentlösung. Es geht einfach darum, dass ich immer wieder mein Gehirn trainiere, meine Flexibilität im Denken, meine Kreativität, meine Fantasie. Man muss einfach dranbleiben. Und trotzdem: Es ist auch normal, dass uns manchmal was nicht einfällt. Und dann einfach loslassen, das kommt dann.“
Musik: Shy and curious 0‘20
Sprecherin:
Wenn uns ein Wort auf der Zunge liegt, aber nicht einfallen will, dann bezeichnet das die Wissenschaft als Zungenspitzen- oder Tip of the tongue-Phänomen. Es passiert etwa ein bis zwei Mal pro Woche. Ältere erleben es etwas häufiger als junge Menschen:
04 Zsp Wortfindungsstörungen Horst Müller 00:26
„Es geht ja auch nicht um Wörter, die sehr hochfrequent sind, die sehr im Alltag vorkommen. Und nicht um Wörter natürlich, die man im Kindesalter schon erworben hat. Kaum jemand wird über ein Buch reden wollen und dann fällt einem das Wort ‚Buch‘ nicht ein, sondern das sind seltene Wörter, häufig auch Wörter, die man erst später im Leben erlernt hat und Namen natürlich.“
Sprecherin:
… sagt Professor Doktor Doktor Horst Müller. Der Neurobiologe und Linguist leitet die Arbeitsgruppe Experimentelle Neurolinguistik an der Universität Bielefeld und forscht darüber, wie Sprache im Gehirn repräsentiert ist.
Musik: Brain puzzle (b) 0‘24
Er betont, dass Sprechen eine kognitive Höchstleistung sei. Denn während wir mühelos reden, laufen im Gehirn mehrere Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen, teilweise parallel, ab. Wir kommen vom Gedanken zum Wort in Sekundenbruchteilen.
Sprecher:
Bewusst wird uns das nur selten. Und zwar dann, wenn bei der so genannten Aktivierung, also dem Abruf aus dem Gedächtnis oder dem Zugriff, wie Psycholinguisten sagen, etwas schiefgeht:
05 Zsp Wortfindungsstörungen Horst Müller 00:17
„Die Leute haben so viele Informationen über das zu suchende Wort, dass man davon ausgehen muss, dass die Aktivierung schon sehr weit fortgeschritten ist, aber es letzlich nicht zu Ende gebracht werden kann. Das Wort also tatsächlich auf der Spitze der Zunge liegt und nicht herauskommt.“
Sprecherin:
Aber warum können wir es nicht einfach aussprechen? Die Antwort liefert die Art und Weise, wie unser kognitives System funktioniert.
Unter Kognition versteht man das Denken oder die Informationsverarbeitung im Gehirn im Allgemeinen. Sie umfasst beispielsweise Vorstellungskraft, Kreativität, Gedächtnis und Sprache.
Musik: Anticipation 0‘33
Sprecher:
Jede Äußerung beginnt mit einer Idee davon, was wir sagen wollen. Man spricht von einem Konzept. Diese noch vorsprachlichen Einheiten kennt vermutlich jedes Lebewesen. Auch ein Hund weiß, was wegrennen bedeutet. Ein Mensch aber kann diese Konzepte an Wörter knüpfen und als Botschaft artikulieren.
Sprecherin:
Schätzungen gehen davon aus, dass die deutsche Gegenwartssprache etwa dreihundert- bis sechshunderttausend Wörter umfasst. Es heißt, ein Durchschnittsprecher kenne etwa vierzigtausend Wörter. Im Laufe des Lebens vergrößert sich unser Wortschatz stetig. Wörter, die wir einmal gelernt haben, sind in unserem Gedächtnis gespeichert und stehen idealerweise jederzeit zum Abruf bereit.
Sprecher:
Man spricht vom so genannten mentalen Lexikon. Unklar ist aber, wie dieses im Detail organisiert und strukturiert ist. Sicher ist: Die Wörter sind nicht isoliert gespeichert, sondern in einem neuronalen Netzwerk miteinander verknüpft.
06 Zsp Wortfindungsstörungen Sebastian Markett 00:08
„Unser Gehirn, unser Gedächtnis und damit auch letztendlich die
Repräsentation der Sprache, die wir im Kopf haben, die funktioniert super assoziativ.“
Sprecherin:
… sagt Doktor Sebastian Markett, Professor für Molekulare Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
07 Zsp Wortfindungsstörungen Sebastian Markett 00:25
„Also wir kommen wirklich vom Hölzchen aufs Stöckchen. Wenn ich an Apfel denke, denke ich an Birne und damit werden halt automatisch, wenn ich nur an ein bestimmtes Wort denke, eine ganze Reihe von anderen Worten mitaktiviert. Und die wollen dann vielleicht auch gesprochen werden. Und die muss ich dann aktiv draußen halten. Also die blockieren nicht notwendigerweise, sondern die bieten sich einfach mehr an. Es ist wie beim Fußball. Wenn ich mich freilaufe und dabei wild rum gestikuliere, dann ist es wahrscheinlicher, dass ich den Ball zugespielt bekomme. Und das passiert bei uns im Gehirn.“
Sprecherin:
Dazu kommt, dass wir für die jeweiligen Konzepte mehrere Wörter zur Verfügung haben: Ein Haustier mit vier Beinen, das bellt, könnten wir als Hund bezeichnen, aber auch als Pudel oder schlicht Tier, möglich sind auch die Wörter Kläffer oder Hündchen, je nachdem, welche Einstellung wir ausdrücken wollen.
08 Zsp Wortfindungsstörungen Sebastian Markett 00:21
„Für unser Gehirn ist das total anstrengend und schwierig, also allein das richtige Wort auszusuchen und nicht das falsche zu benutzen. Und mein Gehirn muss auswählen, was ist das richtige? Und die anderen auch (…) aktiv fernhalten und das ist eine Sache, wo natürlich etwas schiefgehen kann. Und das sind so diese typischen Fälle, wo ich einfach das falsche Wort verwende, ohne es zu merken.“
Sprecherin:
Bei zwei- oder mehrsprachigen Personen bieten sich noch viel mehr Einträge im mentalen Lexikon an. Vermutlich ist das auch ein Grund, warum diese Personen häufiger Fehler bei der Wortfindung machen, obwohl die Mehrsprachigkeit grundsätzlich als kognitiver Vorteil gilt.
Musik: Curious tension 0‘19
Sprecher:
Versprecher sind oft unfreiwillig komisch. Vor allem dann, wenn sie in der Öffentlichkeit oder in den Medien passieren:
09 Zsp Wortfindungsstörungen Versprechercollage 00:16
„Sie haben den Bundesgesundheitsminister zitiert, Klaus Lauterbach“ SFX Trenner
„Bundesaußenminister Taliban stellt den... tschuldigung“
SFX Trenner
„Das fragen wir um kurz nach acht Kanzleramtschef Helge Schneider“ SFX Trenner
Donald Duck- äh Trump würde eine Wahlniederlage vermutlich nicht akzeptieren, aber was passiert dann?“
Sprecherin:
Wie das mentale Lexikon bei verschiedenen Menschen unterschiedlichen Alters strukturiert ist, wie nah oder entfernt die Wörter abgespeichert sind, wollen unter anderem Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung herausfinden. Sie beteiligen sich an einem über Jahrzehnte angelegten internationalen Projekt, das in 19 verschiedenen Sprachen läuft.
Musik: Unbiased opinion-Akzent 0‘44
Sprecher:
Mithilfe eines Internet-Spiels sammeln sie Daten. Es funktioniert folgendermaßen: Ein Begriff wie Glockenspiel, Füller oder Labyrinth wird vorgegeben. Der Spielende schreibt dann die ersten drei Wörter, die ihm in den Sinn kommen, dazu. Die aktuellen Top 3 zu „Labyrinth“ sind „Irrgarten“, „Maisfeld“ und „verirren“. Durch die Analyse der Assoziationen erhofft man sich neue Erkenntnisse über die Struktur des mentalen Lexikons. Damit könnte man dann Anwendungen mit künstlicher Intelligenz verbessern oder Sprach-Lernhilfen entwickeln.
10 Zsp Wortfindungsstörungen Hofferberth 00:47
„Das tip of the tongue Phänomen - auf Deutsch sagen wir auch Zungenspitzenphänomen-, das beschreibt eine Störung in der Sprachproduktion, bei der momentan das gesuchte Wort nicht verfügbar ist. Normalerweise ist es aber im mentalen Lexikon gespeichert und ist verfügbar. Also das ist wirklich wichtig, dass es jetzt um eine akute Störung geht. Das passiert insbesondere, wenn wir müde sind oder angespannt oder aufgeregt oder auch alkoholisiert. Das ist genauso wie Versprecher, ja, also Wortfindungsstörungen und Versprecher tauchen bei Referaten häufiger auf als jetzt so normal in einem Alltagsgespräch.“
Sprecherin:
… sagt die Gymnasiallehrerin und Buchautorin Doktor Nina Jeanette Hofferberth, die an der Goethe-Universität Frankfurt über das Zungenspitzenphänomen promoviert hat.
Musik: Shy and curious 0‘30
Wenn diese akute Störung eintritt, dann helfen wir uns meist mit Umschreibungen oder nutzen umgangssprachliche Begriffe wie Dingsbums oder Dings. Bezeichnend ist das Gefühl, das gesuchte Wort eigentlich zu kennen. Dieses Feeling of Knowing erklärt Neurobiologe und Linguist Horst Müller anhand eines Beispiels:
11 Zsp Wortfindungsstörungen Horst Müller 00:36
„Wenn sie im Supermarkt an der Kasse stehen und das Warentransportband sehen vor der Kasse, dann liegen doch da diese Teile zwischen den Sachen, und das ist der Warentrennstab. Aber das Wort benutzt kaum jemand. Jeder kennt das Ding, jeder weiß, worüber er reden kann. Jeder hat das Wort auch schon mal gehört. Aber es fällt dann vielleicht nicht ein. Dieses Konzept ist ja vorhanden, man weiß genau, worum es geht. Und man weiß auch zum Beispiel - in der Hälfte der Fälle ist das so – es fängt irgendwie mit einem A an oder es ist zweisilbig, nicht dreisilbig.“
Sprecherin:
Hintergrund ist, dass die Wörter im mentalen Lexikon mit zwei unterschiedlichen Informationen gespeichert sind. Zum einen die semantische Ebene, die Bedeutung, zum anderen die phonologische, der Klang. Beim Hören gelangen wir vom Klang zur Bedeutung und beim Sprechen ist es genau andersrum.
Sprecher:
Und je mehr Verbindungen es zwischen diesen beiden Ebenen, zwischen Bedeutung und Klang, gibt, desto leichter finden wir das gesuchte Wort:
12 Zsp Wortfindungsstörungen Horst Müller 00:50
„Also am einfachsten ist es bei konkreten Wörtern - bei Ball oder Buch. Haptische Informationen sind da angebunden, angekettet. Man hat emotionale Bindung an Bücher, man hat sehr viel Erfahrung damit. Und so gibt es eine, wie man sagt, multimodale Verschaltung. Und wenn jetzt das Wort Buch aktiviert werden soll, dann kommt aus ganz unterschiedlichen Bereichen, kommen Hinweise darauf. Es ist ungefähr so groß, ungefähr so schwer, meistens aus dem und dem Material. Man kann darin blättern und so weiter und so weiter. Und Namen haben diese Einträge nicht. Die referieren ins Leere, gewissermaßen. Insbesondere, wenn es Namen sind von Personen, die man nicht kennt oder von denen man nur ganz vage Vorstellungen hat.“
Sprecherin:
Namen sind also ein Sonderfall. Um sie sich besser merken zu können, sollte man in erster Linie aufmerksam zuhören, wenn sich jemand vorstellt. Bei Unklarheiten am besten gleich nachfragen, den Namen wiederholen, in Gedanken vielleicht mit einer passenden Geschichte zur Person verbinden und dann im Gespräch immer wieder verwenden. So bleibt er im Gedächtnis.
Musik: Finding the source 0‘27
Sprecher:
Um leichter auf einen gesuchten Namen oder ein Wort zu kommen, hilft es – sofern man eine Idee vom Anfangsbuchstaben hat - mehrere Silben auszuprobieren. Laut Studien können ähnlich klingende Wörter den Zugriff erleichtern.
Das Gefühl, kurz vor der Lösung zu sein, aber nicht drauf zu kommen, kann mitunter frustrierend sein, weiß Nina Jeanette Hofferberth:
13 Zsp Wortfindungsstörungen Nina Jeanette Hofferberth 00:28
„Häufig schnippen wir dann auch so mit den Fingern und haben einfach die Hoffnung, gleich auf das gesuchte Wort zu kommen. Und ja, manchmal helfen wirklich solche Bewegungen oder auch Gesten, um diesen frustrierenden Zustand wieder aufzulösen. Man hat auch schon Probanden gebeten, also Versuchsteilnehmer, dass sie nicht gestikulieren dürfen beim Sprechen. Und dann kam es eben häufiger zu Wortfindungsstörungen und auch häufiger zu Versprechern.“
Sprecherin:
Krampfhaft nach dem gesuchten Wort oder dem Namen zu grübeln ist keine gute Idee.
Musik: Unfolding feelings (a) 0‘34
Aus der Hirnforschung weiß man, dass Loslassen besser hilft. Man sollte an etwas anderes denken oder etwas anderes machen, beispielsweise einen Spaziergang. Denn dann fährt im Hintergrund ein so genanntes assoziatives Netzwerk hoch und arbeitet, ohne dass wir etwas davon mitbekommen.
Sprecher:
Eine Taktik, die auch die Münchner Senioren, die ihr Gehirn mit Gedächtnistraining fit halten, verfolgen:
14 Zsp Wortfindungsstörungen UF Gedächtnistraining 00:38
„Ich versuche nicht mehr so genau daran zu denken, weil je mehr ich mich darauf konzentriere, umso weniger fällt mir das ein. Und wenn man dann mal kurz die Gedanken schweifen lässt, dann ach, genau so war das.“
„Bei mir kommt es auch immer wieder vor. Aber entweder man schaut, woher kennt man den jetzt, in welchem Kontext? Vielleicht kommt dann der Name, und meistens kommt eher der Vorname als der Familienname. Aber es hängt auch davon ab, welche Geschichte das sich dahinter verbirgt.“
„Ich glaub, man wird großzügiger, aber das ist auch eine Altersgeschichte, dass man sagt, okay, das ist im Moment nicht im Kopf. Und dann fällt es mir halt zehn Minuten später ein.“
Musik: Z8034434106 Curious tension 0‘30
Sprecher und Sprecherin abwechselnd:
Wir erzählen von einem Film und der Name der Schauspielerin fällt uns nicht mehr ein.
Wir stehen im Keller und wissen nicht mehr, was wir dort wollten.
Wir stoßen die Kaffeetasse um.
Wir übersehen ein Verkehrsschild.
Wir suchen unsere Brille und haben sie auf dem Kopf.
Wir wissen unsere PIN-Nummer plötzlich nicht mehr.
Fehler, die uns allen im Alltag passieren und zum Glück meistens folgenlos bleiben.
Sprecherin:
Diese kognitiven Aussetzer nennt der Psychologe Sebastian Markett Augenblicksversagen oder Schusselfehler. Über einen onlinebasierten Fragebogen haben er und sein Team Persönlichkeitsmerkmale identifiziert, die mit einer erhöhten Neigung zu diesen Fehlern einhergehen. Ein typischer Schussel ist eher ängstlich, eher begeisterungsfähig und eher verträumt:
15 Zsp Wortfindungsstörungen Sebastian Markett 00:43
„Also Tagträumen hat - zumindest, was so das deutsche Wort angeht, - ja einen relativ negativen Vibe. Also viele Leute sagen: Tagträumer! So ein Hans-guck-in-die-Luft. Aber Tagträumen ist extrem wichtig. Wenn man das Ganze mit einem anderen Begriff Mindfullness nennt, also der englische Begriff dafür aus dem Meditationsbereich, das ist was Positives. Also mit den Gedanken bei sich selbst sein, über sich selber nachdenken, Pläne machen. Das ist ein extrem wichtiger Zustand. Also wir sollten jeden Tag auch gezielt versuchen, in diesen Zustand reinzukommen. Und es gibt Leute, denen fällt das total leicht da reinzukommen. Aber dann gibt es die Schattenseite: Das ist die Kaffeetasse oder das verwechselte Wort oder der vergessene Termin.“
Sprecherin:
Es gibt also Unterschiede zwischen einzelnen Personen. Auch eine genetische Komponente konnten die Forschenden zeigen. Allerdings ist die Tagesform genauso entscheidend: Sind wir müde, unausgeschlafen oder gestresst, neigen wir alle eher zu kleinen kognitiven Aussetzern.
Musik: Driven by value 0‘39
Sprecher:
Psychologe Markett hat auch gute Nachrichten: Laut Studien gewinnen Menschen durch schusseliges – man könnte auch sagen tollpatschiges, verpeiltes oder schrulliges - Verhalten, durchaus Sympathiepunkte. Zweitens entwickeln wir mit zunehmenden Alter Routinen. Wer seinen Schlüssel immer an denselben Platz legt, muss weniger oft danach suchen. Und drittens sind diese kurzen geistigen Stolperer einfach der Preis für unser komplexes Gehirn, das mit den verschiedensten Anforderungen in einer komplizierten Welt klarkommt:
16 Zsp Wortfindungsstörungen Sebastian Markett
„Also: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Und das sind die Momente, wo Schusselfehler passieren. Also im Endeffekt können wir danke für unser Gehirn sagen, dass diese Fehler passieren, weil das bedeutet einfach, es funktioniert alles so, wie es funktionieren soll.“
Musik: Good news (c) 0‘13
17 Zsp Wortfindungsstörungen Horst Müller 00:39
„Wenn man ein Wort sucht, um ein Wort ringt, und genau weiß, was man sagen will und nur einem das Wort nicht einfällt, und wenn das höchstens alle zwei Tage passiert, würde ich mir überhaupt keine Sorgen machen. Wenn das häufiger passiert, sagen wir mal drei, vier Mal am Tag, dann ist es schon etwas anders. Und was auch noch hinzukommt, ist, dass man sich im Alter daran gewöhnen muss. Ich denke, schon ab 30, 40 beginnt es, ab 50 ist es merklich. Über 60 ist die Wortfindungsstörung im Sinne des ‚es liegt mir auf der Zunge` dein Freund gewissermaßen.“
Sprecherin:
… so die Einschätzung von Neurobiologe und Linguist Horst Müller. Wortfindungsstörungen können Anzeichen für ernstzunehmende Krankheiten sein. Vor allem dann, wenn sie plötzlich oder ungewohnt häufig auftreten. Sebastian Markett erklärt, dass dahinter beispielsweise eine psychiatrische Erkrankung wie eine Depression stecken kann.
18 Zsp Wortfindungsstörungen Sebastian Markett 00:47
„Und das andere wären dann neurodegenerative Erkrankungen, also wir reden da in Richtung Demenz, Alzheimer zum Beispiel. Und da ist es tatsächlich so, wenn wir jetzt über die Alzheimersche Erkrankung sprechen, dass Wortfindungsstörungen mit zu den allerallerallerersten Symptomen dazugehören und das quasi, bevor wir überhaupt von einer Demenz klinisch sprechen können. Also, es ist schon ein erster Hinweis dafür. Was ich aber dazu jetzt mit 85.000 Ausrufezeichen versehen sagen muss: Wir können von der einen in die andere Richtung schießen, aber nicht von der anderen in die eine, was ich damit meine, ist: Wenn wir eine Person haben, die später, wo wir wissen, die ist dement geworden, dann können wir zurückgehen in die Vergangenheit und können sehen, okay, das hat man auch schon vorher gemerkt. Da waren Wortfindungsstörungen ganz früh da. Wenn wir allerdings eine Person mit Wortfindungsstörungen haben, dann vorherzusagen, ob die Person dement wird? Ausgeschlossen.“
Musik: All good (b) 0‘27
Sprecherin:
Damit das Gehirn möglichst lange gesund und fit bleibt, können wir etwas tun. Die wichtigsten Lebensstil-Faktoren sind hinlänglich bekannt: Ausreichend Schlaf und Bewegung sowie gesunde Ernährung, wobei Beeren und Nüsse besonders gut fürs Gedächtnis sein sollen. Professor Horst Müller empfiehlt viele soziale Kontakte, viel reden sowie Gedächtnistraining.
Sprecher:
Kurse, die zum Beispiel Gitte Rollenhagen anbietet. Die Münchnerin ist eine vom Bundesverband für Gedächtnistraining zertifizierte Trainerin. Vor allem soll es den Leuten Spaß machen, so ihr Motto, auf keinen Fall Druck und Angst erzeugen:
19 Zsp Wortfindungsstörungen Rollenhagen 00:39
„Was ich eben auch festgestellt habe, wir sind alle verkorkst von der Schule. Wir machen dann oft auch so Übungen mit einem Ball, man soll dann mit A - ein Tier mit A, dann das nächste Tier mit B und der Ball geht hin und her. Und die diejenigen, die den Ball haben, haben einen Blackout, also da kommt nichts. Und die anderen, die nicht dran sind, die haben alles. Und das ist so typisch. Und dann machen wir es so, dass wir den Ball einfach werfen, und dann darf halt jeder was sagen, was fällt ihm zum A ein, da kommt viel mehr.“
Sprecher:
Neues lernen lohne sich in jedem Alter, sagt Rollenhagen und rät auch Jüngeren zum Gedächtnistraining. Die junggebliebene Teilnehmerin Iris erkennt bereits eine Wirkung:
Musik: Creative workshop 0‘22
20 Zsp Wortfindungsstörungen Teilnehmerin Iris 00:20
„Ich habe mich ja angemeldet, weil ich gedacht habe, das ist meine Herausforderung, jetzt, wo ich im Ruhestand, bin, dass man so ein bisschen so sein Gehirn trainiert. Und dann habe ich so viel Spaß daran gefunden, dass ich bis heute noch dabei bin. Das mache ich jetzt schon im zweiten Jahr. Und jetzt kann man auch schwierigere Denkrätsel lösen, weil das Gehirn wirklich flexibler wird. “
Lange vor den Römern schaffen die Etrusker die erste Hochkultur Italiens. Schon in der Antike rätseln ihre Nachbarn über deren ganz eigene Kultur und Sprache. Inzwischen konnte die moderne Forschung einige dieser Geheimnisse lüften. Doch die Aura des Rätselhaften umgibt die Etrusker nach wie vor. Von Sebastian Kirschner (BR 2022)
Autor dieser Folge: Sebastian Kirschner
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel, Friedrich Schloffer
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Literaturtipps:
Sehr aktueller und umfassender Überblick über die Kultur der Etrusker:
Dirk Steuernagel: Die Etrusker. Ursprünge – Geschichte – Zivilisation“. Marix Wissen 2020
Knapper, sehr verständlich gehaltener Einstieg ins Thema:
Christopher Smith: „Die Etrusker“. Reclam 2016
Reich bebilderter Band, der chronologisch die Geschichte der Etrusker präsentiert:
Friederike Bubenheimer-Erhart: „Die Etrusker“. Philipp von Zabern 2014
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
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Als vor rund 66 Millionen Jahren ein Asteroid im heutigen Mexiko einschlug, starben rund drei Viertel der Arten aus - vor allem die Dinosaurier. In dieser Größenordnung ein einmaliges Ereignis, aber längst nicht das einzige. Immer schon haben Arten empfindlich auf Klimaveränderungen reagiert. Von Hellmuth Nordwig
Credits
Autor dieser Folge: Hellmuth Nordwig
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Rahel Comtesse, Johannes Hitzelberger, Peter Veit
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Thassilo Franke, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayern;
Prof. em. Wolfgang Oschmann, Geologe, Universität Frankfurt am Main;
Dr. Daniela Schwarz, Naturhistorisches Museum Berlin
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin
Um einen Eindruck vom Leben in früheren Erdzeitaltern zu bekommen, geht man am besten in ein Museum für Paläontologie. Eine solche Sammlung von Fossilien findet man auch in München, unweit des Lenbachhauses.
Sprecher (Block mit Musik oder geeigneter Atmo unterlegen)
Einem mächtigen Urelefanten stehen wir hier staunend gegenüber. Mulmig wird uns auch angesichts eines Reptils, dem sogenannten Bradysaurus, auch wenn der etwas tapsig wirkt. Sein Schädel ist so groß wie ein Baby. Und dann schwebt noch der Flugsaurier Pteranodon über uns. Seine ausgebreiteten Flügel überspannen leicht zwei hintereinander liegende Menschen.
Sprecherin
All diese fantastischen Lebewesen sind schon lange ausgestorben. Aber auch in jüngerer Zeit sind zahlreiche große und kleine Tiere von der Erde verschwunden, erzählt Thassilo Franke von den Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen in Bayern.
Er demonstriert das an einem gut 20 Zentimeter großen Fossil, das er aus seinem Rucksack holt:
O1 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Das erste Stück, das ich hier dabeihabe: der Backenzahn eines Wollhaarmammuts. Eine Art, die wirklich in geschichtlicher Zeit von der Erde verschwunden ist. Als die Ägypter angefangen haben, ihre Pyramiden zu bauen, sind die letzten Wollhaarmammuts vermutlich noch herumgelaufen.
Sprecherin
Das Artensterben zieht sich durch die gesamte Erdgeschichte. Die beginnt vor gut viereinhalb Milliarden Jahren. Unser Planet ist damals "wüst und leer" - aber für geologische Maßstäbe nicht lange. Nach einer halben Milliarde Jahre tauchen Einzeller auf, und viel später …:
Musik 2: Pulsating environments – 117 – 8 Sek
Zitator
… 630 Millionen Jahre vor unserer Zeit …
Sprecher
Mehrzellige Lebewesen, die sogenannte Ediacara-Fauna.
Sprecherin
Auch im Paläontologischen Museum in München sind diese seltsamen Lebewesen zu sehen. Noch unfähig sich selbst zu bewegen und darauf angewiesen, Bakterienschleim und andere Nährstoffe über ihre Oberfläche aufzunehmen. Rund 40 Millionen Jahre sind die Ediacara mit den Einzellern unter sich. Doch das ändert sich ziemlich plötzlich. Die Wissenschaft hat dafür einen treffenden Begriff: Nach dem damaligen Erdzeitalter spricht sie von der ‚kambrischen Explosion des Lebens‘.
Musik 3: Pulsating environments – 8 Sek
Zitator
540 Millionen Jahre vor unserer Zeit.
O3 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Das war wie eine große Versuchsküche, wo die Evolution alles Mögliche ausprobiert hat. Wo die Formen übriggeblieben sind, auf die wir uns selbst als unsere Vorfahren zurückberufen können. Die Wirbeltiere nahmen da ihren Ursprung, die Wirbellosen, die Insekten, Gliederfüßer. Alles nahm in dieser kambrischen Explosion seinen Ursprung. Was diese Formen auszeichnet, ist der Umstand, dass sie sich von anderen Lebewesen ernährt haben. Und - was auch ganz wichtig ist - dass sie nicht nur weitgehend bewegungslos irgendwo rumwaberten, sondern dass sie hochmobil waren und zum Teil im Meeresboden auch gewühlt haben, (sich) von diesen Ediacara-Lebewesen ernährt und irgendwann dazu geführt, dass es die dann nicht mehr gegeben hat.
Sprecherin
Zum ersten Mal wird eine Gruppe von Lebewesen von der Erde verdrängt. Von Lebewesen, die sich fortbewegen und aktiv auf Nahrungssuche gehen können. Doch die Ediacara werden nicht die einzigen bleiben, von denen es heute nur noch Fossilien gibt.
Musik 4: Fach - 22 Sek
Sprecherin
Zunächst ist nach der ‚kambrischen Explosion‘ die bis dahin größte Biodiversität erreicht.
Sprecher
Muscheln, Stachelhäuter und viele andere Lebewesen bevölkern die Meere.
Sprecherin
Dann aber beginnt eine Kältephase auf der Erde, wie so oft in ihrer Geschichte.
…endet mit Akzent aus Musik 5: Seduction – 14 Sek
Musik 6: Pulsating Environments – siehe vorn – 8 Sek
Zitator
450 Millionen Jahre vor unserer Zeit: Das erste Massenaussterben.
Musik 7: Beginnings are…- 15 Sek, Wechsel in:
Musik 8: the Revenant Main Theme – 50 Sek
in
Jetzt kommt die Plattentektonik ins Spiel: Der Kontinent Gondwana verschiebt sich in Richtung Südpol. Dort ist es so kalt, dass er umso mehr vereist, je weiter er nach Süden gerät - und dieses Eis ist nichts anderes als Wasser, das dem Meer fehlt. Dadurch sinkt der Meeresspiegel weltweit dramatisch. Für viele Organismen gibt es keinen Lebensraum mehr. Nach nur zwei Millionen Jahren - in geologischen Zeiträumen ein Wimpernschlag - sind 85 Prozent der Arten verschwunden. Kaltes Klima und die Plattentektonik, das sind zwei wichtige Ursachen dieses ersten Massenaussterbens. Thassilo Franke:
O4 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Alle Artensterben der Geschichte, alle Massenaussterben, sind multikausal. Haben also mehrere Ursachen und nicht nur eine.
Musik 9: Boating for Beginners –102 - 41 Sek
Sprecherin
Nach dem ersten großen Verschwinden von Arten ist Platz für Neues. Vor allem im Meer entwickelt sich eine große Vielfalt.
Sprecher
Panzerfische, Knochenfische, Stachelhaie, auch der noch lebende Quastenflosser entstehen in dieser Zeit. Tiere mit amphibischer Lebensweise machen die ersten Schritte an Land. Dort beginnen auch Pflanzen ihren Siegeszug. Sie erobern die Uferbereiche und später die Landmassen. Bärlapp, Farn und bis zu 30 Meter große Schachtelhalme bestimmen das Bild.
Musik 10: Pulsating environments – siehe vorn – 8 Sek
Zitator
370 Millionen Jahre vor unserer Zeit: Das zweite Massenaussterben.
Sprecherin
Das Klima ist zunächst warm, man kann sich eine Art weltweiten tropischen Regenwald vorstellen. Viele Pflanzen auf der Erde: Das ändert aber das Klima sehr deutlich. Der Grund: Pflanzen brauchen Kohlendioxid zum Wachsen. Das Treibhausgas, das uns heute zu schaffen macht - damals wird es in großer Menge von den ausgedehnten Wäldern aufgenommen. Und wenn das Treibhausgas rasch weniger wird, fällt die Temperatur drastisch.
O5 Zsp Die Geschichte des Artensterbens Oschmann
Das hängt damit zusammen, dass zu dem Zeitpunkt die Landpflanzen sich ungemein entwickelt haben und in dem Zeitalter sich globale Wälder entwickelt haben. Auf der Erde waren Wald-Ökosysteme, die das heutige Maß vermutlich bei Weitem überschritten haben.
Sprecherin
... erklärt Wolfgang Oschmann, Geologe und Spezialist für das Klima im Laufe der Erdgeschichte an der Universität Frankfurt am Main. Der Temperatursturz hat zur Folge, dass viele Pflanzen absterben und als Biomasse in die Meere gespült werden. Diese werden massiv überdüngt, der Sauerstoff im Ozean wird knapp. Auch aus anderen Gründen verändert sich die Meereschemie mehrmals deutlich, wie man an Fossilien heute noch erkennen kann. Warum, darüber ist die Wissenschaft sich nicht einig - unter anderem fallen in diese Zeit langanhaltende Vulkanausbrüche und ein Asteroideneinschlag. Wie auch immer, vielen Meereslebewesen fehlt schon bald die Nahrungsgrundlage. Etwa drei Viertel der damals lebenden Arten verschwinden in kurzer Zeit.
Musik 11: Rodney bay – 54 Sek
Sprecherin
Jetzt ist Platz für Pflanzenarten, die mit kühlerem Klima zurechtkommen.
Sprecher
Die ersten Nadelbäume entstehen. Einige Farnarten und Schachtelhalme haben das Aussterben überlebt, sie wachsen meist in Sümpfen und verrotten dort zu Kohle, Öl und Erdgas. Reptilien und Insekten tauchen auf. Im Meer dominieren zunächst viele kleinere Arten. Auch die Ammoniten, die es schon länger gibt, bekommen eine neue Chance - Weichtiere, die in schneckenartigen Schalen leben. Sie werden rasch ebenso erfolgreich wie Trilobiten, von denen einige ebenfalls das letzte Aussterben überlebt haben - Gliederfüßer, die einem mal wie Krebse, dann wieder wie Spinnen oder Insekten vorkommen.
O6 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Es ist eine unglaublich erfolgreiche Gruppe. Sie sind vor über einer halben Milliarde Jahre plötzlich entstanden, haben dann die Weltmeere besiedelt und sind dann aber zur Perm-Trias-Wende, vor 250 Millionen Jahren endgültig von der Erdoberfläche verschwunden.
Musik 12: Pulsating Environments – siehe vorn – 8 Sek
Zitator
250 Millionen Jahre vor unserer Zeit: Das dritte und größte Massenaussterben.
Sprecherin
Die Wende vom Erdzeitalter namens Perm zum nächsten, das Trias heißt, kennzeichnet das massivste Aussterben von Arten, das es auf der Erde jemals gegeben hat.
O7 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Man spricht ja heute viel von ‚Kipppunkten‘, die man überschreitet. Und die Perm-Trias-Wende war eine einzige Dominokette, wo ein Stein nach dem anderen umgefallen ist und die nächste Katastrophe ausgelöst hat. Es ist wirklich wie das Drehbuch zu einem schlechten Horrorfilm. Ein Desaster ist die Ursache des nächsten, das seinerseits wiederum mehrere Desaster gleichzeitig auslöst. Und diese "chain of disasters" hat dann dazu geführt, dass das Leben fast vollständig von der Erde verschwunden ist und fast zehn Millionen Jahre gebraucht hat, um sich wieder einigermaßen davon zu erholen.
Musik 13: The Revenant Main theme – siehe vorn – 51 Sek
Sprecherin
Die Katastrophe beginnt mit massiven Vulkanausbrüchen im heutigen Sibirien. Lava ergießt sich in einer drei Kilometer mächtigen Schicht über ein Gebiet, das halb so groß ist wie die Europäische Union. Saure vulkanische Gase verwandeln das Meer in kurzer Zeit in tödliche Schwefelsäure. Außerdem entzünden sich großflächig riesige Kohlenlager. Sie setzen Gase frei, die die Ozonschicht stark schädigen - was an Land noch überlebt hat, wird jetzt von der UV-Strahlung der Sonne gegrillt. Zudem erzeugen die Brände eine riesige Menge des Treibhausgases Kohlendioxid. Dadurch wird es auf der Erde so heiß wie nie zuvor.
O8 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Und das hat natürlich verheerende Auswirkungen auf das Leben gehabt. Es sind 95 bis 97 Prozent aller Meeresorganismen ausgestorben, es sind über drei Viertel aller Landlebewesen ausgestorben. Man wundert sich sogar, dass überhaupt irgendwas überlebt hat.
Sprecherin
Im Meer sind das ausgerechnet Bakterien, die Schwefelwasserstoff freisetzen. Ein giftiges Gas, das dem wenigen verbleibenden Leben fast den Rest gibt. Durch das extreme Treibhausgasklima schmilzt gefrorenes Methan am Meeresgrund - das freiwerdende Klimagas erwärmt die Erde noch weiter. 36 Grad Celsius Durchschnittstemperatur werden erreicht, im Inneren des einzigen Großkontinents bis zu 70 Grad.
Sprecher
Und so geht es weiter: Ein Kipppunkt folgt dem anderen. Am Ende des Perm sind die allermeisten Lebewesen entweder von Lava verschüttet, durch die UV-Strahlung geröstet, mit Schwefelwasserstoff und Vulkangasen vergiftet oder aufgelöst im Säurebad des Meeres.
Musik 14: Infinite – 50 Sek
Sprecherin
So erstaunlich es ist: Selbst dieses Desaster von vor 250 Millionen Jahren haben einige Arten überlebt. Ein neues Zeitalter beginnt.
Sprecher
Im Meer können sich die wenigen verbliebenen Ammoniten nicht mehr recht durchsetzen. Muscheln tauchen auf, Knochenfische entwickeln sich ebenso weiter wie die Conodonten, lanzenförmige Weichtiere, von denen manche an Seeschlangen erinnern. Auch an Land ändert sich die Lebewelt: Krokodile bestimmen das Bild, damals schnelle Jäger, die den ersten Sauriern kaum eine Chance lassen. Farne und Schachtelhalme gibt es zwar noch, doch sie bekommen Konkurrenz: Palmen- und kiefernartige Pflanzen verbreiten sich, Ginkgos - und die ersten Pflanzen, die frühe Formen von Blüten bilden.
Musik 15: Pulsating environments – siehe vorn – 8 Sek
Zitator
210 Millionen Jahre vor unserer Zeit: Das vierte Massenaussterben.
Sprecherin
Die neue Artenvielfalt hat nicht viel Zeit, sich zu entwickeln. Nicht einmal 50 Millionen Jahre, bis erneut massenhaft Arten von der Erde verschwinden.
O9 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Die Hauptursache war die Geburt eines Ozeans, und zwar des Atlantischen Ozeans. Irgendwann haben sich, ähnlich wie wir das heute aus Ostafrika kennen, große Grabenbrüche gebildet.
ATMO Meeresbrandung
Sprecherin
Wo die Grabenbrüche zu groß werden, strömt Meerwasser ein. Der Atlantik entsteht - doch das allein führt noch nicht dazu, dass damals viele Arten nicht überleben.
10 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Im Endeffekt ist die Entstehung des Ozeans nicht das Problem gewesen für die Arten, sondern die Umstände, die damit einhergingen. Nämlich das Aufsteigen dieser ungeheuren Lavamengen und Kohlendioxid. Wir hatten also wieder einen Klimawandel, der dieses ganze Szenario wieder in Gang gesetzt hat: Temperaturen sind in die Höhe geschossen, Ozeanversauerung - ganze Kalkschalenorganismen gehen zu Grunde. Dann wieder Teile des Ozeans komplett frei von Sauerstoff. Und diese ganze Kausalkette, die alle Massenaussterben zu eigen haben.
Sprecherin
Etwa 70 Prozent der Arten überleben das nicht. Besonders die Meeresfauna ist betroffen - Muscheln werden im sauren Wasser aufgelöst, die schlangenähnlichen Conodonten ersticken und verschwinden endgültig von der Erde.
Musik 16: 2815 A.D. – siehe vorn – 50 Sek
Sprecherin
Wieder entstehen neue Lebensformen auf den Kontinenten, bei warmem Klima mit eisfreien Polen.
Sprecher
Säugetiere tauchen auf, zum Beispiel Beuteltiere. Im Meer leben Reptilien und immer noch die schneckenartigen Ammoniten, die jetzt eine große Vielfalt erreichen. Bärlapp, Farne, Ginkgo und Nadelbäume bekommen Konkurrenz: durch Blütenpflanzen und Laubbäume. Doch eine Artengruppe, deren erste Vertreter es vorher schon gab, beherrscht alle anderen: die Dinosaurier.
ATMO Museum
Am Naturhistorischen Museum in Berlin ist Daniela Schwarz für die zahlreichen Exponate aus dieser äußerst erfolgreichen Tiergruppe zuständig. Darunter ist auch ein vollständiges Skelett des furchterregenden Tyrannosaurus Rex.
11 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Schwarz
Sie wurden riesengroß. Es gab auch kleine Dinosaurier, aber es gab auch viele sehr große Gruppen, das ist ja das Hauptmerkmal der Dinos. Es gab dann bei den Raubsauriern die gefiederten Dinosaurier. Und durch diese Diversität haben die das einfach geschafft, sich zu den sogenannten Herrscherreptilien im terrestrischen Lebensraum zu entwickeln.
Sprecherin
Bis zum Nord- und Südpol breiten die Dinosaurier sich aus und dominieren das Bild der gesamten Erde. Einige von ihnen sind mit Flughäuten und Federn in der Luft unterwegs wie der Archäopteryx, dessen schönste Fossilien im Jurakalk bei Solnhofen gefunden wurden.
Musik 17: Pulsating Environments – siehe vorn – 8 Sek
Zitator
Vor 66 Millionen Jahren: Das fünfte Massenaussterben.
Musik 18: Ornithopter – 14 Sek +
Musik 19: Beginnings are such delicate times – siehe vorn – 10 Sek
Sprecherin
Auch diese reiche Lebenswelt ist zum großen Teil dem Untergang geweiht - und der Auslöser trifft sie dieses Mal nicht schleichend, sondern schlagartig: Ein 14 Kilometer großer Meteorit trifft die Erde dort, wo heute der Golf von Mexiko ist.
12 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Schwarz
Bei einem Meteoriteneinschlag von diesem Ausmaß, wie man es rekonstruiert hat, kann man davon ausgehen, dass neben den unmittelbaren Auswirkungen - der Hitzewelle, der Schockwelle, die über Tausende Kilometer erstmal alles auslöscht, dass es dann auch zu globalen Auswirkungen kommt. Es gibt einen hohen Staubeintrag in die Luft, und giftige Gase entweichen. Das führt zum einen zu extrem sauren Niederschlägen, die natürlich dann die Meere und Flüsse vergiftet haben, Und zum anderen war das Sonnenlicht ausgeblendet. Es waren durch diesen Staub Wolkenschichten und eine Dunkelheit. Man spricht von einem polaren Winter über lange Zeit, der dann dazu geführt hat, dass aus Mangel an Sonnenlicht alle Pflanzen und auch das Phytoplankton im Wasser, die da Photosynthese betreiben, nicht mehr weiter existieren konnten und dadurch auch die Nahrungsgrundlage für viele Tierarten zu Grunde ging.
Sprecher
So einschneidend der Meteoriteneinschlag gewesen ist: Auch für dieses massenhafte Aussterben gibt es mehrere Gründe. Zuvor schon haben die Kontinente sich so verschoben, dass Lebensräume der Dinosaurier auseinandergerissen werden. Die Plattentektonik verändert auch die Meeresströmungen - in vielen Gebieten wird es deutlich kälter. Und es gibt mal wieder heftige Vulkanausbrüche, dieses Mal im heutigen Indien.
13 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Schwarz
Was man natürlich sehen kann: dass so ein System, das schon geschwächt ist - wie es ja heute im Prinzip auch ist - manchmal nur einen kleinen Schubs braucht, und dann bricht eben wirklich alles zusammen.
Sprecherin
Dabei speien die Vulkane auch die Treibhausgase Methan und Kohlendioxid aus, die das Klima ziemlich rasch wieder erwärmen. Doch da hat das verheerende Ereignis bereits dazu geführt, dass drei Viertel der Arten von der Erde verschwunden sind. Darunter die alles beherrschenden Dinosaurier - nur die Vögel überleben. Den Ammoniten hat das letzte große Massenaussterben ebenfalls endgültig den Garaus gemacht.
Musik 20: Pulsating Environments – siehe vorn – 8 Sek
Zitator
Seit 150 Jahren: Das nächste Massenaussterben beginnt - oder lässt es sich noch abwenden?
ATMO Großbaustelle
Sprecherin
Auch heute ist das System Erde zweifellos geschwächt. Viele Lebensräume werden auch gegenwärtig auseinandergerissen und verschwinden: durch Straßenbau und Gewerbegebiete bei uns, durch die Abholzung tropischer Wälder oder durch die Erwärmung der Ozeane.
Thassilo Franke:
14 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Es gibt kaum noch einen Winkel, zumindest bei uns in Mitteleuropa, der nicht vom Menschen umgestaltet wurde. Und das hat natürlich massive Konsequenzen. Und damit das alles möglich wird, die ganzen Städte, die Infrastruktur, Güter und Menschen von einem Ort zum anderen zu transportieren, brauchen wir natürlich Energie. Und zum allerersten Mal ist ein Lebewesen auf die Idee gekommen, nicht nur die vorhandene Biomasse anzuzünden und die dabei freiwerdende Energie zu nutzen, sondern auch die Biomasse längst vergangener Erdzeitalter, die in Form von Erdgas, Erdöl, Steinkohle über Jahrmillionen in der Erde verschlossen war.
Sprecherin
Das erinnert an die Zeit vor 250 Millionen Jahren, an das verheerendste Massenaussterben jemals. Damals haben sich Kohlelager großflächig entzündet, Kohlendioxid freigesetzt und das Klima so rasch angeheizt, dass die meisten Arten damit nicht zurechtkamen. Die Ursache war damals, dass eine Kette von Vulkanen ausgebrochen ist. Heute ist es menschliche Aktivität, die Kohle, Öl und Gas verfeuert. Der Geologe Wolfgang Oschmann von der Universität Frankfurt am Main:
15 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Oschmann
Erdgeschichtlich gesehen ist unsere Gegenwartsphase immer noch ein Eiszeitmodus. Gewesen, muss man mittlerweile sagen, weil wir durch das, was wir Menschen gemacht haben, den CO2-Wert völlig entkoppelt haben.
Sprecherin
Entkoppelt von den natürlichen Schwankungen, die es in der Erdgeschichte immer gegeben hat. Von der Menge des Schicksalsgases Kohlendioxid in der Atmosphäre hängt das Klima auf unserem Planeten ab: CO2 bestimmt über die Temperatur, die Eisbedeckung und den Meeresspiegel - und entscheidet damit über die Frage: Welche Arten leben hier?
16 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Oschmann
Wir haben drastische natürliche Schwankungen im Verlauf der Erdgeschichte gehabt. Allerdings: So schnell ist der CO2-Wert in der Erdgeschichte wahrscheinlich nie angestiegen. Was wir jetzt durch die Industrialisierung in den letzten 150, 180 Jahren gemacht haben, ist unvergleichlich in der Erdgeschichte.
Musik 21: the Revenant Main Theme – siehe vorn – 41 Sek
Sprecherin
Erleben wir also gerade das sechste Massenaussterben? Manche Wissenschaftler sehen das so, andere vermeiden diesen Begriff. Einig sind sie sich aber darin: Wir stecken in einer massiven Biodiversitätskrise. Und die wird eindeutig durch die Zerstörung von Lebensräumen, die Verschmutzung der Umwelt und die Aufheizung des Planeten verursacht. Setzt sich das so fort, dann scheint das sechste Massenaussterben unvermeidlich - und es könnte auch die Art Homo sapiens treffen. Thassilo Franke:
17 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Im Endeffekt wird auch nach dem nächsten großen Massenaussterben die Erde wieder unendlich viele freie ökologische Nischen zur Verfügung stellen für die Evolution, die natürlich alle besetzt werden. Und in der Rückschau, vielleicht in 50-60 Millionen Jahren, wird dann eine andere intelligente Art sagen: Damals bei diesem Massenaussterben, als dieser komische zweibeinige Primat hier rumgelaufen ist - wenn der nicht gewesen wäre und dieses Massenaussterben verursacht hätte, dann hätte die Evolution nie den Weg eingeschlagen, der zu unserer Existenz geführt hat. Also können wir ihm dankbar sein.
Musik 22: The Sheltering sky – 1:05 Min
18 Zsp Die Geschichte des Artensterbens - Franke
Und wir sollten alles Mögliche in Bewegung setzen, um dafür zu sorgen, dass es nicht dazu kommt. Wir können tatsächlich noch sehr viel machen, um ein nächstes Massenaussterben zu verhindern.
Sprecherin
Dass das möglich ist, zeigen die Erfolge von ernsthaften Naturschutz-Maßnahmen, die nicht nur auf dem Papier stehen. Ob die Menschheit es allerdings schafft, das nächste große Aussterben zu verhindern, ist offen. Denn den größten Einfluss auf die Lebenswelt hat sie nicht in der Hand: die geologischen Veränderungen der Erde, die unaufhaltsam weitergehen. Doch wenn wir nicht umsteuern, dann könnten schon die nächsten gewaltigen Vulkanausbrüche der kleine Schubs sein, der das deutlich geschwächte Erdsystem zum nächsten Massenaussterben führt.
Louis Braille, geboren 1809, war blind und ein genialer Erfinder: Er erfand die Braille-Schrift, ein Punktsystem, das Blinden mühelose Leselust ermöglicht und ihnen die ganze Welt des Wissens erschließt. Von Brigitte Kohn (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Andreas Neumann
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Yvonne Maier
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Dr. Aleksander Pavkovic, Slawist, Bayerischer Blinden- und Sehbehindertenbund e.V.
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Literaturtipps:
Drave, Wolfgang: 200 Jahre Blindenbildung in Deutschland, Edition Bentheim, 2006.
Jousse, Hélène: Die Hände des Louis Braille. Roman. Faber § Faber Leipzig 2020.
Mellor, C. Michael Mellor: Louis Braille. Fühlbare Genialität. Blindenschrift-Verlag „Pauline von Mailinckrodt, Paderborn 2009.
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Im Jahr 1724 machten sich dutzende Familien aus dem fränkischen Gerolzhofen auf in eine unbekannte Zukunft. Sie suchten ein besseres Leben in Sanktmartin, im Banat. Nach 300 Jahre kommen sie zurück, zu einem "Familientreffen". Von Lukas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Susanne Schroeder
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Elisabeth Illich, Mitglied der Heimatortsgemeinschaft Sanktmartin, Leverkusen;
Waldemar Lustig, Mitglied der Heimatortsgemeinschaft Sanktmartin, Bietigheim;
Prof. Katrin Boeckh, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg;
Bernhard Fackelmann, Vorsitzender der Heimatortsgemeinschaft Sanktmartin, München
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Sprecher
Der Sommerhimmel ist gewittrig in Gerolzhofen. Dunkle Wolken sind aufgezogen über einem prächtigen Fachwerk-Gebäude im Zentrum des fränkischen Städtchens. Gleich wird es regnen. Das drohende Unwetter hat Elisabth Illich nicht abgehalten, in die Gerolzhofener Altstadt zu kommen. Besonders der Besuch des „Deutschhauses“ ist für die temperamentvolle Frau ein Herzensanliegen.
O-Ton 1 Elisabeth Illich
„Wir sind hier...das ist das Haus unserer Ahnen. Und da ist unser Ursprung, wir wissen genau, woher wir stammen: Das ist Gerolzhofen! Gucken Sie mal: Franz Deutsch, Buch- und Verlagsdruckerei. (…) Von hier sind die ausgezogen. Und sind von hier bis nach Ulm oder beziehungsweise nach Regensburg…. ...und sind in die Ungewissheit einfach geschippert. Und jetzt freuen wir uns so, dass wir diese Heimat hier nochmal in Gerolzhofen erleben und feiern können.“
Sprecher
Elisabeth Illich, geborene Deutsch, ist eine von rund 400 Besucherinnen und Besuchern , die an diesem Juliwochenende ins unterfränkische Gerolzhofen gekommen sind. Gäste, die wie sie durch die malerische Altstadt bummeln – oder durch das weitläufige Gelände des nahegelegenen Schwimmbades flanieren; Besucher, die auf Bierbänken essen und trinken, während hinter ihnen im Festzelt eine Musikkapelle zum Tanz aufspielt.
Atmo Fest „Sanktmartiner“, Bierzelt, Blasmusik kurz hoch
Auf den ersten Blick wirkt es, als würde hier eine fränkische Gemeinde ihre traditionelle „Kerwa“ feiern. Die Besucher sind auch von hier – und doch nicht von hier. Sie sind von nah und fern, aus allen Teilen Deutschlands, sogar aus Ungarn nach Unterfranken gekommen.
Sprecherin
Doch eigentlich ist dieser Besuch Teil einer viel längeren Reise: Die Menschen, die sich hier zusammengefunden haben, nennen sich „Sanktmartiner“ - und die Fahrt nach Gerolzhofen ist für sie eine Reise in die eigene Vergangenheit. Denn jeder Einzelne von ihnen hat einen Vorfahren, der sich vor 300 Jahren, am 20. Mai 1724, am Platz vor der Kirche der Stadt eingefunden hatte – um von dort aus in ein neues Leben aufzubrechen.
O-Ton 2 Waldemar Lustig Teil 1
„Der Hauptbezug ist eigentlich diese Abreise von diesen über 300 Personen von Gerolzhofen.“
Sprecherin
...sagt Waldemar Lustig.
O-Ton 2 Lustig Teil 2
„Mein Name ist jetzt Lustig, den gab´s vielleicht zehnmal im Ort. Gerolzhofen ist jetzt der Ort, wo die Leute weg sind. Das ist wohl auch dokumentiert in den Stadtbüchern, man kann das nachvollziehen. Wir haben das unglaubliche dankbare Glück, dass wir die Dokumentation auch dieser Abreise, dass man das richtig nachvollziehen kann.
Sprecherin
Ausgereist sind seinerzeit mehrere hundert Menschen - von Gerolzhofen und Umgebung nach Sankt Martin: Dieser Ort lag damals, im 18. Jahrhundert, weit im Osten des Herrschaftsgebietes der römisch-deutschen Kaiser. Zur Auswanderung aufgerufen hatte die Gerolzhofener Bewohner Johann Georg Harruckern. Der Baron Harruckern bekam nach den Türkenkriegen von den siegreichen Habsburgern Ländereien zugesprochen. Diese Ländereien lagen in der Tiefebene des damaligen Ungarnlandes. Das Problem: Das Gebiet war verwildert, verödet - und fast menschenleer. Harruckern suchte nun Siedler, um sein brachliegendes Land zu bestellen. Und die Obrigkeit unterstützte das Werben des Barons.
ZITATOR
Seine Hoch Geheiligte Majestät wird gütig erlauben, dass freie Personen jeder Art ins Land gerufen werden, die von jeder öffentlichen Steuer für sechs Jahre zu befreien sind und dass diese Freiheit im ganzen Land verkündet werden kann'
Sprecherin
Arbeitskräfte in großem Stil anzuwerben, um verlassene, kriegsverwüstete Regionen zu besiedeln und zu kultivieren: Das war für die Herrscher des 18. Jahrhunderts ein durchaus übliches Vorgehen, sagt die Professorin Katrin Boeckh. Sie forscht am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropa-Forschung in Regensburg.
O-Ton 3 Boeckh
„Also Österreich-Ungarn, aber auch Preußen und auch Russland haben in dieser Zeit eben versucht, Siedler ins Land zu holen.“
Sprecherin
Doch: Was trieb diese Menschen an, ihre Heimat, ihre Verwandtschaft, ihr traditionelles Leben hinter sich zu lassen? In einer Zeit, in der jede Reise ein beschwerliches, wenn nicht gar gefährliches Unterfangen war?
O-Ton 4 Boeckh
„Diese Sanktmartiner werden genauso wie die vielen anderen Kolonisten aus Deutschland, die gekommen sind, aus der Pfalz, aus Bayern, aus Schwaben, aus Franken, aus Elsass, Lothringen...und so weiter: Die werden alle dieselben Gründe gehabt haben, weil: Freiwillig geht natürlich keiner. Es ist mit Sicherheit zu sehen in den wirtschaftlichen Verhältnissen ihrer Herkunftsregionen. Da war eben zu beobachten, dass im 18. Jahrhundert die Zahl der bäuerlichen Unterschichten immer größer geworden ist. Also die Zahl der Kleinbauern, die keine Möglichkeit hatten, für sich und ihre Familie ein Auskommen zu finden. Das war das eine. Das andere war steigende Getreide- und Abgabenpreise. Also das war quasi der Druck zu gehen.
Sprecherin
Eine immer größere Nachkommenschaft hatte in der Heimat nur wenig Chancen, ein eigenes Auskommen zu finden: So fasst es Katrin Boeckh zusammen. Denn nur der Erstgeborene erbte seinerzeit den elterlichen Hof. Seine Geschwister wurden lediglich ausbezahlt. Und: Je mehr sie waren, umso weniger gab es zu verteilen. So richteten sich schließlich die Hoffnungen auf ein Leben jenseits der Heimat.
O-Ton 5 Boeckh
„Und diese Hoffnung war gar nicht so illusorisch. Also diese Hoffnung hat bestanden darin, dass man einen sozialen Aufstieg schafft. Also es gibt die Möglichkeit, die Chance zu sozialer Mobilität nach oben. Und das war eben gegeben dadurch, dass man als Bauer auf einem eigenen Flecken Erde arbeiten kann. Man ist jetzt nicht mehr der Schneider - oder wie auch immer - in einer Stadt, sondern kann über das eigene Stück Land verfügen. Man erhält als Kolonist Land in Erbpacht. Und man ist auch einige Jahre lang befreit von Steuern. Also das ist ein wichtiges Privileg.“
Sprecherin
Waren diese Siedler Unternehmer ihrer selbst, oder „Macher“, wie man heutzutage sagen würde? So weit würde Katrin Boeckh nicht gehen. Doch die Bereitschaft, den Ruf der Freiheit auch zu hören, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen – die war diesem Menschenschlag schon zu eigen, sagt die Regensburger Professorin.
O-Ton 6 Boeckh
„Das Recht auf Freizügigkeit, das man genossen hat als Kolonist. (...)Also Eigeninitiative, Hoffnung auf freies Leben, das war durchaus bestimmend für diese Gruppenwanderungen nach Südosteuropa. Und das dritte Argument oder das dritte Motiv würde ich auch noch dazu fügen. Es gab eine Menge Werbung.“
O-Ton 7 Fackelmann
„Unser Lehensherr, der Harruckern...Also hat er nach Gerolzhofen seine Beamten geschickt. Und hier im alten Rathaus in Gerolzhofen saßen diese Beamten sechs Wochen lang und haben natürlich geworben um Siedler.“
Sprecherin
...weiß Bernhard Fackelmann. Auch Fackelmanns Vorfahren ließen sich von den Versprechungen des Barons Johann Georg Harruckern überzeugen, von Gerolzhofen nach Sanktmartin auszuwandern, das heute nicht mehr zu Ungarn gehört, sondern zu Rumänien. Bernhard Fackelmann hat die Geschichte seiner Ahnen, der „Samartimer“, über Jahrzehnte erforscht – und mehrere Bücher und Broschüren darüber verfasst.
Atmo Pferdefuhrwerk auf Straße/Kiesweg
Man weiß daher, dass sich die wagemutigen Gerolzhofener Emigranten mit Pferdefuhrwerken nach Regensburg aufmachten. Dass sie dort so genannte Schachteln bestiegen – einfache, hölzerne Transportboote, die die Passagiere in fünf, sechs Tagen nach Ungarn brachten. Und dass sie von dort an weiterreisten, auf mitgebrachten Wagen durch die Tiefebene Richtung Osten – bis die Siedler schließlich 1724 in das Gebiet namens Szent Marton, das spätere Sanktmartin, gelangten. Weitere Auswanderer-Gruppen sollten in den Jahren 1725 und 1726 folgen. Was die Gerolzhofener in dieser Region des Banat vorfanden, entsprach kaum den Versprechungen, die man ihnen in der alten Heimat gemacht hatte.
O-Ton 8 Fackelmann Teil 1
„Man hat gesagt, sie bekommen ungefähr fünf Hektar Feld. In welchem Zustand dieses Feld war, dass alles versumpft war, hat man wahrscheinlich schon ein bisschen verschwiegen, weil ansonsten hätten sich die meisten nicht auf den Weg gemacht. (…)
Sprecher
Die Versorgung mit trinkbarem Wasser war schlecht. Bald breitete sich die Cholera aus – und raffte die Siedler in Scharen dahin.
O-Ton 8 Fackelmann Teil 2
Also wir sagen so, die Ersten, die kamen, fanden den Tod. Ihre Kinder die Not und erst die Enkelkinder fanden das Brot. Das heißt, es hat ungefähr 70, 75 Jahre gedauert, bis diese Moorlandschaft dann weg war.“
Sprecherin
Die Siedler aus dem Fränkischen verfügten über die notwendigen Ressourcen, um das unwirtliche Land im Osten urbar zu machen, sagt die Forscherin Katrin Boeckh. Sie hatten Geld, denn sie waren von den Erben der elterlichen Höfe ausgezahlt worden. Und sie brachten das Wissen einer modernen Landwirtschaft mit in die ungarische Tiefebene.
O-Ton 9 Boeckh
„Vorher war es vor allem extensive Weidewirtschaft, die von etwa von Slaven oder von romanischen Wanderhirten betrieben worden ist. (...)Die ansässige bäuerliche Bevölkerung war zunächst ja noch in Leibeigenschaft und die hatten kein großes Interesse dran, die allgemeine Produktivität zu erhöhen. Und das ist jetzt eben das, was die Kolonisten neu mitgebracht haben: das Wichtigste, was sie mitgebracht haben, war natürlich ihr landwirtschaftliches Know-how. Also sie haben die modernen Methoden des Ackerbaus beherrscht. (...)Also konkret wussten sie Bescheid über Fruchtwechsel, sie haben gearbeitet mit Düngung, mit Brache. Also insgesamt das System der Drei-Felder-Wirtschaft ist es, was sie angewendet haben und dazu auch neue Instrumente benutzt. Also schwere Eisenpflüge, mit denen man tiefer in die Erde reingraben konnte, also tiefes Pflügen wurde damit möglich.“
Sprecherin
Zum Erfolg der Landwirtschaft trugen auch Kulturpflanzen bei, die die Siedler aus Gerolzhofen neu pflanzten.
O-Ton 10 Boeckh
„Also sie haben Kartoffeln mitgebracht, Futterrüben, Kraut, Tabak und Wein. Und das hat sie abgehoben von dem, was vorher an Wirtschaftsform, an agrarischer Wirtschaftsform bestanden hat.(...) Sie haben gewusst, wie man eine bäuerliche Wirtschaft führt, auch wie man landwirtschaftliche Produkte vermarktet. (...)Und dann nach wenigen Generationen begann eine Expansion. Also Kolonisten haben begonnen, in anderen Dörfern Land zu pachten und dann durch ihre Anbaumethoden so viel Geld zu verdienen, dass sie das auch kaufen konnten. Das heißt, der soziale Aufstieg ging weiter.“
Sprecher
Es waren nicht nur landwirtschaftliche Traditionen, die die Gemeinde Sanktmartin aufblühen ließ – und die Samatimer unterschied von den wenigen ursprünglichen Bewohnern der Region. Die Siedler aus Franken bewahrten und pflegten auch das Eigene ihrer Sprache. Diese ist heute Anker und Identität für die Sanktmartiner, wohin auch immer es sie verschlagen hat. Diese Sprache der Samatimer, wie sie sich gemäß ihrem Dialekt selber nennen – die sei nochmal besonders – selbst unter der deutschsprachigen Minderheit des Banats, betont Bernhard Fackelmann.
O-Ton 11 Fackelmann
„Wir Sanktmartiner sind das einzige Dorf, die aus Franken kommen. Und wenn man unter uns Samatimern redet, dann redet man natürlich Dialekt. Also nie Hochdeutsch, weil wir sind ja noch stolz auf unseren Dialekt. (…) Also wenn ich samatimerisch rede, dann rede ich ganz anders.(…) Aber ich kann auch samatimerisch reden und das gewinnt ein bisschen zwischen fränkischen und zwischen österreichischen. Weil im Laufe der Zeit, wir waren ja 200 Jahre unter österreichischen Monarchie. Und natürlich haben wir da eine Menge Wörter von den Österreichern übernommen. Also wir sagen nicht Tomaten, wir sagen Paradeis. Und wir sagen auch nicht Mais, sondern Kukuruts. Das kommt alles aus dem Österreichischen. (...)Heimat ist ja in erster Linie der Dialekt, in zweiter Linie die Gemeinschaft und der Zusammenhalt.“
Sprecher
Gelebt werden Sprache und Tradition im Dorf: Nicht umsonst tragen die „Samatimer“ den Namen ihres Dorfes: „Sanktmartin“.
O-Töne 12 + 13 entfallen
Sprecher
Stets waren die Samatimer allerdings auch Wanderer zwischen den Welten, mussten sich auch als Vermittler begreifen: Zwischen ihrem Dorf fränkischer Kultur und Sprache – sowie einer Umgebung, die zunächst österreichisch-ungarisch war, dann rumänisch. Die Wurzeln, sagt Elisabeth Illich, haben die Sanktmartiner über die Jahrhunderte nie aus dem Blick verloren. Scheinbar unscheinbare Gegenstände wurden und werden für sie zu einem Anker der Erinnerung, in der alten, wie in der neuen Heimat. Die grünen, bauchigen Weinflaschen etwa, wie man sie im Fränkischen überall sieht.
O-Ton 14 Illich
„Ich war total überrascht, (...)dass es hier sogar, wenn Feste sind, das dekoriert wird, einfach mit diesen Flaschen. Und es ist wunderbar. Wir hatten den fränkischen Wein, der Gerolzhofener Wein. Meine Großmutter hatte immer diese Flaschen in Sanktmartin. Wir haben aber die Tomaten eingefüllt, weil das überwintern sollte. Und weil die so dick, das Glas ist ja unwahrscheinlich dick, von diesem fränkischen, beziehungsweise Gerolzhofener Wein. Und ich habe nie gewusst, dass die wirklich aus Gerolzhofen sind, und dass die Hunderte von Jahren überlebt haben.“
Sprecher
„Glück und Glas, wie leicht bricht das“….auch für die Samartimer sollte dieses alte Sprichwort gelten. Zwei Mal stand ihre ganz spezielle Gemeinschaft im 18. und 19. Jahrhundert durch Cholera-Epidemien vor dem Aussterben. Überlebenschancen hatten nur diejenigen Siedler, die kein Wasser tranken. Die Samartimer besannen sich in der Sumpflandschaft der ungarischen Tiefebene alter fränkischen Tugenden – und bauten auf Wein statt auf Wasser. So entstanden die ersten Rebgärten von Sanktmartin.
Sprecherin
Doch schon lauerte eine weitere existentielle Bedrohung auf das einzige „fränkische“ Dorf im Banat: Der Nationalismus. In der Doppelmonarchie mit Österreich pochte der ungarische Reichsteil zunehmend auf kulturelle Homogenität. In Kindergärten und Schulen, in Behörden von den Beamten sollte nur noch ungarisch gesprochen werden. In der Bedrohung vor und auch nach dem Ersten Weltkrieg wurde der deutschen Minderheiten im Banat das Besondere ihrer Sprache und Kultur immer mehr bewusst. Katrin Boeckh:
O-Ton 15 Boeckh
„Nach dem Ersten Weltkrieg mussten sie durchaus ringen um ihre eigene Kultur, um ihre eigene Sprache, auch um ihre politische Repräsentanz. Also das Wichtigste waren meistens kulturelle Fragen, Schulen. Ist es das, was sie haben wollten, behalten wollten? Sie wollten einfach ihr Erfolgsmodell behalten - und auch ihre eigene Identität behalten.“
Sprecherin
Die Sanktmartiner – sie waren so leicht anfällig für die Versprechungen der Nationalsozialisten, sagt Bernhard Fackelmann.
O-Ton 16 Fackelmann
„1939 hat die damalige Jugend und die damalige Gemeinschaft mit Hitler-Deutschland zusammengearbeitet. (…) Das heißt, unsere Banater-Führer haben sich für das Deutsche Reich interessiert. Sie haben Vereine, alles nach dem Vorbild in Deutschland, gegründet. Sie haben so weit Druck gemacht auf der damaligen rumänischen Regierung, dass wir unabhängig wurden von dem rumänischen Staat.(…) Und all das hat dazu geführt, dass (...)sich Deutsche aus Rumänien schuldig gemacht haben für den Tod von 120.000 Rumänen im Zweiten Weltkrieg.“
Atmo Kriegsgeräusche, Kanonendonner, Maschinengewehrfeuer
Sprecherin
Für ihren Kampf in der Wehrmacht an der Seite Hitlers, für ihre Teilnahme am nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzug im Osten: Dafür sollten die deutschen Minderheiten einen hohen Preis zahlen. Als sich der Kriegsverlauf gegen das Deutsche Reich wendete, mussten viele Sanktmartiner vor den anrückenden sowjetischen Truppen fliehen. Denjenigen, die blieben, erwartete der Entzug ihrer Bürgerrechte, Enteignungen - und die Deportation in russische Arbeitslager. Es seien wohl gemeinsame Erfahrungen solcher Art, die Gruppen wie die Samatimer zusammenschweißten, sagt die Regensburger Professorin Katrin Boeckh.
O-Ton 17 Boeckh
„Ich sehe das so, diese Gruppenidentität kann auch gekommen sein aus der Dynamik der Familien, die einfach zusammenbleiben wollten, auch auf der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee, dass man einfach versucht hat, in der neuen Heimat, in die man gezwungen worden ist, in der Bundesrepublik vor allem, zusammenzubleiben.“
Sprecherin
Nach dem Krieg und während der kommunistischen Diktatur in Rumänien siedelten die verbliebenen Sanktmartiner nach und nach aus. Die Wirtschaftsmisere in Rumänien und die Perspektivlosigkeit der Jugend trieb immer mehr von ihnen dazu, die Koffer zu packen. Zudem kaufte die Bundesregierung in großem Stil Rumäniendeutsche frei. Mehr als 200.000 von ihnen kamen so ab 1967 nach Deutschland. Die meisten Samatimer wohnen auch heute nicht weit voneinander entfernt, vor allem in der Nähe von Stuttgart sowie in der Gegend von Augsburg. Dies liege nicht nur daran, dass sie einfach dorthin zogen, wo bereits Familienangehörige wohnten, oder in der Nähe von Übergangswohnheimen eine Bleibe suchten. Bernhard Fackelmann:
O-Ton 18 Fackelmann
„Weil die Gesamtheit, der Zusammenhalt und die Gemeinschaft auch heute noch wichtig ist. Der Mensch ist ja ein Herdentier. Und in der Herde fühlt man sich wohler. Erst wenn man die Heimat verlässt, wenn man eine Heimat verliert, dann kommt erst richtig das Bewusstsein, wer bin ich, wo komme ich her.(…) Ich bin 1980 nach München gekommen. Und ich habe jemanden kennengelernt aus unserer Heimatgemeinde nebenan. Einen Mann, der damals schon über die Geschichte der Auswanderung berichtet hat. Und aus diesem heraus habe ich gesagt: Jetzt habe ich die Wurzeln“
Sprecherin
Bernhard Fackelmann wurde so zum „Geschichtsschreiber“ der ausgewanderten Gerolzhofener. Zu einem, der historisch den großen Bogen spannt, der die Gemeinschaft der Samatimer bis heute zusammenhält.
O-Ton 19 Fackelmann
„Das Spannendste war ja, dass ich herausgefunden habe, warum unsere Ahnen kamen, wer unsere Ahnen waren. Also die ersten, die ausgesiedelt sind, die 380. Ich hab für alle Sanktmartiner, die damals kamen, einen Namen gefundenUnd einer dieser Vorfahren hieß „Deutsch“. Und ich habe herausgefunden, dass dieses Haus, von dem dieser Deutsch ausgewandert ist, hier gleich neben dem Weißen Turm in Gerolzhofen steht. Und wir haben die Familie Deutsch. Da gibt es zwei junge Mädels. Die sind auch hier heute in der Tracht. als wir das erste Mal da waren, habe ich denen schon gesagt, in diesem Hause wohnt eure Verwandtschaft.“
O-Ton 20 Elisabeth Illich
„Und dann habe ich gesagt: Ich weiß, woher ich bin, (...), ich will die Familie kennenlernen.“
Atmo Schritte, Passanten in der Altstadt von Gerolzhofen, darüber
Sprecher
...sagt Elisabeth Illich. Wie damals steht sie an steinernen Stufen, die hinauf führen in das altehrwürdige, rot-weiße Fachwerkgebäude. Seinerzeit war sie unschlüssig: Kann sie das Heimathaus ihrer Urahnen so einfach betreten, nach 300 Jahren?
O-Ton 21 Illich
„Mein Mann sagt: Wir wollen ja nichts... dass die Leute meinen, wir wollen was von denen. Sag ich: Nein! Ich muss die Familie kennenlernen, das ist meine Familie. Das ist die Treppe zur Buchhandlung des Teutschhauses. Ich bin rein, und dann habe ich mich vorgestellt: „Ich bin eine geborene Deutsch!“ (…) Für mich ist es unwahrscheinlich wichtig, weil der Name „Deutsch“ ist etwas, auch in unserer Heimat, etwas ganz Besonderes gewesen. Hier schreibt man das mit „hartem T“, diese Familie Deutsch. In Rumänien wurde es vereinnahmt, wurde ein „weiches D“ gemacht. Das heißt aber nichts, ob wir mit harten oder mit weichen T: Wir gehören zusammen! Und das Gefühl ist auch direkt da gewesen: Es ist Heimat, obwohl wir das hier nie gelebt haben, hier in diesen Räumen. Es ist mehr, als wenn man ein Urlaubsort nochmal besucht, sondern: Man fühlt sich hier direkt zu Hause.“
Sprecher
Mit der Rückkehr an den Ort, von dem aus ihre Ahnen einst gen Sanktmartin auszogen, schließe sich ein Kreis. Illich spricht von Fügung. Und doch, betont Elisabeth Illich, sei ihr Glück stets begleitet von dem Bewusstsein dafür, mit wie viel Fährnissen Migration und Flucht, wie sie die Sanktmartiner erlebt haben, letzten Endes sein kann.
Bärenpelzmantel und Polarfuchskragen, das war Wanny Woldstads Berufung - aber nicht als Konsumentin. Sie trotzte eisiger Kälte, monatelanger Polarnacht, Einsamkeit, Lebensgefahr durch Bären und wurde als erste Eisbärenjägerin auf Spitzbergen berühmt. Die Geschichte einer Frau, die mit Geschlechterrollen spielte. Von Andreas Pehl
Credits
Autor dieser Folge: Andreas Pehl
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Xenia Tiling, Benjamin Stedler, Silke von Walkhoff, Peter Veit
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Marit Anne Hauan (Polarmuseum Tromsø),
Harald Dag Jølle (Polarforschungsinstitut Framsenteret Tromsø),
Esther Sophia Sünderhauf (Von Parish Kostümbibliothek München)
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ZITATORIN
„Bärenspuren“? fragte ich mit feierlichem Flüstern. „O ja“, antwortete er, „ganz sicher.“ [...] Ich war so aufgeregt, dass ich zitterte. [...] „Angst?“, fragte er. „Unsinn“, antwortete ich mit zusammengebissenen Zähnen. Sie klapperten, aber das sollte er nicht merken.
01 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 901a
OV Marit Anne
Wanny Woldstads Leben begann 1894 unter schwierigen Vorzeichen …
SPRECHER
Marit Anne Hauan, Direktorin des Polarmuseums in Tromsø. Für sie ist Wanny Woldstad eine Pionierin für eine neue Rolle der Frau.
02 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 901b-902a
OV Marit Anne
Die Mutter starb, Wanny wurde weggegeben, weil der Vater es nicht schaffte, die Kinder großzuziehen. Sie ging in Tromsø auf eine Hauswirtschaftsschule, hat früh geheiratet und mit ihrem Mann Othar zwei Söhne bekommen. Ihr Mann hat ihr beigebracht, wie man jagt, wie man schießt, sie hat an Schützenfesten teilgenommen, die um 1900 in Norwegen sehr populär waren.
ATMO [Archiv]
Ski knirschen im Schnee (Skitour), Eiswind
ZITATORIN
Der Schlitten schrammte über Schnee, Eis und Fels. Geräusche, die ich bisher nie bemerkt hatte, klangen wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. [...] Ich umklammerte das Gewehr, fünf Patronen im Magazin und eine im Lauf. Alles war bereit. Mein Herz hämmerte bis zum Hals.
03 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 901c-902b-903
OV Marit Anne
Drei Jahre nach der Hochzeit wurde Wanny Witwe: Othar starb 1918 an der Spanischen Grippe. Sie heiratete den Bäcker Martin Woldstad. Und sie schlug beruflich neue Wege ein: Sie wurde die erste Taxifahrerin in Nordnorwegen. Sie war auch die erste, die im Fahrgastraum eine Heizung einbaute für ihre Gäste. Wanny hatte immer einen Drang nach vorne, nach etwas Neuem in ihrem Leben.
ATMO [Archiv]
Schritte im Schnee + Eiswind
ZITATORIN
Nach etwa einem Kilometer sah ich plötzlich, wie eine gelb-weiße Masse langsam hinter einem Felsen hervorglitt. [...] Das musste der Bär sein. Er kam ruhig auf mich zu. Mindestens eine Minute lang starrte ich ihn nur an. Dann riss ich mich endlich zusammen. [...] Ich war hinter dem Schlitten in die Knie gegangen und konnte das Gewehr auf dem Rucksack ablegen. Der Abstand musste 90 oder 100 Meter sein.
04 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 905-906
OV Marit Anne
Als Taxifahrerin in Tromsø waren auch Pelzjäger ihre Gäste, die von Spitzbergen kamen. Wanny war fasziniert von deren Erzählungen. Ein Mann faszinierte sie besonders: Anders Sæterdal. Und der hat sie schließlich auf die Jagd eingeladen. Sie hat ihr Leben über den Haufen geworfen, gepackt, sich von ihren zwei fast erwachsenen Söhnen verabschiedet und ist mit in den Norden gereist.
ATMO [Archiv]
Eiswind + Schüsse
ZITATORIN
Als der Bär sich mir zuwandte, knallte es, einmal und noch einmal. Er erstarrte, der Kopf glitt zur Seite und er brach zusammen. Die Spannung fiel von mir ab. Ich hätte jubeln können vor Freude. Aber ich wollte mir keine Blöße geben und schwieg. Ich hatte meinen ersten Bären erlegt, unglaublich!
05 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 920
OV Marit Anne
Wanny schrieb ein Buch über ihr Leben, das zu einem Bestseller wurde: „Die erste Frau als Pelzjäger auf Spitzbergen“. Sie wurde zu Vorträgen eingeladen, gab Interviews im Rundfunk und wurde sehr bekannt.
ATMO [Archiv]
Schnelle Schritte im Schnee + Eiswind
ZITATORIN
Etwa 20 Meter vom Bären entfernt fühle ich eine eiserne Klaue auf meine Schulter fallen, werde unsanft zurückgerissen und stehe Angesicht zu Angesicht dem keuchenden Sæterdal gegenüber, der mich wütend anfährt: „Hab ich dir nicht gesagt, dass man nicht direkt auf einen scheinbar toten Bären zulaufen darf? Weißt du, was es bedeutet, einen verwundeten Bären vor sich zu haben?“ Doch ich bin so glücklich und erregt, dass ich ihn anstrahle und lachend sage: „Der erste ist erlegt, Anders!“
06 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Harald Dag 801a
OV Harald Dag
Auf Spitzbergen war es möglich, ein Leben als Pelzjäger zu führen: Man ging in die Wildnis, konnte Eisbären, Füchse, Rentiere oder Robben jagen.
SPRECHER
Harald Dag Jølle, Polarhistoriker am Forschungsinstitut Framsenteret in Tromsø. Für ihn waren die Pelzjäger auf Spitzbergen Menschen, denen Freiheit wichtiger war als Sicherheit.
07 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Harald Dag 801b
OV Harald Dag
Viele träumten davon, von der Pelztierjagd reich zu werden. Aber im Großen und Ganzen war es das Abenteuer, das die Leute dorthin gezogen hat. Die Freiheit, die Möglichkeit, sein eigener Herr zu sein. Ganz oft waren die Pelzjäger Menschen mit einem relativ bescheidenen Hintergrund, die zuvor als Industriearbeiter oder Bauern gelebt haben. Und dann bist du nach Spitzbergen gefahren – das war wie in die Prärie zu reisen: der Traum vom einsamen Leben in der Wildnis.
MUSIK 2 Kari Bremnes – Ytterste Pol - ca. 50 Sek
SPRECHER [Text über der ersten Strophe]
‚Ich kam in das magische Land, dort draußen am äußersten Pol, mit langer, undurchdringlicher Dunkelheit und gleißenden Hängen im Sonnenlicht.‘
Kari Bremnes, Sängerin. Für sie ist Wanny Woldstad eine Symbolfigur für die Frauen des Nordens.
08 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Harald Dag 814
OV Harald Dag
Das waren spezielle Menschen. Die waren Könige in ihrem eigenen Reich beim Jagen. Und sie bekamen dadurch einen Status. Helge Ingstad, ein norwegischer Abenteurer, schrieb ein Buch: Pelzjägerleben. Das war in den 1930er Jahren ein Bestseller. Alle norwegischen Jungen haben es gelesen. Das schuf einen Mythos und weckte den Traum, Pelzjäger zu sein.
ATMO [Archiv]
Braten in der Pfanne, Feuer im Ofen
ZITATORIN
Wir nahmen das Fell und die Steaks mit auf den Schlitten, den Rest vergruben wir im Schnee, um es später abzuholen. [...] Am Abend des 12. Dezember gab es Bärenfleisch: saftiges Bärensteak mit braunen Zwiebeln. Es war spät in der Nacht, als ich endlich einschlief. Ich lag da und dachte über diesen ereignisreichen Tag nach und freute mich auf die vielen Dinge, die ich hier noch erleben sollte.
09 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Harald Dag 809a
OV Harald Dag
Diese Hütten sind sehr klein, oft ist es nur ein einziger Raum, in dem man schläft, isst und kocht. Dazu ein Gang, der verhindert, dass Eisbären direkt in die Hütte kommen. Ein Eisbär kann ohne Probleme eine Tür eindrücken. Deswegen gibt es oft einen engen Gang, der im 90°-Winkel zur Stube steht und in dem man Ausrüstung lagern kann. Diese Hütten waren aus Dingen gebaut, die man auf Spitzbergen fand, vor allem aus Treibholz oder Material von alten Hütten.
ATMO [Archiv]
Feuer im Ofen
ZITATORIN
Unsere Villa ist ein niedriges Häuschen, ca. acht Meter lang, drei Meter breit und gerade so hoch, dass ich meine 157 cm in voller Höhe aufrichten kann. Ein ausgewachsener Mann muss aufpassen, wenn ihm sein Schädel lieb ist. Das Haus ist in zwei etwa gleich große Räume unterteilt. Einer wird als Schlafzimmer, Esszimmer, Küche und Wohnzimmer verwendet. Bei schlechtem Wetter sägen und hacken wir dort Brennholz, tauen gefrorene Bären auf, häuten und pökeln sie. Auf der dem endlosen Meer zugewandten Seite ist ein großes Fenster [...] Der andere Raum hat zwei Schießluken. Da werden wir Bären beobachten und schießen, wenn sie nachts kommen.
10 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin MUSIK
Wanny Woldstad singt solo ohne Klavier
11 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 931
OV Marit Anne
Wanny dichtet, bringt andere dazu, ihre Texte zu vertonen. Im Radio erzählt sie über ihre Erlebnisse und singt … – was wäre sie wohl heute? Wäre sie Staatsministerin oder Forscherin? Hätte sie sich gegen Klimawandel und für mehr Nachhaltigkeit engagiert? Ich glaube, sie wäre eine sehr innovative Frau.
ATMO [Archiv]
Feuerstelle
ZITATORIN
Auch wenn wir hier ein Leben in der Wildnis führen, scheint es gesund und lehrreich für Körper und Seele zu sein. Es fördert sicherlich keine Schwächen. Man muss lernen, sich bestmöglich zu helfen und jeder Situation, auf See, an Land, bei Krankheit und in Gefahr gelassen zu begegnen. Angst ist ein unbekanntes Wort für die, die es hierhertreibt, wo die Einsamkeit die Schatten doppelt düster macht.
12 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 924
OV Marit Anne
Sie musste sich selbst versorgen und beschrieb sich als eine selbstständige Frau. Sie hatte erlebt, wie der Mann gestorben ist, den sie sehr geliebt hat und von dem sie die beiden Söhne hatte. Und dann hat sie den Bäcker Woldstad erlebt, den sie verließ. Sie war von ihm noch nicht geschieden, als sie 1932 zusammen mit Sæterdal nach Spitzbergen auf die Jagd ging. Sie hatte eine klare Vorstellung: wenn du dir ein Leben aufbaust, das du gerne leben willst, dann musst du auf dich selber aufpassen. Sie musste ihr eigenes Leben in die Hand nehmen.
10 MUSIK
Hoch: Wanny Woldstad singt solo ohne Klavier (gilt als Atmo, ca. 26 Sek)
13 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 923
OV Marit Anne
Eine uneheliche Lebensgemeinschaft war gesetzlich verboten – hier in Norwegen bis 1972. Wenn eine Frau zusammen im Haus mit einem ledigen Mann wohnte, dann war sie Haushälterin oder Stubenmädchen. In der norwegischen Gesellschaft war es weder gesellschaftlich noch kirchlich und auch nicht rechtlich erlaubt, so zu leben. Aber auf Spitzbergen, 1.000 km vom Festland entfernt, musste man sich darüber keine Gedanken machen. Eine Lebensgemeinschaft ist ja auch an sich eine Möglichkeit, die Frau freier zu machen. Wanny und mit ihr die Frauen, die hier im Winter auf die Jagd gingen, haben mit ihrem Vorbild uns heute die Möglichkeit gegeben, freier zu leben.
14 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Harald Dag 806
OV Harald Dag
Das Leben in einem solchen Winterlager war sehr beschränkt. Viel konnte man nicht mitnehmen. Die Jäger mussten die ganze Saison über selbst sammeln: Eier von den großen Vogelkolonien, Daunen von den Enten. Als Fortbewegungsmittel nutzten sie Hundeschlitten. Die Hunde brauchten Futter, also schossen sie Seehunde. Man musste das heranschaffen, was den Jäger selbst im Laufe der Saison am Leben erhielt, aber es sollte auch etwas übrigbleiben, wenn man nach der Jagdsaison zurückkam. Und das waren in erster Linie die Pelze.
15 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Esther Sophia Sünderhauf 700-701
Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte waren Pelze lebensnotwendig. Neben der Lebensnotwendigkeit war es immer auch ein Zeichen der Unterscheidung. Gerade Könige, Herrscher, haben Pelze getragen, und zwar von den Tieren, die als die gefährlichsten galten, Löwen, Leoparden, Tiger und eben dann auch der Eisbär.
SPRECHER
Esther Sophia Sünderhauf, Leiterin der Von Parish Kostümbibliothek in München. Für sie sind Pelzmoden eines der düstersten Kapitel in der Geschichte der Mode.
16 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Esther Sophia Sünderhauf 706
Im Fotostudio haben wir überall bis weit ins 20. Jahrhundert das Eisbärenfell oder kleine Eisbärjungen ausgestopft als Zierde. Und zwar vorzugsweise für die Kleinkindfotos. Das Baby auf dem Eisbärenfell, man sieht es allenthalben. Und wenn man sich vorstellt, dass so ziemlich jedes Fotostudio in Europa so ein Eisbärfell hatte, dann kann man hochrechnen, wie viele Eisbären da geschossen worden sind.
17 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Harald Dag 807
OV Harald Dag
Die ersten Bärenjäger, die Ende des 19. Jahrhunderts kamen, die waren selbst draußen in der Wildnis und suchten nach Bären. Und irgendwann baute man sogenannte Selbstschussanlagen: Eine Kiste, in die man ein Gewehr einbaute mit Köder und Auslöser. Wenn der Bär den Köder holte, dann wurde er direkt in den Kopf geschossen. Das führte dazu, dass die Jagd sehr effektiv wurde und der Bestand der Bären stark zurückging. Trotzdem ging die Jagd weiter, bis das Jagdverbot 1973 kam. Bis dahin schoss man etwa 300 Eisbären im Jahr auf Spitzbergen.
18 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Esther Sophia Sünderhauf 705
Es musste der Winterpelz sein, weil der natürlich ein ganz dichtes Unterfell hatte, was auch weich war. Und deshalb wurde vorzugsweise im Winter gejagt. Und beim Eisbären beginnt das in der Zeit um 1795. Da war die ganz große Mode, diese riesigen Muffs zu tragen, Damen wie auch Männer.
ATMO [Archiv]
Schritte im Schnee + Eiswind
ZITATORIN
Es war ein hartes Stück Arbeit, den Bären in der Kälte und im Schnee zu häuten. Das Fleisch gefror, sobald wir das Fell und die Speckschicht abzogen. Das Schlimmste war, dass auch die Finger dazu tendierten, im gleichen Tempo wie das Bärenfleisch steif zu werden. Wir arbeiteten zielbewusst und ausdauernd mit dem Gedanken an all die Arbeit, die wir uns sparen würden, wenn wir ihn gleich hier häuteten.
19 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Esther Sophia Sünderhauf 704a
Es explodiert so richtig in den 1890ger Jahren. Das ist die Phase des größten Luxusgebahrens. Da ist eine Generation, die in großem Stil schon das Erbe ihrer Eltern und Großeltern verbrauchen kann. Und die zeigt das.
ATMO [Archiv]
Feuer im Ofen
ZITATORIN
Ein paar Tage später hielt unser Hundeschlitten mit dem ersten riesigen Bärenkadaver vor der Tür. Es war die große Bärin von der Selbstschussanlage nördlich des Hauses. Mit großer Mühe bugsierten wir sie in den Flur und dann in unseren Wohnzimmer/Schlafzimmer-Salon. Es war eine schwierige Aufgabe, das riesige, gefrorene Tier hereinzubringen. Es dauerte gut und gerne zwei Tage, bis der Bär soweit aufgetaut war, dass wir mit dem Häuten beginnen konnten.
20 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Esther Sophia Sünderhauf 707
Eine interessante Abbildung ist hier aus einer Zeitschrift Pygmalion von 1912. Man sieht hier kleine Eisbärenjungen, die wurden ‚Kapbären‘ genannt. Und sie geben das Fell ab für Kinderkleidung. Man hat ja auch diesen weißen Pelz mit Reinheit assoziiert. Also für Kinderkleidung, Mäntel, Schuhe, Mützen, Handschuhe, aber auch kleine Muffe.
ATMO [Archiv]
Braten / Kochen / Töpfe
ZITATORIN
Das Filet war alles andere als zart, aber mit kräftigen Gewürzen und nach zwei Stunden Garzeit wurde es immerhin noch ein köstlicher Sandwichbelag. Wir variierten das Bärenfleisch endlos. Steak, sowohl traditionell als auch à la mode, Braten, Roulade, Frikadelle, Suppenfleisch, Fleischpastete. Mein Jungbärenfleischfrikassee – das genoss mein Partner sichtlich. Am liebsten aßen wir aber Suppe.
21 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Esther Sophia Sünderhauf 704b
Wenn man sich die Zeitschriften der Zeit anschaut, man sieht jede Art von Pelz. Alles, was irgendwie geschossen werden konnte und Fell hatte, wurde verarbeitet. Natürlich vor allem die seidenweichen Fellqualitäten wie der Nerz oder der Zobel und dann vorzugsweise auch Polarfüchse in weißer oder blauer Fellqualität.
MUSIK 3: Family reunion – siehe vorn – ca. 50 sek +
ATMO [Archiv]
Ski im Schnee + Eiswind
ZITATORIN
Endlich lag eine Falle flach auf dem Boden mit einem großen, weißen Fuchs darunter. Der halbe Körper und der Schwanz ragten heraus. Ich war völlig aus dem Häuschen, so froh, als ob wir gerade ein Vermögen gewonnen hatten. Ein besonders schöner Fuchs war das: schneeweiß bis zur Haut und mit einem feinen Fell. Als wir heimkamen, fühlte ich mich wie eine kleine Millionärin: ein Polarfuchs unter jedem Arm und einer über den Schultern, das war wie ein Sechser im Lotto.
22 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Esther Sophia Sünderhauf 715
Ich denke, dass der Mensch sich erst seit ganz geraumer Zeit ein Bewusstsein dafür schafft, was wir der Tierwelt überhaupt antun. Das ist eigentlich ein Wimpernschlag in der Menschheitsgeschichte. Ich glaube, in der Zeit von Wanny Woldstad war das überhaupt noch nicht präsent. Da ging es vor allem um Abenteuer und vielleicht auch um Geld.
23 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Harald Dag 802
OV Harald Dag
Man konnte darauf hoffen, mit einer schwarzen Null rauszukommen. Manche verdienten ganz ordentlich, vor allem wegen der Felle, wenn man viele Eisbären hatte. Aber man wurde nicht wirklich reich. Es war vor allem das Abenteuer.
ATMO [Archiv]
Eiswind
ZITATORIN
Mein Begleiter hatte versprochen oder vielmehr gedroht: sobald er den ersten Fuchs vor meinen Augen gehäutet hätte, wäre ich gefälligst an der Reihe. Natürlich hatte ich große Lust, es auszuprobieren, aber ich betrachtete mit weiblicher Ehrfurcht die feinen, teuren Felle und war mir nicht ganz sicher, ob das Häuten eines Fuchses so einfach sein würde wie bei den Schafen und Kälbern zu Hause auf Sommarøy. Das war handfesteres Zeug als diese zarten, seidenweichen Dinger.
24 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Esther Sophia Sünderhauf 716
Man muss es einfach nüchtern betrachten. Aber wo ich wirklich moralisch werde, wenn ich sehe, welches Luxusgebaren die Frauen speziell in der Zeit gehabt haben. Exuberante Verwendung von Pelzen: hunderte Tiere für einen Mantel oder ein Cape. Oder auch, dass die Orang-Utans abgeschlachtet
wurden, damit die Damen in Europa in diesen Mänteln herumlaufen konnten.
ATMO [Archiv]
Schritte im Schnee + Wind + Huskies
ZITATORIN
Am 28. Oktober hängten wir einen weiteren Weißfuchs zu seinen erlegten Artgenossen und begannen mit den Vorbereitungen für eine lange Reise zum östlichen Ende unseres Jagdgebiets. Dort wollten wir jetzt die Fallen aufstellen. Wir hatten hier die größte Hoffnung, Blaufuchs zu fangen.
25 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 941
OV Marit Anne
Heute denken wir: das ist barbarisch, brutal, schlimm. Aber das sind die 1930er Jahre. Da haben wir das Tierwohl noch nicht erfunden. Wir haben nicht an nachhaltige Verwaltung oder erneuerbare Ressourcen gedacht. Wir sind in einer anderen Zeit. Und wir müssen verstehen, dass diese Pelzjäger in ihrer Zeit leben. Und wir müssen aus der Zeit heraus, in der sie gelebt haben. Respekt für sie haben.
26 MUSIK
Wanny Woldstad Svalbardvise mit Klavier
27 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 926
OV Marit Anne
Wanny hat auch zwei, drei Lieder gemacht über ihr Leben. Zwei dieser Lieder sind erhalten.
MUSIK
Hoch: Wanny Woldstad Svalbardvise mit Klavier
ATMO [Archiv]
Meeresbrandung
ZITATORIN
Die Reise zurück nach Norwegen war fast genauso aufregend wie die Hinfahrt [...]. Der Kapitän hatte versprochen, mir Bescheid zu geben, wann wir mit den ersten undeutlichen Umrissen der norwegischen Küste rechnen könnten. [...] Um drei Uhr wurde ich geweckt, eine halbe Stunde später stand ich auf dem Vordeck und untersuchte gespannt den Horizont durch das Fernglas. Ein dünner, undeutlicher Streifen weit draußen – konnte das Land sein? Es ist wohl keine Schande, zu gestehen: meine Augen wurden feucht.
28 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 932-921
OV Marit Anne
Es gab weitere Frauen, die zeitgleich mit Wanny auf Spitzbergen waren. Alle wurden sie gewarnt, nach Norden zu reisen: Wer weiß, ob ihr jemals wieder zurückkommt. Die ersten Frauen waren dort schon um 1896 auf Pelztierjagd. Aber Wanny Woldstad ist heute die erste Frau, die wir wirklich in ihrer Rolle als Eisbärenjägerin kennen. Meine Theorie ist: sie war eine Vorreiterin für die neue Rolle der Frau. Sie war eine Vorreiterin für den Kampf um Gleichstellung und die feministische Politik, die kommen sollte.
MUSIK 4: Family reunion – siehe vorn – 1:05 Min
26 MUSIK
Wanny Woldstad Svalbardvise mit Klavier
30 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 925
OV Marit Anne
Nach einigen Jahren verließ sie Sæterdal und wurde Gemeinde-Hausgehilfin. Wenn eine Frau krank war und der Mann zum Arbeiten musste, konnte eine Gemeindehausgehilfin ins Haus kommen und die Arbeit übernehmen. In einem Interview wurde Wanny gefragt, wie das wäre – Taxifahrerin, Pelzjägerin, Gemeinde-Hausgehilfin. Und sie antwortete, dass das ein vortrefflicher Job sei. Man könne Familien prägen, zu einem gelingenden Leben beitragen und der jungen Generation ein gutes Leben sichern.
SPRECHER
Am 26. Oktober 1959 wurde Wanny Woldstad beim Überqueren einer Straße von einem Lastwagen erfasst und starb. Sie wurde 65 Jahre alt.
31 Zsp. Wanny Woldstad–Die erste Eisbärenjägerin Marit Anne 930
OV Marit Anne
Ich würde gerne mit ihr reden. Nicht über die Jagd, sondern darüber, was es bedeutet, in dieser Zeit Frau zu sein. Das war eine sehr heftige Zeit. Wir haben den Ersten Weltkrieg, da übernehmen die Frauen, weil die Männer im Krieg sind. Dann kommen die Männer heim und fordern ihre Position zurück. Dann kommt der Zweite Weltkrieg, da geschieht das Gleiche wieder. Und Wanny zieht ihre Sache durch, sie ist selbstständig und macht ihr Ding.
ATMO [Archiv]
kleine Wellen am Strand + Wind
ZITATORIN
Ein wenig Angst hatte ich wohl, als ich zum ersten Mal ins Land des Eises fuhr. Aber jetzt gab es nur noch Sicherheit und die ungeduldige Sehnsucht, loszufahren, über das endlose Meer zu segeln, den verlassenen Strand, die Berge und unser einsames kleines Haus, das mir so lieb geworden war, wiederzusehen.
Mit ihnen lässt sich gutes Geld verdienen - oder gar die Evolutionsgeschichte neu schreiben: gefälschte Fossilien. Von billigen Fakes bis zu kunstfertigen Manipulationen führen sie selbst Museen und Wissenschaftler immer wieder hinters Licht. Wer die Fälscher sind, was sie antreibt - und wie man sie doch entlarvt. Von Marisa Gierlinger
Credits
Autorin dieser Folge: Marisa Gierlinger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Julia Fischer
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Prof. Dr. Eberhard "Dino" Frey, Paläontologe
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Literatur:
Corbacho, Joan /C. Sendino, "Fossil fakes and their recognition", Deposits Magazine 30 (2012): 35-40
Feder, Kenneth L., Frauds, myths, and mysteries: science and pseudoscience in archaeology, Mountain View, California: Mayfield Publishing Company, 1990
Hancock, Peter, Hoax Springs Eternal, Cambridge University Press, 2015
Pickrell, John, Flying dinosaurs: how fearsome reptiles became birds, Columbia University Press, 2014
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Am 18. Dezember 1912 treten im Vorlesungssaal der Londoner Geological Society zwei Herren ans Rednerpult. Der eine: Arthur Smith Woodward, Konservator der geologischen Abteilung des britischen Museums. Der andere: Charles Dawson, Rechtsanwalt und Amateur-Archäologe. Was sie der versammelten Menge präsentieren, ist nicht weniger als eine Sensation. Es sind die versteinerten Fragmente eines Schädels und ein Unterkiefer. Frühmenschliche Überreste, ausgegraben in einem Flussbett bei Piltdown in der Grafschaft Sussex. Eine halbe Million Jahre könnte der Piltdown Man alt sein, wie Tierknochen aus derselben Kiesgrube nahelegen. Nicht nur sein Alter macht ihn spektakulär. Auch für die Evolutionsgeschichte ist die Entdeckung unerhört. Ein Mensch mit affenähnlichem Gebiss und einer fortschrittlich entwickelten Schädelkapsel. Ein Fund von epochaler Bedeutung, wie die Zeitungen in jenen Tagen schreiben. Der erste Engländer. Der wahre Urmensch.
SPRECHERIN
Der Piltdown Man – er wird tatsächlich in die Wissenschaftsgeschichte eingehen. Doch nicht als Meilenstein der menschlichen Evolution. Sondern als spektakulärer Betrug. Als kunstvoll fabrizierte Fälschung, die sogar Spezialisten über Jahre täuschen konnte. Es ist der bis heute berühmteste Fall eines gefälschten Fossils. Doch bei weitem nicht der Einzige.
O-TON 01 EBERHARD FREY
Wie fang ich da am besten an? Es gibt verschiedene Kategorien von Fälschungen.
SPRECHERIN
Sagt der Paläontologe Eberhard Frey, genannt: Dino. Er war viele Jahre Leiter der geologischen Abteilung im Karlsruher Museum für Naturkunde. Dabei ist auch ihm schon einiges untergekommen.
O-TON 02 EBERHARD FREY
Es gibt Fälschungen, die sind plump und die sieht man sofort. Und es gibt Fälschungen, die sind sehr tricky gemacht. Das sind Fälschungen, wo Kunststoffe eine große Rolle spielen. Abgüsse von anderen Fossilien, die dann in nicht vollständige Fossilien so eingebaut werden, dass man es nicht merkt. (…) Und es gibt Fossilien, die sind zusammengesetzt aus verschiedenen Tieren der gleichen Art. (…) Und dann gibt’s witzige Fossilien, die sind zusammengesetzt aus verschiedenen Tieren.
Musik: Green planet red. 0‘33
SPRECHERIN
Wenn Organismen wie Lebewesen oder Pflanzen absterben, werden sie normalerweise zersetzt. Dafür muss allerdings Sauerstoff im Spiel sein. In seltenen Fällen werden sterbliche Überreste komplett von ihrer Umgebung eingeschlossen, zum Beispiel in Sediment. Es beginnt die sogenannte Fossilisation: In einem langwierigen chemischen Prozess wird die organische Substanz dann nach und nach in mineralische umgewandelt. Sprich: in Gestein.
Auf diese Weise bleiben sie der Nachwelt erhalten: als versteinerte Überreste oder deren Abdruck in Sediment. Sind diese mehr als 10.000 Jahre alt, spricht man von einem Fossil. Dinosaurierknochen, Ammoniten, die Fußspuren früher Menschen. Sie schreiben die Geschichte unserer Herkunft, lange bevor es menschliche Aufzeichnungen gab. Das macht Fossilien wertvoll, für Museen wie Privatsammler. Und sie damit auch für Fälscher interessant.
Musik: Crossing the Wujiang river 0‘31
Vor allem in China floriert der Fossilienmarkt. Obwohl die Gesetze langsam strenger werden, ist der Handel im Vergleich zu Europa wenig reguliert. Seit jeher verfügt das Land über bedeutsame geologische Fundstätten. Vor allem die Provinz Liaoning ist unter Paläontologen für ihren Fossilreichtum bekannt. Die Gegend ist von Ackerland geprägt. Tausende Farmer nutzen die Grabungen als Zusatzverdienst. Manche werden von Wissenschaftlern als billige Arbeitskräfte rekrutiert, andere machen sich selbst auf die Suche - was sie finden, verkaufen sie an Händler. Das ist zwar illegal, aber lukrativ: In gutem Zustand kann ein Fossil für zig tausend Euro über den Tresen gehen. Grund genug, im Zweifel nachzuhelfen.
O-TON 03 EBERHARD FREY
Und da kommen aus China viele Fossilien, die Vogel ähnlich aussehen. Da ist der Kopf geschnitzt, also gefräst in den Stein. Die Wirbelsäule besteht aus einer Fisch-Wirbelsäule, die „Rippen“ in Anführungszeichen sind die Dornfortsätze und die Schwanzfortsätze von der Schwanzwirbelsäule von einem Fisch . Und dann werden irgendwelche Knöchlein eingebaut als Beine und Flügel, und es wird dann für eine fünfstellige Summe angeboten.
SPRECHERIN
Oft durchlaufen solche Stücke eine ganze Kette von Zwischenhändlern. Wer den Fund wie manipuliert hat, lässt sich im Nachhinein schwer ausforschen.
Darum genießt Liaoning trotz seiner geologischen Schatzkammern heute unter Paläontologen einen zweifelhaften Ruf. Das liegt vor allem an einem Fall: dem des Archäo-Raptor. Einem Bindeglied zwischen Dinosaurier und Vogel, das man glaubte, in der Provinz gefunden zu haben – eine Sensation. Zweifel an dem Fund gab es von Anfang an. Dennoch veröffentlichte ihn der National Geographic in seiner Novemberausgabe 1999. In Wahrheit handelte es sich um eine Manipulation, ein Mischwesen aus dem Rumpf eines primitiven Vogels, dem Schwanz eines gefiederten Dinosauriers. Und den Beinen von einem Wesen, das bis heute nicht identifiziert werden konnte. Ein Schaden für die chinesische Wissenschaft, aber auch eine Blamage für den National Geographic. Auch dem Fachmagazin Nature war die Story angeboten worden – man hatte abgelehnt.
Musik Microments 0‘31
SPRECHERIN
Der Archäoraptor ist ein besonders drastischer Fälschungsfall. Doch nicht immer handelt es sich um eine mutwillige Täuschung. Laien setzen gefundene Teile oft unbeabsichtigt falsch zusammen. Manchmal ist der ursprüngliche Fundort, in der Fachsprache: der Kontext, nicht mehr nachvollziehbar, auch das stellt Forscher vor ein Problem.
O-TON 04 EBERHARD FREY
Wenn dieses Stück keinen Fundort hat, dann wäre ich schon von vornherein vorsichtig. Weil dann ein wesentlicher Aspekt dieses Fossils einfach fehlt.
Musik: Unbiased opinion 0‘50
SPRECHERIN
Der Fundort verrät nämlich nicht nur, wo genau ein Fossil herkommt – sondern auch, wie alt es ist. Dafür gibt es zwar auch andere Methoden: zum Beispiel die Analyse radioaktiver Isotope im Gestein, die nach einer bestimmten Zeit zerfallen. Das funktioniert aber je nach Isotop nur bis zu einem gewissen Alter. Für die Datierung wird dann der geologische Fundort herangezogen: die jeweiligen Gesteins- und Sedimentschichten, die sich einem bestimmten Erdzeitalter zuordnen lassen. Und: die sogenannten „Leitfossilien“ innerhalb einer Schicht. Das sind zum Beispiel wirbellose Tiere wie Ammoniten, die zu einer bestimmten Zeit vorkamen.
O-TON 05 EBERHARD FREY
Das heißt, man hat nicht nur ein Fossil, sondern man hat einen Befund um dieses Fossil herum. Und je vollständiger der ist, desto wertvoller ist dieser Fund für die Wissenschaft.
SPRECHERIN
Wertvoll sind Fossilien vor allem für die Paläontologie. Die Wissenschaft als solche gibt es seit dem frühen 19. Jahrhundert. Sie widmet sich den Lebensformen früherer Erdzeitalter, von den Dinosauriern bis zu den Menschen. Fossilien stehen dabei im Zentrum.
Musik: Mystic tendency (a) 0‘18
SPRECHERIN
Auf versteinerte Überreste stießen Menschen schon früher – und interpretierten sie je nach damaligem Wissen und Glaubenssätzen. So prägten oder bestätigten Funde auch die jeweiligen Mythologien.
O-TON 07 EBERHARD FREY
Dann denkt man die Donnertiere in Nord Nordamerika, wo die Indigenen dann geglaubt haben, wenn die über den Himmel galoppieren, na dann donnert‘s halt. Die kannten aber diese riesengroßen Knochen, die sie keinem heutigen Tier zuordnen konnten. (…)Es gibt diverse solche Dinge, die aus der Mythologie kommen. Und in China waren die großen Knochen von Drachen (…) Das waren Fantasiewesen, die aber mythologisch von großer Bedeutung waren. Das war der ursprüngliche Wert von Fossilien, der Beweis für Drachen. Der Beweis für Riesen.
SPRECHERIN
Eine Belegfunktion, die sich später auch andere zunutze machten.
Musik: Historic secrets 1‘08
Am texanischen Paluxy River entdeckte man im Jahr 1908 Fußspuren von Dinosauriern – und daneben eine Reihe anderer, länglicher Spuren. Menschliche Fußspuren, wenn es nach Kreationisten ging. Die christliche Schöpfungslehre stand im Lichte neuerer Erkenntnisse unter Druck. Später stellte sich heraus, dass ein Teil der Spuren bewusst gefälscht und menschenähnlich präpariert wurde.
SPRECHER
Mit einer Art religiösen Überzeugung geht man im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch an die junge Wissenschaft der Evolutionslehre. Ihre Bibel: Charles Darwins „Über die Entstehung der Arten“. Darwins Theorie löst unter Paläontologen eine regelrechte Goldgräberstimmung aus. Es ist die Suche nach dem Missing Link, dem Bindeglied zwischen Affe und Mensch. Zwar hatte es schon aufsehenerregende frühmenschliche Funde gegeben – doch manchen Zeitgenossen waren diese unbequem. Sie zeichneten das Bild eines aufrechtgehenden Tieres: menschenähnlich, aber mit deutlich kleinerem Gehirnvolumen. Unerhört: Denn der wahre Urmensch, so die Annahme, müsse doch genau andersherum aussehen. Der Gedanke, das überlegene Gehirn sei in der Entwicklung nicht vorausgegangen – unvorstellbar. Auf der ganzen Welt sucht man nun nach einem Hominiden mit affenartigem Körper und dem Schädel eines modernen Menschen. Und in England findet man ihn: Den Piltdown Man.
O-TON 08 EBERHARD FREY
Piltdown ist bis heute interessant, weil das eben auch so eine politisch motivierte Fälschung war. (..) in England war das damals so die Überzeugung, dass die Menschheit aus England kam. Also musste irgendwas her.
SPRECHERIN
Doch der Piltdown Man von 1912 stellte die Wissenschaft auch vor ein Problem. Er widersprach der Herkunftslinie aller anderen frühmenschlichen Funde. Es gab Zweifel unter Fachleuten. Gab es einen konkreten Fälschungsverdacht – dann wagte wohl niemand, ihn laut zu äußern.
O-TON 09 EBERHARD FREY
Ich gehe davon aus, dass ich nicht betrogen werde. Das ist ja eigentlich so, wie Menschen erst mal denken sollten. Was vielen dann das Genick bricht am Ende. Aber mit den damalig vorhandenen anatomischen Kenntnissen hätte man das rauskriegen können.
SPRECHERIN
So der Paläontologe Eberhard Frey. Heute hat man ganz andere technische Möglichkeiten. Und aus Erfahrung genug Grund zur Skepsis. Vieles, sagt Eberhard Frey, könne schon bei genauerem Hinsehen und einem Mindestmaß an anatomischen Kenntnissen entlarvt werden. Oder mit ein paar einfachen Tricks.
O-TON 10 EBERHARD FREY
Es gibt da ganz einfache Methoden, das ad hoc zu entschlüsseln, wenn sie zu offensichtlich sind. Manchmal reicht es, Wenn ich dagegen klopfe und das macht tock tock tock, dann ist das Plastik, tock tock tock. Und nicht ping, ping ping, wenn es Stein ist. (…) Man kann natürlich auch, wenn die coloriert sind, an der verdächtigen Stelle mal vorsichtig kratzen ob dann ein gelbliches oder weißliches Pulver rauskommt, was nicht Knochen ist.
Musik: No effort 0‘41
SPRECHERIN
Oft reichen aber auch weniger invasive Methoden. Schon mit einer Lupe lassen sich in Kunstharz eingeschlossene Luftbläschen erkennen. Unter dem Mikroskop werden auch feine Werkzeugspuren sichtbar. Wurden Fossilien künstlich ergänzt oder aus unterschiedlichen Spezies zusammengesetzt, zeigt sich das unter UV-Licht: die einzelnen Teile reflektieren das Licht unterschiedlich stark. Per Röntgen oder im CT werden hingegen Unterschiede in der Dichte und Struktur sichtbar.
SPRECHERIN
Erst Anfang 2024 konnte ein weiterer Fälschungsfall aufgedeckt werden.
Musik: Mystic tendency (a) 0‘44
Der 280 Millionen Jahre alte „Tridentinosaurus antiquus“, ein echsenartiges Reptil aus den italienischen Alpen. Oder kurz: Das Alpenfossil. Sein Körper ist auf einer Steinplatte eingebettet, nur die Hinterbeine ragen reliefartig hervor. Bemerkenswert ist nicht nur das Alter. Um den Körper zeichnet sich dunkel gut erhaltenes Weichteilgewebe ab. Ein einzigartiges Merkmal – das Wissenschaftler mittlerweile entzauberten. Ihre Untersuchungen zeigten, dass es sich bei dem „Gewebe“ um Farbe handelte.
Ein Beispiel, das einmal mehr die Frage aufwirft: Wie viele Fälschungen schlummern womöglich noch in Museen? Sollte man mit den heutigen Möglichkeiten nicht noch viel mehr ältere Stücke überprüfen?
O-TON 12 EBERHARD FREY
Es gibt Sammlungen, die enthalten mehr als eine Million Stücke. Und so intensiv kann sich kein Kurator mit jedem Stück beschäftigen. (…)Aber wenn man ganz besonders schöne Fossilien hat, dann rentiert sich da schon mal ein genauerer Blick drauf.
SPRECHERIN
Umso mehr, wenn es einen berechtigten Anfangsverdacht gibt. Zweifel, wie sie der Piltdown Man aufgeworfen hatte.
Musik: Resourceful criminals 0‘32
SPRECHER
1949, knapp 40 Jahre nach seinem Fund, nimmt ein Wissenschaftler den Piltdown Man näher unter die Lupe. Kenneth Oakleys Analyse zeigt: Die Piltdown-Knochen sind maximal 50.000 Jahre alt. Weitere Untersuchungen im Jahr 1953 bestätigen schließlich: Schädel und Kiefer stammen aus völlig unterschiedlichen Zeitaltern, und damit nicht von ein- und demselben Lebewesen. Spätestens jetzt steht fest: der Piltdown Man ist ein Hoax.
Im Jahr 2016 gibt es noch einmal eine wissenschaftliche Betrachtung. Sie fördert das ganze Ausmaß des Schwindels zutage. Die Schädelfragmente stammten von einem modernen Menschen, nur wenige hundert Jahre alt. Und der affenartige Kiefer? Der gehörte tatsächlich einem weiblichen Orang Utang. Alle Knochen und Zähne wurden gezielt chemisch verfärbt. Unterm Mikroskop werden außerdem Feilspuren an den Backenzähnen sichtbar. Auch die anderen in Piltdown gefundene Fossilien waren offenbar manipuliert und bewusst dort platziert. Der Fälscher wusste, was er tat.
Musik: Wait and see 0‘29
SPRECHERIN
Doch wer konnte es gewesen sein? Das Wissen, wie ein Fossil auszusehen hat. Der Zugriff auf andere Stücke. Der nötige Vertrauensvorschuss. Das alles spricht für einen Täter aus dem engeren wissenschaftlichen Umfeld. Das liefert auch ein mögliches Motiv: Ruhm und Anerkennung für eine bedeutende Entdeckung. In Verdacht gerieten über die Jahre eine ganze Reihe an Akteuren.
Der naheliegende Täter bleibt Charles Dawson selbst. Ein damals angesehener Hobby-Archäologe und Sammler, der schon mehrere Funde an die Geological Society gespendet hatte. Er war als einziger bei allen verdächtigen Funden anwesend. Er hatte das Motiv, die Mittel – und die kriminelle Energie. In puncto Betrügereien war Dawson rückblickend kein unbeschriebenes Blatt. Ob er Komplizen hatte, wird sich wohl nie klären lassen. Sicher ist: Nach seinem Tod werden nie wieder Fälschungen in der Grube in Piltdown auftauchen.
Für Eberhard Frey sind solche Fälle kein Grund, Sammlern zu misstrauen oder die Ausgrabungen Wissenschaftlern allein zu überlassen.
O-TON 13 EBERHARD FREY
Da muss man sich heute deutlich mehr rechtfertigen, weil Privatsammler im Prinzip fast schon bei vielen etablierten Zeitschriften in der Ecke der Raubgräber sind, aber ohne Privatsammler und ohne Unterstützung aus dem Privatsammler-Bereich. Welches Institut kann sich eine Grabung erlauben, die ein halbes Jahr geht?
SPRECHERIN
Wichtig sei, keine zusätzlichen finanziellen Anreize für bestimmte Stücke zu setzen. So werden Amateur-Sammler zwar für ihre Arbeit bezahlt:
O-TON 14 EBERHARD FREY
Aber ich würde niemals ein Fossil aus seiner Grabung bezahlen. Niemals. Immer nur Arbeitsaufwendungen, Benzingeld.
SPRECHERIN
Kleinere „Reparaturen“ sind grundsätzlich zulässig und in Museen gängige Praxis. Wichtig ist, dass alle Eingriffe beim Verkauf angegeben werden.
SPRECHERIN
Diese Grundsätze gelten nicht für alle Einrichtungen, vor allem außerhalb Europas. Und schon gar nicht für private Sammler, deren Sammlungen manchmal doch über Umwege an Museen gelangen. Es gibt Gründe, nicht genau hinzuschauen – für Museen wie für Wissenschaftler, die es auf das besondere Stück abgesehen haben, oder auf die schnelle Veröffentlichung. Wo leichtgläubige Abnehmer sind, gibt es auch weiterhin Fälscher. Was sie antreibt? Das sei in den meisten Fällen recht simpel zu beantworten, meint Eberhard Frey.
O-TON 16 EBERHARD FREY
Die machen das um Geld zu verdienen. Ja, ganz einfach. Oder um berühmt zu werden. (…)
Musik: Creative criminal red 0‘38
SPRECHERIN
Geld. Ruhm. Anerkennung. Die Motive erscheinen naheliegend. Oft führen sie auf die Spur der Täter. Cui bono – wer profitiert? In vielen Fällen geht man von den Findern selbst aus, oder Zwischenhändlern, die daran verdienen. Aber die Geschichte zeigt: Es gibt auch andere Motive. Bestimmte Ideologien, Mythologien, nationale oder religiöse Narrative. Und nicht zuletzt die Lust am Täuschen selbst – und sich täuschen zu lassen. Solche Geschichten faszinieren. Das findet auch Eberhard Frey. Eine gefällt ihm ganz besonders.
O-TON 17 EBERHARD FREY
Das war erst mal 1725. Der Johann Beringer, der war Naturforscher und Medizinprofessor. (…) Dem sind aus der Nähe von Würzburg solche Figuren Steine gebracht worden.
SPRECHERIN
Es sind drei Jugendliche, die ihm die sonderbaren Steine vorlegen. Mainfränkischer Muschelkalk, versehen mit fremdartigen Schriftzeichen. Aber auch mit groben Reliefs offenbar versteinerter Tiere und Pflanzen. Beringer beauftragt die Jugendlichen, weiterzugraben. Im Lauf von sechs Monaten werden sie ihm an die 2000 Steine überbringen.
O-TON 18 EBERHARD FREY
18. Jahrhundert, da erwachte die Paläontologie grad, und da hat man überhaupt keine Kriterien dafür gehabt. (…)Da waren zum Teil Tiere dabei, die es überhaupt nicht gibt. Die waren völlige Fantasie.
Musik: Serious path (reduziert) 0‘42
SPRECHERIN
Für den Naturforscher ist es der große Coup. Minutiös katalogisiert er die Steine, hält sie in detaillierten Kupferstichen fest. Ein Jahr später will er seine Lithographiae Wirceburgensis herausbringen, die Würzburger Lithographie. Schon vor der Veröffentlichung des Bildbands werden Fälschungsgerüchte laut. Jahre später steht fest: Die Steine sind allesamt fabriziert. „Würzburger Lügensteine“ werden sie seither genannt. Schnitzarbeiten und Gravuren, hergestellt in mühevoller Handarbeit. Vermutlich beauftragt, um Beringer bloßzustellen. Nur gelang das nicht.
O-TON 19 EBERHARD FREY
Er hat seine Professur nicht verloren, man hat ihn nicht lächerlich gemacht. (…). Die Hintergründe sind bis heute noch nicht klar. Aber eins ist klar. Ein Original von den Dingern, das können sie nicht bezahlen. Jetzt sind diese Fälschungen historisch von Bedeutung, weil sie einen Abschnitt der Paläontologie dokumentieren, an den heute niemand mehr denkt, der aber geschichtlich wichtig ist. Und so können dann Fälschungen wieder zum Wert kommen, der ganz überraschend ein historischer Wert ist.
SPRECHERIN
Ein eigener Wert. Von Fossilfälschungen lernen wir vielleicht nichts über die Urwesen vor unserer Zeit. Aber über uns Menschen. Das macht Fälle wie die Lügensteine, den Piltdown Man oder den Archäoraptor für Laien bekannter und oft spannender als die meisten „echten“ Fossilien. Trotzdem schaden sie der Forschung, der Integrität und Glaubwürdigkeit von wissenschaftlichen Einrichtungen. Das ebnet den Weg für Verschwörungstheorien und „alternative Fakten“. Es erzeugt Skepsis, die seriösen Sammlern und Händlern schadet und Wissenschaftlern einen hohen Arbeitsaufwand verschafft. Fälschungen aufzudecken kann auf den ersten Blick wehtun. Auf lange Sicht kann es helfen.
Musik: Evolving time (b)0‘28
O-TON 20 EBERHARD FREY
Natürlich lernt man was draus. Wenn wir jetzt schon in die Frühzeit von der Paläontologie gehen mit Beringer. Da hat man natürlich schnell rausbekommen, was eine Schnitzerei ist und was keine Schnitzerei ist. Das heißt, jede Fälschungsmethode, die aufgedeckt wird, schärft den Blick für ähnliche Fälschungen. Und es gibt heute keine Fälschungsmethode, die so sicher ist, dass man es nicht entdecken kann.
Bilder, die seit Generationen die gleichen Emotionen und Assoziationen in uns auslösen? Allgemeingültige Vorstellungen oder gar Handlungsmuster, die alle Menschen teilen? C.G. Jungs Konzept von den Archetypen, universalen Urfiguren, ist nicht nur graue Theorie, sondern auch Bestandteil moderner Psychotherapie. Von Frank Halbach
Credits
Autor und Regie dieser Folge: Frank Halbach
Es sprachen: Edith Saldanha, Christian Baumann
Technik: Moritz
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Christian Rösler, Professor für Klinische Psychologie, Psychoanalytiker und Psychotherapeut.
Dr. Ute Mahr, Psychologin und Psychotherapeutin, Autorin von „Handbuch Archetypen-Therapie“.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literatur:
Micha Brumlik. C. G. Jung. Zur Einführung. Hamburg 1993.
Carl Gustav Jung: Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten. Zürich 1935.
Ute Mahr: Handbuch Archetypen-Therapie: Der Blick in die Struktur der Seele. Nürnberg 2010.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Kennen Sie das? Träume mit Bildern oder Symbolen, die scheinbar nichts mit dem im Alltag erlebten zu tun haben? Betörende Nymphen oder schreckliche Drachen? Lodernde Feuersbrünste oder orkangepeitschte Ozeane? Die sich häutende Riesenschlange oder der majestätische Löwe?
SPRECHERIN
Welcher Bilder bedient sich das Unbewusste, um uns unsere gegenwärtige Lage mitzuteilen?
SPRECHER
Oder sind es mythische Sinnbilder, Ur-Metaphern, die jeder Mensch in sich trägt?
SPRECHERIN
Archetypen. So nennt man in der Analytischen Psychologie Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster, die einem kollektiven Unbewussten angehören sollen – in den Urbildern von Mythen, Träumen Märchen, Religion und Kunst entfalten Archetypen demnach ihre Wirkkraft auf die Psyche des Menschen.
SPRECHER
Das tiefenpsychologische Konzept der Archetypen geht auf den Schweizer Psychiater und Psychologen Carl Gustav Jung zurück.
MUSIK ENDE
O-Ton 1 Rösler (00:34)
Carl-Gustav Jung hat zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts begonnen, als Psychiater im berühmten Burghölzli in Zürich. Und die haben da einen neuen Ansatz ausprobiert, Psychotiker zu behandeln. Bis dahin galten die sozusagen als eine organische Störung des Gehirns. Und der neue Ansatz war zu sagen: „Nein, da steht ein Sinn dahinter. Aber wir verstehen den eben noch nicht. Aber wenn wir den verstehen können, kriegen wir vielleicht einen Zugang zu den Patienten und zur Krankheit.“
SPRECHER
Dr. Christian Rösler ist Professor für Klinische und Analytische Psychologie, Psychotherapeut und Psychoanalytiker.
O-Ton 2 Rösler (02:28)
Der Kern im Grunde des Archetypen-Konzeptes ist, dass in unserer Psyche Urbilder angelegt sind - so hatte er das ursprünglich genannt, erst später kam der Begriff Archetypen - und dass diese Urbilder […] sich zeigen, insbesondere in Psychosen. Und später, hat er das weiterentwickelt, dass eben diese Archetypen im Grunde die ganze Entwicklung der Persönlichkeit gestalten, so dass am Ende bei Jung die Vorstellung stand, dass die Entwicklung der Persönlichkeit auch beim gesunden Menschen gestaltet ist durch eine bestimmte Abfolge von archetypischen Bildern.
SPRECHER
„Archetypen sind kollektiv vorhandene unbewusste Bedingungen, welche als Regulatoren und Anreger der schöpferischen Phantasietätigkeit wirken und entsprechende Gestaltungen hervorrufen, indem sie das vorhandene Bewusstseinsmaterial ihren Zwecken dienstbar machen.“
SPRECHERIN
Definierte 1946 in seiner Schrift „Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen“. C.G. Jung. Allerdings hat er selbst seine Definition davon, was Archetypen seien, ständig überarbeitet, revidiert und erweitert.
SPRECHER
Wie also definiert die Analytische Psychologie Archetyp heute?
O-Ton 3 Rösler (32:41)
Also wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass es in Bezug auf die Archetypentheorie in der Analytischen Psychologie sehr viel Konfusion gibt. Das fängt allein schon damit an, wie man Archetypen definiert. Ich habe selbst mal eine Studie gemacht, wo ich Kollegen und Experten aus dem Feld gefragt habe: Wie definiert ihr denn Archetypen? Da kam völlig unterschiedliche Definitionen raus, die zum Teil auch völlig inkompatibel waren. Und das zeigt allein schon, dass, was wir darunter verstehen, da gibt es überhaupt keinen Konsens.
SPRECHERIN
In C.G. Jungs Theorie repräsentieren grundlegende Archetypen universelle Muster eines kollektiven Unbewussten. Jung hat die Existenz von Archetypen aus dem Vergleich von Motiven aus Träumen besonders, aus Märchen, Sagen, und astrologischen Vorstellungen und vergleichender Religionswissenschaft und Mythologie abgeleitet. Auch die Motivik der Alchemie lieferte ihm viel Vergleichsmaterial.
O-Ton 4 Roesler (07:36)
Die Alchemisten haben im Grunde mit chemischen Substanzen operiert. Und Jung war eigentlich der Auffassung, dass das gar nicht um Chemie an sich geht, sondern dass die ihre eigenen psychischen Prozesse in das Material hineinprojiziert haben. Und dass es eigentlich um Philosophie und Persönlichkeitsentwicklung und ja im Grunde ein transzendentales Weltmodell geht.
SPRECHER
C.G. Jung kam letztlich zu dem Schluss: Archetypen sind prototypisch, von der Kultur unabhängig und immer wiederkehrend. Sie sind tief in der Menschheitsgeschichte verwurzelt und haben somit starken Einfluss auf unsere Kultur, unsere Träume und auf unsere individuellen Biographien.
MUSIK „Organics“; ZEIT: 00:17
SPRECHERIN
Die große Mutter, der Held, der Schatten…
MUSIK ENDE
O-Ton 5 Rösler (03:36)
Also die Idee ist, dass die Archetypen im Grunde einen Prozess in Gang setzen, der zur Zentrierung der Persönlichkeit führt und letztlich auch zur Realisierung von noch ungelebten oder undifferenzierten Persönlichkeitsanteilen. Und dass dieser Prozess im Grunde einer Landkarte folgt, die man beschreiben kann. Und das ist natürlich eine total interessante Idee, weil wenn das so wäre, könnten wir Psychotherapeuten, wenn wir über diese Landkarte verfügen, sozusagen unsere Patienten durch diesen Prozess geleiten, weil wir sozusagen schon wissen, was da kommt. Oder weil wir das, was auftaucht, dann interpretieren und einordnen können.
MUSIK privat Take 002 Nfrt.y.ty; Album: Homo Infinitus; Label: Amores Solitares – AS001; Interpret: Lum/ Sunru: Komponist: Lum; ZEIT: 00:43
SPRECHERIN
In der Behandlung von Patienten in der Psychiatrie stieß C.G. Jung bei der Erforschung dieser „Landkarte“ immer wieder auf Halluzinationen oder Träume, in denen Bilder vorkamen, die mythischen Symbolen glichen. Woher kamen diese Symbole?
SPRECHER
Sie waren offensichtlich nicht einfach erlernt. Archetypen seien vielmehr vorbewusste Strukturen der Psyche, meinte Jung, Formen eines von Anfang an vorhandenen kollektiven Unbewussten:
SPRECHERIN
Grundmuster instinkthaften Verhaltens.
SPRECHER
Das hieße demnach, der Mensch verfügt über angeborene psychische Strukturen?
MUSIK ENDE
O-Ton 6 Rösler (15:03)
Ja, grundsätzlich schon. Allerdings muss man gleich dazusagen, dass diese Strukturen eben nicht übereinstimmen mit dem, was Jung sich unter Archetypen vorstellte. Also was man heute weiß, ist dass das menschliche Neugeborene ausgestattet ist mit bestimmten Fähigkeiten und Kompetenzen, die sich vor allen Dingen auf Interaktion in sozialen Beziehungen richten. Und damit kann man sehr stark argumentieren, dass wir von Natur aus Beziehungswesen sind. Also zum Beispiel können Neugeborene schon recht bald Mimik lesen, im Gesicht ihrer Bezugsperson können darauf reagieren. Sie interessieren sich sehr für Sprache, für Sprachmelodie. Da fokussieren sie sehr stark drauf. […] Sie haben eine sogenannte angeborene Spracherwerbsfunktion.
SPRECHERIN
In C.G. Jungs Konzept drängen Archetypen gezielt auf die Verwirklichung eines Zustandes, auf Entfaltung. Grundlegende Archetypen bei C.G. Jung sind:
MUSIK „In doubt“; ZEIT: 01:19
SPRECHER
Das Selbst: die Vereinigung des Bewusstseins und des Unbewussten, das Streben nach Ganzheit, nach dem Ziel der persönlichen Entwicklung.
SPRECHERIN
Der Schatten: Er steht dem positiven Selbstbild des Menschen entgegen. Die „Dunkelheit“ des Schattens steht für seine Unbewusstheit. Schattenarbeit ist Bewusstwerdungsarbeit am persönlichen Unbewussten.
SPRECHER
Das Kind: alle Erfahrungen, eines Menschen, die er in der Kindheit gemacht hat und zugleich alle mit der Kindheit assoziierten Merkmale aus der kollektiven Psyche. Die bekanntesten Varianten: das geliebte Kind, das verwundete Kind, das verlassene und das ewige Kind.
SPRECHERIN
Die Mutter: die Große Mutter oder Urmutter, die Vorstellung von einer gebärenden und Schutz gewährenden Frau. Dem gegenüber steht das Bild von der zerstörenden, verschlingenden Mutter.
SPRECHER
Gott: der Übermächtige, fern und nah zugleich, Furcht einflößend und Vertrauen erweckend, der Geheimnisvolle – das "Numinosum".
SPRECHERIN
Und nicht zuletzt: Animus und Anima - „Personifikationen einer weiblichen Natur im Unbewussten des Mannes und einer männlichen Natur im Unbewussten der Frau“. Archetypische Symbole der Anima wären: die Sirene, die Loreley, die fremde Schönheit, die unerreichbare Geliebte. Beispiel für Symbole des Animus: der verlockende Magier, der starke Held, der zauberhafte Künstler oder der spirituelle Führer.
MUSIK ENDE
O-Ton 7 Rösler (34:16)
Ich glaube, es braucht eine gewisse Skepsis in Bezug auf die Strukturen und Theorien, die Jung da formuliert hat. Da war er doch an mancher Stelle sehr ein Kind seiner Zeit. Also zum Beispiel, was das Verhältnis der Geschlechter angeht und männliche und weibliche psychische Anteile usw. Wobei er auch natürlich an der Stelle revolutionär war, insofern, als er als Erster die Idee formuliert hat, das eben jeder Mensch auch gegengeschlechtliche Anteile in sich hat. Das ist eine wirklich sehr interessante Idee.
SPRECHERIN
Ein weiterer Kritikpunkt für Professor Christian Rösler ist, dass Jung zwar menschheits-umfassende Archetypen postulierte, aber selbst nicht nur Kind seiner Zeit, sondern auch seines Kontinents blieb.
O-Ton 8 Rösler (13:26)
Das ist im Grunde auch ein zentraler Kritikpunkt an Jung, dass er also, obwohl er sich für außereuropäische Kulturen interessiert hat, letzten Endes in seinem Grundmodell sehr eurozentrisch geblieben ist. Und im Grunde auch was in der griechischen und römischen Antike es an Vorstellung gab, das hat er als universell gesetzt. Was tatsächlich bei genauerer Überprüfung eben so nicht stimmt. Also ein zentrales Beispiel ist diese Vorstellung von der großen Mutter, die eben ein Archetyp ist bei Jung.
SPRECHERIN
Vorstellungen über einen solchen archetypischen Kult der Muttergottheiten beruhen auf Mythenkonstruktionen des 19. Jahrhunderts über die Große Göttin, die mit altsteinzeitlichen und jungsteinzeitlichen Statuetten in Verbindung gebracht wurden.
Der britische Prähistoriker Andrew Fleming meinte dazu schon 1969:
SPRECHER
„Solche Theorien verraten meist mehr über die Weltsicht ihrer Vertreter als über die Vorgeschichte.“
SPRECHERIN
Vieles, was C.G. Jung für angeboren, von vornherein in einem kollektiven Unbewussten verankert hielt, scheint aus heutiger Sicht sozialisiert. Das betrifft Vorstellungen über Geschlechterrollen ebenso wie die Annahme eines für alle Kulturen gleichen Musters von Religion.
O-Ton 9 Roesler (22:03)
Es gibt diese universell übereinstimmenden Inhalte nicht, bis auf eine Ausnahme: Das sind die Mythologien. Da gibt es tatsächlich verblüffende Übereinstimmungen. Also man findet Märchen in der Südsee, die also fast zu 100 Prozent übereinstimmen mit einem Märchen aus Lappland. Und das war tatsächlich immer schon eine Frage in der Ethnologie: Wie kann man das erklären? Da gibt es mittlerweile aber einen Ansatz von einem Harvard-Ethnologen, der quasi argumentiert, mit der Ausbreitung des Homo sapiens über die Welt. Wir wissen heute, das ist sehr gut belegt durch archäologische Funde, durch genetische Studien und so weiter, dass der moderne Mensch Homo sapiens sich etwa vor 65.000 Jahren aus Afrika zunächst mal an der Südküste Asiens entlang ausgebreitet hat und von dort dann über eiszeitliche Landbrücken nach Indonesien, Australien und dann über die Beringstraße-Landbrücke nach Amerika. Und wenn man diesen Routen folgt und den Zeiten, wann Menschen wo angekommen sind, kann man rekonstruieren, das mit ihnen eben auch die Mythologien gewandert sind.
MUSIK privat Take 002 Nfrt.y.ty; Album: Homo Infinitus; Label: Amores Solitares – AS001; Interpret: Lum/ Sunru: Komponist: Lum; ZEIT: 00:37
SPRECHER
Bestimmte mythologische Motive, wie zum Beispiel das von einer Sintflut finden sich so überall auf der Welt.
SPRECHERIN
Für sie gibt es wiederum gute Erklärungen jenseits eines kollektiven Unbewussten. Am Ende der letzten Eiszeit sind die Meeresspiegel zum Teil so schnell angestiegen, dass Menschen weltweit dieses Phänomen als Sintflut erlebt haben und so in ihren Mythologien verarbeitet haben.
SPRECHER
Eine ganze Reihe von Behauptungen, die C.G. Jung in seiner Theorie aufgestellt hat, muss also als eindeutig widerlegt gelten.
MUSIK ENDE
O-Ton 10 Roesler (24:41)
Was ich aber tatsächlich wertvoll finde nach wie vor an der Archetypen-Theorie ist die Idee, dass psychische Veränderungsprozesse wie zum Beispiel in Psychotherapien, aber auch zum Beispiel in spirituellen Entwicklungswegen, dass die eine universelle Struktur haben, also dass die nach bestimmten Mustern verlaufen.
SPRECHER
Dr. Ute Mahr arbeitet viel mit solchen Mustern in ihrer Praxis. Ihr „Handbuch Archetypen-Therapie“ verbindet die Erfahrungen aus 20-jähriger Praxis als Psychotherapeutin und universitärer Psychotherapieforschung.
SPRECHERIN
Von C.G. Jungs Theorie ausgehend hat sie spezifischere Archetypen für innerseelische Strukturen definiert: so etwas wie innerste Identitäten.
O-Ton 11 Mahr (19:15)
Als allererstes die Seelen Rolle. Man könnte sagen das ist so das Basis-Potenzial. Und das entspricht jetzt sehr den Archetypen von C.G. Jung.
MUSIK „Particle“; ZEIT: 00:43
SPRECHER
Der Heiler: mütterlich, einend, harmonisierend.
SPRECHERIN
Der Künstler: Etwas ins Leben bringen, die eigene Individualität ausdrücken.
SPRECHER
Der Krieger: Handeln, Disziplin und Pflicht.
SPRECHERIN
Der Gelehrte: Wissen sammeln, möglichst vollständig, systematisch.
SPRECHER
Der Weise: Mit dem ganzen Wesen kommunizieren, erworbenes Wissen teilen.
SPRECHERIN
Der Priester: Streben nach dem höheren Ideal.
SPRECHER
Der König: durchsetzungsstark, führen, leiten.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
„Seelische Archetypen“, die im Menschen angelegt seien. Im therapeutischen Gespräch, Selbstwahrnehmung und körperorientierter Psychotherapie nähert sich Dr. Ute Mahr mit ihren Klient*innen diesen Basispotentialen. Sie betont dabei, dass es sich bei diesen „seelischen Impulsen“ nicht um lebenslang gleichbleibende Strukturen handelt
O-Ton 12 Mahr (17:27)
Was ganz Wesentliches in der Arbeit mit den Archetypen: Die haben einen innewohnenden Umsetzungsdrang - ich will was tun. Und eine gelingende Therapie hat für mich immer mit Potentialentfaltung mit Wirksamkeit, mit wirksam werden, zu tun.
SPRECHERIN
Ute Mahr bearbeitet mit ihren Klientinnen und Klienten in der Regel zunächst die Ängste, die die Entfaltung des Potentials entgegenstehen und macht sich mit ihren Klienten daran, gemeinsam das Entwicklungsziel zu definieren.
O-Ton 13 Mahr (28:13)
Die zweite Grundkategorie ist die Angst. (…) Das Basispotenzial ist das eine, was eint. Die Angst, ist das zweite, was entzweit. Das heißt aber wenn ich selber Angst habe, kann ich meinen Archetyp nicht umsetzen. Weil etwas hemmt mich. (…) Das heißt sie verdeckt das Potenzial. Der Mensch kann sich gar nicht entfalten. Und das liegt gar nicht bei den äußeren Umständen, sondern wir sind nur bei der eigenen Angst.
SPRECHER
Archetypische Kräfte bieten so einerseits großes Entwicklungspotential, andererseits ist das Vordringen zu einem angenommenen inneren „Basispotential“ keineswegs einfach.
SPRECHERIN
Denn wer sich auf die Innenreise begibt, begegnet Widerständen: inneren, wie der Angst, und auch äußeren. Und beides hängt zusammen: Die Angst davor, das Gewohnte, scheinbar sichere verlassen und die Reaktion darauf - denn oft hat es die Umgebung nicht besonders gern, wenn sich ein Mensch plötzlich anders verhält als gewohnt, wenn er sich gewissermaßen auf die Reise macht.
MUSIK privat Take 002 „Kukulkán (Original Mix)“; Album: Afiafi; Label: Random Collective ---; Interpret: AmuAmu; Komponist: AmuAmu; ZEIT: 01:49
SPRECHER
Ängste zu überwinden, die davon abhalten, „authetisch“ zu leben, Lebensfreude zu spüren. Das versprechen in vielfältigster Form angebotene Seminare, die sich unter dem Begriff „Heldenreise“ zusammenfassen lassen.
SPRECHERIN
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer solcher Seminare machen sich mit Meditionen, in Gesprächen und therapeutischen Übungen, auf die Suche nach dem, wonach sie sich sehnen, nach so etwas wie dem „wahren“ Potential.
SPRECHER
Sie sollen ihren inneren Dämonen, Widerständen, Ängsten und Blockaden stellen.
SPRECHERIN
Mit Phantasiereisen, durch Inszenierungen oder Tanz und Körperarbeit sowie Methoden der Gestalttherapie und kreativen Techniken wie Malerei soll es den in der Gruppe arbeitenden Teilnehmenden ermöglicht werden, sich einerseits ihrer unbewussten „wahren“ Ziele bewusst zu werden und andererseits einschränkende, negative Selbst- und Weltbilder zu erkennen und durch Rituale aufzulösen und zu verändern.
SPRECHER
Nicht selten werden solche Seminare beworben mit den Labeln Persönlichkeitsentwicklung und Transformation - durch die Verbindung mit archetypischen Kräften wie: der Wilde Mann beziehungsweise die Wilde Frau, der Liebhaber/ die Liebhaberin, die Kriegerin/der Krieger, die Närrin/der Narr, der Magier/die Magierin, die Weise/der Weise.
SPRECHERIN
Die Heldenreise gilt als ein universales Grundmuster von Mythologien weltweit. Sie ist nicht auch als archetypische Erzählstruktur in zahllose Hollywood-Blockbuster und Bestsellerromane eingeflossen.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Doch auch wer so den im eigenen Inneren schlummernden archetypischen Kräften begegnet, der hat sie noch lange nicht in sein alltägliches Leben integriert, auf der Suche nach Erfüllung und Glück. Ute Mahr:
O-Ton 14 Mahr (26:00)
Glück ist zum einen, (…) dass mein Innerstes fließen kann, diese Seelenimpulse, diese inneren Anliegen: Ich möchte was in die Welt bringen. Da braucht es, dass die Menschen sie zum einen erkennen, aber natürlich auch Hilfen kriegen, wie sie sie umsetzen. Das heißt, es braucht Bewältigungsfähigkeiten. Deswegen nützt die Archetypentherapie allein nichts.
SPRECHERIN
Aber sie kann ein wirksamer Bestandteil von therapeutischer Arbeit sein.
SPRECHER
Zur Selbstwahrnehmung, zur Auseinandersetzung mit tief-seelischen Themen.
O-Ton 15 Rösler (25:26)
Mein Schwerpunkt liegt im Moment auf der Erforschung von Träumen. Und da ist es tatsächlich so, dass wir untersuchen Traumserien aus Psychotherapien. Also die Träume wurden im Rahmen der Psychotherapie besprochen, wie das eben in analytischen Therapien üblich ist. Und diese Träume wurden dokumentiert, und wir analysieren diese Traumserie und gucken: tauchen denn da solche typischen Motive auf. Und tatsächlich finden wir nicht die Archetypen, die Jung beschrieben hat. Aber es gibt typische, wie könnte man sagen, Szenarien in Träumen. Also zum Beispiel, was wir gefunden haben, ist, das am Beginn von Therapien häufig ein Traummotiv auftaucht, dass das Traum-Ich bedroht wird - von gefährlichen Tieren oder Monstern oder Naturkatastrophen oder was auch immer. Und dass, wenn die Person sich entwickelt in eine gute Richtung, dass dann dieses Motiv der Bedrohung verschwindet und das Traum-Ich im Traum immer handlungsfähiger wird. Und das wäre dann tatsächlich so etwas, was man als archetypisch bezeichnen könnte.
MUSIK privat Take 002 Nfrt.y.ty; Album: Homo Infinitus; Label: Amores Solitares – AS001; Interpret: Lum/ Sunru: Komponist: Lum; ZEIT: 01:02
SPRECHERIN
Was die Archetypen keinesfalls sind?
SPRECHER
Naturwissenschaftliche Fakten.
O-Ton Rösler 16 (31:19)
Das war ein Irrtum Jungs. Der war halt als Naturwissenschaftler ausgebildet und war, das kann man recht gut zeigen, wenn man so seine Werke analysiert, war der Auffassung, dass eigentlich nur eine naturwissenschaftlich fundierte Theorie eine echte, gute Theorie ist. Und er hatte ungeheure Angst, als Philosoph gebrandmarkt zu werden, was er auf keinen Fall sein wollte. Er verstand sich als Naturwissenschaftler, und das ist ja ein, sagen wir mal ein Kardinalfehler, der sich durch die gesamte Geschichte der wissenschaftlichen Psychologie im zwanzigsten Jahrhundert zieht. Also der verzweifelte Versuch, die Psychologie als Naturwissenschaft zu formulieren, obwohl sie eigentlich eine angewandte Kulturwissenschaft und Geisteswissenschaft ist, meiner Ansicht nach.
Unumstritten war die Bundewehr in der Öffentlichkeit nie, und nach Ende des Ost-West-Konflikts und der teilweisen Integration der Nationalen Volksarmee in gesamtdeutsche Streitkräfte schien sie an Bedeutung zu verlieren. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich das geändert. Von Jochen Rack
Credits
Autor dieser Folge: Jochen Rack
Regie: Irene Schuck
Es sprach: Berenike Beschle
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
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AUFERSTANDEN AUS RUINEN - DDR und BRD im Kalten Krieg
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Gleich mit Beginn des Kalten Krieges 1945 befand sich Deutschland im Zentrum des Konflikts. Das zerbombte Land war wegen seiner geografischen Lage, seiner Größe und seines Wirtschafts-Potenzials für die Atommächte USA und Sowjetunion äußerst interessant. In Deutschland wurde der Konflikt ausgetragen. Von Rainer Volk (BR 2022) HIER
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OT 01 Rede Scholz:
„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen. (Klatschen)“
Sprecherin:
Die „Zeitenwende“, die Olaf Scholz drei Tage nach Russlands Invasion im Parlament ausgerufen hatte, war verbunden mit der Schaffung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Außerdem, versprach der Bundeskanzler, werde Deutschland „von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts“ in seine Verteidigung investieren. Die Bundeswehr sollte aufgerüstet werden, damit sie in Zukunft ihren Auftrag der Bündnis- und Landesverteidigung erfüllen kann. Denn tatsächlich war sie dazu im Jahr 2022 nicht in der Lage. Das Heer, konstatierte der Inspekteur des Heeres Alfons Mais, stehe mehr oder weniger blank da. Wie schon einmal in den 1960er Jahren lautete die Diagnose: „Bedingt abwehrbereit.“ Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius forderte im Jahr 2023, die Bundeswehr müsse wieder kriegstüchtig werden.
OT 02 Pistorius:
Ich weiß, das klingt hart. Ich weiß, das klingt ungewohnt und viele erschreckt es. Krieg führen können, um keinen Krieg führen zu müssen, und das ist kriegstüchtig.
Sprecherin:
Angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine brachen Kontroversen auf, die die Bundeswehr seit ihrer Aufstellung im Jahr 1956 immer begleitet hatten. Denn als Lehre aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, der 50 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, lehnten viele Deutsche die Wiederbewaffnung ab, zumal unter den Bedingungen des Ost-West-Konfliktes ein neuer Krieg zum Atomkrieg eskalieren konnte. Doch Bundeskanzler Konrad Adenauer wollte die am 23. Mai 1949 gegründete Bundesrepublik unter den nuklearen Schutzschirm der USA stellen. So trat am 5. Mai 1955 die Bundesrepublik der NATO bei, nachdem mit den Pariser Verträgen am selben Tag das Besatzungsstatut in Westdeutschland aufgehoben worden war. Im November desselben Jahres wurden 6.000 Freiwillige in der Bundeswehr eingestellt. Die neuen Lehrkompanien von Heer, Luftwaffe und Marine ließ Adenauer am 20. Januar 1956 in Andernach zum Appell antreten.
OT 03 Adenauer:
Soldaten der neuen Streitkräfte. Das deutsche Volk sieht in Ihnen die lebendige Verkörperung seines Willens, seinen Teil beizutragen zur Verteidigung der Gemeinschaft freier Völker, denen wir heute wieder mit gleichen Rechten und Pflichten wie die anderen angehören.
Sprecherin:
Die Schaffung bundesrepublikanischer Streitkräfte war allerdings nicht möglich ohne personelle Anknüpfung an die Wehrmacht, erklärt Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam:
OT 04 Neitzel:
Es gab ja keine Bundeswehr, es gab kaum Kasernen. Und die politische Führung, also Adenauer, die haben sich entschieden, mit 14.000 Wehrmachtsoffizieren diese Bundeswehr aufzubauen.
Sprecherin:
Man könne schließlich eine Armee nicht von achtzehnjährigen Generälen kommandieren lassen, soll Adenauer gesagt haben. So nahm die Bundeswehr in ihrer Gründungsphase auch ehemalige Nazis in ihre Reihen auf, z.B. 45 dienstgradniedrigere Offiziere der Waffen-SS, auf die man aus fachlichen Gründen glaubte, nicht verzichten zu können. Gleichzeitig wurde die Bundeswehr gegründet im bewussten Bruch mit den Traditionen des deutschen Militarismus. Ihr neuer Geist sollte sich in den schlichten Uniformen ausdrücken und die militärskeptische westdeutsche Öffentlichkeit davon überzeugen, dass die Bundeswehr eine demokratische Truppe war. Die Entnazifizierung der neuen Truppe gelang nur halbwegs, schreibt Sönke Neitzel in seinem Buch „Deutsche Krieger“. Aber die Wiederbewaffnung wurde von vielen Westdeutschen nicht nur deshalb kritisiert. Nach den traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wollten viele Deutsche nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen. Pazifismus schien die einzige Lösung. Innenminister Gustav Heinemann trat aus Protest gegen Adenauers Wiederbewaffnungspläne zurück.
OT 06 Neitzel:
Die Minderheit, die gegen die Streitkräfte war, war sehr heterogen. Das gab es von links bis rechts. Also es gab natürlich die linken Gruppen auf Seiten der Sozialdemokratie, die evangelische Kirche, es gab aber auch national eingestimmte Gruppen, die glaubten, mit der Gründung von westdeutschen Streitkräften sei die Teilung zementiert.
Sprecherin:
Adenauers Sicherheitsberater und später erster Verteidigungsminister Theodor Blank wurde bei öffentlichen Auftritten mehrfach ausgebuht und mit Eiern beworfen. Doch Adenauer setzte die Wiederbewaffnung gegen alle Widerstände der Opposition durch. Nach der Einberufung der ersten Freiwilligen in die Bundeswehr folgte die Einführung der Wehrpflicht am 21. Juli 1956. 1957 rückten die ersten Wehrpflichtigen in die Kasernen ein. Dort sollte jetzt ein demokratischer Geist herrschen, nicht wie früher Drill und Kadavergehorsam. Wolf Graf von Baudissin erarbeitete das Konzept der „Inneren Führung“. Es entstanden neue zivile Kontrollinstanzen und eine neue Traditionskultur, die mit den soldatischen Werten der NS-Zeit brechen und das Primat der Politik über die Streitkräfte sicherstellen sollten. Die Bundeswehr wurde als Parlamentsarmee konzipiert. Der Generalinspekteur der Bundeswehr war dem höchsten zivilen Ministerialbeamten nachgeordnet. Ein von der Regierung unabhängiger Wehrbeauftragter vertrat die Interessen der Soldaten. Eine neue demokratische Kultur sollte die Bundeswehr prägen. Von Baudissin prägte dafür den bis heute gültigen Begriff vom „Staatsbürger in Uniform“. Der Aufbau einer riesigen deutschen Streitkraft begann.
OT 07 Neitzel:
Die Bundesregierung hatte den Alliierten versprochen, 500.000 Mann in drei Jahren, das hat sich als nicht machbar erwiesen, diese 12 Divisionen des Heeres, das ist ein Personalstand, den man erst Ende der 60er Jahre erreicht hat.
Sprecherin:
Die von den USA eingekauften Starfighter hätten im Rahmen der sog nuklearen Teilhabe im Ernstfall taktische Atomwaffen auf die Streitkräfte des Warschauer Paktes werfen müssen. Die Befehlsgewalt über den Einsatz von Nuklearwaffen lag aber bei den USA. Die Strategie der „massive retaliation“ entwickelte man weiter zur „flexible response“.
OT 08 Neitzel:
Weil man sagte, wenn es schon einen kleinen Vorstoß des Warschauer Paktes gibt, Eroberung Westberlins oder ein Vorstoß nach Hamburg, kann dann die Reaktion sein, dass wir sofort tausende von nuklearen Sprengköpfen einsetzen? Wohl nicht. Deshalb die Logik, sollte die Bundeswehr konventionell möglichst stark sein.
Sprecherin:
Dennoch war die Gefahr eines Atomkrieges real wie die Kubakrise 1962 zeigte. Verständlich, dass angesichts von Planungen, die Deutschland zum atomaren Schlachtfeld gemacht hätten, die Proteste gegen die Aufrüstung nicht aufhörten. Die Ostermarschierer, die sich 1960 zum ersten Mal von Hamburg aus auf den Weg machten, knüpften an die britische Bewegung für nukleare Abrüstung an. Doch die Ablehnung der Bundeswehr speiste sich nicht nur aus Kriegsangst, sondern auch aus der Kritik am – trotz Traditionserlass und Innerer Führung – noch immer vorhandenen autoritären Schleifergeist in der Truppe. Bei einem Manöver ertranken 1957 fünfzehn Wehrpflichtige in der Iller, in Nagold brach ein Soldat 1963 beim Dauerlauf tot zusammen – erste Skandale, die am Image der Bundeswehr kratzten. Die Luftwaffe hatte hohe Absturzzahlen zu beklagen, vor allem die Starfighter-Abstürze in den 60er Jahren machten Schlagzeilen. Ein spektakulärer Unfall in der Marine war der Untergang des U-Bootes Hai im Jahr 1966. Alles nicht gerade Kennzeichen funktionierender Streitkräfte. Vor allem seit 1968 machten immer mehr Wehrpflichtige von ihrem Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch. Die APO, die vor allem von Studierenden bestimmte Außerparlamentarische Opposition, forderte gar die Auflösung der Bundeswehr und den Austritt aus der NATO. Und als Anfang der 80er Jahre die sog. Nachrüstung mit den amerikanischen Mittelstreckenraketen Pershing 2 beschlossen wurde, die ein Gegengewicht zu den sowjetischen SS 20 bilden sollten, kam es zu massiven Protesten.
OT 09 Petra Kelly Ansprache
„Hopp hopp hopp Atomraketen Stopp!
Sprecherin:
Auf einer großen Friedensdemonstration im September 1983 in Bonn sprach der ehemalige SPD-Kanzler Willi Brandt:
OT 10 Brandt
Wir brauchen in Deutschland und in Europa, solange es steht, nicht mehr Mittel der Massenvernichtung, sondern weniger. Deshalb sagen wir nein zu immer mehr Atomraketen.
Sprecherin:
Für Helmut Kohl, 1982 zum Nachfolger von Bundeskanzler Helmut Schmidt gewählt, waren die Protagonisten der Friedensbewegung „schlicht und einfach Vaterlandsverräter“. Ob die Bundeswehr einen Angriff des Warschauer Paktes hätte abwehren können, blieb ungewiss. Zum Glück kam es nie zum Ernstfall. Der Kalte Krieg ging überraschend zu Ende, als die Bundeswehr ihre größte Stärke und Kampfkraft erreicht hatte. Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Am 12. September 1990 unterzeichneten die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Moskau den Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 schuf und Deutschland die volle Souveränität verlieh. Die Bundeswehr sollte zunächst auf 370.000, ab 1994 auf 340.000 Soldaten abgerüstet werden.
OT 11 Neitzel
Die Bundeswehr wurde in den 1990er Jahren, kann man sagen, zum zweiten Mal gegründet, denn alles das, was die hatte, war jetzt nicht mehr vonnöten. Man hatte 2.200 Leopard 2 Panzer und 2.000 andere Panzer, Leopard 1 und zum Teil noch alte M48.
Sprecherin:
Und die ostdeutsche Armee - die Nationale Volksarmee NVA - wurde aufgelöst, ein Teil ihrer mehr als 90.000 Zeit- und Berufssoldaten in die Bundeswehr integriert. Die letzten russischen Truppen zogen 1994 aus Ostdeutschland ab, die Wehrpflicht wurde immer weiter verkürzt, Bundeswehrstandorte abgebaut, Kasernen geschlossen und umgewandelt in Wohn- oder Gewerbegebiete.
OT 12 Neitzel:
Nach 1990 geht der Verteidigungshaushalt massiv in den Keller. Das war davor 3%, sind dann nur noch 2,8 % ist in freiem Fall bis man nur noch 1,4% ausgibt.
Sprecherin:
Die ursprünglich angepeilte Truppenstärke von 370.000 Soldaten konnte und wollte man schon bald nicht mehr halten. Die Landes- und Bündnisverteidigung schien nicht mehr wichtig in einem friedlich gewordenen Europa. Stattdessen machte man die Bundeswehr fit für humanitäre Auslandseinsätze - wie 1992 in Kambodscha oder 1993 zur Luftraumüberwachung des ehemaligen Jugoslawien. Gleichzeitig gab die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, wie sie mit der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ 1995 geleistet wurde, den neuen Out-Of-Area-Einsätzen einen erinnerungspolitischen Flankenschutz. Eine Bundeswehr, die sich vom verbrecherischen Wehrmachtsmilitarismus abgrenzte, die sich ihres demokratischen Wesens versicherte, konnte im Namen der Verteidigung der Humanität 1993 zum Einsatz in Somalia und 1995 zum Einsatz in Bosnien ausrücken. Die Balkankriege führten zum Umdenken auch bei denjenigen, die bis dahin der Bundeswehr kritisch gegenübergestanden waren, vor allem bei den Grünen, deren Wurzeln in der Friedens- und Ökologiebewegung der 1980er Jahre lagen. 1999 stimmten die Grünen unter der Regierung von Gerhard Schröder für einen Kampfeinsatz der Bundeswehr in Serbien - ohne, dass es dafür ein UN-Mandat gab.
OT 14 Schröder:
Die Bundesregierung hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht. Schließlich stehen zum ersten Mal nach Ende des 2. Weltkrieges deutsche Soldaten im Kampfeinsatz. () Wir haben keine andere Wahl als die Mittel, die vorbereitet sind, dafür einzusetzen und wir werden das ... so lange tun, bis der jugoslawische Präsident auf den Boden von Menschlichkeit und internationalem Recht zurückkehrt.
Sprecherin:
Deutsche Tornados bombardierten serbische Stellungen, um einen drohenden Genozid im Kosovo zu verhindern. Die Begründung, die der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer für den Einsatz gab, sei schlüssig gewesen, meint der Politologe Herfried Münkler.
OT 15 Münkler:
„Nie wieder Krieg“ zu ergänzen durch „Nie wieder Auschwitz“, das war auf Srebreniza bezogen und es ging darum, dass deutsches Militär präsent ist.
Sprecherin:
78 Tage lang wurden serbische Truppen bombardiert. Helmut Kohls Vorgabe, die Bundeswehr dürfe an keinem Ort eingesetzt werden, wo einmal SS und Wehrmacht Krieg geführt hatten, galt nicht mehr. Humanitäre Einsätze zur Verhinderung eines Völkermords waren die Lehre aus den Verbrechen der Wehrmacht. Im Völkerrecht sprach man von der „humanitären Intervention“ und einer „responsibility to protect“.
Dann kam der Terroranschlag von 9/11 und der internationale Einsatz in Afghanistan zur Vertreibung der Taliban, an dem sich Deutschland beteiligte. Die politische Legitimation für den Einsatz der Bundeswehr formulierte am 11.3.2004 im Bundestag der damalige Verteidigungsminister Peter Struck:
OT 17 Struck:
Die Sicherheitslage hat sich entscheidend verändert. Deutschland wird absehbar nicht mehr durch konventionelle Streitkräfte bedroht. Unsere Sicherheit wird nicht nur aber auch am Hindukusch verteidigt.
Sprecherin:
Deutsche Soldaten bewachten Mädchenschulen und bildeten afghanische Soldaten aus. Das Kämpfen in gefährlichen südlichen Regionen Afghanistans überließen sie den Amerikanern und Briten. So konnte man weiter das Image der Bundeswehr als einer Art von technischem Hilfswerk pflegen. Das Bild des bewaffneten Aufbauhelfers, mit dem sich weite Teile der Gesellschaft, aber auch zunehmend die Bundeswehr selbst angefreundet hatte, passte aber nicht mehr, als deutsche Soldaten in Afghanistan zu Tode kamen. Der Spiegel titelte am 20.11.2006: „Die Deutschen müssen das Töten lernen.“ Und 2010 sprach Karl Theodor zu Guttenberg, damals Verteidigungsminister, zum ersten Mal von kriegsähnlichen Zuständen.
OT 18 Guttenberg:
Die Situation in Afghanistan ist eine gefährliche, () wir haben eine Abzugsperspektive zwar eröffnet, aber bis dahin wird es weiterhin ein schwieriger, ein gefährlicher Einsatz bleiben, und die Schwere der Gefechte zeigt das heute, dass wir uns in kriegsähnlichen Zuständen in Afghanistan befinden.
Sprecherin:
In zu Guttenbergs Amtszeit fiel das sog. Karfreitagsgefecht: Als eine Fallschirmjägereinheit der Bundeswehr am 2. April 2010 im Raum Isa Khel, südwestlich von Kundus, gegen afghanische Aufständische kämpfte, kamen drei deutsche Soldaten und sechs Soldaten der afghanischen Armee zu Tode. Die Konsequenz war nicht nur die militärische Aufrüstung der Truppe in Afghanistan, sondern eine neue Gedenkkultur für die Opfer der Bundeswehr. Eine Trauerfeier für die drei in Kunduz gefallenen Bundeswehrsoldaten fand am 9. April 2010 mit militärischen Ehren im niedersächsischen Selsingen statt. Anwesend waren der ranghöchste Soldat Generalinspekteur Wieker sowie Kanzlerin Angela Merkel, die Anteilnahme zeigen und den Einsatz politisch rechtfertigen wollte.
OT 20 Merkel
Im Völkerrecht nennt man das, was in Afghanistan in weiten Teilen herrscht, einen nicht internationalen bewaffneten Konflikt. Die meisten Soldatinnen und Soldaten nennen es Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg. Und ich verstehe das gut.
Sprecherin:
Der Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch blieb bis zum Abzug 2022 umstritten. 59 Bundeswehrsoldaten kamen in Afghanistan zu Tode. Nicht zufällig entstand nun in Deutschland eine zentrale Gedenkstätte für die Opfer: Das Bundeswehr-Ehrenmal in Berlin, wo die Namen aller Bundeswehrsoldaten genannt werden, die seit der Wiederbewaffnung im Dienst ihr Leben ließen. Doch die Kritik an der Bundeswehr riss nicht ab, auch befördert durch eine Reihe von Skandalen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen kommentierte die Situation der Bundeswehr 2017 mit den Worten:
OT 21 von der Leyen:
Pfullendorf - sexualisierte Herabwürdigung, Sondershausen – übelste Schikane, und jetzt der Soldat A. mit rechtsextremistischem Gedankengut, das sind alles unterschiedliche Fälle, aber sie gehören für mich inzwischen zusammen zu einem Muster, dass ich heute sage: Die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem und sie hat offensichtlich eine Führungsschwäche auf verschiedenen Ebenen.
Sprecherin:
Möglich, dass die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 zu den sog. Haltungsproblemen beitrug, da sich die Bundeswehr seitdem als Armee von Berufssoldaten stärker in Richtung einer soldatischen Parallelwelt entwickelt hat.
OT 22 Neitzel:
Ich würde schon sagen, dass die Aussetzung der Wehrpflicht zum damaligen Zeitpunkt konsequent war, weil alle NATO Staaten, mit Ausnahme Griechenlands und der Türkei, haben das gemacht. Alle großen Staaten hatten eine Berufsarmee, das waren auch die Streitkräfte, die man in Auslandseinsätzen wirklich brauchte.
Sprecherin:
Doch die für Out-of-Area Einsätze umgerüstete Truppe zeigte sich nach dem Beginn von Russlands Invasion der Ukraine nicht mehr zur Landesverteidigung fähig.
OT 23 Neitzel:
Alfons Mais hat am 24. Februar gesagt, das Heer steht nahezu blank da. () Natürlich heißt das nicht, dass wir keine Soldaten, dass wir keine Panzer und Flugzeuge haben. () Die Frage ist nur, ist die Bundeswehr in der Lage, Landes- und Bündnisverteidigung dazu einen wesentlichen Beitrag zu leisten. () Und wir sehen jetzt, dass es an sehr vielen Dingen mangelt. Es mangelt z.B. an Drohnen, an Drohnenabwehr, es mangelt an der Fähigkeit, russische Helikopter zu bekämpfen.
Sprecherin:
Um das zu ändern, wurde im Bundestag kurz nach Kriegsbeginn das sog Sondervermögen von 100 Milliarden Euro verabschiedet, mit dem die Bundeswehr Waffen und Munition kaufen soll.
OT 24 Scholz
Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt. () Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen und Soldaten, die für ihren Einsatz optimal ausgerüstet sind.
Sprecherin:
Die Zerstörung von Mariupol, die Mordtaten russischer Soldaten in Butscha, die Entführung ukrainischer Kinder und Folterung von Zivilisten hatten in großen Teilen der deutschen Gesellschaft ein Umdenken bewirkt. Die Bundeswehr sollte nun schnell mit neuen Waffensystemen ausgestattet werden. Verteidigungsminister Boris Pistorius erklärte das so:
OT 25 Pistorius:
Ein souveränes Land muss in der Lage sein, sich gegen äußere Feinde im Ernstfall zur Wehr zu setzen. () Das Ziel muss es sein, es gar nicht erst zum Ernstfall kommen zu lassen: durch eine effektive Abschreckung. Krieg führen können, um keinen Krieg führen zu müssen. Und das ist kriegstüchtig.
Sprecherin:
Zwar hatte das Parlament das Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen, aber die langfristige Finanzierung der deutschen Streitkräfte war damit nicht gesichert. Offen blieb auch die Frage, welche Ausrüstung die Bundeswehr in Zukunft brauchen würde.
OT 26 Neitzel
Das ist eine große Diskussion in der Bundeswehr: Wie sieht der Krieg der Zukunft aus? Die meisten Experten, die ich kenne, sagen, der Krieg der vierten Dimension mit den Drohnen im Cyberraum, () Ja, wir brauchen Panzer noch, aber wir müssen gleichzeitig auf jedem Panzer die Möglichkeit haben, Drohnen abzuwehren, wir müssen sie stören, sie auch aktiv abschießen, wir brauchen selber Drohnen.
Sprecherin:
Für das veränderte Kriegsszenario der Gegenwart will die Bundeswehr eine vierte Teilstreitkraft schaffen, die sich dem Bereich Cyber- und Informationsraum widmet und hybride Angriffe abwehren soll. Die Truppenstärke soll von 180.000 Soldatinnen und Soldaten auf über 220.000 anwachsen, doch Nachwuchsmangel ist ein notorisches Problem, seit 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt wurde. Es wird sogar die Diskussion um die Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht geführt. Auch Reformen in der Bundeswehrverwaltung, der Abbau von Bürokratie, die die Beschaffung von Waffensystemen verlangsamt und teuer macht, stehen auf der Tagesordnung. Auch von solchen Entscheidungen wird die Zukunft der Bundeswehr abhängen.
Zu Beginn der 90er Jahre taucht scheinbar aus dem Nichts ein Pop-Star auf wie ihn die Welt noch gesehen hat: Innovativ, extravagant, postmodern. Björk aus Island sorgt nicht nur mit intensivem Gesang und futuristischem Look für Aufsehen. Von Markus Mayer
Credits
Autor dieser Folge: Markus MAyer
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Werner Härtl
Technik: Monika Gsaenger, Heiko Hinrichs
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Berit Glanz, Skandinavistin, Autorin, Reykjavik
Literatur:
Gefühlslandschaften: Die Björk-Saga. In: Listen To This: Über Musik. Alex Ross. Übersetzt von Dieter Fuchs. 432 Seiten. Rowohlt 2020. S. 305 – 332.
7. Lektion: Björk. In: 10 Lessons Of My Life – was wirklich zählt. Kent Nagano/ Inge Kloepfer. Piper 2023. S. 129 – 147.
Björk Human Behaviour – Die Story zu jedem Song. Ian Gittins. Übersetzt von Karin Miedler & Cäcilie Plieninger. Rockbuch 2003. 144 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen & Fotos.
Konkrete Popmusik. Zum Einfluss Stockhausens und Schaeffers auf Björk, Matthew Barney und Matmos. Ralf von Appen. In: Gestaltungsmittel populärer Musik. Versuch einer Systematik, in: Samples. Notizen, Projekte und Kurzbeiträge zur Popularmusikforschung, 2, 2003, pp. 18-29. pdf.
Björk: Archives. A World Of Wonders. Mit Texten von Klaus Biesenbach, Alex Ross, Nicola Dibben, Timothy Morton, Sjón. Fast 200 Seiten, 224 Abbildungen in Farbe & Duotone. Schirmer & Mosel 2015.
Björk – Isländische Sängerin, Komponistin und Schauspielerin. Kai Florian Becker. Sieben Seiten. Munzinger Pop-Archiv. 10. Januar 2023.
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MUSIK 1 (Björk: Venus As A Boy 1’01)
Sprecherin
Eine junge Frau mit leicht unordentlichen Haaren, frontal vor der Kamera, ihr Blick schweift in die Ferne. Die ausgestreckten Finger ihrer Hände vor dem Mund, als würde sie beten. Der einfarbige Mohair-Pulli, der Oberkörper und Arme bedeckt, könnte sich weich anfühlen oder aber struppig.
Sprecher
Im Blick der jungen Frau, die ihre unteren Augenlider mit runden, reflektierenden Metallplättchen aus Indien geschmückt hat, liegt Erstaunen und Verblüffung, vielleicht auch Sorge … Als würde die Frau ein kleines Kind beobachten, das gerade etwas Waghalsiges probiert, etwas nicht ganz Ungefährliches.
Sprecherin
Ein Schwarz-Weiß-Porträt von Björk ziert das Cover ihres Albums Debut vom Juli 1993. Das Werk ist nicht nur eines der wichtigsten Popalben des Jahrzehnts, das sofort in die Albumcharts dies- und jenseits des Atlantiks einzieht, es katapultiert die bis dato kaum bekannte Sängerin in die Oberliga des Pop. Post, Telegram und Homogenic - Björks weitere Studio-Alben verhandeln wie schon Debut Fragen und Themen des Digital-Zeitalters wie das Verhältnis von Mensch und Maschine.
Sprecher
Dabei sind die Klänge und Rhythmen, die Björks Gesang begleiten, genauso wichtig wie die Texte, verfasst in manchmal unbeholfenem Englisch. Viele Sounds kommen aus elektronischen Tonerzeugern und wirken kontrolliert, was durch den wilden, ungebändigten Gesang konterkariert wird. Pop auf der Höhe der Zeit.
MUSIK 2 ( Björk: Violently happy 0’40)
Sprecherin
Pop kann alles ausdrücken und ist ähnlich komplex wie die Erzeugnisse der sogenannten Hochkultur, wie E-Musik, Oper oder symphonische Musik. Das verheißt das Gesamtkunstwerk Björk damals.
Sprecher
Ein Versprechen, von dem sich die Künstlerin nach der Jahrhundertwende verabschiedet. Auf späteren Alben arbeitet sie verstärkt mit Chören, mit denen sie fragile Klanggespinste erschafft. Sprecherin
Wer ist diese Künstlerin, die die Popmusik auf ein neues Niveau hebt? Inwiefern reflektiert das Werk der bekanntesten Isländerin die Gesellschaft, aus der sie kommt?
ATMO Reykjavik / Sturm
Sprecher
Geboren wird Björk Gudmunsdottir am 21. November 1965 in Reykjavík, der Hauptstadt Islands. Ihr Vater ist Elektroingenieur und Gewerkschafter, die Mutter, die im Büro gearbeitet hat, eine Frau, die sich als Feministin und Rebellin versteht. Geheiratet haben Björks Eltern kurz vor ihrer Geburt, nach drei Jahren wird die Ehe jedoch wieder geschieden. Man trennt sich allerdings freundschaftlich: Björk wächst teils bei ihrer Mutter, teils beim Vater auf.
Sprecherin
Ihrer Tochter haben die Eltern den Namen Björk gegeben, isländisch für Birke und das, obwohl es so gut wie keine Bäume auf der Insel gibt. Das sei nicht ungewöhnlich, erklärt Berit Glanz. Die Autorin und Skandinavistin lebt seit mehreren Jahren in Reykjavik.
ZSP Berit Glanz – Kein besonderer Name
Björk ist tatsächlich auf Island kein extrem seltener Name. Es gibt hier eine Sprachtradition, wo viele Namen was bedeuten. Also es gibt zum Beispiel Namen wie Wolf oder Adler oder Bär oder Falke. Und in dieser Familie gehört Björk rein. … Es gibt schon viele Namen aus den Sagas, … man findet hier auch so die gesamten Nordischen Götter und Göttinnen sind auch also Freya, Odin, Thor - das sind also alles gewöhnliche Namen, die Leute tragen. Da fällt dann Björk oder Birke eben auch nicht so doll auf.
ATMO Meeresrauschen
Sprecher
An die 200 Tausend Menschen leben in den 80-er Jahren auf Island, der Insel, die nicht nur geographisch am Rande Europas liegt: Lange hatte Dänemark das Sagen, seit 1944 jedoch ist Island eigenständig. Haupteinnahmequellen sind Fischfang, Landwirtschaft und Tourismus. Obwohl man sich europäisch fühlt, sind Verkehr und Kultur doch auch auf Nord-Amerika ausgerichtet.
Sprecherin
Nach der Scheidung zieht Björks Mutter Hildur in eine Wohngemeinschaft. Sie heiratet wieder, ihr neuer Partner spielt E-Gitarre in einer lokalen Rockband. Abends kommen Freunde und Bekannte vorbei, des Öfteren wird Musik gemacht. Björk ist eine begeisterte Zuhörerin dieser nächtlichen Sessions.
Sprecher
Als Kind besucht Björk die Musikschule, sie spielt Blockflöte und singt im Chor. In ihrer Freizeit liest sie Kinderbücher oder hört Radio. Das isländische Fernsehprogramm ist auf magere drei Stunden an sechs Wochentagen begrenzt. Nicht gerade viel, wenn man beginnt, sich für die Welt da draußen zu interessieren …
ATMO Testbild
MUSIK 3 aus dem Radio ( Tina Charles: I Love To Love 0‘25)
Sprecherin
1976 bringt ein Radiosender eine Reportage über die Musikschule Tónmenntaskóli. Die Elfjährige Björk wird aufgenommen, als sie I Love To Love singt, ein Discosong der Britin Tina Charles, damals ein Hit. Eine lokale Plattenfirma bietet daraufhin an, mit dem Mädchen eine Platte zu produzieren.
Sprecher
Für die Aufnahmen bekommt Björk sogar zwei Wochen schulfrei. Das Album, das 1977 erscheint, verkauft sich sieben Tausend Mal, es macht Björk zum Kinderstar. Sie singt Kinderlieder, Stücke aus eigener Feder und Pop-Songs von Stars wie den Beatles, von Stevie Wonder und Melanie.
Sprecherin
In der Musikschule lernt Björk die großen Werke der klassischen Musik kennen. Richtig interessant aber wird es, als ein junger Lehrer an die Schule kommt.
MUSIK 4 ( Stockhausen – Gesang der Jünglinge 0’33)
Er macht die Kinder mit den Werken der klassischen Moderne und der Nachkriegs-Avantgarde bekannt, mit 12-Ton-Musik von Arnold Schönberg und den elektronischen Klängen des Kölner Komponisten Karlheinz Stockhausen.
Sprecher
Björk fühlt sich von der schwierigen, neuen Musik mehr angesprochen also von Zitat - dieser Retro-Nummer, der ständige Beethoven und Bach-Bullshit, Zitat-Ende, wie sie später in einem Interview mit Karlheinz Stockhausen erklärt.
MUSIK 5 ( 108 Teil 1 aus: Arnold Schönberg: Streichtrio, op.45, Trio Zimmermann 0‘33)
Sprecherin
Als der Dirigent Kent Nagano in den 90-er Jahren auf Björk zukommt, um mit ihr Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“ aufzuführen, erzählt sie ihm, dass Schönberg aus dem gesamten klassischen Universum ihr Lieblingskomponist sei.
ZSP Berit Glanz - Musikschule
Es ist … so, dass es in Island wie also eigentlich in ganz Skandinavien eine sehr große Infrastruktur gibt für öffentliche Musikschulen, an die Leute gehen. … Das Grundwissen über klassische Musik ist in Island sehr, sehr groß. Und es gibt … seit einigen Jahrzehnten auch einen Trend zu Neuer Musik, wo man sich dann nämlich tatsächlich auf Avantgarde-Komposition konzentriert, … Dass Björk diese Einflüsse hat, ergibt sich schon auch aus der ganz spezifischen Bildungsstruktur der isländischen Gesellschaft und der großen Offenheit für letztlich auch avantgardistische Formen von Musik, die in dieser Gesellschaft sind.
MUSIK 6 The Slits – Newtown (John Peel BBC Radio I Session 19.9.77) 0’40)
Sprecher
Zunächst interessiert sich Björk für Punk - Musik, die man leicht selbst machen kann. Mit Gleichaltrigen kann man sie jetzt öfters in einem Plattenladen in Reykjavik abhängen sehen. Mit 13 schert sie sich die Haare und rasiert ihre Augenbrauen. Mit Freundinnen gründet sie eine Mädchenband namens Spit and Snot. Die Gruppe schafft es zumindest, einige Male aufzutreten.
Sprecherin
Teenager Björk - Mitglied einer Frauenpunkband? Dass die junge Frau früh dem Feminismus anhängt und auch später Thesen der Women’s Liberation vertritt, ist angesichts der Sozialgeschichte Islands kein Wunder, erklärt Berit Glanz.
ZSP Berit Glanz – Feminismus
Die isländische Gesellschaft ist ja, was Gleichberechtigung betrifft, auf allen Ebenen global ganz weit vorne. Es gab in den 70er-Jahren den ersten großen Frauenstreik in Island, wo wirklich alle Frauen, der ganz große Teil der Frauen die Arbeit niedergelegt hat. Seitdem ist Island, das Land mit dem geringsten Pay Gap, das Land mit der ersten weiblichen Präsidentin. Das bedeutet, dass Björk feministisch ist, ist ziemlich logisch für die isländische Gesellschaft.
MUSIK 7 Björk: Venus As A Boy 0‘22)
Sprecher
Björk wird auch deshalb zum Weltstar, weil sie sich als Feministin positioniert ohne Wenn und Aber. Sie bekennt sich in Lied-Texten zu ihrer Sexualität, formuliert unmissverständlich Lüste und Begierden. Selbst wenn sie futuristische Designer-Outfits trägt, gibt sie sich immer feminin.
Sprecherin
Anders als viele Rock-Musikerinnen, die noch den Kleidungsstil ihrer Kollegen, also Jeans und Lederjacken, übernehmen mussten, trägt Björk auffallend oft Röcke. Frauen, mit denen sie kooperiert, sind weibliche Stars wie Madonna, wie die Songschreiberin PJ Harvey oder Rosalía, die spanische Pop-Sängerin – Figuren, die für Selbstbestimmtheit stehen.
MUSIK 8 Kukl: Gibraltar (Copy thy neighbour) 1’09)
Sprecher
In den 80-er Jahren ist Björk aber erst noch Teil der männerdominierten Punk- und Jazzszene Reykjaviks. Mit der Punkband Kukl nimmt sie zwei Alben auf, die außerhalb Islands Aufsehen erregen. Das radikale Anarcho-Punk-Kollektiv Crass aus England sorgt dafür, dass Kukl eine Tournee durch Westeuropa absolvieren kann.
Sprecherin
Während der 80-er Jahre bleibt Björk noch dem Konzept Rockband treu. Auf Kukl folgen The Sugarcubes, eine Band, die 1986 einen Tag nach der Geburt von Björks erstem Kind gegründet worden sein soll. Der eigenwillige Postpunk der Sugarcubes hat auch in den USA Erfolg, ihre Musik läuft auf College Radio Stationen, die von Studentinnen und Studenten gehört werden.
MUSIK 9 Sugarcubes: F***ing in rhythm & sorrow 0’33)
Sprecher
Ende der 80er Jahre kommt es zur Zeitenwende. In Berlin fällt 1989 die Mauer, der Kalte Krieg ist zu Ende, der Ostblock implodiert. Vom Ende der Geschichte ist die Rede. Die Musik, zu der nun getanzt wird, ist synthetisch, maschinenhaft und laut. Techno feiert im Westen einen Siegeszug ohnegleichen.
MUSIK 10 Björk: One Day 1’05)
Sprecherin
Damit verbunden ist eine gewisse Begeisterung für die Möglichkeiten der digitalen Revolution. Auch wenn PCs, also Heimcomputer noch unförmig aussehen, begrüßt und feiert man die ersten Errungenschaften der Digitalisierung frenetisch.
Sprecher
Diese Technologie verändert auch die Pop-Musik. Billige Aufnahme- und Schnitt-Programme halten Einzug. Für den Rhythmus sorgen statt eines echten Schlagzeugs programmierbare Drum Computer.
Sprecherin
Auch die Elektroingenieurstochter Björk ist angetan von der binären Logik der schönen neuen Medienwelt.
ZSP Berit Glanz - Futurismus
Futurismus auch, weil Island sehr technikaffin ist. … Es ist so, dass eigentlich fast jeder technische Trend hier ganz, ganz begeistert aufgenommen wird. Und auch von der Gesamtbevölkerung. Da passt Björk sehr, sehr logisch rein.
Sprecher
Björk ist Mitte Zwanzig und hat das Aufkommen der elektronischen Dance Music, das während der 80-er Jahre von statten ging, verfolgt. Sie hat auch schon die Fühler ausgestreckt und einige der Protagonisten der neuen Szene kennen gelernt. Sie ist sogar mit ihrem Sohn nach London gezogen.
Sprecherin
Hier stellt ihr neuer Freund den Kontakt her zu einem stilprägenden Produzenten. Mit Nellee Hooper aus Bristol arbeitet sie an ihrem ersten Soloalbum. Beteiligt sind zudem der indisch-stämmige Perkussionist Talvin Singh und eine 80-jährige Harfenspielerin aus Chicago, die Björk bei einer US-Tournee mit den Sugarcubes kennen gelernt hat.
MUSIK 11 Björk: Crying 0’54)
Sprecher
Debut ist ein poly-stilistisches, post-modernes Werk. Es versammelt höchst diverse Stile und exotische Klangfarben, ohne in Weltmusik-Klischees abzurutschen. Es gibt Songs, bei denen sich die Sängerin nur von einem Saxophon-Quartett begleiten lässt. Indische Tabla Trommeln kommen zum Einsatz ebenso wie ein Streich-Orchester, das sonst Bollywood-Soundtracks veredelt.
MUSIK 12 Björk: Come To Me 0’48)
Sprecherin
Der Hunger auf die Welt, wie er sich in den Klangfarben aus aller Herren Länder manifestiert, ist nicht verwunderlich, wenn man aus einem kleinen, abgelegenen Land an der Peripherie kommt, weiß Berit Glanz.
ZSP Berit Glanz – Islands Isolation fördert Hunger auf Welt
Island ist eine super-kleine Gesellschaft. … Island war sehr, sehr lange, sehr isoliert. Man sieht bei ganz vielen isländischen KünstlerInnen diese große Lust darauf, sich globale Einflüsse reinzuholen, die Welt zu entdecken von eben dieser abgeschlossenen, peripheren Position, in der Island sich befindet.
MUSIK 13 Björk: Human Behaviour 0’45)
Sprecher
Eines von Björks Markenzeichen ist ihr leidenschaftlicher Gesang: reine Emotion, so intensiv, wie man es einer zierlichen Person nicht zutraut. Stellenweise klingt sie so, als würde es sie gleich zerreißen. Björks eruptive Vocals wirken verglichen mit den kühlen, immer gleich klingenden Electronica, wie der Anthropologe Claude Lévi-Strauss sagen würde, wie das Rohe und das Gekochte.
Sprecherin
Was Björk weiterhin auszeichnet, sind ihre vielen Gesichter, ihre Wandelbarkeit: Sie ist ein Zeitgeist-Chamäleon! Oft wechselt sie die High-Tech-Garderobe, trägt ungewöhnliche Mode, verändert Frisur, Styling, Schmuck. Dabei stellt sich die im Grunde schüchterne Björk nicht als glamouröse Persönlichkeit dar, sondern scheint mit Masken und Maskierungen nur zu spielen – als wolle sie etwas zeigen, auf etwas hinweisen, aber nicht sich selbst präsentieren.
Sprecher
Berit Glanz kennt derartiges aus Reykjavik.
ZSP Berit Glanz – skandinavische Ästhetik
Island hat eine skandinavisch geprägte visuelle Kultur, und die skandinavische visuelle Kultur ist ja sehr, sehr stark auf Design ausgerichtet. Also das sieht man ganz einfach, wenn man hier in Supermarkt geht. Hier sehen alle Produkte viel, viel besser aus als in Deutschland. Man mag Design hier, und man macht die Dinge schön, und man macht die Dinge interessant. Isländisch oder skandinavische Websites sehen im Vergleich zu deutschen Websites unglaublich viel besser aus. Zum Beispiel. Und dieses Interesse oder dieser Fokus darauf, dass die Dinge gut aussehen, den hat Björk auch. Und gut heißt ja nicht nur schön und glatt, sondern gut heißt ja auch interessant. Und das ist eben bei Björk zum Beispiel an diesen ganzen Musikvideos aus den 90er-Jahren, die ja alle ganz, ganz toll sind und ganz einzigartig. Und jedes Lied hat irgendwie einen anderen Look. ( … )
MUSIK 14 Björk: All Is Full Of Love 1’39)
Sprecherin
Für das Video von All Is Full Of Love arbeitet Björk mit dem renommierten Video-Regisseur Chris Cunningham zusammen. Im Clip sieht man zwei roboterähnliche Wesen kommunizieren in einer aseptischen, laborähnlichen Umgebung, vielleicht spielt das Ganze aber auch in einer Weltraumstation. Die Humanoiden nehmen Kontakt auf, berühren und küssen sich, dringen ineinander ein. Ein Roboter trägt Gesichtszüge, die an Björk erinnern.
Sprecher
Können Computer und Maschinen Gefühle entwickeln? Sind sie menschenähnlich? Das sind die Fragen, die in diesem eleganten Videoclip von 1997 stimmungsvoll verhandelt werden.
MUSIK 15 Björk: Joga 0’41)
Sprecherin
Bei künstlerischen Allianzen geht die Isländerin ungewöhnlich offensiv vor. Mit Star-Regisseuren wie Michel Gondry entwickelt sie Videos, sie kooperiert mit international renommierten Choreographen oder Fotokünstlern und übernimmt eine Hauptrolle in einem Spielfilm des dänischen Regisseurs Lars von Trier.
Sprecher
Angst vor großen Namen der Kunstwelt hat diese Künstlerin also nicht. Mögen sich andere Popstars auf Musik und Film beschränken, Björk will mehr, vor Intermedialität schreckt sie nicht zurück.
ZSP Berit Glanz – die intermediale Künstlerin
… Wenn man in einer kleinen Gesellschaft lebt, dann hat man eben nicht 30 Musiker, mit denen man zusammenarbeiten kann, sondern man muss kucken, wo man was findet. Und dann arbeiten eben Musiker mit Autoren. Dann arbeiten Musiker mit Filmemachern und so weiter. Also, es gibt dieses ganz, ganz starke intermediale Arbeiten hier. Was … mit der Größe der Gesellschaft zu tun hat und … Dass sich das bei Björk so zeigt, ist eben ganz typisch für dieses Intermediale in Island und eben auch für die Bereitschaft, sich ständig mit anderen Leuten zusammenzutun. …
MUSIK 16 Björk: Cocoon 0’44)
Sprecher
Das Album Vespertine, das 2001 erscheint, markiert einen Wendepunkt in Björks Schaffen. Die Musik wirkt ruhiger, die Sängerin arbeitet mit einem Inuit-Chor und einem Kammerorchester. Die Texte des Albums stammen teilweise aus der Feder des amerikanischen Lyrikers E. E. Cummings. Vespertine bedeutet abendlich, sich nach Sonnenuntergang erholend, in sich gekehrt sein.
Sprecherin
Die Titel der Alben, die auf Vespertine folgen - Medúlla, Volta, Biophilia, Vulnicura, Utopia oder Fossora – enden mit dem Vokal a. Björk scheint sich bei diesen Produktionen auf‘s Wesentliche, auf’s Existenzielle zu konzentrieren. Furchtlos und ohne Angst vor unkommerziellen Klängen erkundet sie nun überzeitliche Prozesse.
MUSIK 17 Björk – An Echo, A Stain 0’55)
Sprecher
Bei Vespertine stehen die (abstrakten) Gesangslinien im Vordergrund, die Stücke sind nicht vollgestopft, es gibt Leerstellen zwischen den Tönen - Raum für eigene Gedanken. Gleichwohl hält Björk an dem Prinzip fest, mit unterschiedlichen Produzenten zu arbeiten.
ZSP Berit Glanz – Freundschaft als Thema
Es ist auf jeden Fall so, dass man bei Björk sehen kann, dass es einige Freundschaften gibt und auch Freundschaften mit anderen Künstlern, die sich dann durch das ganze Werk durchziehen. Wie wichtig Freundschaft für Björk ist, sieht man ja zum Beispiel in diesem fantastischen Video Jogá, das ja geschrieben worden ist für ihre beste Freundin. Das ist für Björk ganz offensichtlich ein großes Thema, mit anderen Leuten zu kooperieren. Und sie hat ja auch ein Händchen, junge KünstlerInnen zu finden, die halt dann wirklich was ganz Interessantes machen. Und dann mit denen sozusagen die nächsten Schritte zu gehen.
Sprecherin
Längst ist Björk zur Vorzeigekünstlerin, zum Aushängeschild geworden. Nach der schmerzlichen Trennung von ihrem Ehemann, dem US-Künstler Matthew Barney ist sie zurückgekehrt nach Island. Jetzt lebt sie wieder in Reykjavik und leiht sich wie ihre Mitbürger in der kommunalen Bibliothek Sachbücher aus über Pilze und Myzele etwa. Manche der Gedanken, auf die sie bei der Lektüre stößt, inspirieren sie zu neuen Stücke.
Sprecher
Björk, isländisch für Birke, repräsentiert wie keine andere Künstlerin das moderne Island, eine Insel, auf der einst viele Birken standen. Die Menschen haben sie abgeholzt, um Essen zuzubereiten und um der Kälte zu trotzen. Heute ist das verwunschene, baumlose Eiland, das unzählige Vulkane und heiße Quellen beherbergt, ein beliebtes Reise-Ziel.
MUSIK 18 Björk: Hidden Place 0’25)
Sprecherin
Der spröde Charme der archaischen Landschaften Islands findet sich auch in Björks elektronisch geprägter Musik. Die Sängerin hat erstmals die Tür aufgestoßen für die künstlerischen Talente ihrer Heimat. Heute ist es kein Makel mehr, von der abgeschiedenen Insel im Nordatlantik zu kommen. Im Gegenteil. Musiker wie Ólafur Arnalds oder die Postrockband Sigur Ros stehen für ambitionierte Klangkreationen …
MUSIK 19 Björk – An Echo, A Stain 0’30)
Sprecher
Seit Björk ist klar, dass aus Island anspruchsvolle Künstlerinnen kommen – Menschen, die fähig sind, künstlerisch außergewöhnliches zu schaffen - Musik, in der sich alte und höchst moderne Klänge, Vergangenheit und Zukunft begegnen.
Was bringt Menschen dazu, im Notfall einzugreifen, statt nur zuzuschauen? Dies hängt laut Forschern nicht nur von Persönlichkeitsmerkmalen der handelnden Person, sondern auch von gruppendynamischen Prozessen ab. Von Lukas Grasberger (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Johannes Hitelberger, Gudrun Skupin
Technik: Christine Frey
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Georg Baur, Helfer bei Angriff in Berliner U-Bahn aus Hürnheim (Schwaben)
Prof. Wolf Dombrowsky, Katastrophen-Soziologe, Steinbeis-Hochschule, Berlin
Peggy Mason, Neurobiologin, University of Chicago
Prof. Andreas Kastenmüller, Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftspsychologie an der Universität Siegen
em. Prof Dieter Frey, Lehrstuhl für Sozialpsychologie am Department für Psychologie der LMU München
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Die Geschichte des Aral-Sees ist die Geschichte einer von Menschen verursachten Umweltkatastrophe - einst eines der größten Binnengewässer der Erde, verwandelte sich der See in eine Wüste. Aber es gibt Hoffnung. Von Christine Hamel (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Christine Hamel
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Andreas Neumann, Stefan Merki
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Nicole Ruchlak
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Norden ist da, wo der Süden nicht ist. So einfach könnte es sein; doch was "der Norden" ist, hat sich die Menschheit im Laufe von Jahrtausenden zusammengereimt und -erfunden. So entstand mit viel Fantasie ein bunter Strauß von Klischees, die unserem Nord-Bild bis heute anhaften. Von Christiane Neukirch (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Irina Wanka, Christopher Mann, Sven Hussock
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
Literatur:
Bernd Brunner: Die Erfindung des Nordens – Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung. Galiani Berlin 2019
Bernd Henningsen: Der Norden: Eine Erfindung – Das europäische Projekt einer regionalen Identität
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Nostalgische Gefühle verklären vergangene Ereignisse und Zustände. Bei aller Wehmut verbessern sie deshalb die Stimmung und können über aktuelle Notlagen hinwegtrösten. So birgt die gute, alte Zeit auch ein zukunftsweisendes Potential - bei aller Gefahr, die im rückwärtsgewandten Denken liegt. Von Justina Schreiber (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Franziska Ball
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Kitsch oder Kult? Kolportage oder Kunst? Wie auch immer: Giacomo Puccinis "La Boheme", "Tosca" und "Turandot" ziehen bis heute die Menschen in die Opernhäuser der Welt. Puccini war Weltstar, Schwermütiger, Auto- und Techniknarr, eine vielseitige, oft widersprüchliche, immer aber faszinierende Figur. Von Christian Schuler
Credits
Autor dieser Folge: Christian Schuler
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Hemma Michl, Jerzy May, Florian Schwarz
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Karin Becker
Im Interview:
Jörg handstein, Autor und Kritiker
Volkmar Fischer, Musikjournalist (BR Klassik)
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Literatur:
Richard Erkens (Hg.): Puccini-Handbuch, Gemeinschaftsausgabe der Verlage Metzler, Stuttgart, und Bärenreiter, Kassel, © Springer-Verlag GmbH, Stuttgart 2017.
Giuseppe Adami (Hg.): Puccini. Ein Musikerleben, mit 240 eigenen Briefen, Berlin o.J. (vermutlich 1930er Jahre).
Clemens Höslinger: Puccini. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1984.
Dieter Schickling: Puccini. Biographie. München 2017.
Arthur M. Abell: Gespräche mit berühmten Musikern, Artha Buchdienst, Oy-Mittelberg, 1973.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZSP 1 Fischer
Es ist einfach so, dass Puccini mit bestimmten Tricks arbeitet. Und da würde ich vor allem die Oktavierung der Gesangslinie nennen. Das heißt eine bestimmte Melodie, die gesungen wird, wird gleichzeitig im Orchester aufgegriffen und eben in Oktaven, in Oktavparallelen verstärkt.
Musik hoch
(Forts. ZSP 1 Fischer) Und man kann einfach sagen, dadurch wird das Gefühlspedal voll durchgetreten in einer Form, wie es das bisher nicht gab in der Operngeschichte.
Sprecherin
Sagt ein Kenner und Liebhaber von Giacomo Puccini, der Journalist Volkmar Fischer. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem italienischen Komponisten, seinen Stilmitteln, seinen Kniffen – und ist dennoch immer wieder hingerissen.
ZSP 2 Fischer
Ja, man ist da eigentlich klüger als die Musik. Vielleicht liegt es daran, dass er halt im ganzen einen Tonfall ... kreiert, der am gesprochenen Wort angelehnt ist ... Er hat seine Librettisten da schon haben wollen, dass das dann praktisch so wirkt, als würden die sich mehr oder weniger ganz normal unterhalten, diese Leute. Und vor diesem Hintergrund ..., mit der die Boheme zum Beispiel losgeht, eine halbe Stunde lang, wirkt es umso stärker, wenn dann eben (auf das Gefühlspedal getreten wird, indem) sich Melodien plötzlich groß ausbreiten und das Orchester sich drauf setzt ... man erliegt dem, selbst wenn man durchschaut, wie es konstruiert ist.
Sprecherin
Genau aus diesem Grund hat Igor Strawinsky Puccini als ein „Genie der Sentimentalität“ bezeichnet.
Musik 2: Nessun dorma! 53 Sek
ZSP 3 Fischer
Und selbst ein Anton Webern, der atonal komponierte, zwölftönig, der hat gesagt: Nein, Puccini, das ist kein Kitsch. Das ist höchste Kunst, wie er den Bogen spannt, von ungeheuer zarten Farben bis zu exzessiven Eruptionen, immer bezogen auf, sagen wir mal: Liebesschmerz. Es ist für ihn ganz zentral, dass Liebe mit Schmerz verbunden ist und auch mit Tod. Und da ist er eigentlich Extremist. Also ich wüsste nicht, wer das sonst so bis zum Geht-nicht-mehr ausgelotet hätte.
Musikwechsel in Musik 3: „End titles“ – 54 sek
Sprecherin
An dieser „genialen Sentimentalität“ scheiden sich die Geister. Und daran schieden sie sich schon zu Puccinis Lebzeiten.
Zitator 2
„Eine vergängliche Kunst, wie schlechter Journalismus, wie minderwertige Literatur.“
Sprecherin
So der Schriftsteller Fausto Torrefranca im Jahr 1912. Und der Kritiker der Turiner Zeitung „Stampa“ schrieb nach der Uraufführung der Oper „La Bohème“:
Zitator 2
„So wie die Bohème keinen tiefen Eindruck auf das Gemüt der Zuhörer hinterlässt, so wird sie auch keine große Spur in der Geschichte unseres Operntheaters hinterlassen, und es wird gut sein, wenn sie der Autor wie den Irrtum eines Augenblicks betrachtet ...“
Musik 4: Sì, mi chiamano Mimì. Arie der Mimì – 55 sek
Sprecherin
Ausgerechnet „La Bohéme“, eines der meistaufgeführten Werke der Operngeschichte. Überhaupt die Kritiker, die sogenannten Fachleute, sie wurden regelrecht überrollt von der Wucht dieser Musik und ihres Erfolgs. Dass Puccinis Opern gelegentlich zur Rührseligkeit neigen, zum Seichten und Süßlichen, bestreiten nicht einmal seine glühendsten Anhänger. Aber könnte etwas, was künstlerisch wertlos ist, so dauerhaft und langlebig sein? Können die Millionen von Opernfans irren, die bis heute die Säle füllen, wenn „La Bohème“, „Tosca“ oder „Madama Butterfly“ gespielt werden? Der Puccini-Biograph Dieter Schickling:
Zitator 2
„Puccini hat nie behauptet, dass er ein bedeutender Komponist sei. Er sagte stattdessen wieder und wieder, er wolle nur, dass seine Werke dem Publikum gefallen. Beides ist bekanntlich nicht das gleiche. Bei Puccini denkt man manchmal, hier sei das der Fall.“ (Schickling)
Musik5 : Puccini auf der Orgel: – 35 Sek
Sprecherin
Giacomo Puccini stammte aus einer Musikerfamilie und war eigentlich Giacomo der Zweite. Seine Ahnenreihe lässt sich vier Generationen zurückverfolgen, bis zu Giacomo dem Ersten, der aus einem toskanischen Bergdorf stammte und sich später in Lucca niederließ. Die Puccinis prägten als Organisten, Komponisten, Kapellmeister und Musiklehrer das musikalische Leben dieser kleinen, aber stolzen Stadt, die musikalisch einiges zu bieten hatte.
ZSP 4 Handstein
Er sollte ja wirklich in die Fußstapfen seines Vaters treten, als Organist und Kapellmeister und hat sehr früh angefangen an der Orgel. Ich glaube, mit fünf oder sechs Jahren hat ihn der Vater schon an die Orgel gesetzt ... Und er hat gelernt, wie man halt das Handwerk lernt, also Orgelspiel, Choräle später dirigieren. In Lucca gab es eine sehr gute Musikschule, fast eine Art Konservatorium, und da hat er auch das volle Programm gelernt. Und er war eigentlich dann auch fit für die Kirchenmusik ... Aber in Lucca gab es auch eine Oper, ein Opernhaus sogar, und da hat ihn einfach auch ja das Bühnengeschehen angefixt und die Geschichten, die dort erzählt wurden...
Sprecherin
Der Musikschriftsteller Jörg Handstein.
Das Maß aller Dinge in Sachen Oper war zur Zeit von Puccinis Jugend Giuseppe Verdi. Puccini wurde auf Verdi durch seinen Lehrer am Konservatorium in Lucca aufmerksam gemacht und studierte als junger Mann angeblich fleißig die Partituren von „La Traviata“, „Rigoletto“ und „Il Trovatore“. Dann kam das Frühjahr 1876.
Musik 6: Verdis „Aida“, Triumphmarsch, ab 0:23 – 26 Sekunden
Sprecherin
In Pisa, hieß es, werde „Aida“ gegeben. Der 17-jährige Puccini machte sich auf den Weg, zu Fuß. Gut vier Stunden braucht man von Lucca nach Pisa. Der Eindruck, den Aida auf Puccini machte, scheint überwältigend gewesen zu sein.
Zitator 1
„Es war, als ob sich mir die musikalische Pforte eröffnet hätte.“
(Zitat kommt bei Höslinger vor, als Quelle gibt er das Buch von Torrefranca von 1912 an)
Sprecherin
Und spätestens seit diesem Abend soll er sich über seine Bestimmung im Klaren gewesen sein: er wollte Opernkomponist werden. Oder in den Worten des über 60-Jährigen an seinen Librettisten Giuseppe Adami:
Zitator 1
„Ich kam vor langer Zeit auf die Welt, vor gar zu langer Zeit, es mag ein Jahrhundert her sein ... und Gott berührte mich mit dem kleinen Finger und sprach: ‚Schreibe fürs Theater; hüte dich: nur fürs Theater‘ – und ich habe den höchsten Rat befolgt.“ (zitiert nach Adami)
Musik 7: 2. Aufzug aus Parsifal – 47 Sekunden
Sprecherin
Auch wenn schon bald nicht mehr Verdi sein Idol war, sondern Richard Wagner. Er galt dem jungen Studenten als Inbegriff musikalischer Modernität. Wagner stand für die Überwindung des Belcanto und der alten Nummernoper, ihrer formalen Enge, ihrer inhaltlichen Klischees. Eine von Puccinis ersten Anschaffungen nach dem Wechsel ans Konservatorium von Mailand soll eine Partitur von Wagners Oper „Parsifal“ gewesen sein, die er sich im wahrsten Sinne vom Mund abgespart hatte.
ZSP 5 Handstein
Die Familie ist ja verarmt, weil sein Vater sehr früh gestorben ist. Und es war eine große Familie mit fünf bis sieben Kindern. Und die Mutter konnte die Familie schon kaum durchbringen, und das Studium hätte sie niemals bezahlen können. Und er hat es eigentlich nur geschafft, weil er von der Königin höchstpersönlich ein Stipendium bekommen hat. Und das ist aber nach einem Jahr ausgelaufen, und er musste wirklich von der Hand in den Mund leben.
Sprecherin
Armut, Kälte, Krankheit, all das, was später die studentische Szenerie in La Bohème kennzeichnet, hat Puccini in Mailand selbst erlebt, wie er in einem Interview bekannte.
Musik 8: „Introduction aus: La Bohème“- 26 Sekunden
Zitator 1
„Wenn Sie den Vorhang zum ersten Akt von La Boheme aufgehen sehen, erleben sie den armen Musikstudenten Giacomo Puccini ... Ich ernährte mich von Brot, Bohnen und Heringen und fror manchmal so sehr, dass ich tatsächlich wie Rodolfo in der Oper die Manuskripte meiner ersten Kompositionsversuche verbrannte, um mich zu wärmen ...“ (Interview ist von 1904, abgedruckt in einem Buch von 1973, 2. Auflage)
Sprecherin
Auch mit dem Abschluss seines Studiums in Mailand besserte sich seine Situation erst einmal nicht. Er arbeitete an seiner ersten Oper „Le Villi“ und bewarb sich mit ihr bei einem Preisausschreiben. Er gewann zwar keinen Preis, erregte aber die Aufmerksamkeit des einflussreichen Musikverlegers Giulio Ricordi. Ricordi wurde in der Folgezeit für Puccini so etwas wie ein väterlicher Freund, der ihn nach Kräften förderte. Ricordi finanzierte ihm eine Reise zu den Bayreuther Festspielen, zahlte Vorschüsse, schlug geeignete Opernstoffe vor, vermittelte Librettisten.
Auch mit Ricordis Hilfe wurde Puccinis erste Oper ein beachtlicher Erfolg, der von der Presse überschwänglich bejubelt wurde:
Zitator 2
„Wir glauben fest, dass Puccini jener Komponist ist, den Italien seit langer Zeit erwartet.“
Musik 9: 1. Akt, „Manon Lescaut“ (instr.), Archivnummer M0040311 101 - 34 Sekunden
Sprecherin
Und Puccini enttäuschte seine Landsleute nicht. Die Oper „Manon Lescaut“, uraufgeführt 1893 in Turin, verhalf ihm endgültig zum Durchbruch: das Publikum reagierte enthusiastisch, 30 Vorhänge, überwiegend positive Kritiken. Noch im selben Jahr wurde die Oper in Buenos Aires, St. Petersburg, Madrid und Hamburg gespielt. Sie brachte auch finanziell die Wende für den Komponisten.
ZSP 6 Handstein
Er hat an dieser Oper schon sehr lange gearbeitet ... Und über all diese Jahre war er noch ebenso arm wie zuvor, bloß dass er jetzt auch noch eine Familie am Hals hatte, nämlich seine Lebensgefährtin Elvira, die ja noch die Ehefrau eines anderen Mannes war, die ein Kind aus der anderen Ehe mitgebracht hat. Und Puccini hat in der Zwischenzeit selber mit ihr noch ein Kind gehabt. Das heißt, es war eine vierköpfige Familie, die irgendwie leben musste. ... Und dann ging auf einmal die Oper durch die Decke, und er hat unfassbar viel verdient. Er selbst hat von 40.000 Lire gesprochen.
Sprecherin
Zwar musste Puccini Vorschüsse und Schulden zurückzahlen, aber die Zeit der Entbehrungen war zu Ende.
ZSP 7 Handstein
Er konnte sich erstmals was kaufen, was nicht unbedingt zum Leben nötig war. Und eine der ersten Sachen, die er gemacht hat, ist, dass er sich ein Fahrrad gekauft hat, was damals noch ein sehr exklusives Vergnügen war.
ATMOS italienische Landschaft, Seeufer
Sprecherin
Schon zwei Jahre zuvor war er in einen abgelegenen Ort am Lago di Massaciucolli übergesiedelt, nach Torre del Lago, wo er mit seiner Familie zunächst zur Miete wohnte. Einige Jahre später, nach dem Erfolg von „La Bohème“, wird er sich dort ein Seegrundstück zulegen und eine Villa bauen, die heute ein Museum und nationales Kulturerbe ist.
Zitator 1
„Torre del Lago – höchste Freude, Paradies, Eden, siebter Himmel ... 120 Einwohner, 12 Häuser, stilles Land, mit der wunderbaren Macchia bis zum Meer ... Hier habe ich die Abgeschiedenheit gefunden, die für mich unbedingt notwendig ist, um zu komponieren.“ (Zitiert nach Adami)
Sprecherin
In Torre del Lago, das für 30 Jahre seine Heimat wird, entstanden die meisten von Puccinis Opern: „La Fanciulla del West“, die drei Kurzopern von „Il Trittico“, zuletzt auch noch Skizzen zur unvollendeten „Turandot“. Vor allem aber - bis 1904 - die drei Opern, die bis heute seinen Weltruhm begründen: „La Bohème“, „Tosca“ und „Madama Butterfly“.
Musik 10: Avanti urania – 1:12 Minuten
In Torre del Lago änderte sich auch sein Lebensstil. Er ging zur Jagd, fuhr mit einem seiner Boote auf den See, um zu fischen, machte Ausflüge mit dem Auto und veranstaltete Gelage mit den Einheimischen, bei denen getrunken, geraucht und Karten gespielt wurde, sehr zum Leidwesen seiner Frau Elvira, die in Torre del Lago einsam und unglücklich gewesen sein soll und sich lieber in Mailand aufhielt. Puccini und Elvira, eine leidenschaftliche und – nicht zuletzt durch Puccinis zahlreiche Affären - schwierige, krisengeschüttelte Liebe, die aber bis zu Puccinis Tod hielt.
Komponiert hat er in Torre de Lago vor allem am Abend und in der Nacht, wie sein Librettist Giuseppe Adami schreibt:
Zitator 2
„Nachmittags setzte er sich ans Klavier, bis elf Uhr abends, auch bis 2 Uhr nachts, trank riesige Mengen Kaffee und rauchte eine ungeheure Anzahl von Zigarren und Zigaretten. Mit seinem großen Bleistift schrieb er noch bis zum Morgengrauen ...“ (Zitiert nach Adami)
ZSP 8 Handstein
Also er hat äußerst sorgfältig gearbeitet und damit auch sehr langsam.
Also er hat sich wirklich reingelebt. Und er hat auch gesagt, er kann keine Oper schreiben, wenn er sie nicht mitempfindet. Und es ging so weit, dass er sich sozusagen in seine Frauengestalten verliebt hat ... Am meisten geliebt hat er die Madame Butterfly. Das hat er gesagt.
Musik 11: Madama Butterfly: Un bel di vedremo, 40 Sek
Sprecherin
„Madama Butterfly“, die tragische Liebesgeschichte der Geisha Cio-Cio-San und des amerikanischen Marineoffiziers Pinkerton, spielt in Japan, „La Bohème“ in Paris, „La Fanciulla del West“ im Goldgräbermilieu der Vereinigten Staaten, „Turandot“ greift ein chinesisches Sujet auf. Es sind Geschichten aus unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Kulturen, die Puccini vertont. Und für jede Oper vertieft er sich in die Klangwelt der jeweiligen Länder und Erdteile, in denen die Handlung angesiedelt ist, um seinen Opern das entsprechende Kolorit zu geben.
Musik 12: Butterfly mit japanischem Kolorit: Coro a bocca chiusa, - 1:10 Minuten
Zitator 1
„Ich habe jetzt Besuch gehabt von Frau Ohyama, der Frau des japanischen Gesandten. Sie hat mir viele interessante Dinge gesagt und mir Lieder aus ihrer Heimat vorgesungen, Sie versprach mir, Noten von der Musik ihres Heimatlandes schicken zu lassen.“ (Zitiert nach Adami)
ZSP 9 Fischer
Es ist natürlich ein Einfühlungsvermögen, das ihn ausgezeichnet hat, je nach Sujet, je nach Figurenkonstellation. Und er hat da, glaube ich, auch Ambitionen gehabt, dass ihm keiner nachsagt: Der hat ja immer nur die gleiche Oper geschrieben ... Aber für Puccini gilt es nun wirklich, dass er sich chamäleonartig angepasst hat, je nachdem, was nötig war. Während das aber vor allem für das Orchester gilt, für die Orchester-Handhabung, und nicht so sehr für die Führung der Gesangsstimmen. Ich finde schon, es gibt einen typischen Stil, der Puccini eigen ist, wie er Stimmen führt und wie er sie praktisch aus diesem dem Alltag Angenäherten herausführt und emotional praktisch explodieren lässt. Und das ist zweifellos eine ganz persönliche Handschrift, wie Puccini-Gesang funktioniert, und das ist auch unabhängig vom Schauplatz und unabhängig von seinem Reifestadium. Das hat er ziemlich von Anfang an gehabt.
Musik 13 aus Tosca: Vissi d’arte, 47 Sekunden
Sprecherin
Von Puccini wird gesagt, er habe wenig „höhere Interessen“ gehabt. Gelesen habe er nur Groschenhefte und Abenteuerromane. Kommt daher sein Hang zu zweit- und drittklassigen Vorlagen? Der Journalist Volkmar Fischer sieht in Puccini in dieser Hinsicht eher einen Instinktmenschen.
ZSP 10 Fischer
(B)ei Puccini ist es eindeutig so, dass kein Stück, kein Roman, das Vorlage gewesen ist, so überzeugend ist wie das, was Puccini daraus gemacht hat mit Tönen und Klängen ... Ich glaube, Puccini hatte den Instinkt zu erkennen, wo er einem bestimmten Stück oder auch einem Roman etwas geben kann als Musiker, als Komponist, das praktisch über das hinausgeht, was dort steht ...
Sprecherin
Beispiel: „Tosca“. Eine Oper, in der es um politische Ideale und polizeistaatliche Willkür geht, verkörpert durch die männlichen Hauptfiguren, den Maler Cavaradossi und den Polizeichef Scarpia. Im Zentrum des Dramas steht Tosca, geliebt von Cavaradossi, begehrt von Scarpia, der von ihr sexuelle Unterwerfung verlangt als Preis für die Freilassung ihres Geliebten. Es sind rasante zwei Stunden Oper, in denen geschmachtet, gefoltert und gemordet wird. Ein wüster Reigen menschlicher Abscheulichkeiten, den keine der Hauptfiguren überlebt. Der Oper liegt der Roman eines gewissen Victorien Sardou zugrunde, der ohne Puccinis Oper vermutlich längst vergessen wäre.
ZSP 11 Fischer
Aber die „Tosca“ ist eine der meistgespielten Opern überhaupt, weil er da einfach verstanden hat, eben durch das, was er hinzufügt mit seinen Klangströmen eine Spannung zu erzeugen, die vorher (im Libretto oder) im Stück, was dem Libretto zugrunde liegt, nicht drin gewesen ist. Also es ist überhaupt keine Frage: „Tosca“ ist einer der stärksten Reißer der Operngeschichte, ... es ist ein Wurf, und es hat es auch verdient, dass es immer wieder gespielt wird, einfach weil man das noch jetzt, mit der heutigen Metoo-Debatte in Verbindung bringen will. Also eine Figur wie Scarpia heizt diese Debatten natürlich jederzeit an. Es ist einfach ein Inbegriff von übergriffiger toxischer Männlichkeit und das hat etwas absolut Zeitloses.
Sprecherin
Eine Interpretation, die Puccini selbst vermutlich zu weit gegangen wäre. Eine politische Botschaft hat er jedenfalls nie intendiert mit seiner Kunst. Entstehung und Uraufführung von „Tosca“ fielen in eine Zeit schwerer innenpolitischer Krisen. Auf den Straßen italienischer Städte gab es Unruhen und Ausschreitungen der extremen politischen Linken, die blutig niedergeschlagen wurden. Das Publikum im Teatro Costanzi wurde am Abend der Uraufführung sogar kurz von einer Bombendrohung in Atem gehalten. Und im Saal saß König Umberto, der wenig später einem Attentat zum Opfer fiel. Hat Puccini mit „Tosca“ also ein politisches Drama geschrieben?
ZSP 12 Handstein
Also es gibt kaum Zeugnisse, die von seinen politischen Ansichten künden. Er hat ja ungeheuer viele Briefe geschrieben, aber da steht wirklich nichts davon drin. Er konnte sich seitenweise über das Zubehör eines Fahrrades auslassen und über seine Jagderlebnisse erzählen. Aber es gibt wirklich kaum politische Statements. Eins gibt es aus dieser Zeit, wo er gesagt hat, wenn er jetzt dran wäre, dann würde er sofort den ganzen Parlamentarismus abschaffen, weil das sind sowieso bloß Geschwätzfabrikanten. Und an einer anderen Stelle gibt es noch die Äußerungen, die danach zielt, dass er eigentlich am liebsten einen starken Mann hätte, der autoritär regiert.
Musik 14: Storiella d’amore – 30 Sek
Sprecherin
Im 1. Weltkrieg lehnte er es ab, einen gegen Deutschland gerichteten Aufruf von Künstlern zu unterschreiben, was ihm heftige Kritik vor allem aus Frankreich eintrug. Zugleich war ist ihm jeglicher nationaler Überschwang fremd. An seine Freundin Sybil Seligman in London schrieb er:
Zitator 1
„Ich verabscheue den Krieg – ich liebe meine Heimat.“ (Zitiert nach Höslinger)
ZSP 14 Handstein
Ich glaube, das Einzige, was ihn wirklich interessiert hat, war sein Werk ... Und er hat alles diesen Werken untergeordnet. ((Also das war sein Leben, und es hat ihn interessiert, diese Werke auf die Bühne bringen zu können, was ja auch nur unter bestimmten politischen Verhältnissen geht.)) Also der Erste Weltkrieg hat da ja einige Dinge unterbunden, und deswegen war er, glaube ich, auch sehr massiv gegen den Krieg, weil er nicht mehr so international agieren konnte wie vorher.
Musik 15 aus Turandot, Gesang der Liu: Tu che di gel sei cinta, Länge: 1:33 Minuten
Sprecherin
Nach dem Krieg lebte Puccini noch einmal auf. Er unternahm viele Reisen, besuchte Festivals und Opernhäuser, beschäftigte sich mit der Musik seiner Zeit, mit Strauss, Schönberg, Strawinsky. Er kaufte sich eine neue Lancia-Limousine, begeisterte sich für das Radio und zog noch einmal um. Da in Torre del Lago ein Industriezentrum entstand, ließ er sich im nahen Viareggio eine neue Villa bauen. Und er arbeitete fieberhaft an seiner nächsten Oper, Turandot, die zugleich seine letzte werden sollte und Fragment blieb. Kurz vor der Vollendung der Oper, kurz vor dem großen Schlussduett, starb Puccini an den Folgen einer Kehlkopfoperation.
Die Oper bricht dort ab, wo die Sklavin Liu sich erdolcht, um nicht unter Folter den Namen ihres Geliebten preisgeben zu müssen. An dieser Stelle ließ der Dirigent Arturo Toscanini die Uraufführung 1926 in Mailand enden.
Musik kurz hoch
Puccinis Librettist Giuseppe Adami.
Zitator 2
„Das Schicksal hat bestimmt, dass Puccini die Augen zugleich mit seiner letzten Kreatur schließen sollte, mit der kleinen Liu; mit einem Gesang, der schüchtern und rührend, voller Zärtlichkeit in Güte und Poesie ausklang.“
Henry Kissinger ist umjubelt und umstritten wie kaum ein anderer Politiker des 20. Jahrhunderts. 1923 in Fürth geboren, als Jude 1938 in die USA emigriert, wurde er unter Richard Nixon 1969 erst Nationaler Sicherheitsberater und später Außenminister der USA. Von Florian Kummert (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Andreas Neumann
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Interviewpartner/innen:
Prof. Bernd Greiner, Autor von „Henry Kissinger – Wächter des Imperiums“
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Literaturtipps:
Bernd Greiner: Henry Kissinger – Wächter des Imperiums, 2020. C.H. Beck-Verlag.
Niall Ferguson: Kissinger: der Idealist – 1923-1968, 2016. Propyläen Verlag.
Henry Kissinger: Staatskunst: Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert, 2022. C. Bertelsmann Verlag.
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Nur selten sind große Staatsmänner und große Kriegsherren auch große Schriftsteller. Winston Churchill vereine alle Talente, befand die Schwedische Akademie und verlieh ihm 1953 den Literatur-Nobelpreis. Von Dorit Kreissl (BR 2016)
Credits
Autorin dieser Folge: Dorit Kreissl
Regie: Dorit Kreissl
Es sprachen: Oliver Nägele, Rahel Comtesse, Frank Manhold
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Petra Herrmann-Böck
Literatur:
Winston S. Churchill: "Meine frühen Jahre" (für den Kreis der Nobelpreisfreunde bestimmt - Nr. 48), Paul List Verlag München, Übersetzer: Dagobert von Mikusch
Winston Churchill: "Reden in Zeiten des Kriegs", Aus dem Englischen von Walther Weibel, Europa-Verlag Hamburg 2002
Sebastian Haffner: "Churchill - Eine Biographie" - 2001 Kindler Verlag, Berlin
Peter Alter: "Winston Churchill" - Kohlhammer Verlag 2006 Stuttgart
Winston S. Churchill: "Der zweite Weltkrieg" - Erster Band: Der Sturm zieht auf, Alfred Scherz Verlag Bern 1948 - Übersetzer: I. Muehlon
Winston S. Churchill „Der zweite Weltkrieg“ – Zweiter Band „Englands größte Stunde“, Alfred Scherz Verlag Bern 1949, Übersetzer: N.O. Scarpi, Ben o. Stempell und w. Keller (Churchill Memoiren II/Allein)
Winston S. Churchill: „Die Weltkrise 1911-1918, Band 1, Deutsch von Franz Fein, Verlag Amstutz, Herdeg & Co. Zürich 1947
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Der Glaube an Elfen scheint uralt und doch immer noch lebendig, zumindest in Island. Die Wahrnehmung dieser magischen Wesen hat sich über die Jahrhunderte jedoch stark verändert, v.a. im Zuge der Christianisierung. Und so wurden aus Göttern Hexen. Von Silke Wolfrum (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Katja Bürkle, Florian Schwarz
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Susanne Dinkl, Lehrstuhl für europäische Ethnologie/Volkskunde, Julius-Maximilians-Universität Würzburg;
Terry Gunnel, Fakultät für Soziologie, Anthropologie und Volkskunde, Universität Island
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Literaturtipps:
J.M. Bedell (2007): Hildur, Queen of the Elves and Other Icelandic Legens retold by J.M. Bedell, introduced and translated by Terry Gunnell. Interlink Books
Susanne Dinkl (2017): Untote, Riesen, Zwerge und Elfen. Zur Konstruktion populären (Aber)Glaubens seit dem frühen Mittelalter. Königshausen & Neumann
Terry Gunnell (2000): How Elvish were the Álfar? In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung, 41. Band. Walter de Gruyter
Valdimir Tryggvi Hafstein (2000): The Elves’ Point of View. Cultural Identity in Contemporary Icelandic Elf-Tradition. In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 41. Band. Walter de Gruyter
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Was man unter "Pünktlichkeit" versteht und welche Bedeutung sie hat, ist stark geprägt von der jeweiligen Kultur und Geschichte einer Region. Dabei spielt die Entwicklung der Industrialisierung eine wichtige Rolle, die nicht zufällig einhergeht mit einer immer genaueren Messung der Zeit. Von Carola Zinner (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Bürkle, Friedrich Schloffer
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Iska Schreglmann
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Im Interview:
Dr. Ulrich Kühnen, Professor für Psychologie in Bremen
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Künstliche Intelligenz ist kein Zukunftsthema mehr – KI prägt unsere Gegenwart. Künstlich generierte Texte, Bilder und Stimmen sind überall ... und werden wöchentlich besser. Welche Auswirkungen bringt die KI in Arbeitswelt, Bildung und Gesellschaft mit sich? Wie kann man künstliche Intelligenz selbst im Alltag nutzen? Und was passiert, wenn jeder Inhalt im Internet auch ein KI-Fake sein könnte? Gregor Schmalzried, Marie Kilg und Fritz Espenlaub stellen sich jeden Mittwoch den großen und kleinen Fragen der KI-Revolution – und trennen die Fakten vom Hype. Ein ARD-Podcast von BR24 und SWR.
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Literaturtipps:
Robert Levine: „Eine Landkarte der Zeit – Wie Kulturen mit der Zeit umgehen“. Piper Verlag.
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Jahrzehntelang galt sie als "Brotbaum" der Forstwirte, inzwischen ist sie in Deutschland aber auf dem absteigenden Ast: die Fichte. Hitze, Trockenheit und Borkenkäfer setzen ihr so zu, dass Experten befürchten, dass sie in deutschen Wäldern keine große Zukunft mehr hat. Von Susanne Hofmann (BR 2023)
Credits:
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Maren Ulrich
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Professor Christian Zang, Professor für Wald und Klimawandel an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf.
Renate Hudak, Kreisfachberaterin für Gartenbau und Landespflege, Öffentlichkeitsarbeit am Botanischen Garten Augsburg, Umweltpädagogin.
Jan Finn Bacher, Geigenbauer in Augsburg.
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Die Geschichte von der Geburt Jesu im Stall bescherte uns das Weihnachtsfest. Franz von Assisi hatte im 13. Jahrhundert die Idee, die Szene nachzustellen und begründete so die Tradition des Krippenspiels. Von Brigitte Kohn (BR 2014)
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Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Eva Demmelhuber
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Worum geht es bei Pharo, und wer gewinnt rein statistisch langfristig immer, wenn sich das Roulette-Rad dreht? Wenn Glücksspieler sterben, wollen sie nicht in den Himmel, sondern ins Casino, heißt es. Spielbank, die Faszination dieses Wortes ist bis heute ungebrochen. Von Markus Vanhoefer (BR 2023)
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Autor dieser Folge: Markus Vanhoefer
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Michael Kohtes: „Va banque. Über Glücksspieler und Spielerglück.“. Berlin 2009.
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Es war ein Privileg, dieser Familie zu entstammen. Die sechs Kinder des berühmten Schriftstellers Thomas Mann und seine Frau Katja waren sich ihrer herausgehobenen Stellung wohl bewusst. Für die vier Jüngeren - Golo und Monika, Elisabeth und Michael - wurde das schon früh zur Belastung, während die beiden Ältesten, Erika und Klaus, bereits als Jugendliche versuchten, daraus Kapital zu schlagen. Sie präsentierten sich der Öffentlichkeit als "geniale Kinder eines genialen Vaters". Ihre Erfolge auf der Bühne und als Autoren täuschten allerdings nicht darüber hinweg, dass es letztendlich immer nur der Glanz des "Großschriftstellers" Thomas Mann blieb, in dem sie sich sonnen konnten. Die Eltern ihrerseits banden nach der Emigration aus Deutschland ihre Kinder nach Möglichkeit in den "Hofstaat des Zauberers" ein, um das Fortbestehen von Thomas Manns Karriere zu sichern. Von Carola Zinner (BR 2015)
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Ab dem 20.Dezember 2024 wird im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums von
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Eine nie gesehene Drastik - der Maler Fancisco de Goya zeigt in seinen "Caprichos" und den "Desastres de la Guerra" die Gräuel des Krieges und der spanischen Inquisition, aber auch die Dummheit des Volkes. Zugleich war er Hofmaler dreier Könige. War der Aufklärer der Nation ein Opportunist? Von Julie Metzdorf (BR 2023)
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Werner Busch: Goya, Reihe C.H.Beck wissen, Verlag C.H.Beck, München 2018. Kompakte Zusammenfassung des Lebens und Wirkens des Malers.
Jutta Held: Francisco de Goya, Rowohlt 1980. Standardwerk von einer der besten Kennerinnen des Malers.
Werner Hofmann: Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, Verlag C.H. Beck, München 2023, mit vielen Farbabbildungen.
Martin Schwander: Francisco de Goya, Ausst. Kat. Fondation Beyeler Basel, Hatje Cantz Verlag 2021.
Jörg Traeger: Goya. Die Kunst der Freiheit, München 2000. Mit besonderem Augenmerkt auf die politischen Verhältnisse, weist Goya überzeugend als frühen Typus eines „Liberalen“ aus.
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Die Natur einfach Natur sein lassen - das ist die Idee des ersten Nationalparks in Deutschland, dem Bayerischen Wald. Lange sorgte das Vorhaben für Zündstoff in der ganze Region. Heute wird klar: Die Idee war goldrichtig. Denn die Natur findet selbst Wege, aus Herausforderungen gestärkt hervorzugehen. Von Jenny von Sperber (BR 2023)
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WIE WIR TICKEN - EUER PSYCHOLOGIE-PODCAST
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Das Kamasutra: In Europa ein aufsehenerregender Skandalerfolg, in dem es um akrobatische Sexstellungen geht. In Indien hingegen war es ursprünglich ein Lehrbuch für Liebende und ein bedeutsamer Ratgeber für zentrale Lebensziele des Menschen: die Befriedigung des Verlangens, von Lust und Genuss. Von Frank Halbach (BR 2022)
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Vanamali Gunturu: Heiliger Sex. Die erotische Welt des Hinduismus; München 2009.
V?tsy?yana Mallan?ga: Das Kamasutra. Aus dem Sanskrit übersetzt und herausgegeben von Klaus Mylius; Stuttgart 1987.
Sandhya Mulchandani, Sudhir Kakar: Kamasutra. Die indische Liebeslehre; München 2008
Panduranga Vaman Kane: History of Dharmasastra; Poona 1930.
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Der Nigerianer Fela Kuti hat zusammen mit Drummer Tony Allen den afrobeat erfunden - das einzige, (west-)afrikanische Musik-Idiom, das in die globale Popkultur eingemeindet wurde. Autor: Markus Mayer
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Redaktion: Nicole Ruchlak
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Es sprachen: Peter Lersch, Katja Schild, Thomas M. Meinhardt
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Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Dr. Eva Ochs, Historikerin an der Fernuniversität Hagen;
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Prof. Astrid Schütz, Persönlichkeitspsychologin an der Universität Bamberg
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Die Persönlichkeitspsychologin Prof. Astrid Schütz publiziert auf der Seite ihres Lehrstuhls bei der Otto-Friedrich-Universität Bamberg Selbsttests, Trainings und die Möglichkeit, an Studien teilzunehmen zur psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz. Mehr Infos gibt es hier:
EXTERNER LINK | https://www.uni-bamberg.de/perspsych/forschung/interesse-an-studien/
Die Ergebnisse einiger ihrer bisherigen Studien in Kurzzusammenfassung, mit Links zu den Fachartikeln:
Erschöpfung von Führungskräften hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit von Mitarbeitenden
EXTERNER LINK | https://www.uni-bamberg.de/perspsych/news/artikel/erschoepfung-fuehrungskraefte/
Narzissmus und destruktive Führung – Handlungsbedarf für Unternehmen
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"How to Deal With a Difficult Boss"
EXTERNER LINK | https://www.uni-bamberg.de/perspsych/news/artikel/how-to-deal-with-a-difficult-boss/
Literaturtipps:
Jürgens, Kerstin u. a.: Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission „Arbeit der Zukunft“ 2018.
Wer sich dem Thema Work-Life-Balance von der soziologischen Seite nähern möchte, ist mit diesem Band der Schriftenreihe von der Bundeszentrale für politische Bildung gut beraten.
Dr. Eva Ochs: „Beruf als Berufung? Die Work-Life-Balance bürgerlicher Männer im 19. Jahrhundert“, Röhrig Universitätsverlag 2020.
Die Habilitationsschrift der Historikerin Eva Ochs von der Fernuniversität Hagen untersucht anhand von Lebenserinnerungen, Briefen und Tagebüchern von Unternehmern, höheren Beamten oder kulturell hochstehenden Persönlichkeiten aus dem 19. Jahrhundert die innere Haltung zu Arbeit und Leben, die sich im Zeitalter der Industrialisierung formte und in vielen Aspekten nach wie vor aktuell ist.
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Farbige Kirchenfenster gehören zu den faszinierendsten Kunstwerken der Vergangenheit. Aber auch in der Moderne ist Glasmalerei aus vielen Gebäuden nicht wegzudenken. Technische Weiterentwicklungen haben dem uralten Handwerk in den letzten 20 Jahren weltweit zu einer neuen Blüte verholfen. Von Julie Metzdorf
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Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Thierry Boissel, Leiter Studien- und Experimentierwerkstatt für Glasmalerei, Licht und Mosaik an der Akademie der Bildenden Künste in München
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Thierry Boissel ist Künstler und arbeitet vor allem mit Glas. Er wollte sich das neue Fenster von Gerhard Richter im Kölner Dom ansehen: Mehr als 11.000 gläserne Quadrate in 72 verschiedenen Farben, angeordnet nach dem Zufallsprinzip: abstrakte Kunst in einer mittelalterlichen Kirche.
1 OT Thierry Boissel
Die Kirche war proppevoll. Blechchor, echte Chor, Orgel, natürlich Weihrauch, tonnenweise, unten waren alle diese Menschen da, rote Käppi und also die ganzen Bischöfe Deutschlands waren da versammelt und ich stand da vor dem Fenster und hab gedacht, ja, nett, gut gemacht – und dann kommt die Sonne raus. Und dann sind alle diese Quadrate durch diesen Raum als Lichtschwert reingefallen. – Wow!
ERZÄHLER
Auf den ersten Blick ist das Richter-Fenster reines Ornament, wie große bunte Pixel breiten sich die Quadrate unter den Spitzbögen eines gotischen Maßwerkfensters aus.
2 OT Thierry Boissel
Dieses Fenster sagt erst einmal gar nichts, ist einfach nur da, schließt ab. Schön von der Farbe, nichts weiter.
ERZÄHLERIN
Dann trifft ein Sonnenstrahl auf das Glas: Die „Erleuchtung“ kommt mit der Sonne: Es ist das Licht, das die Fensterscheiben zum Leben erweckt. Es durchdringt die farbigen Gläser und wirft die Farbe quer durch das Kirchenschiff auf Menschen, Pfeiler, Fußboden.
MUSIK ENDE
3 OT Thierry Boissel 1’57
Das Licht ist die Essenz, ist die Grundlage der Glasmalerei.
ERZÄHLERIN
Das gilt für alle Glasmalerei, egal ob mittelalterlich oder modern, ob mit figürlichen Darstellungen oder abstrakt, minimalistisch oder expressiv. Eines der eindrucksvollsten Beispiele der Gotik ist die Saint-Chapelle in Paris, die Palastkapelle der früheren königlichen Residenz: Der größte Teil der hohen Oberkapelle wird von Maßwerkfenstern eingenommen, so groß, dass es mehr Fenster- als Wandflächen gibt. Es ist, als würde man sich in einem gläsernen Schrein befinden, ein mystischer Farbraum, frei von aller irdischen Schwere.
ERZÄHLER
Wissenschaftler gehen davon aus, dass im Mittelalter die Chorfenster aller wichtigen Kirchen mit Glasmalereien ausgeschmückt waren. Kriege und Brände haben den gläsernen Kunstwerken zugesetzt. Trotzdem sind viele an Ort und Stelle erhalten und erstrahlen in ungetrübter Farbenpracht. Glas ist lichtecht. Die Farbpigmente sind ins Glas eingebrannt. Sie verblassen oder vergilben auch in tausend Jahren nicht, Staub und Ruß kann man einfach abwaschen.
4 OT Thierry Boissel
Im Mittelalter haben die Menschen kein Fenster gehabt, und wenn sie eins hatten, das war zu, mit einer Haut oder eine Hautblase oder mit Pergament oder wie auch immer. Aber die hatten kein Licht, und auf einmal gehen sie in so ein Gebäude wie Kölner Dom... Es ist vielleicht 30 Meter hoch, und die Fenster sind da. Es gibt Licht. Was ist denn das? Also spätestens da musste man an Gott glauben.
MUSIK „Ave generosa“; ZEIT: 01:04
ERZÄHLERIN
Im christlichen Kontext steht die Transparenz des Glases symbolisch für die Transzendenz Gottes: Im Mittelalter hielten die Menschen Licht nicht für ein Phänomen der Natur, sondern glaubten an seinen göttlichen Ursprung. Nach damaligem Verständnis ging Gott mit dem Licht auf die Heiligen-Figuren in den Glasbildern über und war mit ihnen in der Kirche gegenwärtig. Die Glasfenster waren demnach der Ort, an dem sich Himmel und Erde, das Göttliche und das Profane berühren.
ERZÄHLER
Zugleich sah man in den wie Edelsteine leuchtenden Fenstern das Sinnbild des himmlischen Jerusalem.
ERZÄHLERIN
Durch ihre Transparenz und die Ähnlichkeit mit Edelsteinen sind farbige Glasfenster prädestiniert dafür, einen einfachen Raum in ein „Haus Gottes“ zu verwandeln. Für heutige Glasmalerinnen und Glasmaler ist das nicht nur von Vorteil:
MUSIK ENDE
5 OT Thierry Boissel
Das ist ein Fluch und ein Segen gleichzeitig, weil diese Glasmalerei ist so außerirdisch von der Farbwirkung im Raum, dass es natürlich gleich etwas Mystisches hat. Und sofort kommt man auf Kirchengestaltung, auf Kirchenfenster, ist aber nicht zwingend.
ERZÄHLER
Glasmalerei funktioniert überall: Auch in Bahnhöfen, Flughafen-Terminals, Firmenzentralen, Schulen oder Krankenhäusern, im Innen- und im Außenraum. Für eine an der S-Bahn-Stammstrecke in München liegende Schule hat Thierry Boissel einmal zwei Lärmschutzwände kreiert: Auf den mehr als 7 Meter hohen Wänden prangen große Farbtupfer in warmen Farben. Die Anordnung unterliegt einem bestimmten Rhythmus: Boissel hat die Farben den Buchstaben des Alphabetes zugeordnet und so zwei Gedichte gemalt: „Der Regenbogen“ von Josef Guggenmos und „Der Baum“ von Eugen Roth.
ERZÄHLERIN
Seit mehr als 30 Jahren leitet Thierry Boissel die Studien- und Experimentierwerkstatt für Glasmalerei, Licht und Mosaik an der Akademie der Bildenden Künste in München. Wobei das Wort „Glasmalerei“ die Sache nicht so ganz trifft:
6 OT Thierry Boissel 1’57
Erstmal mag ich diese Begriffe überhaupt nicht. Das ist ein Begriff, der finde ich antiquiert ist und vor allem klingt staubig und irreführend.
ERZÄHLER
Gemalt wird in der Glasmalerei mitunter gar nicht. Beispiel Grassi-Museum in Leipzig: Hier hat der Bauhaus-Lehrer Josef Albers 1926 die Fenster der Treppenhalle gestaltet: Bis zu 8 Meter hohe, schmale Fensterbahnen aus hunderten verschieden großen Rechtecken, teils gelblich-grün, teils weiß opak. Verschiedene Schliffe und Überzüge sorgen für feinste Abwandlungen der Grundfarben und verleihen der rein geometrischen Komposition eine vibrierende Lebendigkeit.
MUSIK „Dawn, aus: Pride and prejudice. Bearbeitung“; ZEIT:01:53
Glasmalerei ist zunächst einmal Teil der Architektur. Sie ist ortsgebunden und zielt auf die Gestaltung von Räumen.
7 OT Thierry Boissel
Wir arbeiten in der Architektur, wir arbeiten im Grenzbereich zwischen innen und außen, und wir arbeiten mit Licht.
ERZÄHLERIN
Während bei der Malerei auf Leinwand, Holz, Steinmauer oder Papier das Licht von vorn die Bildfläche fällt, kommt das Licht bei der Glasmalerei von hinten. Das Bild selbst wird zur Lichtquelle.
Historische Glasmalerei besteht aus drei Komponenten: den verschiedenfarbigen Glasplatten, einem Bleinetz, das die einzelnen Platten miteinander verbindet, und der eigentlichen Bemalung. Durch das Bleinetz wirken die Fenster oft wie Mosaike.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Zu den ältesten erhaltenen Glasmalereien in Deutschland gehören die Prophetenfenster im Augsburger Dom aus dem 12. Jahrhundert. Jeder der Propheten steht als Ganzkörperfigur frontal in einem Rundbogenfenster. Die vorherrschenden Farben sind Grün und Rot, hinzu kommen Gelb und Blau. Die dunklen Konturlinien der Verbleiung wurden geschickt für die Komposition genutzt: sie entsprechen dem Umriss eines Gesichts oder eines Umhangs zum Beispiel.
ERZÄHLERIN
Im Gesicht des Propheten Hosea verlaufen Bleilinien entlang der Nase: Aus der Ferne sehen sie aus wie Falten und verleihen dem Gesicht Strenge und Würde. Auf diese Grundstruktur von farbig aneinandergesetzten Platten kommt die eigentliche Malerei. Die Umrisse der Augen, die gekräuselten Haare, die Fingernägel wurden mit sogenanntem Schwarzlot aufgemalt.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Schwarzlot ist ein Gemisch aus oxidiertem Eisen- oder Kupferpulver und zu Pulver gestoßenem Glas. Bei Temperaturen von rund 600 Grad wird es in die gläserne Trägerplatte eingebrannt und ist fortan unlösbar mit ihr verbunden. Die Farbe funktioniert hier ganz anders als bei üblicher Malerei. Sie ist im Grunde ein Filter: die Farbe dosiert und dämpft das von hinten einfallende Licht.
ERZÄHLERIN
Ausgerechnet in der ach so farbenprächtigen Glasmalerei wurde im Grunde nur mit Schwarz gemalt. Erst im 14. Jahrhundert kam Gelb hinzu. Ein Gemisch aus Silber und Ockererde ergab beim Einbrennen in das Glas Töne von hellem Zitronengelb bis zu dunklem Braun, das sich ideal für Kronen, Heiligenscheine, Haare oder für das glänzende Metall an Wappen- und Rüstungen eignete.
ERZÄHLER
Doch bei comicartigen Umrisslinien und einzelnen Strichen blieb es nicht. Das Volckamer Fenster in der Nürnberger Lorenzkirche von 1480 wirkt geradezu plastisch modelliert. In unzähligen Arbeitsschritten wurde das Schwarzlot zunächst flächig und dünn aufgetragen und dann immer wieder teilweise abgeschabt oder weggeätzt. So ergaben sich unterschiedlichste Grauabstufungen: Die Nasenflügel, eine Kerbe im Kinn, Augenringe, hell und klar dagegen treten uns Stirn und Wangenknochen entgegen, vollkommen weiße Stellen wie die Diamanten in der Krone der Heiligen Barbara wirken blendend weiß.
ATMO Treppen, Tür, Werkstatt, Hallo
9 OT Mayer
Jetzt sind wir hier in der traditionellen Glasmalerei. … die zugeschnittenen Gläser werden dann appliziert auf eine Trägerscheibe. Wir haben hier immer diesen kleinen Steg dazwischen, hier kommt später das Blei rein, und … Und dann geht das in vielen Malschichten eben los und gestaltet diese Gläser. Das ist für eine kleine Kapelle in Fort Wayne in Amerika, und Sie sehen: sehr naturalistisch und sehr detailliert.
ERZÄHLERIN
Michael Mayer blickt auf einen Tisch mit einem halbfertigen Glasfenster. In 5. Generation leitet er die Mayer'schen Hofkunstanstalt beim Münchner Stiglmaierplatz.
10 OT Mayer
Wir waren jetzt hier auf Leuchttischen, in gewissen Arbeitsschritten wird es dann vor die Fenster gesetzt, dass ich auch natürliches Licht bekomme, dass auch dieses Helldunkelspiel, transparent, transluzent, matt, einfach funktioniert und dann auch den richtigen Ausdruck bekommt.
ERZÄHLERIN
Von der kleinen Skizze über einen Karton in Originalgröße bis zu den Schablonen für den Glaszuschnitt: Schritt für Schritt entsteht hier Glasmalerei wie in alten Zeiten.
ERZÄHLER
Der Aufwand ist immens. Die Glasfenster mittelalterlicher Kirchen waren oft genauso teuer wie der gesamte restliche Bau. Denn bevor man ein Fenster gestalten kann, muss erst mal das farbige Glas hergestellt werden…
ATMO Waldsassen Halle
12 OT Christian Baierl
Wir befinden uns jetzt hier mitten in der Produktion, Die Schmelztemperatur liegt bei 1430 Grad. … Der Ofen ist circa acht mal vier Meter groß und ungefähr mannshoch. Eine der ganz großen Stärken unserer Glashütte ist, dass wir jeden Tag auf 20 Schmelz-Ressourcen zugreifen können. Das heißt, wir können jeden Tag 20 verschiedene Farben schmelzen.
ERZÄHLERIN
Glashütte Lamberts in Waldsassen in der östlichen Oberpfalz. Geschäftsführer Christian Baierl steht in der riesigen Produktionshalle.
ERZÄHLER
Die manuelle Glasfertigung, wie sie die Glashütte Lamberts betreibt, wurde 2023 von der UNESCO zum Immateriellen Kulturerbe der Menschheit ernannt. Das Glas unzähliger Glasfenster weltweit kommt noch heute aus dem bayerischen Waldsassen. Doch auch wenn das Glas am Ende in flachen Scheiben ausgeliefert und zu Fenstern weiterverarbeitet wird: Zunächst einmal wird es mit Hilfe einer langen metallenen Glasmacherpfeife zu Kugeln geblasen.
14 OT Christian Baierl
Gerade im Moment wurde der Ballon, beziehungsweise die Kugel, die vorgeblasene Kugel, an den Glasmachermeister übergeben, der jetzt in der Verantwortung steht, aus dieser hohlen Kugel einen Glaszylinder zu fertigen.
MUSIK „aus: Bram Stoker's Dracula“; ZEIT: 00:37
ERZÄHLERIN
Unter beständigem Drehen wird der Ballon immer weiter aufgeblasen und zu einem großen Zylinder geformt. Dann wird er abgelegt, gekühlt und aufgeschnitten und wieder erwärmt, bis sich das Glas langsam zu einer flachen Platte senkt. Mit industriellem Fensterglas hat das mundgeblasene Flachglas aus Waldsassen nicht viel zu tun. Kleine Lufteinschlüsse und minimale Wellen machen es lebendig, das Licht reflektiert anders, die Brillanz der Farben ist unübertroffen.
MUSIK ENDE
ERZÄHLER
Der Fachbegriff „Echt-Antik-Glas“ führt in die Irre: Die Gläser werden nicht nur in der Restaurierung eingesetzt, wie zum Beispiel für die Fenster der Dresdner Frauenkirche oder das milchig-weiße Ziffernblatt des Big Ben in London. Auch zeitgenössische Architekten und Künstler aus aller Welt arbeiten mit Glas aus Waldsassen. Von der Elbphilharmonie in Hamburg bis zum Rockefeller Center in New York: Überall ist mundgeblasenes Flachglas aus Waldsassen im Einsatz, auch die 11.000 Farbquadrate des Richter-Fensters im Kölner Dom kommen aus der Oberpfalz.
ERZÄHLERIN
Die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten der Glasmalerei sind enorm, die Ergebnisse immer wieder überwältigend. Und so ist es kein Wunder, dass immer mehr Künstler zumindest einmal im Leben ein Fenster gestalten wollen: David Hockney, Olafur Eliasson, Sean Scully oder Kiki Smith haben farbige Fenster gestaltet, mit Tony Cragg ist sogar ein Bildhauer dabei.
ERZÄHLER
Auch unter den bekanntesten zeitgenössischen Künstlern aus Deutschland ist kaum einer, der noch kein Glasfenster gestaltet hat: Neo Rauch, Imi Knoebel, Sigmar Polke, Markus Lüpertz, selbst Georg Baselitz hat einen vom Himmel stürzenden Adler schon als Fenster für ein Privathaus umgesetzt.
ERZÄHLERIN
Religiöse Gründe hatten die wenigsten Künstler, auch um Geld ging es nicht. Gerhard Richter etwa hat nach dem abstrakten Fenster für den Kölner Dom noch kostenlos drei große Fenster für die Abtei Tholey im Saarland gestaltet in Deutschlands ältestem Kloster. Ganz anders als in Köln zeigen die Fenster hier fließende Formen, die ein bisschen an einen Rorschach-Test erinnern. Sie sind sein letztes Werk im Werksverzeichnis. Offenbar verstand er die Fenster als Kulminationspunkt seiner Arbeit oder zumindest als Schlusspunkt, dem er offiziell nichts mehr hinzufügen wollte.
15 OT Thierry Boissel
Es ist eine Arbeit für die Ewigkeit. Und genau das ist interessanterweise das, was der Richter auch gesagt hat, das Beste an der Arbeit ist, dass es nicht abgebaut werden kann und dieser Ewigkeitsgedanke.
ERZÄHLER
Glasmalerei ist immer an Architektur gebunden, einmal eingebaut verbleiben die Werke dadurch über Jahrhunderte vor Ort. Man denke nur an die Augsburger Prophetenfenster: Seit 900 Jahren befinden sie sich an Ort und Stelle, 900 Jahre Regen, Sonne, Sturm, Eis, Staub und Vogelkot. Glas ist stabiler als man meint. Gefährlich ist für Glasfenster vor allem die Luftverschmutzung bzw. der dadurch entstehende saure Regen, wertvolle historischen Glasfenster haben deshalb oft eine transparente Schutzverglasung von außen.
ERZÄHLERIN
Trotzdem gibt es aus bestimmten Epochen keine Glasfenster. In Renaissance und Barock entsprachen Buntglasfenster nicht mehr dem Zeitgeschmack, man baute lieber Butzenscheiben oder einfache Rautenfenster ein, die mehr Licht in den Kirchenraum ließen. Erst im 19. Jahrhundert besann man sich auf die Tradition, die Gotik wurde zum nachahmenswerten Baustil und in ganz Deutschland wurden alte und neue Kirchen wieder mit farbigen Fenstern ausgestattet.
ERZÄHLER
Durch die Bomben des 2. Weltkriegs wurden unzählige Fenster zerstört. Einige hatte man zum Glück rechtzeitig ausgebaut, die Glasfenster des Regensburger Doms etwa überstanden den Krieg fast unbeschadet in einem Nachbargebäude. Insgesamt waren die Zerstörungen aber erheblich – was allerdings positive Auswirkungen auf die weitere Entwicklung hatte.
16 OT Thierry Boissel SAM 3 15:15
Die deutsche Glasmalerei der Nachkriegszeit ist etwas, was weltweit ein Begriff ist, also Glück im Unglück. Deutschland wurde komplett zerstört, also gibt es Wiederaufbau. Und wenn es Wiederaufbau gibt, gibt es was Neues. Es wird neu gebaut, es wird neu konstruiert, es wird neu alles gemacht. … Die Fülle an Aufträgen der 50er, 60er, 70er Jahre ist kaum vorstellbar.
MUSIK „Lux aeterna (für 16 Singstimmen und gemischten Chor. a cappella)“; ZEIT: 02:00
ERZÄHLERIN
Neben seiner Arbeit als Werkstattleiter an der Münchner Kunstakademie ist Thierry Boissel vor allem Künstler und verwirklicht auch selbst große Glas-Arbeiten. Er denkt nicht so sehr in Bildflächen, sondern vielmehr in Räumen. Eine seiner jüngsten Arbeiten ist die Nagelfluh-Kapelle im Klinikum Wasserburg, die er gemeinsam mit Daniel Bräg gestaltet hat. Eine Wand der Kapelle besteht komplett aus Glas und ist leicht nach außen gewölbt, wie Farbtropfen verteilen sich einzelne Butzen unregelmäßig über die Fläche. Damit hebt sich die Kapelle vom Rest des Klinikums ab, das vor allem aus geraden Linien und rechten Winkeln besteht. Über den Terrazzo-Boden zieht sich ein Mäanderband, es ist dem Flusslauf des Inn nachempfunden. Bewegt und lebendig wirkt auch der steinerne Altar:
17 OT Thierry Boissel
Herrgottsbeton sagt man auf Bayerisch glaube ich, es sind unglaubliche Steine, groß und klein, die über die Eiszeit immer rund geschliffen worden sind und in einem Sediment zusammen gefangen worden sind. Aber diese Steine haben miteinander gar nichts zu tun. Das ist unter Umständen Granit, das ist Marmor. Die kommen von ich sage mal einfach groß aus aller Welt und versammeln sich da und machen einen Block zusammen, … symbolisch sehr schön hier, alle unterschiedlich zusammen in eine Sache, wunderbar.
ERZÄHLER
Raumform, Boden, Altar und Licht und Farbwirkung sind in dieser Kapelle aufs Engste aufeinander abgestimmt. Durch die große Glaswand fällt viel Licht herein, gleichzeitig ist das Glas ist so stark strukturiert, dass man nicht hindurchschauen kann. Die Struktur entspricht der Maserung des Altarblocks aus Nagelfluh.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Boissel hat die Glasplatten dafür auf eine Matrize, also eine reliefartige Form, durch Erhitzen fällt das Glas in die Vertiefungen. Das Muster wirkt wie eingeprägt. Mit dieser Technik kann Thierry Boissel fast fotografische Illusionen schaffen. In anderen Arbeiten hat er damit auch figürlich gearbeitet, ganze Menschengruppen schälen sich da optisch aus dem Glas heraus.
ERZÄHLER
Mit Bleiverglasungen hat das alles längst nichts mehr zu tun. Die Techniken und Möglichkeiten der Glasbearbeitung haben sich enorm weiterentwickelt, heute können riesige Platten ganz ohne Querverstrebungen produziert werden, auch die Bearbeitungsmöglichkeiten sind enorm vielfältig geworden:
MUSIK „Revelation“; ZEIT: 01:04
18 OT Thierry Boissel
Kompliziert wird es Mitte der 80er Jahren, wo die Floatglasmalerei anfängt und sonstigen, alle anderen Sachen Verschmelzungen, heiß strukturieren, heiß verschmelzen, Malen, verkleben, aufkleben, Blabla. So diese ganzen Hightech Geschichten, die dann jetzt passieren, das meine ich mit Revolution. Es ist nie so viel neue Ausdrucksmöglichkeit im Glas gegeben wie jetzt, wie heute.
ERZÄHLERIN
Eine der größten Glasmalerei in Bayern befindet sich in St. Florian in der Messestadt Riem in München. Seit 2005 erfüllt hier ein riesiges Fenster der Künstlerin Hella Santarossa den Raum: Mehr als 17 Meter breit und 7 Meter hoch erhebt es sich als Explosion in Gelb hinter dem Altar. Titel der Arbeit: „Auferstehung“. Das strahlend goldene Licht, das den Kirchenraum vor allem am Nachmittag erfüllt, ist unbeschreiblich. Eines ist klar: Glasmalerei lebt.
Einwanderungspolitik und Arbeitskräftebedarf hängen in Deutschland von jeher eng zusammen. Vor allem in der Bundesrepublik war die Anwerbung von Fachkräften - oder umgekehrt: die Zuzugsbegrenzung - fester Bestandteil einer Politik, die immer wieder begleitet wurde von lautstarken ideologischen Debatten. Von Gabriele Knetsch (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Gabriele Knetsch
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Berenike Beschle, Florian Schwarz
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Prof. Herbert Brücker, Humboldt-Universität Berlin
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Literaturtipps:
U. Herbert/K. Hunn: „Gastarbeiter und Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik. Vom Beginn der offiziellen Antwerbung bis zum Anwerbestopp (1955-1973), in: „Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften), Hg. Axel Schildt u.a. Ausführliche Dokumentation der deutschen Gastarbeiterpolitik.
Ulrich Herbert: „Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge“. Kenntnisreiche und ausführliche Darstellung zur Anwerbung von Fachkräften im Ausland (bis 2001).
Sven Rahner, „Fachkräftebedarf und Zuwanderung: Geschichte und Perspektiven“, Aus Politik und Zeitgeschichte, 18.10.2011. Kurzer Überblick über die Geschichte der Arbeitskräfte-Einwanderung vom Kaiserreich bis zur Konsensgruppe „Fachkräftebedarf und Zwanderung“ 2011.
Jochen Oltmer: Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart. Anwerbung von Fachkräften im Spannungsfeld mit einer zunehmend restriktiven Asylpolitik (mit Schwerpunkt auf den 80er und 90er Jahren).
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Der Phönix ist eines der beliebtesten Fabelwesen der Welt. Er fängt Feuer und steht aus seiner eigenen Asche wieder auf. Er kann mit seinen Gedanken Dinge bewegen und seine Tränen haben heilende Kräfte ... So war es schon immer - oder doch nicht? Autor: Jean-Marie Magro (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Jean-Marie Margo
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Susanne Schroeder, Friedrich Schloffer, Silke v. Walkhoff
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Francoise Lecocq, emeritierte Professorin für Klassische Philologie an der Universität Caen;
Ingo Schaaf, Dr. phil. Dipl.-Theologe, Senior Forscher an der Schweizer Universität Freiburg
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Francoise Lecocq hat sich in den vergangenen Jahren mit der Erfolgsgeschichte des Phönix befasst. Warum werden einem Tier, das niemand jemals gesehen hat, regelmäßig neue Eigenschaften angedichtet? Die Ergebnisse ihrer Spurensuche lesen Sie in diesem wissenschaftlichen Artikel.
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Reichholf, Josef H.: Einhorn, Phönix, Drache, Fischer Verlage, 2012: Wo haben Fabelwesen ihren Ursprung?
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Im Kampf gegen die Erderwärmung geraten zunehmend die Ernährungsgewohnheiten der Menschheit in den Fokus. Der Heißhunger auf Fleisch gilt als wahrer Klimakiller. Ist eine überwiegend pflanzenbasierte Diät die Lösung, um die Klimakatastrophe abzuwenden? Von Lukas Grasberger (BR 2023)
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Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Carsten Fabian, Diana Gaul
Redaktion: Iska Schreglmann
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Im Interview:
Dr. Marco Springmann, Senior Researcher, Environmental Change Institute, University of Oxford;
Dr. Susanne Rolinski, Forschungsbereich Klimaresilienz, Potsdam Institut für Klimafolgenforschung;
Prof. Regina Birner, Lehrstuhl Sozialer und institutioneller Wandel in der landwirtschaftlichen Entwicklung“ an der Uni Hohenheim;
Prof. Jürgen Kropp, Forschungsgruppe „Urbane Transformationen“ Potsdam Institut für Klimafolgenforschung;
Lora Iannotti, PhD, Institute for Public Health, Washington University in St. Louis
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Die Sesshaftigkeit brachte eine Vielzahl bahnbrechender Innovationen. Eine von ihnen: Die Brunnen. Erfüllten sie früher viele Aufgaben, waren Wasserquelle oder Heiligtum, sind sie heute reine Zweckbauten. Zweckbauten, von denen die Wasserversorgung zum großen Teil abhängt - das ist in allen Teilen der Welt der Fall, auch in Deutschland. Von Dagmar Röhrlich (BR 2023)
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Technik: Robin Auld
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Dr. Ralf Schmitz, wissenschaftlicher Kurator für Vorgeschichte im LV Landesmuseum Bonn;
Dr. Florian Klimscha, Archäologe am Landesmuseum in Hannover;
Dr. Harald Stäuble vom Landesamt für Archäologie in Sachsen;
Prof. Mathias Pfeil, Generalkonservator des Landesamts für Denkmalpflege in Bayern;
Nico Goldscheider, Professor für Hydrogeologie am Karlsruher Institut für Technologie KIT;
Holger Wilke, Diplom-Geologe bei der Brunnenbaufirma Angers Söhne;
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Dr. Alexander Jokisch, BGR-Projektkoordinator für Jordanien und den Libanon
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Credits
Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Beate Himmelstoß
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Iska Schreglmann, Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Rolf Bracke, Lehrstuhl für Geothermische Energiesysteme, Ruhr-Universität Bochum, Leiter der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie IEG
Peter Goblirsch, stellvertretender technischer Leiter bei der IEP Innovative Energie für Pullach GmbH, INSIDE-Projektleiter
Dr. Christian Pletl, Leiter Dezentrale Erzeugung und Erneuerbare Energien regional bei den Stadtwerken München
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Die Digitalisierung transformiert unser Leben - und unser Ableben. Mit unserem Tod hinterlassen wir digitale Spuren, Daten und Vermächtnisse. Zudem ist es möglich geworden, an digitalen Orten zu trauern und den Verstorbenen zu gedenken. Von Konstantin Schönfelder
Credits
Autor dieser Folge: Konstantin Schönfelder
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Katja Amberger
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
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Matthias Meitzler, Thanatologe von der Universität Tübingen;
Lorenz Widmaier, Soziologe mit Doktorarbeit zu digitalem Erbe und Trauer
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Wir müssen alle sterben. Doch wie wir sterben, unterliegt dem Wandel, so wie das Leben auch, das sich permanent verändert. „Tritt also der Tod den Menschen an:”, heißt es in einem klassischen Text der Philosophie, in Platons Phaidon, „so stirbt, wie es scheint, das Sterbliche an ihm, / das Unsterbliche aber und Unvergängliche zieht wohlbehalten ab, / dem Tode aus dem Wege.” Fragen wir uns also, was das Sterbliche ist, und was das Unsterbliche. Und fragen wir uns, ob es Wege gibt, die Grenze zwischen beidem zu verschieben. Ob technische Fortschritte passieren, die uns vielleicht nicht unsterblich machen. Aber doch, immerhin, als Tote ganz anders anwesend unter den Lebenden als bisher. Fangen wir dafür am Anfang an, mit unserem Ende – dem Tod.
O1 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Der Moment, in dem jemand stirbt, das ist immer plötzlich, auch wenn man darauf vorbereitet ist, auch wenn eine Krankheit davor war. Da steht man erstmal unter Schock. Und der Trauerprozess beginnt dann erst.
SPRECHERIN
Sagt Lilli Berger, Bestatterin. Mit 13 ist ihr bei einem Berufsinformationstag in der Schule dieser doch nicht sehr gewöhnliche Beruf vorgeschlagen worden – und als sie erwachsen war, hat sie ihn tatsächlich ergriffen.
O2 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Das Familiensystem bricht in dem Moment plötzlich auf. Jeder hat ja eine Rolle in der Familie. Und wenn der Mensch dann wegfällt in der Rolle, wird das erst mal neu justiert und neu orientiert und neu zusammengesetzt und in dem Moment ist der Bestatter oder die Bestatterin da und versucht, alle Bedürfnisse miteinander zu verweben.
SPRECHERIN:
Sie findet, dass Deutschland eine lange und gute Tradition der Bestattungskultur auszeichnet.
O3 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Wir haben eine ganz lebendige Erinnerungskultur. Wir schätzen alte Häuser, wir reden viel auch über den Zweiten Weltkrieg zum Beispiel. Als Gesellschaft sind wir sehr mit der Erinnerungskultur verbunden. Und das sehe ich auch in unserer Bestattungskultur. Es sind Familienbetriebe, die die Bestattungen durchführen. Wir haben keinen großen Marktanteil an Konzernen, an Bestattungskonzernen zum Beispiel, sondern wir haben wirklich kleine Familienbetriebe, die Familien teilweise auch schon über Jahre, über Generationen hinweg begleiten.
SPRECHERIN:
Doch die Bestattungsbranche sei durch ihre große Tradition relativ träge, Veränderungen seien immer langsam gekommen. Aber in den letzten Jahren hat sich vieles in der Welt verändert. Auch in ihrer Branche, und im Sprechen über den Tod.
O4 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Ich habe vor zehn Jahren die Ausbildung gemacht und in diesen zehn Jahren gab es eine ganz, ganz tolle Entwicklung, ganz viele neue Initiativen, viel mehr offenes Sprechen darüber. In den Medien wird das Thema Tod und Trauer viel öfter aufgegriffen.
SPRECHERIN:
Ein Grund dafür: Die Digitalisierung unserer Lebenswelt – und der des Sterbens. In diesem Bereich, den Lilli Berger auch "death care" nennt – die nun eben auch digitale Arbeit mit dem Tod und der Trauer – ist sie eines der prägendsten Gesichter des Wandels.
MUSIK: Coldplay, 42 [Those, who are dead, are not dead, they are living in my head …] 0’27
SPRECHERIN:
Mit der Digitalisierung ist zunächst erst mal vieles, was früher physisch hinterlassen wurde, digital geworden. Einer der ersten, die das empirisch untersucht haben, ist Lorenz Widmaier – was ist ein digitales Erbe und wie konkret gehen die Hinterbliebenen mit diesem um? Erst seit kurzem sei das wirklich wichtig geworden, weil digitale Nachlässe natürlich erst in den letzten Jahren so richtig anzufallen beginnen. Zum digitalen Nachlass gehören alle Spuren, die wir zu Lebzeiten digital hinterlassen: Verträge, Passwörter, Zugänge zu bestimmten Accounts, aber auch Suchverläufe oder Aktivitäten auf Webseiten.
O5 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Zum Beispiel das, was wir auf Facebook oder in anderen sozialen Medien machen. Ganz wichtig sind dann auch Messenger, so was wie WhatsApp, wo zum Beispiel eine Beziehungsgeschichte oder die Geschichte mit seinem Kind sehr detailliert dokumentiert ist, den Alltag mit Sprachnachrichten, Fotos, Videos und sowas, was es eigentlich früher nie gab in der Detailliertheit. Zum digitalen Nachlass gehören nicht nur die Daten des Verstorbenen, sondern auch meine eigenen Daten, die ich über den Verstorbenen habe. Also gerade so was wie WhatsApp Verläufe.
Musik: Future questions 0‘25
SPRECHERIN:
Mit Hinterbliebenen hat er sich mehr als 30 dieser „digitalen Nachlässe“ angeschaut, ausgewertet und gefragt, was sie mit diesen Daten machen und was sie ihnen bedeuten. Widmaier erinnert sich an eine Mutter, die ihre Tochter verloren hat und über deren digitales Erbe zu Antworten gefunden hat.
O6 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Die hat dann Screenshots gefunden, die ihre Tochter von der Zugverbindung gemacht hat, die sie für ihren Suizid verwendet hat. Und diese Screenshots waren einige Wochen davor gemacht. Das heißt, sie wusste dann, „Okay, den Gedanken gab es schon einige Wochen. Das war keine Affekthandlung, die plötzlich passiert ist.“
SPRECHERIN:
Zu Lebzeiten ihrer Tochter war es für sie unbemerkt geblieben. Im Spiegel der zusammengesetzten Daten konnte sie posthum nachvollziehen, wie sich der Zustand ihrer Tochter verschlechtert hat.
O7 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Sie haben dann zum Beispiel Instagram-Posts angeschaut, wo es dann ganz klar Hinweise darauf gab: Man hat mehr nachdenkliche, traurige Selfies zum Beispiel gesehen. Aber auch die Hashtags haben dann auf bestimmte Musik verwiesen, wo es um Suizid ging. Auch die kurzen Kommentare haben sich so deuten lassen. Und so konnte man einfach ein bisschen Biographiearbeit machen und versuchen, so die Gefühlslage der Verstorbenen zu verstehen. Und das war dann auch so ein Weg. Wo man seinen Frieden in gewisser Weise damit finden konnte, dass man eine gewisse Erklärung hatte.
SPRECHERIN:
Nicht immer sind die Daten vorhanden oder zugänglich. Manchmal sind genau die Daten, die fehlen, das wichtigste Puzzlestück im Nachlass. So erging es einer Mutter, die ihre Tochter ebenfalls durch einen Suizid verloren hat.
O8 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Der Mutter war es dann wichtig, die privaten Nachrichten zu lesen, die ihre Tochter an Freunde usw. geschrieben hat.
SPRECHERIN:
Das Problem: Sie hatte den Zugang nicht. Also wendete sich die Frau direkt an Facebook
O9 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
und erklärt, „meine Tochter hat sich das Leben genommen, ich brauche Zugriff auf die privaten Nachrichten, ich will das verstehen usw." Und dann hat Facebook aber gesehen, dass die Tochter in den Nachlass-Einstellungen eingestellt hat – „Facebook Account nach meinem Tod löschen.“ Und jetzt war es so: Die Mutter wendet sich an Facebook, Facebook sieht, da steht drin „nach meinem Tod löschen“ und hat den Facebook-Account gelöscht.
Musik: Bouncing radicals 0‘32
SPRECHERIN:
Was zählt mehr, die Wünsche des Verstorbenen oder die Bedürfnisse und Nöte des Hinterbliebenen?
1O Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Das ist eine moralische Frage, ist eine rechtliche Frage, die auch in verschiedenen Ländern anders bewertet wird. Es gibt Länder, da hätte die Mutter trotzdem das Recht drauf.
SPRECHERIN:
Das digitale Leben ist wie eine weitere Schicht zu unserer Existenz hinzugekommen. Und wir sollten auch darüber verfügen, wie mit diesem Teil unserer Identität umgegangen werden soll, wenn wir nicht mehr da sind.
11 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Und wenn man dann vielleicht noch zu manchen Dingen die Wünsche vermerkt, zum Beispiel WhatsApp, bitte alle Nachrichten löschen, die zwischen uns geschrieben worden sind. Das hilft Hinterbliebenen enorm zu wissen: Was darf ich eigentlich? Niemand will gerne rumkramen in den Sachen von den Verstorbenen. Die meisten brauchen aber Erinnerung.
Musik: Virtual land 0‘40
SPRECHERIN:
Die Digitalisierung hat einerseits dazu geführt, dass manche Dinge, die früher analog existierten, nun eine andere Form angenommen haben. Doch sie hat auch ganz neue, zuvor undenkbare Möglichkeiten geschaffen. Etwa mit der Art und Weise, wie wir Kontakt zu den Verstorbenen halten. Auf Facebook gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, das Profil eines Verstorbenen in einen „Gedenkstatus" zu versetzen. So lässt sich dort trauern, erinnern, im Gespräch bleiben. Dieser Wunsch, die Verbindungen mit den Verstorbenen über den Tod hinauszuhalten, trägt in der Psychologie den Namen „continuing bonds“.
12 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Man spricht die verstorbene Person direkt an in diesen Posts nach dem Tod. Das ist ähnlich zu Briefen, die man früher an verstorbene Personen geschrieben hat, aber man macht das jetzt in einer kleinen Öffentlichkeit zusammen mit anderen und dann reagieren andere auf diese Posts, sei es nur mit einem kleinen Herz oder mit einem kurzen Kommentar. Und so ist diese Trauer und diese „continuing bond“ eben sichtbarer und vielleicht auch ein bisschen akzeptierter.
SPRECHERIN:
Und die analoge Welt? Die bleibt ja.
13 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung - LORENZ WIDMAIER:
Es wird auch genauso wichtig sein, das Grab zu besuchen. Wenn ich nicht zum Begräbnis kommen kann, aus irgendeinem Grund, kann ich vielleicht über einen Facebook-Livestream trotzdem dazu kommen. Aber es wird trotzdem auch das Begräbnis vor Ort geben und das wird die gleiche Relevanz behalten. Aber natürlich, ein Pullover vom Verstorbenen, der hat denselben Stellenwert, die Möbel vom Verstorbenen. Das verliert jetzt nicht an Wert.
Musik: Unbiased opinion 0‘28
SPRECHERIN:
An diesem digitalen Zusatz arbeitet auch Lilli Berger, die Bestatterin, die außerdem Film und digitales Leadership studiert hat. Auch deswegen konnte sie 2020 das Unternehmen VYVYT [Aussprache: vivit] mit zwei Kollegen gründen: In Deutschland hat sie die erste virtuelle Möglichkeit geschaffen, zeit- und ortsunabhängig Abschied zu nehmen oder Gedenkfeiern zu veranstalten.
14 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Man kann es zum ersten Todestag machen, zum zehnten Todestag, zum Geburtstag des Verstorbenen. Es gibt einem Raum, wo man, egal wo man gerade auf der Welt ist, für eine Stunde einfach vorbeikommt und dieser Person nochmal gedenkt, sich Erinnerungen austauscht und in dem Moment werden Erinnerungen ja wieder lebendig.
SPRECHERIN:
Dieser Raum ist im Grunde einer Gedenkseite gar nicht unähnlich. Es ist nur – wirklich ein Raum. Er ist dreidimensional, die Erfahrung intensiver, und dadurch vielleicht bleibender.
15 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Es gibt ein Vorne, ein Hinten, es können Gruppen sich bilden. Es gibt rechts, links, es gibt ein 3D-Audio. Das heißt, du hast auch wirklich das Gefühl, jemand spricht links oder jemand spricht rechts. Und wenn mir eine Geschichte erzählt wird, sehe ich vor mir zum Beispiel einen virtuellen Baum. Und in dem Moment speichert mein Gehirn das Erzählte als Erinnerung im dreidimensionalen Raum ab und das kann mein Gehirn später wieder abrufen. Und dadurch entstehen in diesem virtuellen Raum Erinnerungen, sie werden sozusagen auf einer lebendigen Art und Weise weitergegeben, dass ich mich langfristig dran erinnern kann.
Musik: Finding a way out 0‘31
SPRECHERIN:
Auf der Seite steuert man durch den Raum mit den Pfeiltasten am Computer und der Maus. Man kann in diesem digitalen Raum umherlaufen, stehen bleiben, die Bilder an den Wänden anschauen oder selbst welche in leere Bilderrahmen hochladen. Man kann mit den anderen ins Gespräch kommen, oder für sich bleiben. Der virtuelle Erinnerungsraum hat den Vorteil, dass er uns Freiheiten bietet, die uns im Leben häufig verwehrt sind.
16 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Es gibt erst mal keine Rituale, die wir in der physischen Welt ja schon haben, wie zum Beispiel, man gibt Blumenblätter oder Erde mit ins Grab oder man zündet eine Kerze an. Wir können den virtuellen Raum neu besetzen. Die Frage ist, ob wir das wollen oder ob wir vielleicht auch einfach Analoges nehmen und ins Digitale übersetzen. Das ist genauso möglich. Aber es ist ein Ort, den wir erst mal noch erobern dürfen mit unserer eigenen Trauerkultur.
SPRECHERIN:
Gerade für die heranwachsende Generation ist das eine Chance. Denn sie wächst mit dem Internet auf.
17 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Sie können für sich neue Traditionen, neue Rituale entwickeln. Und wir sind auch frei in der Art und Weise, wie wir den Raum gestalten. Also zum Beispiel finde ich total schön, wenn der Raum an etwas erinnert, was wir mit der verstorbenen Person erinnern, zum Beispiel Omas Garten.
Musik: Confused images 0‘27
SPRECHERIN:
Diese jüngere Generation ist ein wichtiger Teil der Nutzenden des virtuellen Gedenkraumes. Und unter ihnen insbesondere jene "early adopters", die offen sind, mit neuen technischen Innovationen herumzuexperimentieren. Und auch jene, die einen ungewöhnlichen, frühen oder tragischen Tod verarbeiten müssen, greifen auf das Angebot zurück.
18 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Also zum Beispiel hatten wir Meves, der war 14, als sein Vater im Sterben lag, und er hat die Stammkneipe nachgebaut vom Vater. Und ein halbes Jahr, nachdem der Vater gestorben ist, gab es eine große Geburtstagsparty für den Vater in dieser Stammkneipe und es war für den Sohn so ein schöner Moment, weil er konnte seinem Vater noch mal was geben und er hat sein Vater noch mal aus ganz verschiedenen Perspektiven kennengelernt. Ein halbes Jahr nach der Beerdigung – und das tat ihm total gut. Er hat jetzt wieder angefragt und möchte gerne jetzt zum Jahrestag wieder eine virtuelle Trauerfeier veranstalten zur Erinnerungsfeier.
SPRECHERIN:
In Zukunft wird es für das Unternehmen dahin gehen, öfter reale Räume nachzubauen. Das alte Elternhaus vielleicht? Oder den Ort der letzten gemeinsamen Reise? Das exakte Nachbauen realer Räume ist momentan noch sehr kostspielig und wird deshalb eher selten gemacht. Aber das Aufkommen generativer Künstlicher Intelligenz erleichtert es enorm. Und überhaupt: verändert Künstliche Intelligenz vieles, auch in der Trauerkultur. Bereits jetzt, und vor allem in der Zukunft.
19 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Du baust eine Verbindung zu der verstorbenen Person auf. Das ist nicht notwendig, dass der Chatbot dir diese Beziehung suggeriert. Die passiert in dir, die passiert in deinem Herzen. Sie passiert in deinem Kopf. Die passiert psychologisch in Erinnerung. Wie auch immer. Und da möchte ich gerne hinkommen, dass der Chatbot das unterstützt,
Musik: Learning process 0‘26
SPRECHERIN:
Gerade experimentiert sie mit einem KI-Chatbot, einem Computerprogramm, das menschliche Gespräche mit einem anderen Nutzer simuliert. Sie füttert ihn mit Daten von und über sich selbst.
20 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Und der wächst jetzt gerade mit all meinen Erinnerungen und persönlichen Beziehungen. Das heißt, ich baue das selber und bin richtig, richtig neugierig, wohin das geht. Und es ist ehrlich gesagt super faszinierend.
SPRECHERIN:
Aber das hat seine Grenzen, sie ist damit sehr vorsichtig.
21 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Gleichzeitig sehe ich aber auch die Gefahr, dass wenn man damit alleine gelassen wird, dass das problematisch werden kann. Es gibt einfach viel Unausgesprochenes. Und es gibt viele Fragen, die offen bleiben nach dem Tod. Und der Chatbot kann diese Fragen nicht beantworten.
MUSIK 0’35
Sasha Alex Sloan, Dancing with your Ghost
[I put the record on, wait 'til I hear our song, Every night, I'm dancing with your ghost]
SPRECHERIN:
2020 hatte ein Video aus Südkorea Schlagzeilen gemacht: Eine Frau begegnet dem Avatar ihrer kleinen Tochter in einer Virtual Reality wieder. Das Mädchen ist nur wenige Jahre alt geworden. Die Beziehung abrupt geendet. Der Avatar fragt: „Mama, wo bist du gewesen? Hast du an mich gedacht?“
22 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung: MATTHIAS MEITZLER:
Ein virtuelles Gegenüber, dass man eben nicht nur betrachten kann, sondern mit dem man gewissermaßen auch in einen Dialog treten kann. Also ein KI-System, das auf meinen Input adäquat reagiert.
SPRECHERIN:
Das ist Matthias Meitzler von der Uni Tübingen. Er hat sich als Thanatologe viel mit dem Lebensende beschäftigt, war in Hospizen, Pathologien, hat über 1.200 Friedhöfe besucht und ein Buch darüber geschrieben. Zuletzt hat er zum digitalen Weiterleben von Verstorbenen anhand KI-basierter Technologien geforscht. Das Feld verändert sich gerade rapide. Und grundlegend.
23 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung: MATTHIAS MEITZLER:
Und dann ist es eben nicht mehr so, wenn ich jetzt diese Anwendung etwas frage, dass dann einfach irgendwas schon Aufgenommenes einfach nur abgespielt wird, sondern dieser Avatar in dem Fall kann dann antworten und kann dann etwas sagen, was diese Person zu Lebzeiten gesagt haben könnte, aber sehr wahrscheinlich gar nicht so gesagt hat. Und sie kann das beispielsweise auch in der Stimmlage dieser Person tun. Man kann mittlerweile auch Stimmen schon sehr realistisch simulieren und reproduzieren und da nähert sich dieses digitale Andere sehr stark einem vermeintlich lebendigen Menschen an.
SPRECHERIN:
Wird der Tod durch die lebensechten, kreativen Avatare der Verstorbenen relativiert?
24 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung: MATTHIAS MEITZLER:
Der Tod ist zunächst etwas Körperliches. Aber es gibt ja doch in vielen Fällen so was wie ein soziales Weiterleben. Dann kann durch Digitalisierung natürlich vieles verwirklicht werden, was man früher vielleicht nicht für möglich gehalten hat.
SPRECHERIN:
In den USA hat sich in den letzten Jahren eine noch kleine Industrie gebildet. Für Meitzler verschärft das die grundsätzlichen Fragen, die wir uns mit dem Tod stellen.
25 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung: MATTHIAS MEITZLER:
Menschliche Persönlichkeit ist ja auf den ersten Blick schon was Stabiles, was irgendwie über längere Jahre erhalten bleibt. Aber auf der anderen Seite sind Menschen ja auch immer in Entwicklung. Also ich spreche jetzt mit Ende 30 anders als ich mit Anfang 20 gesprochen habe. Und wahrscheinlich werde ich in ein paar Jahrzehnten noch mal anders sprechen, ich werde Dinge anders bewerten, vieles vielleicht auch einfach anders sehen, mich auch an meine Vergangenheit anders erinnern. Und jetzt kann man natürlich durchaus kritisch fragen: „Na ja, wenn wir jetzt so ein Avatar kreieren, welche Version von mir soll das eigentlich dann sein?“
Musik: KI 0‘37
SPRECHERIN:
Mit welchen Daten soll meine KI trainiert werden bzw. wie werden die Daten, die sich womöglich widersprechen, gewichtet? Das berührt die Frage der Identität – wer bin ich? Und zu wem werde ich, wenn ich die Form des Avatars annehme?
26 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung: MATTHIAS MEITZLER:
Sollen das jetzt Daten sein, die ganz aktuell sind? Wenn jetzt ein Mensch stirbt, sollen es Daten sein, die er erst vor kurzem produziert hat? Oder sollen es Daten sein, die vielleicht schon Jahre oder vielleicht auch irgendwann mal Jahrzehnte alt sind? Was ist, wenn es da Konflikte gibt?
SPRECHERIN:
Und ganz wichtig die Frage: Wer entscheidet das eigentlich?
27 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung: MATTHIAS MEITZLER:
Sind das dann immer die jeweils Verstorbenen, die zu Lebzeiten schon festlegen, ob sie überhaupt ein Avatar haben wollen und wenn ja, wie dieser aussehen soll und welche Daten da überhaupt verwendet werden sollen? Sollen überhaupt alle Daten verwendet werden? Oder gibt es nicht bestimmte Inhalte, wo man vielleicht aus guten Gründen sagt: „Um Gottes willen, bitte nicht nach meinem Tod das noch irgendwie bewahren?" Oder sind es am Ende vielleicht auch die Hinterbliebenen, die das dann entscheiden, wenn sich die verstorbene Person da vielleicht auch gar nicht verbindlich geäußert hat? Das ist natürlich dann im Zweifel auch problematisch, gerade dann, wenn es mehrere Hinterbliebene gibt, die auch noch mal unterschiedliche Interessen haben.
SPRECHERIN:
Hinzu kommt das Problem, dass die Anbieter private Unternehmen sind, die ihrerseits wiederum ökonomische Interessen verfolgen und die vulnerable Situation von Trauernden ausnutzen könnten. Meitzler hat da ganz konkrete Szenarien vor Augen.
28 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung: MATTHIAS MEITZLER:
Der Avatar sagt kurz vor Ablauf des Abos: „Bitte verlängert doch dieses Abo, zahlt doch bitte mal nach, lasst mich kein zweites Mal sterben.“ Also im Prinzip den Hinterbliebenen auch ein schlechtes Gewissen einredet. Es ist ja durchaus denkbar, dass es da vielleicht auch subtilere Formen gibt, bis hin zu Produktplatzierungen etc. Also was ist denn, noch mal ein plakatives Beispiel, wenn die verstorbene Großmutter als Avatar dann ihrer Enkelin rät, doch dieses oder jenes T-Shirt zu kaufen und auch gleich den Bestelllink schon mitliefert.
Musik: Secret proofs red. 0‘30
SPRECHERIN:
Und trotz der Schreckensszenarien: Der Forscher glaubt, dass sich digitale Praktiken künftig in unsere Trauerkultur integrieren werden. Sie reflektieren das Bedürfnis nach Individualität, sagt Meitzler:
29 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung: MATTHIAS MEITZLER:
Damit meine ich auf der einen Seite Säkularisierung, also dass Menschen Sinn und Erklärung für bestimmte Dinge eben nicht mehr an erster Stelle in der Religion suchen, dass wir uns weniger als Teil eines großen Kollektivs verstehen, sondern eher danach schauen: Was ist denn ein bestimmter Mensch gewesen, was war seine Persönlichkeit? Und ich denke, da lässt sich auch diese Entwicklung hin zum digitalen Weiterleben ganz gut einordnen.
MUSIK: Virtual land 0’33
SPRECHERIN:
Wie alles Neue finden einige die Vorstellung befremdlich oder gefährlich gar. Plötzlich mit digitalen Avataren zu kommunizieren, die an unsere liebsten Menschen erinnern sollen, die wir verloren haben? Für andere mag es Trost spenden. Lilli Berger hat eine konkrete Vorstellung:
Musik: Aufbruch (reduced 2) 0‘44
30 Zsp Trauerkultur-Der Tod und die Digitalisierung LILLI BERGER:
Also ich wünsche mir von der Zukunft, dass wir alle so einen digitalen Ort haben, an dem wir an Verstorbene erinnern. In meinem Fall zum Beispiel wäre das eine virtuelle Insel. Und da wären dann all die Menschen, die ich dann verloren haben werde. Also mein Vater bekäme dann digitale Berge, meine Mutter würde einen Platz an dem Meer haben und ich könnte mir vorstellen, dass man dann regelmäßiger solche Orte besucht und einander austauscht, um so ein bisschen die Erinnerungen zu teilen und weiterzugeben, sie wieder lebendig werden zu lassen.
Eine Idee, die vor rund 900 Jahren in den Wald gesetzt wurde und seitdem immer wieder zu neuem Leben erwachte: das Kloster Waldsassen. Nach viel dramatischem Auf und Ab bis in die letzten Jahre ist der Ort mit seiner barocken Pracht heute der große Besuchermagnet im Oberpfälzer Stiftland. Von Thomas Morawetz (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Morawetz
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Andreas Neumann, Irina Wanka
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Laetitia Fech OCist, Äbtissin Kloster Waldsassen;
Dr. Thomas Vogl, Stadtpfarrer Waldsassen;
Bernd Sommer, Erster Bürgermeister der Klosterstadt Waldsassen;
Natalie Müller, Führerin durch die Klosterbibliothek
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Linktipps zu den Sehenswürdigkeiten
Die Seite der Abtei mit Mädchenrealschule, Gästehaus St. Joseph, Straußenfarm Mitterhof, Kultur- und Begegnungszentrum und Umweltstation
EXTERNER LINK | https://abtei-waldsassen.de/
Pfarrei Waldsassen mit der barocken päpstlichen Stiftsbasilika
EXTERNER LINK | https://www.pfarrei-waldsassen.de/
Die barocke Kapplkirche:
EXTERNER LINK | https://www.kapplkirche.de/
Die Gemeinde Waldsassen und die barocken Sehenswürdigkeiten der Stadt:
EXTERNER LINK | https://www.tourismus.waldsassen.de/entdecken/unsereschaetze/
Links zur Geschichte von Kloster und Ort:
Pius Bieri, Ehemalige Zisterzienserabtei Waldsassen (2019)
Reich illustrierte ausführliche Geschichte von Kloster und Ort mit weiterer Literatur
EXTERNER LINK | https://www.sueddeutscher-barock.ch/In-Werke/s-z/Waldsassen.html
Dietmar Herrmann, Im Jahr 2008: 875 Jahre Kloster Waldassen
Knapperes Porträt des Klosters anlässlich der 875-Jahrfeier. Illustriert, mit Karte und weiteren Links
EXTERNER LINK | http://www.bayern-fichtelgebirge.de/heimatkunde/108.htm
P. Alkuin Schachenmayr O.Cist., Kloster Waldsassen: Ein geschichtlicher Überblick. Wissenschaftlicher Aufsatz von 2018.
EXTERNER LINK | https://kidoks.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/1983/file/Waldsassen_SMBO_2018_149-170.pdf
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Abakus, Rechenschieber, Taschenrechner: Schon lange nutzt der Mensch Hilfsmittel, um nicht alles im Kopf ausrechnen zu müssen. Solche Rechenhelfer hatte man früher aber nicht immer dabei. Heute greifen wir selbst für simple Aufgaben zur Smartphone-App. Wie wirkt sich das auf unsere Fähigkeiten aus? Von David Globig
Credits
Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Heiko Ruprecht, Katja Schild, Clemens Nicol
Technik:
Redaktion: Hellmuth Nordwig
Im Interview:
Daniel Timms, Kopfrechen-Trainer
Dr. Christina Artemenko, Fachbereich Psychologie, Universität Tübingen
Prof. Hans-Christoph Nürk, Diagnostik und kognitive Neuropsychologie, Universität Tübingen
Dr. Gert Mittring, Psychologe und Kopfrechen-Weltrekordler
Prof. Stefan Ufer, Didaktik der Mathematik und Informatik, Ludwig-Maximilians-Universität München
Caroline Merkel, Organisatorin der Junioren Kopfrechen-WM
Niklas Arndt, Schüler
Willem Bouman, Kopfrechen-Künstler
Linktipps:
Junioren Kopfrechen-Weltmeisterschaft HIER
Arbeitsbereiche Diagnostik und Kognitive Neuropsychologie der Universität Tübingen HIER
Internetseite von Gesprächspartner Daniel Timms HIER
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 ZUSP Atmo Timms, darüber:
SPRECHER:
Ein Klassenzimmer in einem Bielefelder Gymnasium. An diesem Sonntag sind die Räume ausnahmsweise nicht leer: Gut 80 Kinder und Jugendliche sind aus aller Welt gekommen, um sich auf die Junioren-Kopfrechen-Weltmeisterschaft vorzubereiten. Dazu gibt es Workshops, und einen davon leitet der Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache]. Aufmerksam hört ihm eine Gruppe von Jugendlichen zu. Gerade erzählt Timms etwas zu den Überraschungs-Aufgaben, für die es am nächsten Tag im eigentlichen Wettbewerb Sonderpunkte geben wird.
(MUSIK unter den letzten Worten ausgeblendet)
Atmo Timms kurz hoch, darüber:
SPRECHER:
Innerhalb von zwei Stunden sollen die Jugendlichen hunderte von Aufgaben lösen. Ausschließlich im Kopf. Einen Stift dürfen sie nur benutzen, um die Ergebnisse aufzuschreiben – keine Zwischenschritte. Die Aufgaben sind anspruchsvoll: Ziehe die Kubikwurzel aus einer zwölfstelligen Zahl. Oder zerlege eine neunstellige Zahl in ihre Primfaktoren. Rechne aus, in welchen Monaten des Jahres 2078 der 18. auf einen Montag fällt.
Natürlich braucht man so etwas nicht im Alltag. Doch auf nicht ganz so hohem Niveau ist Kopfrechnen auch im täglichen Leben nützlich, betont Daniel Timms [englische Aussprache].
02 ZUSP Timms:
"For most people the most practical thing...
Voiceover:
Für die meisten Menschen ist das Praktischste daran, dass sie etwa ihre Zeitplanung im Kopf machen können. Oder dass sie die Größenordnung von Zahlen verstehen. Wissen Sie zum Beispiel, was 1 Million geteilt durch vier ist? Viele Menschen wissen vielleicht noch, dass bei der Antwort 25 eine Rolle spielt. Aber ist die Antwort 25.000? Nein, es sind 250.000. Und das ist keine schwierige Kopfrechnung, aber viele Menschen haben schon lange nicht mehr auf diese Weise über Zahlen nachgedacht und finden etwa Berechnungen mit Geldbeträgen sehr schwierig. Das ist für mich einer der unterschätzten Aspekte des Kopfrechnens, die jeden betreffen - egal, ob man glaubt, gut in Mathematik zu sein oder nicht.
...think you are good at mathematics or not."
SPRECHER:
Matheaufgaben in den vier Grundrechenarten im Kopf zu lösen - eine Zahl plus eine andere Zahl, minus, mal oder geteilt durch: Das lernen bei uns alle Schülerinnen und Schüler schon in der Grundschule. Das Einmaleins z.B.: Irgendwann hat man dann die Lösung für 6 mal 7 einfach parat – und vielleicht sogar für 16 mal 17: ... 272. Das ist dann schon das große Einmaleins.
Was beim Rechnen im Kopf passiert, das kann selbst bei einfachen Aufgaben ziemlich komplex sein: Die unterschiedlichsten Regionen des Gehirns sind daran beteiligt, erklärt Dr. Christina Artemenko. Sie arbeitet am Fachbereich Psychologie der Universität Tübingen und erforscht unter anderem, wie der Mensch Zahlen verarbeitet und wie er mit ihnen rechnet.
03 ZUSP Artemenko:
"Beispielsweise in der Multiplikation lernen Kinder schon in der zweiten und dritten Klasse die Multiplikations-Fakten quasi auswendig: 3 mal 5 ist 15. Das sind Fakten, die bei uns im Gehirn abgespeichert sind und dann immer wieder abgerufen werden."
SPRECHER:
Mit bildgebenden Verfahren lässt sich zeigen: Die Bereiche, in denen solche bekannten Informationen abgespeichert sind, liegen im Gehirn an einer anderen Stelle, als die Areale, die man benötigt, um tatsächlich etwas spontan auszurechnen.
04 ZUSP Artemenko:
"Wenn ich jetzt beispielsweise eine Aufgabe stelle wie 96 minus 25, da muss man Schritt für Schritt rechnen. Man muss die Zahlen in Zehner und Einer zerlegen, und da sind viele Rechenschritte nötig. Das sind Aufgaben, die ganz anders im Gehirn repräsentiert sind. Dafür brauchen wir Ressourcen im frontalen Kortex, also vorn im Gehirn, die so die Rechenschritte und Arbeitsgedächtnis-Prozesse und sowas wiedergeben."
STIMME OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHER:
... wobei die im Langzeitgedächtnis abgespeicherten Fakten - wie das kleine Einmaleins - auch das sogenannte Arbeitsgedächtnis unterstützen. Es kommt ins Spiel, wenn Aufgaben den auswendig gelernten Zahlenbereich verlassen, ergänzt Hans-Christoph Nürk. Er ist Professor für Diagnostik und kognitive Neuropsychologie an der Universität Tübingen.
05 ZUSP Nürk:
"Wir wissen, dass beim komplexen Rechnen, also wenn ich Ihnen jetzt die Rechenaufgabe gebe 17 mal 29, es Ihnen natürlich schon hilft, also, wenn Sie es im Kopf rechnen müssen, wenn Sie die einfachen Multiplikationszahlen parat haben. Weil wir wissen, dass bei komplexen Aufgaben das Arbeitsgedächtnis sehr belastet ist. Und wenn Sie das Arbeitsgedächtnis entlasten können, weil Sie bestimmte Fakten, einfache Fakten, kleines Einmaleins, einfach abrufen können, dann können Sie natürlich besser rechnen."
SPRECHER:
Zahlen merken wir uns einerseits als Wörter, wir können sie aber auch vor unserem inneren Auge sehen. Etwa tatsächlich als Ziffern.
Manche von uns sehen Zahlen sogar wie auf einer Art Zahlenstrahl: kleinere Zahlen weiter links, größere weiter rechts. Oder die Zahlen sind auf eine bestimmte Weise im Raum verteilt.
MUSIK
SPRECHER:
Klar ist: Kopfrechnen beherrscht man nicht einfach so – aber viele Experten halten es für wichtig, dass man es kann.
06 ZUSP Mittring:
"Wenn Sie eine gute Kopfrechnen-Grundkompetenz haben, dann haben sie erst einmal viele Vorteile für den Alltag, dass Sie praktisch ihren Alltag geschickter auch einteilen können. Dass Sie ungefähr eine Vorstellung haben, wie lange dauert was. Sie würden auch im Supermarkt nicht zu viel bezahlen.
SPRECHER:
Weil man beim Einpacken in den Einkaufswagen im Kopf grob mitrechnen kann, meint Dr. Gert Mittring. Er ist Psychologe - und hat selbst mehrfach Weltrekorde im Kopfrechnen aufgestellt.
In einer Zeit, in der Zahlen eine so große Rolle in unserem Leben spielen, hält er die Fähigkeit für notwendig, z.B. einen Geldbetrag im Kopf zu überschlagen und Größenordnungen abzuschätzen.
Ähnlich sieht es Stefan Ufer. Er ist Professor für Didaktik der Mathematik und Informatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für ihn ist außerdem entscheidend: Kopfrechnen schafft eine Grundlage, auf der weitere mathematische Fähigkeiten aufbauen können. Etwa dadurch, dass man beim Kopfrechnen mathematische Strukturen nutzt.
07 ZUSP Ufer:
"Also wir rechnen 7 mal 8 in der zweiten Klasse. Da lernen die Kinder irgendwelche Kernaufgaben, die werden relativ schnell automatisiert, z.B. die Vielfachen von 2 und von 5. Also können sie rechnen: 7 mal 8 ist 2 mal 8 plus 5 mal 8. Das ist eine typische Strategie. Da hängt eine gewisse Struktur dahinter. Später lernen die Kinder: Ach, das ist eine ganz allgemeine Struktur, das heißt Distributivgesetz. Später wird gelernt: Ach, das heißt eigentlich auch Ausklammern. Das kann ich ganz allgemein nicht nur mit Zahlen, auch mit Termen machen. Später sieht es dann plötzlich aus wie die binomischen Formeln. Und wir sehen, diese Strukturen, die helfen uns, neue Konzepte zu erwerben."
SPRECHER:
Kopfrechnen fördert also das Verständnis für mathematische Strukturen. Und das kann es wiederum erleichtern, ganz anders an Rechenaufgaben heranzugehen. ((Wenn man z.B. 603 minus 598 rechnen will, ist das natürlich schrittweise möglich:
603 minus 8 ist 595,
595 minus 90 ist 505
und 505 minus 500 ist 5.
08 ZUSP Ufer:
"Ich kann aber auch anders draufschauen, mit einem Verständnis über Strukturen und sagen: Na ja, 603 minus 598 kann ich mich doch auch fragen, wie weit ist es von der 598 bis 603? Ja, 2 bis zu 600. Noch 3 weitere sind 5. Geht natürlich viel leichter, und auch hier habe ich wieder eine Struktur genutzt: Die Addition hat was mit der Subtraktion zu tun. Und je häufiger ich diese Struktur nutze, umso besser kann ich sie natürlich auch in anderen Kontexten anwenden. Das ist eine Funktion von Kopfrechnen in der Schule, die vielleicht oft unterschätzt wird, die aber extrem wichtig ist für den weiteren Verständnis-Aufbau."))
SPRECHER:
Und es kommt noch etwas hinzu: Kopfrechen-Fertigkeiten entwickeln sich nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel mit anderen Fähigkeiten. Hier gibt es Wechselwirkungen, die Christina Artemenko von der Universität Tübingen beschreibt. Zum Beispiel hat man mit einem guten Arbeitsgedächtnis Vorteile beim Kopfrechnen. Und kann damit wiederum sein Gedächtnis trainieren.
09 ZUSP Artemenko:
"Je mehr man im Kopf rechnet, desto mehr lernt man ja auch, sich Sachen zu merken und so weiter, was Auswirkungen auf das Arbeitsgedächtnis haben sollte. Also, wenn das eine besser wird, wird auch das andere besser und umgekehrt. Also, diese Fähigkeiten hängen sehr stark zusammen."
MUSIK, darüber:
SPRECHER:
Die Fähigkeit, im Kopf zu rechnen, kann uns den Alltag erleichtern; sie erlaubt es uns, ganz grundsätzliche mathematische Zusammenhänge zu begreifen; und wir trainieren durch Kopfrechnen unser Gedächtnis. Allerdings scheint es so, dass manche Menschen von diesem Training nicht viel halten: Sie nutzen ihr Smartphone, wenn sie mit Zahlen umgehen müssen.
Dass es heute nicht mehr unbedingt normal ist, etwas kurzerhand im Kopf auszurechen, vielleicht sogar schon unbewusst mitzurechnen, wenn man Zahlen hört, diese Erfahrung hat auch Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache] gemacht.
10 ZUSP Timms:
"I was in Mexico recently and I saw...
Voiceover:
Ich habe kürzlich in Mexiko gesehen, wie Leute sehr einfache Berechnungen in ihren Taschenrechner getippt haben. Dinge wie 40 plus 45, weil sie das in ihrem Kopf nicht schaffen konnten. Klar, wenn ich etwas sehr Schwieriges präzise und schnell berechnen muss, dann benutze ich auch einen Taschenrechner, weil ich die korrekte Antwort haben will. Aber bei Menschen, die nicht so viel Vertrauen in ihr Kopfrechnen haben, ist es so, dass sie selbst bei einfacheren Aufgaben mit einem Taschenrechner nachrechnen. Nur: Wenn sie ohnehin alles mit dem Taschenrechner nachprüfen, dann sehen sie keinen Sinn im Kopfrechnen - also lassen sie es ganz sein.
...so they just don't ever do mental maths."
SPRECHER:
Und das, glaubt Timms, passiere überall auf der Welt.
Wissenschaftlich lässt es sich allerdings gar nicht so einfach belegen, ob die Fähigkeit zum Kopfrechnen zurückgeht oder nicht. Und noch schwieriger wird es bei der Frage, welchen Einfluss dabei möglicherweise Rechenhilfen wie das Smartphone haben.
Zitatorin:
These 1:
GERÄUSCHEFFEKT
Zitatorin:
Frühere Generationen konnten tatsächlich besser kopfrechnen als heutige.
SPRECHER:
Unter anderem das erforscht Christina Artemenko. Sie lässt etwa Probandinnen und Probanden unterschiedlicher Altersgruppen im Kopf mit mehrstelligen Zahlen rechnen.
11 ZUSP Artemenko:
"Das Interessante ist daran, dass sich selbst diese Rechenfähigkeiten bei Erwachsenen weiterentwickeln. Es verändert sich, wenn man sich anschaut, was beim Altern so passiert. Und da scheint das Rechnen eine große Ausnahme zu sein. Denn normalerweise ist es so, dass die kognitiven Fähigkeiten eher abgebaut werden im Alter. Man kann sich Sachen nicht mehr so gut merken usw. Nichtsdestotrotz: Diese Rechenprozesse scheinen auch ältere Erwachsene noch sehr gut hinzubekommen, sogar viel besser als jüngere Erwachsene."
SPRECHER:
Die spannende Frage ist nun: Liegt das daran, dass die ältere Generation der jüngeren einfach jahrelange Übung voraushat? Entwickeln jüngere Erwachsene diese Rechenfähigkeiten also im Laufe der Zeit noch? Oder liegt es daran, dass sie heute schneller zum Rechenhilfsmittel Smartphone greifen, und deshalb das Kopfrechnen schon im vergleichsweise jungen Alter wieder verlernen?
Ein Problem ist dabei: Die entsprechenden Studien sind sogenannte Querschnittstudien, also jeweils einmalige Untersuchungen. Mit denen lässt sich der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung hier aber nicht eindeutig klären, betont Hans-Christoph Nürk.
12 ZUSP Nürk:
"Um das kausal zu machen, bräuchte man eigentlich längsschnittliche Studien, also müsste die Leute ihr ganzes Leben lang beobachten und immer wieder ins Labor einbestellen und dann sich die Entwicklung angucken." STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHER:
... Und um zu einem ganz eindeutigen Ergebnis zu kommen, was den Einfluss von ständig greifbaren Smartphones als Rechenhilfe angeht, müsste man dann auch noch dafür sorgen, dass die Hälfte der Testpersonen ohne diese Unterstützung aufwächst - ein Ding der Unmöglichkeit.
Da man sich nicht schon vor vielen Jahren mit der Kopfrechen-Kompetenz der heute älteren Menschen beschäftigt hat, fehlen außerdem auch andere entscheidende Informationen.
13 ZUSP Nürk:
"Weil es natürlich auch immer sein kann, dass es sogenannte Kohorten-Effekte gibt, sprich, dass die Probanden, die jetzt älter sind, vielleicht in der Schule schon als Kinder noch viel besser rechnen gelernt haben wie die heutigen Kinder."
Zitatorin:
These 2 ist also:
GERÄUSCHEFFEKT
Zitatorin:
Früher wurde während der Schulzeit mehr Wert aufs Kopfrechnen gelegt als heute.
SPRECHER:
In diesem Fall wären Lehrpläne und Unterricht entscheidende Faktoren. Tatsächlich vermutet Christina Artemenko etwas Derartiges. Beispiel: Das Einmaleins.
14 ZUSP Artemenko:
"Das ist etwas, was, glaube ich, in den höheren Generationen damals im Bildungssystem noch viel mehr forciert wurde. Und das sieht man auch heutzutage an den Effekten, dass sie bei diesem Faktenabruf tatsächlich noch viel besser sind als die heutigen Erwachsenen."
SPRECHER:
In der Schule das Einmaleins als Rechengrundlage auswendig zu lernen: Das scheint ein wesentlicher Punkt zu sein.
Zitatorin:
Somit lautet These 3:
GERÄUSCHEFFEKT
Zitatorin:
Es ist gar nicht so entscheidend, ob wir später auch mal das Smartphone zum Rechnen benutzen oder nicht.
SPRECHER:
Man macht es sich jedenfalls zu einfach, wenn man ihm die Alleinschuld gibt, meint Stefan Ufer vom Mathematischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zumal "Rechenhelfer" immer schon unter Verdacht geraten sind, dem Kopfrechnen abträglich zu sein.
15 ZUSP Ufer:
"Man hat diese Diskussion schon sehr lange. Also, es gab die Diskussion jetzt mit dem Smartphone. Es gab die Diskussion vorher mit Computeralgebra-Systemen, die eigentlich alle Aufgaben, die man in der Schule macht, alle Aufgabentypen automatisch lösen können. Also, da muss man eigentlich auch nicht mehr viel tun. Es gab die Diskussion schon beim Taschenrechner. Es gab wahrscheinlich die gleichen Diskussionen, ob man schriftliche Rechenverfahren behandeln soll. Immer dann, wenn man Methoden hat, mit denen man die Mathematik 'trivialisieren' kann, ja, dann kommt man in diese Diskussion."
SPRECHER:
Weil es jedes Mal die Befürchtung gibt: So ein Hilfsmittel könnte dafür sorgen, dass man nicht mehr über die mathematischen Zusammenhänge hinter einem Rechenvorgang nachdenkt. Und folglich seien neue Rechengeräte oder entsprechende Programme automatisch schädlich für die Kompetenz im Kopfrechnen.
Ganz so simpel ist es nicht. Smartphones und Tabletcomputer lassen sich beispielsweise auch nutzen, um mathematische Zusammenhänge spielerisch zu vermitteln, etwa mit Hilfe von Lernsoftware. Und schon vor einigen Jahrhunderten wurde ein Rechenhelfer eingeführt, der es offenbar sogar einfacher macht, komplexe Aufgaben im Kopf zu lösen: der Abakus bzw. sein asiatisches Pendant, in Japan Soroban genannt.
GERÄUSCH Abakus-Kugeln klacken, darüber:
SPRECHER:
Ein Soroban besteht aus einem Rahmen mit mehreren parallel angeordneten Stangen. Auf jeder dieser Stangen sitzen fünf oder mehr Kugeln bzw. Perlen, die auf und ab gleiten können. Jede Ziffer einer Zahl entspricht einer bestimmten Stellung der Kugeln auf einer Stange. Zum Rechnen verschiebt man nun diese Kugeln. Menschen, die gelernt haben, mit dem Soroban zu rechnen, sehen beim Kopfrechnen Zahlen anders vor sich, als Menschen, die mit arabischen Ziffern rechnen, erläutert Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache].
16 ZUSP Timms:
"If you think of the number 65...
Voiceover: Bei der Zahl 65 sehe ich eine Sechs und eine Fünf in arabischen Ziffern. Aber Menschen, die mit dem Soroban rechnen, sehen die Zahl auch beim Kopfrechnen als eine bestimmte Anordnung von Perlen. Ein Vorteil ist, dass sie leichter mit den Zahlen umgehen können, ohne in Versuchung zu geraten, sie sich selbst zu sagen. Die Leute lernen, damit sehr, sehr schnell zu rechnen.
...to do this very, very quickly."
SPRECHER:
Was dann auch beim Kopfrechnen funktioniert. Und sie haben offenbar noch einen weiteren Vorteil dadurch, dass sie den Soroban nutzen: Mit den Rechenvorgängen sind Fingerbewegungen verknüpft, erklärt Christina Artemenko. Dass so etwas beim Rechnen hilft, weiß man nicht zuletzt aus Studien mit Kindern, die beim Zählen ihre Finger benutzen dürfen.
17 ZUSP Artemenko:
"Wenn man dazu dann ins Gehirn schaut, dann kann man tatsächlich entdecken, dass dadurch verschiedene Repräsentationen von Zahlen aufgebaut werden. Beispielsweise wenn man die Finger benutzt, dann trainiert man eben nicht nur das Areal, was für die Zahlen verantwortlich ist, sondern eben auch sensomotorische Areale, die halt für die Fingerbewegungen verantwortlich sind."
MUSIK
SPRECHER:
Zwei Dinge lassen sich zumindest sagen: Rechenhilfsmittel sind nicht grundsätzlich schlecht für die Kopfrechen-Kompetenz.
Und: Selbst, wenn einem Taschenrechner und Smartphone später sämtliche Rechenarbeit abnehmen könnten, bleibt es wichtig, die fürs Kopfrechnen notwendigen Grundlagen zu vermitteln. Damit Schülerinnen und Schüler z.B. mathematische Strukturen verstehen können.
MUSIK
SPRECHER:
Die Erfahrung zeigt aber: Im Alltag wird immer seltener "einfach mal so" etwas im Kopf ausgerechnet. Ob das tatsächlich daran liegt, dass man heute jederzeit zum Smartphone mit integriertem Taschenrechner greifen kann - das bleibt unklar. Letztlich spielt es aber auch keine entscheidende Rolle. Das Smartphone wird nicht wieder verschwinden. Um Kopfrechen-Kompetenz zu erhalten, muss man woanders ansetzen.Zum einen natürlich beim Unterricht. Der darf sich nicht auf reines Auswendiglernen beschränken. Er sollte die Kinder motivieren, ihre Fähigkeiten anzuwenden, meint Stefan Ufer. Nicht zuletzt, indem man sie verschiedene Kopfrechen-Strategien ausprobieren lässt. Strategien, die unterschiedlich fehleranfällig sind - und unterschiedlich schnell zum Ergebnis führen. Nur frustrieren sollt man die Kinder dabei nicht.
18 ZUSP Ufer:
"Da steckt natürlich viel auch dahinter, wieviel traue ich mir zu? Wieviel Erfolgserfahrungen habe ich gemacht? Wie gut glaube ich, dass ich das kann? Und da kann der Unterricht natürlich auch Schülerinnen und Schülern ein bisschen mehr Sicherheit mitgeben, indem er eben auch Erfolgserlebnisse – gerade bei so einer flexiblen Strategienutzung – vermittelt, in dem Rahmen, wie die Kinder das halt jeweils individuell schaffen können."
SPRECHER:
Doch wahrscheinlich reicht es nicht, nur mehr Selbstvertrauen beim Kopfrechnen zu vermitteln, sondern, man muss auch Lust darauf machen. Womit wir wieder beim Wettbewerb in Bielefeld wären...:
19 ZUSP Atmo Timms, darüber:
SPRECHER:
... und bei Trainer Daniel Timms [englische Aussprache], der umringt ist von jungen Menschen aus aller Welt, die sich in seinem Workshop auf die Aufgaben bei der Junioren-Kopfrechen-Weltmeisterschaft vorbereiten.
Atmo Timms kurz hoch, darüber:
SPRECHER:
Solche Wettbewerbe sollen für Zahlen-Knobeleien begeistern, sollen Menschen zum Kopfrechnen ermutigen – möglichst auch im Alltag, erklärt Caroline Merkel. Sie ist die Organisatorin der Weltmeisterschaft.
20 ZUSP Merkel:
"Hier geht es ja eher darum, auch wieder Kopfrechnen als Kulturgut sozusagen an Leute heranzubringen. Schülerinnen und Schüler, die sich hier bewerben, aus Deutschland oder eben auch aus anderen Ländern, bekommen ja hier nicht nur den Wettbewerb, an dem sie sich messen, sondern sie haben auch zwei Tage Workshops, in denen sie ihr Wissen, ihr Interesse aufbauen können. Ich habe schon die Hoffnung, dass wir hier wirklich noch mal viele junge Menschen begeistern können, sich mit Zahlen, mit dem Gefühl für Zahlen auch auseinanderzusetzen."
SPRECHER:
Das gleiche sollen Meisterschaften auf regionaler Ebene leisten. Über die ist – angeregt durch seine Mathelehrerin – auch Niklas Arndt aus Marl zur Junioren-Kopfrechen-WM gekommen. Er profitiert inzwischen jenseits solcher Wettbewerbe ebenfalls davon, immer mehr im Kopf rechnen zu können.
21 ZUSP Arndt:
"Ich kann viel besser mittlerweile Zahlen schätzen. Zum Beispiel, wenn ich eine Aufgabe sehe, weiß ich, in welchem Bereich renkt sich das irgendwie ein. Das kommt alles mit der Übung. Ich finde, das hat auch irgendwas, wenn wir jetzt im Matheunterricht eine Aufgabe haben, alle holen ihren Taschenrechner raus, und ich habe es halt schon im Kopf ausgerechnet."
MUSIK (bereits unter dem letzten Satz langsam eingeblendet), darüber:
SPRECHER:
Was Niklas Arndt dank seines Trainings kann, übersteigt bei weitem das, was die meisten von uns beim Kopfrechnen hinbekommen. Doch ganz egal, auf welchem Niveau man es beherrscht: Man muss diese Fähigkeit pflegen, sie immer wieder nutzen. Das betont auch ein anderer Workshop-Leiter bei der Junioren-Weltmeisterschaft: Willem Bouman [Baumann]. Sein Spitzname: "König der Primzahlen".
22 ZUSP Bouman:
"Sie müssen trainieren. Denn: 'If you don't use it, you loose it'. Wenn man aufhört mit Rechnen, dann geht auch die Fähigkeit stark herunter. Also man soll, auf Deutsch gesagt, immer am Ball bleiben."
SPRECHER:
Und dafür ist Bouman [Baumann] das beste Beispiel: Mit über 80 nimmt er immer noch an der Kopfrechen-Weltmeisterschaft für Erwachsene teil. Und knobelt dann an dutzenden Aufgaben wie: Quadratwurzel aus 1147 mal 1517 mal 1271.
Die Lösung ist übrigens 47027.
Fünfzig Anrufe am Tag, Nachstellung, Bedrohung, Erpressung. Für Stalking-Opfer wird das Leben schnell zur Hölle. Jeder Achte ist irgendwann im Laufe des Lebens betroffen. Auch wenn es Anti-Stalking-Gesetze gibt, lassen sich Täter selten davon beeindrucken. Umso wichtiger sind professionelle Beratungsangebote für Opfer sowie für Täter. Von Karin Lamsfuß (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Harald Dreßing, Stalkingforscher, Uni Mannheim;
Wolf-Ortiz Müller, Dipl. Psychologe und Leiter der Beratungsstelle Stop Stalking Berlin;
Gerhard Müllenbach, stellv. Bundesvorsitzender des Weißen Rings
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Linktipps für Betroffene:
EXTERNER LINK | www.polizei-beratung.de/opferinformationen/stalking/
EXTERNER LINK | weisser-ring.de/tipps-gegen-stalking
EXTERNER LINK | www.stop-stalking-berlin.de/
Literaturtipps:
Dreßing, Harald und Gass, Peter: Stalking!: Verfolgung, Bedrohung, Belästigung. Hogrefe-Verlag;
Ortiz-Müller, Wolf: Stalking. Das Praxishandbuch, Verlag Kohlhammer
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Alles von vorne bis hinten durchzuplanen, ohne Pannen und böse Überraschungen: für manche eine schöne und vor allem beruhigende Vorstellung. Doch leider funktioniert das Leben oft so nicht. Vieles kommt anders, als man denkt. Und dann ist es von Vorteil, wenn man die Kunst der Improvisation beherrscht. Von Karin Lamsfuß
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Irina Wanka
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Georg Bertram, Philosoph FU Berlin
Andreas Wolf, Gründer und Leiter des Impro-Ensembles fastfood-theater
Carsten Alex, Aussteiger und Coach
Ines Klose, Unternehmerin
Ralf Promper, Leiter der Obdachloseneinrichtung SKM
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
Linktipps:
Georg Bertram; Michael Rüsenberg: Improvisieren! Lob der Ungewissheit, Reclam Verlag, 2021
Andreas Wolf: Spontan sein. Improvisation als Lebenskunst. ComTeammedia, 2013
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Carsten Alex (0‘03“)
Die Zutaten waren in jedem Fall mal keinen Plan zu haben.
O-Ton 2 Carsten Alex (0‘04“)
Wir hatten also nur ein One-Way-Ticket: Stuttgart-Mailand-Mailand-Bombay…
O-Ton 3 Carsten Alex (0‘05“)
Es gab keine feste Planung, es gab auch keinen definierten Zeitpunkt, an dem ich wieder zurückkehren wollte.
O-Ton 4 Carsten Alex (0‘08“)
Das war wirklich von null auf tausend. Ich brauchte auch erst mal Zeit, um in diese Reise hineinzukommen. In dieses Planlose, in dieses Gelassene.
O-Ton 5 Andreas Wolf (0‘10“):
Und das hat viel mit Improvisation zu tun, nämlich das Loslassen. Ein guter Improvisateur kann loslassen, der schlechte Improvisateur - in Anführungsstrichen - kontrolliert.
Musik weg
Sprecher:
Ungeplant, spontan, kreativ, ohne Struktur, aus dem Moment heraus – all das sind Merkmale der Improvisation: Wenn die Präsentation auf dem Rechner plötzlich zerschossen ist, wenn das Kind auf der langen Autofahrt nölig wird, wenn das Gepäck auf dem Flug verloren geht, wenn plötzlich Gäste kommen und der Kühlschrank gähnend leer ist – das sind nur wenige Beispiele für die unzähligen Herausforderungen im Leben, in denen Improvisation gefordert ist.
Sprecherin:
Improvisation ist ziemlich anspruchsvoll, sagt Andreas Wolf, Gründer des Münchner Impro-Theater-Ensemble „fastfood-Theater“. Denn es geht dabei gleich um mehrere Dinge: Kontrolle abgeben. Bekannte Strukturen verlassen. Mut aufbringen. Und Gelassenheit:
O-Ton 6 Andreas Wolf: (0‘16“)
Also Gelassenheit heißt: getragen werden. Schwimmen lerne ich ja, indem ich vertraue, dass ich oben schwimme. Ich muss gar nicht viel machen, aber ich brauche das Vertrauen. Weil wenn ich strampele aus Angst, gehe ich runter und das ist ja dieses Vertrauen in das Leben.
Musik, dann darüber:
Sprecherin:
Vertrauen ins Leben. Mut zur Ungewissheit, Mut zur Improvisation. Das war Carsten Alex nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Zunächst ergriff er einen Beruf, der für das genaue Gegenteil steht: klare Regeln, Struktur, Vorhersehbarkeit. Carsten Alex war Schalterbeamter bei der Post.
Irgendwann fühlte ich die klassische Beamtenlaufplan zu eng an. Er studierte BWL, machte danach Karriere bei einem großen Automobilhersteller. Mit 32 hatte er (alles) : Geld, Macht und Einfluss. Und trotzdem rumorte es weiter in ihm. So dass er eines Tages den Sprung ins kalte Wasser wagte.
O-Ton 7 Carsten Alex (0‘14“):
Gekündigt, Hab und Gut verkauft, meine sehr persönlichen Dinge hab ich eingelagert, und dann bin ich mit einem Rucksack gestartet. Also ich hab mein vorher sehr Konsum- und Material-orientiertes Leben von jetzt auf gleich verändert.
Sprecherin:
20 Monate war Carsten Alex unterwegs. Gemeinsam mit einem Freund. Mongolei, China, Nepal, Indien, China, Loas, Kambodscha. Später Südamerika. Sie ließen sich treiben. Planten maximal bis zum nächsten Tag.
O-Ton 8 Carsten Alex (0‘30“)
Gerade das Berufsleben in der Gegenwart erfordert ja ne hohe Zielstrebigkeit, ne hohe Präzision, durchaus auch Planung. Und mal festzustellen, dass das Leben mal ne ganz andere Qualität erreichen kann wenn die Dinge nicht so durchgeplant sind, dass ich Menschen eine Chance gebe, dass ich Begegnungen und Zufällen eine Chance geben kann und nicht immer von dem einen zum nächsten Termin hetzen muss. Und ich habe neun Monate gebraucht um die lange-Weile genießen zu können.
Sprecherin:
20 Monate lang Improvisation, 20 Monate Leben aus dem Moment heraus. Oft wussten er und sein Freund nicht, wo sie die nächste Nacht verbringen würden. Es gab dauernd unerwartete Situationen. Beispiel: Bangladesch. Generalstreik, begleitet von Straßenkrawallen. Nichts ging mehr.
O-Ton 9 Carsten Alex (0‘24“)
In Bangladesch hatten mich hatten mich vier junge Burschen gefragt, ob ich nicht bei ihnen wohnen möchte. Und ich war verdutzt: „Wie? Wo?“ „Ja, bei meiner Familie!“ Und hab zwei Sekunden nachgedacht und hab gesagt „Ich mache es!“ Und diese fünf Tage in einem muslimischen Haushalt zu erleben und dort Gast zu sein, das hat mich sehr stark berührt. Und in meiner verkopften Welt hier wäre ich dem so nicht nachgegangen!
Musikzäsur
Sprecher:
Das Wort „Improvisation“ wird in mehreren Zusammenhängen benutzt: Erstens: Handeln aus dem Moment heraus, ohne Vorbereitung, aus dem Stehgreif. Zweitens: Spontane Lösungen für unvorhersehbare Probleme finden. Drittens: Kreativer Umgang mit dem Mangel. Also aus „nichts“ etwas zaubern.
Zurück geht das Wort auf das Italienische „all improvviso“. Plötzlich. Abrupt. Unerwartet. Ist Improvisieren also ein relativ neues Phänomen? Schließlich hat die italienische Sprache in ihrer heutigen Form ihren Ursprung im 14. Jahrhundert.
Sprecherin:
Nein, sagt der Philosoph Prof. Georg Bertram, der das Buch „Improvisieren – Lob der Ungewissheit“ geschrieben hat. Er sagt: Improvisieren gehörte schon immer zum Menschsein dazu.
O-Ton 10 Georg Bertram (0‘21“):
Denken wir an Heraklits berühmtes „Alles fließt“. D.h. wenn alles fließt, wenn alles nicht fest ist, heißt das, dass wir im Grunde uns darauf einstellen können, dass das unsere wesentlichen Fähigkeiten sind, auf das sich stets Verändernde zu reagieren. D.h. wir, die wir im Fluss sind oder wo auch immer, sind stets mit sich verändernden Realitäten konfrontiert.
Musikzäsur
Sprecher:
Auch wenn es dem einen leichter und der anderen schwerer fällt: Jeder Mensch muss im Alltag improvisieren. Keiner kommt ohne diese Fähigkeit durch Leben.
Sprecherin:
Es beginnt, so Georg Bertram, bereits in jedem halbwegs anspruchsvollen Gespräch, das über den einfachen Small-Talk herausgeht.
O-Ton 11 Georg Bertram (0‘24“)
Denken wir an einen Beziehungskonflikt. Wenn ich mit dem Partner der Partnerin über irgendwas, was im Argen liegt, beginne ernsthaft zu streiten, ist ganz klar, dass ich nicht weiß, was sie vorbringen wird, was er vorbringen wird, und darauf reagieren zu können. Und zwar auf ne angemessene Art und Weise reagieren zu können. Wenn im Grunde ich mir so ein paar Schema-Antworten zurechtlege, wird das Gespräch notwendigerweise schief gehen. Weil die Schema-Antworten nicht passen.
Sprecherin:
Andreas Wolf sagt: Zur Improvisation braucht man Neugier, Offenheit und Mut. Der Impro-Theater-Gründer lehrt das auch in Workshops für Menschen, die lernen möchten, beruflich oder privat besser und leichter zu improvisieren.
Eine einfache Übung, die auch jeder zuhause nachmachen kann, sind Wortspiele:
O-Ton 12 Andreas Wolf (0‘15“)
Die Vorgabe ist: Ich stehe mit meinem Partner in der Küche und soll Spaghetti kochen. Dann sage ich „Wir“, sagt der andere „gehen“, sage ich „zum Schrank und öffnen die Schublade“
Sprecherin:
So weit so gut. Und dann kommt eine Störung. So wie das Hindernis im richtigen Leben. Das Gegenüber wirft das – zunächst unsinnig klingende - Wort „Oper“ ein.
O-Ton 13 Andreas Wolf (0‘29“)
Okay, gut. Wir gehen zur Oper. Und dann suche ich vielleicht in der Oper eine Location, ein Restaurant, das Opernrestaurant und gehe dort in die Küche und fang dort in der Opernküche an zu kochen. Vielleicht in der Kantine von der Oper, vielleicht im Restaurant, von der Oper. Oder vielleicht stehe ich auf der Bühne, dass wie es halt kommt. Ich versuche immer, alles ganz in die Aufgabe zu integrieren, nämlich zum Beispiel in der Küche irgendwas zu kochen, Spaghetti zu kochen. Jetzt bin ich in der Oper gelandet. Gut, wir kochen Spaghetti auf der Bühne und singen dabei „O sole mio“.
Ggf. hier „o sole mio“ , falls das nicht zu platt ist.
Sprecher:
Improvisation ist wie ein Tanz: der eine sagt etwas, die andere reagiert. Die eine tut etwas, der Andere nimmt den Impuls auf. Im Impro-Workshop in Wortspielen, im Leben in einem kreativen Gedankenaustausch.
Sprecherin:
Improvisation ist nichts, was im luftleeren Raum stattfindet, sondern ist oft das Ergebnis einen guten und verbundenen Miteianders, so der Philosoph Georg Bertram: In der Musik, im Tanz, beim Impro-Theater, bei Mannschaftssport, im konstruktiven Dialog: Immer ist es wichtig, auf die Töne des anderen zu hören.
O-Ton 14 Georg Bertram (0‘40“)
Zu dem falschen Bild von Improvisation gehört aus meiner Sicht, das wir denken: Das Improvisieren geht wesentlich aus einer isolierten Reaktion aus irgendwas, womit wir konfrontiert sind, hervor; und ich glaube, das richtige Bild ist, dass wir im Grunde jede Reaktion im Improvisieren als einen Impuls für weitere Reaktionen zu verstehen haben. So dass es gar nicht um ein einfaches Reagieren, sondern um ein Verbundensein von Reaktionen geht. Und das heißt, dass das Improvisieren ein soziales Moment hat, d.h. dass Improvisieren wesentlich dieses Sich-Konfrontieren mit einer Perspektive und mit Impulsen, die von anderen ausgehen, bedeutet. Und dass in diesem Sinne improvisatorische Fähigkeiten hochsoziale Fähigkeiten sind.
Musikzäsur geht über in Küchenatmo, dann darüber
Sprecherin:
Berge von Zucchini, Paprika, Aubergine, Staudensellerie, Rote Rübe, Pastinake türmen sich auf den Arbeitsflächen der Großküche. Der Duft von frisch gehackter Petersilie, Minze, Basilikum und Thymian wabert durch die Luft
O-Ton 15 Ines Klose (0‘22“)“
Die kochen hier freitags immer das ganze Gemüse weg, damit die Kräuter nicht weggeworfen werden müssen, was kriegen wir eigentlich heute? Koch: Eine Gemüsepfanne. Eine mediterrane Gemüsepfanne. Mit viel frischen Kräutern. Und dazu gibt’s nen Bulgur.“ Und da haben wir ein paar Kirschtomaten… (O-Ton geht weiter)
Darüber Sprecherin:
Ines Klose ist eine wahre Improvisationskünstlerin. Sie hat mit Ihrem Catering-Unternehmen das geschafft, wovon alle sagen: Das kann nicht klappen! Sie kocht gesunde und vollwertige Kita- und Schulverpflegung zu einem Verkaufspreis um die drei Euro. Dafür muss sie an allen Ecken und Enden improvisieren: die Brühen sind selbst gemacht, das Brot selbst gebacken, sämtliche Reste werden verwertet, sie verzichtet grundsätzlich auf Convenience-Produkte. Kein Zucker, keine Geschmacksverstärker. Die Kinder, die bis dato vor allem auf Junk Food standen, mussten mit viel Kreativität überzeugt werden von der gesunden Vollwert-Küche.
O-Ton 16 Ines Klose (0‘19“)
Es war nicht einfach. Die Kinder schrien gerade in den sozialen Brennpunkten nach Fritten, Hotdogs, Hamburger, Döner, jooo… wir sind ihnen manchmal so ein bisschen entgegengekommen, nicht indem wir uns verraten haben, sondern dass ich versucht habe, aus unseren Gewürzen den Geschmack genauso herzustellen, wie er im Grunde genommen dann eigentlich auch an der Frittenbude zu erhalten ist!
Sprecherin: Es erforderte viel Kreativität und Improvisationskunst den massiven Widerständen zu begegnen.
O-Ton 17 Ines Klose (0‘19“)
Oder wenn sie schreien „die Linsensuppe, die wollen wir nie wieder haben!“, dann gehe ich da hin: Wie machen wir das denn? Und dann nehmen wir vier Kinder, die, die am lautesten geschriene haben „Die Linsensuppe wollen wir nicht!“ und dann koche ich mit den vier Kindern Linsensuppe für die komplette Schule, und dann sind die so stolz, und es schmeckt ihnen, und dann mag die ganze Schule auf einmal Linsensuppe!
Sprecherin:
Heute hat Ines Klose 14 festangestellte Mitarbeiter und kocht mit ihrem Team 2.000 Schulessen am Tag.
Musikzent:
Sprecher:
Um die Ecke denken, neue Wege gehen. Kreativ werden, wenn sich Hindernisse in den Weg stellen. Das ist die hohe Kunst der Improvisation.
O-Ton 18 Andreas Wolf (0‘22“)
Also wir haben ja so eine Linearität in unserem Handeln drin und in diese Linearität, von der wir glauben, dass sie einen bestimmten Weg hat, kommt ein Hindernis. Man hat was anderes geplant. Und der Umgang damit und die Leichtigkeit, mit der ich das hinbekomme, ist halt die Kunst der Improvisation. In dem Moment, wie ich trotzdem zu meinem Punkt B komme und gehe mit dem, was mir da in den Weg kommt, leicht um.
Sprecherin:
Ines Klose gibt kostenlose Kochkurse für Kinder und Jugendliche, wirbt auf Elternabenden mit ihrer gesunden Vollwertküche. Zwölf Jahre Improvisationskunst. Niemand glaubte an ihre Idee. Einen Gründungskredit gab es nicht. Anfangs habe sie dabei draufgezahlt, erzählt sie.
O-Ton 19 Ines Klose (0‘11“)
Ich habe die Firma aufgebaut mit nichts, ich weiß sogar, was es heißt, manchmal etwas zu wenig zu essen zu haben. Aber wenn man so was erlebt, dann weiß man auch, wie es geht: Wie man aus Nichts was kocht!
Musikzent
Sprecher:
Aus nichts etwas zaubern: Das ist ein weiterer Aspekt der Improvisation. Heute, wo wir fast alles im Overnight-Service bestellen können, ist diese Fähigkeit kaum noch gefordert. Früher aber, in Zeiten des Mangels, der Knappheit und der Armut war Improvisationskunst überlebens-notwendig.
Über Musik
Sprecher:
„Arme Ritter“ aus altbackenen in Rahm und Eiern eingeweichte Brötchen. Oder Brotsuppe. Das sind Gerichte, die im Mangel entstanden sind. Aus Resten, die vielleicht noch in der Vorratskammer zusammengekratzt wurden. Und weil es keine Kühlschränke gab, wurde fermentiert oder geräuchert. Oder Lebensmittel im natürlichen Erdkühlschrank durch den Winter gebracht. Musik weg
Sprecher:
Was damals aus der Not heraus improvisiert wurde, ist heute Bestandteil einer wiederentdeckten Kultur. Die alten Techniken finden immer mehr Anhänger.
Sprecherin:
Der Philosoph Georg Bertram betont jedoch: Improvisation funktioniert nie aus einer Art Nullzustand heraus. Sondern sie greift immer zurück auf Fähigkeiten, die der- oder diejenige zuvor bereits erworben hat:
O-Ton 20 Georg Bertram (0‘17“)
D.h. ich muss mir Fähigkeiten angeeignet haben zu reagieren, überhaupt praktisch tätig zu sein. Und in diesem Moment auch zu nutzen. Ich muss aber auch Fähigkeiten haben, so einen Moment zu erkennen. Und insofern würde ich sagen: Das Improvisieren ist bei Lichte gesehen etwas, das eine hohe kulturelle Errungenschaft darstellt.
Sprecher:
Analogien bilden. Um die Ecke denken. Dinge miteinander kombinieren, die bislang noch nichts miteinander zu tun hatten. Den Geist weiten.
All das kann man lernen – etwa in Impro-Theater Workshops. Man kann aber bereits bei Kindern diese Fähigkeit fördern, so Andreas Wolf vom Impro-Theater fastfood. Oder eben schon früh im Keim ersticken:
O-Ton 21 Andreas Wolf (0‘32“)
Man kann den Kindern fertige Dinge geben, also Dinge, wo sie ihre Fantasie nicht mehr benutzen müssen. Man könnte aber auch denen einen Legostein hinsetzen, dann baue ich mir was und dann fange ich an meine Fantasie, meine Welt hinein zu leben. Und das ist natürlich, da kommt Poesie natürlich ins Spiel. Und auch der Aspekt der Schönheit und Ästhetik, finde ich.
[[ Und das ist etwas, was man Kindern leider über die Art zu konsumieren oft vorenthält in dieser Welt. Dass sie über wenig oder offene Dinge, mit denen sie spielen, ihre Fantasie entwickeln können.]]
Musikzäsur
Sprecher:
Die Anlage zur Improvisation hat im Prinzip jeder. Es geht nur darum, diese Fähigkeit einzuüben, zu stärken und sie sich überhaupt zuzutrauen. Wer nicht alles durchplant, sondern Leerstellen im Alltag lässt, mal andere Wege geht, neue Dinge ausprobiert, phantasievoll rumspinnt und tagträumt, ebnet den Weg dorthin.
Möglicherweise ist das eine gute Vorbereitung, der schweren Krisen umzugehen. Mit Ausnahmesituationen, für die es keine Blaupause gibt:
Sprecherin:
In der Corona-Pandemie wurde die Improvisationskunst der Menschen weltweit auf eine , harte Probe gestellt. Niemand konnte auf eingespielte Abläufe zurückgreifen. In Kliniken, Altenheimen, Unternehmen, Schulen, Familien… fast überall wurde zwangsweise improvisiert.
Atmo Bahnhofsvorplatz
Sprecherin:
Frühjahr 2020. Der erste Lockdown. „Stay home“ ,. Die Leute sollten zuhause bleiben. Doch was, wenn man gar kein Zuhause hat? Für die Obdachlosen war der Lockdown eine existenzielle Herausforderung. Irgendwie hatte man sie vergessen… In den menschenleeren Innenstädten konnten sie weder Flaschensammeln, noch einen Euro erbetteln. Alle Hilfseinrichtungen waren geschlossen. Für die Obdachlosenhilfe des SKM, den Sozialdienst katholischer Männer, hieß das: , Man mute sich etwas Neues einfallen lassen. Im großen Stil improvisieren.
Atmo Bahnhofsvorplatz noch mal hoch
Sprecherin:
Der SKM verlagerte sein Hilfsangebot spontan ins Freie, auf den Bahnhofsvorplatz. Stellte dort ein paar Duschzelte auf, baute eine ellenlange Tafel auf und verteilte während des Lockdowns insgesamt 16.000 Lunchpakete. Kamen vorher täglich 40 Obdachlose zum Essen, waren es plötzlich 400 – weil alles geschlossen war. In der Not öffneten sich neue Türen: In dieser Zeit passierte vieles, so erinnerte sich der Leiter Ralf Promper, was zuvor undenkbar gewesen wäre.
O-Ton 22 Ralf Promper (0‘10“)
Nebenan hatten wir ein Hotel, die mussten zumachen. Die hatten Lebensmittel übrig. Und dann kam die Frage „Was braucht ihr denn noch?“ Und die Passanten kamen dann mit dem Fahrrad, mit dem Auto und haben die Sachen dann vorbeigebracht.
Sprecherin:
Die lange Schlange aus 400 Menschen machte die Not sichtbar, die vorher mehr im Verborgenen stattgefunden hatte. . Das löste bei vielen Passanten den spontanen Wunsch aus, mitzuhelfen.
O-Ton 23 Ralf Promper (0‘18“):
Ganz viele Leute, die ihren eigenen Beruf nicht ausüben konnten: Lehrerinnen, Lehrer, Leute von der Oper, die wollten was Sinnvolles tun und haben dann einfach bei der Lebensmittelverteilung und bei der Kaffeeausgabe mitgeholfen, und das sind Leute: Gleich, wenn wir wieder öffnen, da ist auch jemand, der ist hängen geblieben.
[[ Atmo Kontaktstelle
Sprecherin:
Zu den „Hängengebliebenen“ gehört Laura, eine 30jährige Sozialarbeiterin. Sie wurde während Corona arbeitslos, musste sich etwas einfallen lassen und half bei der Obdachlosenhilfe mit. Obwohl sie heute wieder einen Job hat, kommt sie nach wie vor stundenweise vorbei:
O-Ton 24 Laura (0‘28“)
Mir persönlich macht das deshalb so viel Freude, weil ich es wichtig finde zu sehen, dass viele Leute viel Pech hatten und deswegen in einer Situation sind, die für mich so auch nicht nachvollziehbar ist, und zu sehen, dass ich mit so wenig – mit Freundlichkeit, mit Strahlen in den Augen, mit Respekt und Gesprächen auf Augenhöhe viel geben kann, dass die Leute das dankbar annehmen, dass sie sich freuen, dass man mit ihnen spricht, ohne Vorurteile.]]
Sprecher:
Viele gute Ideen wurden damals aus der Not geboren. Die Pandemie setzte ungeahnte Potentiale frei: an spontaner und kreativer Improvisation. Klar ist: Es wurden schwerwiegende Fehler gemacht. Alte Menschen sind einsam auf Intensivstationen gestorben, Kinder durften monatelang nicht in die Schule, Ungeimpfte wurden unter Druck gesetzt. Es gibt zahlreiche Punkte, die heute scharf kritisiert werden.
Musikakzent
Sprecher:
Das ist die Schattenseite der Improvisation. Sie kann schief gehen. Man kann scheitern beim Sprung ins kalte Wasser.
Sprecherin:
Das, so Andreas Wolf, Leiter des Impro-Theater-Ensembles fastfood, sei die größte Herausforderung. Und gleichzeitig auch die größte Angst derer, die seine Impro-Workshops besuchen.
O-Ton 25 Andreas Wolf (0‘35“)
Angst ist ja das ganz, ganz große Hindernis, die Angst zu scheitern. Und das ist etwas, was ich in – weiß nicht - Tausenden von Kursen ständig bemerke, dass die Prägung, die wir in unserer Kultur haben, die Schulprägung, wo es nur um falsch und richtig geht, dass die die Menschen wirklich aus ihrer, aus ihrem Potenzial nimmt. dann bleibt sofort der Atem stehen, die Leute kriegen Schreck, und da ist die Angst, da ist die Angst zu scheitern. Das ist wirklich tief sitzend und das Umzupolen ist wirklich ein langer Weg.
Musikakzent
Sprecherin:
Auch bei Carsten Alex, der 20 Monate lang ohne Plan durch die Welt gereist ist, lief nicht alles rund. Seine Spontaneität, seine Offenheit wurde an manchen Stellen zur Blauäugigkeit.
O-Ton26 Carsten Alex (0‘29“)
Ne weniger schöne Situation – es war ja nicht alles nur himmelblau und rosa: als ich seinerzeit in Mexiko-City war, bin ich einem Trickbetrüger aufgesessen, der mir glaubhaft versicherte, dass er gerade überfallen worden wäre, und ich in meiner unendlichen Seligkeit und hab dem Mann dann tausend Dollar geliehen, damit er seinen Notfall löst. Ich hab nicht eine Minute drüber nachgedacht, dass das eventuell gefakt sein könnte. ((Und die tausend Dollar hab ich dann abschreiben dürfen. ))
Sprecherin:
Trotz alledem will er sein improvisiertes Abenteuer um nichts auf der Welt missen. Die Zeit hat eine tiefe Prägung hinterlassen: Obwohl er nach seiner Rückkehr wieder bei dem Automobilhersteller anfing, hat er kurz darauf seinen Job geschmissen. Er kam mit den festen Strukturen nicht mehr klar und arbeitet heute freiberuflich als Autor und Trainer.
Musikzäsur
Sprecherin:
Für Andreas Wolf ist Improvisation keine Verlegenheitslösung, sondern eine Lebenskunst. So heißt auch sein gleichnamiges Buch. Er möchte Menschen Mut machen, Strukturen zu verlassen, den Moment zu „packen“ mit seinen Chancen. Und dabei das Funktionale ab und an mal über Bord zu werfen. Frei nach dem Motto:
Sprecher:
Leben ist das, was passiert, während man Pläne macht!
O-Ton 27 Andreas Wolf (über Musik) (0‘21“)
Da komme ich aber nur hin, wenn ich selber beweglich bin. Es ist ja eben auch eine Lebenskunst. Und in der Kunst steckt ja auch immer etwas, was mit Schönheit zu tun hat. Es geht darum, die Schönheit in der Partnerschaft, in der Kommunikation, in der Beziehung zu entdecken, in der Kooperation. Dann kommt auch die Großzügigkeit dazu. Und erst in diesem Fall wird der Geist weit.
Musik noch mal hoch
O-Ton 28 Andreas Wolf (0‘23“):
Am Ende sage ich auch immer: Wann bin ich authentisch? Wenn ich spontan reagiere, weil dann reagiere ich aus mir heraus. Dann verstelle ich mich nicht. Wenn ich spontan bin, verstelle ich mich nicht. Und was lieben die Menschen mehr als einen spontanen Menschen? Die anderen mögen das. Wir mögen es auch, wenn jemand spontan ist und so, wie er ist, weil wir dann sofort einen Zugang haben. So ist er oder sie genau so! Da ist keine Verstellung! Und da komme ich bei mir selber an!
Der Wiener Liedermacher Ludwig Hirsch gewann mit seinen dunkelgrauen Liedern Kultstatus. Sie waren seine Antwort auf das graue Wien mit "seiner Zentralfriedhofs-Atmosphäre und seinem Altweiber-Faschismus". Die melancholischen Melodien seiner Lieder verwandelte er mit seinen bissigen Texten zu akustischem Theater. Von Frank Halbach (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Irina Wanka, Thomas Birnstiel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Susanne Poelchau
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Literaturtipps:
Cornelia Köndgen: Mit einem kleinen Schuss ins Rot: Die Jahre mit Ludwig Hirsch. Wien 2013.
Andy Zahradnik/Cornelia Köndgen/ Johann M. Bertl: I lieg am Ruckn – Erinnerungen an Ludwik Hirsch. Wien 2016.
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Bergstürze gehören zur Natur der Alpen genauso wie ihre Auffaltung. Aber sie bedrohen Menschen und Infrastruktur. Geologen versuchen deshalb die Zerfallsprozesse mit Einsatz von viel Technik vorherzusehen. Von Georg Bayerle (BR 2020)
Autor dieser Folge: Georg Bayerle
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Irina Wanka, Andreas Discherl
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Grabstätten gehören zu den ältesten Zeugen menschlicher Zivilisation: Von Gräberfeldern und Nekropolen entwickelten sie sich mit der Christianisierung zum Friedhof. Dieser Ort des Gedenkens wandelt sich heute mehr und mehr zu einem Schauplatz, der das menschliche Streben nach Individualität widerspiegelt. Von Frank Halbach
Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Stefan Wilkening, Ines Hollinger
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Thorsten Benkel und Matthias Meitzler (Soziologen und Thanatologen), Universität Passau
Prof. Dr. Dr. Ina Wunn, Religionswissenschaftlerin und Biologin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
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Literatur:
Thorsten Benkel, Matthias Meitzler: Körper - Kultur - Konflikt: Studien zur Thanatosoziologie (Thanatologische Studien - Thanatological Studies). Baden-Baden 2021.
Thorsten Benkel, Matthias Meitzler Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe. Ungewöhnliche Grabsteine. Eine Reise über die Friedhöfe von heute. Köln 2014.
Thorsten Benkel, Matthias Meitzler: Game Over. Neue ungewöhnliche Grabsteine. Köln 2016.
Ina Wunn , Patrick Urban , et al.: Götter - Gene - Genesis: Die Biologie der Religionsentstehung. Heidelberg 2015.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATORIN
Noch niemals hat mich so wie heut
Des Todes Poesie gerührt,
Da mich mein Pfad beim Nachtgeläut
Zum engen Friedhofstor geführt.
SPRECHER
Ein Raum für ungestörtes Totengedenken: der Friedhof.
ZITATORIN
Wie liegen sie so still und traut,
Umglüht vom gleichen Abendschein,
Vom gleichen Lenzduft übertaut,
Die blumenbunten Gräberreih’n,
SPRECHER
Dichtet Frida Schanz, eine der beliebtesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen vor dem Ersten Weltkrieg, über den Friedhof, einen von den Lebenden abgegrenzten Ort.
MUSIK ENDE
O-Ton 2 Meitzler (16:58)
Dieses Image als düsterer, weltvergessener Ort…
SPRECHERIN
Der Totenacker, das Gräberfeld, die Gruft, das Mausoleum, die letzte Ruhestätte…
SPRECHER
Ein Ort des Gedenkens, der Einkehr und der Trauer.
O-Ton 3 Meitzler (13:13)
Friedhof ist eben nicht nur der Ort, der Trauer und der Melancholie, sondern es kann auch durchaus ein sehr lebendiger Ort sein, den man auch zu ganz anderen Zwecken aufsuchen kann.
SPRECHERIN
Ein heiliger Ort
O-Ton 4 Benkel (03:11)
Friedhöfe haben eine ganz klassisch profane Funktion, sie sind Speicherstätten für tote Körper. Die müssen ja irgendwohin. (…) 03:32 Ganz profan pragmatisch. Wird dann natürlich mehr oder minder intensiv, je nachdem, wo man ist, durch Ritualität, Zeremonien und so weiter aufgewertet. Wobei das heutzutage nicht mehr so eine große Rolle spielt.
SPRECHER
Dr. Thorsten Benkel. Er und sein Kollege Matthias Meitzler, beide am Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Passau, sind Thantologen.
SPRECHERIN
Sie forschen zu den Themenfeldern Sterben, Tod und Trauer. Matthias Meitzler:
O-Ton 5 Meitzler (01:24)
Im Prinzip sämtliche Facetten dieser ganz großen Thematik. Das geht los beim Sterben. Das führt zu der Frage: Was passiert eigentlich mit einem toten Körper? Wie wird heutzutage bestattet? Wie sind Gräber gestaltet? Und was kann man denn ganz allgemein sagen: Wie hat sich das Verhältnis zu Sterben, Tod und Trauer verändert? Das ist so ein Forschungsschwerpunkt von mehreren, und den bearbeiten wir seit einiger Zeit sehr intensiv.
MUSIK 2 ; ZEIT: 00:25
SPRECHERIN
Grab- und Kultstätten sind gehören zu den ältesten Zeugnissen menschlicher Zivilisation.
SPRECHER
Schon seit der frühen Steinzeit bestatten Menschen ihre Toten. In der frühesten Epoche der Menschheitsgeschichte entstehen verschiedene Vorstellungen vom Weiterleben nach dem Tod und Ahnenkult.
MUSIK ENDE
O-Ton 6 Wunn (01.37)
Am Anfang war der Tod.
SPRECHERIN
Sagt Dr. Dr. Ina Wunn, Biologin und Professorin für Religionswissenschaft.
SPRECHER
Archäologischen Funde früher Bestattungen, in Form demonstrativer Gräber, gelten gemeinhin als Beweisstücke für die ersten menschlichen Vorstellungen vom „Übersinnlichen“.
SPRECHERIN
Dabei haben sie zunächst einen ganz diesseitigen praktischen Zweck:
O-Ton 7 Wunn (02.18)
Wenn man das Ganze aber aus einer biologischen Warte betrachtet oder auch aus einer ethnologischen Warte, dann wird man feststellen: Diese demonstrativen Grabstätten gibt es immer da, wo Territorien markiert werden. Also da, wo Völker leben, oder Stämme leben, oder Gruppen leben, die Jäger sind und Sammler und die auf ein großes Territorium angewiesen sind. Und die markieren mit den Begräbnissen einfach das Land, was sie für sich zum Jagen und zum Sammeln beanspruchen. Und genau so haben das bereits vor 90.000 Jahren die ersten Bewohner Europas gemacht. Haben also einfach ihre Toten bestattet, haben unter Umständen den Schädel, den sie vorher schön säuberlich bearbeitet hatten, also alles Fleischige davon entfernt, haben sie auf die Begräbnisstätte gelegt, um deutlich zu machen, hier sind wir schon, dieses Land haben wir von unseren Vätern und Großvätern ererbt, das ist unseres.
ZITATORIN
Die erste Haltestelle im Jenseits.
SPRECHERIN
Zunächst einfach eine Grenzmarkierung.
MUSIK privat Take 003 „Ancient Mystery“; Album: Ancient Atmospheres; Label: 2011 Network Music; Interpret: Network Music Ensemble; Komponist; Network Music Ensemble; ZEIT: 01:50
SPRECHER
Mit der Entfaltung der ersten Hochkulturen entwickelte sich ein regelrechtes Bestattungswesen.
ZITATORIN
Die Geheimnisse der Unterwelt, die Initiation in die Mysterien des Totenreichs, Berge aufzubrechen und Täler aufzuschließen, Geheimnisse, die niemand kennt zur Behandlung des Verstorbenen…
SPRECHER
Heißt es im ägyptischen Totenbuch, entstanden um 2.500 vor Christus. Im Alten Ägypten e erblühte ein ausgeprägter Totenkult mit Pyramiden, dem Tal der Könige und Nekropolen für die kunstvoll mumifizierten Leichen von Pharaonen, Würdenträgern und Beamten als letzte Ruhestätten.
ZITATORIN
Eikōn hē lithos
Eimi. tithēsi me
Seikilos entha
mnēmēs athanatou
sēma polychronion
darüber
Ich bin ein Bild
in Stein; Seikilos stellte
mich hier auf,
in ewiger Erinnerung,
als zeitloses Symbol.
SPRECHERIN
Im antiken Griechenland, Kreta und Kleinasien entstanden Orte außerhalb des städtischen Lebens, an denen die Toten bestattet wurden: Gräberfelder oder Felsengräber. Nicht selten erbaute man in der Nähe ganze Tempelbezirke, wo Rituale zu Ehren der Toten vollzogen wurden.
ZITATORIN
honc oino ploirume cosentiont Romani / duonoro optumo fuise viro
darüber
Dieser ganz allein, so stimmen die meisten Römer überein / sei der allerbeste Mann gewesen.
SPRECHER
Lautet die Inschrift auf dem Grab des Konsuls Lucius Cornelius Scipio aus dem dritten Jahrhundert vor Christus. Die Römer schließlich organisierten ihre Grabstätten auf unterschiedlichste Art und Weise. Die Reichen ließen sich gerne entlang von Ausfallstraßen bestatten, wo sie prächtige Gedenktafeln, monumentale Stelen oder prunkvolle Mausoleen errichten ließen.
Die Kapitale Rom barg außerdem eine ganze unterirdische Totenstadt, in deren Katakomben über 850.000 gesellschaftlich nicht ganz so hochstehende Verstorbene in Nischen eingemauert wurden.
MUSIK ENDE
ATMO Glocke
SPRECHERIN
Die Christianisierung machte dann Schluss mit Gräbern außerhalb der Siedlungen. Sowohl die auf germanisch-keltischer Tradition beruhenden außerörtlichen Gräberfelder als auch die Feuerbestattung wurden als heidnisch verurteilt.
SPRECHER
Es war Zeit für die letzte Ruhestätte im eingefriedeten Kirchhof, im geweihten Bereich der Kirchengebäude. Ein Ort der Ruhe und der Besinnung…
ATMO ENDE
MUSIK 4 „Saltarello“; ZEIT: 00:20
ZITATORIN
Gespannte Leinen zum Trocknen der Wäsche, beim Spielen laut schreiende Kinder, streunende Hunde, zechende, kartenspielende und raufende Soldaten…
MUSIK ENDE
O-Ton 8 Meitzler (17:41)
Denn im Mittelalter war der Friedhof eben nicht am Rand, sondern er war im Zentrum der der Stadt oder des Dorfes. Da ging man fast täglich hin, zumindest einmal wöchentlich, wenn man noch zur Kirche gegangen ist. Da haben dann teilweise Märkte stattgefunden, auf den Friedhöfen aus. Da pulsierte das gesellschaftliche Leben, und das kann man jetzt eben schon seit längerer Zeit nicht mehr sagen. Da kann man schon überlegen, ob das auch was zu tun hat mit der vielzitierten Verdrängung des Todes.
SPRECHER
Ruhiger lag man im Altarraum oder in der darunter liegenden Kirchengruft - ein hohes Privileg, das lediglich der Familie des Kirchenstifters, dem Kirchherren oder kirchlichen Würdenträgern zustand. Nur die Wohlhabendsten konnten sich ein Begräbnis innerhalb der Kirche leisten.
SPRECHERIN
Der Tod machte also keineswegs alle gleich: Ständische oder soziale Unterschiede setzten sich auf dem Kirchhof fort. Je höher der Status, desto näher wurde man an der Kirche begraben.
SPRECHER
Unterschiede, die selbstverständlich auch in Aufwand und Pracht der Grabgestaltung schnell sichtbar werden.
MUSIK 5 „Kyrie“; ZEIT: 01:20
SPRECHERIN
Und das Grabmal gewinnt an künstlerischer Bedeutung. Die Gräber der oberen Zehntausend im Chor und in anderen Bereichen der Kirche sind natürlich auch am besten erhalten. Grabplatten sind die ältesten und zahlreichsten bewahrten Grabmäler. Inschriften darauf verraten Namen und den Todestag, Wappen bezeugen die Herkunft.
ZITATORIN
Hic iacet … - Hier ruht …
SPRECHER
Grabmäler gehörten damals freilich nicht zu den Gedenkmöglichkeiten breiter Bevölkerungskreise. Die fanden ihrer Ruhe meist in Gräbern ohne Grabkennzeichnung und häufig in Gemeinschaftsgräbern.
SPRECHERIN
Mit der Neuzeitzeit ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert erscheint auf den Grabmälern der Knochenmann. Er symbolisiert: Alles ist eitel, alles ist vergänglich.
ZITATORIN
memento mori / heri mihi hodie tibi -
Gedenke der Sterblichkeit /Gestern mir, heute dir.
SPRECHER
Bilder des Vergangenen und des Vergehenden wie Schädel oder Sanduhren werden zu dominanten Motiven.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Die Pest, später Pocken oder Cholera führen zu Wohnraummangel auf den Friedhöfen. Noch dazu möchte man die Seuchenopfer aus Angst vor Ansteckung ungern in der Ortsmitte begraben. In Nürnberg zum Beispiel wird schon 1517 angeordnet, dass von Ausnahmen für hohe Würdenträger abgesehen niemand mehr innerhalb der Stadtmauern begraben werden soll. München beauftragt 1545 zwei ihrer Ratsleute mit der Planung von zwei Gottesäckern vor den Toren der Stadt.
SPRECHER
1563 wird in München der äußere Friedhof vor dem Sendlinger Tor eingeweiht: Seuchenopfer, hingerichtete Verbrecher, Prostituierte, Selbstmörder und Ungläubige – also alle Nicht-Katholiken – finden ihre letzte Ruhe auf der aus Platzmangel geborenen Begräbnisstätte.
SPRECHERIN
Heute eine der schönsten Friedhöfe Deutschlands: der Alte Südfriedhof an der Thalkirchener Straße.
ZITATORIN
Die Aufhebung der inneren Freithöfe im Jahre 1789 machte dessen Vergrößerung nothwendig, aber von den kolossalen und kostbaren Marmor- und Erzdenkmälern, welche dermal den Münchner Friedhof zu einem der sehenswertesten in Europa machten, zeigte der alte enge Leichenacker des vorigen Jahrhunderts noch keine Spur.
SPRECHER
Sinniert der kulturhistorische Schriftsteller Carl Albert Regnet 1879.
Entstanden ist der Alte Münchner Südfriedhof schon 1563: als Pestfriedhof und lag damals vor den Toren der Stadt. Er gilt heute als der münchnerischste aller Friedhöfe und zugleich exemplarisch: Zahlreiche Petitionen im Münchner Staatsarchiv zeugen heute noch von den vergeblichen Versuchen der Münchner Bürger, die alten Familiengrüfte innerhalb der Stadtmauern zu erhalten.
SPRECHERIN
Anfang des 19. Jahrhunderts gestaltete Friedrich Ludwig von Sckell, der Schöpfer des Münchner Englischen Gartens, eine Parkanlage für den Friedhof – wie sie für den modernen Friedhof prägend wurde.
SPRECHER
Es entstanden klar definierte Reihengräber, geometrisch angeordnet ebenso wie Arkadengrüfte im südlichen Halbrund entlang der Außenmauer des Friedhofs. Hier lagen nun alle Berufe, alle Stände, arm und reich.
MUSIK 6 „Messiah. Oratorio in 3 Teilen, HWV 56“; ZEIT: 00:45
ZITATORIN
Die Gräber bürgerlicher Familien schmückte mit wenigen Ausnahmen ein einfaches hölzernes oder eisernes Kreuz, das hie und da vergoldet und regelmäßig mit einem Heiligenbilde versehen war, unter dem der Name und Stand des Begrabenen verzeichnet stand und welches durch zwei in Angel hängende Flügeldecken gegen die Unbild der Witterung geschützt war. Und als Franz Schwanthaler, der Vater des berühmten Ludwig Schwanthaler, es wagte, eine marmorne Frauengestalt auf einem Grabe aufzustellen, schlugen fromme Eiferer, darin eine Entweihung des geweihten Ortes erblickend, sein Werk in Trümmer! Aber die Bahn war gleichwohl glücklich gebrochen.
MUSIK ENDE
O-Ton 9 Benkel (10:45)
Es hat auch einen kulturellen Wert. Auch wenn Menschen da jetzt nicht gezielt hingehen oder höchstens mal spazieren gehen, haben die Friedhöfe trotzdem natürlich eine genealogische Bedeutung. Also, ich kann da ja sehen: Prominente liegen da rum. In München haben Sie das ja zum Beispiel. Und da sind tolle Statuen.
SPRECHERIN
Sagt der Thanatologe Thorsten Benkel. Grabmale sind ebenso wie die weltliche Architektur Spiegel ihrer Zeit, folgen dem Klassizismus oder Strömungen der Romantik. Aus Repräsentationsmotiven lassen Grabeigentümer bis weit ins 20. Jahrhundert hinein aufwändige Grabanlagen errichten.
SPRECHER
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt dann das Reihengrab mit gleichförmigen Grabmalen zu dominieren.
SPRECHERIN
Heutzutage allerdings geht der Trend schon lange weg von halbanonymen Grabanlagen.
O-Ton 10 Meitzler (06:31)
Ja, so der Haupttrend, den wir beobachten können, ist die Individualisierung und Pluralisierung.
O-Ton 11 Benkel (14:08)
Standardbeispiel ist, dass Grabstätten die Persönlichkeit der Verstorbenen widerspiegeln. 14:33 Und das Individuum rückt also in den Mittelpunkt und die kulturellen, religiösen, politischen Aspekte, die also sozusagen auf der Kollektiv-Ebene stattfinden, die werden nebensächlich, also vor allem die Religion wird nebensächlich. Und dann sehen diese Gräber teilweise sehr profan, sehr eigenwillig, sehr bunt, teilweise ungewöhnliche, Auswahl, Hobbys in den Vordergrund rücken, Vereinszugehörigkeiten, teilweise sogar Fußballvereine, Musikgeschmack und so weiter. Und wir haben am Anfang gedacht: Mensch, das ist ja schräg. Aber haben dann halt in ganz Deutschland, in ganz Österreich, in der ganzen Schweiz vergleichende Studien angestellt. Wir waren auf fast 1.300 Friedhöfen, und wir können sagen, das ist ein allgemeiner Trend seit ungefähr 25 Jahren. Dass eben diese Gräber diese Persönlichkeits-Bilanz ziehen.
MUSIK 7 101 „Six feet under“; ZEIT: 00:40
ZITATORIN
„Nur tiefergelegt“
SPRECHER
Oder:
ZITATORIN
„Mit dir zu leben war nicht leicht, doch ohne dich ist’s noch viel schwerer.“
SPRECHER
„Nicht das Licht auslöschen“
ZITATORIN
„Dein letztes Match hast du verloren“
SPRECHER
„Er war guter Eltern Sohn“
ZITATORIN
„Sie war zu gutgläubig, um zu überleben“
SPRECHER
„Hier liegt meine Dicke“
ZITATORIN
„Es Lebbe geht weiter“
SPRECHER
„Alles Scheiße“
ZITATORIN
„Ich wollte für meine Familie das Beste, habe es aber nicht erreicht“
SPRECHER
„Wanderer zieh schnell vorbei, sonst steht sie auf und babbelt wieder“
ZITATORIN
„Das war alles.“
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Grabinschriften von heute. Statt Kreuzen oder Engeln auf den Grabsteinen von heute: Comicfiguren, Computermäuse, Brillen, Bettgestelle, Aschenbecher, Skateboards… Auf Tausenden von Fotos haben Thorsten Benkel und Matthias Meitzler die Entdeckungen ihrer Friedhofsrecherchen in zwei Büchern festgehalten.
ZITATORIN
„Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe: Ungewöhnliche Grabsteine - Eine Reise über die Friedhöfe von heute“.
SPRECHERIN
Und:
ZITATORIN
„Game Over: Neue ungewöhnliche Grabsteine“.
O-Ton 12 Meitzler (11:50)
Man kann vielleicht sagen: Der Friedhof hat sein Monopol verloren. Es gibt halt nicht mehr den Volksfriedhof für jedermann, sondern er ist eine Option unter mehreren. Er gerät unter Innovationsdruck.
SPRECHER
Welches Grab und welche Art von Bestattungsritual ist das richtige?
ZITATORIN
Erdbestattung? Urnenbestattung? Mit Priester? Ohne? Dafür professioneller Trauerredner? Katholisch? Muslimisch? Nicht religiös? Oder gar evangelisch?
O-Ton Meitzler 13 (07:27)
Wir können mittlerweile wählen, ob wir überhaupt auf dem Friedhof beigesetzt werden wollen und wenn ja, welches Grab, welche Grabart da am besten passt, also wir werden konfrontiert mit einer großen Pluralität.
MUSIK 7 „Six feet under“; ZEIT: 00:30
ZITATORIN
Erdbestattung?
SPRECHER
Feuerbestattung?
ZITATORIN
Seebestattung?
SPRECHER
Almwiesenbestattung …
ZITATORIN
Steinbestattung…
SPRECHER
Forstbestattung…
ZITATORIN
Rosenstockbestattung…
SPRECHER
Bergbachbestattung…
ZITATORIN
Flugbestattung…
SPRECHER
Weltraumbestattung…
ZITATORIN
Oder Diamantbestattung – individuell und exklusiv. Ein Edelstein, gefertigt aus einem Bruchteil der Asche des Verstorbenen.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Die Kulturgeschichte des Friedhofs hat Orte hervorgebracht, wo man sich auch nach dem Tod zuhause fühlen kann: Venedig – San Michele… Paris - Montmartre, Père Lachaise… oder Wien - es lebe der Zentralfriedhof und alle seinen Toten.
MUSIK 8 „Wien, Wien nur du allein“; ZEIT: 01:10
SPRECHER
Wien, wo man sich gerne schon zu Lebzeiten Namen und Geburtsdatum auf dem Stein des Familiengrabes eingravieren lässt. Allein der Zentralfriedhof präsentiert 950 Ehrengräber.
SPRECHERIN
Unter dem Stephansdom: Wiens unterirdische Hauptstadt Nekropolis mit Beinhäusern voller Schädel. Die Habsburger Pracht der Trauer ist Wiener Tradition.
SPRECHER
Begräbnis und letzte Ruhestätte: Kaum irgendwo sonst in Mitteleuropa wurden Begräbnisse so pompös inszeniert wie in Wien.
SPRECHERIN
Schon 1867 boten die ersten gewerblichen Bestattungsunternehmen in Wien ihre Dienste an. Denn die meisten Wiener hatten den Wunsch, sich ein letztes Mal kaiserlich groß in Szene zu setzen und griffen dafür tief in die Tasche. Etwa für einen mondänen Leichenzug – mit Kutsche, Reitern und Trauerpersonal in Galauniform.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Repräsentation: Die „schöne Leich“, die prächtige Trauerzeremonie - ein soziokulturelles Phänomen: ein Kompensator, der den Tod erträglicher macht. In Wien nicht anders als das Elitegrab des frühgeschichtlichen Häuptlings, das Prunkgrab des römischen Patriziers an der Via Apia, das Mausoleum des Modeschöpfer Rudolph Moshammer auf dem Münchner Ostfriedhof oder die über 146 Meter hohe Pyramide von Gizeh des Pharaos Cheops.
SPRECHERIN
Repräsentation oder nicht doch vielmehr der Wunsch nach etwas da bleibt - Ausdruck des ungebrochenen menschlichen Wunsches nach Unsterblichkeit.
O-Ton 14 Benkel (29:17)
Also wir haben entweder: das eine Extrem ist das klassische Grab mit allem Drum und Dran, wohin man regelmäßig geht. Das andere Extrem ist: überhaupt kein Raum mehr. Und eigentlich spielt sich Trauer zwischen diesen beiden Polen ab.
SPRRECHER
Die Geschichte des Friedhofs endet sie im virtuellen Raum? Der Thanatologe Dr. Thorsten Benkel:
O-Ton 15 Benkel (28:03)
Was wir auch stark untersucht haben, immer noch untersuchen ist: Trauer im Internet. Da haben Sie natürlich keinen fixen geografischen Ort mehr, sondern eine virtuelle Verräumlichung. Und das ist absolut ein Zukunftsfeld.
MUSIK 9 “ Solar sailer“; ZEIT: 01:15
ZITATORIN
Werden Sie einfach unsterblich!
SPRECHERIN
Verstorbene, die als Avatare auferstehen. Der Skype-Chat von damals, das hochgeladene Video aus der Vergangenheit, aus all den digitalen Spuren können komplexe Algorithmen eine virtuelle Persönlichkeit, einen Avatar, erschaffen.
ZITATORIN
Eine Sicherheitskopie des eigenen Charakters…
SPRECHER
Mit der Hinterbliebene dann interagieren können.
ZITATORIN
Ein Interface für den Zugang zu Erinnerungen
SPRECHERIN
Der Orts des Gedenkens: Überall – bei WLAN-Empfang. Oder man benutzt einfach sein eigenes Gedächtnis – zum Angedenken.
O-Ton 16 Meitzler (25:27)
Und entscheidend ist eben dass - was wir eben auch als Individualisierung begreifen - dass ich als Trauernder oder vielleicht auch als Sterbender, irgendwann das Gefühl bekomme: Ich kann es selber entscheiden. Ich kann selbst entscheiden, wieviel der traditionellen Rituale und Bezüge möchte ich überhaupt? Möchte ich überhaupt irgendetwas an den Traditionen noch bewahren? Oder zieht es mich vielleicht in andere Richtungen?
Jeder Mensch trägt tiefe Überzeugungen über sich selbst, seine Mitmenschen und die Welt in sich. Diese Glaubenssätze sind die Brille, durch die jeder dann seine eigene Realität sieht. Wie kommen die Glaubenssätze in uns? Kann man negative Glaubenssätze löschen und welche Auswirkungen haben sie auf unsere Beziehungen? Von Victoria Marciniak
Credits
Autorin dieser Folge: Victoria Marciniak
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Andreas Neumann, Marlen Reichert
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Emily, arbeitet im Bereich HR
Franca Cerutti, Psychotherapeutin;
Dr. Raquel Peel, Soziologin
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Linktipps:
Harvard-Studie HIER
Podcast "Psychologie to go" HIER
„The relationship sabotage scale: an evaluation of factor analyses and constructive validity“ HIER
TED-Talk von Dr. Raquel Peel HIER
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher
Ein zerknülltes gelbes Post-it aus ihrer Schulzeit. Es liegt sicher versteckt in einem Schuhkarton in ihrem Zimmer. An den kleinen Zettel wird Emily noch sehr oft denken. Auch heute. An einem gemütlichen Abend im Dezember. Weihnachtszeit. Und die Psychologie-Studentin Emily sitzt in der WG-Küche ihrer drei besten Freundinnen und trinkt eine heiße Tasse Tee. Sie philosophieren über Gott und die Welt; und irgendwann unterhält Emily sie alle mit Anekdoten aus den unterschiedlichsten Theaterstücken, in denen sie mitgespielt oder die sie angeschaut hat. Ihre Freundinnen weinen vor Lachen.
O-Ton 01 Emily (00`06)
Das ist einfach so ein richtiger Moment von „Hey, hier bin ich angekommen.“ Ein 10 von 10 Abend.
Sprecher
Eine 10/10, also volle Punktzahl für den scheinbar perfekten Abend. Zumindest – bis Emily sich von ihren Freundinnen verabschiedet. An der Haustür sagen sie sich noch, wie schön der gemeinsame Abend gewesen ist und dass sie sich ganz bald wiedersehen müssen. Sie umarmen sich, Emily dreht sich um, dann fällt die Tür hinter ihr ins Schloss (Atmo: Tür geht zu):
O-Ton 02 Emily (00`55)
Und dann ist es wirklich so mit einem Mal, dass auf einmal mir mein Kopf so ein Querpass schießt und dann sagt „Moment mal, aber war es wirklich so geil, wie du dachtest? Oder war es vielleicht nur für dich geil, weil du wieder die ganze Zeit geredet hast? Und ist dieses: Hmm, hast bestimmt allen erzählt, dass du total viel Theater gespielt hast. Meinste die hat das interessiert?“ Und dann versuche ich noch zu sagen „Nee, aber es wird ja auch ganz oft nachgefragt und die haben ja total viel gelacht, als ich auch diese Story erzählt hab.“ Und dann kommt sofort dieses „Hmm, nennt sich Höflichkeit, nennt sich Sozialkompetenz, was andere Leute haben.“ Und es ist ganz krass, weil mit jedem Schritt, den ich gehe und den ich mich halt weiter aus dieser Situation entferne, verliere ich dann irgendwie den Zugang zu dieser Situation. Und dass ich dann wirklich auf diesem Weg nach Hause auf einmal anfangen musste zu weinen, weil ich das Gefühl hatte „Hey, ich bin ein Riesenarschloch.“
Atmo (Schritte und Wind)
Musik: Train journey 0‘22
Sprecher
Vier Kilometer – So weit läuft Emily von der WG ihrer Freundinnen zu sich nach Hause. Sie muss den Kopf frei kriegen. Aber ihr Kopf spielt immer und immer wieder Szenen ab, wie sie ihre Freundinnen unterbricht, wie sie zu laut lacht, wie sie zu viel Aufmerksamkeit fordert. Sie holt ihr Handy aus der Tasche und noch auf dem Weg nach Hause schreibt sie weinend ihren Freundinnen Text-Nachrichten, in denen sie sich entschuldigt (erst SFX Handytastatur-Tippen und dann Nachrichten-Pling vor jedem „Sorry“): Sorry, dass ich so viel übers Theater geredet habe. Sorry, dass ich zu laut war. Sorry, dass ich dich unterbrochen habe. Sorry, dass wir so lange über meine Geschichte geredet haben. Sorry... Pling, Pling, Pling
*bisschen längere Pause*
O-Ton 03 Franca Cerutti (00‘16)
Glaubenssätze haben häufig so eine konditionale Struktur, die uns sehr stark nahelegen, wie wir sein sollen oder wie wir uns verhalten sollen. Wenn ich immer lieb bin oder immer höflich bin, dann werde ich geliebt.
Sprecher
Franca Cerutti ist Psychotherapeutin und Psychologie-Podcasterin.
Eines ihrer Lieblingsthemen: Glaubenssätze, also feste Überzeugungen, die jeder Mensch in sich trägt. Aber eigentlich, sagt sie, sind es eher ganze Glaubenssysteme.
O-Ton 04 Franca Cerutti (00`27)
Also ein Glaubenssatz, der mich selber betrifft, könnte ja zum Beispiel lauten: „Ich muss fleißig sein und leistungsstark, um Anerkennung zu bekommen.“ Und der ist aber vielleicht verknüpft mit einem Glaubenssatz, der dann eher so die gesamte Gesellschaft betrifft. Der lautet dann so was wie „Ohne Fleiß kein Preis“. Und das ist wiederum geknüpft an so eine gesamtgesellschaftliche Erwartung.
Musik: Mansplaning 1‘00
Sprecher
Also: Glaubenssätze stehen nicht isoliert da. Sie hängen oft eng mit anderen Glaubenssätzen zusammen. Und dieses Glaubenssystem bestimmt die Art und Weise, wie man sich selbst, Beziehungen und das Umfeld bewertet und einsortiert.
O-Ton 05 Emily (00`18)
Der Glaubenssatz von mir, der sich eigentlich in allen anderen Glaubenssätzen von mir auch widerspiegelt, ist: Ich bin zu viel. Also dieses ich bin too much. Ich bin zu viel. Ich brauche zu viel Aufmerksamkeit oder ich fordere zu viel Aufmerksamkeit. Ich glaube, das ist eigentlich das, was es ganz, ganz gut zusammenfasst.
Sprecher
Nicht nur Emily – Alle Menschen weltweit haben Glaubenssätze bzw. Glaubenssysteme in sich. Sowohl gute wie „Ich bin genug“, „Die Welt ist ein schöner Ort“ oder „Ich kann anderen vertrauen“. Aber eben auch negative Glaubenssätze. Und die haben alle – auch die ganz großen Stars.
O-Ton 06 Franca Cerutti (00`45)
Ich habe irgendwann mal gelesen, dass das Topmodel Kate Moss, die ja nun wirklich, wie gesagt ein weltbekanntes Topmodel war und mit ihrem sehr guten, überdurchschnittlichen Aussehen Geld verdient hat. Das war ihr Beruf. Dass sie dennoch tiefe Glaubenssätze hatte, sie sei unattraktiv und sie hätte ein hässliches Gesicht. Und ich finde, das zeigt noch mal sehr stark, wie unglaublich krass auch eigentlich das reale Leben und der Glaubenssatz auseinander gehen können.
Sprecher
Eine Frau, die glaubt, dass sie zu laut sei und eine andere, die glaubt, dass sie nicht schön genug sei. Typische Glaubenssätze von Frauen, sagt Psychotherapeutin Franca Cerutti. Sie erkennt in ihrer Praxis durchaus Unterschiede in den Glaubenssätzen von Männern und Frauen.
O-Ton 07 Franca Cerutti (00`25)
Keine Evidenz, nur mein Eindruck. Aber bei Männern habe ich häufiger leistungsbezogene Glaubenssätze. Da geht es dann häufig um nicht gut genug sein im Leistungssinn. Und bei Frauen geht es häufig um Beziehungen und Attraktivität. Als Mensch, als Partnerin. Oder wie gut bin ich als Mutter oder so. Schon sehr rollenspezifisch manchmal noch.
Musik: Genetics 0‘30
Sprecher
Negative Glaubenssätze können sich in banalen Alltagssituationen bemerkbar machen, wie: Am freien Tag unwichtige Aufgaben erledigen, anstatt zu entspannen, weil man das Gefühl hat, immer was leisten zu müssen. Oder sie zeigen sich nach einem Treffen mit guten Freundinnen. Aber woher kommt das Gefühl von Emily - selbst bei guten Freundinnen-, zu viel, zu laut, zu nervig zu sein?...
Pause-Atmo (Spannungsaufbau)
… Wie entstehen Glaubenssätze?
O-Ton 08 France Cerutti (00‘46)
Ich stelle mir das so vor, dass wenn wir groß werden in unserer Kernfamilie, aber natürlich auch in der Schule, im Umfeld, dass all das in uns immer so Informationen hinein träufelt. Ich denke da manchmal eine Tropfsteinhöhle, wo so nach und nach eben etwas hineintropft. Und wenn an einer Stelle immer wieder etwas rein geträufelt wird, dann bildet das irgendwann verhärtete Strukturen. Und damit meine ich übertragen jetzt auf die Psychologie, dass wenn ich immer wieder bestimmte Informationen darüber erhalte, wie ich bin oder sein soll, oder wie die Welt da draußen ist oder sein soll, dann verhärtet das auch in mir und bildet so was wie Stalaktiten und Stalagmiten.
Musik: What is it (reduced) 0‘37
Sprecher
Und diese Tropfen können aus den verschiedensten Richtungen kommen, zum Beispiel: immer wiederkehrende Kleinigkeiten im Alltag; implizierte Erfahrungen, wie die Beziehung der Eltern zu beobachten; sehr eindrückliche einmalige Ereignisse, wie zum Beispiel ein Trauma; vor allem aber entstehen Glaubenssätze in der Kindheit: Oft sind es auch unbedachte Sätze von Mama oder Papa, die an den Kinderohren hängenbleiben. So wie bei Emily.
O-Ton 09 Emily (00`45)
Und eine Situation, das weiß ich noch sehr, sehr genau. Da saß ich am Essenstisch und ich glaube, ich war sieben oder acht. Und ich habe sehr viel geredet. Und dann hat mein Vater irgendwann gesagt „Ja, aber was wolltest du denn jetzt eigentlich sagen?“ Und dann hab ich das halt noch mal gesagt und noch mal blumiger. Und mein Vater stand da: „Was wolltest du sagen? Was hast du? Was hast du jetzt gerade zum Gespräch beigetragen?“ Und natürlich hatte ich nichts beigetragen. Also im Endeffekt war das halt so eine erzieherische Maßnahme, wo mein Vater mir sagen wollte: okay, gut, hey, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Bei mir ist es so stark im Gedächtnis geblieben, weil ich hab mich so geschämt, weil ich halt so das Gefühl habe, ich wurde so vorgeführt.
Sprecher
Dieser Tropfen auf Emilys Glaubenssatz-Stalagmit ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. Aber dem Tropfen gehen viele kleinere Tropfen voraus: dass Emily sprechen konnte, bevor sie laufen konnte; dass ihre Eltern wahnsinnig stolz darauf waren und dass die kleine Emily bei jeder Party ihrer Eltern eine große Attraktion war; dass es okay war, die Erwachsenen zu unterbrechen, weil alle so beeindruckt davon waren, wie gut sie für ihr Alter sprechen kann. Bis sie älter wurde und die Erwachsenen nicht mehr beeindruckt, sondern genervt waren, wenn sie unterbrochen wurden.
O-Ton 10 Emily (00`25)
Und ich weiß noch, ich habe das als Kind nicht verstanden, warum in manchen Situationen wars toll und dann war ich witzig und in wieder anderen Situationen war es dann total nervig und nee, und jetzt geh mal spielen und hör mal auf damit.
Das hat bei mir dann ganz, ganz häufig dazu geführt, dass ich einfach super, super große Angstzustände dann nach so sozialen Großveranstaltungen hatte, weil ich halt nie wusste, okay, ist das eine, wo ich reden darf oder eine, wo ich nicht reden darf.
Sprecher
Eine Studie um Vincent Felitti aus dem Jahr 1998 hat gezeigt: Wer sich eher an negative Momente aus der Kindheit erinnert, kämpft auch im Erwachsenenalter mit Problemen. Umgekehrt gilt: positive Erinnerungen machen das Leben leichter. ABER: Entwicklungsforscher von der University of Minnesota haben vor ein paar Jahren eine neue Studie vorgelegt. Die zeigt, dass sich erwachsene Kinder oft verzerrt an die Eltern-Kind-Beziehung erinnern. Und dabei scheint die aktuelle Beziehung einen großen Einfluss zu haben. Heißt also: Je besser man sich mit den Eltern in der Gegenwart versteht, desto positiver sind auch die Erinnerungen an die Vergangenheit.
O-Ton 11 Franca Cerutti (00`45)
Unterm Strich glaube ich inzwischen, dass man als Eltern im Grunde vieles auch unbeabsichtigt, vielleicht in Anführungsstrichen falsch macht, obwohl man in bester Absicht gehandelt hat. Ich glaube, dass manchmal Dinge, die man unbedacht sagt, das Kind in einem verletzlichen Zeitfenster ganz ungut erwischen können. Ich glaube aber auch, dass das Gegenteil stimmt, dass, wenn wir im Großen und Ganzen gut mit unseren Kindern sind, wir auch sehr viele gute Glaubenssätze mitgeben können.
Musik: Futuristic workflow 0‘30
Sprecher
… Übrigens ist es auch normal, sich nicht an so konkrete Situationen erinnern zu können, wie Emily das tut. Das ist auch gar nicht nötig, um die eigenen Glaubenssätze zu finden. Wer seine eigenen Glaubenssätze erforschen will, muss eigentlich nur eine Sache tun, nämlich: Sich selbst beim Denken beobachten.
O-Ton 12 Franca Cerutti (00’35)
Wann immer man sich beim Denken beobachtet, sich fragen: Stimmt das wirklich, was ich gerade denke? Oder könnte auch das Gegenteil der Fall sein? Oder würde das jeder so sehen? Ist das jetzt vielleicht ein Glaubenssatz von mir oder ist das so was wie eine absolute Wahrheit? Und häufig genug kommen wir dahinter, dass das natürlich eine erworbene Überzeugung ist und nicht etwa ein Naturgesetz.
*** Denkpause***
Sprecher
Das Gehirn liebt es, recht zu behalten – also tut es alles dafür, um nur das zu sehen, was unsere Glaubenssätze auch bestätigt. In der Kognitionspsychologie nennt man das: „Confirmation bias“.
O-Ton 13 Franca Cerutti (00`45)
Wenn ich von mir selber glaube, ich bin ungeschickt oder ich bin dumm oder so was, dann werde ich mich an 1.000 Situationen erinnern, die genau das scheinbar bewiesen haben. Und ich werde auch besonders aufmerksam sein für Situationen, die genau zu dieser Überzeugung passen. Und dadurch werde ich genau diese negative Überzeugung über mich selbst immer weiter festigen. Das es aber gleichzeitig wahrscheinlich 1.000 Gegenbeweise gibt, in denen ich sehr clever war oder überhaupt nicht ungeschickt. Genau diese Situation, die nicht zu meinem Glaubenssatz passen, die verarbeite ich nicht in der gleichen Tiefe. An die erinnere ich mich auch weniger und sie scheinen nicht die gleiche Macht über mich zu haben.
Musik: Mansplaning 0‘23
Sprecher
Negative Glaubenssätze können nicht nur für einen selbst, sondern auch für Freundschaften und die Partnerschaft problematisch sein. Nämlich dann, wenn der Mensch mit den negativen Glaubenssätzen anfängt, sich selbst und seine Beziehung unbewusst zu sabotieren.
O-Ton 15 Franca Cerutti (00‘43)
Also wenn zum Beispiel jemand sehr negative Beziehungsschemata hat, also sprich großes Misstrauen in Beziehungen und vielleicht einen Glaubenssatz, der lautet: Immer, wenn ich jemanden liebe, werde ich sowieso verlassen. Das hat vielleicht biografische Gründe, warum das jemand glaubt. Dann kann es passieren, dass aufgrund des großen Misstrauens und aufgrund der großen Angst, diese Beziehung jetzt zu verlieren, man ein ängstliches, misstrauisches Verhalten der Partnerperson gegenüber zeigt, was dann tragischerweise die Beziehung eigentlich sabotiert und was eigentlich genau dazu beiträgt, was man ja insgeheim fürchtet, nämlich dass man verlassen werden wird.
Sprecher
Negative Glaubenssätze sind also eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – und sabotieren auch heimlich Partnerschaften. Mit Beziehungssabotage kennt sie sich aus:
O-Ton 16 Raquel Peel (00‘02)
Thank you so much for having me… (ausfaden/nicht übersetzen)
Sprecher
Dr. Raquel Peel. Sie lehrt Psychologie an der „University of Notre Dame“ in Australien und beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit Paarbeziehungen. Sie weiß, was eigentlich hinter der Beziehungssabotage steckt:
O-Ton 17 Raquel Peel (00`43) /
VO-Weiblich:
Die treibende Kraft dafür ist höchstwahrscheinlich: Angst. In meinen Untersuchungen haben die Menschen immer wieder davon gesprochen, dass sie Angst davor haben, in einer Beziehung verletzt zu werden. Sie haben Angst vor Ablehnung, vor Verpflichtungen. Oft ist es auch so, dass so eine Angst in einer Beziehung dazu führt, dass wir Schutzstrategien entwickeln, um uns selbst und unsere Gefühle zu schützen.
Sprecher
Schutzstrategien, um nicht verletzt zu werden, können ganz unterschiedlich aussehen. Zum Beispiel, sich nicht ganz auf den Partner oder die Partnerin einlassen – und sich einen „Plan B“ warmhalten.
Musik: Ssecret proofs 0‘36
Raquel Peel weiß, wovon sie spricht, wenn es um Glaubenssätze und Beziehungssabotage geht: Sie wurde nach ihrer Geburt von ihren Eltern in einem öffentlichen Krankenhaus zurückgelassen – als Frühgeburt und ziemlich krank. Die Krankenschwester, die sich um sie kümmerte, hat sie schließlich zusammen mit ihrem Mann adoptiert. Peel sagt zwar, sie habe eine sehr liebevolle Familie. Trotzdem trage sie negative Glaubenssätze in sich.
O-Ton 18 Raquel Peel (00`36) /
VO-Weiblich:
Ich glaube, dass der Umgang mit Beziehungssabotage eine lebenslange Aufgabe ist. Bei mir gibt es ein Muster in meinem Verhalten, das ich wegen meinem Glaubenssystem habe. Ich fühle mich in meinen Beziehungen nicht gut genug und habe oft das Gefühl, dass ich die Liebe nicht verdiene. Manchmal, wenn ich richtig glücklich bin, überkommt mich gleichzeitig eine Angst, dass mir das alles wieder genommen wird.
Sprecher
Die Schutzstrategien sollen Menschen helfen, nicht so leicht verletzt werden zu können; Sie sollen den Erwachsenen helfen, sich nicht wieder wie hilflose Kinder zu fühlen. Und den Schutzstrategien liegen wiederum Glaubenssätze aus der Kindheit zugrunde. Doch wie kann man mit negativen Glaubenssätzen und der daraus entstehenden Beziehungssabotage am besten umgehen?
O-Ton 19 Raquel Peel (00`39) /
VO-Weiblich:
Zuallererst müssen wir erkennen, dass wir uns selbst und die Beziehung sabotieren und unsere Glaubenssätze die Ursache sind. Unsere negativen Glaubenssätze sind der Grund, warum die Beziehung nicht funktioniert. Nur zusammen mit dem Partner, der Partnerin können wir die Angst überwinden, können wir in unseren Ängsten gesehen und gehört werden und verletzlich sein. Es braucht also Kommunikation, es braucht Zusammenarbeit.
Sprecher
Es ist also wichtig herauszufinden, was eigentlich die Schutzstrategie ist und welcher Glaubenssatz der Strategie zu Grunde liegt, damit man die Beziehungssabotage auch bewusst beenden kann. Sich dem Partner, der Partnerin so zu öffnen, birgt aber eine Gefahr …
Musik: Disturbing factors 0‘26
Sprecher
… nämlich wirklich verletzt werden zu können.
***Musikzäsur***
Sprecher
Glaubenssätze wollen sich selbst bestätigen – dafür sabotieren Menschen teilweise sogar sich selbst und ihre eigenen Beziehungen. Und den Grund dafür können Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler sogar im Gehirn nachweisen:
O-Ton 20 Franca Cerutti (00`33)
Das liegt daran und das ist echt ein bisschen tragisch, dass unser Gehirn mit einer winzigen Dopaminausschüttung reagiert, wenn es recht hat. Das heißt, selbst wenn negativste Vorannahmen bestätigt werden, macht unser Gehirn ein ganz kleines „Chaka!“ und sagt: Ich hatte recht. Und das erhält es sozusagen auch noch ein bisschen mit aufrecht und macht es manchmal noch schwieriger, Gegenbeweise gegen so negative innere Überzeugungen zu suchen. Denn das ist viel, viel mühsamer.
Sprecher
Laut einer Studie der Havard-Universität hören wir bis zu unserem 18. Lebensjahr über 180.000 negative Suggestionen; oder um im Bild der Tropfsteinhöhle zu bleiben: Über 180.000 Tropfen schmutzigen Wassers, die zu festen Stalagmiten und Stalaktiten in uns werden können.
Keine erfreulichen Aussichten. Aber kann man negative Glaubenssätze auch wieder loswerden?
O-Ton 21 Franca Cerutti (00`37)
Also manchmal lese ich das so in Zeitschriftenartikeln oder so, dass man Glaubenssätze löschen kann. Und das stimmt halt faktisch einfach nicht. Denn tief verinnerlichte Überzeugungen, die sind ja rein hirnphysiologisch betrachtet übersetzbar als Nervenverbindungen, die nun mal existieren. Und die lassen sich überhaupt nicht löschen. Es geht darum, dass man neue Strukturen schafft, die mindestens genauso fest werden und neue Verbindungen eingehen. Und dass es eben die positive Konkurrenz gibt; löschen geht im Gehirn so gut wie gar nicht.
Musik: What is it (reduced) 0‘43
Sprecher
Oder um im Bild der Tropfsteinhöhle zu bleiben: man kann die verhärteten Stalagmiten und Stalaktiten nicht einfach zerschlagen. Man muss sich selbst neue Tropfsteine wachsen lassen; Und dafür muss man auch nicht unbedingt in Therapie gehen
Sich beim Denken beobachten, so die negativen Glaubenssätze identifizieren und bewusst mit positiven Gedanken gegensteuern. Klingt eigentlich einfach. Also „Ich kann alles schaffen“ statt „Ich kann das nicht“!?
O-Ton 23 Franca Cerutti (00‘30)
Ich erlebe es in der Praxis auch häufig, dass Menschen sich Affirmationen raussuchen und die sagen, die sich dann lächelnd vor dem Spiegel oder schreiben die in ihr Dankbarkeitstagebuch. Und empfinden das aber als unglaubwürdig, weil eben vielleicht ein entgegenstehender Glaubenssatz genau das Gegenteil behauptet, so dass sich die Affirmation affig anhört. Und deshalb arbeite ich ganz gerne mit den sogenannten ‚Iffirmationen‘.
Sprecher
Iffirmationen: eine Mischung aus Affirmationen, also positiven lebensbejahenden Sätzen und dem englischen Wort „If“, was so viel wie „wenn“ bedeutet. Diese Iffirmationen können dann so klingen:
O-Ton 24 Franca Cerutti (00‘25)
Und was ist, wenn das doch gut genug war? Und was ist, wenn ich genau das geliefert habe, was erwartet war? Und was ist, wenn das vollkommen ausreichend war? So, also es muss nicht ein „Ich bin die Beste“ dagegengehalten werden, sondern so sobald man merkt „Oh, das war nicht gut.“ „Und was ist, wenn das doch gut war?“ „Oh, da habe ich jetzt wieder zu viel gequatscht.“ „Und was ist, wenn ich unterhaltsam war und nicht zu viel gequatscht hab?“
Sprecher
In ihrer Praxis macht Franca Cerutti ganz unterschiedliche Erfahrungen damit, wie lange es dauert, bis die Iffirmation zum Automatismus wird. Aber unterm Strich, sagt sie, klappe es immer. Und auch Emily hat ihre eigene Taktik gefunden, um mit ihrem Glaubenssatz „Ich bin zu viel“ umzugehen. Früher hat sie lange WhatsApp-Nachrichten an ihre Freundinnen geschickt und sich entschuldigt:
O-Ton 25 Emily (00`31)
Ich habe angefangen eher nachzufragen. Also dass ich dann so bin. „Hey, ich hatte voll den schönen Abend! Habe ich dich genervt? War es irgendwie schlimm oder so?“ Und ich habe angefangen, den Leuten zu glauben, wenn sie sagen: „Es war voll okay, Ich hatte auch voll den
schönen Abend.“
Musik: Finding the answer 0‘38
Sprecher
Glaubenssätze sind so unterschiedlich wie das Leben der Menschen. Und wir alle haben sie: gute und schlechte. Manche haben hartnäckigere negative Glaubenssysteme in sich, anderen fällt es leichter, sie durch positive Glaubenssätze zu ersetzen. Und Emily – sie ist ihren Eltern dankbar, dass sie keine rücksichtslose Gesprächspartnerin geworden ist, die andere ständig unterbricht. Sie kann ihrem negativen Glaubenssatz auch was Positives abgewinnen.
O-Ton 26 Emily (00`45)
Vielleicht steckt auch was Gutes darin. Ich weiß noch, wir haben uns damals im Deutsch LK haben wir uns irgendwann so Zettel auf den Rücken geklebt mit irgendwie Sachen, die wir cool aneinander fanden oder so und es war alles anonym und ich weiß noch, mir hat jemand einen Zettel auf den Rücken geklebt. Den habe ich bis zum heutigen Tage. Mir hat jemand da reingeschrieben: Ähm, du, du bist ein sehr witziger Mensch. Ähm, und es hat jemand geschrieben
Musik: Everyone sleeps 0‘45
Du redest sehr viel und ich weiß noch, ich wollte den Zettel zerknüllen und wegschmeißen, aber die Person hat geschrieben ‚Du redest sehr viel, aber du passt auch immer auf, dass alle anderen zu Wort kommen‘. Und diesen Zettel hab ich und ich hab gedacht: Ganz ehrlich: Das ist doch das Beste, was mir passieren kann!
Ein "Sarg", der Leben rettet: Die Eiserne Lunge gilt als eines der ersten klinischen Geräte zur Beatmung eines Patienten. Sie hebt und senkt durch wechselnden Druck den Brustkorb des Patienten in ihrem Inneren - und ermöglicht somit trotz gelähmter Atemmuskulatur das Ein- und Ausatmen. Von Inga Pflug (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Schild
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Yvonne Maier
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Prof. Dr. Marion Ruisinger, Medizinhistorikerin, Direktorin Medizinhistorisches Museum, Ingolstadt;
Dr. Hartmut Bettin, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Greifswald ;
Prof. Dr. Roland Francis, Universitätsklinikum Erlangen, Direktor Anästhesiologische Klinik;
Prof. Dr. Dr. Stefan Schaller, Charité Mitte Berlin, Stellv. Direktor der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin
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Medizinische Durchbrüche – Die Röntgen-Revolution
Linktipp:
BR Retro | Polio-Epidemie 1962 in Deutschland: Warum wurde so spät geimpft?
1961 erkrankten in der Bundesrepublik Deutschland 4605 Menschen an Kinderlähmung - damals ein trauriger Weltrekord. Andere Länder hatten die unheilbare Krankheit und das Poliovirus zu diesem Zeitpunkt durch ein konsequentes Impfprogramm schon fast zum Verschwinden gebracht. Warum es hierzulande länger dauerte, versucht dieser Beitrag aus dem Jahr 1962 zu ergründen.
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Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion:
BR24 | Dreimal besser
Dein Info-Podcast, der Lösungen anbietet. Wir wollen wissen, wie es in Zukunft besser laufen kann. In jeder Podcastfolge stellen Birgit Frank oder Kevin Ebert drei Lösungsansätze zu einem aktuellen Thema vor. Weil die Welt mehr ist als nur Krisen.
ZUM PODCAST
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Mit der Antibabypille konnten Frauen ab den 60ern günstig selbstständig verhüten und freieren Sex haben. Gleichzeitig übernahmen sie das Risiko von Nebenwirkungen. Heute kritisieren immer mehr Menschen die Pille. Von Julia Fritzsche
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Fritzsche
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Baumann
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Karin Becker
Im Interview:
Prof. Dr. Mandy Mangler, Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und Vivantes Klinikum Neukölln
Zeitzeugin Elisabeth Osigus
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
Linktipps:
Der Tagesspiegel-Podcast „Gyncast“ mit Prof. Mandy Mangler HIER
Video über die Nachteile hormoneller Verhütung HIER
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Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-TON 1 Osigus verliebt aber Angst
Ich hab den Mann kennengelernt, den ich geliebt habe, (…) allerdings war da gleich die Angst, dass was passieren könnte, ne, dass man schwanger wird.
SPRECHERIN:
Schwanger werden – das muss sie verhindern. Elisabeth Osigus wird 1932 geboren. Als sie Anfang der 50er Jahre ihren späteren Mann kennenlernt und sie noch nicht verheiratet sind, stellt sich die Frage: wie ein Kind verhindern? Osigus notiert ihren Zyklus im Kalender.
O-TON 2 Osigus Kalender
Und wehe, wenn zwei Tage vorbei waren und die Periode kam nicht, da war die Angst groß.
SPRECHERIN:
Die Angst liegt damals bei vielen heterosexuellen Paaren mit im Bett, vor allem bei den Frauen.
O-TON 3 Mangler permanent schwanger
Da muss man wissen, dass wir heute einen sehr großen Luxus haben, dass wir Verhütung überhaupt haben, weil das über die meiste Zeit der Evolution eben nicht so war und Frauen dadurch eben permanent schwanger waren oder gestillt haben (…) und damit zu tun hatten.
SPRECHERIN:
Permanent schwanger. Mandy Mangler (Nachname dt. ausgesprochen) ist Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und Vivantes Klinikum Neukölln.
O-TON 4 Mangler
Wenn man sich n bisschen früher in der Evolution das Mittelalter ungefähr anguckt, dann war da eben die Geburtenzahl sehr, sehr hoch, die lag über 10 pro Frau, und das ist schon ne ganze Menge.
SPRECHERIN:
Die ganze fruchtbare Zeit schwanger, also vier oder fünf Jahrzehnte. Natürlich konnten Frauen auf ihren Zyklus achten, aber Verhütungsmittel waren rar.
O-TON 5 Mangler Kondome und Nießen
Kondome oder so (…) hat man auch gemacht, aber nicht so gerne, die wurden früher aus Därmen hergestellt, also Tiergedärme. (…) Kondome hatten immer (…) einen anrüchigen Charakter, Kondome haben Sex-Workerinnen benutzt, deswegen war das stigmatisiert. Und dann hat man alle möglichen Dinge versucht, Vagina-Spülungen oder was in die Vagina reintun und so weiter und sofort. (…) Nießen hat man auch versucht, also da geht es ja darum, das Sperma eben aus der Vagina rauszubringen (…) oder so. Und ja, das hat alles ja nicht so richtig gewirkt.
SPRECHERIN:
Für Elisabeth Osigus und ihren Mann bleibt als Methode nur eins.
O-Ton 6 Osigus vorsehen und aufpassen
Dass er das vorsehen muss, dass nichts passiert. (…) So war das bei uns in der Familie, dass die Männer, jedenfalls bei mir mein Mann, aufpassen sollte, damit es nicht zu Dings kommt.
Undercover investigations red 0‘20
SPRECHERIN:
Bloß nicht „Dings“. Sex und Verhütung sind damals Tuschelthemen. Sexualberatungsstellen gibt es nicht, Eheberatung ist in der Bundesrepublik Sache der Kirchen. Elisabeth Osigus spricht nur mit ihrem Mann darüber, nicht mit Freundinnen.
O-TON 7 Osigus nicht geredet
Ne, ich hab nicht geredet, irgendwie kam mir das nicht so gut vor.
SPRECHERIN:
Das Leben vieler Frauen damals ist von den drei K geprägt: Kinder, Küche, Kirche. Sex ist Privatsache. Die meisten Frauen wissen nur, dass er gefährlich ist.
O-TON 8 Osigus aufgeklärt
Als Mädels im Dorf, wie es halt so ist, da hat die eine mehr gewusst als die anderen, wie was gemacht wird, aber da hieß es nur: Bloß Vorsicht vor den Jungs!
O-TON 9 Mangler lös das Problem
Und (…) zum Beispiel in einer Ehe, das war nicht das Problem des Mannes, wenn die Frau schwanger war, sondern das war ihr Problem. Der Mann hat (…) im Idealfall das Kind mitgroßgezogen, im Zweifel aber mit den Augen gerollt und gesagt: lös das Problem!
SPRECHERIN:
„Lös das Problem“ hieß: illegal abtreiben. Denn seit 1871 galt Paragraph 218 des Strafgesetzbuchs des Deutschen Kaiserreichs: Abtreibung verboten.
O-TON 10 Osigus schwarz abgetrieben
Ja, (…) da kenne ich eine aus der Nachbarschaft, die schwarz abgetrieben hat und danach gestorben ist. (…) Das war typisch. (…) Mit Stricknadeln und was nicht alles und sind dann verblutet.
SPRECHERIN:
Andere Methoden abzutreiben sind damals Chemikalien, giftige Laugen oder Tinkturen. Viele Frauen sterben. Viele kriegen ungewollte Kinder.
Emotional piano 1 0‘30
So auch die Mutter von Margaret Sanger, verfrüht gestorben nach 18 Schwangerschaften. Margaret ist eins von den 12 Kindern, die die ersten Jahre überlebt haben. Als sie in den 20er Jahren als Krankenschwester in einem New Yorker Arbeiterviertel anfängt, erlebt sie viele Frauen, denen es geht wie ihrer Mutter. Das will sie ändern.
O-TON 11 Mangler Sanger
Ja, Margaret Sanger (…) hat sich eben auseinandergesetzt mit, ja, weiblicher Verhütung (…). Und die war dann auch sehr erfolgreich und hat da die Entstehung der Pille gefördert und hat so an den richtigen Strippen gezogen.
Musik: Complex questions 0‘40
SPRECHERIN:
Margaret Sanger beginnt, Frauen in den USA über Verhütung aufzuklären, zum Beispiel über Pumpen, die das Sperma nach dem Sex aus der Vagina spülen sollen. Als sie dafür wegen „Pornografie“ verhaftet werden soll und nach Europa flieht, entdeckt sie das 1915 entwickelte Kunststoff-Diaphragma, eine Kunststoffklappe vor der Gebärmutter, und schafft es, 500 davon in die USA zu schleusen, wird aber dort nach 10 Tagen verhaftet. Ihr Engagement erhält jedoch immer mehr Aufsehen. Die Behörden geben schließlich nach und erlauben Ärzten in den USA, über Methoden der Verhütung aufzuklären. Die Frage bleibt allerdings: Wie richtig praktisch verhüten? Sanger träumt von einem ganz einfachen Verhütungsmittel für Frauen, einer Hormonpille.
Auf einer Dinner-Party fragt sie 1951 den Endokrinologen Gregory Pincus, wie viel Geld er bräuchte, um ein einfaches Mittel zur Verhütung in Form einer Pille zu entwickeln. Er schätzt: 125.000 Dollar.
Erste Ideen dazu gibt es damals schon, erklärt Gynäkologin Mandy Mangler.
O-TON 12 Mangler Entwicklung
So vor 100 Jahren ungefähr, als so die ersten Medikamente es gab, zum Beispiel Antibiotika und so, hat man auch die weiblichen Hormone künstlich herstellen können irgendwann. Und dann hat man sich natürlich gefragt, wie kann ich das jetzt so umsetzen, dass eine Verhütung daraus resultiert.
SPRECHERIN:
Die Idee ist also da, allein es fehlt der Wille, genauer gesagt: das Geld.
Musik: Original research (b) 0‘35
Doch Sanger ist nicht nur entschlossen, sondern auch Strategin.
Sie gewinnt die vermögende Frauenrechtlerin und Biologin Katharine McCormick. Beide haben das Anliegen, die gefährlichen illegalen Abtreibungen zu verhindern. Und McCormick stellt schließlich in den folgenden Jahren zwei Millionen Dollar für die Forschung an der Pille zur Verfügung. Gregory Pincus, der von der Dinner-Party, macht sich zusammen mit dem Chemiker Karl Djerassi an die Arbeit.
O-TON 13 Mangler Vater der Pille
Und dann hat man synthetisch Hormone hergestellt, die dem Körper also vorgaukeln, dass es Hormone gibt und dann eben als Verhütung dienen. Und da gab es mehrere Forscherinnengruppen und die Person, die dann die Pille eben erfunden hat, das war ja Karl Djerassi, der sich selber dann als „Mutter der Pille“ immer benannt hat.
SPRECHERIN:
Diese Forschung hatte leider große ethische Fehler. Die Tests erfolgten nicht in den USA, sondern in Puerto Rico, wo die Behörden Geburtenkontrollen auch aus rassistischen Motiven befürworteten. Die Teilnehmerinnen wurden dürftig über Risiken informiert. Die Tests erfüllten nicht die Anforderungen, die man heute an die Teilnehmerzahl hat. Und: Pincus und sein Team hielten trotz Berichten über Nebenwirkungen das Mittel für sicher und bewerteten die Testreihe wegen der verhütenden Wirkung als Erfolg. Weitere Tests folgten in Haiti und Mexiko.
O-TON 14 Mangler Experimente
In der Entwicklung, ja, natürlich war das ne Zeit, die unrühmlich war und die eben geprägt war von ganz ganz kranken Strukturen, rassistisch und die auch experimentell in den KZs gearbeitet hat, das ist (..) ein unrühmlicher, furchtbarer Teil der Medizingeschichte und der eben viele Medikamente betrifft, aber auch die Pille.
SPRECHERIN:
Dennoch: Am 23. Juni 1957 wird die erste Pille, das von Pincus und Djerassi entwickelte Produkt "Enovid", in den USA zugelassen. Wenige Jahre später, 1961, bringt das Unternehmen Schering in der Bundesrepublik ein vergleichbares Präparat auf den Markt. Zuerst nur auf Rezept als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden und nur für verheiratete Frauen, die schon mehrere Kinder haben. Dass das Mittel die Empfängnis verhütet, taucht nur als Nebenwirkung in der Packungsbeilage auf.
ZITATOR:
„Suspension der Ovulation unter Gewährleistung der regulären Monatsblutung.“
SPRECHERIN:
Also: kein Eisprung. Das, worauf Sanger und so viele Frauen gehofft haben.
O-TON 15 Mangler spektakulär
Das war spektakulär, als man das herausgefunden hat, weil das war ebenso einfach wie genial. Und aber auch wirksam. Und ja, das hat man dann schnell verstanden, dass das natürlich die die Menschen befreit von einer Art Geburtenzwang muss man sagen, also von diesem permanenten Schwangersein.
Musik: Behind the curtain 0‘25
SPRECHERIN:
Elisabeth Osigus ist, als die Pille in der Bundesrepublik auf den Markt kommt, 29. Sie hat mit ihrem Mann mittlerweile drei Kinder. Eines Tages kommt er von der Arbeit, in einer Justizvollzugsanstalt, und berichtet von einem Lehrgang.
O-TON 16 Osigus Vortrag
Und da war auch ein Arzt dabei, der ihnen dann erzählt hat, weil da mehrere im Lehrgang waren, die mehrere Kinder hatten und (…) der kam dann zu den Männern, die da weiß ich was von Justiz gelernt haben, aber so nebenbei eben die Pille angeboten bekamen für die Frauen.
SPRECHERIN:
Es kommt vielen damals wie Werbung vor, sagt sie.
O-TON 17 Osigus fromm aber 5 Personen
Ich will mal so sagen, ich bin ein bisschen fromm und da hatte ich ein bisschen Angst gehabt, aber dadurch, dass das durch den Arzt kam, hab ich vertraut. Weil wir waren uns mit meinem Mann einig, wir wollten beide keine Kinder mehr haben.
SPRECHERIN:
Elisabeth Osigus versorgt Kinder und Haushalt, ihr Mann muss allein Geld für fünf Personen erwerben.
O-TON 18 Osigus wollte Arbeiten
Ich hatte als junges Mädchen geheiratet und (…) ich wollte ja auch später wieder zur Arbeit gehen, deswegen wollte ich ja auch die Pille, damit ich nicht wieder was Kleines dahabe und nicht wegkann von zuhause.
SPRECHERIN:
Doch wie kommen die Frauen nun an die Pille? Elisabeth Osigus will ihren Hausarzt fragen.
Musik: Lectio consolamini 0‘27
Vor allem die katholische Kirche lehnt die Pille massiv ab. Papst Paul VI verurteilt 1968 in der Enzyklika "Humanae Vitae" Geburtenkontrolle durch künstliche Verhütungsmittel. Sie würden außerehelichen Sex fördern und eine…
ZITATOR:
"… Aufweichung der sittlichen Zucht"
SPRECHERIN:
Diese sogenannte „Pillen-Enzyklika“ trägt dem Papst den Namen „Pillen-Paul“ ein.
O-TON 19 Mangler Sittenverfall
Entsetzten machte sich breit, als die Pille dann auf den Markt kam. Weil das ist heute auch noch so, das ist total interessant: Der weibliche Körper, der ist politisch, der ist fremdbestimmt, der ist reglementiert, der ist mit Gesetzen überzogen und so weiter und man fürchtete also einen absoluten Sittenverfall durch die Pille und die Kirche fand es ganz schlimm. // Da gab es sogar so Ärzte und Ärztinnen, die einen offenen Brief geschrieben haben und gesagt haben, das geht so nicht und man muss es eigentlich reglementieren und verbieten.
SPRECHERIN:
Die „Ulmer Erklärung“: Darin warnen 1964 rund 200 Ärzte, wenn man den Frauen die Angst vor der Schwangerschaft nähme, würden sie hemmungslos und es fördere…
ZITATOR:
„…den biologischen und charakterlichen Verfall des deutschen Volkes“
SPRECHERIN:
Auch viele Frauen zögern damals in dieser Stimmung. Mitte der 60er sagt fast jede zweite in einer Umfrage des Allensbach-Instituts, die Antibabypille solle in Deutschland nicht erlaubt sein. Elisabeth Osigus möchte die Pille und geht zu ihrem Hausarzt. Er macht ihr Vorwürfe, sie sei selbst schuld, wenn sie schwanger würde.
O-TON 20 Osigus empfänglich
Wär ich denn so empfänglich, dass mein Mann nur die Hose ans Bett hängen braucht, dann würde ich schon schwanger.
SPRECHERIN:
Osigus kriegt die Pille schließlich über einen Gynäkologen.
Auch viele Katholikinnen setzten sich über das päpstliche Verbot hinweg.
ZITATOR:
"Der große Ungehorsam hat begonnen"
SPRECHERIN:
… schrieb "Der Spiegel" über die Reaktionen auf die Enzyklika damals.
O-TON 21 Osigus evangelisch
Ich war evangelisch und mit dem Katholischen das hatte mich nicht interessiert (…). Ich war froh, dass ich sicher war und mein Mann auch und all die Jahre hab ich sie genommen, hab auch kaum einen Tag verpasst.
SPRECHERIN:
Es ist ein Kampf. 1968 setzen die Vereinten Nationen ein Recht auf Familienplanung durch, die Akzeptanz der Pille steigt und immer öfter verschreiben Ärzte sie auch explizit als Verhütungsmittel. In der DDR stellt 1965 der Betrieb Jenapharm eine ähnliche Pille her, die "Wunschkindpille" unter dem Namen "Ovosiston". Ab 1972 wird sie kostenlos an sozialversicherte Frauen ausgegeben.
Musik: Make love not war 0‘40
Im Westen kommt die Pille gerade rechtzeitig zur 1968er Bewegung, Körper und Sexualität werden zum Politikum: „make love not war“, Liebe statt Krieg. Die Pille beschleunigt die sexuelle Befreiung.
SPRECHERIN:
Frauenrechtlerin Alice Schwarzer nennt die Pille einen „Meilenstein in der Geschichte der Emanzipation der Frauen“, erklärt aber auch, dass damit Frauen zur Verfügung zu stehen hätten.
SPRECHERIN:
Trotz Pille bleibt Sexualität männlich dominiert. Die Frauen haben aber immerhin ein Problem weniger: ständig Kinder zu kriegen oder illegal abtreiben zu müssen.
O-TON 24 Osigus viel bedeutet und aktiv
Mir hat sie sehr viel bedeutet, mein Mann war sehr aktiv. Und da hatten wir beide Angst, deswegen war mir die Pille sehr willkommen gewesen.
SPRECHERIN:
Elisabeth Osigus geht, nachdem sie ab Mitte der 60er Jahre die Pille nimmt, nun auch arbeiten, als Putzfrau und später ebenfalls im Justizvollzug. Sie nimmt die Pille, bis ihr Mann 1987 frühzeitig stirbt.
O-TON 25 Mangler Hochphase und Niedergang
Die Hochphase der Pille war lange, also schon von dem Zeitpunkt, als sie auf den Markt kam in den Sechzigern bis über die Zweitausender, ja, bis vor ein paar Jahren.
Musik: Still waiting 0‘26
SPRECHERIN:
In Europa ist sie lange das Verhütungsmittel Nummer eins. Doch global betrachtet kommt an erster Stelle die Sterilisation der Frau, obwohl ein Eingriff bei Männern einfacher wäre, an zweiter Stelle das Kondom, an dritter die Spirale und an vierter die Pille. Die Beliebtheit der Pille wurde schon kurz nach ihrem Aufkommen gedämpft.
O-TON 26 Mangler Nebenwirkungen
Man hat bei den ersten Generationen der Pille schon schnell gemerkt, dass da auch Nebenwirkungen auftreten können, zum Beispiel Thrombose oder eben auch Libidoverlost, sogar Depressionen.
O-TON 27 Osigus vertragen
Als ich dann bei der Arbeit war, haben manche erzählt, dass sie sie nicht vertragen haben (…)(…) Die hatten Erbrechen (…) , ihnen schmeckte kein Essen.
SPRECHERIN:
Gerade der Libidoverlust, den ein Teil der Frauen hat, wirft Fragen auf.
O-TON 28 Mangler Libidoverlust
(…) Weil das bedeutet ja eigentlich nur, ich nehme ein Medikament, um dann Sex zu haben, der mir aber nicht Spaß macht. (…) Also, wenn man das richtig zu Ende denkt, dann wird es unangenehm.
SPRECHERIN:
Laut Mandy Mangler hat es weitere Gründe, dass die Pille seit etwa den Nuller Jahren an Bedeutung verliert.
O-TON 29 Mangler Hochphase und Niedergang (Pille für Mann)
Ein Punkt, warum das mit der Pille kritisch war, war auch, dass es zum Beispiel die Pille für den Mann gibt. Die funktioniert ähnlich wie die Pille für die Frau, aber sie wurde nicht auf den Markt gebracht. (…) Und zwar mit dem Argument, die Nebenwirkungen sind zu hoch. Und die Nebenwirkungen, die sind sehr, sehr ähnlich wie die Nebenwirkungen der weiblichen Pille, noch nicht mal so doll, sondern weniger doll. Und wenn man das zu Ende denkt, dann ist das natürlich entrüstend aus der Perspektive von Frauen. Und das ist ein Punkt, warum die Pille vom Erfolgskurs bisschen abgekommen ist.
Musik: Take off 0‘25
SPRECHERIN:
Hormonelle Verhütung sähen viele Menschen zunehmend kritisch, so die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. 2023 wurde die Pille als Verhütungsmittel Nummer 1 in Deutschland deshalb vom Kondom abgelöst.
SPRECHERIN
Vor allem der Vergleich mit der Pille für den Mann lässt viele nachdenken: Warum sollen Frauen etwas nehmen, was Männern zu heikel ist?
O-TON 30 Mangler Pille für Mann und Profit
Da hat auch die WHO eine unrühmliche Rolle, weil sie eben dafür gesorgt hat, dass die Studien eingestellt werden. Und da kann man eigentlich, wenn man es richtig abstrahiert, nur sagen: Wir leben eben im Patriarchat, das tun wir, und (…) männliche Verhütung wird als was Suspektes, auch Männlichkeitsbedrohendes zum Teil angesehen. Und das ist schade, weil es gibt natürlich viele, viele Männer, die sehr gerne selbstbestimmt verhüten würden. // Die Entwicklung der männlichen Pille stockt, weil es da überhaupt gar keine gute Unterstützung von Pharmaindustrie oder insgesamt dem Forschungsmarkt gibt. Die Pille für die Frau, die verkauft sich eben immer noch gut, sie hat eine sehr, sehr starke Lobby. Und da ist natürlich die Frage, was geht dabei kaputt, wenn wir die Pille für den Mann auf den Markt bringen.
SPRECHERIN
Und so verhüten hormonell eben weiterhin nur Frauen. Die Forschung an der Pille und ihren Nebenwirkungen müsse deswegen weitergehen, so Gynäkologin Mangler. Vor allem auch, weil viele Pillen eine unnötige Blutung hervorrufen.
O-TON 31 Mangler Pseudoblutung
Also, man nimmt die Pille ein drei Wochen und dann nimmt man sie nicht ein eine Woche und in dieser Zeit blutet man. In manchen Pillen sind da auch so Placebo, dass man in dieser Woche trotzdem eine Pille nimmt. Und das ist eigentlich, hat man jetzt in Studien herausgefunden, unnötig ja diese Pillenpause und diese Blutung. Weil das ist auch gar keine Menstruation, sondern das ist so ne Pseudoblutung. Und man hat es aber damals so gemacht, wahrscheinlich weil man eben auch, ja, die religiösen Bedenken und die Bedenken der Kirche so aushebeln wollte, (…) also man wollte eben diesen natürlichen Zyklus nachahmen.
Musik: Nocturnal research 0‘55
SPRECHERIN
Trotz Kritik und Verbesserungsbedarf wäre es für viele Frauen wichtig, leichter an die Pille zu kommen. Manche haben gar nicht die Wahl. Geschätzt 200 Millionen Frauen weltweit haben laut Vereinten Nationen keinen Zugang zu modernen Verhütungsmitteln. In den USA können Arbeitgeber nach einem Urteil des Obersten Gerichts aus religiösen Gründen ausschließen, dass die Krankenversicherung ihrer Angestellten die Kosten für Verhütungsmittel übernimmt. Und in Deutschland bezahlen die Krankenkassen die Pille zwar für Frauen unter 22 Jahren, für viele Sozialhilfe-Bezieherinnen sind Verhütungsmittel aber zu teuer, so die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, vor allem für Geringverdienerinnen, BaföG-Bezieherinnen und HatzIV-Bezieherinnen.
O-TON 32 Mangler Fazit
Wenn man jetzt die Pille hart feministisch betrachten möchte, dann, ja dann gibt es 2 Seiten. Einmal ist es natürlich toll, selbstbestimmt (…) Schwangerschaften also zuverlässig zu vermeiden. Auf der anderen Seite ist es aber so, dass wir Frauen (…) die ganze Last der Verhütung zum Beispiel mit der Pille auf unseren Schultern tragen (…) also körperliche Beschwerden, finanziell, die Organisation, die Planung, irgendwie das darüber nachdenken usw. Deswegen also feministisch müsste man dann sagen, wir fordern, dass die Pille weiterentwickelt wird oder die Pille ist eben nicht geschlechtergerecht.
Musik: New shores (redeced) 0‘25
SPRECHERIN:
Für Elisabeth Osigus hat die Pille das Leben erleichtert.
O-TON 33 Osigus dankbar
Ich kann nur sagen, dass ich dankbar bin dem, der die Pille erfunden hat, der so vielen Frauen geholfen hat, und ich kann nur bedauern die Frauen, denen sie nichts genützt hat.
Wer lässt sich besonders gerne bestechen? Und wie reden sich diejenigen heraus, die der Bestechung überführt werden? Von Daniela Remus (BR 2016)
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Christiane Roßbach, Peter Veit
Technik: Christiane Voitz
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Jamie Lee Campbell, PsychologinNils Köbis, Sozialpsychologe, Freie Universität Amsterdam;
Edda Müller, Politologin, Transparency International, Berlin;
Tanja Rabl, Wirtschaftswissenschaftlerin, Technische Universität Kaiserslautern;
Stephanie Thiel, Kriminologin, Universität Gießen
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Atmo Autobahn MUSIK What have we done to each other
Erzählerin:
Ein Krimischreiber hätte sich die Szene nicht besser ausdenken können: Im Schutz des Dämmerlichts treffen sich auf einem Autobahnparkplatz zwei Män¬ner. Sie sind verabredet, um Be¬stechungs¬gelder aus¬zu¬tauschen. Der eine ist 48 Jahre alt, Prokurist der Berliner Flug¬hafen¬ge¬sell¬schaft, der andere ein 46-jähriger Mitarbeiter des Gebäude¬tech¬nik¬aus¬rüsters Imtech. Von ihm bekommt der Prokurist 150.000 Euro, damit die Flug¬¬¬hafengesellschaft auf die Nachzahlungsforderungen von Imtech in Höhe von 60 Millionen Euro eingeht.
Zitator:
„Ich habe 150.000 Euro angenommen – drei Bündel mit 500-Euro-Scheinen in einem Briefumschlag. Dafür habe ich aber keine konkreten Handlungen versprochen, nur Wohlwollen bei der Prüfung der Imtech- Nachforderungen.”
Erzählerin:
Gesteht der Beschuldigte bereits am ersten Prozesstag im August 2016 und ergänzt:
Zitator:
„Es war falsch.”
Erzählerin:
Zu einem derart unumwundenen Geständnis kommt es aber eher selten, wenn jemandem der Prozess wegen Bestechung und Be¬stech¬lich¬¬keit gemacht wird. Viel häufiger tun die Angeklagten so, als handele es sich um eine Art von Kavaliersdelikt. Und glauben, dass sie damit vor Gericht durchkommen. Denn das unterscheidet diese Straftat Korruption von Diebstahl oder Unterschlagung: Die Täter fühlen sich nur in den seltensten Fällen schuldig und kriminell.
Zitator:
„Korruption ist der Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil.
Musik aus
Ob Bestechung oder Bestechlichkeit im internationalen Ge¬schäfts¬verkehr oder im eigenen Land, ob Käuflichkeit in der Politik oder der Versuch, durch Schmiergelder Vorteile zu erlangen - Korruption ver¬ur¬sacht nicht nur materielle Schäden, sondern untergräbt auch das Fundament einer Gesellschaft.”
Erzählerin:
So definiert die Nichtregierungsorganisation Transparency International den Begriff Korruption. Strafrechtlich kann Korruption mit mehreren Jahren Haft belangt werden.
Allerdings nennt der Gesetzgeber keine Summe, ab wann das Delikt ein Straftatbestand ist - außerdem ist entscheidend, ob es sich um Amtsmissbrauch handelt, ob man sich einen großen Wettbewerbsvorteil erschleicht oder wie hoch dabei die Steuerhinterziehung ist. Insgesamt wird ein ganzes Bündel von Gesetzen in Anschlag gebracht, um die Schwere der Tat zu ermitteln. Transparency International kämpft seit 1993 weltweit gegen dieses aus¬ge¬prägte Phänomen. Ein Verhalten, das nicht nur illegal ist, sondern auch dem globalen Wirtschaftssystem einen massiven Schaden zufügt. Jährlich gehen etwa 1,5 Billionen Euro durch Schmiergeldzahlungen und Bestechung verloren, also 50% des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Womit das weltweite Wirtschaftswachstum um etwa zwei Prozent geschmälert wird, so der Internationale Währungsfond IWF. Für Deutschland sind es rund 250 Milliarden Euro.
MUSIK Clue one
Erzählerin:
Korruption ist nicht gleich Korruption: Ist das Schenken einer Kiste Wein schon ein Bestechungsversuch? Und die Urlaubs¬ein¬ladung ein Ausdruck von echter Freundschaft? Die Grenzziehung macht das Ganze so schwierig: Wo genau beginnt Korruption? Das untersuchen Wissenschaftler erst seit wenigen Jahren. Dabei stehen die psychologischen Recht¬fer¬tigungs¬stra¬tegien der Be¬teilig¬ten im Fokus. Forscher skiz¬zieren drei Bereiche, in denen korrupt ge¬han¬delt wird: Die sichtbarste Korr¬uption ist die so¬g¬e¬nann¬¬te situa¬tive Korruption. Sie ist auch am ein¬fachsten zu beschreiben und damit auch zu bekämpfen. Darüber hinaus un¬terscheiden Wissenschaftler die strukturelle Korruption und die Netz¬werkkorruption, sagt die Kriminologin Dr. Stefanie Thiel von der Universität Gießen:
Musik aus
Take 4 (O-Ton Thiel)
Also große Korruption, das findet auf einer höheren sozialen Ebene statt, das kann auch in den politischen Sektor hineinreichen, da ist die Wirtschaft dran beteiligt, das kann bis hin zu ganzen Netzwerken gehen, das ist eher Korruption unter Mächtigen.
Erzählerin:
Die situative Korrup¬tion ist vor allem in Staaten verbreitet, in de¬nen es ein starkes Gefälle zwis¬chen Arm und Reich gibt, in denen staat¬liche Strukturen schwach aus-geprägt sind. Beispiele sind Indien, Nigeria oder Brasilien. Dort sind Schmier¬geld-zahlungen an der Tagesordnung: Jeder muss zah¬len, um seinen Pass ver¬län¬gert zu bekommen, eine ärztliche Be¬handlung zu erhalten oder nach dem Überfahren einer roter Ampel nicht im Ge¬fän¬g¬nis zu landen. Diese Art von Korruption ist deshalb gefährlich, weil sie das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat nachhaltig zerstört. Bei uns dagegen spielt diese Art von Kor¬rup¬tion so gut wie gar keine Rolle. Auch das ist ein Grund, warum Deutsch¬land beim Kor¬rup¬¬¬tions¬¬wahr¬neh¬mungs¬¬index von Transparency Inter¬national seit Jahren so gut abschneidet, obwohl Schmiergelder und Käuf¬lichkeiten auch bei uns gang und gäbe sind.
MUSIK Sugar storm
Erzählerin:
Wie zum Beispiel in der sogenannten Adlon Affäre:
Zitator:
2001 übernachtete der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, Ernst Welteke, mit Familie im Berliner Luxushotel Adlon. Bezahlt wurde der viertägige Silvesteraufenthalt von der Dresdner Bank. Als der Spiegel die Zahlung 2004 öffentlich machte, legte Welteke sein Amt nieder. Er begründete das damit, dass der Aufenthalt zu „Kritik und Miss¬ver¬¬ständnissen” geführt habe. Er habe die Einladung als eine Art von Honorar verstanden, nicht als Geschenk, rechtfertigte sich der Banker, schließlich habe er in Berlin Interviews gegeben, Presse- und Fototermine wahrgenommen.
Musik aus
Erzählerin:
Die Ermittlungen wegen Vorteilsnahme wurden gegen Zahlung von 25.000 Euro eingestellt.
Take 5 (O-Ton Köbis)
Was wir in unserer Forschung gezeigt haben ist, dass wenn es um Korruption geht, die meisten Leute es als unakzeptabel und unmoralisch ansehen, aber es trotzdem relativ viele Leute gibt, die in unserem Ex¬pe¬ri¬ment bereit sind, korrupt zu handeln …
Erzählerin:
Sagt Dr. Nils Köbis, Sozialpsychologe an der Freien Universität in Am¬ster¬dam. Dieser Spagat zwischen Einstellung und Handlung ist möglich, weil sich die Täter etwas vormachen und selbst belügen. Das betrifft ihr Verhalten, ihre Motive und die Folgen ihrer Handlungen. Auf diesen Widerspruch ist auch die Psychologin und Wirt¬schafts¬-wis¬sen¬schaft¬lerin Prof. Tanja Rabl von der Technischen Universität Kaisers¬lautern bei ihren Experimenten gestoßen:
MUSIK Sugar storm
Take 6 (O-Ton Rabl)
Das Planspiel war so angekündigt, dass es um Entscheidungsverhalten in Unternehmen geht, das heißt, im Vorfeld wussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht, dass es um Korruption geht.
Zitator:
Die Teilnehmer des spieltheoretischen Experiments, mussten dafür in die Rolle eines Entscheidungsträgers in einem Unternehmen schlüpfen.
Musik aus
Sie waren dann Marketing- oder Vertriebsleiter und sollten entscheiden, wieviel Geld sie in welche Maßnahmen und Leistungen stecken wollten: Werbung, Verkaufsförderung, Produktverbesserung etc. Und gerieten im Laufe des Experiments dann in Situationen, in denen die Versuchung bestand, korrupt zu handeln.
MUSIK Sugar storm
Take 7 (O-Ton Rabl)
…uns war es ja wichtig zu erkennen, ob in den Situationen, wo solche Angebote eine Rol¬le spielen, ob die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch erkennen, ob es sich um Korruption handelt, oder nicht und wie sie sich ent¬spre¬chend verhalten.
Erzählerin:
Eine erste überraschende Erkenntnis dieser Experimente: Viele Teilnehmer waren sich nicht bewusst, so sagten sie zumindest, etwas Unrechtes getan zu haben, als sie Korruptionsangebote an¬genommen oder unterbreitet hatten.
Musik aus
Vielmehr stellten sie ihr Handeln in einen anderen Zusammenhang und damit in einem positiven Licht dar, so Tanja Rabl.
MUSIK Strange activities
Erzählerin:
Bei Diebstahl und anderen kriminellen Delikten, die zu einer persön¬li¬chen Be-reicherung führen, sind die Grenzen der Legalität klar.
Bei Ko¬r¬ruption dagegen tun sich die Handelnden damit deutlich schwerer, zeigen die Forschungen in Kaiserslautern und Amsterdam. Das liegt zum einen daran, dass alle, die sich direkt an der Korruption beteiligen, zufrieden sind – der Bestochene, weil er Geld erhält oder in den Genuss geldwerter Privilegien kommt, und der Bestechende, weil er dadurch ein Ziel erreichen kann. Und es liegt an der Natur der sozialen Beziehungen: Kor¬rup¬tion ist keine Straftat, die sich ein Einzelner im stillen Kämmerchen aus¬denkt, sondern immer auf die Interaktion mit anderen an¬ge¬wiesen. Die Grenzen zwischen Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Käuflichkeit können verwischen, und in einem Beziehungsgeflecht zum Teil des sozialen Lebens werden.
Musik aus
Take 9 (O-Ton Rabl)
Was wir da gesehen haben, ist, dass es verschiedenste Recht¬ferti¬gungs¬stra¬tegien gibt, dass man eben den Schaden leugnet oder dass man leug¬net, dass es Opfer gab, oder dass man auch die Verantwortung leugnet, und da haben wir gesehen, dass vor allem Strategien zum Ein¬satz kommen, wo es eben darum geht, diese positive Absicht, die hinter kor¬ruptem Handeln steht, hervorzuheben.
Musik Rara avis
Erzählerin:
Auch die Tatsache, dass es bei der Korruption keine sichtbaren Opfer gibt, trägt entscheidend mit dazu bei, dass sich viele nicht als Straftäter fühlen, so der Sozialpsychologe Nils Köbis von der Freien Universität Amsterdam:
Take 10 (O-Ton Köbis)
Was wir z.B. in Experimenten herausgefunden haben, ist, dass die Wahr-scheinlichkeit, dass Menschen korrupt handeln, deutlich höher ist, wenn sie nicht alleine davon profitieren, sondern auch noch andere mit pro¬¬fitieren. Und so können sie sehr viel einfacher das Ganze recht¬fer¬tigen, indem sie sagen, na gut ich hab das jetzt nicht nur für mich gemacht, ich hab das auch für die andere Person gemacht. ((Das Besondere an der Korruption ist, dass es sehr häufig eine Art von beidseitigem
Profit gibt.)) Ganz vielen Menschen nehmen Korruption als eine Win-Win Situation wahr, blenden dabei aber aus, dass es eine Win-Win-Loose Situation ist. Denn es gibt stets ein Opfer der Korruption.
Musik aus
Erzählerin:
Aber das liegt nicht schwerverletzt am Boden, sondern bekommt beispielsweise als konkurrierendes Unternehmen nicht den Zuschlag für den Auftrag. Oder das Opfer ist die Allgemeinheit, weil etwa ein überteuertes oder gar unsinniges Projekt umgesetzt wird - und und und. In jedem Fall gilt: Schaden und Geschädigte bleiben abstrakt für den Täter und können so leichter verdrängt werden.
Take 11 (O-Ton Thiel)
Man spricht von Korruption als einem opferlosen Delikt, das ist natürlich nicht opferlos, aber man sieht das Opfer in dem Moment ja nicht. Das Opfer ist die Allgemeinheit, ich selber bin als Bestechende oder als Bestechlicher selber auch Teil der Allgemeinheit, aber in dem Moment sehe ich die Zusammenhänge nicht, weil sie sich nicht so offensichtlich erschließen.
Erzählerin:
Deshalb reden sich viele die Korruption schön.
Atmo Geldzählen MUSIK Zippo‘s
Erzählerin:
Anfällig für Bestechung zu sein, ist keine angeborene Charakter¬eigen¬schaft. Fast jeder ist potentiell korrupt und kann sich unter bestimmten Um¬stän¬den korrupt verhalten. In Deutschland, wo sie kein situatives Alltags¬ph䬬no¬men ist, tritt Korruption netzwerkartig in der Wirtschaft auf. Daher ist Be¬stechung in der Regel ein Delikt der Entscheidungsträger, d.h. der höheren Beamten oder Angestellten, der Ma¬nager, Aufsichtsrats¬vorsit¬zen¬den, Bosse.
Denn es geht dabei meis¬tens um Aufträge, um Erfolg, um Profit, um Geld und Macht. Wie der typische korrupte Akteur aussieht, erklärt Tanja Rabl:
Musik aus
Take 13 (O-Ton Rabl)
Was natürlich nicht überrascht, weil gerade in den Positionen, die anfällig sind für korruptes Handeln, nämlich die, mit viel Ent¬scheidungs¬spiel¬raum, nach wie vor Männer überrepräsentiert sind, dass die sehr kar¬riereorientiert sind, sehr ehrgeizig sind, dass das oftmals Aufsteiger sind, die sehr statusbewusst sind, die die viele Aus- und Fortbildungen ab¬solviert haben, aber die auch diese sehr ausgeprägten Recht¬ferti¬gungs¬tendenzen haben.
MUSIK Yolanda
Erzählerin:
Und offenbar hat sich an diesen beiden grundsätzlichen Einschätzungen we¬nig geändert.)) Heut¬zu¬ta¬ge gilt Korruption zwar als eine Straftat. Und wer in den Ruf gerät, korrupt zu sein, kann mit wenig Ver¬ständnis rechnen, wie das Beispiel des ehe¬ma¬ligen Bundespräsidenten Christian Wulff deutlich gezeigt hat.
Ganz anders aber ist die Bewertung von Korruption häufig dann, wenn es um kon-krete eigene Interessen geht. So hat z.B. im Jahr 2005 eine Untersuchung der Unter¬nehmens¬beratung Ernst & Young er¬geben, dass jeder vierte deutsche Angestellte Korruption in Ordnung findet, wenn dadurch die Wirtschaftskraft des eigenen Unternehmens ge¬stärkt wird. Dr. Jamie Lee Campbell hat festgestellt, dass es häufig die Organisationen selbst sind, die das Arbeitsklima so beeinflussen, dass die Mit¬arbeiter korruptes Verhalten als durchaus üblich und sogar notwendig be-trachten:
Musik aus
Take 14 (O-Ton Campbell)
Was ich herausgefunden habe, dass die Wahrnehmung ist, dass man mit der Organisation im Krieg ist. Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, und dadurch wird jedes Projekt, jeder Auftrag, der herangezogen wird, ist wichtig, damit die Organisation weiterleben kann und dadurch sind dann auch die Arbeitsplätze sicher und dementsprechend ist das ein großer Druck. Und dass Korruption dadurch dann auch ein legitimes Mittel werden kann, um dieses Problem zu lösen. Dass man den Krieg gegen andere gewinnt.
MUSIK A rocket debris cloud drifts
Erzählerin:
In Unternehmen, denen Korruption nachgewiesen werden konnte, wie etwa Siemens in Deutschland oder dem Energiekonzern Enron in den USA, herrschte häufig eine Unternehmenskultur, so die Psychologin, die die Mitarbeiter auf vielen Ebenen unter Druck setzt.
Musik aus
Take 15 (O-Ton Campbell)
Man macht das ja jetzt nicht nur für sich, sondern auch für die Kollegen, weil die ja sonst auch ihren Job verlieren können und selbst, wenn man sich nicht sehr mit dem Unternehmen oder der Organisation identifiziert, kann es sein, weil die anderen einfach so einen Druck machen, dass man auch aus den Gründen mitmacht.
MUSIK Procedural
Erzählerin:
Der Absturz von Enron
Zitator/Sprecher:
Der weltgrößte Energiekonzern Enron beschäftigte auf dem Höhepunkt seines Erfolgs mehr als 22.000 Mitarbeiter. Für sich selbst warb der Kon¬zern, der vielen als Inbegriff eines innovativen Unternehmens galt, mit dem Spruch, er sei die großartigste Firma der Welt! 2001 kam heraus, dass jahrelang im großen Stil Bilanzen gefälscht und reihen¬weise US-Po¬litiker geschmiert worden waren. Als Konsequenz musste die Firma In¬solvenz anmelden, zahlreiche Mitarbeiter verloren die Jobs und auch ihre Betriebsrenten.
Musik aus
Erzählerin:
Eine Unternehmenskultur der absoluten Gewinnmaximierung ist durch¬aus verbreitet. Und auch wenn viele Un¬ter¬neh¬men heut¬zu¬tage in ihrer Selbstdarstellung auf Ver-haltens¬codices, so¬ge¬nannte Codes of Conduct oder Codes of Ethics verweisen, in denen von Nach¬ha¬ltigkeit, Trans¬pa¬renz und Verantwortung die Rede ist, so gibt es auf der infor¬mellen Or¬ga¬nisationsebene doch häufig Maßnahmen, die einem solchen Ver¬hal¬tens¬kodex diametral entgegengesetzt sind.
Take 17 (O-Ton Campbell)
Die Frage ist halt, wie ist das mit dem Belohnungs- und Sanktionssystem ver-bunden? Inwiefern kann ich auch belohnt werden, wenn ich einen Auf¬trag nicht bekommen habe, obwohl ich ethisch gehandelt habe, und ihn deswegen nicht bekommen habe oder inwiefern werde ich belohnt, wenn ich einen Auftrag bekommen habe, wo es ganz klar ist, dass das mit Korruption vonstatten gegangen ist. Das wirkt halt auch auf die an¬de¬ren Mitarbeiter.
Erzählerin:
In vielen Branchen und Unternehmen ist es für neue Mit¬ar¬beiter nicht auf den ersten Blick erkennbar, welche Unternehmenskultur, neben der offiziellen Selbst¬dar¬stellung, vorherrscht. Manchmal rutschen Mitarbeiter Schritt für Schritt hinein in ein Geflecht aus Betrug, Lüge und Bestechung.
Take 18 (O-Ton Köbis)
Das ist dieser graduelle Prozess in dem eine gewisse Handlung, von der man gesagt hätte, dass man sie niemals machen würde, am Ende oder nach einiger Zeit als akzeptabel angenommen wird.
Erzählerin:
Sagt der Sozialpsychologe Nils Köbis von der Freien Universität Amsterdam.
Take 19 (O-Ton Köbis)
Jetzt kann es allerdings sein, dass am Anfang das Ganze nicht nach einem Briefumschlag mit Geld aussieht, sondern dass es vielleicht erstmal eine nette Einladung zum Abendessen ist. Auf die nette Ein¬ladung zum Abendessen folgt dann vielleicht die Einladung ein The¬a¬ter¬¬event oder ein Sportevent zu besuchen. Dann wiederum kann es sein, dass man zu einem Urlaub eingeladen wird und auf einmal erhöht sich die Größe der Korruption schrittweise und jeder Schritt fühlt sich als ein-zelner überhaupt nicht verwerflich an.
Akzent Geldzählgeräusch
MUSIK Diamond
Take 20 (O-Ton Campbell)
Kognitive Dissonanz bedeutet, ich habe eine Einstellung und einen Wert, das wäre, ich bin ein ethisch und rechtschaffener Mensch. Mein Verhalten ist aber, dass ich was ganz anderes mach, ich unterstütze Korruption in meiner Organisation. Und um die zu überbrücken, brauche ich eine Strategie, die nennt sich Rationalisierung. Das sind sehr starke Strategien, die helfen, dass man seinen Wert und sein Selbstbild aufrecht erhalten kann und trotzdem weiter kriminell unterwegs sein kann.
Erzählerin:
Entscheidend für diese kognitive Dissonanz ist auch, dass ein Verhalten in verschiedenen Situationen unterschiedlich bewertet wird. Was ein Mensch im Privatleben als unethisch und falsch verurteilt, kann er in Arbeitszusammenhängen durchaus akzeptabel finden, erklärt der Sozialpsychologe Köbis:
Musik aus
Take 21 (O-Ton Köbis)
Und was wir dort gefunden haben, dass die Personen, die sich nicht korrupt verhalten, ein sogenanntes moralisches Framing benutzen, das heißt, ihre Verhalten unter moralischen Gesichtspunkten sehen. Sie sagen, ich hab das nicht gemacht, Korruption ist unmoralisch. Die Per¬so¬nen, die wiederum in dem Spiel korrupt gehandelt haben, sagen, ich hab das gemacht, weil es clever war, weil das smart war. Und so zeigt sich, bei der Korruption, dass selektiv ausgesucht wird, ob man das Verhalten eher als clever und smart ansieht, oder eher unter einem moralischen Gesichtspunkt sieht.
Erzählerin:
Und je verbreiteter Bestechung und Be¬stech¬lich¬keit als Teil der Unternehmenskultur sind, desto leichter fällt eine solche Beurteilung, sagt auch die Wirtschaftswissenschaftlerin und Psychologin Tanja Rabl von der Technischen Universität in Kaiserslautern:
Take 22 (O-Ton Rabl)
Da haben wir gesehen, dass drei Faktoren ganz wichtig sind, nämlich einmal, wie ist die persönliche Einstellung der Person zu Korruption, dann natürlich auch, wie sind die Normen der anderen, wie steht mein Umfeld, wie stehen Personen, die mir wichtig sind, das können Kollegen sein, das kann Familie sein, das können Freunde sein, wie stehen die eigentlich zu Korruption? Und der dritte Faktor war dann eben noch, wie viel Kontrolle glaub ich noch über mein korruptes Handeln zu haben , wie wahrscheinlich ist es eigentlich, dass ich das Ganze risikolos durchführen kann?
Erzählerin:
Diese Faktoren führen dazu, dass Schmiergeldzahlungen auch bei uns noch immer ver¬breitet sind, allem Wissen um Kriminalität, um Ungerechtigkeit und wirtschaftl¬i-chen Scha¬den zum Trotz. Denn nicht nur in einzelnen Unternehmen herrscht mit-unter eine tolerierende Haltung gegenüber Korruption, weil sie an¬geb¬lich nötig ist, um an Aufträge zu kommen oder um Arbeitsplätze zu erhalten. Auch auf staatlich-ge¬sell-schaf¬tlicher Ebene erschüttern immer wieder Bestechungs-Skandale, in die Politiker oder angesehene Persönlichkeiten verwickelt sind, die Öffentlichkeit. Grundsätzlich könnte der Staat jedenfalls Be¬stechung und Be¬stech¬lichkeit deutliche effektiver ver-folgen und eindämmen, erläutert die Kriminologin Thiel von der Universität Gießen.
Trotzdem gehe in Deutschland der Trend weg von staatlicher Kontrolle hin zu betrieblicher Selbstkontrolle. Das sei das falsche Signal:
Take 24 (O-Ton Thiel)
Da hat sich der Staat auch aus vielen Kontrollfunktionen zurückgezogen und das hat natürlich auch der Korruption Tür und Tor geöffnet.
MUSIK Zippo‘s
Erzählerin:
Diejenigen, die die psychologischen Strategien der korrupt Handelnden un¬ter¬suchen, sehen v.a. in den sozialen Normen, eine große Chance, um Korruption zu bekämpfen und zu vermeiden. Wenn Korruption nämlich tatsächlich geächtet ist, wenn keine Belohnungen oder Beförderungen und andere Vorteile daraus erwachsen, dann lässt sich die Aufteilung in strategisch cleveres Arbeitsverhalten und moralisch integeres Privatleben nicht aufrechterhalten. Dann würden die Gelegen¬heiten, Situationen und Zufälle, die entscheidend sind für ein korruptes Verhalten, einfach entfallen.
Musik aus
Nur 39 Jahre alt ist Tobias Mayer geworden. Kein hohes Alter, selbst im Deutschland des 18. Jahrhunderts nicht. Doch in diesem kurzen Leben erneuerte er nicht nur die Erstellung von Landkarten mit aufklärerischen Gedanken; er löste auch das Längengradproblem der Seefahrer und war ein gefeierter Astronom. Von Philip Artelt
Credits
Autor dieser Folge: Philip Artelt
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Friedrich Schloffer, Peter Weiß
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Armin Hüttermann, Geograph, Tobias-Mayer-Verein
Markus Heinz, stellvertretender Leiter der Kartenabteilung, Staatsbibliothek zu Berlin
Linktipps:
Das Tobias-Mayer-Museum in Marbach am Neckar HIER
Tobias Mayers Mathematischer Atlas HIER
Tobias Mayers Mappa Critica von Deutschland HIER
Tobias Mayers Karte Ostasiens HIER
Tobias Mayers Asienkarte HIER
Tobias Mayers Mondkarte HIER
Homanns Karte des Schlaraffenlandes HIER
Literatur:
Thomas Knubben, „Tobias Mayer: oder die Vermessung der Erde, des Meeres und des Himmels“: Lebendig erzählte Lebensgeschichte und Porträt seiner Zeit
Michael Diefenbacher (Hrsg.), „‚auserlesene und allerneueste Landkarten‘: Der Verlag Homann in Nürnberg 1702-1848“: Die Geschichte des Homann-Verlages, des Fembohauses und der Kartographie in der Zeit der Aufklärung
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SPRECHERIN
Am 20. Februar 1762 stirbt Tobias Mayer. Der große Astronom und Kartograph – heute kennt ihn kaum einer mehr. Er ist nur 39 Jahre alt geworden – der Typhus hat ihn in kürzester Zeit dahingerafft. Aber was er in diesen 39 Lebensjahren geleistet hat: unglaublich.
ZITATOR 2
(altmodische Sprechweise, historisches Zitat)
Es wäre zu weitläufig, aufzuzählen, welche Bereicherungen die Wissenschaften durch sein Genie erfahren haben…
ZSP 01 T1 Glasze
Er ist 39 Jahre alt geworden. Was das für eine Biographie ist, ist absolut unglaublich. Was würde er machen, wenn er in der heutigen Zeit leben würde?
ZSP 02 T2 Hüttermann
Was hätte der noch alles machen können? Was wäre da noch alles gekommen? Mit 39 Jahren! Ich bin doppelt so alt.
ZITATOR 2 (historisches Zitat)
… man könnte die Lebensjahre des Mannes nach seinen Entdeckungen zählen.
ATMO A1 Atmo Marbach
SPRECHERIN
Los geht die Geschichte um Tobias Mayer in Marbach. Die meisten kommen heute in diese Stadt aber nicht für ihn, sondern für Schiller. Schiller, der große Dichter, der hier in dem Fachwerkstädtchen am Neckar geboren wurde. Schiller, der schon am Bahnhof die Besucher begrüßt: Eine rote Säule am Treppenaufgang ziert der Schriftzug: „Schillerstadt“ – der Titel, mit dem sich Marbach seit 2022 offiziell schmückt.
Aber es gibt noch eine zweite Säule. Eine blaue. Und auf der findet sich der Name: Tobias Mayer.
ZSP 03 T3 Hüttermann
Schiller ist natürlich die überragende Person dann geworden, hat alles an die Wand gedrängt, unter anderem eben auch den Mayer, der im Jahrhundert davor durchaus noch bekannt war.
SPRECHERIN
Armin Hüttermann macht sich weniger aus Schiller. Der Geographieprofessor im Ruhestand war lange Vorsitzender des Tobias-Mayer-Vereins, einer Art Fanclub für den Ausnahmewissenschaftler. Für Armin Hüttermann ist Schiller vor allem dafür gut, dass er Besucher in die Stadt bringt – die dann auch das Tobias-Mayer-Museum entdecken: ein supermoderner, heller Quader inmitten der historischen Altstadt. Daneben: ein kleineres Fachwerkhaus.
ZSP 04 T4 Hüttermann
Der alte Bau von 1711, das ist das Geburtshaus von Tobias Mayer. ((Da ist er in der oberen Etage geboren…))
SPRECHERIN
Tobias Mayer wächst in einfachsten Verhältnissen auf. Sein Vater ist Wagner und Brunnenbauer; keine ganz schlechte Arbeit, aber reich wird die Familie davon nicht. Als der kleine Tobias ein Jahr alt ist, ziehen die Mayers um ins nahegelegene Esslingen, wo der Vater das Amt des Brunnenmeisters antritt. Der Vater reist viel für seine Arbeit, und wenn er dann mal zu Hause ist, schaut ihm der kleine Tobias über die Schulter. Am liebsten, wenn der Vater seine technischen Zeichnungen ins Reine bringt.
Zitator 1 (Mayer):
Mein Vater, der diesen außerordentlichen (sic) Lust zu Malen bei mir bald wahrnahm, unterdrückte denselben keineswegs, sondern suchte ihn vielmehr noch anzufeuern.
Ich malete Häuser, Hunde, Hirsche, Pferde. Meine Mutter wurde von mir um Tinte, Feder und Papier mehr geplaget als um Brot.
ZSP 05 T5 Hüttermann
In seiner Autobiographie schreibt er ja davon, dass er so gerne gemalt hat. Und da hat er mit fünf Jahren die Heilige Katharina abgemalt – und das ist unglaublich, dass ein fünfjähriges Kind sowas malen kann. Das muss man gesehen haben.
[[Zitator 1
Verschiedene Bekannten meines Vaters bekamen meine endlich mittelmäßig gerathene Abzeichnung dieses Bildes zu Gesichte. Man hielt es für etwas außerordentliches – man machte die Sache vielleicht größer, als sie in der Tat war, und lobte mich mehr, als ich verdiente.]]
SPRECHERIN
Die Eltern fördern das Kind, so gut sie können – mit ihren begrenzten Mitteln. Aber das heile Familienleben hat bald ein Ende. Tobias Mayers Eltern sterben jung, und Tobias kommt ins Waisenhaus.
Sich hängen lassen? Das fällt dem Jungen gar nicht ein. Noch im Waisenhaus nimmt er seine Zeichenübungen wieder auf, illustriert das gemeinsame Essen der Kinder – es gibt Kalbfleisch und Wein – und beschriftet seine Werke mit einer erklärenden Legende. Da ist er gerade mal acht Jahre alt.
Der junge Tobias Mayer schafft es auch geschickt, sich mit wohlmeinenden Förderern zu umgeben. Den Bürgermeister von Esslingen unterhält er mit seiner Zeichnerei, und mit dem Schuhmacher Kandler tauscht er sich aus über die hohe Mathematik. Der Schuhmacher, heißt es, habe das Geld gehabt, Bücher zu kaufen, aber keine Zeit, sie zu lesen – und Tobias Mayer hatte kein Geld, aber viel Zeit, Kandlers Mathematikbücher durchzuarbeiten.
ZSP 06 T6 Hüttermann
Er hat immer sich nach der Decke gestreckt. Er war wirklich begabt, aber auch sehr ehrgeizig. Der muss ein phänomenales Gedächtnis gehabt haben. [[Da gibt es eine Episode aus seiner Schulzeit, dass die Kinder vom einen Tag auf den nächsten jeweils einen Vers aus dem Katechismus auswendig lernen sollten. Und am nächsten Tag muss jeder seinen Vers aufsagen. Und dann kommt der Tobias an die Reihe und fragt, darf er weitermachen. Der hat vom einen Tag auf den nächsten den gesamten Katechismus auswendig gelernt.]] Also er hatte diese Fähigkeiten, er wusste es aber auch, und er war dann auch ehrgeizig genug, daraus etwas zu machen.
SPRECHERIN
1739, Tobias ist gerade 16 Jahre alt, zeichnet er den ersten Stadtplan seiner Heimatstadt Esslingen. Aber nicht nur das, er muss die Stadt dafür auch selbst vermessen haben. Sein Schrittmaß überträgt er auf Papier, und das Ergebnis ist so exakt, dass die Karte 50-mal gedruckt wird. Tobias Mayer erhält von der Stadtverwaltung dafür zwei Silbermünzen – von da an ist seine Karriere als Kartograph besiegelt.
Das Kartenzeichnen lässt ihn nicht mehr los, auch nicht, als er mit 22 Jahren ein Buch über die Theorie der Mathematik verfasst: Das ganze Wissen seiner Zeit ist darin niedergeschrieben, von Geometrie über Astronomie – bis eben zur Kartographie.
ZSP 07 T7 Hüttermann
Das ist ja eine Anleitung zum Kartenzeichnen, und die ist durch und durch kritisch. Also da ist dieser Abschnitt hier, der ist phantastisch. Ich lese mal kurz vor, was hier steht:
(Hüttermanns Stimme blendet im folgenden Text in Stimme von Zitator 1 über)
ZITATOR 1
Es wird zwar denjenigen, die ihre Karten nur von anderen zu kopieren in Gebrauch haben, etwas wunderlich vorkommen […]
Und dass derjenige, der so eine richtige und taugliche Landkarte verfertigen will, noch weit mehrere Wissenschaft nötig habe, davon dergleichen Landkartenstümpler ihr Lebtag nichts gehöret und gesehen haben.
ZSP 08 T8 Hüttermann
Das ist dieser Ansatz: nicht einfach was kopieren. Sondern man braucht die Wissenschaft dazu. [[Und was auch interessant ist: Das war alles ein Satz. Ein Paragraph, nur ein Satz. Macht ja heute auch keiner mehr. (lacht)]]
Musik, Zäsur (Ortswechsel)
SPRECHERIN
Ein paar Jahre früher, Anfang des 18. Jahrhunderts: Die Reichsstadt Nürnberg hat ihre besten Zeiten schon hinter sich. Nürnberg, das durch den Handel groß geworden ist, durch die reichen Patrizier, ein Verkehrsknotenpunkt, eine Stadt der Wissenschaft und der Erfindungen – der 30-jährige Krieg hat aber Spuren hinterlassen: Durch Zerstörung und Bevölkerungsverlust hat Nürnberg an Bedeutung verloren, der Fernhandel ist stark zurückgegangen.
Zu dieser Zeit siedelt sich ein Mann in der fränkischen Metropole an, der für Tobias Mayers Leben noch sehr wichtig werden wird. Trotz der wirtschaftlichen Lage ist Nürnberg nämlich immer noch ein Zentrum des Kupferstichs – und damit auch der Kartographie. Und so ist es für den Kupferstecher und Kartographen Johann Baptist Homann eigentlich keine Frage, dass er hier seinen Landkartenverlag eröffnet – zumal er als Protestant anderswo im Großteils katholischen Bayern nicht gern gesehen ist.
ZSP 09 T9 Heinz
Homann ist letztendlich ein Selfmade-Man, der als Glaubensflüchtling nach Nürnberg gekommen ist und dann 1702 den Verlag gegründet hat.
SPRECHERIN
Sagt der Geschichtswissenschaftler Markus Heinz, der intensiv über den Homann-Verlag geforscht hat.
ZSP 10 T10 Heinz
Und offensichtlich hat er so viel geschäftsmännisches Verständnis mitgebracht, dass er zunächst ausschließlich abgekupfert hat.
SPRECHERIN
Abkupfern – das Wort stammt von den Kupferplatten, mit denen die Landkarten zu dieser Zeit gedruckt werden. Und Abkupfern heißt: Johann Homann kopiert die Karten anderer Verleger.
Was heute als dreiste Fälschung erscheint, ist im 18. Jahrhundert völlig normal: Nicht jeder kann Karten aufwendig neu gestalten – und viele Kartenverlage gehen pleite. Johann Homann dagegen schafft es, sich mit den günstigen Kopien niederländischer und französischer Karten ein ansehnliches Geschäft aufzubauen. Das verdiente Geld erlaubt es ihm schon bald, eigene, qualitativ hochwertige Landkarten zu erstellen. Hochwertig, aber trotzdem erschwinglich – als Atlanten und Wandschmuck für das gebildete Bürgertum – damit will er sich von anderen „Abkupferern“ abheben.
Atmo A2 Atmo Hausführung
SPRECHERIN
Nach Johann Homanns Tod – und dem Tod seines Sohnes – erben die Familien Ebersberger und Franz den Landkartenverlag. Sie kaufen ein neues Verlagshaus, das heutige Fembohaus, in dem sich das Stadtmuseum befindet.
…weiter Atmo Hausführung
SPRECHERIN
Der Museologe Ludwig Sichelstiel führt durch das Fembohaus. In dem edlen vierstöckigen Kaufmannshaus mit Sonnenuhr an der Fassaderichten richten die neuen Eigentümer Franz und Ebersberger den Verlag ein: Druckerei, Zimmer für die Kupferstecher…
ZSP 11 T11 Sichelstiel
…und hier in diesem Vestibül des Hauses baute man einen Verkaufsraum ein. Und ganz interessant ist es, wenn man hier an die Decke schaut, dann sieht man noch diesen Stuck, der aus dem Verkaufsgewölbe vorhanden ist. (evtl. ausfaden)
SPRECHERIN
Ein kleiner Raum im heutigen Stadtmuseum ist noch dem Verlag gewidmet.
ZSP 12 T12 Sichelstiel
Eine Karte, die mich besonders beeindruckt, die ist allerdings hier nicht zu sehen, die zeigt nämlich das Schlaraffenland. Da ist zum Beispiel irgendein Rotweinsee, irgendwie sowas in der Art, also Dinge, die man sich erträumt hat…
Atmo A3 Atmo Türen Stabi Berlin
SPRECHERIN
Ein Original dieser Karte findet man in Berlin bei Homann-Spezialist Markus Heinz. Der stellvertretende Leiter der Kartenabteilung in der Staatsbibliothek zu Berlin führt ins Archiv: Hinter einer Schleuse aus massiven Stahltüren lagern Kartenschätze aus allen Jahrhunderten.
Atmo A3 weiter
SPRECHERIN
Markus Heinz zieht ein großes Stück Papier aus einem der Regale. Da ist sie, die Karte, die das „Ludermeer“ zeigt, oder „Bibonia Regnum“ – das Reich der Trinker.
ZSP 13 T13 Heinz
Also es ist glaube ich kein Beispiel für das, was man häufig als Phantasie auf den Karten bezeichnet, weil es ja eine absichtliche Phantasie ist. Das Eigentliche, was man in der Zeit bis um 1700 gemacht hat, dass man möglichst alles, was man wusste, in den Karten einzeichnet. Da sind gesicherte Quellen drin und da sind Meldungen, die einer, der dort vielleicht in der Nähe war, von jemandem gehört hat, der’s von jemandem gehört hat.
SPRECHERIN
Über die Jahre sind so ganz seltsame Karten entstanden. Markus Heinz zeigt eine weitere Karte, eine von Ostasien. Die Küste Sibiriens: nicht spitz auslaufend, wie wir sie heute kennen. Nein, hier ist die Küste rund wie ein Gesäß.
ZSP 14 T14 Heinz
Da war um 1706 noch niemand. Und da gibt es halt Informationen zum Teil von russischen Pelzhändlern, die bis da in den Osten vorgestoßen waren, aber natürlich keine Karten gezeichnet haben – es waren Pelzhändler. Japan ist einigermaßen, allerdings ohne Nordinsel, und für die Nordinsel gibt es dann eine Terra Jedso. Das ist ziemlich groß, ist viel größer als die japanische Nordinsel ist. Aber es gibt eben sozusagen Quellen, dass da hinten, da kommt noch was. Dass die da so konkret eingezeichnet sind, noch mit Inseln und zum Teil mit Orten drauf oder konkreten Bergen und Flüssen, obwohl niemand da war, dass er dadurch entsteht, dieser Eindruck ist wäre reine Fantasie.
SPRECHERIN
Nilquellen in der Antarktis, Elefanten in Sibirien, Kalifornien als Insel; und Seen, die es nicht gibt. Die damaligen Karten sind überfüllt mit derartigen Informationen – und mit so manchem Blödsinn.
Wollte doch schon Verlagsgründer Homann die Qualität der Karten erhöhen, so will es sein Nachfolger auf die Spitze treiben.
Evtl. Musik
Zitator 2
Dieser machte es in den öffentlichen Blättern bekannt, welche großen Verbesserungen er damit vorzunehmen gedenke, und lud zugleich unter guten Bedingungen geschickte Kartenzeichner ein, nach Nürnberg zu kommen.
SPRECHERIN
Einer dieser Zeichner ist… der junge Tobias Mayer.
SPRECHERIN
Vor allem in Frankreich hat sich die Kartographie in den Jahren zuvor schon weiterentwickelt. Die Kartographen der Königlichen Akademie der Wissenschaften packen nicht mehr alles in aufs Papier, sondern möglichst nur noch richtige Informationen. Genaue Vermessung. Weglassen wird zur Tugend; die Karten enthalten viel mehr weiße Flecken.
Tobias Mayer soll diese moderne Kartographie in Deutschland – bei Homanns Erben – etablieren – eine Aufgabe wie geschaffen für ihn!
Atmo A4 Museumsatmo
SPRECHERIN
Das Ergebnis sieht man heute in Marbach, im Tobias-Mayer-Museum. Im Erdgeschoss zeigt Armin Hüttermann eine Mayer-Karte von Südostasien. Auf den ersten Blick eine normale Karte dieser Zeit… aber die Details! Die Insel „Ouro“ (sprich: Uro) ist gleich dreimal auf der Karte. Und Mayer hat jede von ihnen beschriftet mit einer Quellenangabe: Hier haben die Engländer die Insel verortet, hier die Niederländer. Und: „Positionis et existentiae incertae“ – ob sie wirklich existiert, sei gar nicht sicher.
ZSP 15 T15 Hüttermann
Was an der Karte faszinierend ist: Jetzt kommt der große kritische Geist. Und er will es nicht als „Kartenstümpler“ abkupfern, sondern nach dem neuesten Stand der Wissenschaft will er es darstellen.
Da ist zum Beispiel hier die Insel Neuguinea. Die hört einfach auf! Mayer weiß natürlich auch, dass das nicht geht. Man kann nicht einfach irgendwelche Linien aufhören lassen auf einer Karte. Er weiß aber nicht, wie’s weitergeht und bevor er da irgendwas Falsches hinzeichnet, lässt er es mal offen.
[[Auch Mayers Karten enthalten zum Beispiel die mysteriöse „Terra Jedso“, die sich bei ihm als Japans Nordinsel Hokkaido entpuppt. Allerdings mit genauer Küstenlinie und im Inland schlicht weiß, ohne die phantasievollen Flüsse und Berge, die noch auf der alten Karte zu finden sind.]]
Tobias Mayers genialstes Werk aber ist eine Karte, die die Kritik schon im Namen trägt: Die Mappa Critica, eine schmucklose Deutschlandkarte, in der alle größeren Städte dreimal eingezeichnet sind. Einmal da, wo die Franzosen sie verorten; einmal aus einer alten Homann-Karte… und einmal da, wo die Orte nach Mayers Berechnungen wirklich sein müssten.
ZSP 16 T16 Glasze
Diese kritische Karte ist einfach dafür faszinierend, da kenne ich nichts Vergleichbares…
SPRECHERIN
Georg Glasze (Sprich Glástse,), Professor für Politische Geographie in Erlangen.
ZSP 17 T17 Glasze
…wo er einfach unterschiedliche Karten übereinandergelegt hat. Und das führt dann halt dazu, dass Nürnberg tatsächlich dreimal auftaucht. Das sind sicherlich… die beiden… (fummelt auf der Karte rum) 40, 50 Kilometer auseinander.
Musik (leicht dramatisch, spannungserzeugend)
ZSP 18 T18 Glasze
Also vielleicht erstmal zu der kritischen Kartographie, wie sie so Mitte des 20. Jahrhunderts… eigentlich ist es so eine Debatte, die kommt so in den 70er, 80er-Jahren auf, die sich im Prinzip wendet gegen den absoluten Wahrheitsanspruch, der mit der modernen Kartographie einhergeht. Die Kartographie nach Mayer entwickelt sich zu so einer fast schon Ingenieurswissenschaft. Immer perfektere Vermessung… und was dieser Kartographie ein bisschen aus dem Blick rückt, dass Karten nie ein einfaches Abbild der Erde sein können.
SPRECHERIN
Grenzen sind nicht immer festgelegte Linien. Sie sind umstritten, unbekannt, und sie stellen kritische Kartographen heute vor wichtige Fragen: Wo zieht man die Grenze zwischen der Ukraine und Russland? Wo die zwischen Israel und Palästina? Wie werden Gotteshäuser auf einer Karte dargestellt – mit einem Kreuz? Oder mit einem Halbmond? Warum liegt auf der Weltkarte ausgerechnet Europa in der Mitte? Und: Was wird vielleicht auch weggelassen – vereinfacht, damit die Karte übersichtlich bleibt?
ZSP 19 T19 Glasze
Auch, wie ich Orte benenne, ob ich Königsberg oder Kaliningrad zu dieser Stadt sage, sind immer historische, politische Prozesse. Darauf weist diese Kritische Kartographie im späten 20., frühen 21. Jahrhundert hin.
Das ist jetzt natürlich nicht der Kritikbegriff, denn Mayer verwendet, aber er ist sozusagen einer, der auch schon diese Idee, es gibt eine absolute Wahrheit, die ich einfach darstellen kann, infragestellt. Und so zeigt, wir sind in vielem sehr unwissend.
Musik wieder einfaden, kurze „Gedankenpause“
ZSP 19 T19 weiter
Der Unterschied zu der kritischen Kartographie, wie wir sie jetzt kritisieren, ist, er bereitet in gewisser Weise diese Idee einer Kartographie als exakte, vermessende, objektive Wissenschaft vor.
Dramatische, spannende Musik nochmal hoch, dann unter A5 ausfaden
Atmo A5 Holztreppen
SPRECHERIN
Ganz oben im ehemaligen Verlagshaus in Nürnberg, über der vierten Dachbodenetage, da, wo die Dachschräge spitz zusammenläuft, öffnen sich zwei kleine Holzklappen und geben den Blick auf den Himmel frei. Ein Rundumblick, den Tobias Mayer geliebt haben muss. Von hier aus beobachtet er in klaren Nächten den Mond und die Sterne; die ihn noch ein letztes Mal zu einer Meisterleistung inspirieren.
ZSP 20 T20 Hüttermann
Das ist 1748, da gibt es eine Mondfinsternis. Und da haben die das alles vorausberechnet und haben eine Tafel zu der Mondfinsternis gemacht. Und in der Mitte wird ein Mond dargestellt. Da hat der Mayer den da hin gezeichnet. Und da muss er wohl ganz unzufrieden damit gewesen sein, denn man weiß ganz genau: Von dem Zeitpunkt an fängt er an, eine eigene Mondkarte zu zeichnen.
SPRECHERIN
Tobias Mayers Mondkarte wird die genaueste, die es zu dieser Zeit gibt. Über ein halbes Jahrhundert wird sie die beste Mondkarte bleiben. Was für eine Leistung! Aber für den Pragmatiker Tobias Mayer ist sie Mittel zum Zweck.
ZSP 21 T21 Hüttermann
Es ist auch das, was den Mayer berühmt gemacht hat, diese erste exakt vermessene Mondkarte. Das Zweite ist natürlich das, wofür er die Karte gebraucht hat: nämlich die Längengradbestimmung.
SPRECHERIN
Tobias Mayers Kritische Karte hat es schon gezeigt: Während Astronomen und Seefahrer der Breitengrad, also, wie weit nördlich oder südlich des Äquators sie sich befinden, über den Sonnenstand recht einfach bestimmen können, liegen sie beim der Frage nach West und Ost, also beim Längengrad, oft dutzende oder hunderte Kilometer falsch. Damit gibt sich Tobias Mayer nicht zufrieden: Er beobachtet den nächtlichen Tanz der Sterne um den Mond, notiert alles in Tabellen und berechnet daraus den Längengrad. Das haben schon andere vor ihm gemacht, aber wieder einmal ist seine Methode viel genauer.
Tobias Mayer übrigens hat inzwischen Nürnberg verlassen. Er wird Professor in Göttingen. Eine seiner letzten Karten dokumentiert die Kutschfahrt mit seiner Frau Maria Victoria von Nürnberg nach Norden. Dem Homann-Verlag bleibt er freundschaftlich verbunden.
Die Probleme der Berechnungen des Längengrades beschäftigen die Seefahrt weltweit: In England hat das Parlament einen großen Geldpreis für die genaue Bestimmung des Längengrads ausgelobt – damit britische Kapitäne auf hoher See ihre Position bestimmen können – Tobias Mayer wäre ein Kandidat für den Preis, aber den interessieren einfach nur genaue Messungen. Erst der berühmte Schweizer Mathematiker Leonhard Euler überredet ihn, seine Monddistanztabellen nach London zu schicken.
Zitator 2
Könnten Euer Hochedelgeboren nur noch eine Methode beyfügen, um zur See den Ort des Monds durch seine Distanz von Fixsternen so genau bestimmen zu können, so könnten Dieselben des Praemii von 20000 Pfund Sterling versichert seyn.
SPRECHERIN
Tobias Mayer wird ein Teil des Preises zugesprochen – 3000 Pfund – aber erst Jahre später, nach seinem Tod. Den größeren Teil bekommt der britische Uhrmacher John Harrison, der den Längengrad mit einer besonders genauen, schiffstauglichen Uhr bestimmt – einem Chronometer.
Für Seefahrer ist John Harrisons Uhr einfacher als Tobias Mayers komplizierte Tabellen und das Hantieren mit dem Sextanten auf dem schaukelnden Schiff. Aber wenn die Uhr mal ausfällt, greifen die Seeleute doch wieder auf „den Mayer“ zurück.
ZSP 22 T22 Hüttermann
James Cook ist ja durch die Südsee gefahren. Der schreibt in seinen Berichten, dass er froh ist, dass er diesen Chronometer hat, aber er wäre genauso froh, dass er diese Sache mit dem Sextanten und den Mondtafeln hätte. Und wenn Sie an den Captain Bligh bei der Meuterei auf der Bounty denken, der wird ja ausgesetzt. Und was hat er dabei? Nicht die Uhr, sondern den Sextanten. Also die Mayer’sche Methode. (lacht)
Friedhofsglocken, diesmal ohne Musik, bleiben unter Sprecher, Sprecher wie am Anfang (oder sogar exakte Kopie des Anfangs)
Am 20. Februar 1762 stirbt Tobias Mayer. Der große Astronom und Kartograph – heute kennt ihn kaum einer mehr. Er ist nur 39 Jahre alt geworden – der Typhus hat ihn in kürzester Zeit dahingerafft.
Nicht alles hat er erreicht. Seine Vision, die Vision seiner Kollegen bei Homann, die kartographische Wissenschaft nach dem Vorbild der Franzosen in einer staatlichen Akademie zu bündeln, hat im zersplitterten Deutschen Reich keine Chance.
Der Homann-Verlag wird nicht mehr an die früheren Erfolge anknüpfen. Aber die Karten aus der Zeit von Tobias Mayer werden weit über seinen Tod hinaus verkauft – sie sollen noch Jahrzehnte unter den besten bleiben.
Musik einfaden
ZSP 23 T23 Heinz
Ich tu mir schwer zu sagen, der Homännische Verlag oder Tobias Mayer waren das Größte in Europa. Das stimmt nicht. Sie waren ganz vorne dran, und das ist eigentlich schon sensationell!
ZSP 24 T24 Glasze
Wahrscheinlich würden Kolleginnen und Kollegen aus der Kartographie werden jetzt den Kopf schütteln, aber in gewisser Weise ist so eine Form von Kritik der Kartographie im 19., 20. Jahrhundert ein stückweit verlorengegangen.
ZSP 25 T25 Hüttermann
Aus einfachsten Verhältnissen ((als Autodidakt)) sich hochgearbeitet in höchste Höhen! Den hätte ich gerne mal kennengelernt. Das ist schon… die Schwaben sagen „ein Käpsele“. (lacht)
Musik raus, Kunstpause
Was er in nur 39 Lebensjahren geleistet hat: unglaublich.
Der erste Adventskalender auf dem Buchmarkt kam aus München: Vor hundert Jahren zeichnete der Richard Ernst Kepler eine Märchenwelt in 24 Miniaturbildern. Ein altbekannter Brauch und seine Geschichte. Von Christian Feldmann (BR 2015)
Credits
Autor dieser Folge: Christian Feldmann
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Detlef Kügow, Beate Himmelstoß, Margit Carls, Thomas Loibl
Technik: Hans Scheck, Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
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Amelia Earhart überflog als erster Mensch den Pazifik zwischen Hawaii und Kalifornien. In den USA galt die Rekordfliegerin als Idol. Die Bestürzung war groß, als sie auf ihrem letzten Flug spurlos verschwand. Von Susanne Merkle (BR 2021)
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Der Nikolaus ist so beliebt, dass kaum jemand auf ihn verzichten möchte. Doch eigentlich wissen wir recht wenig über ihn. Auch, weil wenig historisch Gesichertes über ihn zu finden ist. Von Christian Feldmann (BR 2006)
Credits
Autor dieser Folge: Christian Feldmann
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Stefan Wilkening, Adela Florow, Robert Dölle
Redaktion: Bernhard Kastner
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Ein Dolchstoß von hinten? Verrat an den kämpfenden Soldaten? Am Ende des Ersten Weltkrieges verschleierte die kaiserliche Militärführung ihr Scheitern. Rechte Verschwörungslegenden machten stattdessen die demokratischen Politiker der Weimarer Republik für die Kriegsniederlage verantwortlich. Und zur Zielscheibe rechter Gewalt. Von Renate Eichmeier
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Martina Steber, Professorin für Neueste Geschichte an der Universität Augsburg und Stellvertretende Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin
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Atmo: Schüsse
ERZÄHLERIN:
26. August 1921. Gegen 11 Uhr vormittags. In der Nähe von Bad Griesbach hallen Schüsse durch den Schwarzwald. Sie gelten einem Mann, der mit einem Parteikollegen einen Spaziergang in seiner schwäbischen Heimat macht: Matthias Erzberger, Mitte 40, Gehrock, dunkle Hose, schwarzer Hut, Politiker des katholischen Zentrums, bis vor wenigen Monaten Finanzminister der Weimarer Republik. Matthias Erzberger wird von den Schüssen schwer verletzt, versucht zu fliehen, stürzt an einem Abhang, am Boden liegend treffen ihn weitere Kugeln. Die beiden Attentäter kommen aus rechtsextremen Netzwerken. Vor seiner Ermordung wurde Matthias Erzberger wie andere führende Politiker der Weimarer Republik von rechtsnationalen Kreisen mit Hetzkampagnen gejagt.
ERZÄHLER:
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ERZÄHLERIN:
Am Ende des Ersten Weltkrieges hatte die Militärführung des Deutschen Kaiserreiches ihr Scheitern verschleiert und damit den Boden für rechte Verschwörungslegenden bereitet. Diese machten die demokratischen Politiker der Weimarer Republik für die Kriegsniederlage verantwortlich. Und zur Zielscheibe rechter Gewalt.
O1 STEBER
In rechten Kreisen, in rechtsextremen Kreisen wird dieser Begriff des Dolchstoßes beständig überall aufgegriffen und wird zu einer Propaganda-Formel, zu einer Hetz-Formel, die Gewalt legitimiert, nämlich 'ne Gewalt, die sich dann in Morden an diesen führenden Vertretern der Novemberrevolution dann auch breit macht.
ERZÄHLER:
So die Historikerin Martina Steber, Professorin für Neueste Geschichte an der Universität Augsburg und Stellvertretende Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin.
O2 STEBER
Man kann sagen, dass das die Funktion hat, die historische Realität tatsächlich zu verschleiern.
ERZÄHLERIN:
Die historische Realität? Um sie zu verstehen, muss man zurückgehen zum Beginn des Ersten Weltkrieges.
Musik: Huldigungsmarsch 0‘30
Atmo: Jubel, marschieren
Im August 1914 herrschte nationale Euphorie. Regimenter marschierten unter dem Jubel der Bevölkerung durch die Straßen. Im Reichstag stimmten alle Parteien inklusive der SPD für die Kredite, die zur Finanzierung des Krieges notwendig waren. Ein Ausflug nach Paris sollte es werden, ein kurzer, schneller Eroberungskrieg im Westen – gekrönt mit Annexionen.
Musik: War is coming 0‘50
Atmo: Kampf Krieg
Doch der deutsche Vormarsch im Westen stockte innerhalb kurzer Zeit. Die Front fraß sich ein. Ein zäher, brutaler Stellungskrieg mit unzähligen Toten folgte. Eine Seeblockade der Engländer schnitt die deutschen Nordseehäfen vom internationalen Handel ab. Es kam zu Lebensmittelknappheit und Mangel an kriegswichtigen Gütern. Zu Hause an der sogenannten Heimatfront verflog die nationale Hochstimmung. Die Menschen litten unter mangelnder Versorgung. Es kam zu ersten Krawallen und Streiks auf lokaler Ebene, die sich zunehmend ausweiteten und politisierten. Eine neue Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff sollte ab Sommer 1916 für den entscheidenden militärischen Durchbruch sorgen. Doch der ließ auf sich warten. Die öffentlichen Diskussionen über die Beendigung des Krieges nahmen Fahrt auf.
ERZÄHLER:
Sollte man verhandeln? Sollte man weiterkämpfen? Siegfrieden? Oder Verhandlungsfrieden?
ERZÄHLERIN:
Die Gesellschaft spaltete sich, so die Historikerin Martina Steber, in zwei Lager.
O3 STEBER
Und da hat man auf der einen Seite ein rechtes Lager, das ganz deutlich auf einen Siegfrieden zielt, der gleichzeitig mit großen territorialen Annexionen rechnet, also eine Expansionspolitik, die sich ja in den Kriegszielen des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg auch zeigt und die das leitet und die dann gleichzeitig einen Verhandlungsfrieden ausschließt. Also es gibt nur einen Sieg, einen militärischen Sieg unter Einschluss eben von territorialen Gewinnen. Das ist das einzige Ziel, was akzeptabel ist.
ERZÄHLER:
Auf der anderen Seite, so Martina Steber, stehen diejenigen, die diesen propagierten Siegfrieden für unrealistisch halten.
O4 STEBER
Es sind die Gruppen, die Vertreter eben von Sozialdemokratie, von Linksliberalen und aus dem Zentrum vom politischen Katholizismus, die auf einen Verhandlungsfrieden unter Wegfall aller annexionistischer Ziele drängen –
ERZÄHLERIN:
darunter als führende Stimme: Matthias Erzberger –
O5 STEBER
Die werden als Verräter bezeichnet und zwar aus diesem rechten nationalistischen Lager. Das heißt, dieser Gedanke eines Verrats durch die Heimatfront, der ist bereits 1917 da, und wird auch ganz klar geäußert im Reichstag zum Beispiel, als eine Resolution eben von Linken, Linksliberalen und dem Zentrum diskutiert wird mit der Forderung nach so einem Verhandlungsfrieden ohne Annexionen.
MUSIK: Z8014761117 Foreboding of war (alternativ) 0‘35
ERZÄHLER:
Die gesellschaftlichen Fronten verhärteten sich. Während der Ruf nach Friedensverhandlungen immer lauter wurde, propagierten Militärführung und Rechtsnationale weiterhin einen Siegfrieden – der sich militärisch allerdings in keiner Weise abzeichnete. Ein uneingeschränkter U-Boot Krieg sollte Abhilfe leisten. Handels- und Passagierschiffe auch aus neutralen Staaten wurden ohne Vorwarnung versenkt. Ziel war, England und Frankreich von internationalen Handelsbeziehungen abzuschneiden, insbesondere von Rüstungslieferungen aus den USA. Doch das erwies sich als kontraproduktiv. In der Folge traten nämlich die USA auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein – was sich bald als verhängnisvoll erwies.
Als im Zuge der Oktoberrevolution 1917 das Russische Zarenreich zusammenbrach, wurden durch den Friedensschluss mit den neuen bolschewistischen Machthabern im Osten deutsche Truppen frei. Und die ließ die Oberste Heeresleitung an die Westfront verlegen, um dort mit einer Frühjahrsoffensive den Sieg herbeizuführen. Aber auch das scheiterte, weil die Alliierten klar im Vorteil waren – aus zwei Gründen. Zum einen hatten sie mehr Panzer. Und diese, so die Professorin Martina Steber, brachten eine neue Dynamik in den Stellungskrieg an der Westfront.
O6 STEBER
Die können nämlich über solche Stellungen drüber gehen, die können über Gräben drübergehen, die sind relativ unverwundbar. Also, da gerät strategisch einfach durch militärische Ausstattung das Deutsche Reich ins Hintertreffen. Das ist der eine Punkt. Und zum zweiten, durch den Kriegseintritt der USA werden die Alliierten immer wieder mit neuen, frischen, gut ausgebildeten Soldaten versorgt.
ERZÄHLERIN:
Die von den deutschen Militärs massiv unterschätzten Amerikaner erwiesen sich als schlagkräftige Kampfeinheiten. Die deutschen Soldaten dagegen kamen geschwächt von der Ostfront und waren chancenlos der militärischen Überlegenheit der Alliierten ausgesetzt. Hunderttausende kamen um.
Musik: Unexpected encounter 0‘45
Atmo: Kundgebung
In der Bevölkerung zuhause rumorte es zunehmend. Die Menschen hungerten. Bereits im Januar 1918 war es zu reichsweiten Massenstreiks gekommen. Die erschöpften Menschen forderten ein Ende des Krieges, eine Verbesserung der Versorgung, und sie forderten politische Teilhabe, Wahlrechtsreform und Demokratisierung, wobei die konkurrierenden Konzepte Parlamentarismus versus Rätesystem im Umlauf waren. Der Druck vonseiten der Bevölkerung wuchs. Gerüchte über die desaströse militärische Lage drangen durch, während die kaiserliche Militärführung weiterhin einen deutschen Sieg propagierte.
ERZÄHLER:
Zwar ließ die kaiserliche Militärführung schließlich die Regierung und auch den Reichstag darüber informieren, dass mit einem vollständigen Sieg im Westen nicht mehr zu rechnen sei. Wie katastrophal die militärische Lage war, darüber gab die Oberste Heeresleitung allerdings vorerst keine Auskunft. Bei den obersten Militärs kam Krisenstimmung auf. General Erich Ludendorff verlor zunehmend die Nerven.
ERZÄHLERIN:
Er schob das Scheitern der Offensive wahlweise auf die unteren Ränge in der militärischen Hierarchie, auf die linken Ideen, mit denen Soldaten infiziert seien, oder auf die mangelnde Unterstützung von der sogenannten Heimatfront mit ihren Forderungen nach Demokratisierung.
MUSIK: Dangerous pursuit 0‘15
O8 STEBER
Im Oktober 1918 wird tatsächlich ein Traum von vielen auf der linken, auf der liberalen Seite, auch im Zentrum umgesetzt. Es kommt zu einer stärkeren Parlamentarisierung der kaiserzeitlichen Verfassung, es wird eine Regierung gebildet, eben unter Einschluss dann von Sozialdemokraten, Zentrumsleuten, Linksliberalen unter einem gemäßigten, konservativen oder liberalkonservativen Max von Baden.
ERZÄHLER:
Ende September / Anfang Oktober hatte die Oberste Heeresleitung führende Politiker mit einem dramatischen Appell über die desaströse Lage an der Westfront informiert. Vehement drängte Erich Ludendorff auf eine Änderung der Verfassung in Richtung auf parlamentarische Monarchie – und auf sofortige Waffenstillstandsverhandlungen, um einem drohenden militärischen Zusammenbruch zuvorzukommen.
O9 STEBER
Und der Plan, den Ludendorff da hegt und der durchaus auch aufgeht, ist, die Verantwortung für die Kriegsniederlage genau diesen Leuten in die Schuhe zu schieben, also sich selber zu entlasten und die Verantwortung für die Niederlage, die dann eingestanden werden muss, auf die parlamentarischen Kräfte und auf die republikanischen Kräfte zu projizieren, die dann tatsächlich auch den Waffenstillstand unterzeichnen müssen.
Musik: Complex questions 0‘40
ERZÄHLERIN:
Schnell wurde eine neue Reichsregierung unter Kanzler Max von Baden installiert. In seinem Kabinett waren nunmehr auch Politiker der demokratischen Parteien wie etwa Matthias Erzberger vom katholischen Zentrum und der SPD-Politiker Philipp Scheidemann. Obwohl Bedenken bezüglich eines überstürzten Waffenstillstandsangebots bestanden, gab Max von Baden angesichts der unübersichtlichen Lage dem Druck Ludendorffs nach und übermittelte ein entsprechendes Gesuch an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson.
ERZÄHLER:
In der SPD hatte es bereits vor dem Eintritt ins Kabinett kritische Stimmen gegeben, die davor warnten, sich in den Zusammenbruch des monarchischen Regimes reinziehen zu lassen. Auch Max von Baden war sich darüber im Klaren, dass die Oberste Heeresleitung nicht mit offenen Karten spielte, sein Vizekanzler Payer sprach es klar aus –
dass wir es sein sollen, die den verlorenen Krieg verloren machen. Und Matthias Erzberger verlangte vergeblich, dass die Oberste Heeresleitung klarstellen sollte, dass sie es war, die die Bitte um Waffenstillstand erzwungen hat.
ERZÄHLERIN:
Die nächsten Wochen verhandelte die Reichsregierung unter Max von Baden mit dem amerikanischen Präsidenten, der allerdings sehr harte Bedingungen für einen Waffenstillstand stellte.
Musik: Z8019017127 secret proofs red. 0‘30
Die obersten Militärs waren empört. Allen voran Ludendorff. Und die Seekriegsleitung versuchte schließlich im Alleingang, mit der Hochseeflotte einen nicht autorisierten Vorstoß zu unternehmen. Die Matrosen verweigerten aber den eigenmächtigen Befehl ihrer militärischen Führung. In der Folge brachen Unruhen aus, die sich über das ganze Kaiserreich ausbreiteten. Es war der Beginn der Novemberrevolution 1918 und das Ende der Monarchie. Am 9. November gab Max von Baden in Eigenregie die Abdankung des Kaisers bekannt und übergab die Regierungsgeschäfte an Friedrich Ebert, den Parteivorsitzenden der SPD. Die Republik wurde ausgerufen. - Zwei Tage vorher war die deutsche Delegation unter Führung von Matthias Erzberger im Obersten Hauptquartier in Belgien aufgebrochen und nach Rücksprache mit Kaiser und Oberster Heeresleitung losgefahren, um in Frankreich den Waffenstillstandsvertrag zu unterzeichnen.
ERZÄHLER:
Von seinen französischen Verhandlungspartnern wurden Matthias Erzberger die Bedingungen vorgelegt, die ihm sehr hart erschienen. Verhandlungsspielräume gab es nicht. Schließlich informierte Matthias Erzberger die Oberste Heeresleitung und auch die Regierung in Berlin und bat um Anweisung. Beide teilten ihm mit, dass unter allen Umständen ein Waffenstillstand abgeschlossen werden muss. 11. November um fünf Uhr morgens: Matthias Erzberger unterschrieb.
ERZÄHLERIN:
Die kaiserliche Militärführung hatte sich geschickt aus der Verantwortung gezogen.
ERZÄHLER:
Später sagte Matthias Erzberger, hätte man früher auf Verhandlungen gesetzt, hätten die Deutschen bessere Bedingungen bekommen.
ERZÄHLERIN:
Demokratische Politiker übernahmen im Chaos von Kriegsende und Revolution die politische Verantwortung, sorgten für eine Beruhigung der Situation und gründeten die Weimarer Republik. Und sie waren es auch, die im Sommer 1919 den Versailler Vertrag unterzeichneten. Auch hier gab es kaum Verhandlungsspielräume. Die Friedensbedingungen waren sehr hart. Dass Deutschland die alleinige Schuld am Kriegsausbruch gegeben wurde, empfanden viele als demütigend. Und die hohen Reparationszahlungen lösten in weiten Teilen der Bevölkerung eine Welle der Empörung aus. Die junge deutsche Republik stand vor enormen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Wer war schuld an der Misere?
MUSIK: Unexpected signals 0‘20
ERZÄHLER:
Die Schuldigen, so trommelte die rechte Propagandamaschinerie, das waren die Novemberverbrecher, die Verräter in der Heimat, die für die Revolution verantwortlich waren, die der Front das Rückgrat gebrochen haben, die den kämpfenden Soldaten in den Rücken gefallen sind, ihnen den Dolchstoß versetzt haben.
O10 STEBER
Der Begriff des Dolchstoßes, der funktioniert sehr, sehr gut, weil er auch so bildlich ist. Der Begriff nimmt Bezug auf eine für den deutschen Nationalismus ganz bekannte Szene in der Nibelungensage, die von Richard Wagner in den großen Opern, die ja so zum Grundarsenal einer deutschen nationalistischen bürgerlichen Kultur in der Zeit gehören, dann in Musik und in Szenen umgesetzt wurde im Ring des Nibelungen, wo nämlich der Schurke Hagen den großartigen Helden Siegfried, der von den Göttern ausersehen ist, in einem unfairen Kampf von hinten den Dolchstoß in den Rücken versetzt und auf die Art und Weise das Gute, den Inbegriff des guten deutschen und des nationalen Helden dann zum Fallen bringt. Und das ist ein Bild, das in den Köpfen von jedem gebildeten Deutschen, aber auch weit darüber hinaus ganz präsent war.
Musik: Z8022611109 Der Prangertag 0‘20
ERZÄHLERIN:
Die Legende vom Dolchstoß in den Rücken der unbesiegten deutschen Armee tauchte in der deutschen Öffentlichkeit bereits bei Kriegsende auf. Rechte Verschwörungstheorien nahmen Fahrt auf. Demobilisierte Soldaten und junge Männer schlossen sich Freikorps an, paramilitärischen Freiwilligenverbänden, die zunehmend nationalistisch und gewaltbereit auftraten. Aus ihnen ging unter anderem die rechtsextreme Terrororganisation Consul hervor, die verantwortlich war für eine Reihe politischer Morde in der Weimarer Republik. Währenddessen wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt, um die Geschehnisse rund um den Ersten Weltkrieg zu untersuchen: Ausbruch, versäumte Friedensmöglichkeiten, Ursachen des Zusammenbruchs. Paul von Hindenburg gab als ehemaliges Mitglied der Obersten Heeresleitung in einer öffentlichen Sitzung sein Statement ab – und nutzte die Gelegenheit, um jede Verantwortung von sich zu weisen und die Dolchstoßlegende zu forcieren. Das war Wasser auf die Mühlen der nationalistischen Presse, die in der Weimarer Republik dominierte. Zu dem rechten Verlagsimperium von Alfred Hugenberg gehörten zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften, die mit Artikeln, Karikaturen und Schmähgedichten die demokratische Ordnung der Weimarer Republik und ihre führenden Politiker angriffen.
ERZÄHLER:
Von gefügigen Werkzeugen fremder Mächte ist da die Rede, von Erfüllungspolitikern, die verantwortlich sind für das deutsche Unglück, von Novemberverbrechern, die die kämpfenden deutschen Soldaten verraten und von Landesverrätern, die deutsche Arbeiterinteressen verkauft haben.
O11 STEBER
Und das sind dann exponierte Männer, wie etwa Matthias Erzberger, der noch für die Regierung Max von Baden, also die noch während des Kaiserreichs eingesetzte demokratisierte Regierung, den Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnet, ein Zentrumspolitiker ein gemäßigter Konservativer, der persönlich verantwortlich gemacht wird und der sich beständig mit diesem Vorwurf, ein Novemberverbrecher zu sein, konfrontieren lassen muss, der gehetzt wird, gejagt wird von rechtsextremen paramilitärischen Einheiten und dann schließlich tatsächlich im August 1921 auch ermordet wird.
Musik: Dark operation red. 0‘35
ERZÄHLERIN:
Vor seiner Ermordung hatte es eine Pressekampagne gegen Matthias Erzberger gegeben – angeführt von Karl Helfferich, einem Politiker der Deutschnationalen Volkspartei in enger Zusammenarbeit mit der rechten Hugenberg-Presse.
ERZÄHLER:
Matthias Erzberger wurde beschimpft, ihm wurde Korruption unterstellt, die Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages vorgeworfen und damit die Verantwortung für die sogenannte Schmach und Not Deutschlands gegeben. Und ihm wurde offen mit dem Tod gedroht.
ERZÄHLERIN:
Schließlich ging Matthias Erzberger juristisch mit einer Beleidigungsklage gegen Karl Helfferich vor. Doch der nutzte das Gericht als Bühne und arbeitete eng mit der Hugenberg-Presse zusammen, die seine beleidigenden Auslassungen sofort veröffentlichte. Auf Matthias Erzberger wurde ein erstes Attentat verübt. Vor dem Gerichtsgebäude verletzte ihn ein Schuss schwer an der Schulter. Als dann der Attentäter vor Gericht stand, trug er seine Kriegsuniform mit Orden und bekannte sich zur Monarchie.
ERZÄHLER:
Unter Hinweis auf Helfferich gab er an, dass er Erzberger für den Hauptschuldigen am Zusammenbruch hält und dass er der Ansicht ist, dass Erzberger wissentlich gegen das Volkswohl arbeitet. Deshalb dachte er sich, es muss etwas getan werden.
ERZÄHLERIN:
Das Gericht zeigte sich dem Attentäter gegenüber verständnisvoll. Der Mordversuch wurde als schwere Körperverletzung interpretiert und mit achtzehn Monaten Haft bestraft.
MUSIK: Constant fear red. 0‘15
Wenige Monate später fielen die tödlichen Schüsse auf Matthias Erzberger. Die beiden Attentäter stammten aus dem Kreis der rechtsmilitanten Terrororganisation Consul.
O12 STEBER
Und diese Formel vom Dolchstoß, gekoppelt eben mit der Formel von den Novemberverbrechern, funktioniert auch deshalb so gut im rechten Milieu, weil das eine Integrations-Formel ist, auf die sich alle einigen können. Diese Rechte nach 1918/19 ist sehr heterogen, da gibt es ganz unterschiedliche Strömungen, und die sind sich selber in vielerlei Hinsicht nicht grün. Aber sie können sich darauf einigen, dass die Schuldigen quasi an der Misere des deutschen Volkes diese angeblichen Novemberverbrecher sind, die in konspirativer Absicht – und das steckt dann ja auch hinter diese Dolchstoßlegende – die in konspirativer Absicht, in verschwörerischer Absicht, ganz bewusst und planmäßig darauf hingewirkt hätten, dass die deutsche Kampfkraft an der Front zusammenbricht und auf die Art und Weise eine Revolution erst ermöglicht worden wäre. In rechtsextremen Kreisen wird die Erzählung dann noch mit dem antisemitischen Element angereichert, und dann sind es die Juden, die quasi als große Verschwörer hinter dieser ganzen Geschichte stehen.
ERZÄHLER:
Pressekampagnen und Morddrohungen gegen demokratische Politiker gehörten zum Alltag in der Weimarer Republik und wurden auch von der aufstrebenden NSDAP genutzt. Zielscheibe der Angriffe von rechts waren unter anderem Reichspräsident Friedrich Ebert von der SPD, sein Parteikollegen Philipp Scheidemann, der mit Blausäure attackiert wurde, der liberale Außenminister Walther Rathenau, der antisemitisch angefeindet und von Angehörigen der Organisation Consul ermordet wurde … Die rechten Verschwörungslegenden entfalteten eine ungeheure Macht.
Z8021994115 Ambuscade 0‘30
Die Gerüchte um den angeblichen Dolchstoß und die Diffamierung der demokratischen Politiker als Novemberverbrecher wirkten destabilisierend auf die Weimarer Republik und waren lebensgefährlich für die betroffenen Politiker.
O13 STEBER
Da sieht man, welche mobilisierende Kraft diese Begriffe haben, aber gleichzeitig auch, welche Gewalt hinter diesen Begriffen steckt.
Zusammenhalt statt Egotrip - was sich wie eine Forderung mit erhobenem Zeigefinger anhört, ist seit der Antike fester Bestandteil aller Theorien des menschlichen Zusammenlebens. Die Einsicht dahinter: sich nur auf die Fürsorge des Staates zu verlassen reicht gerade in Krisenzeiten nicht aus. Wir müssen einander helfen - und können das auch! Von Geseko von Lüpke (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Kathrin von Steinburg, Clemens Nicol
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Niko Paech (Volkswirt & Zukunftsforscher, Universität Siegen),
Wolfgang Fänderl (Münchner Sozialforscher, Netzwerker und Autor),
German Muruchi Poma (ecuadorianische Sozialwissenschaftler indianischer Herkunft),
Manfred Max-Neef (chilenischer Ökonom, alternativer Nobelpreisträger),
Christian Felber (österreichischer Gemeinwohlökonom und Autor),
Reinhard Eichelbeck (Kooperationsforscher, Autor),
Friederike Habermann (Volkswirtin, Vernetzerin kooperativen Wirtschaftens),
Chico Whittaker (brasilianischer Theologe, Alternativer Nobelpreisträger)
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Retro-Gangster-Epos als Kriminalsatire! Dies ist die Geschichte des legendären Dickie Dick Dickens, der im Chicago der Goldenen Zwanziger Jahre vom Taschendieb zum gefährlichsten Verbrecher der Vereinigten Staaten aufsteigt. Die Original-Krimireihe, die ab 1957 Hörspielgeschichte schrieb - präsentiert von Bettina Förg, der Tochter des Autorenpaars Rolf und Alexandra Becker, angereichert mit unglaublichen Anekdoten!
ZUM PODCAST
Eichelbeck, Reinhardt: Das Darwin-Komplott. Riemann-Verlag 1999.
Fänderl, Wolfgang (Hrsg.): Beteiligung über das Reden hinaus. Gemeinsinn-Werkstatt: Materialien zur Entwicklung von Netzwerken. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, 2006.
Felber, Christian: Kooperation statt Konkurrenz. 10 Schritte aus der Krise, 2009.
Felber, Christian: Gemeinwohl-Ökonomie. Das alternative Wirtschaftsmodell für Nachhaltigkeit. Piper-Verlag 2018.
Felber, Christian: Die innere Stimme. Wie Spiritualität, Freiheit und Gemeinwohl zusammenhängen, Publik Forum 2015.
Habermann, Friedrike: Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und Wirtschaften im Alltag. Ulrike Hirmer-Verlag 2008.
Habermann, Friedrike: Ausgetauscht. Warum gutes Leben für alle tauschlogikfrei sein muss, 2018.
Max-Neef, Manfred: Real Life Economics. Understanding Wealth Creation, 2006.
Max-Neef, Manfred: Economics Unmasked. From Power and Greed to Compassion and the Common Good, 2011.
Paech, Nico: 'All you need is less'. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht, oekom Verlag, München, 2022.
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Bodenentsiegelung macht Städte grüner und hilft, dass wertvolles Regenwasser versickern kann. Doch die Zauberlösung gegen Flächenfraß ist sie nicht. Denn ein von Beton und Zement befreiter Boden braucht Jahrhunderte, um all seine natürlichen Funktionen wieder zu erlangen. Von Brigitte Kramer
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Werner Härtl, Gudrun Skupin
Technik: Matthieu Belohradsky
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Nadine Pannicke-Prochnow, Geo-und Agrarwissenschaftlerin, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, Leipzig
Juliane Albrecht, Juristin, Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), Dresden
Matthias Rühl, Ingenieur und Raumplaner, Sugenheim/Mittelfranken
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Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST
Literatur:
Studie des Umweltbundesamtes „Bessere Nutzung von Entsiegelungspotenzialen zur Wiederherstellung von Bodenfunktionen und zur Klimaanpassung“:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Matthias Rühl
Wir haben die Bewerbung von Ipsheim damit begründet, dass wir gesagt haben, Ipsheim ist ein Asphaltsee. Das war wirklich so, dass alle Flächen im Ort komplett asphaltiert waren, also versiegelt waren.
SPRECHER
Der Raumplaner Matthias Rühl betreut seit mehr als 25 Jahren die Gemeinde Ipsheim in Mittelfranken, sowie rund zehn andere Orte in der Region. Er berät die Gemeinderäte in Sachen nachhaltige Städtebauförderung. Matthias Rühl setzt sich für mehr Grün in Städten und Dörfern ein.
O-Ton 2 Matthias Rühl
Bei jeder Maßnahme, die wir gemacht haben, war es eine Entsiegelung. Es ist viel Pflaster gekommen. Natürlich sind wir mitten in einem Ortskern bei den öffentlichen Flächen immer in der Notwendigkeit, dass es ja Verkehrsflächen sind. Man muss drauf gehen, man muss drauf fahren. Also Pflaster mit breiten Fugen oder eben ungebundene Bauweise. Das heißt, dass es auf Splitt verlegt ist und dass Regenwasser vor Ort versickert.
ATMO 1 Baustelle in der Stadt
SPRECHER drüber
Pflastersteine statt Asphalt, das ist eine Form der Teilentsiegelung: Dichte Flächen werden aufgerissen und durch Pflaster oder Rasengitter ersetzt. Der Grund ist weiterhin befestigt, aber er nimmt Regenwasser auf – eine wichtige Bodenfunktion. Und er bietet Gräsern und Blumen Raum für Wurzeln. Vollentsiegelung bedeutet, dass Asphalt und Beton komplett weichen und das Erdreich freigelegt wird. Darauf können dann Sträucher oder Bäume wachsen, es entstehen Grünanlagen oder Parks.
ATMO Stadtpark
+ Musik 2: Und was sagen die Freunde? - 38 Sek
SPRECHER drüber
Bodenentsiegelung wurde als eine effektive Maßnahme zur Klimaanpassung erkannt, vor allem in dicht bebauten Stadtteilen oder Ortskernen. Pflanzen binden Kohlendioxid und Staub, befeuchten die Luft, sorgen im Sommer für Kühlung. Derzeit herrschen in versiegelten Innenstädten bis zu zehn Grad höhere Temperaturen als im Umland. Und: Grün schlägt zwischen Wohnblocks Frischluftschneisen, steigert die Lebensqualität in Städten die Bewohner erleben, wie die Jahreszeiten wechseln. (Musik weg)
Trotzdem müssen Menschen wie Matthias Rühl noch Überzeugungsarbeit leisten:
O-Ton 3 Matthias Rühl
Jeder Baum macht Dreck, heißt es immer. Dann sage ich: Ein Auto macht eher Dreck. Also ein Baum lebt ja, das ist ein Lebewesen wie wir auch. Er ist nur nicht so schnell wie wir. Und natürlich verliert er Blätter. Wir verlieren auch Haare und alles Mögliche. Das verstehen manche Leute nicht. Die Jüngeren glaube ich schon eher. Es gibt halt ein paar ganz Alte, die das noch ganz anders sehen. Da hat man einen Baum eher mit der Motorsäge gepflegt.
SPRECHER
Auch auf privaten Grundstücken steigern freie Flächen den Wert. Das ist besonders bei Altstadtsanierungen wichtig. Matthias Rühl spricht von „Aufräumen“:
O-Ton 4 Matthias Rühl
Das spielt eine große Rolle, weil der Altstadtkern ohnehin sehr stark überbaut ist. Im Laufe der letzten Jahrhunderte, muss man schon sagen, sind halt viele Anbauten entstanden und Nebengebäude und Garagen und alles Mögliche. Und wenn man jetzt in diesen Ortskern wieder Leben reinbringen möchte, in leerstehende Gebäude zum Beispiel, den Bestand weiter zu nutzen, zu verändern, das muss natürlich modernisiert werden. Das sind teilweise Häuser, wo vielleicht seit 80 oder 100 Jahren nichts gemacht wurde. Aber die Freiflächen muss man genauso betrachten, weil sonst braucht man ja das Haus gar nicht sanieren. Es ist Lebensnotwendigkeit, denn wenn Sie irgendwo wohnen wollen, dann brauchen Sie auch Freiflächen. Wenn Sie diese grünen Freiflächen nicht haben, ist es unattraktiv.
ATMO Dorfstille
SPRECHER drüber
Auf dem Land, in Dörfern, wo die Jüngeren weggezogen sind, ist das Problem ähnlich:
O-Ton 5 Matthias Rühl
Wo früher Landwirtschaft war, da gab es Ställe, da gibt es Scheunen, da gibt es irgendwelche Maschinenhallen, die jetzt aber nicht mehr in Gebrauch sind. Und manches kann man eben nicht mehr umnutzen. Einen alten Schweinestall werde ich schwer zu einer Wohnnutzung umfunktionieren können. Da muss halt mal was abgebrochen werden. Und dann muss ich aber auch ein Konzept haben: Was mache ich mit dieser Fläche?
ATMO Baustelle
SPRECHER drüber
Neuer Wohnraum ist die erste Option. Deutschland braucht Wohnungen und eine Bebauung bringt dem Eigentümer oder der Eigentümerin Geld. Letztlich braucht es Überzeugung, um sich gegen ein Gebäude und für eine Wiese, einen Garten oder einen Park zu entscheiden. Man muss den Wert von Freiraum erkennen.
MUSIK 3: Und was sagen die Freunde? – siehe vorne – 31 Sek
SPRECHER drüber
Theoretisch wird Entsiegelung in Deutschland gefördert, und zwar in mehreren Gesetzen: Im Paragrafen 179 des Baugesetzes steht ein „Rückbau- und Entsiegelungsgebot“:
Eine Gemeinde kann einen Eigentümer dazu verpflichten, den Abriss oder Teilabriss eines Gebäudes zu dulden, wenn dieses …
MUSIK 1 weg
ZITATORIN
„… den Festsetzungen eines Bebauungsplans nicht entspricht und ihnen nicht angepasst werden kann oder Missstände oder Mängel aufweist, die auch durch eine Modernisierung oder Instandsetzung nicht behoben werden können“.
SPRECHER
Leere Garagen, Kasernen, Fabrikanlagen …. Ställe, Verkaufsräume, Lagerhallen – könnten also alle weg. Und im Bundesbodenschutzgesetz aus dem Jahr 1999 besagt der Paragraf fünf, dass …
ZITATORIN
„Die Bundesregierung per Rechtsverordnung und mit Zustimmung des Bundesrates Grundstückseigentümer dazu verpflichten kann, bei dauerhaft nicht mehr genutzten Flächen, deren Versiegelung im Widerspruch zu planungsrechtlichen Festsetzungen steht, den Boden so weit wie möglich und zumutbar wiederherzustellen“.
MUSIK 4: Aufbruch – xxx – 59 Sek
SPRECHER drüber
Die beiden Paragrafen wurden allerdings nach Recherchen von Juliane Albrecht kaum angewandt. Albrecht ist Juristin und arbeitet am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden. Sie nennt sie „nicht vollzugstauglich“. Sie fordert, dass das Baugesetz und das Bodenschutzgesetz überarbeitet werden. Sprich: Sie müssen an die heutigen, drastischen Umwelt-Herausforderungen angepasst werden – und hier hat Entsiegelung eine große Bedeutung.
MUSIK hoch
SPRECHER drüber
Auch auf öffentlichem Grund wird Entsiegelung gefördert, hier wird sie auch öfter umgesetzt. Die Kommunen bekommen Subventionen, wenn sie Grünflächen schaffen, das steht in den Städtebauförderungsrichtlinien. Und die „Baunutzungsverordnung“ setzt Gemeinden Obergrenzen für Bebauung und Versiegelung . Dazu kommt die sogenannte „Eingriffsregelung“ im Naturschutzgesetz aus den 1970er Jahren:
O-TON 6 Juliane Albrecht
Das wichtigste Instrument in der Praxis ist eigentlich die Naturschutzrechtliche Eingriffsregelung. Diese ist im Bundesnaturschutzgesetz verankert und besagt letztlich, dass wenn man in Natur und Landschaft eingreift, zum Beispiel eine Straße neu baut oder eine andere bauliche Anlage errichtet und in den Naturhaushalt eingreift, dass man dann eine Kompensation erbringen muss. Und diese Kompensation, die kann eben durchaus auch in Form von Entsiegelungsmaßnahmen erbracht werden.
Musik 5: Detached –1:50 Min
SPRECHER
Juliane Albrecht hat im Jahr 2022 mit anderen Fachleuten im Auftrag des Bundesumweltamtes einen Forschungsbericht erstellt. Er heißt „Bessere Nutzung von Entsiegelungspotenzialen zur Wiederherstellung von Bodenfunktionen und zur Klimaanpassung“ und soll politische Entscheidungen erleichtern – für mehr Entsiegelung. In der Praxis wird zum Ausgleich von neu verbrauchtem, also verbautem Boden, auch tatsächlich immer wieder an anderer Stelle Boden entsiegelt. Das Problem: Es gibt zu wenig Grundstücke, die zur Entsiegelung taugen. Und: Die Ausgleichsvorschrift ist nicht zwingend. Derzeit muss man lediglich „verstärkt prüfen“, ob ausgleichende Entsiegelungen möglich sind. Außerdem ist Kompensieren ein Deal, bei dem die Natur draufzahlt. Denn Bodenversiegelung heißt, fruchtbare Erde luft- und wasserdicht abzudecken. Das führt zum Verlust aller physikalischen, chemischen und biologischen Bodenfunktionen und ist erstmal irreversibel. Boden ist ein komplexes Ökosystem, das aus Bakterien, Pilzen, Tieren, Wurzeln, Steinen, Erde und organischen Resten besteht. Er spielt eine zentrale Rolle im Naturhaushalt, vor allem für die Wasser- und Nährstoffkreisläufe. Der Mensch kann diesen Naturzustand nicht einfach wiederherstellen, er muss sich über Jahrhunderte wieder von selbst bilden. Ist es also sinnvoll, hier fruchtbare Erde unter Asphalt oder Zement zu begraben, für eine Wohnsiedlung, einen Straßenausbau oder einen Gewerbepark, und dort überbauten und verdichteten, also toten Boden, freizulegen?
ATMO Wiese, Vögel, Insekten
SPRECHER
Natürlicher Boden wächst in unseren Breiten einen Millimeter pro Jahr. Das heißt: ein Meter Boden entsteht in etwa tausend Jahren.
Der fruchtbare Mutterboden und der Unterboden eines Ackers sind also mehrere tausend Jahre alt.
ATMO Baustelle
SPRECHER drüber
Jeden Tag werden in Deutschland durchschnittlich 55 Hektar neu versiegelt. Es war aber mal schlimmer: Im Jahr 2000 waren es noch 129 Hektar pro Tag. Das zeigt, dass es ein Problembewusstsein gibt. ATMO 1 weg Bis 2030 sollen weniger als 30 Hektar am Tag neu in Anspruch genommen werden, und bis 2050 strebt die Bundesregierung in ihrer Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie sogar eine „Netto Null“-Versiegelung an. Die zugrunde liegende Erkenntnis lautet: Boden ist ein endliches Gut. Das heißt: Auch bei kompletter Entsiegelung, Sanierung und Wiederherstellung einiger Funktionen wird aus Boden, der von Asphalt und Beton „befreit“ ist, kein gesunder, fruchtbarer Boden.
MUSIK 6: Fragile life – 1:17 Min
SPRECHER drüber
Der Naturzustand ist also kurz- und mittelfristig unerreichbar. Trotzdem ist Bodenentsiegelung sinnvoll und notwendig, denn eine der Bodenfunktionen, die physikalische, ist relativ schnell wieder hergestellt: Die Wasserbindung. Schwieriger wird es bei den chemischen Funktionen, der Speicherung von Nährstoffen zum Beispiel für gesundes Pflanzenwachstum. Die findet im Mutterboden statt, der nach der Entsiegelung schichtweise neu aufgetragen werden muss.
MUSIK 2 hoch
SPRECHER drüber
Bodenlebewesen schließlich, wie Regenwürmer, Tausendfüßler, Asseln oder Milben erfüllen enorm wichtige biologische Funktionen. Sie zersetzen Biomasse, also abgestorbenes organisches Material wie Laub oder tote Tiere. Dabei entstehen Nährstoffe für Pflanzen, die mit ihren mehr oder weniger tiefen Wurzeln den Boden durchlüften und auflockern. Viele Pflanzen dienen uns als Nahrung. Ohne lebendige Böden gäbe es also auch uns nicht. Sie sind wortwörtlich unsere Lebensgrundlage.
Was muss sich ändern, damit mehr Boden freigelegt wird?
O-TON 7 Juliane Albrecht
Man braucht Entsiegelungskataster, dass man überhaupt erst einmal die Information auch hat, wo Flächen sind, die in Betracht kommen. Man braucht aber auch für die Behörden, von oben sage ich mal, eine Rückendeckung. Man braucht Vollzugshinweise. Ist natürlich, wenn man so diese Regelung anwendet und auch gar keine Rechtsprechung hat, keine Rechtssicherheit, dann fürchten Sie ja teilweise dann natürlich auch die Auseinandersetzung mit den Bürgern. Es kann zu Gerichtsverhandlungen kommen. Also da ist meines Erachtens wirklich so eine strategische Herangehensweise erforderlich.
SPRECHER
Es fehlen eine Strategie und eine klare Rechtslage, das ist Juliane Albrechts Erkenntnis. Das Naturschutzgesetz aus den 1970er Jahren wird immer wieder überarbeitet, mit Handlungsempfehlungen und neuen Berechnungsschlüsseln zum Flächenausgleich. In Berlin beispielsweise soll der Abriss von mehrstöckigen Gebäuden als Ausgleichsmaßnahme besonders berücksichtigt werden, weil dabei große Lücken im Stadtbild entstehen, die die Luftzirkulation verbessern und also der Klimaanpassung dienen.
MUSIK 7: Und was sagen die Freunde? – siehe vorn – 31 Sek
SPRECHER drüber
Im Koalitionspapier der Bundesregierung ist zumindest eine Handlungsabsicht verankert: Darin steht, dass das Bodenschutzrecht von 1999 angepasst werden soll, an die Artenvielfaltskrise und die Klimakrise. Und dass Entsiegelung einen neuen Stellenwert bekommen soll. Und im neuen Klimaanpassungsgesetz von November 2023 ist Entsiegelung Teil der Lösung:
ZITATORIN
„Träger öffentlicher Aufgaben sollen darauf hinwirken, dass versiegelte Böden, deren Versiegelung dauerhaft nicht mehr für deren Nutzung notwendig ist, in den natürlichen Bodenfunktionen, soweit dies erforderlich und zumutbar ist, wiederhergestellt und entsiegelt werden.“ Beides kann man als Ergebnis des Forschungsberichts zum Entsiegelungspotenzial deutscher Böden werten.
MUSIK 8: „Und was sagen die Freunde?“ – s.o. – 7 Sek
O-TON 8 Nadine Pannicke-Prochnow
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass seit der Veröffentlichung der Studie das Thema Entsiegelung schon mehr ins gesellschaftliche und auch ins politische Bewusstsein gerückt ist. Wir brauchen hier auch ein Umdenken. Es ist tatsächlich auch zu beobachten, dass sich zunehmend mehr Kommunen mit dem Thema beschäftigen und geeignete Flächen und Maßnahmen identifizieren, vor allem auch im Hinblick auf eine wassersensible Stadtentwicklung und zur Umsetzung des Schwammstadtprinzips, was ja auch viel wieder in Richtung Klimaanpassung leisten und beitragen kann.
SPRECHER
Nadine Pannicke-Prochnow (sprich: Pánnicke-Prochnoff) hat das Expertenteam geleitet, das im Auftrag des Bundesumweltamtes 2022 die Studie erstellt hat. Die Geo- und Agrarwissenschaftlerin arbeitet heute am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Die Arbeit war für sie ernüchternd und lehrreich, auch, weil das Thema erstmals so umfassend behandelt wurde:
O-TON 9 Nadine Pannicke-Prochnow
Es war definitiv Neuland für mich. Ich habe festgestellt, dass die Flächen für Entsiegelungsmaßnahmen eben sehr knapp sind, also nur circa ein halbes bis ein Prozent der Flächen in unseren deutschen Städten können für Vollentsiegelungsmaßnahmen genutzt werden. Gerade weil diese Möglichkeiten eben wirklich sehr knapp sind, ist es umso wichtiger, diese wenigen Gelegenheiten dann eben auch zu nutzen.
SPRECHER
Doch wie nutzt man die wenigen Flächen am besten? Zum Beispiel auch durch unspektakuläre Teilentsiegelung kleiner Flächen, auch auf dem eigenen Grundstück:
O-TON 10 Nadine Pannicke-Prochnow
Im Endeffekt sollten wir uns einfach bei jeder versiegelten Fläche fragen, ob die Versiegelung, so wie sie vorhanden ist, wirklich notwendig ist oder ob sie so umgestaltet werden kann, dass die Auswirkungen der Versiegelung reduziert werden. Wenn kleinere Teilflächen zum Beispiel in den Innenhöfen entsiegelt und bepflanzt werden oder der Belag ausgetauscht wird. Und teilweise sind eben Teilentsiegelungsmaßnahmen auch wirklich kostengünstiger, was das Ganze dann eben auch für private Flächen Eigentümerinnen und Eigentümer auch attraktiver macht. Also das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Musik 9: Indetectable - 1:28 Min
SPRECHER drüber
Boden im großen Stil freizulegen ist dagegen enorm aufwändig: Die Stadt Berlin empfiehlt beispielsweise Folgendes: Neue Erde muss entsprechend der natürlichen Bodenschichten aufgetragen werden. Das Bodenmaterial sollte nicht durcheinandergeraten und der Hauptbodenart vor Ort entsprechen. Das Ganze sollte bei trockener Witterung und in möglichst wenigen Schritten passieren, und vor allem nicht unter Einsatz schwerer Maschinen, die den Boden verdichten. Empfohlen werden Kettenfahrzeuge mit großer Lauffläche. Dann müssen Nährstoffe zugefügt und Pflanzen eingesetzt werden, die mit ihren Wurzeln den Boden festigen und durchlüften und organisches Material zum Humusaufbau liefern. Bei unterkellerten Gebäuden ist der Aufwand noch viel größer: Da überhaupt kein Boden mehr da ist, muss auf Kies und Stein meterhoch Erde aufgetragen werden, wenn dort wieder etwas leben und wachsen soll. Dazu kommt: Die Entsorgung der Baumaterialien – Beton, Ziegel, Mörtel, Fliesen, Glas, Holz, Metall, Gips und Dämmmaterialien – ist teurer, als ein Gebäude einfach stehen zu lassen. Und wer weiß schon, was unter der abgetragenen Fläche ist? Bauschutt, Unrat, Kies … im schlimmsten Fall: Altlasten.
O-TON 11 Nadine Pannicke-Prochnow
Gerade bei alten Gewerbe- und Industriestandorten haben wir teilweise Kontaminationen im Boden, die da teilweise noch schlummern. Also seien es eben Schwermetallrückstände oder Rückstände von Mineralölen, die irgendwo ausgelaufen sind und dort eben im Boden lagern. Dass das Ganze, dass diese Schadstoffe im Endeffekt ausgespült werden, im Grundwasser landen und sich dann dort eben auch großflächiger verteilen, das wollen wir natürlich verhindern. Also sprich, wenn wir die diese Sperrschicht für den Niederschlag entfernen, dann müssen wir eben auch mögliche Schadstoffe, die sich da im Boden befinden, mit entfernen.
SPRECHER
Sind die Flächen freigelegt, können sie mehrfach genutzt werden. Nadine Pannicke-Prochnow bietet kreative Lösungen an:
O-TON 12 Nadine Pannicke-Prochnow
Da gibt es zum Beispiel Möglichkeiten, dass man Sportflächen oder Freizeitflächen schafft, die dann aber im Fall von Starkregenereignissen auch als Flächen genutzt werden können, um eben diese Wassermassen erst einmal zwischenzuspeichern und aufzufangen. Oder inwiefern gibt es die Möglichkeit, dass wir diese Grünflächen in den Wohngebieten, die wir dort schaffen wollen, auch für eine regionale Produktion und Wertschöpfung nutzen können? Also sprich, inwiefern kann man hier die essbare Stadt zum Beispiel schaffen? Oder inwiefern können wir hier kleine Streuobstwiesen schaffen? Und für diese multifunktionalen Flächennutzungsansätze, denke ich, haben wir definitiv Luft nach oben.
SPRECHER
Entsiegelung bringt Mehrwert. Aber sie ist keine Zauberlösung. Deswegen rät Nadine Pannicke-Prochnow zu einem ganz neuen Umgang mit dem „endlichen Gut“ Boden:
O-TON 13 Nadine Pannicke-Prochnow
Also langfristig ist es hier schlauer, eine Flächenkreislaufwirtschaft zu etablieren, also das heißt vorhandene Flächen und Gebäude so lange und so oft wieder zu nutzen, wie es geht. In vielen Fällen bedeutet das ein Umbauen oder Umgestalten von Gebäuden und Flächen, um sie den neuen Anforderungen anzupassen. Unterm Strich ist es also ökologisch und volkswirtschaftlich nachhaltiger, den vorhandenen Bestand an gebauter Umwelt so gut wie möglich weiter und wieder zu nutzen. Das spart nicht nur Ressourcen und Kosten für die Gesellschaft, sondern reduziert eben auch die Notwendigkeit für neue Flächeninanspruchnahmen und neue Versiegelungen.
Musik 10: Fragile life – siehe oben – 22 Sek
SPRECHER
Boden ist Lebensgrundlage. Er leistet zentrale Dienste im Naturhaushalt. Er ist ein komplexes Gefüge, das leicht zerstört werden kann. Und Boden ist erschöpflich und definitiv kein Konsumgut.
O-TON 14 Nadine Pannicke-Prochnow
Wir sollten besser mit dem auskommen und haushalten, was wir bereits haben, anstatt immer wieder neu zu beanspruchen, und auf der anderen Seite gleichzeitig gebrauchte Gebäude ungenutzt verfallen zu lassen und dann am Ende zu entsorgen.
MUSIK 11: Indetectable – siehe oben – 52 Sek
SPRECHER drüber
Die ideale Zukunftsstadt ist also einerseits grüner und offener, zugleich werden bestehende Gebäude intensiver genutzt, um den Verbrauch von fruchtbarem Boden im Umland zu vermeiden. Was fehlt, sind eine Strategie und eine klare Rechtslage, die den Weg dahin weisen und erleichtern. Und ein Umdenken, das die Erkenntnis bringt, dass Boden ein endliches Gut ist, dessen Naturzustand durch Verbauung verloren geht. Entsiegelung ist wichtig, aber sie löst nicht alle Probleme. Den Schaden, den Versiegelung anrichtet, kann sie nur zum Teil und unter großem Aufwand beheben.
Der Fetisch: In der Ethnologie ein Gegenstand, dem magische Kraft zugeschrieben wird. In der Psychologie wird der Begriff Fetischismus verwendet bei sexuellen Vorlieben für bestimmte Objekte, Materialien oder Körperteile. Therapiebedürftig oder einfach eine besondere Spielart menschlicher Sexualität? Von Frank Halbach
Credits
Autorin dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christoph Jablonka, Sophie Rogall
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. Victor Blüml, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker; Stefanie Grohmann, Paar- und Sexualtherapeutin
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literatur:
Victor Blüml, Matthias Schmidt (Hg.): Sigmund Schriften zum Fetischismus, Wien 2025.
Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006.
Hartmut Böhme: Fetischismus und Sexualität. Auf dem Weg zu einem metapsychologischen Konzept. Binet, Krafft-Ebing, Freud. In: Johannes Cremerius, Gottfried Fischer, Ortrud Gutjahr (Hg.): Kulturtheorie, Würzburg 2005
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Menschen, die am sogenannten Impostor Syndrom leiden, schreiben ihre Erfolge nicht den eigenen Fähigkeiten zu, sondern Faktoren wie Glück, Zufall oder Hilfe von Anderen. Sie glauben, dass andere sie überschätzen würden - und sind deshalb ständig in Sorge, entlarvt zu werden. Von Maike Brzoska (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Susanne Schroeder, Hemma Michel
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Dr. Michaela Muthig, Buchautorin „Und morgen fliege ich auf“;
Dr. Mona Leonhardt, Psychologin an der Frankfurter Goethe-Universität;
Dr. Kay Brauer, Psychologe an der Universität Halle-Wittenberg
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Michaela Muthig: Und morgen fliege ich auf. Vom Gefühl, den Erfolg nicht verdient zu haben. dtv Verlag. 2021.
Sabine Magnet: Und was, wenn alle merken, dass ich gar nichts kann? mvg Verlag. 2018.
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Über fünf Milliarden Euro werden jedes Jahr in Deutschland gespendet. Helfen scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Doch Helfen ist nicht immer altruistisch, es gibt auch genügend egoistische Motive. Von Karin Lamsfuß (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Burchard Dabinnus, Jerzy May
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Gerhard Kruip, Professor für christliche Anthropologie und Sozialethik an der Uni Mainz; Dr. Martin Booms, Philosoph, Bonn; Sylvia Wetzel, buddhistische Lehrerin; Christoph Letzel, sozialpolitischer Referent der Caritas
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
Zitator:
Acht Uhr morgens. Ein Gemeindezentrum in einer deutschen Großstadt. Kleidung, Spielsachen und Hausrat stapeln sich bis unter die Decke. Wenige Tage zuvor war ein Mehrfamilienhaus in Flammen aufgegangen. Zehn Menschen wurden obdachlos. Sofort brach eine Welle der Hilfsbereitschaft aus.
MUSIK: „ Bose-Einstein Condensation“ K: Biosphere Album: Shenzhou
Sprecherin:
Über fünf Milliarden Euro werden jedes Jahr in Deutschland gespendet. Beinahe jeder Zweite über 14 ist ehrenamtlich engagiert.
Junge besuchen alte Menschen im Pflegeheim, Senioren unterrichten benachteiligte Schüler. Andere arbeiten bei der Tafel, im Hospizdienst oder kochen Mittagessen für sozialschwache Kinder. Insgesamt macht das 4,6 Milliarden Arbeitsstunden pro Jahr. Nicht mitgezählt die unzähligen kleinen Gesten der Hilfsbereitschaft im Alltag. Helfen scheint irgendwie ein menschliches Grundbedürfnis zu sein.
MUSIK: Gris Gris K: John Zorn Album: From Silence to Sorcery A: John Zorn
SPRECHERIN:
Ist es das wirklich? Oder setzt sich eher durch, wer nach der Devise verfährt:
Zitator:
Jeder gegen jeden!
Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner!
Jeder ist sich selbst der nächste!
Sprecherin:
Manche rümpfen nur die Nase beim Wort Ehrenamt – und frönen den Verlockungen der Spaßgesellschaft. Und argumentieren:
Zitator:
Was geht mich das Leid der anderen an? Mein Motto ist: „Me first!“
01 - O-Ton Martin Booms:
Das ist ja eine anthropologische Grundfrage, über die seit Anbeginn des Philosophierens gestritten wird: Ist der Mensch von Natur aus gut? (…) Da wäre etwa eine Position zu nennen wie die von Aristoteles, der gesagt hat: Der Mensch ist ein Zoon Politicon, das heißt also ein Wesen, das bezogen ist auf andere, das gar nicht als singuläres Wesen überhaupt existieren könnte.
Sprecherin:
Dr. Martin Booms, Philosoph und Leiter der Akademie für Sozialethik und Öffentliche Kultur in Bonn.
Auch der römische Philosoph Seneca hat die Bedeutung der Hilfsbereitschaft im gesellschaftlichen Zusammenleben immer wieder betont:
Zitator:
Die höchste Stufe des Gewährens ist die Güte“.
„Sei deines Wohltuens froh, auch wenn es keine Früchte trägt!“
Sprecherin:
Die heutige Gesellschaft scheint sich in zwei Hälften aufzuteilen: Einerseits die, die auch die anderen im Blick haben, und andererseits die, die nur sich selbst und ihren eigenen Vorteil sehen. Die Gründe für diesen Egoismus sind vielfältig, meint Gerhard Kruip, Professor für christliche Anthropologie und Sozialethik an der Uni Mainz:
02 - O-Ton Gerhard Kruip:
Naja, weil die Menschen eben nicht immer nur moralisch sind. Sondern weil sie egoistisch sind, weil sie sehr kurzfristig denken, weil sie vielleicht auch manchmal Situationen falsch verstehen, oder weil ihnen Empathie fehlt, also, dass sie gar nicht merken, dass es anderen schlecht geht, … ja, Menschen sind unvollkommen!
MUSIK: „ Bose-Einstein Condensation“ K: Biosphere Album: Shenzhou
Sprecherin:
Trotz aller menschlichen Unvollkommenheit: Hilfsbereitschaft ist – zumindest in der Theorie – ein Wert, der in der Gesellschaft einen ganz breiten Konsens hat. Teilen, helfen füreinander da sein: diese Ideale sind in allen großen Religionen zu finden. Wie weit sie tatsächlich gelebt werden, das steht auf einem ganz anderen Blatt.
MUSIK: „ Fallen“ K: Teho Teardo Album: Diaz (Un film di Daniele Vicari) [feat. Il balanescu quartet]
Sprecherin:
Die Frage ist: Sind uns Hilfsbereitschaft, Altruismus, Nächstenliebe in die Wiege gelegt? Und wenn ja, wann, wo und warum bleiben sie auf der Strecke?
Zahlreiche Studien kommen jedenfalls zu dem Ergebnis: Egoismus ist nicht angeboren. Der Mensch erlernt das eigennützige Handeln erst im Laufe seines Lebens.
03 - O-Ton Sylvia Wetzel:
Mein Menschenbild ist: Der Mensch ist von Natur aus gut, aber oft ist dieses grundlegende Gut-Sein überschattet von Selbstbildern, von Ansprüchen, von Ängsten, von emotionalen Blockaden, von rigiden Vorstellung und dergleichen. Ich glaube an das Gute im Menschen, aber es ist oft verdeckt.
Sprecherin:
Sylvia Wetzel ist buddhistische Lehrerin. Achtsamkeit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft sind zentrale Werte - auch in der buddhistischen Ethik. Alles Handeln soll danach ausgerichtet sein, das Leid anderer zu verringern.
04 - O-Ton Sylvia Wetzel:
In Gesten, in Handlungen, im Materiellen, in Trost, in Rat, in Unterstützung. Denn dann findet es Ausdruck und ich glaube, das ist ansteckend. Also ich denke, Gut-Sein ist ansteckend!
MUSIK: „Habitación verde“ K: Pascal Gaigne Album: „Los mundos sutiles
Zitator:
Egoismus versus Altruismus
Selbstsucht versus Hilfsbereitschaft
Sprecherin:
In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Mensch. Das spiegelt sich auch deutlich in einer Forsa-Umfrage über die wichtigsten Ziele bei der Kindererziehung:
Zitator:
Platz 1: Hilfsbereitschaft. Platz 2: Durchsetzungsfähigkeit.
Sprecherin:
Das wirkt zunächst wie ein Widerspruch. Altruismus versus Egoismus. Zwei menschliche Impulse, die offenbar pausenlos im Clinch miteinander liegen. Wer gerade siegt und wer verliert, hängt von vielen Faktoren ab.
MUSIK: MUSIK: Öldurót K: Ólafur Arnalds, Atli Örvarsson & SinfoniaNord Album: Island Songs Ólafur Arnalds
Sprecherin:
Ein Motiv für Hilfsbereitschaft könnte sein …:
Zitator:
Das eigene Pflichtbewusstsein.
05 - O-Ton Martin Booms:
Ich glaube, dass es eine Pflicht gibt, und zwar eine moralische Pflicht gibt zu helfen. Und das hängt damit zusammen, dass wir einen Bezug zum anderen Menschen haben, ein Interesse am anderen Menschen haben und deswegen auch ein Interesse am Wohlergehen anderer Menschen.
Zitator:
Ich habe euch in allem gezeigt, dass man so arbeiten und sich der Schwachen annehmen muss im Gedenken an das Wort des Herrn Jesus, der selbst gesagt hat: Geben ist seliger als nehmen.
Sprecherin:
Heißt es in der Apostelgeschichte des Lukas.
MUSIK: Öldurót K: Ólafur Arnalds, Atli Örvarsson & SinfoniaNord Album: Island Songs Ólafur Arnalds
Sprecherin:
Ein zweites Motiv, sich hilfsbereit zu zeigen, wäre also:
Zitator:
Helfen wertet auf. Verschafft ein gutes Gefühl.
Sprecherin:
Doch auch das kann ein Motiv für aktives Helfen sein:
Zitator:
Spekulation auf Hilfe, wenn es einem selbst mal schlecht geht.
Sprecherin:
Ein Tauschhandel? Vielleicht. Doch das Prinzip …
Zitator:
Gibst du mir, so gebe ich dir!
Sprecherin:
… durchzieht die gesamte Menschheitsgeschichte. Der amerikanische Evolutionsbiologe Robert Trivers prägte den Begriff des …
Zitator:
… reziproken Altruismus …
Sprecherin:
Und ist, gemeinsam mit vielen anderen, der Meinung, dass in den vergangenen fünf Millionen Jahren eine scharfe Selektion zugunsten der Entwicklung reziprok altruistischer Verhaltensweisen stattgefunden hat. Stämme, die besser kooperierten, setzten sich langfristig durch.
MUSIK: „ Bose-Einstein Condensation“ K: Biosphere Album: Shenzhou
Sprecherin:
Wenn Hilfsbereitschaft der Kitt ist, der Gesellschaften zusammenhält, wenn Gesellschaften langfristig erfolgreicher sind, wenn sich zumindest einige ihrer Mitglieder altruistisch zeigen: Was heißt das für das Individuum? Muss jeder wirklich jedem Bedürftigen helfen, der seinen Weg kreuzt? Darf man auswählen? Und wenn ja, wie? Stichwort: Straßenbettler.
Atmo Straße
Zitator:
„Ich habe Hunger!“
Sprecherin:
Geschätzt 860.000 Menschen sind in Deutschland ohne festen Wohnsitz. Der Umgang mit ihnen zeigt vielleicht am deutlichsten, wie schwer das mit der Hilfsbereitschaft ist:
06 - O-Ton Passantin 1
Was ich öfter mache, ist, dass ich zum Bäcker gehe (..), was zu essen hole und ihnen in die Hand drücke, weil ich das sinnvoller finde als wenn sie das Geld dann doch wieder in Schnaps investieren. Ich möchte eigentlich nicht für die Sucht anderer Leute verantwortlich bzw. unterstützend tätig sein.
Sprecherin:
Menschen, die völlig anders leben, die sich den bürgerlichen Idealen entziehen, bringen Hilfsbereite durchaus an ihre Grenzen: die Grenzen ihrer eigenen Ideale!
Die nämlich besagen oft: Das Butterbrot ist gut, der Alkohol ist schlecht.
Somit wird der einsichtige, entwicklungsfähige Obdachlose unterstützt, der süchtige hingegen nicht – auch, wenn er die Hilfe womöglich am nötigsten bräuchte. Ist diese Selektion ethisch korrekt? Der Philosoph Martin Booms sagt: Ja, Menschen dürfen sich je nach Situation für oder gegen Hilfsbereitschaft entscheiden:
08 - O-Ton Martin Booms:
Wenn man in die Ethik schaut, ist das durchaus differenziert: Da spricht man z.B. von so genannten „vollkommenen Pflichten“ und „unvollkommenen Pflichten, die wir gegenüber anderen Menschen haben. Eine vollkommene Pflicht wäre eine solche, wo sich gar nicht die Frage stellt, ob ich helfen „muss“. (…) Also wenn ein anderer Mensch in einer lebensbedrohlichen Situation ist, dann habe ich eine unbedingte Pflicht, eine vollkommene Pflicht, hier zu helfen.
Sprecherin:
Diese Pflicht ist sogar in unser Rechtssystem eingegangen, und ein Verstoß dagegen ist strafbar: die unterlassene Hilfeleistung. Daneben aber gibt es die unvollkommenen Pflichten:
09 - O-Ton Martin Booms:
Ich habe ich da selber mal gefragt und mein eigenes Verhalten analysiert und dabei festgestellt: Ich bin völlig inkonsequent. Also mal geb ich was, mal was mehr, was weniger, und häufig auch gar nichts. Und habe mich dann selber gefragt: Ist das eigentlich zu rechtfertigen? Beruhigenderweise bin ich zu dem Schluss gekommen: Ja! (…) Warum? Weil das eigentlich ein Beispiel wäre für eine unvollkommene Pflicht. Natürlich wenn ich die Mittel habe, bin ich grundsätzlich verpflichtet, Menschen, die in Not sind, zu helfen. Das heißt aber nicht, dass genau diese Person, genau, wenn ich da vorbeikomme, einen Anspruch genau an mich hat, dass ich ihm helfe!
Sprecherin:
Selektion muss also sein, weil niemand die ganze Welt retten kann. Ob sie immer fair ist, ist eine ganz andere Frage. Denn schnell können die, bei denen die Not am größten ist, aus dem Blickfeld verschwinden. Aus verschiedenen Gründen.
MUSIK: Öldurót K: Ólafur Arnalds, Atli Örvarsson & SinfoniaNord Album: Island Songs Ólafur Arnalds
Sprecherin:
Bisher steht also aus philosophischer Sicht nur fest: Jeder muss helfen in einer lebensbedrohlichen Situation. Das gehört zu den vollkommenen Pflichten. In allen anderen Fällen ist die Pflicht unvollkommen. Jemand kann einem bestimmten Lebewesen in einer bestimmten Situation helfen, er muss es aber nicht.
Eine gute Orientierung gibt immer das eigene Empfinden.
Zitator:
Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
Sprecherin:
Der Kategorische Imperativ ist das Grundprinzip der Ethik des Philosophen Immanuel Kant. Zwar hat er seine Schriften zu Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlicht, doch auch im 21. Jahrhundert ist dem eigentlich nichts hinzuzufügen. Einen Schritt weiter geht der US-amerikanische Philosoph John Rawls, der ein interessantes Gedankenexperiment angeregt hat:
10 - O-Ton Gerhard Kruip:
(…) Der schlägt vor, dass wir uns vorstellen sollen, (…) wir wären in einem Urzustand versammelt und würden die Regeln für die zukünftige Gesellschaft gemeinsam festlegen in diesem Urzustand, ohne allerdings zu wissen, wer wir
nachher in dieser späteren Gesellschaft sein würden. (…) Und das erzwingt dann Regeln, die die am schlechtesten Gestellten so gut wie möglich stellen.
Differenzprinzip‘ nennt Rawls das. Und da würde man eben auch sagen: Niemand weiß, ob er in so eine Notlage hineingerät, also wird er im Urzustand unter dem Schleier des Nichtwissens für Regeln sorgen, die auch Menschen in solchen Notlagen noch eine Hilfe sein können. Eine Unterstützung anbieten.
Sprecherin:
In einer Welt, in der alle dem Rawl`sche Gedankenexperiment folgten, gäbe es womöglich fast paradiesische Zustände: Eine Welt des Miteinanders, eine Welt, in der Menschen Empathie für alle Lebewesen empfänden. Einer Welt voller Nächstenliebe. Das aber führt automatisch zu der Frage:
Zitator:
Wer ist eigentlich der „Nächste“?
Sprecherin:
An dem Punkt wird es richtig schwierig: Wo fängt man an? Und wo hört man auf in diesem endlosen Meer aus Leid?
Zitator:
Ein Übel, das erwartungsgemäß auch uns selbst oder einen der Unsrigen treffen könnte (…) Ferner haben wir Mitleid mit denen, die uns bezüglich Alter, Charakter, Gewohnheiten, sozialer Stellung und Herkunft ähnlich sind.
Sprecherin:
Schrieb schon Aristoteles in seiner Rhetorik und war damit der Erste, der den Versuch machte, Mitleid als eine ganz zentrale Voraussetzung für Hilfsbereitschaft zu definieren. Viele sprechen heute eher vom Mitgefühl. Wer mit Lebewesen mitfühlt, wird den Impuls verspüren, zu helfen, etwas gegen diese Not zu tun.
MUSIK: Öldurót K: Ólafur Arnalds, Atli Örvarsson & SinfoniaNord Album: Island Songs Ólafur Arnalds
Sprecherin:
So kann also auch dies ein Motiv sein zu helfen:
Zitator:
Helfen aus dem Impuls des Berührtseins heraus.
Sprecherin:
Menschen helfen am ehesten dort, wo sie sich zugehörig fühlen: in der Familie, im Freundeskreis, am Wohnort. Alles, was ‚fern‘, ‚ganz weit weg …‘ ist, gehört eher nicht dazu. Hier kann viel einfacher die Maschinerie aus Abwehr und Ignoranz angeworfen werden:
Zitator:
Was geht mich das an? Viel zu weit weg!
Sprecherin:
Der Sozialethiker Gerhard Kruip findet, dass das aus ethischer Sicht zu kurz gedacht ist:
11 - O-Ton Gerhard Kruip:
Unter Philosophen ist das allerdings umstritten. Also Peter Singer z.B. der sagt, dass die räumliche Distanz eigentlich keinen Unterschied machen darf,
wenn wir also erfahren, dass es große Not in anderen Ländern gibt, und wir können etwas gegen diese Not tun, z.B. indem wir Geld spenden, dann sind wir verpflichtet, das zu tun.
Sprecherin:
Helfen, wo die Not am größten ist. Laut dieser Maxime wären Menschen in Syrien, dem Jemen oder der Sahelzone die „Nächsten“, die die Hilfe am nötigsten hätten. Ihnen aber fühlen sich viele kaum verbunden.
Zitator:
Das Wenige, das du tun kannst, ist viel – wenn du nur irgendwo Schmerz und Weh und Angst von einem Wesen nimmst, sei es Mensch, sei es irgendeine Kreatur. Leben erhalten ist das einzige Glück.
Sprecherin:
Albert Schweitzer, Theologe und Kulturphilosoph.
Hilfsbereitschaft für nicht-menschliche Kreaturen ist weitaus seltener.
Ein Blick in die Spendenstatistik 2017 des Statistischen Bundesamtes zeigt: Menschen helfen vor allem Menschen.
Zitator:
Knapp 78 Prozent wurden für humanitäre Zwecke gespendet, hingegen nur 2,7 Prozent für den Naturschutz
MUSIK: Öldurót K: Ólafur Arnalds, Atli Örvarsson & SinfoniaNord Album: Island Songs Ólafur Arnalds
Sprecherin:
Neben Pflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein oder Mitgefühl gibt es aber noch ein weiteres Motiv zu helfen:
Zitator:
Helfen macht Spaß!
Sprecherin:
Ist daran etwas verkehrt? Nein, sagt die buddhistische Lehrerin Sylvia Wetzel. Einzig kontraproduktiv ist Helfen aus dem reinen Gefühl der Verpflichtung und der Selbstaufwertung:
12 - O-Ton Sylvia Wetzel
Wenn es uns schwerfällt, dann stimmt es nicht! Dann ist es vermutlich so, dass wir uns selber eher was Gutes tun, wenn wir Gutes tun. Dass wir unser eigenes Selbstbild damit stärken „Ja, ich bin ein guter Mensch! Ich spende immer Geld!“ Dann spende ich zwar Geld und tue vielleicht auch etwas Gutes für eine andere Person aber in erster Linie blase ich meine Selbstbild auf.
Sprecherin:
Schmälert also die Hilfsbereitschaft mit Hintergedanken das gute Ergebnis?
In der Philosophie, so Martin Booms, wird die Frage kontrovers diskutiert:
13 - O-Ton Martin Booms:
„Ist doch egal, was ich mir denke, Hauptsache, es kommt an bei den Bedürftigen!“ Das wäre eine utilitaristische Position, d.h. eine ethische Position, die sagt: Wenn wir bewerten wollen, was gut und was schlecht ist, dann müssen wir immer auf die Effekte, auf das Ergebnis unserer Handlungen schauen. Die andere große ethische Schule, die deontologische Schule (…), die würde eher sagen: Nein, es kommt darauf an, dass ich eine Haltung habe, die auf das Gute abzielt, (…) auch wenn der Effekt vielleicht gar nicht so eingetreten ist.
Sprecherin:
Helfen ohne Hintergedanken – ein edles Ziel. Aber keinesfalls ein realistisches.
Ganz oft steckt auch dieses Motiv hinter dem Altruismus:
Zitator:
Dank und Anerkennung.
MUSIK: „Baud“
14 - O-Ton Sylvia Wetzel
Ja die Frage ist: Wenn ich etwas Gutes tue und dafür einen Dank erwarte, dann wäre das in meiner Definition nicht wirklich etwas Gutes tun, das wäre ein Handel: „Ich gebe Dir Geld und Du gibst mir Dankbarkeit und Wertschätzung!“ Das ist ein Handel!
Zitator:
Gabe und Gegengabe
Sprecherin:
Der französische Soziologe und Philosoph Marcel Mauss (sprich: Moos) hat herausgefunden, dass dieses ökonomische Prinzip in allen Gesellschaften vorhanden ist. Die rein selbstlose Tat ohne jegliche Erwartung ist die Ausnahme.
Auch viele Unternehmen meinen, dass ihnen Altruismus gut zu Gesichte stünde: Kaum ein Betrieb, der nicht mindestens ein soziales Projekt am Start hat. Der Philosoph Martin Booms berät Unternehmen und warnt: Diese Aktionen gehen oft nach hinten los:
15 - O-Ton Martin Booms:
Da gibt es ganz viele Unternehmen, die etwas machen, „Corporate Responsibility“, also Unternehmensverantwortung, (…) also die kümmern sich um Umweltprobleme in der Stratosphäre, um den Regenwald, die bekämpfen den Hunger in Afrika… (…) aber das Erste, worauf ein Unternehmen achten müsste, wäre zu schauen: Welche schädlichen Effekte oder bedrohlichen Effekte gehen denn von meinem unmittelbaren unternehmerischen Handeln aus?
Sprecherin:
Egal ob Kinderarbeit, Umweltverbrechen oder Anlegerbetrug: Gutes Tun heißt auch: Schlechtes zu unterlassen!
16 - O-Ton Martin Booms:
Und wenn Unternehmen dahin kämen, zunächst einmal sich ganz zu fokussieren auf die Bereiche, die tatsächlich in einer unmittelbaren moralischen Verantwortung sind, wäre die Welt eine viel Bessere, im Vergleich zu einer Welt, wo alle (…) diese philanthropischen Aktionen machen, wo man gerne Verantwortung wahrnimmt, aber immer woanders!
Sprecherin:
Martin Booms hält wenig von glanzvollen Wohltätigkeits-Events – auch wenn am Ende dabei sehr viel Geld für einen guten Zweck zusammenkommt:
17 - O-Ton Martin Booms:
Wir brauchen gar nicht so sehr diese großen spektakulären Charity-Aktionen. Das hat dann wieder was von Glanz und Reputation und von Image, und alle fühlen sich gut …! Nein, es geht darum, im Alltag, in den ganz kleinen Dingen, die in der Summe aber riesig sind, ein Bewusstsein zu entwickeln.
Sprecherin:
Andererseits sind es aber vor allem die großen Charity-Aktionen, die Millionen für den guten Zweck einspielen. Zahlreiche humanitäre Projekte sind abhängig von diesen großen Finanzspritzen. Warum sollten sich die edlen Spender nicht auch ein bisschen gut dabei fühlen?
MUSIK: „ Bose-Einstein Condensation“ K: Biosphere Album: Shenzhou
Sprecherin:
Trotzdem: Hilfsbereitschaft ist viel mehr als ein einmaliges ‚tolles Erlebnis‘! Es ist nicht weniger als eine Haltung. Eine, die sich durch das gesamte Leben zieht.
Wirklich hilfsbereite und mitfühlende Menschen gehen mit offenem Blick durch die Straßen. Sie schauen hin. Und fragen:
Zitator:
Was brauchst du wirklich? Wie kann ich dich unterstützen – und zwar ohne dich zu beschämen?
Sprecherin:
Alexander Letzel, sozialpolitischer Referent bei der Caritas, fordert einen Richtungswechsel im Umgang mit Bedürftigen. Helfen heißt sehr viel mehr als einem Straßenbettler einen Euro zu geben: nämlich genau hinschauen und genau hinhören:
18 - O-Ton Alexander Letztel:
Das geht durch Gespräche! Also wenn Sie sich wirklich die Zeit nehmen, auf die Bedürfnisse, auf die Situation einzugehen des Menschen, mit dem Sie da konfrontiert sind, dann werden Sie auch feststellen, dass viele auch dankbar sind für menschliche Spende sozusagen.
Das heißt für Nähe, für ein Gespräch, für ein paar nette Worte, es geht nicht immer nur um Geld, sondern die Isolation und die Einsamkeit ist auch ein großes Thema, da hilft dann menschliche Wärme.
Sprecherin:
Alexander Letzel will ermutigen, die Scheuklappen abzulegen. Sich einzulassen, Fragen zu stellen – um dann am Ende eine gute Entscheidung zu treffen. Ganz gleich wie die aussieht:
19 - O-Ton Alexander Letzel:
Das ist sehr anstrengend! Das ist uns auch bewusst! Das ist jedem selbst überlassen, wie er hilft, uns ist wichtig hinzugucken. Und den Leuten tatsächlich zu begegnen. Und auch anzunehmen, dass es solche Situationen gibt und das eben aus dem Halbdunkel herauszuholen.
Sprecherin:
Das erfordert aber auch, aus der eigenen Starre herauszukommen, aus dem Automatismus, mit dem Leid schnell und effektiv abgewehrt wird.
Wer sein eigenes Leid anerkennt – wird auch durchlässiger für das Leid anderer. Das erfordert ein hohes Maß an Empathie auf der einen und Stärke auf der anderen Seite. Es heißt: den eigenen Horizont verlassen, das Herz für andere Menschen, andere Lebewesen zu öffnen.
MUSIK: „ Fallen“ K: Teho Teardo Album: Diaz (Un film di Daniele Vicari) [feat. Il balanescu quartet]
Zitator:
Beim Anblick des Leidens eines anderen, auch eines Tieres, identifizieren wir uns derart, dass wir im fremden Leid unser eigenes Leiden fühlen und erkennen. Ein bedeutsamer Schritt darüber hinaus und eine Erweiterung des Mitleids besteht darin, im angeschauten Leid das Leiden der ganzen Welt zu erkennen. …
Sprecherin:
Arthur Schopenhauer
Sprecherin:
Menschen, die ihre Fähigkeiten für das Gemeinwohl einsetzen, merken plötzlich, dass ihr Tun einen Unterschied macht. In dem Moment entdecken sie womöglich das, wonach sie ihr Leben lang gesucht haben: das Gefühl von Sinn. Einen größeren Gewinn gibt es kaum.
MUSIK: „ Bose-Einstein Condensation“ K: Biosphere Album: Shenzhou
Sprecherin:
Und damit verschwimmen die Grenzen zwischen Geben und Nehmen. Es geht nicht mehr um geben müssen, sondern um geben dürfen.
Für den Philosophen Martin Booms ist die Frage nach der Hilfsbereitschaft am Ende ganz eng verknüpft mit nichts Geringerem als der Frage nach der menschlichen Würde:
20 - O-Ton Martin Booms:
Ich glaube, dass das für die Frage, die ja ein jeder für sich spätestens am Ende des Lebens einmal zu beantworten haben wird: „Habe ich richtig gelebt?“ eine ganz entscheidende sein wird. Denn die materiellen Vorteile oder auch eine Machtposition, die ich mir durch Übervorteilung anderer erarbeitet habe, die wird am Ende dahinschmelzen. Insofern kann man diese Trennung zwischen anderen und mir selber, möglicherweise gar nicht machen. Die Integrität, die ich anderen zukommen lasse, ist eine Integrität, die ich in mir selber habe. Und das ist für ein gelungenes, würdevolles Leben eine ganz entscheidende Voraussetzung.
Stopp
Banknoten ausgeben und Goldmünzen verwalten - dafür wurden einst Zentralbanken geschaffen. Heute müssen sie unsere Banken regelmäßig vor dem Kollaps retten. Im modernen Finanzmarktkapitalismus läuft nichts mehr ohne die mächtigen Geldmanager. Wie kam es dazu? Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann
Technik: Heiko Hinrichs, Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Joscha Wullweber, Politikwissenschaftler und Professor an der Universität Witten/Herdecke
Leon Wansleben, Soziologe und Gruppenleiter an Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln
Nils Herger, Ökonom und Dozent an der Universität Bern
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Literatur:
Nils Herger: Wie funktionieren Zentralbanken? Geld- und Währungspolitik verstehen. Springer/Gabler, 2015
Joscha Wullweber: Zentralbankkapitalimus. edition Suhrkamp, 2021
Leon Wansleben: The Rise of Central Banks. State Power in Financial Capitalism. Har
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SPRECHERIN
Juli 2012 auf einer Investorenkonferenz in London. Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, tritt vor das Mikrofon und hält eine kurze Rede. Mitten in seinem Vortrag hält er inne, schaut ins Publikum und sagt mit Nachdruck die folgenden Worte:
01 / TON
Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.
02 OT (Wullweber)
Das war ja der berühmte Ausspruch: Was es auch bedeutet, ich werde auf jeden Fall den Euro retten.
SPRECHERIN
Der Politikwissenschaftler Joscha Wullweber. Er ist Professor an der Universität Witten/Herdecke.
Nicht wenige meinen: Mit diesen Sätzen hat Draghi den Euro gerettet. Zumindest aber eine weitere Eskalation der Eurokrise verhindert.
Zur Erinnerung: Nachdem in den USA eine Immobilienblase geplatzt war, mussten erst Banken und dann ganze Staaten, vor allem in Südeuropa, gerettet werden. Ob das klappt, war damals fraglich. Eine Reihe von Investorinnen und Investoren wettete darauf, dass die Eurozone zerbricht, dass also Griechenland oder Italien aus dem Euro austreten müssen, weil sie pleite sind. Bis Draghi die entscheidenden Worte sprach: Wir werden den Euro retten, whatever it takes, was immer es kostet.
03 OT (Wullweber)
Das Signal an die Finanzmärkte: Italien wird nicht Pleite gehen, weil die EZB wird da sein, und sofort haben sich die Finanzmärkte beruhigt, ohne dass Mario Draghi auch nur einen Euro ausgeben musste.
Musik: New beginning 0‘32
SPRECHERIN
Ein paar Worte des Zentralbank-Chefs genügten, um die Stimmung zu drehen. Ein Einzelfall? Keineswegs. Ein anderes Beispiel ist die Rede von Alan Greenspan 1996. Die Börsen hatten damals einen langen Aufwärtstrend hinter sich, als Greenspan, damals Chef der US-amerikanischen Zentralbank, auf einer Dinnerparty beiläufig vom „irrationalen Überschwang“ sprach.
04 OT (Wullweber)
Und in dem Fall war das so, dass Greenspan meinte, er ist sich nicht ganz sicher, ob die guten Entwicklungen auf dem Finanzmarkt in nächster Zeit so weitergehen. Führte dazu, dass sofort rein interpretiert wurde; Oh je, es könnte sein, dass etwas abstürzt, also verkaufe ich. Und dann fingen diverse Leute an zu verkaufen. Das führt dann zu einer Spirale, die immer weiter runterzieht.
SPRECHERIN
Draghis entschiedene Worte in der Eurokrise, Greenspans Zweifel im Börsenhoch: Die Zeiten waren sehr verschieden, aber beide Male haben Zentralbank-Chefs viele Milliarden an Euro oder Dollar bewegt – allein durch ein paar Worte. Wie kann das sein?
06 OT (Wullweber)
Finanzmärkte sind hoch psychologisch, emotional getrieben. Und mit diesen Emotionen, mit der Psychologie müssen Zentralbanken, die ja die Hauptstabilisatoren dieses Systems sind, auch umgehen. Und das tun sie auch.
SPRECHERIN
Hauptstabilisatoren, weil ohne sie nichts mehr läuft. Joscha Wullweber hat dafür den Begriff Zentralbankkapitalismus geprägt.
07 OT (Wullweber)
Was die Zentralbanken heute so mächtig macht, ist, dass eigentlich das gesamte Finanzsystem ohne die permanenten Interventionen der Zentralbanken nicht mehr funktionieren würde.
SPRECHERIN
Geplant war das nicht. Vielmehr war es so, dass die Zentralbanken im Laufe der Zeit an Bedeutung gewannen. Die ersten Zentralbanken gründeten sich im 17. Jahrhundert.
08 OT (Herger)
Das sind insbesondere zwei Zentralbanken, die es heute noch gibt.
SPRECHERIN
Sagt der Ökonom Nils Herger. Er ist Dozent an der Universität Bern.
09 OT (Herger)
Das ist einerseits die schwedische Reichsbank. Und die zweitälteste ist die Bank of England.
Musik: 2.Satz Bach 0‘25
SPRECHERIN
In Schweden lief das mit den Zahlungen damals ziemlich schleppend – im wahrsten Sinne des Wortes. Eine oft verwendete Kupfermünze wog knapp 20 Kilogramm. Ein echtes Schwergewicht. Deshalb bot der Banker Johan Palmstruch an, die Münzen in seiner Bank zu verwahren und stattdessen Papierquittungen auszugeben. Die Idee überzeugte den schwedischen König. Palmstruchs Bank erhielt das hoheitliche Recht, Banknoten auszugeben. Die Quittungen kursierten bald als Zahlungsmittel, um größere Beträge zu begleichen. Papiergeld statt Kupfermünzen – das war neu. Die Innovation bestand darin, …
10 OT (Herger)
… dass eine private Gesellschaft vom Staat sozusagen das Recht erworben hatte, um in einem gewissen Gebiet eben Papiergeld, Banknoten auszugeben als ein innovatives Zahlungsmittel damals.
SPRECHERIN
Palmstruchs Bank ging ein paar Jahre später Pleite, aber seine Idee hatte sich bewährt. Die Regierung gründete 1688 die Schwedische Nationalbank, die Vorläuferin der heutigen Zentralbank Schwedens. In Großbritannien lief es ähnlich. 1694 bekam die Bank of England das Recht, Banknoten auszugeben. Die englische Krone brauchte dringend Geld für den Krieg gegen Frankreich. Ein häufiges Motiv für die Gründung von Zentralbanken.
11 OT (Wansleben)
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Zentralbanken eigentlich ausschließlich zur Kriegsfinanzierung gegründet.
SPRECHERIN
Der Soziologe Leon Wansleben. Er ist Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.
12 OT (Wansleben)
Und die Idee bei der Kriegsfinanzierung war eigentlich: Man gründet eine Zentralbank, die so eine Art Fonds ist, in denen reiche Bankiers, die Kapitalisten der jeweiligen Gesellschaften, einzahlen und der Regierung diesen Kredit zur Verfügung stellen für die Kriegsführung.
SPRECHERIN
Weil das gut funktionierte, gründeten sich nach und nach überall in Europa Zentralbanken. Man nennt sie auch Notenbanken, weil sie eben Banknoten ausgeben.
Musik: Precision on demand 0‘25
SPRECHERIN
Mit der Zeit eröffneten auch normale Geschäftsbanken Konten bei der Zentralbank. Für sie war das praktisch: Sie konnten dort ihre Goldbarren lagern und sich Kapital borgen. Die Zentralbanken wurden somit jeweils zur „Bank der Banken“. So werden sie heute noch oft genannt.
Nach und nach entstand ein zweistufiges System mit einer Zentralbank im Mittelpunkt. Unumstritten war das allerdings nicht. Eine einzelne Bank, die so eine zentrale Stellung innehat. Und die auch noch Papiergeld drucken darf. Das warf Fragen auf: Warum ausgerechnet diese Bank? Und ist das Papier, das sie ausgibt, überhaupt richtiges Geld? Solche Fragen wurden im 19. Jahrhundert intensiv diskutiert – und stellen sich auch heute wieder: beim digitalen Geld.
15 OT (Herger)
Es ist auch eine technische Innovation und es ist nicht ganz klar, was ist hier die Rolle der Zentralbank? Soll man das jetzt einfach dem Wettbewerb überlassen? Sie kennen diese Kryptowährungen, Bitcoin, es gibt ganz viele verschiedene Währungen. Soll man das regulieren? Soll sie ein eigenes elektronisches Zentralbankgeld ausgeben? Diese Diskussionen, die kommen heute wieder, in einem anderen technischen Umfeld.
SPRECHERIN
Die Skepsis gegenüber der herausragenden Stellung einer Zentralbank führte mancherorts dazu, dass sie erst relativ spät gegründet wurde.
16 OT (Herger)
Bekannte Beispiele sind vor allem die USA, die das auch sehr lange beibehalten hat, bis zur Gründung des Federal Reserve Systems 1914.
Musik: Dark waters (reduziert) 0‘32
SPRECHERIN
Dass schließlich dort doch eine Zentralbank gegründet wurde, lag am äußerst instabilen US-Finanzsystem. Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in den USA regelmäßig Bankenpleiten, die Wirtschaftskrisen nach sich zogen. Deshalb kam man auch hier zu der Überzeugung: Es braucht eine zentrale Bank, die im Notfall mit Geld aushelfen kann. Eine Bank mit Reserven, das Federal Reserve System, besser bekannt als die Fed.
17 OT (Wansleben)
Und die Idee hier ist, dass die Zentralbank den anderen Banken Liquidität bereitstellt, wenn die Kunden ganz schnell ihr Papiergeld gegen Gold eintauschen wollen.
SPRECHERIN
Lange Zeit gab es ein Anrecht darauf, die Papierquittungen gegen Gold oder andere Edelmetalle einzulösen. Nach und nach wurde die Einlösepflicht allerdings abgeschafft. Das war eine längerfristige und keine lineare Entwicklung. Aber mit Beginn des Ersten Weltkriegs suspendierten eigentlich alle am Krieg beteiligten Länder die Goldeinlösepflicht. Auf diese Weise konnten die Zentralbanken freier agieren, wenn das Geld sehr knapp war – und das war es in Kriegszeiten praktisch immer.
18 OT (Wansleben)
Die Idee war dann nicht mehr, dass es in der Zentralbank Gold gibt, das den Banken bereitgestellt wird, sondern dass die Banken selbst nur Reserven in Form von Schulden bei der Notenbank haben. Und die Notenbank tun letztlich nichts anderes als Schulden auszugeben als Reserven.
Musik: Prayer wheel 0‘51
SPRECHERIN
Die Zentralbanken sicherten die Kredite der Geschäftsbanken also nicht mit zurückgelegtem Gold ab, sondern mit selbst geschaffenem Geld – und genauso funktioniert das auch heute noch. Vor allem in Krisenzeiten stellen Zentralbanken auf diese Weise große Mengen an Geld bereit. Oft heißt es dann, die Zentralbanken werfen die Notenpresse an, wobei der Anteil der physischen Geldscheine heute verschwindend gering ist. Aber das Bild der Notenpresse ist geblieben – vielleicht weil es so schwer vorstellbar ist, dass solche enormen Summen mehr oder weniger aus dem Nichts erschaffen werden.
Mit der Aufgabe, im Krisenfall schnell Liquidität bereitzustellen, wandelte sich jedenfalls die Rolle der Zentralbanken. Sie wurden zum Lender of Last Resort, zum „Geldleiher der letzten Instanz“.
19 OT (Herger)
Da findet schon eine gewisse Wandlung der Zentralbank statt in dem Sinne, dass sich die Zentralbank – zumindest während der Krise – von einer rein privaten Institution hinwendet zu einer Institution, die mehr das öffentliche Interesse im Auge behalten muss.
Musik: Under a dark sky 0‘49
SPRECHERIN
Allerdings brauchte es erst noch eine richtig große Krise, bis sich diese Sichtweise endgültig durchsetzte. 1929 kam es zur Großen Depression, eine sehr schwere Wirtschaftskrise. Sie begann 1929 mit einem Absturz der New Yorker Börse. Viele Banken und Unternehmen bekamen Schwierigkeiten, einige gingen Pleite. Das brachte weitere Banken und Unternehmen in Bedrängnis. Auf diese Weise zog die Krise immer weitere Kreise. Ein beherztes Eingreifen der Zentralbanken, das Anwerfen der Notenpresse, hätte den Teufelskreis vermutlich stoppen können. Allerdings stellten die Zentralbanken damals nur wenig Geld zur Verfügung – aus Angst, dass zu viel Geld den Markt flutet und es zu Inflation kommen würde. Aber so kam es zum Gegenteil: Die Deflation, also die Aufwertung der Währung, verschlimmerte die Lage – die Nachfrage sank, die Preise fielen, die Unternehmen machten weniger Gewinn, Menschen verloren ihren Job, was wiederum zu sinkender Nachfrage führte…. Bis Anfang der 1930er hatten sich in den USA die Löhne halbiert, ein Drittel der Menschen war arbeitslos, viele Menschen hungerten. In Europa sah es nicht viel besser aus. Ein Desaster, das Forschende im Nachgang stark beschäftigte. Viele kamen zu der Überzeugung, dass Zentralbanken die Wirtschaft sehr viel stärker lenken sollten, und zwar nicht nur in Krisenzeiten. Einer, der für solche Vorschläge bekannt wurde, war der Ökonom John Maynard Keynes. Die Idee war, …
20 OT (Herger)
... dass eben die Geldpolitik hier im Dienst der Konjunktur und Preissteuerung eigentlich umfassend eingesetzt werden kann.
SPRECHERIN
Über die Geldpolitik hat eine Zentralbank großen Einfluss auf die Wirtschaft. Das ist auch der Grund, warum etwa die EZB Schlagzeilen macht, wenn sie die Zinsen hebt oder senkt. Niedrige Zinsen führen oft dazu, dass Banken günstigere Kredite vergeben. Unternehmen investieren dann mehr und Menschen kaufen sich mehr Häuser oder Autos auf Pump. Das stimuliert die Wirtschaft, Löhne und Preise gehen tendenziell nach oben. Aber es geht auch andersrum: Steigen die Preise zu schnell, droht also eine Inflation, hebt die Zentralbank die Zinsen an. Die Menschen kaufen dann weniger auf Kredit, Unternehmen investieren zurückhaltender, die Wirtschaft wird eher gedrosselt. Das ist weniger populär – und führt in einigen Ländern regelmäßig zu Konflikten mit den Regierungen. Deshalb pochen viele darauf, dass Zentralbanken unabhängig sind.
21 OT (Herger)
Der Vorteil der Unabhängigkeit ist, dass man sagt, okay, wir müssen nicht direkt gewählt werden. Wir haben das Mandat, die Preisstabilität zu gewährleisten, und dann können sie das eben noch auch tun.
Wait and hope Red. Version 0‘50
SPRECHERIN
In Deutschland ist die Unabhängigkeit der Zentralbank ein großes Thema. Das liegt auch an der Rolle der hiesigen Zentralbank in den 1920er und 30er Jahren. In der Weimarer Republik agierte die Zentralbank ganz im Sinne der Regierung. Sie druckte Unsummen an Reichsmark, weil man glaubte, die Reparationen, also die Kriegsschulden, nicht anders begleichen zu können. Das führte schließlich zu einer Hyperinflation, in der das Geld zuletzt so schnell an Wert verlor, dass Brot mehrere Millionen Reichsmark kostete. Erst eine Währungsreform schaffte Abhilfe.
In den 1930er Jahren bauten die Nationalsozialisten die Zentralbank dann in ihrem Sinne um. Ab 1939 unterstand sie sogar direkt Reichskanzler Adolf Hitler. Auf diese Weise konnte er seine Vorhaben quasi selbst finanzieren. So etwas sollte es nie wieder geben.
22 OT (Wullweber)
Es gibt einen sehr guten Grund, weswegen die Bundesbank als neutrale Instanz nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurde, weil die natürlich im Nationalsozialismus sehr stark mit Hitler zusammen agiert hat. Und eine Lehre daraus war zu sagen: Die soll unabhängig sein.
SPRECHERIN
Das wurde denn auch in den Statuten der 1957 gegründeten Deutschen Bundesbank festgeschrieben. Daneben wollten die Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg ein stabiles Währungssystem etablieren. Im US-Städtchen Bretton Woods einigten sie sich auf ein System fester Wechselkurse.
SPRECHERIN
Insgesamt ein stark reglementiertes System, das bis Anfang der 1970er Jahre gut funktionierte.
24 OT (Wansleben)
Und dann kam es ja in den 70er Jahren zur Inflationskrise einerseits und andererseits zu immer stärkeren Liberalisierungsschüben durch die Globalisierung des Handels und der Kapitalströme, und dann brach im Prinzip diese ganze Architektur der Nachkriegszeit zusammen.
Musik: Take off 0‘19
SPRECHERIN
Bretton Woods war Geschichte. Auf die stark steigenden Preise reagierte die Bundesbank, indem sie die Zinsen erhöhte. Das gelang, die Inflation ging zurück, allerdings auf Kosten anderer wirtschaftspolitischer Ziele, meint Leon Wansleben.
25 OT (Wansleben)
Inflation war damals wahrgenommen als ein Riesenproblem und wurde dann immer stärker in den Vordergrund gestellt. Die Frage von Beschäftigung und die Frage von Wachstum wurde eher hintenangestellt.
SPRECHERIN
Soll man ein paar Prozent Inflation in Kauf nehmen, um die Wirtschaft zu stimulieren und Arbeitsplätze zu schaffen? Denn, wie gesagt, führen niedrigere Zinsen oft dazu, dass mehr investiert wird und die Menschen mehr auf Pump kaufen. Die Nachfrage steigt also, die Unternehmen machen mehr Gewinn – und stellen Leute ein. Allerdings gibt es seit vielen Jahren in der Wissenschaft Streit darüber, ob das wirklich so funktioniert. Der frühere SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt jedenfalls meinte mal:
ZITATOR
Fünf Prozent Inflation sind leichter zu ertragen als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.
Musik: Secret proofs 0‘42
SPRECHERIN
1998 wurde die Bundesbank dann Teil des Europäischen Systems der Zentralbanken. Wenige Jahre später folgte die große Finanzkrise: Eine Immobilienblase platzte, die Börsen stürzten ab, die Investmentbank Lehman Brothers musste 2008 Insolvenz anmelden. Das hatte zur Folge, dass Banken sich untereinander kein Geld mehr liehen – weil niemand wusste, wer als nächstes Pleite geht. Es fehlte an Liquidität. Die Zentralbanken sprangen ein – die Fehler der Großen Depression wollte man nicht wiederholen. So sah es insbesondere der US-amerikanische Zentralbank-Chef Ben Bernanke. Er ist ein profunder Kenner der Großen Depression – als Wirtschaftsprofessor hatte er sich jahrelang damit beschäftigt. Für ihn war klar: Es muss Geld in das System. Aber wie? Zunächst senkten die Zentralbanken die Zinsen.
26 OT (Wullweber)
Hatte keine Wirkung. Finanzkrise ging weiter. Das zweite Instrument ist dann: Der Lender of Last Resort, dass gesagt wird, okay, wir leihen den Banken Geld und da reden wir schnell von mehreren 100 Milliarden. Das war der zweite Schritt, ist völlig verpufft. Und dann hat man gemerkt, der Krisenherd liegt gar nicht im bekannten Finanzmarktsystem, sondern in diesem sogenannten Schattenbanken-System.
SPRECHERIN
Schattenbanken heißen so, weil sie – anders als reguläre Banken – kaum reguliert sind. Dazu zählen Investmentbanken amerikanischer Art, aber auch Kreditversicherer und Hedgefonds wie BlackRock.
27 OT (Wullweber)
Und was die Federal Reserve dann gemacht hat, ist zu sagen, sie fangen nun an, das Schattenbank-System zu stabilisieren, indem sie den Akteuren, die hier das Geld brauchen, das Geld zur Verfügung stellen.
Musik: Incorrectness (reduziert) 0‘27
SPRECHERIN
Die Schattenbanken bekommen von Zentralbanken praktisch unbegrenzt liquide Mittel – so etwas war vorher undenkbar. Wie auch andere Maßnahmen, die während der Finanz- und Eurokrise zum Einsatz kamen: Negativzinsen, Ankauf von Staatsanleihen im großen Stil und so weiter. Eine in geldpolitischer Hinsicht irre Zeit.
SPRECHERIN
Aber die Zentralbanken machen das nicht ohne Grund. Denn ohne die Unmengen an Liquidität droht das Finanzsystem zusammenzubrechen. Und deswegen wird jede kleine Äußerung, und sei sie noch so beiläufig, von Zentralbankchefs und -chefinnen genauestens verfolgt. Stützen sie das System weiter? Oder gibt es Andeutungen, dass die Gelder zurückgefahren werden?
Deshalb diskutieren Forschende inzwischen darüber, ob das, was Zentralbanken tun, überhaupt legitim ist, ob es noch ihrem Mandat entspricht. Denn wenn für Bankenrettungen solch enorme Mengen Geld nötig sind, bleibt das nicht ohne Nebenwirkungen.
29 OT (Wansleben)
Was nicht beachtet wird, ist, dass Inflationsbekämpfung oder auch die Rettungsaktionen, die Zentralbanken durchführen für das Bankensystem, immer inhärent mit anderen Aspekten der wirtschaftlichen Entwicklung zusammenhängen. Zum Beispiel Inflationsbekämpfung hat Folgen für Beschäftigung und auch für langfristige Wachstumsaussichten. Finanzmarktstabilisierung hat wiederum Auswirkungen auf die Möglichkeit zukünftiger Krisen usw.
SPRECHERIN
Leon Wansleben meint deshalb, es sei an der Zeit die Rolle der Zentralbanken zu überdenken.
30 OT (Wansleben)
Das Problem ist, dass wir keine brauchbaren Konzepte im Moment haben, wie Regierungen mit Zentralbanken kooperieren können. Die Zentralbanken agieren mit engen, oft auch kurzfristigen Zielen, …
SPRECHERIN
Etwa dem Ziel, die Inflation niedrig zu halten.
Forts. 30 OT
… es gibt aber keine kohärenten, holistischen, langfristigen Ziele, an denen sich Regierungen und Zentralbanken gemeinsam orientieren.
SPRECHERIN
Eine Neuausrichtung der Zentralbankpolitik fordern einige Forschende mit Blick auf die Klimakrise. Denn für die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft werden noch große Summe nötig sein. Joscha Wullweber nennt Beispiele, wie Zentralbanken hier aktiv werden könnten.
31 OT (Wullweber)
Sie könnten sagen, wir geben Banken für grüne Investitionen einen günstigen Refinanzierungssatz. Man könnte auch sagen, Banken, die sehr viel in fossile Industrie investieren, müssen mehr Zinsen zahlen, könnte man auch machen. Zentralbanken könnten sogar auch sagen, in Sachsen oder Nordrhein-Westfalen gab es eine Riesenüberschwemmung, die lokalen Behörden haben Finanzierungsschwierigkeiten. Wir überweisen jetzt einfach mal 1 Milliarde, auch das könnte eine Zentralbank im Zweifelsfall tun.
SPRECHERIN
Nils Herger sieht solche Vorschläge kritisch. Er meint, dass es schwierig sei, wenn Zentralbanken mehreren Zielen verpflichtet sind.
32 OT (Herger)
Das hat in der Vergangenheit immer zu Problemen geführt, wo man sagt, die Zentralbank sollte ein stabiles Geld haben, aber auch noch den Staat finanzieren, vielleicht Konjunkturpolitik betreiben. Dann bestand immer die Gefahr, dass man sich dann letztlich verzettelt hat und eigentlich keines dieser Ziele richtig verwirklicht hat.
Climate change B 0‘34
SPRECHERIN
Was ist die Aufgabe einer Zentralbank? Banknoten ausgeben? Preise stabil halten? Schattenbanken retten? Digitales Geld emittieren? Die Klimatransformation finanzieren? Die Geschichte der Zentralbanken zeigt, dass sich ihre Rolle immer weiter gewandelt hat, vor allem in Krisenzeiten. Es könnte der Moment sein, wo sie sich wieder wandeln.
Ernst Bloch ist der Philosoph der Hoffnung. Ein Mensch im Zeitalter der Extreme, den auch im Anblick der Katastrophe das Vertrauen in die Utopie nicht verlässt. Ein Denker, der auch uns das Hoffen lehren kann. Von Jerzy Sobotta (BR 2021)
Autor dieser Folge: Jerzy Sobotta
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Stefan Wilkening
Technik: Urusula Kirstein
Redaktion: Bernhard Kastner
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Sie stirbt bekanntlich zuletzt: die Hoffnung. Doch zuvor kann sie einiges bewirken, sie kann unerkannte Kräfte mobilisieren, individuelles Leid lindern – aber auch den Blick auf die Welt verändern. HIER
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Sind Vampire nur Figuren der Legende? Tatsächlich leben in Südamerika drei Fledermausarten, die sich ausschließlich von Blut ernähren. Ihre Vorliebe bringt diesen Flattertieren - die übrigens gut zu Fuß sind - einige Schwierigkeiten. Von Christiane Seiler
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprach: Kathrin von Steinburg
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Simon Ripperger, Fledermausexperte, Landesamt für Umwelt in Bayern;
Sebastian Stockmaier, Verhaltensbiologe in Knoxville, Tennessee;
Remigiusz Kozinsky und Olga Polak, Neuer Zoo Poznan
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Linktipps:
Carter Lab: Website des Verhaltensbiologen Gerald Carter von der Ohio State University. Mit regelmäßigen Updates zur Vampirfledermausforschung und diversen Videos mit spannenden Details aus dem Leben dieser Tiere. HIER
Literatur:
Uwe Schmidt, Vampirfledermäuse. Spektrum Akademischer Verlag; 1. Edition (7. Dezember 1995). Die Monographie, zuerst erschienen 1979, ist die einzige umfassende deutschsprachige Publikation über das Thema.
Sebastian Stockmaier: Bat behavioral immune responses in social contexts: current knowledge and future directions. Artikel zu Fragestellungen über das Sozialverhalten erkrankter Vampirfledermäuse
https://www.frontiersin.org/journals/immunology/articles/10.3389/fimmu.2023.1232556/full
Simon Ripperger und Gerald Carter: Social foraging in vampire bats is predicted by long-term cooperative relationships. Artikel über die Tragfähigkeit von Freundschaften unter Vampirfledermäusen. https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.3001366
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 OT Kozinsky / Polak
You can see one of them here, on the left side, between the wooden trunk and the wall. (läuft weiter, als Atmo unter folgendem Text)
Sprecherin
Zwei Mitarbeiter des Neuen Zoos von Poznan zeigen mir eine Rarität: Die Vampirfledermäuse. 1996 bezogen die ersten Exemplare ihren Käfig im Nachttierhaus, eine Gabe des Zoologischen Instituts der Universität Bonn. Nirgendwo sonst in Europa werden Vampirfledermäuse noch im Zoo gehalten. Aber auch hier in Polen geht ihre Ära wohl zu Ende.
02 OT Kozinsky / Polak
They are not endangered species. Our main task is breeding of endangered species. And we try to concentrate on this. We are not an entertainment place. We are more educational and breeding center… Polak: And today this cave is too small for bats. Kozinsky: We try to be better places for our inhabitants…
Sprecherin (auf vorigen O-Ton)
Die Vampirfledermäuse seien keine bedrohte Art, erklären Remigiusz Kozinsky, der im Zoo für die Bildungsarbeit zuständig ist, und Olga Polak, die Kuratorin des Nachttierhauses. Ihr Zoo sei nicht zum Entertainment da, sondern für Umweltbildung und die Zucht bedrohter Tierarten. Außerdem sei der Käfig mittlerweile zu klein, die Standards haben sich geändert.
03 OT Kozinsky / Polak
Olga, close the door... ((läuft weiter als Atmo unter folgendem Text)
Sprecherin
Die beiden geleiten mich vorsichtig in den Lebensbereich der Vampirfledermäuse, der mit einer Glasscheibe zum Publikumsbereich abgetrennt ist. Innen brennt Licht, noch ist es Tag für die nachtaktiven Tiere.
04 OT Kozinsky / Polak
Autorin: There is one … (ab hier als Atmo unter folgendem Text)
Musik 2: Plus minus aus: Silver kobalt – 47 Sek
Sprecherin
An der hinteren Wand sehe ich einen nachgebildeten hohlen Baumstamm, darin zwei kleine dunkel behaarte Fledermäuse mit spitzen Ohren und runden aufgeworfenen Nasen kopfüber von der Decke hängen. Als wir uns nähern, verziehen sie sich weiter nach hinten, ins Dunkle. Auf dem Boden, in einer kleinen Edelstahlschüssel, steht ihre Mahlzeit bereit: Schweineblut. In dem Käfig leben vier männliche Exemplare der Art Desmodus rotundus, auf Deutsch: die Gemeine Vampirfledermaus.
05 OT Ripperger
Ja, also es gibt ja die Fledermäuse mit über 1.400 Arten, aktuell weltweit, also eine sehr große und diverse Säugetiergruppe und von den Vampirfledermäusen gibt es tatsächlich nur drei Arten, die ausschließlich in Lateinamerika vorkommen.
Sprecherin
Sagt Dr. Simon Ripperger. Er ist als Biologe beim Landesamt für Umwelt in Bayern als Fledermausexperte tätig.
06 OT Ripperger
Und der gemeine Vampir, das ist ja die häufigste Art von diesen dreien, deswegen wird er auch regelmäßig beforscht, weil, er ist einfach zu finden in der Wildnis. Man kann ihn einfach halten in Gefangenschaft und das macht ihn natürlich zu einem idealen Forschungsobjekt.
Musik 3: Plus minus aus: Silver kobalt – siehe oben– 19 Sek
Sprecherin
Die Neugier der Wissenschaftler erregt diese Fledermausart vor allem aus drei Gründen: wegen ihrer einzigartigen Ernährungsweise, weil sie in Lateinamerika die Rinderbestände schädigt und weil sie ein hochkomplexes Sozialleben hat.
07 OT Kozinsky / Polak
Remigius: I can see some poo ... (ab hier unter folgendem Text)
Sprecherin
In Poznan, unter dem Schlafplatz der Fledermäuse, ist eine schwarze Substanz zu erkennen. Die Ausscheidungen der Tiere, unverdauliche Überreste ihrer Blutmahlzeit.
08 OT Ripperger
Ja, also der Kot von den Vampirfledermäusen, der ist fast teerartig, also sehr zäh, dickflüssig und schwarz und der Kot von anderen Fledermäusen ist ja eher krümelig und trocken im Normalfall.
Sprecherin
Simon Ripperger hat in Lateinamerika, vor allem in Panama, Ruhequartiere der Vampirfledermäuse besucht.
09 OT Ripperger
Und sobald man nah an den Baum rankommt, riecht man sofort, dass es ein Vampirfledermausbaum ist. Weil der, also der Kot, der verströmt einen extremen Ammoniumgeruch. Und Ammonium ist wahnsinnig unangenehm, weil es eben giftig ist. Also das heißt, wenn wir in so einen Vampirbaum reingehen, man kann in diese Vampirbäume tatsächlich einfach reinlaufen in vielen Fällen, weil das einfach riesige, uralte Bäume sind, die komplett ausgefault sind, also so fast wie Höhlenbäume. Und da muss man dann natürlich einen Mundschutz tragen, also eine aktive Schutzmaske gegen Ammoniumdämpfe.
10 OT Kozinsky / Polak
(Kinderstimmen) Kozinsky: There is one... (ab hier unter folgendem Text)
Sprecherin
Im Nachttierhaus von Poznan ist das Tageslicht erloschen, Besucher strömen hinein. Machen neben uns vor der dicken Glasscheibe zum Vampirfledermauskäfig Halt. In der schummrigen Beleuchtung nehme ich ein Tier wahr, das sich der Blutschüssel nähert, sich an den Rand hockt, mit seltsam angewinkelten Vorderbeinen.
11 OT Kozinsky / Polak
(Kinderstimmen) He is licking… Autorin: now he looks around a little bit (Ab hier als Atmo unter folgendem Sprechertext)
Sprecherin
Das Tier beschnuppert den Inhalt, sieht sich um, schnuppert vielleicht dem Menschengeruch nach, den wir im Käfig hinterlassen haben. Dann stakst es am Rand der Schüssel entlang, auf Beinen, deren gefaltete Flughäute jetzt sichtbar sind.
12 OT Kozinsky / Polak
His tongue is for licking the blood from the dish (Ab hier als Atmo unter folgendem Sprechertext)
Sprecherin
Kurz ist eine spitze Zunge zu sehen. Das Tierchen taucht sie in den Inhalt der Schüssel. Springt dann mit einem großen Satz aus dem Blickfeld.
Musik 4: The brides - 1:09 Min
Sprecherin
Vampire, das weiß jedes Kind, sind Wesen, die Blut trinken. Geschichten von Vampiren und Untoten geistern seit Jahrhunderten durch die europäische Welt der Legenden und Mythen. Sprachwissenschaftler haben herausgefunden, dass das Wort ‚Vampir‘ in verschiedenen Varianten aus dem Slawischen stammt und seit dem ersten Jahrtausend nach Christus gebräuchlich ist. Geschichten von Untoten, die die Lebenden in verschiedenen Gestalten heimsuchen und sich an deren Blut laben, sind offenbar über die ganze Welt verbreitet. Als Eroberer und Forschungsreisende sich von Europa aus in immer entferntere Gegenden aufmachten, trat auch das Wort Vampir seine Weltreise an. In Asien, Afrika und Amerika trafen diese Abenteurer und Entdecker auf neue Mythen von mörderischen Fabelwesen. Schauergeschichten von blutsaugenden Fledermäusen machten die Runde:
13 OT Ripperger
Es gibt schon aus der Frühzeit der Besiedelung durch die Europäer in Lateinamerika solche Berichte. Als die Conquistadores angelandet sind und mit ihren Soldaten und dem Vieh, den Pferden und den Kühen ankamen, dass Schwärme von Vampirfledermäusen über Mensch und Vieh hergefallen sind.
Musik 5: Twelve Month - 1:25 Min
Sprecherin
Oft ging den Erzählern offenbar die Fantasie durch. Berichte über taubengroße Vampirfledermäuse stürzten Taxonomen, die neu entdeckte Tierarten beschreiben und benennen, in einige Verwirrung. So bezeichnete der berühmte schwedische Naturforscher Carl von Linné Mitte des 18. Jahrhunderts den großen asiatischen Flughund als „Vespertilio Vampyrus“, weil dieser, so Linné, bei schlafenden Dienern und an den Kämmen der Hähne Blut sauge. Ein Irrtum, denn ausgerechnet dieser große Flugsäuger ernährt sich ausschließlich von Obst und Nektar. Auch „Vampyrum Spectrum“, die größte Fledermausart Lateinamerikas, trägt den Namen zu Unrecht. Diese fleischfressende Art ernährt sich von kleinen Nagetieren und Vögeln. Erst ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts setzte sich bei den Zoologen die Erkenntnis durch, dass es nur in Lateinamerika jene drei klein gewachsenen Fledermausarten gibt, die sich ausschließlich vom Blut der Säugetiere und Vögel ernähren. Und manchmal, wenn auch sehr selten, vom Blut der Menschen.
Musik aus
Sprecherin
Vampirfledermäuse haben sich eine sehr spezielle ökologische Nische erobert und nehmen dafür einiges auf sich. Blut sättigt nicht nachhaltig, eine Fledermaus wird also schnell wieder hungrig, Fasten kann für sie tödlich sein. Überwintern, wie es die Insekten-fressenden Fledermäuse hierzulande tun, ist ebenfalls nicht möglich, weil mit der Blutmahlzeit keine Fettreserven gebildet werden können. Deshalb leben Vampirfledermäuse nur in ganzjährig warmen Gegenden. Manche Fähigkeiten anderer Fledermausarten, wie etwa eine ausgefeilte Ortung durch Ultraschalllaute und akrobatische Flugkünste, spielen für sie eine untergeordnete Rolle.
Musik 6: 1864 – 23 Sek
Sprecherin
Und die Zähne? An Halloween und Karneval gehört ein falsches Gebiss mit langen spitzen Fangzähnen bekanntermaßen zur Vampir-Grundausstattung. Nur beißt die Fledermaus, anders als ein sexy Gruselfilm-Vampir, nicht mit den Eckzähnen, sondern mit den Schneidezähnen.
Musik aus
14 OT Ripperger
Die oberen vorderen Schneidezähne, die sind sehr stark modifiziert. Also die sind nach vorne gerichtet, fast sichelförmig und die Innenseite ist eben rasierklingenscharf. Und mit diesen beiden Zähnen können sie eben sehr effizient die Haut einritzen von Beutetieren. Und dann haben Sie natürlich auch eine ganze Reihe von weiteren Anpassungen an das Trinken von Blut. Also im Speichel sind Gerinnungshemmer für das Blut. Also das heißt, das Blut kann dann für längere Zeit aus der Wunde herausrinnen. Sie sind tatsächlich keine Blutsauger, wie man immer sagt, sondern sie lecken mit der Zunge das Blut auf. Auch auf der Zunge ist dann eine Hornplatte, mit der sie einerseits sehr effizient Haare von der Bissstelle entfernen können, andererseits wird diese Hornplatte vermutlich auch zum Schärfen der Zähne genutzt. Also es sind völlig verrückte Anpassungen für ein Säugetier.
Sprecherin
Bevor es aber ans Blutlecken geht, wohlgemerkt nicht ans Blutsaugen, muss das Tier die Beute finden. Auch dazu hat sich die Vampirfledermaus im Lauf der Evolution besondere Fähigkeiten zugelegt:
15 OT Ripperger
Sie sind oft eben nicht im Flug unterwegs, wenn sie auf der Beute landen, sondern sie landen ein paar Meter neben der Beute und schleichen sich dann zu Fuß an. Man hat Versuche gemacht mit den Tieren, wie sie eben ihre Flügel und ihre Beine zum Laufen benutzen und hat sie auf kleine Laufbänder gesetzt. Und da hat man eben gesehen, dass die Tiere das Rennen wieder gelernt haben. Und so können die eben relativ zügig dann über den Boden sich der Beute annähern. Dann müssen sie natürlich auch einen guten Ort finden, an dem sie den Biss machen, an dem dann hoffentlich auch Blut austritt. Und dazu haben sie dann Wärmesensoren in der Schnauze, mit denen sie eben diese, ja, die Adern unter der Haut gut detektieren können.
Sprecherin
Vampirfledermäuse überfallen mit Vorliebe schlafende Beutetiere. Bis zu einer halben Stunde lang trinkt ein Tier an der selben Wunde und scheidet dabei immer wieder den wässrigen Anteil des Blutes aus, um Platz im Magen zu schaffen
16 OT Ripperger
Und das ist wirklich verrückt, wenn man ein Tier fängt, das praktisch frisch vollgefressen ist. Die sehen wirklich aus, als wären sie schwanger. Und dann guckt man genauer hin und sieht: Nee, es ist doch ein Männchen. Und es ist einfach nur dieser prall gefüllte Bauch voll mit Blut. Und dieses Blut, die dunkle Farbe schimmert dann schwarz durch den Unterleib. Also es ist wirklich eine fantastische Erfahrung, so ein Tier in der Hand zu haben.
Musik 7: The Moment I’m still awake - 31 Sek
Sprecherin
Vor der Kolonisierung Lateinamerikas waren Vampirfledermäuse vermutlich relativ selten. Sie konnten sich nur an Wildtieren und an domestizierten Lamas oder Meerschweinchen laben. Als die Eindringlinge aus Europa große Mengen an Rindern, Schweinen und Pferden mitbrachten, änderte sich das Nahrungsangebot für die gemeine Vampirfledermaus grundlegend. Die Tiere wurden zu Zivilisationsfolgern.
17 OT Ripperger
Wenn man sich das vorstellt, heute diese Bäume, in denen die Fledermäuse ihr Quartier beziehen, an denen wir arbeiten, die stehen manchmal mitten auf der Viehweide. Die Fledermäuse fliegen aus diesem Baum raus und der Tisch ist bereits reich gedeckt.
Sprecherin
Die Population der gemeinen Vampirfledermaus wuchs derartig, dass sie schon bald von den Viehzüchtern als lästige Schädlinge empfunden wurde. Denn am liebsten bedienen sich die Fledertiere an den Rindern:
18 OT Stockmaier
Kühe sind natürlich quasi so ein bisschen wie der McDonald's. Der ist einfach da, der geht nirgendwo hin.
Sprecherin
Sebastian Stockmaier. Er hat mit Simon Ripperger in Panama gearbeitet. Heute forscht der Verhaltensbiologe an der Universität von Knoxville in Tennessee.
19 OT Stockmaier
Kühe, die bewegen sich nicht viel, die sind immer so auf ihrer Weide. Im Gegensatz zu jetzt Wildtieren, wo sie jetzt in den Dschungel müssten und sich einen Tapir suchen müssten.
Sprecherin
Wenn manchmal mehrere Fledermäuse nachts an derselben Wunde trinken, tropft das Blut, wegen der im Fledermausspeichel enthaltenen gerinnungshemmenden Substanzen, noch lange aus der Wunde. Aber das Problem mit den Fledermausbissen ist nicht der Blutverlust. Durch den Kontakt des Speichels mit dem Blut werden Krankheitserreger übertragen, vor allem das Tollwut-Virus. Dieser Zusammenhang wurde in den 30er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erkannt und führte in den sechziger Jahren zu großangelegten Fledermaus-Vernichtungsaktionen unter anderem in Brasilien und Venezuela. Tausende Höhlen wurden mit Dynamit in die Luft gesprengt, zigtausende Fledermausquartiere mit DDT und anderen Giften ausgerottet. Dem fielen natürlich nicht nur Vampirfledermäuse zum Opfer. Heute gibt es Tollwutimpfungen. Aber Farmer sind oftmals nicht zimperlich, wenn sie Vampirfledermäuse auf ihrem Land entdecken:
20 OT Stockmaier
Was viel verwendet wird, ist „vampiricide“. Das ist ein Mix aus Rattengift und Vaseline und was dann gemacht wird: Die Vampirfledermäuse werden gefangen und dieses Gift wird denen auf das Fell geschmiert. Die Idee ist dann, dass sie zurückgehen zu ihren Artgenossen, in ihren Baum, ihren roost, und dass die anderen das dann quasi durch dieses Grooming, durch diese Fellpflege, dass das Gift dann quasi durch die Gruppe sich überträgt.
ATMO Fledermäuse
Sprecherin
Die Methode mit dem Vampirizid nützt das besonders soziale Verhalten der Tiere aus. Vampirfledermäuse in ihrem Ruhequartier hängen nicht einfach schlafend und reglos von der Decke, vielmehr beschäftigen sie sich intensiv miteinander. Die Jungen üben fliegen, Männchen kämpfen, und sehr viel Zeit verbringen die Tiere, alte wie junge, mit gegenseitiger Fellpflege. Nicht nur eng verwandte Tiere kraulen und belecken einander. Simon Ripperger:
21 OT Ripperger
An Forschung in Gefangenschaft konnte man eben zeigen, dass die Tiere so scheinbar Vertrauen aufbauen. Man muss natürlich auch mal darüber nachdenken, was das alles voraussetzt. Also die Tiere müssen sich erstmal individuell erkennen, dann müssen sie auch ihre, ja die soziale Vergangenheit irgendwie bewerten können. Also wenn die Tiere praktisch anfangen mit Fellpflege, müssen sie irgendwie bewerten, führt das jetzt irgendwohin oder ist das eine Sackgasse? Ja, und das ist natürlich wirklich eine tolle kognitive Leistung, solche sozialen Interaktionen zu bewerten und auch strategisch zu planen. Und man geht da immer so davon aus, der Mensch, die Krone der Schöpfung und unsere sozialen Bindunwwwgen, das ist was ganz Besonderes. Aber das, was hier die Vampirfledermäuse machen, geht tatsächlich in diese Richtung.
Musik 9: Plus minus – siehe vorn – 44 Sek
Sprecherin
Es kann Wochen oder Monate dauern, bis Vampire eine tragfähige Beziehung aufbauen. Ist sie erst einmal gefestigt, gehen die befreundeten Vampirfledermäuse noch einen Schritt weiter. Sollte eine von ihnen kein Jagdglück gehabt haben und hungrig in das Quartier zurückgekehrt sein, teilt die Freundin die Mahlzeit mit ihr, würgt Blut aus dem Magen hoch und gibt es ab, verzichtet also auf einen Teil ihrer Nahrung, damit die andere satt wird. Vampirfledermausweibchen tun dies regelmäßig für ihre Jungen und in dieser mütterlichen Fürsorge hat das Verhalten wohl auch seinen Ursprung. Aber sie teilen erstaunlicherweise nicht nur mit Verwandten.
22 OT Ripperger
Und das hat eben viele Biologinnen und Biologen über die Jahre verwirrt, wie das eben evolutionär stabil sein kann, sagt man dazu also: wie kann sich so ein Verhalten manifestieren, wenn es eigentlich einen Nachteil mit sich bringt? Aber wenn wir das als wechselseitiges Verhalten betrachten, dann macht das natürlich plötzlich Sinn. Es ist tatsächlich so: Futter zu erhalten wird am besten dadurch vorhergesagt, wem ich früher mal Futter gegeben habe. Und daraus sieht man direkt ja, wenn ich einer anderen Fledermaus in Not helfe und es ist dann sehr wahrscheinlich, dass ich was zurückbekommen, wenn ich selbst in Not bin, dann macht das Ganze Sinn. Also dann kann das eben auch stabil sein, weil man profitiert selbst eben auch von diesem Investment in der Zukunft.
Sprecherin
Simon Rippergers Kollege Sebastian Stockmaier interessiert sich für die Frage, ob und wie Vampirfledermäuse ihr soziales Verhalten ändern, wenn sie erkrankt sind. Erste Studien zeigen, dass kranke Fledermäuse sich Artgenossen gegenüber teils reservierter verhalten.
23 OT Stockmaier
Wir haben uns das noch nicht wirklich angeschaut, ob dann Fledermäuse die krank sind und die deswegen nicht raus können und jagen können, ob die dann von anderen versorgt werden und von wem die versorgt werden, ob es dann wirklich verwandte Fledermäuse sind oder ob es auch die anderen Artgenossen sind. Ja, das wissen wir nicht. Das ist interessant. Und wir haben schon Experimente geplant in der Zukunft, um uns das anzuschauen.
Sprecherin
Viele Forschungen wurden überhaupt erst möglich durch eine neuartige Generation von Bewegungstrackern, Sensoren, die die Begegnungen unter einzelnen Tieren aufzeichnen, ähnlich der während der Pandemie ab dem Jahr 2020 gebräuchlichen Corona-App. An der Entwicklung dieser Sensoren war Simon Ripperger beteiligt.
24 OT Ripperger
Also es sind kleine Sensoren, die kleben wir auf den Rücken von Tieren auf, in dem Fall eben von den Vampirfledermäusen. Und dann fangen diese Sensoren an, miteinander zu kommunizieren und wir wissen im Sekundentakt genau, welche Tiere verbringen wie viel Zeit miteinander, sind die im Körperkontakt, sind die nur im gleichen Quartier. Und das im 24-Stunden-Takt und über ein, zwei Wochen. Und das ist natürlich eine Datenqualität, die war bis dahin undenkbar.
Sprecherin
Bis dahin ließ sich das Verhalten der Vampirfledermäuse nur in Gefangenschaft detailliert beobachten. Die neuen Sensoren ermöglichen Antworten auf viel weitergehende Fragen. Etwa ob Freundschaften zwischen Fledermäusen, die in Gefangenschaft entstanden sind, auch in freier Wildbahn halten:
25 OT Ripperger
Und nachdem wir diese Tiere freigelassen haben, in die Wildnis, konnten wir eben sehen, dass die Tiere, die sehr viel Zeit miteinander in Gefangenschaft verbracht haben und eben auch viel Zeit in Fellpflege investiert haben und gegenseitig Futter geteilt haben, dass die dann eben auch sehr viel Zeit in der Wildnis in engem Körperkontakt verbracht haben. Und das war eben ein starker Indikator dafür, dass diese sozialen Bindungen wirklich extrem stabil sind, selbst wenn sich das Umfeld der Fledermäuse komplett ändert. Und das war natürlich eine tolle Erkenntnis, weil ja, solche starken sozialen Bindungen kennt man tatsächlich nur von wenigen anderen Tierarten.
Sprecherin
Eine weitere Fragestellung hat das Team mit Hilfe der neuartigen Sensoren bereits erforscht: Ob nämlich Fledermäuse, die im Quartier enge Beziehungen pflegen, gemeinsam auf die Jagd gehen. Auch hier kam es zu überraschenden Erkenntnissen:
26 OT Ripperger
Die verlassen das Quartier nicht zusammen, sondern einzeln, auch mit größeren Abständen, zehn, 20 Minuten oder auch länger. Und dann treffen sie sich aber wieder auf der Kuh. Und das war eben erstmal irritierend, weil die nächste Frage ist: Wie finden Sie sich denn wieder? Und da war dann eben interessant, dass wir Ruftypen aufgezeichnet haben. Also ich war dann wirklich Teil der Kuhherde und bin da mit einem Mikrofon und mit einer Videokamera mit den Kühen mitgelaufen und habe beobachtet, was die Tiere da machen. Und dort haben wir eben Ruftypen aufgezeichnet, die wir aus dem Quartier nicht kannten. Und das liegt eben nahe, dass das Signale sind für die Kooperationspartner, wo man eben zu finden ist. Und vielleicht auch ein Signal: Hier gibt es was zu fressen. Und das ist bisher nur Spekulation. Was die Funktion genau ist von diesen Rufen, das muss man in der Zukunft genau testen, wie sich die auswirken auf die sozialen Partner...
Musik 10: Plus minus – siehe vorn – 52 Sek
Sprecherin
Fragen über Fragen. Wie werden kranke Fledermäuse im Quartier versorgt? Was teilen die Tiere einander mit ihren Rufen mit? Weitere Studien werden es zeigen. Eins ist sicher: Viele mögen Vampirfledermäuse gruselig finden oder für lästige Schädlinge halten. Aber in Sachen Fürsorge für andere sind sie vorbildlich. Das findet auch Remigius Kozinski vom Neuen Zoo in Poznan:
27 Poznan, Atmo Kinder, (darauf zügig O-Ton 28)
28 OT Kozinsky
We should learn to do like them. Try to help each other. In all difficult situations in our life.
Sprecherin
Wir Menschen sollten uns ein Beispiel an den Vampirfledermäusen nehmen, meint er. Und in schwierigen Lebenslagen einander helfen.
Seit alters her umhüllen Männer ihren Penis, um Schwangerschaft und Krankheit zu verhindern. Doch von den ersten Kondomen aus Tierdärmen und Fischblasen bis zum modernen Präservativ aus Latex war es ein langer, wechselvoller Weg. Von Lukas Grasberger (BR 2021)
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Michael Atzinger
Technik: Robin Auld
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Die Pille für die Frau, das Kondom für den Mann. Was gibt es für alternative Methoden zur Verhütung einer Schwangerschaft? Und wie zuverlässig sind diese? Unsere Kollegen von BR24 klären auf:
BR24 | Welche Verhütungsmittel für Männer und Frauen gibt es?
ZUM ARTIKEL
Gänsehautmomente reißen uns Menschen aus der Monotonie des Alltags. Alles scheint uns dann intensiv! Plötzlich sind unsere Sinne auf scharf gestellt. In solchen Momenten fühlen wir uns extrem lebendig! Von Anja Mösing
Credits
Autorin dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Stefan Wilkening, Susanne Schroeder
Technik: Moritz Herrmann
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. med. Arndt Büssing, Professor für Lebensqualität,Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdecke
Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren:Literatur:
Büssing, Arndt: Innehalten. Vom Einfluss ehrfürchtigen Staunens auf das Wohlbefinden. Pustet Verlag, Regensburg 2024. – Verblüffend und schlüssig erklären in diesem Buch ExpertInnen aus den Fachbereichen Medizin, Psychiatrie, Psychologie und Theologie was für einen hohen Stellenwert die Fähigkeit zu Staunen für unser Leben einnimmt. Mit einfachen Handlungsanweisungen für Selbstversuche.
Garcia, Tristan: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017 – mitreißend geschriebener Essay des französischen Philosophen. Zeigt die Vielfältigkeit der weltumspannenden Sucht nach intensivem Leben auf, Garcia fordert eine Ethik der Intensität.
Kast, Verena: Mehr Zeit für die Seele. Der Weg zur Lebendigkeit. Patmos Verlag, Ostfildern 2022 - die Schweizer Psychologin zeigt, wie wir aus einem Strudel von überfordernden Aktivitäten zu ausgewählten Aktionen kommen können und uns so wieder intensiver und lebendiger fühlen.
Staunendes Innehalten - ein zweichwöchiges Interventionsmodul - die Informationen und Hintergründe dazu hier entdecken
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER
Im Freibad: Wimmelndes Leben, Sonne auf nackter Haut und der Duft von gechlortem Wasser in der Nase. Und dann: nach einigem Zögern das erste Mal vom Fünfmeterbrett ins Schwimmbecken springen! Was für ein intensiver Moment!
ATMO Hubschrauber
ERZÄHLER
Die Berge: Mit dem Helikopter durch ein verschneites Gipfelpanorama fliegen, sich auf einem Gipfel mit unberührtem, glitzerndem Pulverschnee absetzen lassen. Und dann auf die Skier und: Einfach nur talwärts! Was für eine intensive Erfahrung!
MUSIK 1 aus
ZSP 1 Büssing
Ich denke, jeder möchte gerne ein intensives Leben führen. Also ganz viele Augenblicke haben, die besonders sind. Die einen heraus holen aus dem Alltag, der ja oft genug als gewöhnlich und flach erscheint.
ERZÄHLERIN
Arndt Büssing ist Mediziner und Professor für Lebensqualität, Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdecke. Büssing beschäftigt sich damit, wie das Wohlbefinden von Menschen positiv beeinflusst werden kann.
ZSP 2 Büssing
Und alles, was mit Erleben zu tun hat, das ist für mich total spannend.
ERZÄHLERIN
Viele Menschen empfinden ihren Alltag nicht als spannend. An sich geht es ihnen gut, aber ihr Leben plätschert so vor sich hin, sie fühlen sich in alltäglichen Routinen gefangen wie in einem Morast. Viele sehnen sich nach den Gänsehautmomenten ihrer Kindheit und Jugend zurück: nach intensivem Leben!
MUSIK 2: Forever – 35 Sek
ERZÄHLER
„Das intensive Leben? Eine moderne Obsession!“ So urteilte der französische Philosoph Tristan Garcia in seinem gleichnamigen Essay aus dem Jahr 2017. Garcia beschreibt, wie heute einfach alles toll und großartig und intensiv sein soll. Wie wir permanent nach plötzlichen Erregungen suchen, nach starken Empfindungen: Ob es die Wandfarbe in der Wohnung ist oder der Orgasmus, die nächste Party oder der Energy-Drink, der Urlaub oder der neueste Krimi. Alles soll uns ein intensives Lebensgefühl garantieren und Schauer über den Rücken jagen.
ERZÄHLERIN
Klingt anstrengend! Und irgendwie auch falsch. Arndt Büssing versucht in seinen Forschungen aber, erst mal gar nicht zu definieren, was ein richtiges und was ein falsches intensives Leben ist:
ZSP 3 Büssing
Denn jeder Mensch empfindet natürlich anders, was für ihn intensiv ist. Und dann hat jeder seine eigenen Trigger und Auslöser, die für ihn wichtig sind. Also mich interessiert vielmehr das Erleben, die Reaktionen darauf, unabhängig von dem, was die Auslöser sind und ob jemand sagt: Das war für mich besonders intensiv oder nicht. Denn es gibt natürlich die großen Situationen, es gibt die kleinen Situationen, und alle haben ihre Bedeutung, und alle können zu etwas beitragen.
ERZÄHLERIN
Grundsätzlich könnte man sagen, intensive Erlebnisse tragen dazu bei, sich lebendig zu fühlen. Interessant ist: Vorhersagen, lassen sie sich nicht! Selbst beim teuer bezahlten Helikopter-Flug oder dem Sprung vom Fünfmeterbrett könnte auch nichts als ein flaues Gefühl im Magen oder Enttäuschung herauskommen.
ERZÄHLER
Wir wissen aber inzwischen gut, was im Körper abläuft, wenn wir einen freudigen Gänsehautmoment erleben, erklärt Mediziner Büssing. Es sind ganz archaische körperliche Abläufe, die schon unsere Ahnen kannten. Zum Beispiel bei der Begegnung mit einem Säbelzahntiger:
MUSIK 3: ARD-Labelmusik Expedition - 1:03 Min
ZSP 4 Büssing
Ich versuche es mal einfach: Wir haben also ein limbisches System. Das ist mit der Verarbeitung dieser entsprechenden Emotionen beschäftigt, die also diese Erlebnis-Trigger auslösen: Freude und Aufregung zum Beispiel. Und dann wird das sympathische Nervensystem, also unser Alarmsystem, aktiviert. Dadurch wird Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt. Unser Herz schlägt schneller und wir atmen tiefer und schneller. Diese Stresshormone machen auch diese sogenannte Gänsehaut aus.
MUSIK 3 kurz frei
ZSP 5 Büssing
So und jetzt haben wir diese Sympathikus Aktivität, und die führt dazu, dass wir alles intensiver wahrnehmen. Wir sind ja quasi im Fluchtmodus.
MUSIK 3 kurz frei, weiter darüber:
ERZÄHLERIN
Alle Sinne sind jetzt auf scharf gestellt. Geschickt können wir flüchten: Vielleicht mit einem Seil auf einen Platz, den der Säbelzahntiger nicht erreichen kann. Und wir überleben die Begegnung!
MUSIK 3 mit Akzent kurz frei und aus
ZSP 6 Büssing
Und nun kommt dann das Belohnungssystem ins Spiel! Wenn es also ein intensives, berührendes Erlebnis ist - das kann natürlich auch ein tolles Essen sein oder besondere Menschen, mit denen man gerade zusammensitzt - dann wird dieses Belohnungssystem im Gehirn aktiviert. Damit wird dann dieser Neurotransmitter Dopamin freigesetzt, was mit dem Gefühl von Vergnügen und Zufriedenheit einhergeht. Davon will man natürlich immer mehr haben, um dieses gute Empfinden noch aufrechterhalten zu können. Das kann ja kein dauernder Alarmzustand sein. Und dann kommt das parasympathische Nervensystem ins Spiel, das all diese Stressreaktionen wieder herunterreguliert, uns beruhigt und aus diesem Ausnahmezustand wieder zurückholt.
ERZÄHLERIN
Dieses System aus intensiver Aktion und rauschhaftem Glücksgefühl am Schluss war über Hundertausende von Jahren hinweg sehr förderlich fürs menschliche Überleben. Es hat unseren Mut befeuert. Wie wenige hätten sonst in archaischen Zeiten riskiert, sich beim Erlegen eines wilden Ebers eine Verletzung zu holen? Einen Knochenbruch oder tödliche Wunden? Die Tollkühnheit bei der Nahrungsbeschaffung wurde so von körpereigenen Glücksduschen belohnt.
ERZÄHLER
Und noch heute im Zeitalter von Pizza-Service und wohl temperierter Wohnung suchen viele Sensation-Seeker nach ähnlich starken Herausforderungen.
ZSP 7 Büssing
Ich denke, man fühlt sich dann lebendig und intensiv. Das ist sehr genau das, was erstrebt wird mit diesem Kick-Erlebnis. Es ist etwas Besonderes. Ich bin in einer herausfordernden Situation. Und die Gefahr wird dann manchmal auch zu dem Kick, der aber auch einen Nachteil hat: Es könnte ja auch schief gehen.
MUSIK 4 „something just like this“ – 51 Sek
ERZÄHLERIN
Viele Teenager lieben Situationen dieser Art! Dabei ist es als Kind und als Jugendlicher, sogar noch als junger Erwachsener ohnehin leicht, aufregende Dinge zu tun und sich intensiv lebendig zu fühlen. So Vieles macht man in dieser Zeit zum ersten Mal: Zum ersten Mal Klassenfahrt, zum ersten Mal glücklich verliebt, zum ersten Mal guter Sex, zum ersten Mal Urlaub ohne die Eltern.
ERZÄHLER
Oft wirkt es allerdings, als würden gerade junge Leute gerne Dinge tun, die sehr leicht schief gehen können, sich bei Erfolg aber umwerfend intensiv anfühlen: Train-Surfing an S-Bahnen, Paragliding, oder tollkühne Sprünge beim Parcouring durch die Innenstadt.
(Musik aus)
ZSP 8 Büssing
Ich glaube nicht, dass es auf die Teenager begrenzt ist. Bei denen fällt es vielleicht besonders auf. Aber auch die Midlife-Crisis, in meinem Alter, wenn ich Männer sehe, die ungewöhnliche Dinge machen! Wahrscheinlich ist das genau das Gleiche: Ich will etwas Besonderes in meinem Leben erleben können. Es muss etwas Herausragendes sein, weil es eben zu einer Routine geworden ist. Ehepartner, die sind automatisch da und deswegen ist es nichts Besonderes mehr und deswegen muss es woanders gesucht werden. Und dann ist eben dieses Aufregende der Nervenkitzel. Dann fühlt man sich lebendig!
Musik 5: Lovers in Japan – siehe vorn – 30 Sek
ERZÄHLER
Der Klassiker: Fremdgehen! Sexuelle Abenteuer. Oder Extremsport: Marathonlaufen, Triathlon, Bodybuilding. Fern- bzw. Abenteuerreisen: Besteigung des Mount Everest, Alpencross mit dem Mountainbike, Tauchen am australischen Great Barriere Riff. Musik aus
Aber was ist, wenn man irgendwann den fünften Marathon gelaufen ist. Die Affäre zur Nebenbeziehung wird oder man alle Kontinente unseres Planeten bereist hat?
ZSP 9 Büssing
Also, dieses intensivere Leben, das wird allgemein so verstanden, dass alles, was uns reizt und fasziniert, eigentlich eine immer intensivere Ausprägung braucht. Alles muss größer, schneller und stärker werden. Aber eine größere Herausforderung, größere Intensität der Emotionen und so weiter, das hat irgendwie auch seine Grenze. Das kann ja auf Dauer gar nicht gut gehen. Denn irgendwann sind natürlich auch die intensivsten Olympischen Spiele des Lebens vorbei. Man kommt gar nicht mehr hinterher. Und was bleibt dann?
ERZÄHLERIN
Genau hier wird es für Emotionspsychologen richtig interessant: Wie könnten wir es schaffen, unsere Sehnsucht nach dem intensiven Leben ein Leben lang zu stillen?
ERZÄHLER
Wieder Staunen zu lernen, wäre schon mal ein Anfang, meint Arndt Büssing.
ZSP 10 Büssing
Was Kindern sehr gut gelingt! Sie bleiben leichter irgendwo hängen und sind fasziniert von etwas. Was uns im Lauf des Lebens viel verloren gegangen ist.
MUSIK 6: Grapefruit diet – 1:04 Min
ERZÄHLERIN
Zweijährige Kinder, die eine volle Stunde die Konstruktion eines Teebeutels bis in all seine Einzelteile erforschen. Dreijährige, die vor einer Ameisenstraße in die Hocke gehen und sie hingebungsvoll beobachten: Wir alle kennen diese Art des gebannten Staunens kleiner Kinder.
ERZÄHLER
Sollte uns ausgerechnet eine kindliche Fähigkeit aus dem alltäglichen Strudel unbefriedigender Ablenkungen und Routinen retten können? Uns wieder öfter Momente mit Gänsehaut bescheren? Arndt Büssing glaubt daran und nennt die notwendige Fähigkeit ehrfürchtiges Staunen, oder staunendes Innehalten.
ERZÄHLERIN
Im Englischen nennt man es „Awe“ – Ehrfurcht! Und seit ein paar Jahren publizieren Emotionsforscher zu diesem Phänomen. Nur ist das deutsche Wort Ehrfurcht heute etwas aus der Zeit gefallen und Ehrfurcht klingt merkwürdig:
ZSP 11 Büssing
Ja! Einige Leute fühlen sich dadurch irritiert, weil die Furcht steckt darin. Und da muss ich noch jemanden Ehre erweisen. Das wurde vielleicht früher einem König entgegengebracht, den man ja verehren musste und den man auch zu Recht fürchten musste. Deswegen war eher der Versuch zu sagen: Es heißt staunendes Innehalten, um Ehrfurcht einmal anders umschreiben zu können. In den alten Büchern war das Thema Ehrfurcht immer mit Religiosität assoziiert, aber es ist keine Grundvoraussetzung. Also auch alle anderen Menschen: nicht-religiöser, nicht-spiritueller Art sind empfindungsfähig, sind von etwas berührt und bewegt. Und es kann auch ihr Leben verändern!
Musik 7: De Luca et Umbra - 47 Sek
ERZÄHLERIN
In der Bibel gibt es die berühmte Szene, in der sich Moses vor dem brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch zunächst staunend und dann ehrfürchtig niederwirft, als Gott zu ihm daraus spricht. Das kann als klassische Ehrfurcht-Situation gelten: Als Mensch wird man klein vor so etwas Großem, auch demütig.
ERZÄHLER
Im alltäglichen Leben sehen Situationen, die uns ehrfürchtig staunen lassen, natürlich anders aus als in der Bibel. Arndt Büssing selbst ist eher zufällig auf die Wirkung dieser Empfindung gestoßen:
ZSP 12 Büssing
Im Zuge dieser Forschungsprojekte, die ich gemacht hatte, bin ich immer wieder darüber gestolpert, dass einzelne Personen gesagt haben, dass etwas sie „besonders bewegt“ hat. Das war das Motiv des ehrfürchtigen Staunens. Und das gelingt auch nicht-religiösen Menschen. Auch die sind in bestimmten Situationen von etwas Besonderem fasziniert. Halten vielleicht staunend in ihrem Tun inne. Sind ganz gefangen, von etwas berührt. Und Hartmut Rosa würde das vielleicht als Resonanz bezeichnen. Das ist auch ein ganz guter und auch passender Begriff.
ERZÄHLER
„Ein vibrierender Draht zwischen uns und der Welt“, so hat es der Soziologe Hartmut Rosa in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel formuliert. Er plädiert für eine neue Art von Kontakt, die wir pflegen sollten. Und zwar nicht nur untereinander, sondern überhaupt: mit der Welt um uns herum. Und das hat viel mit Lebendigkeit zu tun, sagt Arndt Büssing:
ZSP 13 Büssing
Ich trete mit etwas in Verbindung, lass mich berühren, und es hat einen Nachklang in mir. Wenn diese Empfindungen, dann groß und tief sind, dann wird vielleicht auch mein Leben anders. Ich werde vielleicht bewusster, schaue tiefer hin, werde achtsamer.
ERZÄHLERIN
Groß und tief sind für manche Frauen die Momente nach der Geburt ihres Kindes. Für andere sind es ihre einmaligen sportlichen Höchstleistungen, oder Momente von besonderer Kreativität, von inniger Liebe und Sex. Sie gehören zu den sogenannten „Peak Moments“: den Gipfelerfahrungen unseres Lebens.
ERZÄHLER
Die Bedeutung solcher Momente, in denen wir komplett im Hier und Jetzt sind, wo die Zeit still zu stehen scheint und wir quasi mit der Welt verschmelzen, hatte schon der US-amerikanische Sozialpsychologe Abraham Maslow Mitte der 1960er Jahre erkannt. Maslow ist Begründer der Positiven Psychologie. Seine Forschungen zu den Ursachen mentaler Gesundheit haben gezeigt, dass Gipfelerfahrungen unbedingt dazu gehören. Sie sind so intensiv, so erschütternd, dass sie eine große Strahlkraft auf unser ganzes Leben entwickeln.
ZSP 14 Büssing
Ja! Das, was mich bewegt, macht ja auch einen Eindruck. Das heißt, dieser Eindruck wird auch in meinen Erinnerungen gespeichert. Ich werde mich immer wieder mit Freude daran erinnern und vielleicht doch die Sehnsucht haben: Kann ich das nicht wieder haben? Dann sind wir wieder in dieser olympischen Disziplin: Ich möchte immer wieder solche besonderen Augenblicke haben! Was natürlich nicht funktioniert. Und das ist eben das Schöne! Wir nennen es vielleicht einen „wunderbaren Augenblick“. Und Wunder kann man nicht reproduzieren. Und sie sollen etwas Einmaliges sein, sonst würden sie ihren Wert verlieren.
ERZÄHLERIN
Auch Abraham Maslow glaubte, Gipfelmomente seien in jedem Leben vorhanden, aber eben etwas Seltenes. Immer wieder neue große Wunder erleben zu wollen, um sich lebendig und gut zu fühlen, das funktioniert nicht, da ist auch Arndt Büssing sicher. Was dagegen gut funktionieren kann: Das Besondere in eigenen Leben zu entdecken, indem man feiner in seiner Wahrnehmung wird.
Musik 8: The Dress – 46 sek
ZSP 15 Büssing
Das können natürlich auch die kleinen Erlebnisse sein, die einen kurzfristig innehalten lassen, von denen man dann vielleicht ganz fasziniert ist und die einen Lächeln lassen. Auch das hat natürlich seine Bedeutung, und ist schön und gut. Es muss nicht immer dieses große Tiefe sein, das Fantastische!
ERZÄHLER
Jeder kennt das. Wenn wir an einem gewöhnlichen Tag zufällig jemandem auf der Straße begegnen und ein paar Worte wechseln, gehen wir danach anders weiter: Belebter! In ihrem Buch „Mehr Zeit für die Seele. Der Weg zur Lebendigkeit“ beschreibt die Schweizer Psychologin Verena Kast wie wichtig für uns sinnliche Eindrücke sind: Der Duft vom Kaffee, der Dampf über der Tasse Tee. Solche kleinen Dinge.
Musik aus
ERZÄHLERIN
Ähnlich wie Hartmut Rosa plädiert Verena Kast dafür, sich immer wieder Zeit zu nehmen, um sich bewusst einzulassen auf unsere Umgebung, sei es zu Hause oder in der Natur. Viele Facetten von Freude und Verbindung zu Menschen und der Welt können wir dann erleben und so immer wieder neu bemerken, dass das Leben bereichernder und schöner ist, als erwartet.
ERZÄHLER
Um noch mehr über ehrfurchtsvolles Staunen herauszufinden, hat Professor Arndt Büssing eine weitere Studie begonnen:
ZSP 16 Büssing
Wir haben uns angeschaut: Was empfindet jemand? Wie empfindet jemand? Wie intensiv? Und wie häufig empfindet jemand so etwas wie dieses staunende Innehalten? Gefühle von Dankbarkeit, die sich dann anschließend einstellen können. Da haben wir uns unterschiedlichste Personengruppen angeschaut: Meditierende, Yogaübende, Ordensleute, Normalmenschen, Studierende, Patienten mit Schmerzerkrankungen. Unterschiedlichste Menschengruppen, auch Personen mit depressiven Erkrankungen.
ERZÄHLERIN
Im Ergebnis fiel auf, dass es sehr deutliche Unterschiede im Empfinden gibt:
ZSP 17 Büssing
Das ist jetzt nicht so, dass es Menschen gibt, die so etwas gar nicht empfinden würden. Aber es fällt eben deutlich dabei auf, dass diejenigen, die einen bewussten Lebensstil haben: also die Yoga-Übenden, die Ordensleute zum Beispiel, die auch eine religiöse oder spirituelle Praxis haben, die das also auch häufig einüben, so dass sie es leichter wahrnehmen, die haben viel höhere Scores gehabt als andere Personengruppen.
ERZÄHLERIN
Sie haben also deutlich besser abgeschnitten hinsichtlich Erlebnissen, die als intensiv empfunden wurden. Auf der Basis der zahlreich beantworteten Fragebögen und tiefergehenden Interviews hat Büssing inzwischen ein Programm entwickelt, dass er „Staunendes Innehalten“ nennt. Der positive Einfluss von kleinen Ritualen auf das Wohlbefinden soll möglichst vielen zugutekommen.
ERZÄHLER
Das ganze Programm ist kostenlos im Internet auf den Seiten der Universität Witten/Herdecke erhältlich. Für einen Zeitraum von zwei bis höchstens drei Wochen kann man mit Hilfe dieses Materials üben, wie Staunen und Innehalten im Alltag funktionieren. Und man kann dabei beobachten, wie sich der eigene Alltag dadurch verändert, wie das Lebensgefühl sich intensiviert.
ZSP 18 Büssing
Gut. Das kann also jeder so selbständig für sich gestalten, wie es zu seiner Lebenssituation passt. Dabei werden also für jeden Tag bestimmte, meditativ und anregende Texte bereitgestellt, die man dann mit in den Tag hineinnehmen kann. Werden auch weitere Vorschläge gemacht, die in einem Booklet zu finden sind, dass man sich kostenlos herunterladen kann.
ERZÄHLERIN
Auffällig ist, dass jeder Tag durch die Vorschläge in diesem mehrwöchigen Programm einen klaren Rhythmus bekommt:
ATMO aus Archiv: Vogelgezwitscher morgens…
ERZÄHLER
Der Tag soll morgens mit einer kurzen Zeit der Stille begonnen werden, um sich zu sammeln und eine besondere Atmosphäre zu schaffen, seine natürliche Umwelt wahrnehmen. Und dann kommt etwas Zeit für einen speziellen kleinen Text zur Inspiration. An Tag eins handelt er von einer schönen Situation, in der man einmal Kaffee getrunken hat. Es folgt eine kleine Zeit der Meditation, egal ob im Gehen oder Sitzen.
ATMOS Schritte auf Kies, Kreuzblende von Vogelgezwitscher in Grillenzirpen
ERZÄHLERIN
Für den Nachmittag wird immer ein kleiner Spaziergang empfohlen, von dem man etwas mitbringen soll, das einen berührt hat. Diese Gegenstände bekommen für die Zeit des Programms einen besonderen Platz in der Wohnung. Auch eine kurze Zeit für einen Tee oder Kaffee soll man sich einräumen und ihn bewusst genießen.
ATMOS aus nach Wohnungstür zu
ZSP 19 Büssing
Besonders wichtig erscheint mir, dass auch ein Tagesrückblick am Abend erfolgt: Was mich bewegt hat, womit ich in Resonanz gegangen bin, besonders mit diesem anregenden Tages-Text. Das kann man dann noch in einem Tagebuch aufschreiben, in das man immer wieder hineinschauen kann, wenn man das Gefühl hat, nichts ist toll in meinem Leben! Man kann es wieder zu Rate ziehen und stellt fest: Doch! Mich hat etwas bewegt und berührt. Und es war eine Zeit, die kann ich vielleicht auch wiederholen: Indem ich mich daran erinnere, wie das noch mal ging.
ERZÄHLERIN
Schon beim Anschauen des Booklets, das liebevoll mit Fotos und Texten gestaltet ist, lässt sich ahnen: Ja, das könnte etwas bewirken! So anregend sind die täglichen Aufgaben. Aber lässt sich unser Gefühl, dass wir ein intensives Leben führen, durch das ehrfürchtige Staunen wirklich steigern? Hat nicht jeder sein eigenes, persönliches Limit?
ZSP 20 Büssing
Es ist immer schwierig. Man kann Personen finden, die haben, wenn man das jetzt quantifizieren wollte, schon sehr hohe Ehrfurchts-Scores. Da kann man vermutlich nicht mehr noch mehr steigern, weil sie schon sehr bewusst sind. Aber mit Personen, wo noch Platz nach oben ist, da kann man tatsächlich dieses Erleben auch weiter trainieren.
ERZÄHLER
Gerade Menschen mit depressiven Erkrankungen fällt es deutlich schwerer zu staunen oder die Lebendigkeit und Verbundenheit mit der Welt zu empfinden. Da wäre noch viel möglich, glaubt Büssing, vieles haben wir selbst in der Hand. Seine Überlegungen und Forschungsergebnisse hat er in seinem 2024 erschienenen Buch „Innehalten“ zusammengefasst.
ATMOS Amselgezwitscher, Park, Schritte
ERZÄHLERIN
Wer also ein intensiveres Leben führen möchte, könnte schon heute beginnen: Ein kurzer bewusster Spaziergang wäre ein Anfang!
Musik 9: Grapefruit diet – siehe vorn– 36 Sek
ZSP 21 Büssing
Und dann stellt man irgendwann fest, dass es eigentlich gar nicht so schwierig, mit offenen, aufmerksamen Augen durchs Leben zu gehen. In einer bestimmten Tradition nennt man das dann Achtsamkeit. Das kann man eigentlich nennen, wie man möchte. Es geht um eine Resonanzfähigkeit, Berührungsfähigkeit, dass ich all das in Anführungszeichen „Heilige“ in meinem Leben tatsächlich wieder wahrnehmen kann. Ich kann mich vielleicht noch mehr freuen über all das, was ich mich umgibt und noch besser wertschätzen. Denn eigentlich ist nichts von all dem, was uns umgibt und unser Leben ausmacht, selbstverständlich.
James Bond, britischer Geheimagent, schreibt seit Jahrzehnten Kinogeschichte, erfolgreich und ausdauernd. Als Weltenretter und Frauenmagnet profiliert er sich immer wieder neu und spiegelt Männlichkeitsideale und den Zeitgeist. Von Brigitte Kohn (BR 2023)
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger und Thomas Birnstiel
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Stefani Brusberg-Kiermeier, Professorin für Englische Literatur und Didaktik an der Universität Hildesheim;
Prof. Werner Greve, Professor für Psychologie an der Universität Hildesheim
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Ohne den Aufzug sähe unser Alltag um einiges beschwerlicher aus. Und die Häuser in unseren Städten hätten nie besonders weit in die Höhe wachsen können. Doch der Fahrstuhl ist keine Erfindung unserer Zeit. Seine Anfänge reichen weit zurück. Der Aufzug, wie wir ihn heute kennen, entstand schließlich ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Autor: David Globig (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Katja Amberger, Kia Ahnsen
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Iska Schreglmann
Interviewpartner/innen:
Dr. Heinz-Jürgen Beste, wissenschaftlicher Referent, Deutsches Archäologisches Institut Rom;
Prof. Andreas Bernard, Kulturwissenschaftler, Leuphana-Universität Lüneburg;
Christian Tauss, Gründer des Wiener Aufzug Museums;
Beate Höhnle, Testturm-Managerin, TK Elevator, Rottweil
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Linktipp:
Wiener Aufzug Museum:
EXTERNER LINK | https://www.aufzugmuseum.at/
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Newsjunkies | Ein Podcast von rbb24 Inforadio
Ein Tag, ein großes Nachrichten-Thema. Das liefert "Newsjunkies". Wir fragen nach dem Warum und geben Antworten und Hintergründe.
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Literaturtipp:
Andreas Bernard: "Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne", FISCHER Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2006.
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Wenn es um der Deutschen liebste Speisen geht, landet man schnell bei der Wurst. Mehr als 27 Kilogramm Wurst und Schinken verzehrt jeder von uns durchschnittlich im Jahr. Und die Auswahl ist schier unübersichtlich. Radiowissen rückt der Wurst als Nahrungsmittel und Kulturgut auf die Pelle. Autorin: Susanne Hofmann (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Jerzy May, Julia Cortis
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Dr. Wolfger Pöhlmann, Kunsthistoriker und Wurstexperte;
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Newsjunkies
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Buchtipp:
Wolfger Pöhlmann: Es geht um die Wurst, Knaus Verlag, 2017
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Viele Moore sind in den letzten Jahrzehnten trockengelegt worden, um sie für die Landwirtschaft zu nutzen. Das Problem: Trockengelegte Moore setzen Unmengen von Treibhausgasen frei. Autorin: Jenny von Sperber (BR 2017)
Credits
Autorin dieser Folge: Jenny von Sperber
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Axel Wostry, Clemens Nicol
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Gerda Kuhn
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Misogynie hat viele Gesichter - und eine lange Geschichte. Seit der Antike wurde die Frau als unvollkommenes, defizitäres Wesen betrachtet, heute nimmt der Frauenhass gerade starke Frauen ins Visier. Von Beate Meierfrankenfeld (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Beate Meierfrankenfeld
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Shenja Lacher, Beate Himmelstoß
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Andrea Geier, Literaturwissenschaftlerin (Universität Trier);
Nicole Schöndorfer, Feministin, Journalistin (Wien);
Jasna Strick, Autorin, Feministin, Aktivistin (Berlin)
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Kann man literarisches Schreiben lernen oder braucht es hier eine angeborene Begabung? In den USA gibt es zahlreiche Studiengänge für creative writing, in Deutschland kaum. Dafür werden viele Schreibwerkstätten für Amateure angeboten. Denn Schreiben kann auch therapeutisch sein. Autorin: Silke Wolfrum (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Katja Amberger, Katja Bürkle
Technik: Tim Höfer
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Hanns-Josef Ortheil, Autor, Professor für kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim;
Dr. Silke Heimes, Autorin, Ärztin, Poesietherapeutin, Professorin für Journalistik
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Literaturtipps:
Barbara Glindemann (2001): Creative Writing in England, den USA und Deutschland. Kulturelle Hintergründe, Literaturwissenschaftlicher Kontext, institutioneller Bezug. Peter Lang.
Silke Heimes (2022): Therapeutisches Schreiben bei Depressionen. Ein Arbeitsbuch. W. Kohlhammer GmbH.
Silke Heimes (2020): Ich schreibe mich schlank. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co.
Silke Heimes (2016): Du – Ich – Wir. Kreatives Schreiben für die Liebe. Vandenhoeck & Ruprecht.
Hanns-Josef Ortheil (2017): Der Stift und das Papier. btb Verlag.
Hanns-Josef Ortheil (2011): Die Erfindung des Lebens. btb Verlag.
Hanns-Josef Ortheil (2001): Das Element des Elephanten. Luchterhand.
Oliver Ruf (2016): Kreatives Schreiben. Eine Einführung. A. Francke Verlag.
Jürgen vom Scheidt (2006): Kreatives Schreiben – HyperWriting. Texte als Wege zu sich selbst und zu anderen. Allitera Verlag.
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Wenn sich Fische zu einem Schwarm zusammenfinden, um den Attacken eines Fressfeindes zu entgehen, spricht man von kollektiver Intelligenz. Auch der Mensch kann kognitive Probleme unter bestimmten Bedingungen im Schwarm besser lösen als der beste Experte allein. Was kann er von Vögeln, Bienen und Ameisen lernen? Autorin: Roana Brogsitter (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Roana Brogsitter
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Sven Hussock, Susanne Schroeder
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Prof. Jens Krause, Verhaltensbiologe Humboldt Universität Berlin und Leibniz Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei;
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Bereits in der Antike war Astrophysik bzw. Astronomie und Musik eng miteinander verbunden und gipfelte in der Idee einer "Sphärenmusik". Warum fasziniert diese Vorstellung viele Menschen bis heute? Von Martin Schramm
Credits
Autor dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Hemma Michel, Jerzy May, Christoph Jablonka
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Markus Nielbock, Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg;
Pierre Leich, Wissenschaftshistoriker, Nürnberg
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Der Blick nach oben - in den klaren Sternenhimmel - seit Jahrtausenden bringt er Menschen zum Grübeln: Majestätisch ziehen die Planeten ihre Bahnen zwischen den funkelnden Sternen. Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus - der Nachthimmel wird gleichsam zur „Bühne“ für die ewige Reise der Planeten durchs All.
SPRECHERIN
Eine „Reise“, die Fragen aufwirft: Folgt sie irgendwelchen Gesetzen? Ist sie Teil einer größeren „kosmischen Ordnung“? Ausdruck einer „universellen Harmonie“? Am Ende einer Harmonie, die man sogar hören kann?
SPRECHER
Die Vorstellung einer Art „Sphärenmusik“ begeistert Menschen seit Jahrhunderten.
SPRECHERIN
Andere wiederum halten sie für genauso originell, wie unsinnig. Denn was genau sollte da eigentlich „erklingen“? Eine Art „Sternen-Konzert?“ Eine „Ballade der Planeten“?
SPRECHER
Und was können Wissenschaftler heute mit dieser Vorstellung noch anfangen?
MUSIK (Cosmos)
ZITATOR
Die Idee - oder: Das Schwingende Universum
SPRECHER
Die Vorstellung einer „Sphären-" oder „Himmelsharmonie“ taucht bereits in der Antike, in der Gedankenwelt der Pythagoreer auf. Die Grundidee: Die Planeten erzeugen durch ihre streng gleichförmigen Kreisbewegungen Töne - eine Art kosmischer Zusammenklang, eine Harmonie stellt sich ein.
SPRECHERIN
Eine Harmonie, die auf besonderen Zahlenverhältnissen gründet. Pythagoras macht damals nämlich einen wegweisenden Schritt: Er glaubt, dass man die schon lange vor ihm postulierte „Harmonie des Universums“ auch mathematisch erklären kann.
SPRECHER
Zufällig entdeckt er, dass die Höhe eines Tons von der Länge der Saite und deren Schwingungen abhängt. Dass sich Intervalle also durch Zahlenverhältnisse darstellen lassen. Durch ganz besondere Zahlenverhältnisse.
SPRECHERIN
Eindrücklich demonstrieren lässt sich das am sogenannten „Monochord“. Einem Apparat, bei dem eine einzige Saite über einen länglichen Resonanzkasten gespannt ist.
SPRECHER
Verändert man die Saitenlänge, stellen sich besondere Klänge ein, Klänge die wir als besonders „konsonant“ empfinden: Oktave (SOUND), Quinte (SOUND), Quart (SOUND), Terz (SOUND), Sext (SOUND) usw.
SPRECHERIN
Und diese besonderen „Zusammenklänge“, entsprechen besonderen „Proportionen“, den Verhältnissen einfacher, ganzer Zahlen: 1:1, 1:2, 2:3, 3:4 usw.
SPRECHER
Die faszinierende Erkenntnis: Musik folgt offenbar einfachen mathematischen Gesetzen.
SPRECHERIN
Und diese Vorstellung wird dann schnell auf den ganzen Kosmos bezogen. D.h. auf die damalige Vorstellung einer göttlich geschaffenen Welt, in deren Zentrum die Erde steht. Eine Erde, die von „kristallinen Kugelschalen“ umgeben ist, von kristallinen „Sphären“. - Der Wissenschaftshistoriker Pierre Leich:
01-O-TON Leich Sphären
„Ja, man hat in der Antike die Vorstellung gehabt, dass es so eine Art kristalline Sphäre aus einem himmlischen Stoff gibt, die gewissermaßen als Träger der Bewegung der Gestirne fungieren. Denn dass die Gestirne sich zumindest scheinbar um die Erde drehen, das sieht man ja unmittelbar. Und die Vorstellung, dass die Bewegungen in irgendeiner Weise fixiert werden müsste, entspricht auch dem, was wir auf der Erde erwarten würden. Wenn wir eine Uhr bauen oder derartiges. Und die Planeten, die hat man sich dann entweder auf diesen kristallinen Sphären sozusagen draufgepappt irgendwie vorgestellt. oder auch zwischen den Sphären. Beide Varianten sind durchaus immer wieder vorgekommen.“
SPRECHER
Kristalline Schalen, auf denen sich Planeten um den Nabel der Welt, die Erde bewegen - eine Vorstellung, die uns heute reichlich seltsam anmutet, die damals aber durchaus plausibel erscheint. Denn irgendetwas musste die Gestirne schließlich auf ihrer Bahn halten, dafür sorgen, dass sie nicht einfach weg drifteten. Dass unsichtbare Gravitationskräfte die Planeten leiten, sollte erst viel später ein gewisser Isaac Newton beschreiben.
SPRECHERIN
Damals völlig plausibel erschien den Menschen auch die Vorstellung, dass Planeten, bzw. die Sphären, „Töne“ erzeugen. Es entsprach der alltäglichen Beobachtung, dass Dinge, die schwingen, die sich bewegen, eben „klingen“. - Der Astrophysiker Markus Nielbock:
02-O-TON Nielbock Die göttliche Ordnung
„Und je nachdem in welchem Abstand von der Erde und welcher Geschwindigkeit von der Erde sich diese Sphäre mit den Planeten und am Schluss dann den Fixsternen bewegt, gibt das unterschiedliche Abfolgen von Tönen, die man mit der Musik identifizieren kann. Das ist im Prinzip der Grundgedanke dieser Sphärenmusik. Man sieht hier sozusagen die Ordnung des Kosmos widergespiegelt in Tönen, in einer Art von Musik. Und der Grundtenor ist ja, das ist die gleiche Ordnung, die gleiche göttliche Ordnung, die alles wirklich bestimmt.“
SPRECHER
Musik und Gestirne folgen den gleichen Gesetzen. Die Zahl wird zur „Klammer“, zum „ordnenden Faktor“, der Himmel und Musik verbindet.
SPRECHERIN
Bereits in der Antike wird diese Idee allerdings auch heftig diskutiert. Vor allem die berechtigte Frage: Wenn der Kosmos tatsächlich schwingt und tönt - warum hört man dann nichts davon auf der Erde?
SPRECHER
Die „Sphären-Harmoniker“ überboten sich durch alle möglichen Erklärungen: Von „Naja, wenn etwas ununterbrochen erklingt, dann nimmt man es eben irgendwann nicht mehr wahr, es wird zu einer Art Hintergrundrauschen“ - bis hin zur steilen These, dass eben nur Auserwählte wie Pythagoras selbst die Himmelsharmonie tatsächlich „hören“ könnten.
SPRECHERIN
Doch kritische Denker wie Aristoteles überzeugte das nicht. Er meldet Zweifel an, Zweifel an einer Sphärenharmonie, die man tatsächlich „hören“ könnte – und spart nicht mit Polemik:
ZITATOR 1 Aristoteles – (Vom Himmel)
„Die Behauptung es entstünde bei der Bewegung der Gestirne eine Musik, in dem die Töne zusammenstimmten, ist zwar fein und originell, aber keineswegs wahr….((Nicht nur ist es unsinnig, dass wir nichts hören, sondern auch, dass wir abgesehen von dieser Sinneswahrnehmung nichts merken sollten…)) es ist vielmehr wahrscheinlich, dass wir nichts hören, und die Körper keine gewaltsame Einwirkung erleiden, weil kein Ton vorhanden ist!“
SPRECHER
Natürlich sind wir heute schlauer: In den Weiten des Weltalls ist es tatsächlich gespenstisch still. Es fehlt schlicht und einfach ein Medium wie beispielsweise Luft, das Schallwellen transportieren könnte.
SPRECHERIN
Stattdessen ist dort draußen vor allem eines: nichts. Ein nahezu perfektes Vakuum. Selbst wenn im All also etwas schwingt, explodiert oder kollidiert - wir können es nicht hören.
SPRECHER
Und vielleicht ist das auch ganz gut so. - Pierre Leich:
03-O-TON Leich Sonne
“Im Falle der Sonne, denke ich, dürfen wir alle auch ganz froh sein, dass dem so ist. Denn wenn man sich vorstellen würde zwischen der Sonne und uns wäre ein Medium, was den Schall überträgt, dann wäre es ja hier auf der Erde so unglaublich laut, dass wir überhaupt nichts mehr hören könnten. ((Also hätte sich dann mit Sicherheit weder Gehör, noch Stimme entwickeln können. Also wir können sogar froh sein, dass uns da keine Geräusche erreichen.)) Aber es schwingt ja auch immer der Gedanke mit, dass es gar nicht um Geräusche im engeren Sinn geht, sondern tatsächlich nur um mathematische Proportionen.“
SPRECHER
Ein genialer Mathematiker - zugleich einer der profiliertesten theoretischen Astronomen um 1600, sollte die Tradition dieser pythagoreischen Harmonievorstellungen wieder aufgreifen: Johannes Kepler.
((SPRECHERIN
Dieser scharfsinnige Denker ist davon überzeugt, dass sich der uralte Glaube an ein musikalisch schwingendes Universum durchaus wissenschaftlich untermauern lässt - und zwar mit den physikalischen Gesetzen des 17. Jahrhunderts.))
MUSIK (Cosmos)
ZITATOR
Weltharmonik - oder: Die Vermessung des Himmels
SPRECHER
Von der Erde aus betrachtet, malen manche Planeten seltsame Linien an den Himmel, wundersame Schleifen. Vor allem der Mars scheint nicht ganz zu wissen, was er will, irrt gleichsam umher: kehrt plötzlich seine Richtung um, usw.
SPRECHERIN
Passt das zum „rationalen Plan“ eines Schöpfers? Lässt Gott die Planeten tatsächlich wie „verirrte Reisende“ am Himmel wandern? Das konnte nicht sein.
SPRECHER
Folgte man Kopernikus - und geht davon aus: nicht die Erde ist der Mittelpunkt des Kosmos, sondern die Sonne, um die die Planeten kreisen -, dann entwirren sich die Schleifen plötzlich. Plötzlich ergeben sie Sinn.
SPRECHERIN
Johannes Kepler prüft Kopernikus Theorie mithilfe komplizierter mathematischer Berechnungen - und anhand der besten Beobachtungsdaten, die es damals gibt: den Daten, die der dänische Astronom Tycho Brahe gesammelt hatte.
SPRECHER
Und doch ist es ein jahrelanger Kampf, bis Kepler sich endlich dazu durchringt, ein revolutionäres Ergebnis anzuerkennen: Die Planeten bewegen sich nicht in perfekten Kreisen, sondern in Ellipsen. Und zwar nicht um die Erde, sondern um die Sonne!
SPRECHERIN
Kepler muss also ausgerechnet jenen vollkommenen Kreis opfern, der für Astronomen bis dahin als „Garant für Perfektion“ galt. - Markus Nielbock:
04-O-TON Nielbock Traditionsbruch
„Das war ja auch ein Teil dieser Vorstellung, dass das alles eine göttliche Ordnung hat. Und was ist göttlicher, was ist perfekter als ein perfekter Kreis? Und Kepler hat dann später gesehen: ja geht nicht mit dem Kreis, das ist völlig unmöglich, als er dann die Marsbahn sich angeguckt hat, machen wir doch eine Ellipse draus. Und das war dann schon ein ziemlich klarer Bruch zu einer Jahrtausend langen Tradition, was die Astronomie wirklich machte.“
SPRECHERIN
Kepler korrigiert aber nicht nur die Vorstellung perfekter Kreisbahnen, er verabschiedet auch die Vorstellung, dass sich Planten völlig gleichförmig bewegen. Er stellt fest: Die Geschwindigkeit schwankt, die Planeten laufen in Sonnennähe schneller als in Sonnenferne.
SPRECHER
Den eigentlichen Volltreffer landet Kepler allerdings mit seinem sogenannten „dritten Gesetz“. Er entdeckt, dass es einen festen Zusammenhang gibt, zwischen den Abständen der Planeten zur Sonne und ihren Umlaufzeiten - also: Wie weit ein Planet von der Sonne entfernt ist, und wie schnell er sich dabei bewegt - das ist kein Zufall. Dahinter verbirgt sich eine nachprüfbare Gesetzmäßigkeit, ein Naturgesetz, eine Konstante, die man berechnen kann.
SPRECHERIN
Den Weg hin zu dieser Einsicht schildert Kepler im 5. Buch seiner „Weltharmonik“:
ZITATOR 1 Kepler Weltharmonik
„Am 8. März des Jahres 1618 ist diese Proportion in meinem Kopf aufgetaucht. Bei der Berechnung hatte ich aber zunächst keine glückliche Hand: Ich verwarf sie als falsch. Doch dann, am 15. Mai kam sie wieder - und triumphierte in einem neuen Anlauf über die Finsternis meines Geistes. Wobei sich zwischen meiner siebzehnjährigen Arbeit an den Tychonischen Beobachtungen und meiner gegenwärtigen Überlegung eine derart treffliche Übereinstimmung einstellte, dass ich zuerst glaubte, ich hätte geträumt - und das Gesuchte in den Beweisunterlagen vorausgesetzt.“
SPRECHER
Doch Kepler hatte nicht geträumt. Er hat eine mathematisch nachprüfbare Gesetzmäßigkeit entdeckt. Die Formel lautet vereinfacht gesagt: „Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich zueinander wie die dritten Potenzen der Bahnradien.“
SPRECHERIN
Klingt kompliziert. Doch die entscheidende Botschaft ist letztlich: Alle Planeten folgen einem gemeinsamen Gesetz. Folgen einer klassischen Proportion, wie sie auch jedem antiken Mathematiker gefallen hätte.
SPRECHER
Das Gesetz gilt allerdings nur, wenn man davon ausgeht, dass sich die Planeten um die Sonne, nicht um die Erde drehen. - Pierre Leich:
05-O-TON Leich
„Und insoweit hat Kepler mit dem dritten Keplerschen Gesetz nicht nur dieses Prinzip der Harmonie in den Bewegungen der Planeten des Sonnensystems wiederentdeckt, sondern er hat uns auch das für seine Zeit mit Abstand beste Argument für den Heliozentrismus überhaupt geliefert.“
SPRECHERIN
Und: Auf Hunderten von Seiten versucht Kepler schließlich auch detailreich ganz konkrete harmonische Verhältnisse zwischen den einzelnen Planeten nachzuweisen. Dass die Abstände und Geschwindigkeiten der Planeten dabei variieren, erweist sich aus Keplers Sicht nun sogar als weiser göttlicher Plan.
Wenn die Abstände variieren, bedeutet das nämlich: Es gibt nicht den einen ewig gleichen Ton – es entstehen vielmehr unterschiedliche Töne - und damit Intervalle, also „Zusammenklänge“.
SPRECHER
Konkret: Kepler berechnet ein Verhältnis – und zwar das der Geschwindigkeit in Sonnennähe und der Geschwindigkeit in Sonnenferne, für jeden einzelnen Planeten. Dieses Verhältnis ist nichts anderes ein Intervall, das er so jedem der damals bekannten sechs Planeten jeweils zu ordnen kann:
SPRECHER/SPRECHERIN (im Wechsel):
Erde: 27:28 / Mars: 5:6 / Saturn: 9:10 / Jupiter: ebenfalls 9:10 / Venus: 80:81 / Merkur: 3:4
SPRECHERIN
Diese Intervalle der einzelnen Planeten setzt er wiederum miteinander in Beziehung, berechnet wie die einzelnen Planeten zueinanderstehen – und entdeckt dort Tonintervalle, ganzzahlige Verhältnisse, beispielsweise:
SPRECHER/SPRECHERIN (im Wechsel):
Saturn - Jupiter: 1:3 / Jupiter - Saturn: 2:1 / Erde - Mars: 3:2 / Erde – Venus: 3:5 usw.
SPRECHER
Kepler ordnet einzelnen Planeten sogar bestimmte Tonleiterleitern zu. Doch wer jetzt fragt: „Kann man das bitte mal hören, dieses <Konzert der Sterne>?“ - der wird enttäuscht: Zu „hören“, bzw. akustisch zu messen auf der Erde, gibt es da auch aus Keplers Sicht eigentlich nichts.
SPRECHERIN
Keplers Projekt „Harmonie der Welt“ verfolgt ein viel größeres Ziel: Getragen von einer tiefen religiösen Überzeugung will er eine Art göttlichen „Weltplan“ aufdecken: verborgene Harmonien und Proportionen, die alles durchdringen. Sprich: Kepler glaubt, dass die Welt auch im kleinsten Schneekristall eine Ordnung widerspiegelt.
SPRECHER
Diese Ordnung im Großen und Kleinen zu entdecken, ist seine Mission. Er versucht also gleichsam Gottes Gedanken „nachzudenken“, seinen mathematischen Plan zu ergründen, wie er selbst schreibt:
ZITATOR 1 Kepler (Weltharmonie)
„Ich fühle mich von einer unaussprechlichen Verzückung ergriffen ob des göttlichen Schauspiels der himmlischen Harmonie. Denn wir sehen hier, wie Gott gleich einem menschlichen Baumeister, der Ordnung und Regel gemäß, an die Grundlegung der Welt herangetreten ist.“
MUSIK (Cosmos)
ZITATOR
Das Konzert der Sterne - oder: Alles Zufall?
SPRECHERIN
Was konnten spätere Astronomen nun mit der Idee einer „Sphärenmusik“ - eines harmonisch „schwingenden Universums“, ja einer „Harmonie der Welten“ anfangen? Konnten sie an diese Vorstellung irgendwie anknüpfen?
SPRECHER
Man nehme: die Zahlenfolge 0, 3, 6, 12, 24, 48, 96 usw., also eine Reihe in der nach der Zahl drei jede Zahl das Doppelte der vorangegangenen ist. Dann addiere man zu jeder Zahl eine 4.
SPRECHERIN
Voilà, und schon kann man die Entfernungen aller bekannten Planeten von der Sonne bestimmen.
SPRECHER
Die Idee: die Abstände der Planeten von der Sonne lassen sich mit einer einfachen mathematischen Formel näherungsweise allein aus der Nummer ihrer Reihenfolge herleiten.
SPRECHERIN
Klingt erstaunlich - und diese Zahlenreihe gibt es tatsächlich. Sie nennt sich „Titius-Bode-Reihe“, benannt nach den Astronomen „Johann Daniel Titius“ und „Johann Elert Bode“ – veröffentlicht 1772.
SPRECHER
Die Regel stimmt mit den tatsächlichen Verhältnissen in unserem Sonnensystem ganz gut überein. Doch es gibt auch Unstimmigkeiten: Abweichungen von bis zu 5 % und mehr - z.B. bei Mars und Saturn. Pierre Leich:
06-O-TON Leich Titus Bode Reihe
„Man hat eine Zeit lang jetzt viele Exoplaneten gefunden. Da hat es natürlich auch Leute gegeben, die geguckt haben, ob man die Titius-Bode-Reihe bei diesen Planetensystemen auch feststellen kann. Dann gab es ein paar, dann war große Euphorie. Inzwischen hat man so viele, dass man auch wieder sagen muss, das war Zufall. Bei einigen passt das halt und bei den meisten aber nicht. Aber für den naturgesetzlichen Zusammenhang würde man schon fordern: entweder es gilt grundsätzlich immer, oder ist es halt Zufall.“
SPRECHERIN
Auch die bereits von Kepler beschriebenen ganzzahligen harmonischen Verhältnisse der Bahnen und Sonnenumlaufzeiten von Planeten können Astronomen heute durchaus beobachten.
SPRECHER
Stern „HD 110067“ z.B. - von uns ca. 100 Lichtjahre entfernt - wird von sechs Planeten umkreist, deren Umlaufzeiten alle in ganzzahligen sogenannten „Resonanzverhältnissen“ stehen.
SPRECHERIN
Oder: Stern „TOI-178“ - rund 200 Lichtjahre von uns entfernt - auch er wird von sechs Planeten umkreist. Fünf davon bewegen sich in einem harmonischen Rhythmus.
SPRECHER
Und wir wissen heute auch, warum solche Effekte auftreten: Planeten oder andere Himmelskörper in einem System beeinflussen sich gegenseitig durch ihre Schwerkraft.
SPRECHERIN
Die Folge: Es stellen sich stabile harmonische Verhältnisse ein – zwischen den Umlaufzeiten der Planetenbahnen. Offenbar als das Ergebnis eines „Reifungsprozesses“: vom Chaos zur Ordnung. - Der Astrophysiker Markus Nielbock:
O-TON Nielbock Reifungsprozess
„Das hat was damit zu tun, wie sich so ein System, was anfänglich tatsächlich chaotisch ist, sich im Laufe der Zeit entwickelt. Und man geht heute davon aus, dass eben durch die gravitative Wechselwirkung in so einem Planetensystem sich irgendwann ein Gleichgewichtszustand einstellt, der eben durch diese ganzzahligen Verhältnisse widergespiegelt wird. Und mit der Zeit pendelte sich das so ein, dass aus dem chaotischen System ein mehr oder weniger geordnetes System sich bildet. Und das zeichnet gerade ich sage mal relativ alte Planetensysteme aus, dass wir diese Verhältnisse dort finden.“
SPRECHER
Bei jungen Systemen aber eher nicht. Sprich: Harmonische Verhältnisse sind in vielen Planetensystemen eben ein möglicher Zustand, aber eben nicht der einzige.
SPRECHERIN
Und: wenn Astronomen wie im Fall von TOI-178 einen „harmonischen Volltreffer“ landen, dann gibt es auch dort dennoch nichts zu „hören“.
SPRECHER
Wer tatsächlich etwas hören will, muss damals wie heute nachhelfen. Die Europäische Südsternwarte, kurz „ESO“ macht das z.B. gerne mit künstlerischen Animationen: die rhythmische Bewegung der Planeten um den Zentralstern soll so nicht nur optisch, sondern auch klanglich erfahrbar werden: Jedem Planeten wird ein Ton zugewiesen, der dann erklingt, wenn ein Planet entweder eine volle oder eine halbe Umlaufbahn vollendet hat.
SOUND TOI-178 https://www.eso.org/public/videos/eso2102b/
SPRECHERIN
Komplexe Ordnung soll so akustisch erfahrbar werden – wird aber eher nicht zum „berauschenden Klangerlebnis.“
SPRECHER
Löst man sich schließlich vom Gedanken, einer wirklich hörbaren Ordnung in unserer Welt - öffnet sich ein weites Feld: Unsere Welt ist durchdrungen von wiederkehrenden Formen, Mustern und Strukturen.
SPRECHERIN
Die existieren nicht zufällig, sondern folgen gleichsam „universellen Codes“.
SPRECHER
Z.B. der sogenannten Fibonacci-Zahlenfolge, bei der jede Zahl die Summe der beiden vorausgegangenen Zahlen ist und die eine Art „Wachstumsmuster“ in der Natur beschreibt: Blütenblätter, Äste und Samen – alles, was sich durchsetzt, wächst meist nach der Fibonacci-Folge.
SPRECHERIN
Prägend ist ebenso die unendliche Konstante Pi, auch als Kreiszahl bekannt.
SPRECHER
Auch fraktale Strukturen sind allgegenwärtig: Muster, die verkleinerte Kopien ihrer selbst zum Vorschein bringen, wenn man sie vergrößert.
SPRECHERIN
All das können Orientierungshilfen sein, um die Wunder der Natur zu erkennen - und Forschende versuchen genau diese Ordnung und die Gesetze dahinter zu verstehen. Denn ohne Gesetze wäre unsere Welt beliebig und zufällig, was sie offenkundig aber nicht ist.
SPRECHER
Doch all diese Beobachtungen, Formeln und Gesetze sind bislang eben nur „Bausteine“. Sie liefern keine allumfassende „Weltformel“, sind immer nur eine Annäherung.
SPRECHERIN
Und natürlich lauert auch immer die Gefahr, dass wir nur sehen, was wir sehen wollen. Bereits in Keplers „Weltharmonik“ wirkt manches doch erstaunlich konstruiert, fällt manche Proportion, weil sie nicht perfekt ist, eben unter den Tisch.
SPRECHER
Außerdem: Wer harmonische Beziehungen sucht, findet sie auch – irgendwo, irgendwann. Das hat u.a. der niederländische Astronom Cornelis de Jager eindrücklich auf die Schippe genommen:
SPRECHERIN
Er hat einfach nur vier Parameter seines holländischen Fahrrades vermessen: Pedalweg, Durchmesser des Vorderrads, der Lampe und der Klingel.
SPRECHER
Aus diesen sehr übersichtlichen vier Maßen hat er dann mit einfachen mathematischen Operationen erstaunliche physikalische Konstanten und astronomische Werte berechnet.
SPRECHERIN
Den Abstand zwischen Erde und Sonne z.B. mittels „Wurzel aus Pedalweg“ mal „Kubikwurzel Durchmesser der Klingel“ geteilt durch „Durchmesser der Lampe“.
SPRECHER
Und wer hätte das gedacht: Auch die Quotienten der Massen von Proton und Elektron, die Gravitationskonstante, die Feinstrukturkonstante und die Lichtgeschwindigkeit...
SPRECHERIN
...all das steckt bereits drin -
SPRECHER
- in einem einfachen holländischen Fahrrad.
Franziska zu Reventlow - sie war Mythos und Skandal zugleich: Die Schriftstellerin, Malerin und Übersetzerin wurde Mittelpunkt der Schwabinger Künstlerkreise um 1900, galt als Verkörperung erotischer Rebellion und bohèmehaften Lebens. Empörend und vorbildhaft: als frühe Inkarnation weiblichen Selbstbewusstseins. Von Frank Halbach
Credits
Autor und Regie dieser Folge: Frank Halbach
Es sprachen: Christiane Roßbach, Stefan Merki, Ines Hollinger
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Ulla Egbringhoff, Publizistin und Reventlow-Biographin
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Literatur:
Ulla Egbringhoff: Franziska zu Reventlow. Reinbek bei Hamburg 2000.
Kerstin Decker: Franziska zu Reventlow. Eine Biografie. Berlin 2018.
Franziska zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen. Begebenheiten von einem merkwürdigen Stadtteil. München 1913.
Franziska zu Reventlow: Der Geldkomplex. Meinen Gläubigern zugeeignet. München 1916.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATORIN
Das Gefühl von Glück und Fülle ist ganz unabhängig von wirklichem Erleben? Aber in welcher Sphäre liegt es dann, und warum ist es manchmal in uns und manchmal wieder unerreichbar?
ERZÄHLERIN
Franziska zu Reventlow: „Ein Leben, das eins von denen ist, die erzählt werden müssen, dass man es vor allem den jungen Mädchen und jungen Männern erzählen muss, die das Leben anfangen wollen und nicht wissen wie.“, meinte der Lyriker Rainer Maria Rilke.
ZITATORIN (ernsthaft)
Ich darf nur lieben, aber niemals jemanden gehören!
SPRECHER (sensationslüstern)
Die Skandalgräfin von Schwabing war eine Virtuosin der freien Liebe!
MUSIK ENDE
MUSIK Z8022611 128 „Alphaville“; ZEIT: 01:00
ERZÄHLERIN
Franziska zu Reventlow war alleinerziehende Mutter, Symbolfigur der sexuellen Revolution, Vorbotin des intellektuellen Prekariats und lange Zeit eine viel zu wenig beachtete Schriftstellerin.
ZITATORIN (erfüllt)
Vielleicht brächte ich es soweit, in Glanz zu leben, aber ich hätte dann alles andere nicht, meine absolute Freiheit und mein Leben für mich.
ERZÄHLERIN
Sie setzte Maßstäbe eines ungebundenen Lebens, brach mit den Konventionen des Kaiserreiches und mit ihrer Familie. Sie empörte - und begeisterte als Verkörperung eines neuen weiblichen Selbstbewusstseins. „Vielleicht die erste Frau von heute“, meinte die Kolumnistin und Kritikerin Kerstin Decker.
ZITATORIN (heiter)
Eigentlich ist jeder Tag wie eine große Schlacht mit vielen Lichtblicken.
MUSIK ENDE
O-Ton 1 Egbringhoff (01:54)
Franziska zu Reventlow war schon in ihrer Jugend sehr auf Freiheit bedacht.
ERZÄHLERIN
Erläutert die Autorin , Ulla Egbringhoff, die mehrfach zu Autorinnen der Jahrhundertwende veröffentlicht und eine Monographie zu Franziska zu Reventlow für den Rowohlt-Verlag geschrieben hat.
O-Ton 2 Egbringhoff (02:10)
Sie ist dann ins Internat gekommenen, ein Mädchenstift, damit sie sich bessert. Auch dort war sie schon von Anfang an renitent und hat einmal in ihrem Kleiderschrank geschrieben:
MUSIK privat Track 014 „Das Gedicht“; Album: Oktoberfest 1900; Label: 2Lane Records; Interpret: Michael Klaukien; Komponist: Michael Klaukien; ZEIT: 00:12
ZITATORIN (unbeirrbar, zu sich)
Ich habe nie das Knie gebogen – den stolzen Nacken nie gebeugt.
MUSIK ENDE
O-Ton 3 Egbringhoff (02:40)
Dieser Widerstand gegen Restriktionen und Eingrenzungen hat durchaus ihr Leben bestimmt. Und das war in ihrer Familie nicht gern gesehen. Und selbst in ihrer Familie wurde sie zum Skandal. Als sie dann in jungen Jahren nach München ging und in die Münchner Bohème ging, da fiel sie auch sehr auf mit ihrem Freiheitsdrang, der sich darin ausdrückte, dass sie als geschiedene Frau, als ledige Mutter ein Kind bekommen hat. Sie hat immer verheimlicht, wer der Vater des Kindes war, und das war natürlich skandalös.
MUSIK privat Track 014 „Das Gedicht“; Album: Oktoberfest 1900; Label: 2Lane Records; Interpret: Michael Klaukien; Komponist: Michael Klaukien; ZEIT: 01:47
ERZÄHLERIN
Geboren am 18. Mai 1871 in Husum wird sie getauft auf den Namen:
Fanny Liane Wilhelmine Sophie Adrienne Auguste Comtesse zu Reventlow. Die Mutter versucht ihre Tochter gemäß des Frauenbilds des 19. Jahrhunderts zu erziehen. Das bedeutet: Anpassung bis zur Selbstverleugnung und das Unterdrücken jeglichen eigenmächtigen kreativen Ausdruckswillens. Um das durchzusetzen sind Schläge an der Tagesordnung.
ZITATORIN (verletzt, sarkastisch)
Nicht einmal die Hunde bekamen so viele Prügel. – Mama hatte die Hunde wohl auch viel lieber.
ERZÄHLERIN
Die Prügel haben nicht den gewünschten Erfolg. Und der Aufenthalt im Internat, im Freiadeligen Magdalenenstift in Altenburg auch nicht. Die Stiftpröbstin macht in Fanny einen schädlichen Einfluss auf die Mädchen aus.
ZITATORIN
Die Sünde ist unter euch wie ein fressender Eiter.
SPRECHER
Nach dem Rauswurf aus dem Internat verbrachte Fanny viel Zeit bei ihrer Tante Liane von Qualen, der jüngeren Schwester ihrer Mutter, in Wulfshagen, im Kreis Eckernförde.
ERZÄHLERIN
Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester ist Tante Liane sehr interessiert an Kunst und Literatur. In Fanny wächst der Wunsch Malerin zu werden und sie erhält Unterricht von Fräulein Heine, die zu Fannys Vorbild wird.
SPRECHER
Doch 1888 soll Fanny wieder nach Hause kommen – der Vater hat beschlossen mit der Familie nach Lübeck zu ziehen.
ERZÄHLERIN
Doch der Same ist gesät: Kunst ist für Fanny gleichbedeutend geworden mit:
ZITATORIN
Leben! Ein Traum von immerwährender Glückseligkeit
MUSIK ENDE
O-Ton 4 Egbringhoff (05:23)
Das war ihr ganz großes Ziel, schon sehr früh, Künstlerin zu werden. Als sie dann in Lübeck gewesen ist, war sie dann verlobt mit einem Juristen. Und der Jurist, Herr Lübke, hatte ihr dann auch ermöglicht, Unterricht zu nehmen in München.
MUSIK Z8042026 113 „Goldstein“; ZEIT: 02:02
SPRECHER
Ende des 19. Jahrhunderts war München zu einer der bedeutendsten Kunstmetropolen Europas aufgestiegen. München leuchtete:
ERZÄHLERIN
Die bayerische Hauptstadt lockte Malerinnen und die, die es werden wollten, an die Isar.
SPRECHER
Ein Studium an einer staatlich und künstlerisch anerkannten Akademie war Frauen damals freilich verboten. Die vielen Künstler Münchens aber boten gerne privaten Unterricht an.
ZITATORIN (glücklich)
Das Arbeiten in unserem großen kühlen Atelier, und dann wieder in die Sonne hinaus, den ganzen Tag sein eigner Herr sein, keinen Moment des Tages sich nach anderen richten zu müssen! So habe ich mir’s geträumt, das ist endlich die Luft, in der ich leben kann. Mein Gott, und jetzt muss ich arbeiten, arbeiten bis aufs Blut und dann fasst mich der Jammer an um all die verlorene Zeit, was für Jahre hätte ich schon arbeiten können.
SPRECHER
Klagt die 22-jährige Fanny. In der Malschule von Anton Ažbé in der Georgenstraße, wo auch so prominente Künstler wie Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky ausgebildet wurden, beginnt Fanny ihr Bohème-Leben. Zunächst noch recht sorglos, finanziert von ihrem Mann Walter von Lübke.
Fotos aus der Zeit zeigen eine kleine, zierliche hübsche junge Frau.
ERZÄHLERIN
„Ihr Äußeres von strahlendem Reiz und das Herz erfüllt von der Schönheit des Lebens und von der Sehnsucht nach einer schönen freien Menschenwelt.“, wird Erich Mühsam später schreiben. Und Annette Kolb meinte: „Ihre Augen waren wunderschön. Ihr Zynismus kannte keine Grenzen, doch immer alles mit Grazie.“
SPRECHER
Ihre materiellen Mittel sind bescheiden – nicht nur weil die Schulgebühren und die Malutensilien teuer sind, sondern wohl auch weil sie mit Geld recht unbekümmert umgeht. Ulla Engbringhoff:
MUSIK ENDE
O-Ton 5 Egbringhoff (07:36)
Sie hat Unterricht genommen, sie hat gemalt, aber sie musste immer wieder feststellen, dass ihr Talent doch nicht so groß war. So hat sie es auch selber immer wieder geschrieben, in ihren Tagebüchern: Ach, ich habe schon wieder gepatzt et cetera. Es sind leider auch nur sehr wenige Bilder von ihr erhalten, sodass wir uns kein richtig gutes Bild machen können, wie erfolgreich sie als Künstlerin vielleicht hätte werden können.
MUSIK Z8042026 212 „Goldstein Reprise“; ZEIT: 01:44
ZITATORIN (drängend)
Es gibt so vieles, was man gerne künstlerisch gestalten möchte und es wenigstens doch in der Malerei nicht ausdrücken kann. Da drängt es mich mächtig dazu, es zu schreiben.
SPRECHER
Tatsächlich verfasst Fanny bald kleinere literarische Texte, die in den „Husumer Nachrichten“ veröffentlicht werden.
ERZÄHLERIN
Die Künstlerin Fanny zu Reventlow sucht Nähe zu anderen Künstlern, die sie in den Künstlerkreisen der Schwabinger Bohème findet.
ERZÄHLERIN
Die Freiheit, die sie hier kennenlernt, wird Fanny fortan nicht mehr aufgeben.
SPRECHER
Ihre Ehe mit dem Gerichtsassessor Walter Lübke wird wegen fortgesetzten Ehebruchs Franziskas geschieden.
ERZÄHLERIN
Sie führt ein Bohèmeleben.
SPRECHER
Geprägt von Geldnot, von Krankheit und mehreren Fehlgeburten.
ZITATORIN (überzeugt)
Und doch ist dieses Künstler-Bohèmeleben das Beste von meinem ganzen bisherigen Leben gewesen: Es ist wenigstens frei, ganz frei!
ERZÄHLERIN
Fanny lehnt Bürokratie, Aristokratie, den geld- und fortschritts-gläubigen, nationalistischen, militaristisch wilhelminischen Gründergeist und die Erziehung junger Frauen zu „höheren Töchtern“ kategorisch ab.
SPRECHER
Am 1. September 1897 wird ihr Sohn Rolf geboren.
ZITATORIN (erfüllt, doch ungläubig)
Mein Kind, endlich mein Kind, o mein Gott, mein Kind. Alles hängt an ihm, all meine Liebe und all mein Leben, und die Welt ist wieder herrlich für mich geworden, wieder Götter und Tempel und der blaue Himmel darüber.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Den Namen des Vaters verschweigt die Reventlow zeitlebens.
ZITATORIN
„Bubi“, „Maus“, „Göttertier!“
ERZÄHLERIN
Franziskas Tagebuch ist voll von rührenden mütterlichen Glücksbekundungen. Sie begegnet ihrem Sohn mit solcher Liebe, als müsse sie all die Verbrechen gutmachen, die an ihr als Kind begangen wurden. Rolf Reventlow schreibt später in seiner Autobiografie:
SPRECHER
Das Fehlen eines Vaters bedeutete keine Lücke in meiner Kindheit, in diesem recht ungeordneten, aber von mütterlicher Liebe durchglühten Kinderleben.
ERZÄHLERIN
Ihren Unterhalt verdient Franziska mit literarischen Übersetzungen und kleineren schriftstellerischen Arbeiten für Zeitschriften und Tageszeitungen wie den „Simplicissimus“, die „Neue Deutsche Rundschau“ oder die „Münchner Neueste Nachrichten“. Außerdem tritt sie nach etwas Schauspielunterricht 1898 eine Zeit lang am Theater am Gärtnerplatz sowie im Akademisch-Dramatischen Verein des jungen Otto Falckenberg auf.
SPRECHER
Ihre anderen Jobs: Hilfsköchin, Glasmalerin, Messehostess, Prostituierte und das Schnorren…
ERZÄHLERIN
…die Spenden ihrer männlichen Bekanntschaften.
SPRECHER
Von denen sie in der Münchner Künstlerszene reichlich hatte. Sie verkehrte mit Theodor Lessing, Friedrich Huch, Erich Mühsam, Oskar Panizza, Frank Wedekind, Rainer Maria Rilke…
ERZÄHLERIN
Vor allem aber dem sogenannten Kosmiker-Kreis um Karl Wolfskehl, Ludwig Klages und Alfred Schuler…,
SPRECHER
…die die Reventlow wegen ihrer erotischen Freizügigkeit und ihres unehelichen Kindes zur „heidnischen Madonna“ und „Wiedergeburt der antiken Hetäre“ stilisieren. Fanny gelang es im Gegenzug, Klages zu überreden, die Vormundschaft für Rolf zu übernehmen, da das Gesetz einen gesetzlichen Vormund verlangte.
ERZÄHLERIN
Der Vorname „Fanny“ ist in Bayern die gängige Abkürzung für Franziska. Was dazu führt, dass Rilke und Klages Fanny in Briefen zur „Francisca“ veredeln.
ZITATORIN (heiter)
Die kleine Fanny aus Husum und die große Franziska in München.
ERZÄHLERIN
Ihre Erlebnisse in der Münchner Künstlerszene destilliert Franziska in ihrem humoristischen Schlüsselroman „Herrn Dames Aufzeichnungen“, der in „Wahnmoching“ spielt.
O-Ton 6 Egbringhoff (12:56)
Dieser Roman ist 1913 erschienen. Er erzählt aber von Ereignissen, die so um 1903, 1904 geschehen sind. Und der Titel Wahnmoching - man assoziiert vielleicht Wahnfried, das wäre aber zu wagnerisch gewesen - und Moching, das ist natürlich den Münchnern und Münchnerinnen eher bekannt als den Norddeutschen. Dass es eben Ortschaften gibt wie Feldmoching und so weiter. Und es heißt, so hat Rolf Reventlow, ihr Sohn, es später erzählt, dass er auf diese Kombination gekommen sei. Wahnmoching als Bezeichnung für diesen Stadtteil Schwabing. In Schwabing, in Wahnmoching spielt diese Geschichte von „Herrn Dames Aufzeichnungen“. Einfacher Plot: Ein junger Mann unbedarft, kommt nach Wahnmoching, um fürs Leben zu lernen, und staunt dann sehr ausführlich und mit großen Augen, was da so geschieht, denn er kommt dieser junge Mann, Herr Dame, in den Kreis, in dem sich auch Franziska zu Reventlow bewegt hat: in den Kreis der Kosmiker und in den Kreis, wo auch Stefan George sich zeitweilig aufhielt.
SPRECHER
Stefan George, der sich „Meister“ nennen lässt. Als Lyriker war George zunächst vor allem dem Symbolismus verpflichtet, und predigte „kunst für die kunst“, geriert sich aber immer mehr zum Mittelpunkt des nach ihm benannten George-Kreises.
ERZÄHLERIN
Der Kosmiker-Kreis, in dem zeitweise auch der Meister Stefan George auftaucht, ist eine parareligiöse Intellektuellengruppe.
O-Ton 7 Egbringhoff (16:04)
Die Kosmiker waren Männer in erster Linie, die ich würde sagen, sehr reaktionäre Vorstellungen hatten. Die haben sich auf ein wichtiges Buch bezogen, „Das Mutterrecht“ von Herrn Bachofen, wo es heißt, vor den patriarchalen Zeiten habe das Mutterrecht regiert. Also, es habe ein Matriarchat gegeben.
ERZÄHLERIN
Avantgarde, Größenwahn, Hedonismus, ekstatische Rituale, Zionismus, Antisemitismus, Nietzsche-Epigonen, Homoerotik und alle möglichen und unmöglichen „Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil“ schildert Franziska zu Reventlow in einer Satire über Aberglauben, Magie und freie Liebe.
O-Ton 8 Egbringhoff (17:55)
Es gab ein wichtiges Fest im Februar 1903, an dem auch Stefan George teilgenommen hat. Und es kann man sich so vorstellen, dass die alle verkleidet werden. Alfred Schuler, der hatte sich sowieso als Römer immer imaginiert, lief dort in Verkleidung eines alten Römers daher. Die hatten lange Gewänder an und haben das Dionysische gefeiert. Und Reventlow mittenmang einfach, weil sie Lust zum Feiern hatte, und hatte Spaß auch an der Verkleidung und so weiter. Sie hat das natürlich gar nicht so ernst genommen wie die Herren, die auch wirklich daran geglaubt haben, dass sie das Heidnische wieder zum Leben erwecken können. Völlig abstrus. Naja. Und davon erzählt der Roman „Herrn Dames Aufzeichnungen“.
ERZÄHLERIN
Der Schlüsselroman der Schwabinger Bohéme. Am Ende herrscht Katerstimmung, der kollektive Rausch ist vorbei, alle sind erschöpft und die Mitglieder des Kreises völlig zerstritten.
O-Ton 9 Egbringhoff (20:33)
Da hat die Franziska zu Reventlow in diesem Roman mit einer großen Gabe an Ironie und Humor - heute würde man vielleicht auch von verschwörungstheoretischen Vorstellungen sprechen - sehr schön aufs Korn genommen. Das war ihr aber dann eben erst möglich zehn Jahre später.
MUSIK privat Track 014 „Das Gedicht“; Album: Oktoberfest 1900; Label: 2Lane Records; Interpret: Michael Klaukien; Komponist: Michael Klaukien; ZEIT: 00:24
ERZÄHLERIN
Franziska feiert zahllose Feste…
SPRECHER
…und liebt unzählige Männer.
ZITATORIN
Ich habe nie das Verlange gehabt, einen Menschen ganz zu „besitzen“ oder ihn über Gebühr festzuhalten. Dazu ist das Leben zu kurz. Und wer mich festhalten wollte – es kam hier und da vor – ist niemals zufrieden mit dem Erfolg gewesen.
MUSIK ENDE
O-Ton 10 Egbringhoff (22:33)
Die Kehrseite, die ist lange nicht - zumindest bei den Zeitgenossen nicht immer wahrgenommen worden - dass diese Kompromisslosigkeit, die sie in ihrem Leben hatte, auch dazu führte, dass sie mental auch immer auf eine andere Schiene gekommen ist. Sie war zwischendurch immer wieder sehr krank, also Krankheit bestimmte auch ihr Leben. Und sie hatte da vielleicht auch bedingt durch die Krankheiten, auch immer
wieder sehr schwere depressive Phasen gehabt, in denen sie, ja eben nicht fröhlich gefeiert hat, sondern sehr lethargisch war und unter den Belastungen sehr gelitten hat. Denn sie hatte wirklich viele Gläubiger, hatte immer finanzielle Probleme. Sie hat das gemacht, was man eigentlich auch kurios findet. Wenn sie denn mal Geld hatte, hat sie dann gerne mal ein bisschen Geld in der Wohnung versteckt, damit sie, wenn sie in Notzeiten ist, in ihrer eigenen Wohnung suchen kann und vielleicht doch noch ein paar Groschen finden kann.
ERZÄHLERIN
Ihr widerständiges Leben, das alle herrschenden gesellschaftlichen Regeln und Zwänge ihrer Zeit sprengt, ihr unbändiges Streben nach Freiheit, hat dazu geführt, dass man sie später zu einer Ikone der Frauenemanzipation stilisierte.
SPRECHER
Doch eine Kämpferin für Frauenrechte, eine Feministin, war sie nicht.
ERZÄHLERIN
Franziska zu Reventlow ist zwar mit Frauenrechtlerinnen wie der Autorin Helene Böhlau oder der Juristin Anita Augspurg befreundet. Doch eine gleichberechtigte Berufstätigkeit der Frau interessiert sie nicht.
ZITATORIN
Wir sind dazu da, es gut zu haben und uns nicht beklagen zu müssen.
O-Ton 11 Egbringhoff (10:53)
Das ist wiederum zu lesen vor dem Hintergrund, dass sie selber immer wieder in die Bredouille kam, ihren Lebensunterhalt irgendwie finanziert zu bekommen, was sehr schwierig war. Und deswegen ist ein bisschen verständlich, dass sie dann eher sagt: Nein, wir Frauen sollen nicht die gleichen Rechte haben, dann müssen wir ja arbeiten. Nein, das findet sie ganz und gar nicht.
ERZÄHLERIN
Doch Franziska fordert:
MUSIK Z8042026 113 „Goldstein“; ZEIT: 00:46
ZITATORIN
Volle geschlechtliche Freiheit, das ist freie Verfügung über seinen Körper, die uns das Hetärentum wiederbringt.
SPRECHER
Fanny kritisiert an der Frauenbewegung die Vermännlichung der Frau und die Feindschaft gegenüber jeglicher erotischer Kultur.
ERZÄHLERIN
Und denkt zugleich Erotik und Mutterschaft außerhalb der Gesellschaftsform Ehe.
ZITATORIN
Die Hetären des Altertums waren freie, hochgebildete und geachtete Frauen, denen es niemand übel nahm, wenn sie ihre Liebe und ihren Körper verschenkten, an wen sie wollten und so oft sie wollten und die gleichzeitig am geistigen Leben der Männer teilnahmen.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
1910 mit 39 Jahren verlässt Franziska zu Reventlow München und geht mit ihrem Sohn nach Ascona am Lago Maggiore.
SPRECHER
Die Künstlerkolonie am Monte Verità.
O-Ton 12 Egbringhoff (25:25)
Der Monte Verità, man könnte ja auch fast sagen, dass es das Schwabing von Schwabing gewesen ist. Also eine Ansammlung von Menschen, die nach alternativen Lebensformen gesucht haben. Also Vegetarier fanden sich dort ein, nacktbadende Menschen, die ja auch wiederum letztendlich ein freies Leben führen wollten. Aber Franziska zu Reventlow ist eigentlich weniger aufgrund dieser anderen alternativen Lebensformen nach Ascona gereist.
SPRECHER
Sondern weil sie einen Tipp bekommen hat. Erich Mühsam empfahl seiner Freundin Fanny die Bekanntschaft mit dem baltischen Baron Alexander von Rechenburg-Linten, der in Ascona lebt. Dem droht die Enterbung durch den alten Vater, der von seinem Sohn einen angemessenen Lebenswandel erwartet.
ERZÄHLERIN
Heißt: Eine Ehefrau von edlem Geblüt. Franziska schließt 1911 eine Scheinehe. Und hat endlich ausgesorgt.
SPRECHER
Bis sie ihr Vermögen durch einen Bankenkrach 1914 wieder verliert.
O-Ton 13 Egbringhoff (31:07)
Und diese Geschichte nimmt sie auch auf, in einem ihrer anderen, sehr schönen Romane, der mir sehr gut gefällt: Der Geldkomplex. Da erzählt sie ihre eigenen Erfahrungen und kombiniert das mit den Theorien Sigmund Freuds über die Psychoanalyse. Denn die Protagonistinnen gehen in ein Sanatorium, auch aus Geldnot hat sie die Möglichkeit, dort einen Platz zu erhalten. Und sie sagt dann naja, also in der Psychoanalyse heißt es ja das alles Leid, nur durch die Verdrängung des Erotischen erfolge.
ZITATORIN
Dass ich in der Verdrängung der „Erotik“ Erhebliches geleistet habe, kann ich nun wirklich beim besten Willen nicht behaupten.
ERZÄHLERIN
Als ihr geliebter Sohn Rolf 1914 in den Ersten Weltkrieg eingezogen wird, kann Franziska nicht tatenlos zusehen. Mit ihrer kosmopolitischen Einstellung hat sie keinerlei Verständnis für die taumelnde nationalistische Kriegsbegeisterung. Sie verhilft Rolf zur Flucht über den Bodensee in die Schweiz - diese Fluchthilfe geht durch alle europäischen Zeitungen.
SPRECHER
Der Neffe des bekannten alldeutschen Kriegshetzers Graf Ernst Reventlow desertierte in abenteuerlicher Weise aus der Armee.
ERZÄHLERIN
Titelt zum Beispiel die „Westschweizer Presse“. In Deutschland braucht sich Franziska bis auf Weiteres nicht mehr blicken lassen.
ZITATORIN (in stillen Triumph)
Ich hatte dem Kaiser meinen Sohn weggenommen.
MUSIK privat Track 014 „Das Gedicht“; Album: Oktoberfest 1900; Label: 2Lane Records; Interpret: Michael Klaukien; Komponist: Michael Klaukien; ZEIT: 00:44
SPRECHER
Im Juni 1918 stürzt Fanny zu Reventlow mit dem Fahrrad.
Während einer Notoperation stirbt sie im Alter von nur 47 Jahren an Herzversagen.
ERZÄHLERIN
Ihr damals als so unerhört abgestempeltes Leben, scheint heute wegweisend: als das einer Vorreiterin eines neuen weiblichen Selbstbewusstseins.
ZITATORIN
Ich kann nicht brechen das ist eben das Schlimme. Ich zerbreche nie, bin der prädestinierte Phönix.
Von den afrikanischen Savannen über die Wüsten Asiens bis zu den Meeren der Antarktis haben Säugetiere die verschiedensten Lebensräume erobert. Aber wie konnten sie sich so erfolgreich ausbreiten? Und was verrät das Leben unserer nächsten Verwandten im Tierreich über unseren eigenen Ursprung? Autorin: Alexandra Hostert (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Alexandra Hostert
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Stefan Wilkening, Ditte Ferrigan, Peter Weiß
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Zainal Zahari; Veterinär, Malaysia;
Steve Brusatte; Paläontologe, Edinburgh;
John Payne; Zoologe, Malaysia;
Jan Decher, Säugetierkundler, Bonn
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Autoren dieser Folge: Simon Demmelhuber, Volker Eklkofer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Xenia Tilling, Werner Härtl, Andreas Discherl, Karin Schumacher
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Redaktion: Bernhard Kastner
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Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Christiane Klenz
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Im Interview:
Prof. Antje Boetius, Direktorin Alfred-Wegener-Institut Bremerhaven
Prof. Ismeni Walter, Hochschule Ansbach, Professur für Umweltjournalismus
Prof. Helmut Hillebrand, Direktor Helmholz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität, Universität Oldenburg
Prof. Dirk Notz, Institut für Meereskunde, Universität Hamburg
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Linktipps:
https://climatereanalyzer.org/clim/sst_daily/#info
https://www.awi.de/
https://www.bsh.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/Text_html/html_2024/Pressemitteilung-2024-11-01.html
https://www.bsh.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2024/Kuestengewaesser-Winter-2023-24-1-Grad-waermer.html
https://www.geomar.de/forschen/fb3/ueberblick
https://uol.de/aktuelles/artikel/es-gibt-noch-viel-unbekanntes-zu-entdecken-9441
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Jahrhunderte lang funktionierte die Notdurftentsorgung in etwa so: ab ins Töpfchen und raus damit auf die Straße. Nach hoffnungsvollen Anfängen in der Antike ließ die moderne Toilette lange auf sich warten. Von Martin Trauner(BR 2017)
Credits
Autor und Regie dieser Folge: Martin Trauner
Es sprachen: Jennifer Güzel, Burchard Dabinnus
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
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Wenn sich Denker und Philosophen auf Tyrannen oder Diktatoren einlassen, kann das Verhältnis von Macht und Geist zu verhängnisvollen Allianzen führen. Die Geschichte kennt zahlreiche Beispiele dafür. Angefangen von Platon in der Antike bis zu Carl Schmitt, Heidegger und Sartre im 20. Jahrhundert. Autor: Thomas Grasberger (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner, Stefan Wilkening, Benjamin Stedler
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner dieser Folge:
Julian Nida-Rümelin (Philosoph und ehemaliger Politiker)
Wenn Sie mehr über den Existenziallisten Jean-Paul Sartre hören wollen, empfehlen wir diese hörenswerte Folge von radioWissen:
Jean-Paul Sartre - Vordenker des Existenzialismus
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Linktipps:
Im Podcast Tatort Geschichte sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
TATORT GESCHICHTE
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
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Ein Museum ist Ort der Wandlung und strahlt Autorität aus. Welche Werte vermittelt und schafft ein Museum, wessen Köpfe präsentieren die Gemälde im Eingang? Das sind keine banalen Fragen für Touristenführer, sondern klare Indikatoren von Macht. Eine historische Spurensuche zum Verhältnis von Mächtigen und ihren Museen und zur Macht von Museen. Autorin: Marie Schoeß (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Marie Schoeß
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Xenia Tiling
Technik: Adele Meßmer
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Im Interview:
Dr. Kristina Kratz-Kessemeier, Historikerin und Kunsthistorikerin;
Prof. Dr. Bernhard Maaz Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen
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Die Machteliten – Ausflug in eine andere Welt
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Literaturtipps:
Museumsgeschichte. Kommentierte Quellentexte 1750-1950, hg. von Kristina Kratz-Kessemeier, Andrea Meyer u. Bénédicte Savoy
Museen in der DDR. Akteure - Orte - Politik, hg. von Lukas Cladders u. Kristina Kratz-Kessemeier
Bernhard Maaz: Die Gemälde der Münchner Pinakotheken, Band 1 und 2
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
Wie wir ticken - Euer Psychologie-Podcast
ZUM PODCAST
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Über Jahrhunderte haben Gesellschaften sich in Toleranz geübt. Jetzt gerät die edle Haltung an ihre Grenzen. Wie tolerant sollen wir gegenüber Menschen sein, die die Werte der Toleranz selbst mit Füßen treten? Von Fabian Mader (BR 2019)
Credits
Autor dieser Folge: Fabian Mader
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Christian Baumann, Hemma Michel, Carsten Fabian und Martin Fogt
Technik: Fabian Zweck
Im Interview:
Prof. Dr. Rainer Forst;
Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Josef Kuschel
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Zugatmo ...
ZITATOR
Ist hier noch frei?
ZITATORIN
Ja … aber natürlich …
Warten Sie, ich mache Ihnen Platz.
ZITATORIN leise zu sich selbst:
Mein Gott, diese Jacke und jetzt … och ne!!! … Jetzt legt der seine Jacke auf meine, das gibt‘s doch nicht ...?!
ZITATOR
Geht das so?
ZITATORIN
Kein Problem …! Hier haben Sie Platz für Ihre Sachen!
ZITATOR
Stört es Sie, wenn ich etwas esse?
ZITATORIN
Nein, nein, … natürlich nicht! Lassen Sie es sich schmecken!
ZITATORIN leise zu sich selbst:
Wie das stinkt, was soll das sein, gekochter Hund!? Ist das ekelhaft, … das stinkt ja das ganze Zugabteil voll! Wie soll ich das nur bis Berlin aushalten?!
Musik
SPRECHER
Die Hölle, das sind die anderen! Schreibt Jean-Paul Sartre, französischer Existentialist.
SPRECHERIN
Sobald wir unseren privaten Raum verlassen, sind wir diesen anderen ausgesetzt. Und damit ihren Meinungen, ihrem Verhalten, ihrem Geschmack. Genau hier aber zeigen sich die Unterschiede der Menschen. Sartre spricht von der Hölle, weil sie, ‚die anderen‘ uns in unserer Freiheit einschränken.
SPRECHER
Die moderne Gesellschaft braucht aber eine Methode, um diese Unterschiede zu moderieren. Und diese Methode heißt: Toleranz.
SPRECHERIN
Der Philosoph Rainer Forst hat eine 750 Seiten lange Abhandlung über die Debatte um diese Tugend geschrieben. Aus seiner Sicht wird der Begriff oft falsch verwendet. Viele halten sich für tolerant - obwohl sie es eigentlich gar nicht sind:
O-Ton 1 – Rainer Forst:
Wer mit dem glücklich ist, was die anderen machen, obwohl er es fremd findet, der ist nicht tolerant, sondern begrüßt einfach nur das Fremde.
Also zum Tolerieren gehört, dass man wirklich ein Problem sieht, mit dem, was andere denken oder tun.
SPRECHER
Wenn wir also mit den Dingen um uns herum einverstanden sind, dann sind wir eigentlich nicht tolerant, sagt Rainer Forst. Wir sind nur konform mit unserem Umfeld:
O-Ton 2 – Rainer Forst
Das ist prima, wenn Leute kein Problem mit Andersartigkeit, mit anderen Lebensformen, Überzeugungen und so weiter haben, aber dann tut’s mir leid, dann sind die einfach nicht tolerant, dann sind die nur einfach freundliche Zeitgenossen, die an dem Fremden was Gutes sehen, oder weder was Gutes noch was Schlechtes, weil sie indifferent sind. Wer tolerant ist, der hat ein Problem mit dem, was die anderen sagen. Wer kein Problem mehr mit dem, was die anderen sagen oder tun, hat, der kann auch nicht tolerant sein.
SPRECHER
Toleranz bedeutet dann, trotz der Ablehnung, trotz vielleicht sogar der Abscheu, das Fremde und Andere zu respektieren. Ihm Existenz zuzubilligen, obwohl wir es vielleicht lieber hätten, es wäre gar nicht da - oder zumindest weniger laut und weniger auffällig. …
O-Ton 2 a (optional) Rainer Forst:
Nehmen wir einen Kölner Katholiken, dem es ein Graus ist, dass in der Silhouette von Köln eine Moschee aufragt, der aber, weil Muslime in Köln dieselben Rechte haben, Gotteshäuser zu bauen, sagt, ich respektiere dieses Recht, obwohl es mir einen gewissen Schmerz verursacht.
SPRECHERIN
In früheren Jahrhunderten war Toleranz weniger relevant. Die meisten Menschen konnten kaum reisen, sprachen nur ihren Dialekt und blieben in ihrer Region. Die Nachbarn hatten denselben Glauben, ähnliche Berufe und gehörten zur selben Klasse.
Heute leben auf wenigen Quadratkilometern oft zahllose Nationen und Weltanschauungen zusammen. Und müssen auf Augenhöhe miteinander klarkommen.
O-Ton 3 – Rainer Forst
Nicht nur, dass verschiedene Religionen existieren, sondern auch verschiedene Lebensformen, und natürlich auch Leute, die überhaupt keine Religion sinnvoll finden. Also überall dort, wo ernsthaft gestritten wird, wo man ernsthaft unterschiedlicher Meinung über das richtige und gute Leben ist. Da ist die Toleranz nötig.
Musik
SPRECHER
Der Begriff kommt vom Lateinischen ‚tolerare‘. Wörtlich übersetzt heißt das: ertragen, aushalten. Die Römer verstanden unter „tolerantia“ vor allem Selbsttoleranz. Also: Bestimmte Schwächen auszuhalten und mit ihnen zu leben. Minderheiten wurden zwar toleriert, Menschen außerhalb des Römischen Reichs waren aber Barbaren. Und folglich abzulehnen.
SPRECHERIN
Es brauchte schon eine Katastrophe, um die Menschen von der Notwendigkeit des Toleranz-Gedankens zu überzeugen, sagt der Theologe Karl-Josef Kuschel von der Universität Tübingen:
O-Ton 4 – Karl-Josef Kuschel
Er ist aufgekommen im 17. Jahrhundert, nachdem die christlich-europäischen Mächte übereinander hergefallen sind im 30-Jährigen Krieg eine schreckliche Verwüstung zu verantworten hatten. Erst danach, nachdem eben halb Europa verwüstet war und Hekatombe von Leichen auf den Schlachtfeldern zurückblieben im Namen der Religion, hat man sich überlegt, ob man nicht vielleicht doch andere Begründungen für ein Zusammenleben finden sollte. Da kam die Idee auf: Wir müssen uns zumindest, um diese Massaker zu verhindern, wechselseitig dulden.
Musik
SPRECHER
Am Anfang steht also der 30-Jährige Krieg. Halb Europa liegt in Trümmern. Etwa ein Drittel der damaligen Bevölkerung ist dem Krieg selbst zum Opfer gefallen - oder den in seinem Fahrwasser grassierenden Seuchen und Hungersnöten.
SPRECHERIN
Man kann von einer ‚Stunde Null‘ sprechen. Der Dichter Andreas Gryphius versucht das Leid in Worte zu fassen:
ZITATOR 2
Die Jungfern sind geschändt, und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret.
Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr, als unsrer Ströme Flut
von Leichen fast verstopft sich langsam fort gedrungen.
SPRECHER
1648 beenden die westfälischen Friedensverträge diesen schrecklichen Krieg. In ihnen wird festgelegt: Alle Konfessionen sind vor dem Gesetz gleich! Ein neuer Gedanke.
SPRECHERIN
Alle Menschen haben dasselbe Existenzrecht. Protestanten und Katholiken müssen sich notgedrungen miteinander arrangieren.
O-Ton 5 – Karl-Josef Kuschel:
Die Erfahrung von Intoleranz war ja genau das Gegenteil und hat eben auch zu schrecklichen gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt. Toleranz heißt zunächst einmal Dulden. Und es ist eine große Errungenschaft dann der Europäischen Aufklärung aufgrund dieser negativen geschichtlichen Erfahrungen, dass man sich unter den Religionen und Konfessionen zunächst einmal überhaupt hat leben lassen. Nebeneinander leben lassen.
SPRECHER
Mit der rechtlichen Gleichstellung sind natürlich nicht alle Fragen geklärt. Es kommt darauf an, dass Menschen diese Toleranz nun auch leben und das Fremde wirklich respektieren – doch wie soll das genau funktionieren?
SPRECHERIN
Dafür ist ein Gedanke wichtig, der sich nach und nach in der Aufklärung durchsetzt. Im Mittelalter stand noch fest: Ein Fürst oder ein König bestimmt, woran seine Untertanen zu glauben haben. Das ändert sich nun. Immer mehr Fürsten und Könige akzeptieren, dass der Glaube eine Frage des Gewissens ist. Und nicht staatlich verordnet werden kann. Religion wird so Privatsache.
SPRECHER
Musik
Bereits 100 Jahre nach dem Ende des 30-jährigen Kriegs schreibt der Preußische König Friedrich der Große:
ZITATOR 2
Alle Religionen sind gleich gut, wenn nur die Leute, die sie professieren, ehrliche Leute sind.
Und wenn Türken und Heiden kämen, und wollten das Land peuplieren, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen. Ein jeder kann bei mir glauben, was er will, wenn er nur ehrlich ist.
SPRECHERIN
Friedrich der Große stand in engem Kontakt zu Voltaire, dem französischen Philosophen der Aufklärung. Voltaire hatte für die Fanatiker seiner Tage wenig übrig. Sie alle hätten die gleiche Binde vor den Augen:
ZITATOR 2
Sei es, um die Städte und Dörfer ihrer Feinde anzuzünden und die Bewohner zu erwürgen, oder sei es, um zu betrügen, sich zu bereichern und zum Herrn aufzuwerfen. Ihr Fanatismus macht sie blind.
SPRECHERIN
Kein Wunder, dass Voltaires Schriften in den vergangenen Jahren wieder in Mode gekommen sind. Nach den Anschlägen auf die Redaktionsgebäude der Zeitschrift „Charly Hebdo“ durch Islamisten schaffte es sein Philosophisches Wörterbuch wieder in die Bestsellerlisten.
SPRECHER
Voltaire hatte einen Ansatz, den viele Aufklärer teilten: Er wollte eine sogenannte ‚Vernunftreligion‘ etablieren. Sie sollte aus wenigen Prinzipien bestehen, aus vernünftigen Grund-Sätzen. Religiösen Kult hingegen hielt er für Aberglauben. So wollte er den Konfessionen ihren ‚Stachel‘ nehmen.
SPRECHERIN
Voltaires Lösung also waren Religionen ohne spezifische Kulte und Traditionen. Das verhindert womöglich Konflikte, ebnet aber auch die Vielfalt der Religionen ein. Voltaires Konzept klingt daher noch nicht nach dem, was wir uns heute unter Toleranz vorstellen.
Musik
SPRECHER
Dem kommt John Stuart Mill deutlich näher - kaum jemand hat die Unterschiedlichkeit von Menschen so vehement verteidigt, wie der englische Denker im 19. Jahrhundert.
SPRECHERIN
Mill fürchtete nichts mehr als Konformismus. Die Meinung der Mehrheit hielt er für eine Tyrannei.
Sie könne Menschen erdrücken, sie zu Sklaven machen, die dadurch nicht ihre eigenen Ansichten und individuellen Eigenschaften entwickeln könnten.
SPRECHER
Dabei hielt er gerade diese für wertvoll. Nur mit starken Persönlichkeiten ließen sich große Dinge erreichen.
SPRECHERIN
Eine möglichst große Meinungsvielfalt ist für ihn auch Grundlage dafür, die Wahrheit zu finden - wenn Meinungen unterdrückt würden, gingen relevante Aspekte einer Sache unter.
SPRECHER
Die Gesellschaft braucht also unterschiedliche Lebensweisen, Gewohnheiten und Ansichten.
SPRECHERIN
Mill bringt so einen Gedanken zum Ausdruck, der in der Aufklärung immer mehr Raum gewinnt: Gerade die Talente, die Eigenheiten eines Menschen, sind wertvoll. Damit er sie entwickelt, damit er so sein kann, wie er ist, damit er sagen kann, was er denkt, braucht es aber die Toleranz der anderen.
SPRECHER
Diese Überzeugung war nicht unumstritten. Sie ist es bis heute nicht. Rainer Forst hat sich mit vielen Konflikten um Toleranz in der Geschichte auseinandergesetzt. Er unterscheidet mehrere Aspekte, die den Begriff ausmachen:
O-Ton 6 – Rainer Forst
Zum Tolerieren gehört, dass man wirklich ein Problem sieht mit dem, was andere denken oder tun.
Musik
SPRECHERIN
Erster Aspekt also: Ablehnung der Position des anderen!
O-Ton 7 – Rainer Forst
Aber was Zweites muss hinzukommen: Man muss Gründe dafür sehen, weshalb das, was die anderen tun, was eigentlich falsch ist, dennoch toleriert werden sollte
SPRECHER
Zweiter Aspekt der Toleranz nach Rainer Forst: die Akzeptanz der abgelehnten Position. Ich akzeptiere also etwas, das ich eigentlich ablehne. Doch, warum sollte ich das tun?
O-Ton 8 – Rainer Forst
Das kann die Wertschätzung für andere sein, das kann aber auch ein bestimmter Respekt für die anderen als Person mit gleichen Rechten sein. Diese gleichen Rechte implizieren, dass die auch das Recht haben, Dinge zu tun oder zu sagen, die mir nicht passen und die ich grob falsch finde.
SPRECHERIN
Der dritte Aspekt der Toleranz ist besonders heikel und kompliziert. Forst nennt ihn: Zurückweisung. Das bedeutet: Toleranz braucht immer eine Grenze. Das hat schon der große Mathematiker und Philosoph Karl Popper erkannt:
O-Ton 9 – Karl Popper
Voltaire begründet die Toleranz damit, dass wir einander unsere Torheiten verzeihen sollen. Aber eine weit verbreitete Torheit, die der Intoleranz findet Voltaire mit Recht schwer zu tolerieren. In der Tat: Hier hat die Toleranz ihre Grenzen. Wenn wir der Intoleranz den Anspruch zugestehen, toleriert zu werden, dann zerstören wir die Toleranz und den Rechtsstaat.
SPRECHER
Wir werden später noch dazu kommen, wie sich diese Grenze ziehen lässt. Und warum genau das so kompliziert ist.
SPRECHERIN
Aber zunächst zu einer Begründung, warum Toleranz überhaupt sinnvoll ist. Die hat bereits ein Zeitgenosse von Voltaire im 17. Jahrhundert herausgearbeitet – aus Sicht des Philosophen Rainer Forst ist sie bis heute gültig:
SPRECHER
Pierre Bayle formulierte damals ein zentrales Prinzip: Die Reziprozität. Im Grunde ist damit die ‚Goldene Regel Jesu‘ gemeint:
ZITATOR 2
Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen.
SPRECHER
Ich kann für mich nur in Anspruch nehmen, was ich anderen zugestehe.
Wenn ich mich kleiden möchte, wie es mir gefällt, dann muss ich das auch anderen zugestehen. Ich kann andere Modestile hässlich finden, ich muss aber akzeptieren, dass es sie gibt.
SPRECHERIN
Im Umkehrschluss heißt das: Schränke ich die Freiheit von anderen ein, so darf ich mich nicht beschweren, wenn mir dasselbe geschieht. Es gilt das Prinzip der Wechselseitigkeit. Und zwar in beide Richtungen, sagt Theologe Karl-Josef Kuschel:
O-Ton 10 – Karl Kuschel
Es muss auf Gegenseitigkeit beruhen, natürlich! Sonst wäre es ja auch wieder schal, nicht wahr - und dumpf, wenn man nur den anderen wertschätzt und wechselseitig keine Wertschätzung bekommt für das eigene Sosein. Das ist dann sicher eine ganz falsch gelaufene Entwicklung.
Zugatmo …/ Handyklingeln ...
ZITATORIN (geht ans Handy)
Ja Hallo? Ach grüß dich, ja ich bin gerade unterwegs Richtung Berlin.
… Ja bisher sind wir pünktlich ...
OFF-Text (als gedämpfte Atmo)
Also ich denke, ich komme so gegen 6 an. Dann können wie ja vielleicht noch was essen gehen. LACHT. Ach so, der Italiener - nein, also den muss ich nicht nochmal haben. Aber bei dir um die Ecke gibt es doch diesen Inder ...
ZITATOR zu sich selbst – ärgerlich:
Was soll d a s denn jetzt, muss die jetzt telefonieren? Ich kann mich so echt nicht konzentrieren. Das halt ich nicht aus!
Wieder normale Zugatmo
ZITATOR
Tschuldigung …! Tschuldigung (lauter)!!! Könnten Sie bitte woanders telefonieren, ich muss mich hier auf einen Text konzentrieren!
ZITATORIN
Warte mal ... bitte?
ZITATOR
Ja!!! Sie stören hier das gesamte Abteil - ich muss mich wirklich auf diesen Text hier konzentrieren!
ZITATORIN
Gut … Wir telefonieren später weiter… ok? Bis dann!
ZITATORIN leise-wütend zu sich selbst
Was für ein Vollidiot - ich sage kein Wort, wenn der hier sein ekelhaftes Essen auspackt und dann … was glaubt der eigentlich?!
SPRECHERIN
Nun ist die Frage, ob telefoniert werden darf oder nicht, noch vergleichsweise harmlos. Anders verhält es sich, wenn es um Politik geht, um gesellschaftliche Minderheiten, um Gewalt:
O-Ton 11 – Karl-Josef Kuschel
Die Toleranz kann ja nicht so weit gehen, zu sagen: Ich lass mich vom Anderen auch noch einsperren, umbringen, verletzen. Da muss ich Gegenzeichen setzen. Denn die Toleranz ist ja nur dann sinnvoll, wenn sie wechselseitig ist.
SPRECHERIN
Damit sind wir zurück bei Karl Popper und der Frage, wo Toleranz enden muss. Er spricht von einem Paradoxon. Wenn Toleranz so weit geht, dass ihre Feinde toleriert werden, dann wird sie von ihren Feinden abgeschafft.
Popper hat auch das größte Problem seiner eigenen Position erkannt:
SPRECHER
Wer legt fest, was eine intolerante Haltung ist – die daher keine Toleranz mehr verdient? Wo soll eine offene, demokratische Gesellschaft die Grenze ziehen?
Für Philosoph Rainer Forst eine komplexe Angelegenheit:
O-Ton 12 – Rainer Forst
Dieser Slogan: ‚Keine Toleranz der Intoleranz!‘, ist an sich sinnvoll, man muss nur genauer hinschauen, denn die Geschichte lehrt uns, dass die Grenzen der Toleranz oft zu eng, manchmal auch zu weit gezogen wurden. Also muss man genauer hinschauen, um welche Feinde der Toleranz es geht.
SPRECHERIN
Das zeigt ein Vorfall an der Universität Frankfurt: Eine Professorin wollte einen Kongress veranstalten. Titel: ‚Das islamische Kopftuch - Symbol der Würde oder der Unterdrückung?‘ Eingeladen waren Befürworter und Gegner des Kopftuchs.
SPRECHER
Eine Reihe von Studenten wollte die Veranstaltung verhindern. Sie forderten im Netz die Entlassung der Professorin wegen antimuslimischen Ressentiments. Sie warfen ihr also im Grunde Intoleranz vor.
SPRECHERIN
Sich selbst sahen die Studenten offenbar als Verteidiger einer toleranten, offenen Gesellschaft.
SPRECHERIN
Karl Popper hätte ihnen mit Sicherheit widersprochen. Er stellt für die Grenzen der Toleranz zwei Regeln auf. Nicht akzeptieren darf die offene Gesellschaft Menschen, die
Musik
ERSTENS:
SPRECHER
Gewalt gegen Andersdenkende anwenden oder befürworten.
und
ZWEITENS:
SPRECHERIN
Eine rationale Debatte ablehnen.
SPRECHER
Eine rationale Debatte wollte die Universität Frankfurt ja gerade führen. Ihr ging es darum, verschiedenen Meinungen zum Kopftuch Raum zu geben. Die Studenten wollten die Debatte verhindern.
SPRECHERIN
Den Studenten sind daher zwei Denkfehler vorzuwerfen. Sie haben
ERSTENS
SPRECHER
Das zentrale Prinzip der Toleranz missachtet: die Wechselseitigkeit. Wenn sie in wissenschaftlichen Debatten ihre Argumente vorbringen möchten, sollten sie das auch anderen zugestehen. Oder einer generellen Begrenzung der Redefreiheit zustimmen, die dann auch für sie selbst gelten müsste.
SPRECHERIN
Die Studenten machen aber noch einen zweiten Denkfehler: Sie bewegen sich in Stereotypen. Wer das Kopftuch kritisiert, ist aus ihrer Sicht rassistisch und gegen Muslime eingestellt. Sie versuchen gar nicht erst, die Motive der Kritiker zu verstehen.
SPRECHER
Für den Theologen Karl-Josef Kuschel kommt es aber immer darauf an, den Einzelfall genau zu betrachten. Nur so lässt sich abschätzen, wo die Grenze dessen verläuft, was wir ertragen sollten.
SPRECHERIN
Bleiben wir bei der Debatte um das Kopftuch von Musliminnen. Nicht wenige würden sich ein Verbot wünschen. Gerade in Zeiten des islamischen Terrors. Für Karl-Josef Kuschel kommt das nicht in Frage.
SPRECHER
Weil es die Toleranz erfordert, genauer hinzusehen. Er hält es mit einer Maxime des früheren Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel:
O-Ton 13 – Karl-Joseph Kuschel
Der sagt: Für mich ist nicht entscheidend, was Frauen auf dem Kopf tragen, sondern was sie im Kopf tragen. Ich nehme mir die Freiheit genau zu fragen: wenn Du ein Kopftuch trägst, was bedeutet das für Deine Gesinnung? Ist das ein Ausdruck eben sozusagen einer Mode oder einer kulturellen Prägung oder ist es Ausdruck einer totalitären Gesinnung? Also man muss sich dann schon die Mühe machen, im Einzelfall zu schauen. Ich habe hier in Tübingen unter meinen Islamstudierenden wunderbare Frauen kennengelernt, die Kopftuch tragen, aber hell im Kopf waren und das ist mir das Entscheidende.
SPRECHERIN
Auch aus Sicht des Philosophen Rainer Forst gilt es hier zu differenzieren. Selbst ein gewisser Fundamentalismus ist aus seiner Sicht noch zu tolerieren:
O-Ton 14 – Rainer Forst
Wenn das Leute sind, die davon überzeugt sind, dass ihre eigene Religion wahr ist und andere Religionen falsch, ist das noch kein Anlass sie nicht zu tolerieren.
SPRECHER
Für Forst gibt das Grundgesetz der Toleranz letztlich ihren Rahmen vor. Die Meinungsfreiheit ist daher geschützt. Eine fragwürdige Überzeugung zu äußern, muss noch erlaubt sein:
O-Ton 15 – Rainer Forst
Wenn Sie daraus aber das Recht ableiten, vielleicht sogar die Pflicht, ihre wahre Religion mit Gewalt durchzusetzen, dann sind die Grenzen der Toleranz erreicht.
Musik
SPRECHER
Pauschale Urteile sind also wenig hilfreich – über die Grenze der Toleranz lässt sich nur im Einzelfall entscheiden. Schon deshalb, weil es manche Fälle gibt, in denen Toleranz gar nicht der richtige Ansatz ist.
SPRECHERIN
Es ist nämlich nicht gesagt, dass jeder Mensch auch toleriert werden will. Oder zumindest: nur toleriert werden will, sagt Philosoph Rainer Forst:
O-Ton 16 –Rainer Forst
Manchmal ist auch die Indifferenz die bessere Antwort. Beispiel Homosexualität: Die Negativbeurteilung der Homosexualität ganz aufzugeben, also gar keinen Anlass für Toleranz mehr dort zu sehen, ist noch besser. Also manchmal ist Indifferenz die bessere Haltung gegenüber der Toleranz.
SPRECHER
Homosexuelle Menschen wollen nicht toleriert werden. Denn das hieße ja: Ihre Vorlieben werden abgelehnt und nur geduldet. Sie wünschen sich natürlich, dass sie ihren Mitmenschen egal sind.
SPRECHERIN
Johann Wolfgang von Goethe hat diese Problematik schon im 18. Jahrhundert erkannt, sagt Theologe Karl Joseph Kuschel:
O-Ton 17 - Karl Joseph Kuschel
„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein“, schreibt er, „Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen. Interessantes Wort.“
SPRECHER
Goethe hatte die Voraussetzung von Toleranz genau erkannt: Die Ablehnung einer Sache, wenn ich auch akzeptiere, dass sie da ist - beispielsweise um des guten Friedens Willen:
O-Ton 18 – Karl-Josef Kuschel:
Da hat Goethe völlig recht. Dazu kann es führen, also Dulden im Sinne von Beleidigen. Ich möchte nicht nur das Gefühl haben, ich werde gerade noch geduldet vom anderen, ich glaube was Anderes, ich lebe was Anderes, ich habe ein anderes Geschlecht. Und ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der man sagt: Wir lassen Dich grade noch leben. Ich möchte ja in meinem Menschsein, meiner völligen menschlichen Würde auch respektiert werden.
SPRECHERIN
Karl Josef Kuschel folgt also Goethe in dessen Analyse: Toleranz kann nur der Anfang sein – das Ziel ist eigentlich etwas Anderes:
O-Ton 19 – Karl-Josef Kuschel
Das ist nur sozusagen die niedrigste Stufe dessen was man leben soll, indem man einfach den anderen duldet neben sich. Wir wollen uns ja zunächst einmal wechselseitig überhaupt existieren lassen. Ohne uns gewalttätig sozusagen an die Gurgel zu gehen. Aber Toleranz reicht natürlich bei weitem nicht, es ist, wenn man so will, die rechtlich garantierte Plattform. Aber vorübergehend: diese Gesinnung muss abgelöst werden von Anerkennung.
Musik
SPRECHERIN
Wir sollten im Anderen also eigentlich etwas suchen, das wir irgendwie gut finden. Und das ist meist nicht schwer, wenn wir unsere Stereotype und Pauschalurteile überwinden. Denn jeder Mensch hat etwas Interessantes, Bewundernswertes, Überraschendes zu bieten. Etwas, das sich lohnt, kennenzulernen. Wir müssen nur bereit sein, genau hinzusehen.
Abakus, Rechenschieber, Taschenrechner: Schon lange nutzt der Mensch Hilfsmittel, um nicht alles im Kopf ausrechnen zu müssen. Solche Rechenhelfer hatte man früher aber nicht immer dabei. Heute greifen wir selbst für simple Aufgaben zur Smartphone-App. Wie wirkt sich das auf unsere Fähigkeiten aus? Von David Globig.
Credits
Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Heiko Ruprecht, Katja Schild, Clemens Nicol
Technik:
Redaktion: Hellmuth Nordwig
Im Interview:
Daniel Timms, Kopfrechen-Trainer
Dr. Christina Artemenko, Fachbereich Psychologie, Universität Tübingen
Prof. Hans-Christoph Nürk, Diagnostik und kognitive Neuropsychologie, Universität Tübingen
Dr. Gert Mittring, Psychologe und Kopfrechen-Weltrekordler
Prof. Stefan Ufer, Didaktik der Mathematik und Informatik, Ludwig-Maximilians-Universität München
Caroline Merkel, Organisatorin der Junioren Kopfrechen-WM
Niklas Arndt, Schüler
Willem Bouman, Kopfrechen-Künstler
Junioren Kopfrechen-Weltmeisterschaft HIER
Arbeitsbereiche Diagnostik und Kognitive Neuropsychologie der Universität Tübingen HIER
Internetseite von Gesprächspartner Daniel Timms HIER
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01 ZUSP Atmo Timms, darüber:
SPRECHER:
Ein Klassenzimmer in einem Bielefelder Gymnasium. An diesem Sonntag sind die Räume ausnahmsweise nicht leer: Gut 80 Kinder und Jugendliche sind aus aller Welt gekommen, um sich auf die Junioren-Kopfrechen-Weltmeisterschaft vorzubereiten. Dazu gibt es Workshops, und einen davon leitet der Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache]. Aufmerksam hört ihm eine Gruppe von Jugendlichen zu. Gerade erzählt Timms etwas zu den Überraschungs-Aufgaben, für die es am nächsten Tag im eigentlichen Wettbewerb Sonderpunkte geben wird.
(MUSIK unter den letzten Worten ausgeblendet)
Atmo Timms kurz hoch, darüber:
SPRECHER:
Innerhalb von zwei Stunden sollen die Jugendlichen hunderte von Aufgaben lösen. Ausschließlich im Kopf. Einen Stift dürfen sie nur benutzen, um die Ergebnisse aufzuschreiben – keine Zwischenschritte. Die Aufgaben sind anspruchsvoll: Ziehe die Kubikwurzel aus einer zwölfstelligen Zahl. Oder zerlege eine neunstellige Zahl in ihre Primfaktoren. Rechne aus, in welchen Monaten des Jahres 2078 der 18. auf einen Montag fällt.
Natürlich braucht man so etwas nicht im Alltag. Doch auf nicht ganz so hohem Niveau ist Kopfrechnen auch im täglichen Leben nützlich, betont Daniel Timms [englische Aussprache].
02 ZUSP Timms:
"For most people the most practical thing...
Voiceover:
Für die meisten Menschen ist das Praktischste daran, dass sie etwa ihre Zeitplanung im Kopf machen können. Oder dass sie die Größenordnung von Zahlen verstehen. Wissen Sie zum Beispiel, was 1 Million geteilt durch vier ist? Viele Menschen wissen vielleicht noch, dass bei der Antwort 25 eine Rolle spielt. Aber ist die Antwort 25.000? Nein, es sind 250.000. Und das ist keine schwierige Kopfrechnung, aber viele Menschen haben schon lange nicht mehr auf diese Weise über Zahlen nachgedacht und finden etwa Berechnungen mit Geldbeträgen sehr schwierig. Das ist für mich einer der unterschätzten Aspekte des Kopfrechnens, die jeden betreffen - egal, ob man glaubt, gut in Mathematik zu sein oder nicht.
...think you are good at mathematics or not."
SPRECHER:
Matheaufgaben in den vier Grundrechenarten im Kopf zu lösen - eine Zahl plus eine andere Zahl, minus, mal oder geteilt durch: Das lernen bei uns alle Schülerinnen und Schüler schon in der Grundschule. Das Einmaleins z.B.: Irgendwann hat man dann die Lösung für 6 mal 7 einfach parat – und vielleicht sogar für 16 mal 17: ... 272. Das ist dann schon das große Einmaleins.
Was beim Rechnen im Kopf passiert, das kann selbst bei einfachen Aufgaben ziemlich komplex sein: Die unterschiedlichsten Regionen des Gehirns sind daran beteiligt, erklärt Dr. Christina Artemenko. Sie arbeitet am Fachbereich Psychologie der Universität Tübingen und erforscht unter anderem, wie der Mensch Zahlen verarbeitet und wie er mit ihnen rechnet.
03 ZUSP Artemenko:
"Beispielsweise in der Multiplikation lernen Kinder schon in der zweiten und dritten Klasse die Multiplikations-Fakten quasi auswendig: 3 mal 5 ist 15. Das sind Fakten, die bei uns im Gehirn abgespeichert sind und dann immer wieder abgerufen werden."
SPRECHER:
Mit bildgebenden Verfahren lässt sich zeigen: Die Bereiche, in denen solche bekannten Informationen abgespeichert sind, liegen im Gehirn an einer anderen Stelle, als die Areale, die man benötigt, um tatsächlich etwas spontan auszurechnen.
04 ZUSP Artemenko:
"Wenn ich jetzt beispielsweise eine Aufgabe stelle wie 96 minus 25, da muss man Schritt für Schritt rechnen. Man muss die Zahlen in Zehner und Einer zerlegen, und da sind viele Rechenschritte nötig. Das sind Aufgaben, die ganz anders im Gehirn repräsentiert sind. Dafür brauchen wir Ressourcen im frontalen Kortex, also vorn im Gehirn, die so die Rechenschritte und Arbeitsgedächtnis-Prozesse und sowas wiedergeben."
STIMME OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHER:
... wobei die im Langzeitgedächtnis abgespeicherten Fakten - wie das kleine Einmaleins - auch das sogenannte Arbeitsgedächtnis unterstützen. Es kommt ins Spiel, wenn Aufgaben den auswendig gelernten Zahlenbereich verlassen, ergänzt Hans-Christoph Nürk. Er ist Professor für Diagnostik und kognitive Neuropsychologie an der Universität Tübingen.
05 ZUSP Nürk:
"Wir wissen, dass beim komplexen Rechnen, also wenn ich Ihnen jetzt die Rechenaufgabe gebe 17 mal 29, es Ihnen natürlich schon hilft, also, wenn Sie es im Kopf rechnen müssen, wenn Sie die einfachen Multiplikationszahlen parat haben. Weil wir wissen, dass bei komplexen Aufgaben das Arbeitsgedächtnis sehr belastet ist. Und wenn Sie das Arbeitsgedächtnis entlasten können, weil Sie bestimmte Fakten, einfache Fakten, kleines Einmaleins, einfach abrufen können, dann können Sie natürlich besser rechnen."
SPRECHER:
Zahlen merken wir uns einerseits als Wörter, wir können sie aber auch vor unserem inneren Auge sehen. Etwa tatsächlich als Ziffern.
Manche von uns sehen Zahlen sogar wie auf einer Art Zahlenstrahl: kleinere Zahlen weiter links, größere weiter rechts. Oder die Zahlen sind auf eine bestimmte Weise im Raum verteilt.
MUSIK
SPRECHER:
Klar ist: Kopfrechnen beherrscht man nicht einfach so – aber viele Experten halten es für wichtig, dass man es kann.
06 ZUSP Mittring:
"Wenn Sie eine gute Kopfrechnen-Grundkompetenz haben, dann haben sie erst einmal viele Vorteile für den Alltag, dass Sie praktisch ihren Alltag geschickter auch einteilen können. Dass Sie ungefähr eine Vorstellung haben, wie lange dauert was. Sie würden auch im Supermarkt nicht zu viel bezahlen.
SPRECHER:
Weil man beim Einpacken in den Einkaufswagen im Kopf grob mitrechnen kann, meint Dr. Gert Mittring. Er ist Psychologe - und hat selbst mehrfach Weltrekorde im Kopfrechnen aufgestellt.
In einer Zeit, in der Zahlen eine so große Rolle in unserem Leben spielen, hält er die Fähigkeit für notwendig, z.B. einen Geldbetrag im Kopf zu überschlagen und Größenordnungen abzuschätzen.
Ähnlich sieht es Stefan Ufer. Er ist Professor für Didaktik der Mathematik und Informatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für ihn ist außerdem entscheidend: Kopfrechnen schafft eine Grundlage, auf der weitere mathematische Fähigkeiten aufbauen können. Etwa dadurch, dass man beim Kopfrechnen mathematische Strukturen nutzt.
07 ZUSP Ufer:
"Also wir rechnen 7 mal 8 in der zweiten Klasse. Da lernen die Kinder irgendwelche Kernaufgaben, die werden relativ schnell automatisiert, z.B. die Vielfachen von 2 und von 5. Also können sie rechnen: 7 mal 8 ist 2 mal 8 plus 5 mal 8. Das ist eine typische Strategie. Da hängt eine gewisse Struktur dahinter. Später lernen die Kinder: Ach, das ist eine ganz allgemeine Struktur, das heißt Distributivgesetz. Später wird gelernt: Ach, das heißt eigentlich auch Ausklammern. Das kann ich ganz allgemein nicht nur mit Zahlen, auch mit Termen machen. Später sieht es dann plötzlich aus wie die binomischen Formeln. Und wir sehen, diese Strukturen, die helfen uns, neue Konzepte zu erwerben."
SPRECHER:
Kopfrechnen fördert also das Verständnis für mathematische Strukturen. Und das kann es wiederum erleichtern, ganz anders an Rechenaufgaben heranzugehen. ((Wenn man z.B. 603 minus 598 rechnen will, ist das natürlich schrittweise möglich:
603 minus 8 ist 595,
595 minus 90 ist 505
und 505 minus 500 ist 5.
08 ZUSP Ufer:
"Ich kann aber auch anders draufschauen, mit einem Verständnis über Strukturen und sagen: Na ja, 603 minus 598 kann ich mich doch auch fragen, wie weit ist es von der 598 bis 603? Ja, 2 bis zu 600. Noch 3 weitere sind 5. Geht natürlich viel leichter, und auch hier habe ich wieder eine Struktur genutzt: Die Addition hat was mit der Subtraktion zu tun. Und je häufiger ich diese Struktur nutze, umso besser kann ich sie natürlich auch in anderen Kontexten anwenden. Das ist eine Funktion von Kopfrechnen in der Schule, die vielleicht oft unterschätzt wird, die aber extrem wichtig ist für den weiteren Verständnis-Aufbau."))
SPRECHER:
Und es kommt noch etwas hinzu: Kopfrechen-Fertigkeiten entwickeln sich nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel mit anderen Fähigkeiten. Hier gibt es Wechselwirkungen, die Christina Artemenko von der Universität Tübingen beschreibt. Zum Beispiel hat man mit einem guten Arbeitsgedächtnis Vorteile beim Kopfrechnen. Und kann damit wiederum sein Gedächtnis trainieren.
09 ZUSP Artemenko:
"Je mehr man im Kopf rechnet, desto mehr lernt man ja auch, sich Sachen zu merken und so weiter, was Auswirkungen auf das Arbeitsgedächtnis haben sollte. Also, wenn das eine besser wird, wird auch das andere besser und umgekehrt. Also, diese Fähigkeiten hängen sehr stark zusammen."
MUSIK, darüber:
SPRECHER:
Die Fähigkeit, im Kopf zu rechnen, kann uns den Alltag erleichtern; sie erlaubt es uns, ganz grundsätzliche mathematische Zusammenhänge zu begreifen; und wir trainieren durch Kopfrechnen unser Gedächtnis. Allerdings scheint es so, dass manche Menschen von diesem Training nicht viel halten: Sie nutzen ihr Smartphone, wenn sie mit Zahlen umgehen müssen.
Dass es heute nicht mehr unbedingt normal ist, etwas kurzerhand im Kopf auszurechen, vielleicht sogar schon unbewusst mitzurechnen, wenn man Zahlen hört, diese Erfahrung hat auch Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache] gemacht.
10 ZUSP Timms:
"I was in Mexico recently and I saw...
Voiceover:
Ich habe kürzlich in Mexiko gesehen, wie Leute sehr einfache Berechnungen in ihren Taschenrechner getippt haben. Dinge wie 40 plus 45, weil sie das in ihrem Kopf nicht schaffen konnten. Klar, wenn ich etwas sehr Schwieriges präzise und schnell berechnen muss, dann benutze ich auch einen Taschenrechner, weil ich die korrekte Antwort haben will. Aber bei Menschen, die nicht so viel Vertrauen in ihr Kopfrechnen haben, ist es so, dass sie selbst bei einfacheren Aufgaben mit einem Taschenrechner nachrechnen. Nur: Wenn sie ohnehin alles mit dem Taschenrechner nachprüfen, dann sehen sie keinen Sinn im Kopfrechnen - also lassen sie es ganz sein.
...so they just don't ever do mental maths."
SPRECHER:
Und das, glaubt Timms, passiere überall auf der Welt.
Wissenschaftlich lässt es sich allerdings gar nicht so einfach belegen, ob die Fähigkeit zum Kopfrechnen zurückgeht oder nicht. Und noch schwieriger wird es bei der Frage, welchen Einfluss dabei möglicherweise Rechenhilfen wie das Smartphone haben.
Zitatorin:
These 1:
GERÄUSCHEFFEKT
Zitatorin:
Frühere Generationen konnten tatsächlich besser kopfrechnen als heutige.
SPRECHER:
Unter anderem das erforscht Christina Artemenko. Sie lässt etwa Probandinnen und Probanden unterschiedlicher Altersgruppen im Kopf mit mehrstelligen Zahlen rechnen.
11 ZUSP Artemenko:
"Das Interessante ist daran, dass sich selbst diese Rechenfähigkeiten bei Erwachsenen weiterentwickeln. Es verändert sich, wenn man sich anschaut, was beim Altern so passiert. Und da scheint das Rechnen eine große Ausnahme zu sein. Denn normalerweise ist es so, dass die kognitiven Fähigkeiten eher abgebaut werden im Alter. Man kann sich Sachen nicht mehr so gut merken usw. Nichtsdestotrotz: Diese Rechenprozesse scheinen auch ältere Erwachsene noch sehr gut hinzubekommen, sogar viel besser als jüngere Erwachsene."
SPRECHER:
Die spannende Frage ist nun: Liegt das daran, dass die ältere Generation der jüngeren einfach jahrelange Übung voraushat? Entwickeln jüngere Erwachsene diese Rechenfähigkeiten also im Laufe der Zeit noch? Oder liegt es daran, dass sie heute schneller zum Rechenhilfsmittel Smartphone greifen, und deshalb das Kopfrechnen schon im vergleichsweise jungen Alter wieder verlernen?
Ein Problem ist dabei: Die entsprechenden Studien sind sogenannte Querschnittstudien, also jeweils einmalige Untersuchungen. Mit denen lässt sich der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung hier aber nicht eindeutig klären, betont Hans-Christoph Nürk.
12 ZUSP Nürk:
"Um das kausal zu machen, bräuchte man eigentlich längsschnittliche Studien, also müsste die Leute ihr ganzes Leben lang beobachten und immer wieder ins Labor einbestellen und dann sich die Entwicklung angucken." STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHER:
... Und um zu einem ganz eindeutigen Ergebnis zu kommen, was den Einfluss von ständig greifbaren Smartphones als Rechenhilfe angeht, müsste man dann auch noch dafür sorgen, dass die Hälfte der Testpersonen ohne diese Unterstützung aufwächst - ein Ding der Unmöglichkeit.
Da man sich nicht schon vor vielen Jahren mit der Kopfrechen-Kompetenz der heute älteren Menschen beschäftigt hat, fehlen außerdem auch andere entscheidende Informationen.
13 ZUSP Nürk:
"Weil es natürlich auch immer sein kann, dass es sogenannte Kohorten-Effekte gibt, sprich, dass die Probanden, die jetzt älter sind, vielleicht in der Schule schon als Kinder noch viel besser rechnen gelernt haben wie die heutigen Kinder."
Zitatorin:
These 2 ist also:
GERÄUSCHEFFEKT
Zitatorin:
Früher wurde während der Schulzeit mehr Wert aufs Kopfrechnen gelegt als heute.
SPRECHER:
In diesem Fall wären Lehrpläne und Unterricht entscheidende Faktoren. Tatsächlich vermutet Christina Artemenko etwas Derartiges. Beispiel: Das Einmaleins.
14 ZUSP Artemenko:
"Das ist etwas, was, glaube ich, in den höheren Generationen damals im Bildungssystem noch viel mehr forciert wurde. Und das sieht man auch heutzutage an den Effekten, dass sie bei diesem Faktenabruf tatsächlich noch viel besser sind als die heutigen Erwachsenen."
SPRECHER:
In der Schule das Einmaleins als Rechengrundlage auswendig zu lernen: Das scheint ein wesentlicher Punkt zu sein.
Zitatorin:
Somit lautet These 3:
GERÄUSCHEFFEKT
Zitatorin:
Es ist gar nicht so entscheidend, ob wir später auch mal das Smartphone zum Rechnen benutzen oder nicht.
SPRECHER:
Man macht es sich jedenfalls zu einfach, wenn man ihm die Alleinschuld gibt, meint Stefan Ufer vom Mathematischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zumal "Rechenhelfer" immer schon unter Verdacht geraten sind, dem Kopfrechnen abträglich zu sein.
15 ZUSP Ufer:
"Man hat diese Diskussion schon sehr lange. Also, es gab die Diskussion jetzt mit dem Smartphone. Es gab die Diskussion vorher mit Computeralgebra-Systemen, die eigentlich alle Aufgaben, die man in der Schule macht, alle Aufgabentypen automatisch lösen können. Also, da muss man eigentlich auch nicht mehr viel tun. Es gab die Diskussion schon beim Taschenrechner. Es gab wahrscheinlich die gleichen Diskussionen, ob man schriftliche Rechenverfahren behandeln soll. Immer dann, wenn man Methoden hat, mit denen man die Mathematik 'trivialisieren' kann, ja, dann kommt man in diese Diskussion."
SPRECHER:
Weil es jedes Mal die Befürchtung gibt: So ein Hilfsmittel könnte dafür sorgen, dass man nicht mehr über die mathematischen Zusammenhänge hinter einem Rechenvorgang nachdenkt. Und folglich seien neue Rechengeräte oder entsprechende Programme automatisch schädlich für die Kompetenz im Kopfrechnen.
Ganz so simpel ist es nicht. Smartphones und Tabletcomputer lassen sich beispielsweise auch nutzen, um mathematische Zusammenhänge spielerisch zu vermitteln, etwa mit Hilfe von Lernsoftware. Und schon vor einigen Jahrhunderten wurde ein Rechenhelfer eingeführt, der es offenbar sogar einfacher macht, komplexe Aufgaben im Kopf zu lösen: der Abakus bzw. sein asiatisches Pendant, in Japan Soroban genannt.
GERÄUSCH Abakus-Kugeln klacken, darüber:
SPRECHER:
Ein Soroban besteht aus einem Rahmen mit mehreren parallel angeordneten Stangen. Auf jeder dieser Stangen sitzen fünf oder mehr Kugeln bzw. Perlen, die auf und ab gleiten können. Jede Ziffer einer Zahl entspricht einer bestimmten Stellung der Kugeln auf einer Stange. Zum Rechnen verschiebt man nun diese Kugeln. Menschen, die gelernt haben, mit dem Soroban zu rechnen, sehen beim Kopfrechnen Zahlen anders vor sich, als Menschen, die mit arabischen Ziffern rechnen, erläutert Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache].
16 ZUSP Timms:
"If you think of the number 65...
Voiceover: Bei der Zahl 65 sehe ich eine Sechs und eine Fünf in arabischen Ziffern. Aber Menschen, die mit dem Soroban rechnen, sehen die Zahl auch beim Kopfrechnen als eine bestimmte Anordnung von Perlen. Ein Vorteil ist, dass sie leichter mit den Zahlen umgehen können, ohne in Versuchung zu geraten, sie sich selbst zu sagen. Die Leute lernen, damit sehr, sehr schnell zu rechnen.
...to do this very, very quickly."
SPRECHER:
Was dann auch beim Kopfrechnen funktioniert. Und sie haben offenbar noch einen weiteren Vorteil dadurch, dass sie den Soroban nutzen: Mit den Rechenvorgängen sind Fingerbewegungen verknüpft, erklärt Christina Artemenko. Dass so etwas beim Rechnen hilft, weiß man nicht zuletzt aus Studien mit Kindern, die beim Zählen ihre Finger benutzen dürfen.
17 ZUSP Artemenko:
"Wenn man dazu dann ins Gehirn schaut, dann kann man tatsächlich entdecken, dass dadurch verschiedene Repräsentationen von Zahlen aufgebaut werden. Beispielsweise wenn man die Finger benutzt, dann trainiert man eben nicht nur das Areal, was für die Zahlen verantwortlich ist, sondern eben auch sensomotorische Areale, die halt für die Fingerbewegungen verantwortlich sind."
MUSIK
SPRECHER:
Zwei Dinge lassen sich zumindest sagen: Rechenhilfsmittel sind nicht grundsätzlich schlecht für die Kopfrechen-Kompetenz.
Und: Selbst, wenn einem Taschenrechner und Smartphone später sämtliche Rechenarbeit abnehmen könnten, bleibt es wichtig, die fürs Kopfrechnen notwendigen Grundlagen zu vermitteln. Damit Schülerinnen und Schüler z.B. mathematische Strukturen verstehen können.
MUSIK
SPRECHER:
Die Erfahrung zeigt aber: Im Alltag wird immer seltener "einfach mal so" etwas im Kopf ausgerechnet. Ob das tatsächlich daran liegt, dass man heute jederzeit zum Smartphone mit integriertem Taschenrechner greifen kann - das bleibt unklar. Letztlich spielt es aber auch keine entscheidende Rolle. Das Smartphone wird nicht wieder verschwinden. Um Kopfrechen-Kompetenz zu erhalten, muss man woanders ansetzen.Zum einen natürlich beim Unterricht. Der darf sich nicht auf reines Auswendiglernen beschränken. Er sollte die Kinder motivieren, ihre Fähigkeiten anzuwenden, meint Stefan Ufer. Nicht zuletzt, indem man sie verschiedene Kopfrechen-Strategien ausprobieren lässt. Strategien, die unterschiedlich fehleranfällig sind - und unterschiedlich schnell zum Ergebnis führen. Nur frustrieren sollt man die Kinder dabei nicht.
18 ZUSP Ufer:
"Da steckt natürlich viel auch dahinter, wieviel traue ich mir zu? Wieviel Erfolgserfahrungen habe ich gemacht? Wie gut glaube ich, dass ich das kann? Und da kann der Unterricht natürlich auch Schülerinnen und Schülern ein bisschen mehr Sicherheit mitgeben, indem er eben auch Erfolgserlebnisse – gerade bei so einer flexiblen Strategienutzung – vermittelt, in dem Rahmen, wie die Kinder das halt jeweils individuell schaffen können."
SPRECHER:
Doch wahrscheinlich reicht es nicht, nur mehr Selbstvertrauen beim Kopfrechnen zu vermitteln, sondern, man muss auch Lust darauf machen. Womit wir wieder beim Wettbewerb in Bielefeld wären...:
19 ZUSP Atmo Timms, darüber:
SPRECHER:
... und bei Trainer Daniel Timms [englische Aussprache], der umringt ist von jungen Menschen aus aller Welt, die sich in seinem Workshop auf die Aufgaben bei der Junioren-Kopfrechen-Weltmeisterschaft vorbereiten.
Atmo Timms kurz hoch, darüber:
SPRECHER:
Solche Wettbewerbe sollen für Zahlen-Knobeleien begeistern, sollen Menschen zum Kopfrechnen ermutigen – möglichst auch im Alltag, erklärt Caroline Merkel. Sie ist die Organisatorin der Weltmeisterschaft.
20 ZUSP Merkel:
"Hier geht es ja eher darum, auch wieder Kopfrechnen als Kulturgut sozusagen an Leute heranzubringen. Schülerinnen und Schüler, die sich hier bewerben, aus Deutschland oder eben auch aus anderen Ländern, bekommen ja hier nicht nur den Wettbewerb, an dem sie sich messen, sondern sie haben auch zwei Tage Workshops, in denen sie ihr Wissen, ihr Interesse aufbauen können. Ich habe schon die Hoffnung, dass wir hier wirklich noch mal viele junge Menschen begeistern können, sich mit Zahlen, mit dem Gefühl für Zahlen auch auseinanderzusetzen."
SPRECHER:
Das gleiche sollen Meisterschaften auf regionaler Ebene leisten. Über die ist – angeregt durch seine Mathelehrerin – auch Niklas Arndt aus Marl zur Junioren-Kopfrechen-WM gekommen. Er profitiert inzwischen jenseits solcher Wettbewerbe ebenfalls davon, immer mehr im Kopf rechnen zu können.
21 ZUSP Arndt:
"Ich kann viel besser mittlerweile Zahlen schätzen. Zum Beispiel, wenn ich eine Aufgabe sehe, weiß ich, in welchem Bereich renkt sich das irgendwie ein. Das kommt alles mit der Übung. Ich finde, das hat auch irgendwas, wenn wir jetzt im Matheunterricht eine Aufgabe haben, alle holen ihren Taschenrechner raus, und ich habe es halt schon im Kopf ausgerechnet."
MUSIK (bereits unter dem letzten Satz langsam eingeblendet), darüber:
SPRECHER:
Was Niklas Arndt dank seines Trainings kann, übersteigt bei weitem das, was die meisten von uns beim Kopfrechnen hinbekommen. Doch ganz egal, auf welchem Niveau man es beherrscht: Man muss diese Fähigkeit pflegen, sie immer wieder nutzen. Das betont auch ein anderer Workshop-Leiter bei der Junioren-Weltmeisterschaft: Willem Bouman [Baumann]. Sein Spitzname: "König der Primzahlen".
22 ZUSP Bouman:
"Sie müssen trainieren. Denn: 'If you don't use it, you loose it'. Wenn man aufhört mit Rechnen, dann geht auch die Fähigkeit stark herunter. Also man soll, auf Deutsch gesagt, immer am Ball bleiben."
SPRECHER:
Und dafür ist Bouman [Baumann] das beste Beispiel: Mit über 80 nimmt er immer noch an der Kopfrechen-Weltmeisterschaft für Erwachsene teil. Und knobelt dann an dutzenden Aufgaben wie: Quadratwurzel aus 1147 mal 1517 mal 1271.
Die Lösung ist übrigens 47027.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ist seit mehr als 70 Jahren Wächter des Grundgesetzes und stärkt Bürger- und Freiheitsrechte oder setzt staatlichen Eingriffen Schranken. Aber es gibt weltweit Versuche, unabhängige Gerichte zu schwächen. Das Bundesverfassungsgericht soll wehrhaft gegen Angriffe gemacht werden.Von Wolfram Schrag.
Credits
Autor: Wolfram Schrag
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Es sprachen: Hemma Michel und Clemens Nicol
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Archivmaterial:
„Was wären wir ohne die roten Roben? 70 Jahre Bundesverfassungsgericht“ (Gigi Deppe (ARD-Rechtsreaktion) SWR 2022)
Was ist da los am Bundesverfassungsgericht? (Klaus Hempel u.a.) (Radioreport Recht, SWR1, 28.11.23)
Jahresrückblick 2023 – Die wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Klaus Hempel (ARD-Rechtsredaktion) (Radioreport Recht, SWR1, 9.01.2024
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Der Mordparagraf 211 StGB - Ein Tatbestand im Wandel der Zeit (radioWissen / 14.03.2022)
Eiskalte Killer, die auf ihr wehrloses Opfer einstechen oder Pistolenschüsse abfeuern. - So in etwa sehen meistens unsere Vorstellung von der schwersten Straftat im deutschen Strafrecht aus: dem Mord. Doch wann ist ein Mord eigentlich ein Mord? Die Antwort auf die Frage stammt bis heute aus dem Nationalsozialismus. Auch deswegen ist der Mord-Paragraf 211 StGB heute umstritten. Von Manuel Rauch (BR 2021)
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Endlose Tage am Point Zero - Erzählungen aus dem Sudan
Leben am „Point Zero“: Die Südsudanesin Stella Gaitano fesselt mit emphatischen, poetischen Erzählungen über Menschen am Nullpunkt, vor und hinter der Grenze des Sudan, wo Krieg regiert. Neun Stories gelesen von Simon Pearce und Xenia Tiling
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Die Visionärin Hildegard von Bingen zählt bis heute zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des Mittelalters. Ihre Gottesbeziehung manifestiert sich in einer tiefen Verbindung zu Natur und Kosmos und inspiriert die Menschen bis heute. Autorin: Brigitte Kohn (BR 2023)
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Interviewpartner dieser Folge:
Peter Adamson, Professor für Philosophie, Ludwig-Maximilians-Universität München
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Literaturtipps:
Die Originalwerke der Hildegard von Bingen in deutscher Sprache sind erhältlich beim Beuroner Kunstverlag.
Hildegard von Bingen, Das Leben der Heiligen Hildegard von Bingen (Vita sanctae Hildegardis), mit einer Einführung von Prof. DR. Michael Embach, übersetzt von Dr. Monika Klaes-Hachmöller, Band 3 der Gesamtausgabe, herausgegeben von der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim Eibingen, Beuroner Kunstverlag 2. Auflage 2018
Hildegard von Bingen, Ursprung und Behandlung der Krankheiten, Causae et Curae, übersetzt und eingeleitet von Ortrun Riha, Band 3 der Gesamtausgabe, herausgegeben von der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim Eibingen, Beuroner Kunstverlag 4. Auflage 2020
Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, Liber Scivias: Eine Schau von Gott und Mensch in Schöpfung und Zeit, übersetzt von Mechthild Heieck, mit einer Einführung von S. Maura Zatonyi OSB, Band 1 der Gesamtausgabe, herausgegeben von der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim Eibingen, Beuroner Kunstverlag 4. Auflage 2018
Hildegard von Bingen, Das Buch vom Wirken Gottes, Liber Dinvinorum Operum, Neuüberstetzung aus dem Lateinischen von Mechthild Heieck, Einführung von Caecilia Bonn, OSB Band 6 der Gesamtausgabe, herausgegeben von der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim Eibingen, Beuroner Kunstverlag 4. Auflage 2018
Barbara Beuys: Denn ich bin krank vor Liebe. Das Leben der Hildegard von Bingen, Insel-Verlag 3. Auflage 2009
Barbara Beuys: Hildegard von Bingen: Kämpferisch und barmherzig, Insel Verlag 2017
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Die Geier-Wally und ihr Geier: der symbolische Inbegriff einer Frau, die ihr Schicksal gegen alle Widerstände selbst in die Hand nimmt, unbeugsam und eins mit der Natur. Ein Mythos aus der Feder einer Schriftstellerin, auch wenn Etliche zu wissen glauben, wer die "echte" Geier-Wally war. Autor: Frank Halbach (BR 2023)
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Wilhelmine von Hillern: Die Geier-Wally. Eine Geschichte aus den Tiroler Alpen. Hesse & Becker, Leipzig 1921.
Katja Mellmann: Wilhelmine von Hillerns Quellen für die Rundschau-Novelle „Die Geier-Wally“ (1875). In: Jahrbuch Franz Michael Felder Archiv 19 (2018), S. 122–159.
Susanne Päsler: Die Geier-Wally. Eine Romanfigur im Spiegel ihrer Popularität. In: Augsburger Volkskundliche Nachrichten, 01/1995, S. 24–37.
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Kurt Gödel gilt als der bedeutendste Logiker des 20. Jahrhunderts. Er bewies logisch, dass man mit Logik nicht alles beweisen kann, und zeigte damit: Unsere Erkenntnis, unser Verstand hat Grenzen. Auch als Person war Gödel extrem. Von Aeneas Rooch (BR 2018)
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Zähne sind ideale Werkzeuge für das Zerkleinern von höchst unterschiedlicher Nahrung: Tiere können mit ihnen Gräser zu Brei zermahlen, Nussschalen aufbrechen oder Fleischstücke aus ihrer Beute reißen. Für den Siegeszug der Wirbeltiere rund um die Welt war die Entwicklung eines spezialisierten Gebisses ein entscheidender Erfolgsfaktor. Autorin: Prisca Straub (BR 2023)
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Regie: Irene Schuck
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Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Gerhard Haszprunar, Zoologische Staatssammlung München;
Prof. Dr. Gertrud Rößner, Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Geologie
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Staunen lässt sich nicht erjagen, nicht erzwingen, nicht trainieren. Es geschieht, ereignet sich, kommt als Geschenk: Wir stehen still, versunken in den Moment, schalten alle Sinne auf Empfang für die Wunder der Welt. Und eine Reise beginnt, die nach Erklärungen für das zunächst Unbegreifliche und Überwältigende sucht. Autor: Simon Demmelhuber (BR 2023)
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Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartnerin:
Prof. Dr. Nicola Gess, Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Departement Sprach- und Literaturwissenschaften an der Universität Basel
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Nicola Gess: Staunen. Eine Poetik. Göttingen [Wallstein-Verlag] 2019.
Nicola Gess, Mireille Schnyder, Johannes Bartuschat, Hugues Marchal (Hg.): Staunen als Grenzphänomen. [Brill | Fink] 2019.
Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen [Max Niemeyer Verlag] 1991.
Staunen. Plädoyer für eine vergessene Erlebensform. Kunstforum International, Band 259 (März-April 2019).
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Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Caroline Ebner, Julia Fischer, Sisi Forster, Peter Weiß
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Redaktion: Yvonne Maier und Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Brigitte Röder, Basel
Marina Ahne
Prof. Barbara Vinken, München
Prof. Ute Planert, Köln
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Brigitte Röder: Die Vergegenwärtigung der Urzeit: eine Kolonialisierung der Urgeschichte? In: Die Kolonialisierung der Vergangenheit. 2023 Aufsatz zum Metathema: Instrumentalisierung der Urgeschichte für heutige Anliegen.
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Es sprachen: Christian Baumann, Jennifer Güzel
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Dr. Margarete Bolten, Psychotherapeutin, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel;
Dami Charf, SozPäd+Heilpraktikerin f Psychotherapie, Verhaltenswissenschaftlerin, Göttingen;
Dr. Claus Koch, Psychologe, Publizist, Pädagogisches Institut Berlin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Verborgene Machenschaften, gesellschaftliche Abgründe und private Tragödien mit Tiefgang - die Politthriller-Hörspiele enthüllen abgebrühte Bösewichte, undurchsichtige Konzerne und raffinierte Regierungen. Relevant, politisch und mit absoluter Nervenkitzel-Garantie
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Dass Frauen Mütter werden können, daraus wurden lange Zeit ganz andere und meist weniger umfassende Ansprüche an die Frauen abgeleitet, als heute. Unser Idealbild der sich für ihre Kinder aufopfernden, liebenden Mutter entstand erst Ende des 18. Jahrhunderts. Wie kam es dazu? Teil 2 unserer Reise durch die "Geschichte der guten Mutter". Von Karin Becker
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Becker
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Caroline Ebner, Julia Fischer, Sisi Forster, Peter Weiß
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Yvonne Maier und Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Brigitte Röder, Basel
Marina Ahne
Prof. Barbara Vinken, München
Prof. Ute Planert, Köln
Literatur:
Katharina Rebay-Salisbury: Familien in der Urgeschichte. In: beziehungsweise. Informationsdienst des Österreichischen Instituts für Familienforschung. 2024. Kurzer Aufsatz zum Einstieg, der auch zeigt: wie funktioniert Mutterschafts- und Familienforschung für eine Zeit, die so lange her ist?
Brigitte Röder: Die Vergegenwärtigung der Urzeit: eine Kolonialisierung der Urgeschichte? In: Die Kolonialisierung der Vergangenheit. 2023 Aufsatz zum Metathema: Instrumentalisierung der Urgeschichte für heutige Anliegen.
Marina Ahne: Mythos Mutter. Die Frau als Mutter in der Gesellschaft. WBG 2022. Überblick über die Bedingungen des Mutterseins in Vergangenheit und Gegenwart, der immer wieder auf Widersprüche zwischen dem Idealbild, das wir sehen wollen, und den vielfältigeren Realitäten des Mutterseins stößt.
Zu Teil 1 der Geschichte der guten Mutter kommen Sie hier, und zu Teil 3 dieses großen Mythos
hier
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Bayern und Böhmen - das war schon immer mehr als bloße Nachbarschaft. Lange Zeit waren sie eng miteinander verbunden, politisch wie kulturell. Beide Regionen waren aber auch über Jahrhunderte Schauplätze im Kampf um die Macht im Heiligen Römischen Reich. Im bayerisch-böhmischen Gebiet kam in dieser Zeit auch der Barock zu voller Blüte. Autor: Michael Zametzer (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christian Baumann, Christopher Mann
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Anuschka Tischer, Julius-Maximilian-Universität Würzburg;
Prof. Dr. Britta Kägler, Universität Passau
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Eine "gute Mutter" zu sein, das bedeutete in der Geschichte oft alles andere, als überbordende Liebe, Zurückstellen der Arbeit und komplette Konzentration auf das Kind. Der Blick zurück zeigt: Unser heutiges Idealbild der sich aufopfernden Mutter ist jung. Und der Satz "Das war schon immer so" falsch. Teil 1 unserer Reise durch die "Geschichte der guten Mutter". Von Karin Becker
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Becker
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Caroline Ebner, Julia Fischer, Sisi Forster, Peter Weiß
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Yvonne Maier und Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Brigitte Röder, Basel
Marina Ahne
Prof. Barbara Vinken, München
Prof. Ute Planert, Köln
Literatur:
Katharina Rebay-Salisbury: Familien in der Urgeschichte. In: beziehungsweise. Informationsdienst des Österreichischen Instituts für Familienforschung. 2024. Kurzer Aufsatz zum Einstieg, der auch zeigt: wie funktioniert Mutterschafts- und Familienforschung für eine Zeit, die so lange her ist?
Brigitte Röder: Die Vergegenwärtigung der Urzeit: eine Kolonialisierung der Urgeschichte? In: Die Kolonialisierung der Vergangenheit. 2023 Aufsatz zum Metathema: Instrumentalisierung der Urgeschichte für heutige Anliegen.
Marina Ahne: Mythos Mutter. Die Frau als Mutter in der Gesellschaft. WBG 2022. Überblick über die Bedingungen des Mutterseins in Vergangenheit und Gegenwart, der immer wieder auf Widersprüche zwischen dem Idealbild, das wir sehen wollen, und den vielfältigeren Realitäten des Mutterseins stößt.
Hören Sie Teil 2 Der Geschichte der guten Mutter, und zu Teil 3 aus unserem Dreiteiler zu diesem mächtigen Mythos geht es hier
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Durch dick eingeschneite Straßen zu stapfen, macht sie körperlich spürbar: Stille. Natürliche Stille empfinden wir als wohltuend. Nicht nur das, Stille ist ein elementares Bedürfnis, das gestillt werden will und notwendig ist, um unsere Batterien wieder aufzuladen. Von Anja Mösing (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Susanne Poelchau
Eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
Mehr über das Leben der Ordensschwester Nicole Grochowina im 40 minütigen Gespräch mit der BR Moderatorin Anja Scheifinger:
Literaturempfehlungen:
Das gemeinsame Essen ist wie das Lagerfeuer, um das sich unsere Urahnen versammelten. Beim Essen werden Geschichten erzählt, Verträge besiegelt, Kinder erzogen, Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen gefeiert. Es wird gelacht, gestritten und geschmollt. Constanze Alvarez über ein uraltes Ritual, das unser Leben Tag für Tag begleitet.
Credits
Autorin dieser Folge: Constanze Alvarez
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Hemma Michel, Ron Schickler
Technik: Simon Lobenhofer / Atrium Studios
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Daniel Kofahl, Ernährungssoziologe
Christine Ordnung, Familientherapeutin und Buch-Autorin
Prof. Eva Barlösius, Soziologin, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Literaturhinweise:
Christine Ordnung mit Georg Cadeggianini, "Familie am Tisch: Für ein neues Miteinander – beim Essen und darüber hinaus". Wie sich Stress am Familientisch vermeiden lässt und was Eltern über sich selbst, ihre Werte und ihre Kindheit lernen können.
Witold Szablowski,"Die Köche des Kreml: Wie Russland mit Essen Politik macht". Spannendes Buch über die Geschichte der Sowjetunion bzw. Russland, betrachtet aus der Perspektive der Köche und Küchengehilfen der Machthaber.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Kein Stress beim Essen: Kinder müssen nicht alles probieren | Psychologie | Verstehen | ARD alpha
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zusp. 1 Szene Familie am Tisch
Alle: "Kommt ´ne Schnecke um die Ecke, singt ein Lied, guten Appetit!"
Mutter: "Herr, Frau, Piep!"
Kind: "Nein, warum Herr Frau Piep? Das ist doch altmodisch!"
SPRECHERIN:
Eine Familie beim Abendessen. Nennen wir sie Familie Schnabel. Vater, Mutter, Kind, eine Nachbarin ist spontan zu Gast. Im Ofen: Eine Pizza. Die ganze Küche duftet danach. Selbstgemachter Teig. Die Stimmung ist gelöst, ein Traum, wie aus einer Werbung. Danach sehnen sich doch die meisten Menschen. Nach einem harmonischen Essen, bei dem sich die Familienmitglieder Zeit füreinander nehmen, das Essen genießen und sich miteinander austauschen… Oder?
Zusp. 2 Szene Familie am Tisch
Vater: "Schrei nicht so laut, ich brauche Ruhe, ich habe gerade meine Steuererklärung gemacht und gekocht, und überhaupt…"
blenden mit
MUSIK FR1032308130 Looming Shadow (light) 00:19min
SPRECHERIN:
Da haben wir´s: Unsere Vorstellung eines idyllischen Essens hat wenig mit dem Alltag zu tun. Und trotzdem ist dieser Augenblick, an dem sich mehrere Menschen gemeinsam an einen Tisch setzen, enorm wichtig, und das gilt nicht nur für Familien. Warum eigentlich? Das hat viele Gründe. Der erste und möglicherweise wichtigste, ist, weil gemeinsam Essen uns einander näherbringt, weil es unsere Beziehung stärkt, unser Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören. Das ist seit Beginn der Menschheitsgeschichte so, erklärt Eva Barlösius, Professorin für Soziologie an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover:
Zusp. 3 Eva Barlösius
… Es hat damit zu tun, dass Menschen nicht allein überleben konnten. Also (..), Sie können heute mit ihrem Geld an die Supermarktkasse gehen, und sie können sich alles das kaufen, was sie zum Essen brauchen. In der Geschichte der Menschheit war das immer eine gemeinsame Arbeit, die man machen musste. Das konnte niemand alleine machen. Also, das heißt, im Grunde genommen hat diese Notwendigkeit, sich ernähren zu müssen, von Anfang an einen sozialen Zusammenhang konstituiert.
SPRECHERIN:
Ein Tier erjagen, Beeren oder Wurzeln sammeln, die Feuerstelle bewachen – Essen zubereiten war immer schon ein kollektiver Prozess, bei dem jeder und jede seine Aufgabe hatte. Und auch wenn wir uns über derlei heute keine Gedanken mehr machen brauchen, schwingt diese Erfahrung aus der Urzeit auch heute noch mit.
MUSIK UKRFX2313672 Endagered 00:43min
SPRECHERIN
Dabei ist Essen mehr als nur Nahrungsaufnahme, es mit Emotionen verknüpft und besitzt eine soziale Funktion. Von Anfang an, wenn ein Neugeborenes gestillt wird, entsteht eine Bindung und damit das Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Später, wenn die Kinder groß werden, legen wir Wert darauf, dass sie alles Mögliche allein bewältigen – sich alleine anziehen, alleine auf die Toilette gehen, alleine Schlafen – nur beim Essen, da ist es uns wichtig, dass sie lernen, dass das Essen etwas Gemeinsames ist.
Zusp. 4 Szene Familie am Tisch
Alle durcheinander:
"Habt ihr schon gehört? Im Eisladen gibt es jetzt Hunde-Eis!"
"Hunde-Eis?"
"Im Patagon?"
"Und wie soll das sein? Eis mit Fleischgeschmack?"
"Mit Fleisch-Käse-Apfelgeschmack…"
Es gibt nur wenige Orte in der russischen Hauptstadt, die so symbolisch aufgeladen und so eng mit der Geschichte Russlands und dem Geist Moskaus verbunden sind, wie das Bolschoi-Theater. Das klassizistische Gebäude wie das darin beherbergte Ensemble und seine Kunst blicken auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Von Julia Smilga.
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Smilga
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Andreas Neumann, Rahel Comtesse, Julia Fischer
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion:Karin Becker
Im Interview:
Alexei Parin, Musikwissenschaftler, Opernkritiker
Ekaterina Belowa, Professorin für Choreografie und Ballettstudien an der Staatlichen Akademie für Choreographie in Moskau
Literaturtipps:
„Galina“ von Galina Wischnewskaja, Gustav Lübbe Verlag ISBN: 3-7857-0433-X
„Ich, Maija“ von Maija Plissezkaja, Gustav Lübbe Verlag ISBN: 978-3785707746
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 ( Tschaikowsky: Schwanensee; Orchester des Bolschoi-Theaters, Alexander Vedernikov 1‘11)
OTon 01 Parin deutsch
Für mich persönlich ist Bolschoi Theater wirklich ein Symbol von Moskau, ein Symbol von russischer Kunst. Und natürlich Bolschoi-Theater steht so fantastisch in unserer Stadt bis jetzt, dass wir, wenn wir vorbeigehen und wenn wir das Gebäude sehen. Wir verstehen sofort, das ist wirklich eines der größten Theatergebäuden in der Welt. eigentlich la Scala ist ein bisschen größer. Bolschoi-Theater ist zweiter von Größe.
Sprecher:
Der Moskauer Musikwissenschaftler und Opernkritiker Alexei Parin kennt das Bolschoi Theater seit seiner frühesten Kindheit. Der 80 - jährige erinnert sich gerne an seinen ersten Besuch vor 75 Jahren – die Oper „Ruslan und Ludmila“ von Michail Glinka hat den 5 - jährigen fasziniert und ihm die Liebe zur Musik und zu diesem Theater für immer „eingeimpft“, wie Parin sagt. Die Größe des Theaterraums lässt sich erst erahnen, wenn man ganz oben steht.
OTon 02 Parin deutsch
Wenn ich meine Enkelkinder ins Bolschoi-Theater zum ersten Mal bringe. Wir müssen unbedingt zum vierten Rang gehen, und dann dort stehen und sehen, dass Bolschoi-Theater so groß ist wie ein großes Gebäude.
MUSIK 2 ( Michail Glinka: Ouvertüre „Ruslan und Ludmilla“, Walerjan Schirkow 0‘33)
Sprecher:
Das beeindruckende Gebäude im klassizistischen Stil mit seinem Vorbau mit acht ionischen Säulen und einer Quadriga, also einem antiken Viergespann auf dem Dach, weckt Erinnerungen an längst vergangene, glanzvolle Zeiten. Der Hauptsaal mit Platz für rund 2000 Zuschauer ist mit vergoldetem Stuck und rotem Samt ausgekleidet, die ihm speziellen Glanz und Feierlichkeit verleihen. Hier fanden die Welturaufführungen zahlreicher berühmter Opern russischer Komponisten statt. Peter Tschaikowsky und Sergej Rachmaninow dirigierten hier selbst die Premieren ihrer Opern. Aber auch in der sowjetischen Geschichte spielte das Bolschoi Theater eine zentrale Rolle: hier fanden die Allrussischen Sowjetkongresse und die Sitzungen des Zentralen Exekutivkomitees in der jungen Sowjetrepublik in den 1920er Jahren statt. Auch die Gründung eines neuen Staates – der UdSSR – wurde am 30. Dezember 1922 von der Bühne des Bolschoi-Theaters durch keinen geringeren als Wladimir Lenin verkündet.
Oton 03 Parin deutsch
Bolschoi-Theater: als Gebäude, als Theater, das ist natürlich Symbol von Imperium – eigentlich alle Festsitzungen, alle Jubiläen wurden gefeiert im Bolschoi-Theater, Bolschoi-Theater in meiner Kindheit, in meiner Jugend das war natürlich der Platz, wo alle diese Sitzungen stattfanden. Und das bleibt in meiner Seele, bis jetzt, also wenn ich Bolschoi-Theater besuche. Ja, also, das ist so groß und prächtig und alles Mögliche, dass ich sofort in unsrem Imperium mich verstehe.
MUSIK 3 ( Gluck: „Orfeo ed Euridice“, Münchner Rundfunkorchester, Bruno Weil 1’15)
Sprecher:
Das Bolschoi Theater als Symbol des russischen Imperiums - ob es auch von der Zarin Katharina der Großen so gedacht war? Am 28. März 1776 gab Katharina die Große dem russischen Fürsten Urussow das Privileg, Vorführungen, Bälle und Maskeraden zu veranstalten und eine Theatertruppe zusammenzustellen. So gilt der 28. März 1776 als Geburtstag des Bolschoi Theaters in Moskau. Der Saal lag noch an anderer Stelle der Stadt als das heutige Bolschoi, mit seinen drei Logenetagen und einer Rotunde für besondere Besucher wurde er schnell zum kulturellen Zentrum Moskaus. Hier führten Leibeigene italienische komische Opern und Ballette auf. Auch einige erste russische Opern wurden hier gezeigt. Es gab auch eine Tanztruppe – sie bestand zunächst aus Moskauer Waisenkindern, die zuvor einer Tanzschule durchliefen. Diese Schule wurde nach dem Beispiel der bereits existierenden Sankt Petersburger Ballettschule des französischen Tänzers und Choreografen Jean-Baptiste Landé errichtet, erzählt Ekaterina Belowa. Sie ist Professorin für Choreografie und Ballettstudien an der Staatlichen Akademie für Choreographie in Moskau.
OTon 04 Belova russ
Sprecherin OV
1773 gilt als das Gründungsdatum der Moskauer Ballettschule, es war ein Erlass von Katharina der Großen. Sie hat, nachdem sie den Thron bestiegen hatte, schon 1763 einen Erlass herausgegeben, ein Bildungshaus in Moskau zu eröffnen, wo uneheliche Kinder, Waisenkinder unter 4 Jahren aufgenommen wurden. 00:08:35 - Sie wurden in verschiedenen Handwerken, Künsten, Zeichnen, Musik und eben Balletttanz unterrichtet. Und so wurde im Dezember 1773 der erste Tanzunterricht erteilt, und dies gilt als das Gründungsdatum der Moskauer Ballettschule, die letztes Jahr im Dezember ihr 250-jähriges Bestehen feierte.
Sprecher
Die berühmte Tradition des russischen Balletts ist wegen ihres tänzerischen Vorbilds, Jean-Baptiste Landé, in Wirklichkeit französisch, sagt Ekaterina Belowa. Doch während in Frankreich die Balletttradition nach der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert fast zu Ende ging, wurde das klassische Ballett in Russland weiter bewahrt. Die Theatertruppen in Sankt Petersburg und Moskau wurden aus dem kaiserlichen Staatsbudget üppig finanziert.
MUSIK 4 ( Rimskij-Korsakov: Die Zarenbraut, Ouvertüre 1‘00)
Sprecher
1856 wurde in der Nähe des ersten, mittlerweile abgebrannten Theaters des Fürsten Urussow ein neues Theater aufgebaut und „Bolschoi“ genannt - zu deutsch: Großes Theater, und auf seinem Spielplan standen nun hauptsächlich Opern- und Ballettaufführungen. Der Architekt Alberto Cavos, der vorher auch das legendäre Mariinskij Theater in St. Petersburg umgestaltet hatte, baute in Moskau das damals größte Theatergebäude der Welt, für etwa 2300 Zuschauer. Es war reich und aufwendig mit Kronleuchtern, himbeerrotem Samt und Gold dekoriert. Die Verwendung von Materialien wie Holz und Pappmaché verbesserte die akustischen Eigenschaften. Nach wie vor ist das Bolschoi Theater für seine Akustik berühmt.
Bis zur Oktoberrevolution 1917 blieb jedoch das Bolschoi Theater stets im Schatten des Mariinskij Theater in Sankt Petersburg, erzählt der Opernkritiker Alexej Parin
OTon 05 Parin
Selbstverständlich: Sankt Petersburg war in dieser Zeit die Hauptstadt von Russland und deswegen alle wichtigste Premieren von russischen Opern inklusive Glinka und Rimsky-Korsakov und so weiter wurden in Sankt Petersburg. Moskau hat eigentlich in dieser Sache zweite Rolle gespielt. Nur Tschaikowsky war hier glücklich. Die erste öffentliche Produktion von Eugen Onegin auf der professionellen Bühne war in Moskau in Bolschoi-Theater.
MUSIK 5 (Tschaikowsky: Eugen Onegin; Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Mariss Jansons 0‘32)
Sprecher
1918 verlegte Wladimir Lenin die Hauptstadt des neuen bolschewistischen Russlands nach Moskau. Lenin forderte zunächst die Schließung und sogar den Abriss des Bolschoi-Theaters – die Oper sei keine Kunst des Proletariats, sondern der Bourgeoisie, die zu viel Geld koste. Erstaunlicherweise waren es das Mitglied des Zentralkomitees Joseph Stalin und der erste Kulturminister der Sowjetunion Anatolij Lunatscharskij, die sich für die Erhaltung des Bolschoi-Theaters einsetzten.
OTon 06 Parin
Lenin war schon krank, es war im Jahre 1922 und deswegen diese Meinung von Lunatscharskij und Stalin war wichtiger als die Meinung von Lenin. Und dann ist Bolschoi Theater geblieben.
Sprecher
Aber es brachen neue Zeiten an. Die Wirren der Revolution, Hunger und Not während des Bürgerkriegs zwangen viele Künstler zur Auswanderung aus dem so genannten „kommunistischen Paradies“. Beinahe die komplette Balletttruppe des Mariinskij Theaters ging ins Ausland, erzählt die Balletthistorikerin Ekaterina Belowa. In Moskau hingegen waren die meisten Tänzer und Tänzerinnen trotz der Schrecken der Revolution geblieben - und traten weiterhin im Bolschoi Theater auf.
OTon 07 Belowa russ
Sprecherin OV
Das Theater wurde nicht geheizt, es wurde kaum Gehalt bezahlt, es gab nichts zu essen. Laut der Erinnerungen von Zeitzeugen standen die Ballerinen im Winter in Pelzmänteln und Filzstiefeln hinter der Bühne - Nachdem die Ouvertüre erklungen war und ihr Auftritt kam, warfen sie ihre Pelzmäntel ab, stiegen aus den Filzstiefeln und flogen in Tutus mit nackten Armen und Schultern, trotz der Kälte, über die Bühne. Auch das Publikum veränderte sich natürlich sehr, statt adeliger Verehrer waren es nun Fabrikarbeiter, Soldaten, Matrosen, denen zuvor der Zugang zu den Theatern verwehrt war. Sie wussten natürlich nicht, wie sie sich verhalten sollten, machten Lärm, redeten, knackten während der Vorstellungen Sonnenblumenkerne…
MUSIK 6 ( Reinhold Gliere: Roter Mohn 0‘22)
Sprecher
In den Jahren um 1930 geriet das Theater zunehmend unter die Kontrolle der kommunistischen Behörden. Die Regierung forderte neue Opern und Ballette, mit Musik, die für die Massen verständlich war. Auf der Bühne wurde ein „großer Stil“ geschaffen: massiv, für das Publikum verständlich und historisch -realistisch. Das alte klassische Repertoire wurde inhaltlich überarbeitet. So kämpfte der Bauer Iwan Susanin, die Hauptfigur in Michail Glinkas Oper „Ein Leben für den Zaren“, nun nicht mehr für das Zarenhaus, sondern für das russische Vaterland…
OT 08 Parin deutsch:
Ab 30er-Jahren. Das war Bau von sozialistischem Realismus. Man muss alles so echt historisch auf der Bühne bauen und spielen, und man musste auch die Opern von geringer Qualität, aber mit gutem Gehalt sozusagen im sozialistischen Sinne spielen.
Sprecher:
Auch im Ballett versuchten Komponisten und Choreografen, Werke mit neuen, sozialistischen Inhalten auf die Bühne zu bringen. Nach dem Tod Wladimir Lenins 1924 konzentrierte sein Nachfolger Josef Stalin die gesamte Macht über die Sowjetunion in seinen Händen. Sein besonderes Augenmerk galt der sozialistischen Kunst. Das Bolschoi Theater wurde zu seinem kulturellen Stammplatz
MUSIK 7 ( Mussorskij: Boris Gudunow 1‘05)
Zitatorin Galina Wischnewskaja
„Das Bolschoi Theater! Groß, monumental, einmalig… Ich trat dem Ensemble am Ende einer Epoche bei…“
Sprecher
schreibt die Sopranistin Galina Wischnewskaja, in ihren Memoiren „Galina. Erinnerungen einer Primadonna“. 1952 trat die 25-jährige Operettensängerin nach einem Vorsingwettbewerb der Truppe des Bolschoi bei. Ein Jahr später würde Josef Stalin sterben. Doch als die junge Galina im Bolschoi zu singen begann, da war er noch da, hielt seine schützende Hand über das Theater, mischte sich gerne in künstlerische Interpretationsfragen ein… Galina Wischnewskaja erlebte eine einzigartige von Stalin geprägte Atmosphäre im Bolschoi:
Zitatorin Galina Wischnewskaja
„Das Bolschoi stand unter Stalins höchstpersönlichem Schutz (…) Finanzielle Schwierigkeiten hatte das Bolschoi nie gekannt. Wenn es um das eigene Prestige geht, scheute der Staat keine Kosten(..) Imperialistisches Theater! Während der Stalin Zeit genügte schon sein Name auf der Gästeliste, und schon drängten sich sämtliche Sänger und Sängerinnen nach einem Auftritt, ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit.
Der Stammplatz von Stalin war die Loge A, die unmittelbar über dem Orchester und von der Bühne aus gesehen, auf der rechten Seite lag. Ein Vorhang verbarg ihn vor dem Publikum, doch zeigte schon die Menge der Leibwächter in Zivil, das dort kein anderer saß als ER.
Ob Stalin die Musik liebte? Nein. Stalin liebte das Bolschoi, genoß seinen Glanz, seinen Pomp. Hier konnte er sich als Herrscher fühlen, hier genoß er seine Rolle als Hausherr und Patron der Künstler, seiner Leibeigener. Ihnen gegenüber zeigte er sich gern großzügig, in dem er- genau wie der Zar es getan hätte - die besten belohnte“
Sprecher
Ein Lob konnte alles bedeuten: Gehaltserhöhung, neue Wohnung, neuer Titel des verdienten Künstlers. Aber auch mit Kritik geizte Stalin nicht – und wehe dem, der bei ihm in Ungnade fiel. Vom Parteiausschluss bis zu Arrest und Verbannung nach Sibirien - alles war möglich.
MUSIK 8 ( Alexander Borodin: Fürst Igor 1‘00)
Sprecher:
Nach Stalins Tod 1953 verloren die Künstler am Bolschoi peu à peu ihre Privilegien als „Hofmusiker“, ihre Gehälter schrumpften wieder, erzählt Galina Wischnewskaja, die übrigens später Frau des Cellisten und Dirigenten Mstislaw Rostropowitsch wurde. Das Bolschoi Theater blieb aber auch in der Zeit der Tauwetterpolitik von Nikita Chruschtschow in den 1950er und60-er Jahren eine wichtige Institution der sowjetischen Musikkultur. Zum einen begann der Austausch mit dem Westen. 1964 gastierte die Truppe der Mailänder Scala im Bolschoi und das russische Publikum konnte zum ersten Mal Opern von Verdi im Original auf Italienisch hören. In der Sowjetunion wurden ausländische Werke zuvor ausschließlich auf Russisch gesungen. Aber auch regelmäßige Gastspiele der Bolschoi Opern- und Balletttruppe seit Mitte der 1950-er Jahre im europäischen Ausland und in den USA riefen beim Theaterpublikum stets Begeisterung hervor. Gleichzeitig war das Bolschoi eine starke Propagandawaffe im Kampf zwischen zwei Systemen – des kommunistischen und des kapitalistischen. Hervorragende Stimmen, prachtvolle Bühnenbilder, einmalige Tanztechnik und ausdruckvolles Schauspiel der Moskauer Künstler fesselten die Zuschauer. Dafür liebte das einheimische Publikum sein Bolschoi Theater, sagt der Opernkritiker Alexei Parin. Auch wenn die Aufführungen manchmal altmodisch wirkten…
OTon 9 Parin
Die traditionellen Opern wie Boris Godunow und Chowantschina und manche Opern von Rimsky-Korsakov, die Zarenbraut, Eugen Onegin und der Pik-Dame von Tschaikowsky - sie waren wirklich verstaubt. Das kann man sagen, das war sehr historisch auf der Bühne. Aber (…) unsere Sänger, die haben die Rollen so tief vorbereitet, dass wir in dieser verstaubten Situation doch das echte Leben empfanden. (..) Wir haben diese Rivalitäten und diese Liebe auf der Bühne mit den Sängern empfunden. Das war auch in diesen verstaubten Inszenierungen ein echtes Leben auf der Bühne
MUSIK 9 ( Aram Chatschaturjan: Nr. 2 aus: Suiote aus „Spartakus“ 0‘51)
Sprecher
Im Ballett hat der Choreograph Juri Grigorowitsch im Bolschoi eine Revolution vollführt, erzählt Ballettwissenschaftlerin Ekaterina Belowa. 30 Jahre lang, von 1964 bis 1994, leitete Juri Grigorowitsch die Balletttruppe des Bolschoi Theaters - und hat vor allem den männlichen Tanz in Russland völlig verändert. Der Ballettänzer wird bei ihm zur zentralen Figur. Vor allem im Ballett Spartakus von Aram Chatschaturian, das 1968 im Bolschoi Theater uraufgeführt wurde, kam das zur Geltung:
OTon 10 Belowa
Sprecherin OV
Vor Grigrowitsch gab es keinen männlichen Tanz dieses Niveaus, er hat viele fliegende Sprünge eingeführt. Der Ballettänzer Vladimir Vassiliev musste in drei Sprüngen die gesamte Bühne des Bolschoi Theaters überfliegen, er hat sehr komplexe Drehungen eingeführt, (..) so einen virtuosen Tanz gab es vorher nicht, das männliche Corps de ballet, spazierte bis dato um die Bühne herum, und gab manchmal der Partnerin die Hand, unterstützte sie. Die Spartakusrolle war so schwierig, dass der Solist Vladimir Vasiliev bei jeder Aufführung mindestens zwei Kilo verlor, wie er sich selbst erinnerte …
MUSIK 10 (Igor Strawinsky: Vorspiel aus: The Rake‘s Progress 0‘36)
Sprecher
Mit dem Beginn der Perestrojka Ende der 1980-er Jahre und dem Zerfall der Sowjetunion 1991 begann eine widersprüchliche Zeit für das Bolschoi Theater. Einerseits endete die Staatsfinanzierung völlig, das Theater musste selbst das Geld verdienen, um die Truppe zu finanzieren - und das verarmte russische Publikum war dabei keine große Stütze. Andererseits gab es viel Freiheit: die ständige KGB – und Parteiaufsicht fiel weg und es begann eine fruchtbare Phase des intensiven Austauschs mit internationalen Opern und Balletthäusern, erzählt Alexei Parin:
OTon 11 Parin
Wir haben dann in dieser Zeit solche Inszenierungen wie Woyzeck, zum Beispiel mit ausländischen Sänger gemacht. die neuen Produktionen von Mozart, wo man auch sehr viele ausländische Sänger gehört haben - in dieser Zeit, wo der Bolschoi International wurde. Ich würde sagen das waren große Zeiten von guten Inszenierungen und vom internationalen Wechsel hier.
Sprecher
Bereits in den 80er Jahren war klar, dass das Theater von Grund auf saniert werden müsste. Das Gebäude war in einem katastrophalen Zustand, hatte tiefe Risse in den Wänden und drohte einzustürzen. Doch man wollte das Haupttheater der Sowjetunion nicht einfach schließen und entschied, zuerst eine Filiale zu bauen - die so genannte Neue Bühne des Bolschoi Theaters in Moskau in der Nähe der Hauptbühne. Diese wurde im Herbst 2005 wegen Sanierung geschlossen. Bei ihrer feierlichen Neueröffnung am 28. Oktober 2011 erstrahlte der originalgetreu nachgebaute Zuschauerraum in üppigem Gold und sattem Himbeerrot. Im Zuge der sechs Jahre lang andauernden Sanierung war nicht nur die Hauptbühne, sondern das komplette Gebäude des Bolschoi Theaters in Moskau renoviert, vergrößert und modernisiert worden. Nach offiziellen Angaben kostete der umfassende Umbau knapp 500 Millionen Euro.
MUSIK 11 ( Tschaikowsky: Der Nußknacker, Ouvertüre; Orchester des Bolschoi-Theaters, Alexander Vedernikov 1‘38)
Sprecher
Nach wie vor ist das Bolschoi Theater die Bühne Nummer 1 in Russland. Für die legendären Aufführungen des Balletts „Der Nussknacker“ in der Weihnachtszeit stehen die Besucher durchaus eine Nacht lang vor dem Kartenschalter an, um die Chance haben, gleich nach Öffnung Tickets zu ergattern.
Und natürlich steht das Bolschoi, das Symbol des Imperiums, nach wie vor im staatlichen Machtkontext, sagt Alexei Parin.
OTon 12 Alexei Parin deutsch
Von Säulen, von Bolschoi-Theater wir sehen Kreml. Und das ist nicht nur geografisch, das ist ideologisch bis jetzt, (..) Das bleibt in Verbindung. Und wenn man einen Direktor von Bolschoi-Theater nennt, wer nennt das - das nennt Kreml.
Sprecher
Trotz der engen Verbindung zu den russischen Machthabenden, für Alexei Parin bleibt das Bolschoi Theater vor allem der Geburtsort seiner Faszination für die Musik:
OTon 13 Alexei Parin
Diese goldene Vergangenheit ist überall in diesem Bolschoi-Theater. Wir, wenn wir in Zuschauerraum kommen - wir fühlen, dass hier sehr lange schon gute Sachen gemacht waren. Das ist irgendwie in der Luft. Das bleibt in der Luft.
Eichhörnchen leben gern in Nadelwäldern, beleben als Kulturnachfolger aber auch Gärten und Parks; sie sind anpassungsfähig und gewitzt. Und auch in Mythen und Erzählungen hat es seinen festen Platz. Von Brigitte Kohn (BR 2015)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Thomas Birnstiel
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Doris Nogai und Sabine Gallenberger, Eichhörnchen Schutz e. V., München;
Dr. Stefan Bosch, Biologe und Buchautor, Sternenfels
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik Filigran 85062920 Z00 Park-/Stadt-Atmo
01 O-TON SABINE GALLENBERGER 1.14
Ende Februar fängt's langsam an. März geht so, im April ist es eigentlich die Hölle. Da kriegen wir bestimmt 200 Tiere in einem Monat, fast ausschließlich aus dem Wohngebiet. Nester bauen die an den Balkonen, und da fallen die Jungen runter, bzw. beim ersten Ausflug kommen sie vielleicht gerade noch runter, aber nicht mehr nach oben.
ERZÄHLERIN:
Manchmal sammelt die Eichhörnchenmutter ihre Jungen wieder ein und bringt sie in Sicherheit, aber in der Stadt ist das oft schwieriger als im Wald. Wenn sie nicht kommt, ist menschliche Hilfe nötig.
Musik aus
Sabine Gallenberger ist die Gründerin und Vorsitzende des Vereins Eichhörnchen Schutz e.V., der ein bayernweites Netz von Pflegestellen aufgebaut hat und pro Jahr im Schnitt 500 Eichhörnchen das Leben rettet.
Dafür hat sie im Jahr 2014 den Bayerischen Tierschutzpreis erhalten. Ihr und den anderen ehrenamtlichen Helfern geht die Arbeit zwischen Februar und Oktober,
Musik Filigran 85062920 Z00 Park-/Stadt-Atmo
wenn es junge Eichhörnchen gibt, nie aus. Die Stadt ist ein schwieriger Lebensraum: zu viele Autos, hungrige Krähen, Hunde und Katzen, viel zu ordentliche Gärten mit viel zu viel Pflanzengift und ungesicherten Regentonnen.
02 O-TON SABINE GALLENBERGER 1.14
Manche fassen sich ein Herz und suchen den Menschen, damit er ihnen hilft. Was ganz oft verkannt wird, weil die Leute ganz oft nicht verstehen können, dass das ein Hilferuf ist. Manche klettern den Menschen auch die Beine hoch, dann heißts o Gott, Hilfe, Tollwut. Also, laut Robert-Koch-Institut: Eichhörnchen sind keine Tollwut-Überträger, und in Deutschland gibt es schon lange keine Tollwut mehr derzeit. Die suchen wirklich nur Hilfe.
Musik Pattalar home groove C1465890 031 Atmo Hörnchen im Käfig
ERZÄHLERIN:
Bei Doris Nogai aus München-Waldtrudering finden sie diese Hilfe und auch die Gesellschaft von Artgenossen, die junge Eichhörnchen für ihre Entwicklung unbedingt brauchen. Handaufzucht ist anstrengend:
Musik aus
Die Eichhörnchenkinder brauchen alle vier Stunden eine spezielle Aufzuchtmilch, wenn sie ganz klein sind, alle zwei Stunden. Auch nachts. Die Jungtiere bewohnen große Käfige im Wohnzimmer und tragen die Namen, die ihre Finder ihnen gegeben haben. 'Lotta' und 'Meggie' zum Beispiel, eine rot, eine schwarz, sind Schwestern.
Atmo aus
03 O-TON DORIS NOGAI
Die Rote, die ist cooler drauf wie die schwarze, die ist auch nicht so ängstlich wie die schwarze. [Die Schwarze hat sich auch an mich gewöhnt, aber die ist immer noch etwas zögerlich.] Die Rote ist ziemlich draufgängerisch, die kommt auch her und will raus. Die sind schon vom Charakter her sowas von unterschiedlich.
Musik Katalog für Schlagzeug II 74061020 000
ERZÄHLERIN
Kleine Eichhörnchen empfinden den Käfig als Nest. Aber wenn sie größer werden, springen sie unruhig umher. Mit etwa 14 Wochen wird es höchste Zeit zum Auswildern. Sabine Gallenberger sorgt dafür, dass dies außerhalb der Stadt geschieht, in großen Auswilderungsvolieren am Waldrand, in denen die Tiere erst mal ein paar Wochen bleiben.
04 O-TON SABINE GALLENBERGER 4.26.
Dort können sie sich an die Umgebung gewöhnen, sie lernen sich zu warnen, mal vor einem Greifvogel oder so. Es ist ja immer einer in der Gruppe, der ein bisschen schlauer ist und ein bisschen sensibler in Bezug auf die Umgebung, und die lernen sich das untereinander. [Und dann wird die Klappe aufgemacht und dann können sie raus. Aber die ersten Wochen wird auch nachts wieder zugemacht, um vorm Marder sicher zu sein.]
Musik aus
05 O-TON DORIS NOGAI: 54.00
Die sind, wenn sie klein sind, schon zutraulich. Aber spätestens dann, wenn sie in Auswilderungsvolieren sind, werden die meisten scheuer werden. Es sind die wenigsten, die dann wirklich zahm bleiben. Und das soll ja auch so sein. Ich versuche die Bindung zum Eichhörnchen spätestens ab der Zimmervoliere ein bisschen zurückzunehmen, damit die Trennung nicht so schwer ist. Weil die sind einfach putzig. Man muss sie einfach gern haben.
Musik Pas de deux 74061020Z00
ZITATOR HEBBEL:
„[„Wenn du mich jetzt schreiben sähest, würdest du deinen Spaß daran haben. Mein kleines Eichkätzchen will den Brief durchaus nicht zustande kommen lassen. Bald zupft es an der Feder, bald hüpft es über das Papier, und wenn ich das Tintenfass nicht immer zudeckte, würde es gewiss seine Pfötchen hineintauchen und dir ein Autograph mit schreiben.]
Hast du je ein solches Tierchen in der Nähe gehabt? Ich kenne nichts Anmutig-Possierlicheres, wir haben das unsrige schon zwei Jahre, und es macht uns viel Vergnügen, denn es ist so zahm, dass es die Hand leckt und hinterher läuft wie ein Hündchen.“
Musik aus
ERZÄHLERIN:
Der Dichter Friedrich Hebbel liebte sein Eichhörnchen über alles und beschrieb seine drolligen Angewohnheiten in langen Briefen. Als es im Herbst 1861 starb, war er ganz untröstlich.
Atmo Wald
Allerdings: Zahme Eichhörnchen kommen weder mit der Natur noch mit Artgenossen zurecht und sind ziemlich gefährdet. Am besten sind sie hoch oben in den Baumwipfeln aufgehoben, sicher getarnt durch das rote, braune oder schwarze Fell, das die Raubvögel im Gewirr der Äste von oben kaum erkennen können. Der Eichhörnchenbauch ist immer weiß und verschwimmt, vom Boden aus betrachtet, mit dem hellen Himmel. Auch in ihrer Fortbewegungsweise sind die Tiere perfekt an den Lebensraum Baum angepasst, sagt der Eichhörnchenexperte und Sachbuchautor Dr. Stefan Bosch:
Atmo aus
Musik Sieben Stücke für 2 Xylophone, Nr. 2 Allegro CD235070 030
06 O-TON DR. STEFAN BOSCH 14.27
Es gibt nur ganz wenige Tiere, die genauso gut klettern können. Die, mit dem Kopf voraus, stammabwärts klettern können. Und das schafft man nur, wenn man eine Vierpunktaufhängung hat, mit zwei Haken oben und zwei Haken unten. Das hat der Kleiber in der Vogelwelt, und das hat das Eichhörnchen. Und das Eichhörnchen kann sich nur deshalb an vier Punkten festhalten, weil es im Sprunggelenk eine 180-Grad-Drehung machen kann. Wenn wir nach vorne schauen, schauen unsere Zehen auch nach vorne. Wir können nicht die Zehen um 180 Grad nach hinten schauen lassen, aber das Eichhörnchen kann das. Und deshalb kann es sich mit den Hinterbeinen, die nach oben gedreht sind, oben festhalten, und mit den Vorderpfoten, mit den Krallen, unten festhalten. Und kann deshalb den Stamm Kopf voraus abwärts klettern und auch hervorragend nach oben klettern und sich überhaupt in den Bäumen sehr gut fortbewegen, weil die scharfen Krallen extrem stabilen Halt geben. Auch an glatten Rinden. Auch an Hauswänden. Wenn die nicht zu glatt sind, können sie auch an Hauswänden hochklettern.
Musik aus
ERZÄHLERIN:
Ein ganz wichtiges Körperteil ist der Eichhörnchenschwanz. Er kann zwar keinen Fall bremsen, wie oft behauptet wird, aber er gibt eine gute Balance beim Klettern und hilft auch beim Springen, indem er die Flugeigenschaften verbessert.
Musik Sieben Stücke für 2 Xylophone Nr. 6 Grazioso CD235070 034
08 O-TON DR. STEFAN BOSCH 15.42
Das Eichhörnchen verlängert damit seinen Körper, und man weiß von den Lanzen, dass lange Lanzen besser fliegen als kurze. Er dient aber auch der Thermoregulation, die Eichhörnchen können sich damit einwickeln und zudecken im Winter, wenn sie in ihren Kobeln den Tag verschlafen. Sie haben auch noch ein spezielles Blutgefäßnetz, wo sie überschüssige Körpertemperatur im Sommer über den Schwanz abgeben können. Und der Schwanz dient der Kommunikation. Die Eichhörnchen leben ja weit verstreut im Wald, aber mit dem Schwanz können sie Gefühle oder Erregung ausdrücken, und das können andere Eichhörnchen, die auch weiter weg sind, beobachten und können so die Stimmung ihres Reviernachbarn wahrnehmen.
Musik aus
ERZÄHLERIN:
Eichhörnchen haben keine Flügel und leben dennoch zwischen Himmel und Erde. Das hat Menschen schon immer fasziniert und ihre Phantasie angeregt. In dem Roman „Eichhörnchen“ des russischsprachigen Autors Anatolji Kim, erschienen 1984, ist das Eichhörnchen ein märchenhaftes Schwellenwesen, das häufig seine Gestalt wechselt: Symbol für die Vielstimmigkeit der Welt, für Wandlungsfähigkeit und Perspektivenreichtum.
Musik Snowmelt C1516150 004
[ZITATOR KIM:
„Im Wald verwandle ich mich, vergesse im Nu die Fertigkeiten des zivilisierten Wesens, klettere auf Bäume und hüpfe von Zweig zu Zweig. Wenn ich mich so eine Weile vergnügt habe, erklimme ich den allerhöchsten Baum und sitze ganz oben still auf einem schwankenden Zweig. Die wunderliche Welt der Waldwipfel liegt vor mir, ich sehe das dichte Grün, das vom Wind bewegt wird wie das Meer.“]
Musik aus
ERZÄHLERIN:
Das wohl älteste literarische Eichhörnchen findet man in der nordischen Mythologie, genauer gesagt in der Edda, einer isländischen Textsammlung aus dem 13. Jahrhundert, die auf sehr alten Überlieferungen basiert. Hier wird von der Weltenesche Yggdrasil erzählt, in deren Wipfeln ein Adler und an deren Wurzeln ein Drache namens Nidhogg, ein schlangenartiges Ungetier, haust. Der Adler verkörpert Licht und Transzendenz, der Drache die dunklen und bösen Mächte. Und das Eichhörnchen, das den Stamm hinauf und hinunter flitzt, sorgt als eine Art Mittlerfigur dafür, dass die beiden in Verbindung bleiben.
Musik Pas de deux 74061020Z00
ZITATOR EDDA:
„Ratatoskr heißt das Eichhörnchen,
das herumspringt
an der Esche Yggdrasil;
die Worte des Adlers
trägt es von oben herab
und sagt sie unten Nidhögg.“
Musik aus
ERZÄHLERIN:
Beeindruckend sind auch die scharfen Sinne des Eichhörnchens. Sie können viel besser sehen, hören und riechen als Menschen und die kleinsten Veränderungen in ihrer Umgebung blitzschnell wahrnehmen. Mit ihrem kraftvollen Gebiss – die unteren Schneidezähne sind durch einen Muskel verbunden und daher beweglich – sprengen die Nagetiere auch harte Nussschalen schnell und sicher.
Musik Filigran 85062920 Z00 Atmo Hörnchen knabbert
Und: Eichhörnchen speisen mit einer Anmut, die auch Goethe bezaubert hat.
ZITATOR GOETHE:
„Warum gibt uns die Betrachtung unseres heimischen Eichhörnchens so viel Vergnügen? Weil es als die höchste Ausbildung seines Geschlechtes eine ganz besondere Geschicklichkeit vor Augen bringt. Gar zierlich behandelt es ergreiflich kleine appetitliche Gegenstände, mit denen es mutwillig zu spielen scheint,
indem es sich doch nur eigentlich den Genuss dadurch vorbereitet
und erleichtert. Dies Geschöpfchen, eine Nuss eröffnend, besonders aber einen
reifen Fichtenzapfen abspeisend, ist höchst graziös und liebenswürdig anzuschauen.“
Musik und Atmo aus
Musik Pas de deux 74061020Z00 Atmo Wald
09 O-TON DR. STEFAN BOSCH 17.40
Das Bild von der Ernährung des Eichhörnchens ist geprägt von dem berühmten Bild von Albrecht Dürer, wo das Eichhörnchen wunderbar abgebildet ist, aber Haselnüsse frisst. Haselnüsse oder auch Walnüsse gehören zwar jahreszeitlich auch zur Ernährung, aber die Hauptnahrung, die das ganze Jahr über zur Verfügung stehen muss und die dem Eichhörnchen die Grundnahrung liefern, sind Baumsamen. Diese kleinen, knapp linsengroßen geflügelten Samen, die man aus den Zapfen von Kiefer, Fichte oder Lärche herausschütteln kann, wenn man mal so einen trockenen Zapfen hat, diese Minisamen frisst das Eichhörnchen. Und es muss jeden Tag zwanzig bis dreißig solche Fichtenzapfen bearbeiten und da die Samen rausholen, um seinen Tagesbedarf zu decken.
ERZÄHLERIN:
Der Nadelwald ist also der beste Lebensraum für Eichhörnchen. Sein Nahrungsangebot ist natürlichen Schwankungen unterworfen, mal gibt es viele Baumsamen, manchmal wenige, und danach richtet sich auch die Anzahl der Eichhörnchen.
10 O-TON DR. STEFAN BOSCH 34.32
Und wenn wir sehr gute Eichhörnchenjahre haben, wo es sehr viele Eichhörnchen gibt, dann gibt’s Abwanderungsbewegungen in die Umgebung, dann kann man sie auch im Laubwald oder in Gärten und Parks feststellen. Deshalb ist es so, dass man im Laufe der Jahre manchmal Eichhörnchen im Garten hat, in manchen Jahren aber auch nicht.
Musik Pattalar home groove C1465890 031
ERZÄHLERIN:
Jedes Tier hat sein Revier, das es mit den Duftdrüsen an seinen Pfoten markiert. Die Tiere sehen sich aus der Ferne, nehmen aber außerhalb der Paarungszeiten wenig Kontakt zueinander auf.
Musik aus
Die Mittagsstunden verbringen sie gern schlafend in ihren Nestern, denn den ganzen Tag hüpfen und springen, das wäre für die stressempfindlichen Tiere zu anstrengend.
11 O-TON DR. STEFAN BOSCH 38.40
Eichhörnchen bauen ihre Reisignester lieber in den Bäumen, gelegentlich werden auch Baumhöhlen genommen, aber das selbst gebaute Reisignest ist eigentlich das wichtigste Quartier. Einerseits zum Ruhen, einerseits zum Überwintern, und von den Weibchen, die die Jungen zur Welt bringen, als Fortpflanzungskobel in etwas größerer Ausführung genutzt. Die Kobel sind etwa fußballgroß und innendrin sehr gut ausgepolstert. Und da können die Eichhörnchen dann den Winter verschlafen oder ihre Jungen zur Welt bringen.
Musik Snowmelt C1516150 004 Atmo Knabbern
ERZÄHLERIN:
Im Winter verlängern sich die Ruhepausen deutlich. Oft liegen mehrere Tiere in einem Kobel, um sich gegenseitig zu wärmen. Einen richtigen Winterschlaf halten sie aber nicht. Sie müssen täglich raus, um Nahrung zu suchen, in den Bäumen, oder in ihren Vorratslagern, die sie regelmäßig anlegen und meist auch wiederfinden. Aus liegengebliebenen Samen sprießen neue Bäume. Auf diese Art unterstützen die Eichhörnchen das Ökosystem Wald.
Musik aus
12 O-TON DR. STEFAN BOSCH. 30.40
Baumhörnchen haben deswegen nachgewiesenermaßen größere Gehirne, weil sie sich diese Versteckstellen merken können. Beim Verstecken muss man nicht nur verstecken und wiederfinden. Es gibt auch Eichhörnchen, die sogar Nahrung zwischendrin während dem Einlagern mal kontrollieren und die schlechten rauswerfen und die guten Nüsse wieder weitervergraben oder an anderer Stelle neu vergraben.
Musik Hulze Glechter und Totem für Xylophon und Fellinstrumente
85046920 014 Atmo Winterwind Nestgeräusche
ERZÄHLERIN:
Im Winter sehen Eichhörnchen deutlich pummeliger aus als im Sommer, denn ihr kraftvolle Muskulatur und ihr leichtes Skelett sind unter dem wesentlich dichteren Winterpelz verborgen. Um die Ohren zu wärmen, wachsen ihnen dort lange Haare, die senkrecht in die Höhe stehen und sehr hübsch aussehen.
Atmo Balzgeräusche
Ende Januar sind die ruhigen Zeiten vorbei, denn dann beginnt die Paarung. Die Männchen wetteifern um die Gunst der Weibchen und jagen sich in wilden Verfolgungsjagden die Bäume hoch, um klarzustellen, wer der Stärkere ist.
13 O-TON DR. STEFAN BOSCH 33.50
Auch wenn sie doch auf Distanz leben, gibt es Ranghierarchien, die vom Geschlecht, vom Alter und vom Gewicht bestimmt werden. Die männlichen sind dominanter wie die weiblichen, die alten dominieren die jungen und die schwereren und kräftigeren die leichteren und jüngeren.
Musik Embolada N1402540 003
ERZÄHLERIN:
Sind die Ernährungsbedingungen gut, kommt es im Spätsommer noch zu einem zweiten Wurf. Die Weibchen ziehen durchschnittlich vier bis fünf Junge alleine auf. Am Anfang sind sie winzig, nackt und blind. Doch sie wachsen schnell, und nach etwa 38 Tagen geht’s rund: Die Balgereien beginnen, erst im, dann rund um den Kobel. Kämpfen, drohen, sich durchsetzen, das muss man alles lernen, wenn man später erfolgreich ein eigenes Revier besiedeln will.
Musik aus
Das aber schaffen nur wenige. Nicht nur, weil viele Jungtiere der industriellen Forstwirtschaft zum Opfer fallen, die ihnen keine Chance lässt. Es ist auch ein natürlicher Ausleseprozess.
14 O-TON DR. STEFAN BOSCH 42.50
Das trifft eigentlich für alle wildlebenden Tiere zu, dass die Jungensterblichkeit im ersten Lebensjahr extrem groß ist. Beim Eichhörnchen bewegt sich das auch so um 70 bis 80 Prozent. Nur ein Viertel bleibt ungefähr übrig, um die Art weiter zu erhalten.
ERZÄHLERIN:
Normalerweise genügt das auch. Eichhörnchen sind in ganz Europa und Asien verbreitet und gehören noch nicht zu den gefährdeten Tierarten.
Atmo Grauhörnchen
Aber in England ist eine Konkurrenz entstanden, die die Eichhörnchen zu verdrängen droht und die in ein paar Jahrzehnten wohl auch Mitteleuropa erreicht haben wird: die Grauhörnchen. Die stammen aus Nordamerika und wurden im 19. Jahrhundert nach England gebracht, entkamen dort ihren Käfigen oder wurden einfach ausgesetzt. Solche Aussetzungen sind nie eine gute Idee, denn sie können das heimische Ökosystem nachhaltig durcheinanderbringen.
Grauhörnchen sind größer als Eichhörnchen und kommen mit Laubbäumen viel besser zurecht. Sie verursachen mehr Verbissschäden in Wäldern und setzen auch den Waldvögeln zu.
Atmo aus
15 O-TON DR. STEFAN BOSCH 25.25
Eichhörnchen nehmen Singvogelnester sicher nur als Gelegenheitsbeute, an die sie gelegentlich drankommen. Ihre Hauptnahrung brauchen sie von den Baumsamen. Es gibt bislang keine Hinweise, dass Eichhörnchen die Bestände von Singvögeln nachhaltig beeinflussen. Bewiesen hat mans schon für die Grauhörnchen in England. Es gibt mehrere Waldvogelarten, die von Grauhörnchen nachteilig beeinflusst werden. Weil die Grauhörnchen auch an deren Nester gehen und die ausräumen.
Musik Pas de deux 74061020Z00
ERZÄHLERIN:
Außerdem tragen sie ein Virus in sich, das ihnen selbst nicht schadet, den Eichhörnchen aber schon. Das ist das Squirrelpox-Virus, auch Eichhörnchenpocken genannt. Inzwischen sind die Grauhörnchen dabei, sich auch in Norditalien zu etablieren.
Musik aus
16 O-TON DR. STEFAN BOSCH 21.27
Leider gibt es auch durch den Tierhandel immer wieder noch Nachschub. Es gibt Menschen, die sich Grauhörnchen kaufen und dann aussetzen.
Sie schicken sich an, die Alpen zu erobern, eventuell auch zu umrunden, und es könnte in der weiteren Zukunft möglicherweise sein, dass das Grauhörnchen das Eichhörnchen aus vielen Lebensräumen verdrängt und dass das Eichhörnchen bald nur noch in reinen Nadelwäldern überleben, weil sie dort einen Vorteil gegenüber dem Grauhörnchen haben.
Atmo Grauhörnchen
ERZÄHLERIN:
Natürlich können die Grauhörnchen nichts dafür, und sie sind ja auch genauso niedlich wie Eichhörnchen und sogar weniger scheu.
Viele Engländer haben sie schon ins Herz geschlossen, und die ethische Diskussion darüber, ob man diese Tierart einfach wieder eliminieren darf, ist noch in vollem Gange.
17 O-TON DR. STEFAN BOSCH 22.30
Man macht sehr viel Forschung in England, um diese komplexen Interaktionen zwischen Eichhörnchen und Grauhörnchen zu erforschen und zu verstehen. Und nach dem heutigen Stand der Forschung liegt es vor allem an der Bewirtschaftung der Wälder. Man kann den Wald entsprechend gestalten. Wir haben eine Liste erarbeitet von Baumarten, die eichhörnchenbegünstigend sind, und eine von Baumarten, die grauhörnchenbegünstigend sind. Und in England und Schottland macht man folgendes: Man versucht in bestimmten Waldregionen Eichhörnchenschutzgebiete auszuweisen, wo man ganz gezielt auch die Grauhörnchen beseitigt, wegfängt und tötet, und wo man nur noch Baumarten anpflanzt, die dem Eichhörnchen entgegengekommen, wo die Eichhörnchen die besseren Lebensbedingungen drin haben.
ERZÄHLERIN:
Man hat in England auch versucht, den Eichhörnchen durch Fütterungen den Rücken zu stärken, aber die hatten auf die Bestandsdichte keinen nennenswerten Einfluss. Inzwischen ist man wieder davon abgekommen, denn die Futterplätze fördern die Verbreitung der Eichhörnchenpocken.
Musik Pas de deux 74061020Z00 Knabberhörnchen-Atmo
Hierzulande hat man das Problem noch nicht, und ein gut betreuter Futterautomat im Garten, dazu eine sichere Wasserstelle, sind bei Eichhörnchen immer beliebt und auch nicht weiter bedenklich, sagt Stefan Bosch. Solange die Fütterung in Maßen geschieht und das Sozialgefüge der einzelgängerisch lebenden Tiere nicht stört.
Musik und Atmo aus
18 O-TON DR. STEFAN BOSCH 27.11
Man sollte daran denken, artgerechtes Futter anzubieten, und das sind vor allem Mais, Weizen, Erdnüsse, Sonnenblumenkerne, auch frisches Obst wie Äpfel, Karotten, Trockenobst. Erdnüsse mögen die Eichhörnchen zwar sehr, sind aber für ihre Ernährung ungünstig, weil sie viel Fett und wenig Kalzium enthalten.
Musik Filigran 85062920 Z00 Hörnchen-Knabber-Atmo
ERZÄHLERIN:
Helfen kann man den Eichhörnchen auch, indem man spezielle Kobelkästen für sie aufhängt, in denen ihre Nester sicher sind. Der Verein Eichhörnchenschutz e.V. freut sich immer über Spenden, gerne auch in Form von Baumsamen oder Nüssen oder über Menschen, die am Waldrand wohnen und Platz für eine Auswilderungsvoliere haben. Das Wichtigste aber, was Eichhörnchen brauchen, sind Bäume: Baumgruppen, Waldgebiete mit hohem Nadelbaumanteil, und die sollten durch Alleen oder Hecken miteinander verbunden sein.
19 O-TON DR. STEFAN BOSCH 35.44
Eichhörnchen brauchen Wipfelkontakt, sie bewegen sich lieber von Baum zu Baum fort, als dass sie auf den Boden gehen, von daher müssen solche Verbindungslinien in der Landschaft vorhanden sein. Sie gehen ungern über ungeschützte offene Flur, sondern sie brauchen immer Vegetation in Form von Bäumen oder Baumreihen.
ERZÄHLERIN:
Alleen und Hecken stehen den Autos und den landwirtschaftlichen Maschinen oft im Weg. Trotzdem sind sie wichtig: nicht nur für Eichhörnchen, sondern für viele Tierarten. Denn Tiere brauchen auch ihre Refugien, in denen sie frei und ohne menschliche Fürsorge leben können.
Musik und Atmo aus
Die Wildkatze kehrt zurück in unsere Wälder. Damit sie und andere Tiere dauerhaft überleben können, müssten die Wälder vernetzt werden. Doch wie soll das gehen, in einem Land, das wie kaum ein zweites durch Straßen zerschnitten ist? Autor: Marko Pauli (BR 2018)
Credits
Autor dieser Folge: Marko Pauli
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Laura Maire, Stefan Merki
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Andrea Krug (BUND, Projektkoordinatorin "Rettungsnetz Wildkatze");
Antje Oldenburg (Dr.; BUND, ehrenamtliche Mitarbeiterin);
Till Hopf (NABU, Team Naturschutz und Landnutzung);
Pierre Ibisch (Professor; für Naturschutz an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung, Eberswalde);
Gerd Jülke (Revierleiter, Revierförsterei Ahlden)
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Nina Simone war vielseitig, sie sang Jazz, Blues, Soul, auch wenn sie eigentlich klassische Konzertpianistin werden wollte. Für viele ist sie bis heute inspirierend, nicht nur wegen ihrer Musik, sondern auch wegen ihres Kampfes für die Gleichberechtigung der Schwarzen Menschen in den USA. Autor: Georg Gruber (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Georg Gruber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Xenia Tiling
Technik: Christiane Gerhäuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Literaturtipps:
Nina Simone, Meine schwarze Seele. Erinnerungen, Hoffmann und Campe, 1993.
Nina Simone, I Put a Spell On You: The Autobiography of Nina Simone, first Da Capo Press edition 1993.
Alan Light, What happened, Miss Simone? A Biography. Inspired by the Oscar-nominated Netflix-Documentary, Canongate Books 2016.
Ruth Feldstein, How It Feels to Be Free: Black Women Entertainers and the Civil Rights Movement, Oxford University Press 2013.
Ruth Feldstein, "I Don't Trust You Anymore": Nina Simone, Culture, and Black Activism in the 1960s, The Journal of American History, Mar., 2005, Vol. 91, No. 4.
Tammy L. Kernodle, I Wish I Knew How It Would Feel to Be Free: Nina Simone and the Redefining of the Freedom Song of the 1960s, Journal of the Society for American Music (2008) Volume 2, Number 3, pp. 295–317.
Samalishah Tillet, Strange Sampling: Nina Simone and Her Hip-Hop Children, American Quarterly, March 2014, Vol. 66, No. 1, pp. 119-137.
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Gut 300 Tage nach dem Fall der Mauer war Deutschland wieder vereinigt. Was im Rückblick so selbstverständlich scheint, war anfangs keineswegs eine ausgemachte Sache - weder im Osten noch im Westen. Von Julia Devlin (BR 2015)
Credits:
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Franziska Ball, Stefan Merki, Katja Schild
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Werner Weidenfeld, Direktor des CAP München;
Helmut Kohl, ehem. Bundeskanzler;
Hans-Dietrich Genscher, ehem. Bundesaußenminister;
Margaret Thatcher, ehem. Premierministerin des Vereinigten Königreichs;
François Mitterrand, ehem. Staatspräsident der Französischen Republik;
Richard von Weizsäcker, ehem. Bundespräsident.
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Brauch oder Event? Die "Gruselnacht" vom 31. Oktober auf den 1. November wird von der Jugend mittlerweile ausgiebig gefeiert. Das geht angeblich auf keltische Ursprünge zurück. Doch wissenschaftlich belegbar ist das nicht. Von Carola Zinner (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Jerzy May
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
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Es sprachen: Andreas Neumann, Friedrich Schloffer, Gert Heidenreich
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Redaktion: Brigitte Reimer, Thomas Morawetz
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Interviewpartner/innen:
Anuschka Tischer, priv. Dozentin für Neuere Geschichte, Univ.Marbach;
Gudrun Steinacker, Diplomatin im auswärtigen Dienst
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Niels Rattenborg, Schlaf zwischen Himmel und Erde
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Das Fettgewebe ist ein unterschätztes Organ. Denn es dient als Energiespeicher, mechanischer Schutz vor Verletzungen und als Kälteschutz. Aber es kann auch schaden: Ein Zuviel an Fettgewebe kann Herzinfarkte und Schlaganfälle begünstigen und schwere Entzündungen im Körper auslösen. Von Daniela Remus (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Diana Gaul
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Jörg Heeren, Mikrobiologe, Universitätsklinikum Eppendorf, Hamburg
Prof. Heike Kielstein, Anatomin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Prof. Tim Schulz, Biochemiker, Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke
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Napoleon III. war der letzte Monarch Frankreichs. Er war durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen. Seine Mission: wieder eine europäische Großmacht sein. Das demonstrierte er auch durch einen ehrgeizigen Umbau der Stadt Paris. Autorin: Julia Devlin (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Andreas Neumann, Irina Wanka, Andreas Dirscherl
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Hans von Trotha, Historiker, Berlin
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ZUM PODCAST
BR Fernsehen | Kunst + Krempel |Silberplatte - Speisen wie bei Napoleon
Sendung vom 1. Februar 2020
Noch heute produziert die Pariser Silberwarenfabrik Christofle galvanisch versilberte Serviceteile wie diese etwa 100 Jahre alte Bratenplatte. Napoleon III. verlieh der Firma den Hoflieferantentitel und war selbst ihr größter Kunde. Aus welchem Grund?
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Marone, Champignon oder Steinpilz; Parasol, Rotkappe oder Hexenröhrling: In oft kürzester Zeit entwickeln sich bei feucht-mildem Wetter ihre vielgestaltigen Fruchtkörper. Speisepilze sind schmackhaft und gesund - haben aber oft giftige Doppelgänger. Was darf ins Körbchen? Und worauf kommt es beim Pilze-Sammeln sonst noch an? Von Inga Pflug.
Credits
Autor/in dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Thomas Birnstiel und Julia Fischer
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Ursula Hirschmann, Pilzberaterin und Obfrau der Abteilung Pilz- und Kräuterkunde bei der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg (NHG)
Diana Härpfer, Diplom-Biologin und Pilzexpertin, u.a. im Botanischen Garten der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU)
Professor Dr. Alexander Dechêne, Facharzt für Innere Medizin, Klinikdirektor Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie, Universitätsklinik der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER/IN 1:
Ein Wanderparkplatz in der Nähe von Nürnberg. Mit festem Schuhwerk an den Füßen und ausgestattet mit kleinen Körbchen oder Eimern in der Hand wollen um die 20 angehende Schwammerl-Sammler hier zur Pilzexkursion mit der Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg starten: Pilzwissen auffrischen und neue Pilzarten kennenlernen – unter fachkundiger Anleitung von Pilzberaterin Ursula Hirschmann:
01 HIRSCHMANN:
Was für uns jetzt gilt, wenn Sie einen Pilz finden, dann bitte schneiden Sie den nicht ab, sondern drehen den vorsichtig ganz heraus, damit man alle Merkmale sehen kann. Bei vielen Pilzen ist es wichtig, dass man sieht, wie die Stielbasis aussieht. Das ist vor allen Dingen bei allen Knollenblätterpilzen, aber auch bei Champignons wichtig, weil da oft Merkmale an der Basis, also ganz unten am Stiel sind. Wenn die fehlen, ist die Bestimmung schwieriger oder vielleicht, wenn weitere Merkmale fehlen, sogar ganz unmöglich.
SPRECHER/IN 1:
Und die richtige Bestimmung ist das A und O beim Pilze-Sammeln.
01b HIRSCHMANN:
Unter den Knollenblätterpilzen gibt es ja tödlich giftige, wie Sie wahrscheinlich alle wissen. Es gibt aber auch einige Speisepilze da drunter. Und die unterscheiden sich häufig an der Stiel-Basis, deswegen ist es da so wichtig.
SPRECHER/IN 2:
Mindestens 100 giftige Pilzarten gibt es in Bayern, einige sind sogar tödlich.
SPRECHER/IN 1:
Deshalb stellt Ursula Hirschmann gleich zu Beginn der Pilzlehrwanderung eines klar:
02 HIRSCHMANN:
Ein Pilz, den man nicht hundertprozentig sicher erkannt hat, ist kein Speisepilz.
MUSIK: „Stork‘s walk (reduziert)“ – C158779#108 (0:29)
SPRECHER/IN 1:
Und gegessen wird nur, was nach allen Merkmalen als Speisepilz identifiziert wurde.
SPRECHER/IN 2:
Was nicht immer ganz einfach ist: Pilze verändern ihr Aussehen häufig auch je nach Alter, Witterung oder Standort.
SPRECHER/IN 1:
Umso wichtiger ist es der Pilzexpertin, dass die Sammlerinnen und Sammler im Wald wissen, anhand welcher Merkmale sie einen guten Pilz und einen womöglich giftigen Doppelgänger sicher auseinanderhalten können – und diese Bestimmungsmerkmale sind so vielfältig wie die Pilze selbst:
03 HIRSCHMANN: Das kann die Huthaut sein, das können die Lamellen oder Röhren sein. Das kann das Fleisch sein. Das kann der Stiel sein, die Stiel-Basis. Ob ein Stiel einen Ring hat oder nicht, wie der geformt ist, ob der Pilz Velum hat, bei den Schleierlingen. Das sind also ganz, ganz unterschiedliche Merkmale, teilweise auch Geruch, Geschmack, die Farbe von der Milch – kann man nicht generell sagen. Das ist wirklich von der jeweiligen Art individuell abhängig.
Moore leisten einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz, da sie Kohlendioxid speichern. Zudem sind sie ein wertvoller Lebensraum für viele Pflanzen- und Tierarten. Im Hochmoor lebt zum Beispiel der Sonnentau, eine fleischfressende Pflanze. Im Niedermoor ist der Moorfrosch zuhause: In der Laichzeit nimmt er eine leuchtend hellblaue Färbung an. Iska Schreglmann spricht mit dem Biologen Thassilo Franke (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Iska Schreglmann
Es sprachen: Iska Schreglmann im Gespräch mit Dr. Thassilo Franke
Technik: Peter Riegel
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Thassilo Franke, Biologe am BIOTOPIA Lab in München
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Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten zwei Medizinier die ersten Impfstoffe gegen Kinderlähmung. Bis dahin waren jährlich hunderttausende Menschen an Polio erkrankt - manche von ihnen mit fatalen Folgen wie etwa Lähmungen oder verkürzte Beine. Aber der Kampf gegen Kinderlähmung war im Kalten Krieg nicht nur ein medizinisches Wettrennen, sondern auch ein politisches: Ost gegen West. Von Hendrik Loven (BR 2021)
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Ein Roman über ein Gewaltverbrechen in einem kleinen Ort in Westkansas an vier unschuldigen Mitgliedern einer Familie. Bei seinem Erscheinen im Jahr 1965 ist "Kaltblütig" eine literarische Sensation. Denn die Schüsse auf die nette Familie Clutter sind sechs Jahre zuvor tatsächlich gefallen. Die Angehörigen und Nachbarn leben wirklich in dem 270-Seelen-Dorf Holcomb. Und die zwei jungen Mörder sind wenige Monate zuvor exakt so hingerichtet worden, wie es Truman Capote in seinem Meisterwerk schildert. "In Cold Blood" ist ein Tatsachenroman: der "wahrheitsgemäße Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen". Capote hat dafür sechs Jahre lang Interviews geführt, beobachtet und geschrieben. Das Ergebnis ist ein Text von legendärer atmosphärischer Dichte, einer der berühmtesten US-amerikanischen Romane überhaupt. Von Irene Schuck (BR 2011)
Credits
Autorin und Regie dieser Folge: Irene Schuck
Redaktion: Petra Herrmann
Im Interview:
Dr. Erik Redling
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Bergbauern haben die einzigartige alpine Landschaft entscheidend geprägt - und pflegen diese bis heute. Doch was auf den ersten Blick einfach und ursprünglich wirkt, ist ein komplexer und vielfältiger Job, der auf der Erfahrung vieler Generationen fußt. Autor: Lukas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Schild, Johannes Hitzelberger
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Regina Hölzl, Bergbäuerin und Sennerin auf der Schellenbergalm, Waakirchen
Nikolaus Schreyer, Bergbauer, Fischbachau
Klaus Einwanger, Fotograf und Autor des Bandes „Bergbauern“, Rosenheimem. Prof. Markus Schermer, Arbeitsgruppe Agrar- und Regionalsoziologie und früher stv. Leiter des Forschungszentrums Berglandwirtschaft
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
IQ Wissenschaft und Forschung - Alles Natur: Bergwelten HIER
Linktipps:
Berglandwirtschaft , Universität Innsbrung HIER
Artenvielfalt dank Almbewirtschaftung, Höhere Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Landwirtschaft Raumberg-Gumpenstein HIER
Literaturtipp:
Bergbauern - Fotografien von Klaus Maria Einwanger HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
Es ist ein Samstag-Nachmittag wie gemalt im oberbayerischen Mangfallgebirge: Markant ragen Bergspitzen in den wolkenlosen Himmel, darunter Wald, dazwischen saftiggrüne Wiesen, auf denen gemächlich Braun- und Fleckvieh grast.
Atmo Kuhglocken auf Alm, Wanderer unterhalten sich
Sprecher:
Mittendrin im Alpen-Panorama, auf der Schellenbergalm, hat serviert die Bergbäuerin Regina Hölzl einem halben Dutzend Wanderinnen und Wanderern ihre letzten Getränke. Von dem Kaffee, den Regina Hölzl frühmorgens aufgebrüht hat, sind nur noch ein paar Schluck in der alten Plastikkanne - die sich die Wanderer dennoch dankbar teilen.
O-Ton 1 Regina Hölzl, Bergbäuerin, Sennerin auf der Schellenbergalm
„Fließend heißes Wasser,ein Wasserkocher, Kaffeevollautomat, ist halt ned so! Auch wenn ich eine Tasse Tee will: Feuermachen! Der muss eine Stunde warten, bis ich wieder Feuer gemacht hab. Und dann denke ich mir: Das mache ich aber auch ned, weil: Dieser Energieaufwand! Dass ich für eine Tasse Kaffee - nur weil dieser Wanderer jetzt den Wunsch äußert…. Ich denke, das schadet gar net, wenn man sich mit den Ressourcen ein bisserl auseinandersetzt, und nicht immer in Hülle und Fülle lebt. Das ist auf 1500 Meter Höhe eine ganz andere Liga...ganz andere Gedanken, die man sich da machen muss“
Sprecher
Der Blick der Bergbäuerin wandert über die Almlandschaft. Wie auch der der Urlauber, die sich kaum an der Natur sattsehen können. Und doch: Es ist kein schweigendes Einvernehmen, kein gemeinsames Genießen des Almweide-Idylls. Denn Regina Hölzl sieht die Kühe mit anderen Augen, nimmt deren Glockengeläut anders wahr als die Ausflügler neben ihr, auf der Holzbank des Almbauernhofs.
O-Ton 2 Hölzl
„Das Gebiet ist so groß und unübersichtlich, durch die Buckel und Leiten, du siehst sie ja nicht….Dann schau ich zuerst einmal mit dem Fernglas. Ich sehs ja zuerst einmal nur von der Farbe - oder der Glocke her. Die haben alle Glocken dran, das ist ohne Glocken dran da heroben absolut nicht zu bewältigen. Dann spitze ich die Ohren: „Wo ist das Geläut von den Kuhglocken?“
Sprecher
Ein gutes Gehör, Voraussicht und Weitblick, die seien das A und O in der Almwirtschaft, sagt Regina Hölzl. Dazu komme ein Gespür für Gefahr.
O-Ton 3 Hölzl
„Das ist auch ein ganz wichtiger Job für den Senner – oder denjenigen, der da heroben die Tiere anvertraut kriegt, dass der im Blick hat: Ups, das könnte gefährlich werden, da muss ich einschreiten, die muss ich jetzt da herunterholen. Die jungen Viecher am Steilgelände...weil das schönste Graserl wächst am Stoa... da fangen die an, dass sie mehr steigen, dass sie sich verzetteln und noch höher wollen. Und dann kommt´s auch vor, dass die nimmer rauskommen. “
Sprecher:
Es kommt vor, dass eine Kuh am Steilhang stolpert und abstürzt. Da Zufahrtswege zu hochgelegenen Almen selten sind, muss zuweilen ein Hubschrauber kommen, um das verletzte oder tote Tier zu bergen.
M The good, the bad, the ugly 1 Länge: 1´00´´
Sprecherin:
Um dies zu vermeiden, wird Jungvieh bereits im Tal in eine Art Weide-Schule geschickt, erklärt Klaus Schreyer. Der Bergbauer hat einen Hof in Fischbachau, bewirtschaftet gemeinsam mit einem Kollegen - aber auch eine Hochalm im Rotwandgebirge.
O-Ton 4 Klaus Schreyer, Bergbauer, Fischbachau
„Ich hab zur Leitzach hin eine Hanglage mit fünf Hektar, und da werden die zum Vortraining geschickt, für die Alm. Die Viecher müssen lernen, aus einem Wassergefäß zu trinken, oder, ich hab darunten einen Bach, dass sie auch mal aus einem Bach raustrinken. Und müssen sich rein in der Fläche fortbringen mit dem Fressen. Man muss sich Zeit nehmen, und sie zum richtigen Zeitpunkt rausbringen, dass sie das auch erlernen.
Sprecherin
Im September endet der Almsommer. Bis dahin müssen Bergbauern es schaffen, dass ihre Kühe die Weideflächen gleichmäßig abfressen. Doch auch zu früh dürfen sie die Tiere nicht auf die Alm treiben.
O-Ton 5 Schreyer
„Dann passiert das, dass ich eine Überbestoßung hab, das heißt, eine zu große Viehdichte. Dann wächst mir zu wenig nach, und dann mache ich meine Fläche kaputt. Das ist so schwierig, da muss man selber ein Fingerspitzengefühl dafür kriegen. Ich muss so viel raufkriegen, dass meine Fläche nicht kaputtgeht. Und so viel auch, dass kein Überbestand kommt, vom Grasbestand her. Weil wenn das nimmer abgefressen wird, dann kommen Unkräuter, und die dürfen ja nicht kommen.“
M Im stillen Tal Länge: 0´34´´
Sprecher
Klaus Schreyer hält auf dem Sunnara-Hof und seiner Alm 50 Kühe, seine Kollegin Regina Hölzl ist auf der Schellenbergalm verantwortlich für zwei ausgewachsene Milchkühe, 16 Stück Jungvieh und zwei Kälbchen. Dazu kommen fünf Ziegen, zwei Hennen und ein Hahn. Doch als Sennerin hilft Hölzl nur aus. Sonst bewirtschaftet die sehnige, temperamentvolle Frau mit ihrer Familie einen Bergbauernhof im nahen Waakirchen, mit 30 Milchkühen und kleinen Kälbern.
Sprecherin
Damit ist der Hölzl-Hof einer von gut 14.000 Bauernhöfen mit „Betriebssitz in den Alpenlandkreisen und Flächen innerhalb der Berggebietskulisse“, wie es das bayerische Landwirtschaftsministerium in seinem Agrarbericht 2024 formuliert. Die Zahl der Bergbauern im engeren Sinn dürfte indes deutlich geringer ausfallen, sagt Klaus Maria Einwanger. Der Fotograf aus Rosenheim hat acht Bergbauernfamilien über mehrere Jahre begleitet – und dazu ein Buch veröffentlicht.
O-Ton 6 Klaus Maria Einwanger, Fotograf und Herausgeber Bildband „Bergbauern“
„Es gibt ja diesen EU-Begriff...Also Bergbauer ist entweder über 700 Meter oder über 500 Höhenmeter mit einer gewissen Hangneigung. Manche sind wirklich so, dass sie einfach ihren Hof am Hang haben. Das heißt, die haben natürlich ganz andere Voraussetzungen wie jemand in der Ebene drin und ergänzen ihren Betrieb dann nochmal mit Almbetrieb. Das ist einmal der offizielle Begriff. Trotzdem hat natürlich jeder Landwirt eine gewachsene Struktur, und lebt das auch komplett unterschiedlich. Jeder Landwirt ist komplett anders sozialisiert, aufgestellt von der Alm, von dem Hof und von der Familienstruktur.“
Sprecher
Die Geschichte des Hofs von Klaus Schreyer, den Klaus Einwanger in seinem Buch porträtiert hat, ist bis zum Jahr 1452 dokumentiert.
M Little adventures Länge: 0´34´´
Sprecherin
Einzelne Bauern indes wagten sich bereits vor 4000 Jahren in die Berge. Doch erst die wachsende Bevölkerung vom 13. bis zum 16. Jahrhundert führte dazu, dass landwirtschaftliche Flächen im Tal knapp wurden – und Bauern in größerer Zahl ihr Heil in den Bergen suchten. Dazu forschte der Professor für Agrar- und Regionalsoziologie Markus Schermer, früher am Forschungszentrum Berglandwirtschaft der Universität Innsbruck:
O-Ton 7 em. Prof. Markus Schermer, Forschungszentrum Berglandwirtschaft, Uni Innsbruck
„Der Mensch hat mit den Almen die natürliche Waldgrenze ungefähr um 100 Meter heruntergesetzt. Und hat da eben gerodet. Und hat da oben eben möglichst viel Fläche freigemacht, damit möglichst viele Tiere im Sommer da oben ihr Futter finden“
O-Ton 8 Einwanger
„Und dann ging es wirklich darum, dass man jetzt nicht mehr aufhören darf, die Berge zu pflegen. Weil das sonst letztendlich sehr, sehr schnell und sehr, sehr stark in Murenabgängen, in Lawinenabgängen münden wird. Weil selbst Wiesenflächen, die nicht benutzt werden, müssen gepflegt werden, damit das Gras nicht zu lang wird - und das nicht zu einer Rutschpartie für den Schnee wird.“
Atmo Kühe
Sprecherin
Die Almweiden der Schellenbergalm sind keine monotonen, robusten Wiesen, die für den Landwirt leicht zu pflegen sind. Die Weideflächen ziehen sich über steile Hänge, werden immer wieder durchbrochen von Wanderwegen oder Trampelpfaden der Kühe. Der Almboden ist wie eine dünne, sensible Haut der Erde, die sich durch Wind, Wetter und Steinschlag im alpinen Gelände ständig verändert. Und den ein Bergbauer – oder eine Sennerin wie Regina Hölzl - zum Wohl der Weide wie zum Schutz seines Viehs ebenso ständig im Blick haben muss.
M Little adventures Länge: 0´39´´
Sprecher
Dazu gehören auch regelmäßige Kontrollgänge entlang der Zäune und zu den Wasserstellen. Ist nach einem Regen Geröll hineingeraten, sind sie verschlammt, oder durch den Kot von Wild verschmutzt? Dann muss Regina Hölzl sie sauber machen. Oft sind Zäune durch Wind und Wetter oder übermütiges Vieh beschädigt – und müssen repariert werden. Doch die mühevolle Kleinarbeit, die die Almbauern täglich vollbringen, um die Weiden frei und sicher zu halten – sie allein reicht nicht aus. Um die Berglandschaft zu pflegen, bedarf es zusätzlich einer ganz speziellen Kulturtechnik.
O-Ton 9 Hölzl
„Schwenden sagt man da, was gemacht wird auf den Almen. Das ist ein richtig schöner Ausdruck, ((gibt gar keinen Ersatzausdruck für „Schwenden“.)) Schwenden heißt, dass diese Latschen, Büsche, Fichten, die diese Weiden verwuchern, weil man´s einfach nicht geschafft hat an der Größe, an der Weite der Flächen – macht man so Aktionen...und die werden wieder freigelegt, Almflächen meistens verbrannt!“
M Alptraumpanorama Länge: 0´45´´
Sprecher
Gleich Fackeln ragen die Feuer zur Zeit des Schwendens aus den Berghängen. Rauchschwaden durchwabern den Wald, und tauchen die Almlandschaft in unwirkliches Licht. Der Fotograf Klaus Einwanger war beim Schwenden dabei – und beeindruckt davon, mit wie viel Aufwand und Know-How die Almbauern die Urgewalt des Feuers zähmen.
O-Ton 10 Einwanger
„Das ist unglaublich aufwendig. Da gehen zehn, zwölf, 15 Mann los in dem Fall und machen einen Tag das „Schwenden“. Also die fällen Bäume. Diese Stämme, wir waren ungefähr 40 Minuten von der Hütte weg, müssten alle per Hubschrauber ausgeflogen werden. Und das ist natürlich ökologisch ein gleicher Wahnsinn. Sie müssen aber auch verbrannt werden, weil wenn sie zum Verrotten dagelassen werden würden, dann würde das genauso wieder zuwuchern. Wir hätten Käferbefall und wir hätten einfach Oasen des Verfaulens. Und dann gehen die vier, fünf Wochen später hoch und brennen diese Holzhaufen, die sie gebildet haben, ab, um eben diesen Recyclingprozess, dass das Holz wieder zu Asche wird, somit auch wieder zurückgeführt werden kann in die Natur.“ (sehr abgerissen!)
M Alptraumpanorama Länge: 0´28´´
Sprecherin
Die Almwirtschaft erfordert spezielle Kenntnisse, dem fragilen kleinteiligen alpinen Lebensraum angepasst, oder ihm abgerungen. Einem Wissen, das auf den Erfahrungen der Vorfahren beruht.
Sprecher
Ein Wissen, das angehende Bergbauern in Schule oder landwirtschaftlichem Studium oft nicht lernten, sagt Klaus Schreyer.
Ein Wissen, das man über Generationen bewahrt habe - und das sich bewährt hat, ergänzt Regina Hölzl: Die Bewirtschaftung von Alm und Alp zwängen Bergbauern seit Jahrhunderten dazu, innovativ zu denken. Wie etwa schafften es frühere Generationen auf der Schellenbergalm, dass ihnen die Milch auch ohne Kühlschrank nicht schlecht wurde? Die Sennerin führt eine steile Holztreppe hinab, in den Keller der Almhütte.
Atmo Schritte, gehen auf hölzerner Kellertreppe
O-Ton 11 Hölzl
„Ich hab einen Keller mit Wasserfall. (lacht) Des hoast so: Der Keller hat keinen Boden ned. Der hat nur einen Kiesboden drin, da kommt vom Berg her zu 90 Prozent immer natürliches Wasser eina. Und je höher die Luftfeuchtigkeit, um so kühler das Ganze... Sehr schlau gedacht, sehr innovativ, mitdenkt. Wie bringe ich das hin, dass ich auch auf 1500 Meter ohne Strom Lebensmittel haltbar machen kann?“
Sprecher
Dass es sich bei „ihrer“ Milch um ein besonders kostbares Lebensmittel handelt – das steht für die Bäuerin außer Frage.
Nach Analysen der Forschungsanstalt Raumberg-Gumpenstein, einer Einrichtung des österreichischen Landwirtschaftsministeriums, enthält die Milch von Kühen, die auf Bergwiesen und Almen weiden, tatsächlich einen besonders hohen Anteil an gesunden Omega-3-Fettsäuren sowie an Vitaminen und Mineralstoffen.
M Im stillen Tal 0´52´´
Sprecherin:
Die Art und Weise, wie Almkühe fressen, befördert Forschern zufolge auch die Artenvielfalt. Demnach halten die grasenden Kühe, Schafe und Ziegen den Pflanzenbestand niedrig. Das Gros der lichtbedürftigen Blumen und Kräuter bekommt dadurch genug Sonne, um zu wachsen und zu gedeihen. Werden diese von Kühen gefressen und wieder ausgeschieden, so versorgt dies den Almboden mit wichtigen Nährstoffen. Treten Kühe Löcher in diesen Boden, so können darin eingetragene Pflanzensamen keimen. Schließlich transportieren die Tiere Samen in ihrem Fell bis in die entlegensten Winkel der Alm, an Raine, in Übergänge zu Wald und Fels, die unwegsam sind, aber ein wahres Refugium der Biodiversität. Der Innsbrucker Professor Markus Schermer:
O-Ton 12 Schermer
„Wir wissen, dass in den Rändern von bestimmten Landschaftsteilen die höchste Biodiversität ist. Also am Waldrand, oder den Feldrändern...diese Randbereiche sind ganz besonders wichtig. Und deswegen auch diese Flurgeholzstreifen und solche Dinge die eben wichtige Lebensräume darstellen. Dass diese offenen Flächen ganz wichtig für das Wasserregime sind, dass da mehr Wasser in den Boden hineinsickern kann, als wenn das Waldflächen sind, weil in den Waldflächen die Verdunstung auch höher ist.“
Sprecher
Markus Schermer, der lange am Forschungszentrum Berglandwirtschaft der Universität Innsbruck geforscht hat, spricht es aus, dieses: „Was wäre wenn?“
Sprecherin
Was wäre, wenn die Almgegenden nicht mehr von Bauern bewirtschaftet würden: Wie würden sie aussehen? Welche Folgen hätte dies für Fauna und Flora von Alpen und Voralpenland, welche für diese gewachsene Kulturlandschaft von und mit der Menschen seit hunderten von Jahren leben?
Atmo Hof/Alm
Sprecher
Klaus Schreyer steht vor seinem Hof, auf einer leichten Anhöhe, so dass er seine Streuobstwiesen überblickt, dahinter sanft-hügelige, voralpine Landschaft wie aus dem Fremdenverkehrsprospekt. Ganz zufrieden ist er dennoch nicht.
O-Ton 13 Schreyer
„Es ist halt dann ein enormer Strukturwandel in der Gegend, weil die ganze Landschaftsprägung ändert sich dann. (…) Vor mir ist der Schwarzenberg. Wo ich jetzt Wald sehe bei mir, bis rauf zum Gipfel war das Weidelandschaft. Ich unterhalt mich ja auch oft mit norddeutschen Touristen, wenn die bei uns da sind, also Gäste, und die sagen: Das einmalige an der Gegend ist halt, weil der Übergang so ist. Man hat eigentlich schon relativ kleinstrukturierte Flächen, und hat auch die Waldränder. Haglandschaft heißt das bei uns. Und das gibt’s ja da oben fast nicht“
Sprecherin
Dass einzigartige Berg-Landschaften nach und nach verschwinden – es ist ein nicht weit hergeholtes Szenario. Ihr Rückgang begann Markus Schermer zufolge, als die Almwirtschaft, vor gut 50 Jahren, unter Druck geriet.
O-Ton 14 Schermer
„Das war an und für sich schon etwas, was man in den frühen 70er Jahren beobachten konnte, dass die Bergbetriebe die Modernisierungsverlierer sind. Dass sie also nicht so mit der Mechanisierung, Intensivierung, Spezialisierung mithalten konnten, die man also nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein in der Landwirtschaft durchgeführt hat.“
Sprecher
Klaus Schreyer hat das Sterben der Höfe in seiner Nachbarschaft hautnah miterlebt.
O-Ton 15 Schreyer
„Brunnfeld heißt der ganze Ort, und das waren einmal acht Bauern in Brunnfeld. Und jetzt sind wir noch der Einzige.“
Sprecher
Dass es seinen „Sunnara“-Hof noch gibt: Das hat Schreyer der Um- und Weitsicht seiner Vorfahren zu verdanken, die das Anwesen nach und nach bis zu einer überlebensfähigen Größe erweiterten: Von 5 Kühen in der Frühzeit des Hofs auf heute fast 50. Klaus Schreyer schließlich investierte weniger in Quantität - sondern in die Qualität der Tierhaltung.
O-Ton 16 Schreyer
„Wir haben dann einen neuen Stall gebaut, der ist auch jetzt wieder 34 Jahre all. Und dortmals habe ich natürlich schon eine riesige Revolution gebrochen, da im Leitzachtal, weil ich hab den ersten Laufstall gebaut. Also bei mir laufen die Kühe schon frei. Weil ich hab kein Anbindehaltesystem gefunden, wo sich eine Kuh richtig wohlfühlt.“
Sprecherin
Die Anbindehaltung, bei der Vieh das ganze Jahr über im Stall angebunden bleibt, soll aus Tierschutzgründen in einigen Jahren nicht mehr erlaubt sein. Dies schreckte zunächst auch Bergbauern auf, die Kombihaltung betreiben. Dabei haben die Kühe im Sommer – wie bei Regina Hölzl auf der Schellenbergalm – Weidegang. Im Winter im Tal, oder abends und nachts, werden sie im Stall angebunden.
Atmo Jungkuh kommt in Stall der Schellenbergalm getrottet
O-Ton 17 Hölzl
„Da kommt die Guggi, die will in den Stall… Das ist eins von den Kälbern, die am Spätnachmittag selber heimgeht...“
Sprecher
Eine junge Kuh kommt in den niedrigen Stall getrottet, stellt sich an ihren Platz – und wartet darauf, von Regina Hölzl angebunden zu werden.
O-Ton 18 Hölzl
„Das ist ein Braunvieh, und die weiß auch, dass sie schön ist. Die ist sehr eitel, ja. Die wird jetzt über Nacht in dem Stall angehängt, damit sie ihren festen Platz hat, damit sie ihre Ruhe hat, damit sie die großen Kühe einfach in Ruhe lassen. (…) Des sind Alphatiere, das sind Herdentiere. Die große Kuh neben dem kleinen Kaibal: die schafft da drin an. Das Kälbchen kann nicht aus. Und so hat sie ihren Platz, darf da bleiben über Nacht, und kriegt ihre Portion Heu.“
Sprecherin
Eine solche Kombihaltung soll auch nach einer Neufassung des Tierschutzgesetzes möglich sein. Unmut gab es zuletzt darüber, den Winterauslauf von Rindern verpflichtend zu regeln. Für Almbauern, die ihr Vieh ohnehin wann und wo möglich ins Freie ließen, noch eine Regulierung mehr, klagt Regina Hölzl. Sie berät mittlerweile Kolleginnen und Kollegen im komplizierten Klein-Klein der Düngeverordnung.
O-Ton 19 Hölzl
„Es sind diese Vorschriften, die´s einem so leidig machen. Es ist enger geworden, es sind viel mehr Vorschriften geworden. Oder dieser Bleistift, die Subventionen, es wird immer wieder minimalisiert: Dabei muss ich ja investieren, Rücklagen bilden. Die allermeisten Betriebe haben noch irgendein Standbein: Ein Schankrecht, eine Ferienwohnung im Tal, damit man „Urlaub auf dem Bauernhof“ noch mitnehmen kann.“
Sprecherin
Sich breiter aufstellen, etwa durch touristische Angebote: Dies sei eine Möglichkeit für Bergbauern, das Überleben zu sichern, sagt Agrarsoziologe Markus Schermer. Eine andere liege in mehr Spezialisierung. Durch Direktvermarktung oder ökologisches Wirtschaften könnten sie höhere Preise erzielen. Schließlich könnten sie ihre Betriebskosten geringer halten: Etwa durch Zusammenschlüsse wie Maschinenringe oder Genossenschaften. Doch so gut sich ein Bergbauer neu aufstellt - ohne einen weiteren Faktor würde es laut Schermer wohl nicht gehen: Ohne Subventionen, mit denen die EU - wie auch das Land Bayern mit einem speziellen Bergbauernprogramm – die Almwirtschaft fördern.
Sprecher
Der Wert der Subventionen für die Bergbauern: Er lasse sich nicht in Heller und Pfennig berechnen, sagt Markus Schermer. Denn die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Alpen und Voralpen sei vernetzt, bilde eine bäuerliche Subkultur, einen Kitt auch für die Gemeinschaft, und eine gemeinsame Identität in den Dörfern.
O-Ton 20 Schermer
„Ich komme immer mehr zu dem Schluss, dass wir neben einer Biodiversitätsförderung auch eine Soziodiversitätsförderung brauchen. Das heißt, wir sollten gesellschaftliche Organisationsformen und Lebensformen erhalten und deren Habitat erhalten, die eine Alternative zu unserem Leben und Wirtschaftsweisen, zu unserer kapitalistischen Lebens- und Wirtschaftsweise bieten. Ob das jetzt regional ist, wie die Bergbauern und Bergbauerninnen, oder ob das global ist. Aber im Prinzip ist es etwas, was mich in den letzten Jahren etwas mehr beschäftigt, dass wir mit unserer Wirtschaftsweise eigentlich die letzten Bereiche, die Alternativen dazu böten, kaputt machen. Dass unsere dominante Wirtschaftsweise eigentlich die Alternativen ausradiert, die wir so sehr brauchen würden für eine Transformation in Richtung sozial-ökologischer Nachhaltigkeit.“
M Weltverdruss 1´27´´
Sprecher
Sie verspüre den Auftrag, das Wissen und die Erfahrung der Ahnen weiterzugeben, sagt die Bergbäuerin Regina Hölzl: Nicht nur an die nächste Generation der Bergbauern, sondern auch an die Gesellschaft. Als „Erlebnisbäuerin“ bringt sie Schülerinnen und Schülern das Leben der alpinen Landwirtschaft näher. Aber auch Wanderern auf der Schellenbergalm, die bei der Bergbäuerin Regina Hölzl Nachhaltigkeit hautnah erleben können.
O-Ton 21 Hölzl
„Das, was gottseidank wieder moderner geworden ist: Dass man sich wieder bewusster mit den Ressourcen auseinandersetzt, umgeht und die auch schätzt.
Das erlebe ich da oben immer wieder: wenn ich die Butter jetzt rühre in diesem Butterfass, und es sind zufällig Wanderer da, und die sagen: Was machst du den Da? Ja ich mach einen Butter. Woah, dürfen wir zuschauen? Woah schmeckt die gut! Und es geht einem selber auch so, dass man das leider ein bisschen vergessen hat: Dass das von einer gesunden Kuh ist, die frisches Wasser braucht. Und wie viel Energie, wie viel Liebe, wie viel Handarbeit da dahintersteckt. Wie gern man das macht, und mit was für einem souveränen Wissen das auch gemacht wird. Es wird einem schon bewusst, was das für ein bereichernder Aufwand ist, bis man das Stückerl Butter dann da hat. Und das kriegt dann einen ganz anderen Stellenwert.
Tollwut, Ebola, Aids, die Pest und höchstwahrscheinlich auch Covid-19 - viele Erkrankungen, die weltweit vorkommen, haben eines gemeinsam: Ihre Erreger sprangen irgendwann vom Tier auf den Menschen über. Es sind Zoonosen. Wie können wir uns vor den tierischen Erregern schützen? Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Christiane Klenz
Es sprach: Xenia Tiling
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Thomas Müller, Fachtierarzt für Virologie am Friedrich-Löffler-Institut in Greifswald;
Hendrik Wilking, Epidemiologe am Robert-Koch-Institut in Berlin
Stechmücken - Das geheime Leben der sirrenden Sauger HIER
Wildtiere erobern die Großstadt - Waschbär, Fuchs und Fledermaus HIER
AIDS - Das (fast) vergessene HI-Virus HIER
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Angefangen hathe Leonard Cohen als Schriftsteller, lange bevor er ein Weltstar der Popmusik wurde. Heute zählen „Hallelujah“, „Suzanne“ und „So long, Marianne“ zu den meistgehörten und meistgecoverten Songs weltweit. Im Podcast geht es um ihn als Mönch in L.A., als Dichter auf der griechischen Insel Hydra und als Singer-Songwriter auf der Bühne auf der ganzen Welt. HIER ENTDECKEN
Linktipps:
- Diverse Autor*innen: Virale Zoonosen in Deutschland aus der One Health Perspektive, 2023, Bundesgesundheitsblatt. Übersichtsartikel zu den sechs häufigsten viralen Zoonosen in Deutschland und wie man sie eindämmen kann, abrufbar unter
- Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit: Trendbericht Zoonosen, Berichtsjahr 2022. Aktueller Überblick über Zoonosen, die durch Lebensmittel übertragen werden, abrufbar unter
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SPRECHERIN
Die Füchse müssen furchterregend ausgesehen haben: Rot unterlaufende Augen, triefender Speichel ums Maul und Kampfeslust in den Augen. Der Biss eines kranken Tieres kam früher einem Todesurteil gleich. Das ist heute bei uns anders. Und trotzdem löst der Anblick eines vorbei streunenden Fuchses bei vielen Menschen immer noch denselben Reflex aus: Achtung, Tollwut!
Deshalb die gute Nachricht vorab:
01 O-TON (Müller)
Der letzte Fall von Tollwut war 2006.
SPRECHERIN
Sagt der Fachtierarzt für Virologie Thomas Müller. Er forscht am Friedrich-Löffler-Institut in Greifswald. Seit 2008 gilt Deutschland offiziell als Tollwut-frei. Die zwei Jahre dazwischen sind eine Art Puffer, um auf Nummer sicher zu gehen.
02 O-TON (Müller)
Sie müssen erst mal sozusagen noch zwei Jahre lang warten, dass die Tollwut in dem Gebiet nicht mehr vorkommen wird.
SPRECHERIN
Die Tollwut ist eine Virus-Erkrankung, die vom Tier auf den Menschen übertragen wird. Also eine sogenannte Zoonose. Was man darunter versteht, erklärt der Epidemiologe Hendrik Wilking. Er forscht am Robert-Koch-Institut in Berlin.
03 O-TON (Wilking)
Zoonosen sind vom Tier zu Mensch und von Mensch zu Tier übertragbare Infektionskrankheiten. Die kommen weltweit vor und können ausgelöst werden durch Viren, Bakterien, Parasiten oder Pilze.
MUSIK 2 (Alan Jay Reed, Michi Koerner: Genetics 0’47)
SPRECHERIN
Tollwut, Aids, die Pest, Tuberkulose, Ebola und höchstwahrscheinlich auch Covid-19, das die Corona-Pandemie auslöste – die Liste von Zoonosen ist lang. Forschende gehen davon aus, dass zwei Drittel unserer Infektionskrankheiten aus dem Tierreich stammen. Einige sind sehr jung, wie Covid-19, andere sind uralt.
04 O-TON (Müller)
Die Tollwut ist die älteste bekannte Zoonose der Menschheit. Sie ist schon vor über 5.000 Jahren das erste Mal erwähnt worden im Alten Babylon. Also insofern wissen wir schon recht gut Bescheid, dass die Tollwut ein ständiger Begleiter der menschlichen Entwicklung war.
SPRECHERIN
Auch den Begriff gibt es in unserem Sprachraum schon sehr lange.
05 O-TON (Müller)
Also „Tollwut“ ist ein altdeutscher Begriff, der diese Krankheit gut, sag ich mal, schon mit einem Wort beschreibt. In anderen Sprachräumen wurde von ‚Hydrophobie‘ gesprochen.
SPRECHERIN
Hydrophobie, Wasser-Angst, weil die Betroffenen bei fortgeschrittener Krankheit eine starke Abneigung gegen Wasser entwickeln. Das gilt sowohl für Tiere als auch für den Menschen.
06 O-TON (Müller)
Das Virus befällt das zentrale Nervensystem des betroffenen Individuums, und das ist im Prinzip bei Mensch und Tier das Gleiche. Also bei Menschen würde man zunächst Kopfschmerz, Fieber, Angstzustände oder Kribbelgefühle oder ein verändertes Empfinden in der Nähe des Tierbisses merken, das sind die ersten Anzeichen von Tollwut. In den meisten menschlichen Fällen äußert sich die Krankheit dann auch durch eine Pupillenerweiterung, ungewöhnliche Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen, Licht, Temperatur-Veränderungen. Es gibt Anfälle, Halluzinationen sowie Hydrophobie, das heißt Krämpfe bei Berühren oder bloßen Erblicken von Wasser. Es geht dann weiter bis hin zur Lähmungserscheinung bis hin zum Koma. Und leider unbehandelt endet die Krankheit immer mit dem Tod des betroffenen Individuums.
MUSIK 3 ( Daniel Backes, Peter Moslener: Temperature Sensitive (reduced 2) 0‘36
SPRECHERIN
Anders als früher ist Tollwut aber heute kein Todesurteil mehr. Betroffene können sich mit einer Impfung gegen Tollwut schützen – auch nach dem Biss eines infizierten Tieres. Wobei es wichtig ist, dass möglichst schnell nach dem Vorfall geimpft wird.
Auch wenn Füchse noch immer Tollwut-Ängste auslösen, lange Zeit waren sie gar nicht Hauptüberträger der Krankheit, sondern Hunde. Wobei die nicht immer „tollwütig“ waren.
07 O-TON (Müller)
Es muss nicht immer die aggressive Form sozusagen der Tollwut sein, wo Menschen aktiv angegriffen werden, sondern in vielen Fällen sehen wir, dass die Tiere Lähmungserscheinungen haben, sich zusammenkauern, irgendwie krank aussehen, sie können sich kaum noch bewegen, und dann gehen die Menschen hin, wollen sie streicheln, wollen gucken, ob alles in Ordnung ist. In dem Moment schnappt der Hund zu.
MUSIK 4 ( Gustav Mahler: Symphony No. 5 (Blanchett, Wolf, Dresdner Philharmonie) 0‘20)
SPRECHERIN
Im Deutschen Kaiserreich zum Beispiel gab es deshalb eine ganze Reihe von Maßnahmen, um die Krankheit einzudämmen. Hunde mussten angeleint werden, einen Maulkorb tragen – und, bei den ersten Anzeichen von Tollwut, getötet werden.
08 O-TON (Müller)
Und all diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass die Anzahl der Tollwut bei Menschen dann doch rasant runtergegangen ist.
SPRECHERIN
Dennoch kam es immer wieder zu Tollwut-Erkrankungen bei Mensch und Tier. Das änderte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
09 O-TON (Müller)
Weil man erst da in der Lage war, entsprechende Impfstoffe zu entwickeln und die Aussicht hatte, dass man mit einer vorbeugenden Impfung Hunde erfolgreich gegen Tollwut schützen kann, und damit auch den Menschen gegen Tollwut schützen kann.
SPRECHERIN
Die Hunde-Tollwut konnte man durch die Impfung ausrotten, aber noch immer steckten sich Menschen an – und zwar jetzt beim Fuchs.
10 O-TON (Müller)
Jetzt hatte man ein Problem gelöst, die Hunde-vermittelte Tollwut, und schon hatten wir die nächste Problematik auf dem Tisch. Diesmal war nicht der Hund der Hauptüberträger der Tollwut, sondern der Rotfuchs.
SPRECHERIN
Deshalb impfte man auch Füchse großflächig, wobei das sehr viel aufwendiger war als bei Hunden. Die Impfstoffe wurden in Futter-Ködern versteckt und überall dort, wo Füchse vorkamen, verteilt. Unter anderem per Flugzeug.
11 O-TON (Müller)
Da fliegen die Flugzeuge sozusagen in einem geringen Abstand über dem Erdboden und computergesteuert werden dann die Köder in bestimmten Abständen ausgelegt. Und über diese sozusagen Maßnahme haben wir es dann geschafft.
MUSIK 5 ( Benjamin Flint: Soul Healing (reduced) 1’07)
SPRECHERIN
Ein riesiger Aufwand, der sich über viele Jahre hinzog, aber letztlich konnte das Tollwut-Virus in Europa ausgerottet werden.
Wobei – so ganz weg ist das Tollwut-Virus auch in Europa nicht. Denn eigentlich sind wir nur frei von terrestrischer Tollwut. Terrestrisch bedeutet so viel wie: am Boden lebend.
12 O-TON (Müller)
Wir sind in Europa frei von terrestrischer Tollwut, aber nicht frei von Fledermaus-Tollwut, weil sie die Fledermaus-Tollwut im Prinzip nicht bekämpfen können.
SPRECHERIN
Weil man nicht alle Fledermäuse impfen könnte, auch weil sie in Europa unter strengem Schutz stehen. Aber dass Menschen sich bei Fledermäusen anstecken, kommt so gut wie nie vor.
Vermutlich stammt das Tollwut-Virus auch ursprünglich von Fledermäusen. Forschende können mithilfe von Gen-Analysen des Erbguts nachvollziehen, wie Zoonosen sich entwickelt haben und von welchem Tier sie stammen.
13 O-TON (Müller)
So kann man sich also gut vorstellen, dass vor mehreren Hunderttausend Jahren es mal zum erfolgreichen Überspringen dieser Viren, die einst bei Fledermäusen waren, dann auf den Fleischfresser – in diesem Fall waren es wildlebende Fleischfresser, also Füchse, Waschbären, Skunks usw. – dann erfolgreich übertragen worden sind und sich dort etabliert haben.
SPRECHERIN
Im Laufe der Zeit hat sich das Tollwut-Virus also so verändert, dass es andere Tierarten – und letztlich auch den Menschen infizieren konnte.
14 O-TON (Wilking)
Das Virus braucht bestimmte genetische Eigenschaften, damit es beim Menschen andocken kann, obwohl es wahrscheinlich nie vorher einen Menschen überhaupt gesehen hat.
SPRECHERIN
Dazu muss man wissen: Erreger wie Viren oder Bakterien verändern sich ständig. Anders ausgedrückt: Es kommt immer wieder zu zufälligen Mutationen im Erbgut. Das ist im Prinzip bei uns Menschen genauso – auch wir haben uns über die Jahrmillionen ja immer weiter verändert. Aber bei Viren und Bakterien geht das sehr viel schneller. Das Erbgut von RNA-Viren zum Beispiel – zu denen gehört die Influenza, also die echte Grippe – verändert sich eine Million Mal schneller als das menschliche Erbgut. Das ist quasi Evolution im Zeitraffer – und übrigens auch der Grund dafür, warum man sich jedes Jahr aufs Neue gegen Grippe impfen lassen muss.
Die enorme Wandlungsfähigkeit macht die Erreger ein Stück weit unberechenbar.
15 O-TON (Wilking)
Einige Viren können sich sehr schnell weiterentwickeln und so ihre Eigenschaften verändern. Also in dem Sinne, dass sie krankmachender werden können. Aber es geht auch umgekehrt, dass sie weniger krankmachend werden. Oder sie können dem Immunsystem des Menschen oder der Tiere sozusagen besser ausweichen oder dass sie durch eine Impfung induzierte Immunität ausweichen. Sie können halt so ihre Eigenschaft verändern. Aber es gibt auch sehr, sehr stabile Viren, die wahrscheinlich seit Hunderten von Jahren genau die gleichen Eigenschaften haben, und bei Bakterien ist es ähnlich. Es gibt einige Bakterien, die sind sehr stabil und dann gibt es Bakterien, die sehr volatil sind und sich sehr schnell auf die Umgebung, auf die Säugetiere oder den Menschen, die sie infizieren, anpassen.
SPRECHERIN
Auch wegen der ständigen Veränderungen gibt es mittlerweile eine große Anzahl von Zoonosen. Forschende unterscheiden sie nach ihrem Übertragungsweg.
MUSIK 6 ( Alan Jay Reed; Tony Delmonte: Locked 1’12)
16 O-TON (Wilking)
Es gibt so klassische Zoonosen, wo sich Menschen direkt durch den Kontakt zu Tieren anstecken, das können landwirtschaftliche Nutztiere sein, da gibt es zum Beispiel Q-Fieber, Milzbrand oder Brucellose. Das können Wildtiere sein, in Deutschland, insbesondere in Bayern, kommt leider seit einigen Jahren vermehrt das Borna-Virus vor, das greift das Nervengewebe an und das führt dann halt beim Menschen zu Gehirnentzündungen und leider in sehr häufigen Fällen dann auch nachfolgend zum Tod.
SPRECHERIN
Das Borna-Virus wird von Feldspitzmäusen übertragen. Eine meist tödliche Erkrankung, die allerdings extrem selten ist. Aktuell geht das Robert-Koch-Institut von zwei bis sechs Erkrankungen pro Jahr aus.
17 O-TON (Wilking)
Oder Hantavirus-Erkrankungen in vielen Gegenden Deutschland, die werden durch Kontakt zu Nagetieren übertragen. Oder sehr bekannt ist auch der Fuchsbandwurm.
SPRECHERIN
Der Fuchsbandwurm ist ein Parasit, der vor allem bei Füchsen, aber auch bei Hunden oder Katzen vorkommt. Die Eier des Parasiten gelangen über den Kot des Fuchses in die Natur. Deshalb wird empfohlen, im Wald – insbesondere in Bodennähe – gesammelte Beeren oder Pilze abzukochen, das tötet die Eier ab. Aber auch hier kann man sagen: Die Krankheit ist sehr selten. Jedes Jahr stecken sich 40 bis 70 Menschen an.
Ein anderer Übertragungsweg für Zoonosen sind Lebensmittel.
18 O-TON (Wilking)
Hepatitis E wird durch ein Hepatitis-E-Virus verursacht und wird durch den Verzehr von Schweinefleisch übertragen. Und gerade, wenn man ne vorgeschädigte Leber hat und dann zusätzlich diese Virusinfektion kommt, kann man schwer erkranken. Aber es gibt auch andere Beispiele: Campylobacter-Infektionen führen zu Durchfällen und in seltenen Fällen auch zu Immunreaktionen. Und das wird durch Verzehr von ungenügend durchgegartem Geflügelfleisch übertragen. Aber es gibt auch die in der Bevölkerung sehr bekannten EHEC-Erkrankungen. EHEC ist eigentlich ein bakterieller Erreger bei Rindern und halt durch den Verzehr von unzureichend durchgegartem Rindfleisch kann es zu EHEC-Ausbrüchen kommen in der Bevölkerung, beziehungsweise das ist in den letzten Jahrzehnten mehrmals vorgekommen.
SPRECHERIN
Deshalb ist es wichtig, Fleisch immer ausreichend durchzugaren. Das tötet Bakterien und auch einen Großteil anderer Erreger wie Viren oder Parasiten ab.
Allerdings gibt es hierzulande einige rohe Fleisch-Speisen, die sehr beliebt sind. Carpaccio aus rohem Rinderfleisch zum Beispiel oder auch rohes Schweinefleisch, das je nach Region anders heißt: Hackepeter, Mett, Bratwurstgehäck oder auch einfach nur Gehäck.
19 O-TON (Wilking)
Also rohes Schweinefleisch, der Verzehr ist halt in Deutschland sehr beliebt und kommt halt im europäischen Ausland sonst so nicht vor, also ist schon eine sehr deutsche Besonderheit irgendwie. Und durch diesen Verzehr können auch bestimmte Infektionskrankheiten übertragen werden. Also Toxoplasma gondii als Parasit kommt in Deutschland sehr häufig vor und halt auch andere bakterielle Erkrankungen können halt so übertragen werden.
SPRECHERIN
Daneben gibt es noch eine weitere Gruppe Zoonosen, die sogenannten Vektor-übertragenen Zoonosen. Das sind Infektionskrankheiten, die über Vektoren wie Mücken oder Zecken weitergegeben werden.
20 O-TON (Wilking)
Da kennen Sie die Lyme-Borreliose. Da gibt es leider viele Erkrankungsfälle pro Jahr in Deutschland, die Gehirnhautentzündung hervorrufen oder auch Gelenkentzündungen. Und dann gibt es, durch die Zecke als Vektor übertragen, die FSME.
SPRECHERIN
Also die Frühsommer-Meningoenzephalitis, die ebenfalls eine Entzündung des Gehirns und der Hirnhäute hervorrufen kann.
Forts. 20 O-TON
Da kann man sich gut gegen impfen. Aber seit einiger Zeit, wahrscheinlich auch durch den Klimawandel induziert, auch Mücken-übertragene Erkrankungen in Deutschland, also das West-Nil-Virus in Ostdeutschland. Und wir müssen auch uns darauf einstellen, dass es noch weitere Mücken-übertragene Erkrankungen in den nächsten Jahren in Deutschland geben kann.
SPRECHERIN
Weil es wegen des Klimawandels wärmer wird und sich deshalb andere Mückenarten sich bei uns ansiedeln, rechnen Forschende damit, dass es künftig hierzulande Fälle von Malaria geben wird. Wobei man eigentlich sagen muss: Wieder geben wird.
21 O-TON (Wilking)
Malaria gab es früher ganz viel in Deutschland und die Malaria wurde ausgerottet durch Maßnahmen, also man hat halt Sümpfe trockengelegt, Brachland trockengelegt. Also die Malaria war in Mitteleuropa verbreitet, in England, bis hoch nach Skandinavien.
MUSIK 7 ( Daniel Backes, Peter Moslener: Temperature Sensitive (reduced 2) 0’42)
SPRECHERIN
Und dann gibt es noch eine weitere Gruppe Zoonosen – mit der wir alle in jüngster Zeit leidvolle Erfahrungen gemacht haben: die sogenannten Spillover-Zoonosen.
22 O-TON (Wilking)
Das sind halt Viruskrankheiten, wo es einmal am Anfang einen Übertrag vom Tierreich auf den Menschen gibt und nachfolgend halt Mensch-zu-Mensch-Übertragungen eines neuen Erregers. Die Influenza ist da zu nennen oder in anderen Weltteilen sehr gefürchtet zum Beispiel das Ebola-Fieber durch das Ebola Virus.
SPRECHERIN
Und natürlich die Lungenkrankheit Covid-19, besser bekannt als: Corona. Im Januar 2020 berichtete die Tagesschau:
23 TON (Tagesschau)
Hongkong verschärft Kontrollen bei der Einreise, die US-Botschaft in Peking warnt vor Kontakt mit Tieren und erkrankten Menschen. Anlass ist die mysteriöse Lungenkrankheit in der chinesischen Millionenstadt Wuhan, ausgelöst möglicherweise durch ein neuartiges Corona-Virus, das glauben zumindest chinesische Wissenschaftler.
https://www.youtube.com/watch?v=hU7vVnxFoBk
SPRECHERIN
Kurze Zeit später dann der erste Fall in Deutschland. Die Pandemie nahm ihren Anfang. Es folgten: Maske tragen, Lockdowns, geschlossene Kitas und Schulen, unzählige Erkrankungen – und, nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO, rund 15 Millionen Tote. Erst die Impfung brachte wirklich Abhilfe. 2023 dann erklärte die WHO den Corona-Notstand für beendet.
Gut drei Jahre hat Covid-19 die Welt in Atem gehalten – dabei sind Corona-Viren eigentlich alte Bekannte.
24 O-TON (Wilking)
Coronaviren, also diese Virusfamilie der Coronaviren, findet man weltweit verbreitet in der Tierwelt. Das ist jetzt erst mal nichts Ungewöhnliches. Und solche Spillover-Vorkommnisse von Corona-Viren sind halt in der Menschheitsgeschichte vielfach vorgekommen.
SPRECHERIN
Zahlreiche Coronaviren kommen zum Beispiel in Fledermäusen vor. Verändern sich die Viren können sie auf andere Tiere oder auch den Menschen überspringen. Und wenn sie dann auch von Mensch zu Mensch übertragen werden können, spricht man von einem Spillover-Event. Bereits 2003 gab es das mit Sars-Cov1.
25 O-TON (Wilking)
Sars-Cov-1 war 2003 auch ein Spillover-Event eines Coronavirus. Es gab auch dann Übertragungen des Virus in andere Teile, also nach Kanada, aber auch nach Europa. Aber der Unterschied zu Sars-Cov-2 war, dass Sars-Cov-1 nicht so übertragbar war und durch Anstrengungen der Gesundheitsbehörden weltweit und durch gute Kommunikation, aber auch durch schnelle Diagnostik, konnte Sars-Cov-1 wieder ausgerottet werden. Das ist halt bei Sars-Cov-2 nicht mehr gelungen.
SPRECHERIN
Statt lokalen Ausbrüchen kam es zu einer weltweiten Pandemie. Aber nach Sars-Cov-1 und Sars-Cov-2 fragt man sich unweigerlich: Wann kommt Sars-Cov-3?
26 O-TON (Wilking)
Ja, das weiß man nicht. Das ist reine Spekulation. Also Sars-Cov-3 kann natürlich vor der Haustür stehen, rein zeitlich gesehen. Aber vielleicht kommt Sars-Cov-3 nie vor. Man weiß es nicht.
SPRECHERIN
Weil die Erreger eben unberechenbar sind. Das hat etwas Bedrohliches. Sind Zoonosen heute gefährlicher als früher? Hendrik Wilking meint: Nein.
27 O-TON (Wilking)
In der Geschichte der Menschheit hat es auch schon ganz fürchterliche Zoonosen gegeben. Also die klassische Pest ist zum Beispiel ja auch eine Zoonose, die von Ratten auf den Menschen übertragen wurde. Und die hat immerhin im 17. Jahrhundert fast die Hälfte der Bevölkerung dahingerafft.
MUSIK 8 ( Danny Elfman: Day One 0’53)
SPRECHERIN
Zoonosen, auch Spillover-Zoonosen, gab und gibt es immer wieder. Was sich aber grundsätzlich verändert hat, sind unser Wissen und auch unser Gesundheitssystem. Anders als früher sind Übertragungswege heute gut erforscht. Auch stehen für viele Zoonosen Medikamente zur Verfügung. Einen großen Unterschied machen aber Impfungen.
Wobei man leider sagen muss: Das gilt vor allem für die wohlhabenden Länder. In ärmeren Regionen sterben immer noch sehr viele Menschen an Zoonosen, gegen die man eigentlich impfen oder Medikamente geben könnte. Ebola, Malaria oder Affenpocken zum Beispiel. In einigen Gegenden Afrikas und Asiens ist auch die Tollwut immer noch ein großes Problem.
28 O-TON (Müller)
Insbesondere Südostasien muss man hier nennen. Da sterben jährlich, nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation, immer noch so um die 60.000 Menschen an Tollwut. Das ist leider eine Tatsache. Die Hälfte davon sind Kinder unter 15 Jahren. Alle neun Minuten stirbt in diesen Ländern jemand an einer Tollwut-Infektion.
MUSIK 9 ( Thomas Lemmer; Adrian Marquez Salas: Infinity 0’42)
SPRECHERIN
Das hat vor allem eine Ursache.
29 O-TON (Müller)
Es handelt sich ja teilweise um die ärmsten Länder der Welt, die einfach nicht die Ressourcen haben, großangelegte Tollwut-Impfaktionen durchzuführen, die haben andere Probleme, die noch dazu kommen, wo Tollwut wahrscheinlich auch nur ein Teil des gesamtgesundheitlichen Problems in diesen Ländern sind.
SPRECHERIN
Forschende zählen die Tollwut deshalb zu den neglected tropical diseases, also zu den vernachlässigten tropischen Krankheiten.
30 O-TON (Müller)
Es ist bekannt, aber es wird leider – auch international – dieser Krankheit wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
SPRECHERIN
Bei uns kann man gerade vom Gegenteil sprechen: Seit der Corona-Pandemie gibt es eine erhöhte Aufmerksamkeit mit Blick auf Zoonosen, die in unseren Breiten auftreten. West-Nil-Fieber, Zika-Virus, Nipah-Virus, Vogelgrippe, Schweinepest. Wenn man die Nachrichten verfolgt, kann man den Eindruck bekommen, als stünde die nächste Pandemie schon vor der Tür. Darauf deutet aber aktuell nichts hin.
Aber die Sorgen sind groß. Das zeigt sich auch daran, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nach einigen Fällen von Affenpocken in Europa bereits öffentlich klarstellen musste:
31 TON (Lauterbach)
Was wir mit den Affenpocken gerade erleben, ist nicht der Beginn einer neuen Pandemie.
https://www.youtube.com/shorts/HPQnlaizoJY
MUSIK 10 ( Daniel Backes, Patrick Kuhn Botelho, Matthias Deger, Tony Delmonte: Discovery (main) 0’57)
SPRECHERIN
Mit den Affenpocken hatten sich einige Menschen auf Reisen infiziert.
Generell hält Hendrik Wilking vom Robert-Koch-Institut eine erhöhte Aufmerksamkeit aber für sinnvoll.
32 O-TON (Wilking)
Wir brauchen gute Surveillance- und Monitoring-Systeme, die solche Krankheiten und solche Ausbrüche detektieren, und auch diese Übertragung irgendwie schnell sichtbar machen.
SPRECHERIN
Es darf eben nur keine Panik draus werden. Daneben müssen wir unsere Gesundheitssysteme entsprechend ausstatten.
33 O-TON (Wilking)
Unsere Gesundheitssysteme brauchen halt auch so Krisenmodi, um mal für eine Zeit lang größere Zahl bestimmter Krankheitsfälle behandeln zu können. Aber auch um zügig antivirale Medikamente zu entwickeln und herstellen zu können. Oder halt, was ja in der Pandemie hervorragend gelungen ist, schnell Impfstoffe zu entwickeln und produzieren zu können, damit die Bevölkerung geschützt werden kann.
MUSIK 11 Peter Lepahin: Repercussions (rediced) 0‘36
SPRECHERIN
Keine Frage, Zoonosen haben etwas Bedrohliches. Die Corona-Pandemie hat uns eindrücklich vor Augen geführt, welche Folgen es haben kann, wenn Infektionskrankheiten vom Tier auf den Menschen überspringen. Gleichzeitig sind Zoonosen aber etwas ganz Normales, einige haben die Menschheit über viele Hunderttausend Jahre begleitet. Aber anders als in früheren Zeiten können wir uns heute dafür wappnen.
Wie bringt sie ihre Werke auch zum entferntesten Leser? Wie findet das eine bestellte Exemplar aus mehr als elf Millionen Bänden seinen Weg in die Ausleihe? Wie klingt ein Bücheresel? Und warum schlägt man auch heute noch Bücher auf? Ein Gang durch die Bestände und die Geschichte der Bayerischen Staatsbibliothek. Autorin: Leo Hoffmann (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Leo Hoffmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Peter Schnitzlein, Leitung Presse Bayerische Staatsbibliothek;
Prof. Dr. Stefan Wimmer, Hebraica&Bestand Widmanstetter, BSB;
Dr. Claudia Bubenik / Alte und Seltene Drucke, BSB;
Dr. Wolfgang-Valentin Ikas / Handschriften, BSB:
Dr. Martin Hermann / Münchener Digitalisierungszentrum, BSB
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Stabi_01_Atmo_Tür (läuft unter dem Text weiter)
SPRECHERIN:
Es sind riesige Holztüren, die so ins Schloss fallen.
Musik: Z8019017133 Nocturnal research 0‘37
Sie führen in eine Institution mit bald 500-jähriger Geschichte: die Bayerische Staatsbibliothek! Mit mehr als 37 Millionen Medien, darunter 19 Millionen Fotos und Bilder, mit der viertgrößten Handschriftensammlung der Welt, mit Wiegendrucken, Künstlerbüchern, mit Landkarten und Globen, Bildbeständen und Fotosammlungen ist sie eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Universalbibliotheken Europas. Doch beinahe wäre ihre Karriere im Sande verlaufen!
Stabi_01_Atmo_Tür (lauter Akzent, dann Ende)
Musik: ZE001630101 Toccata del sesto tono 0‘36
SPRECHERIN:
Man schreibt das Jahr 1558: Die drei Töchter eines Johann Albrecht Widmanstetter bieten den Nachlass ihres im Vorjahr verstorbenen Vaters feil. Wer war denn dieser ...
Stabi_02_ Widmanstadii
„Johannes Albertus Widmanstadii“
SPRECHERIN:
... fragen wir Prof. Stefan Wimmer, Experte für den Gründungsbestand der „BSB“ oder „Stabi“, wie die Bibliothek zungenfertig abgekürzt wird:
Stabi_03_Vita
„Er kam aus einem Dorf, Nellingen bei Ulm, aus einfachen Verhältnissen, sehr viel weiß man dazu nicht, aber man weiß, dass sein Dorfpfarrer sein Talent für Sprachen entdeckt hat, und ihm Latein und Griechisch beigebracht hat, er konnte dann an verschiedenen Universitäten, Tübingen, Heidelberg und anderen studieren, und ist zu einem Sprachgenie geworden, hat sich vor allem auf orientalische Sprachen spezialisiert, ist deshalb auch ein Wegbereiter der Wissenschaft geworden, die wir Orientalistik nennen, das Studium der Sprachen des nahen und mittleren Ostens, und war ein typischer Renaissancegelehrter, der sich mit allen Zweigen des Gelehrtentums befasst hat, mit Jura, er war von Beruf ja auch Rechtsgelehrter, er war Diplomat in verschiedensten Diensten, bis hinauf zum König Ferdinand, der dann Kaiser wurde, bei zwei Päpsten war er in diplomatischen Diensten, bei Herzog Ludwig X. von Bayern, in Landshut, und war also ein sehr viel beschäftigter Mann.“
Musik: ZR003960111 Vinci für Orgel 1‘00
SPRECHERIN:
In diesem Leben zwischen Tübingen und dem Vatikan, zwischen Basel, Neapel und Wien sammelt sich einiges in Truhen, Kästen und Kisten, denn die Forscher der Renaissance pflegen ihre akademischen Beziehungen länderübergreifend: Widmanstetter korrespondiert beispielsweise nach Rom mit dem Kardinal Egidio da Viterbo, dem Generaloberen des Augustinerordens. Über Viterbo hat Widmanstetter auch Kontakt mit Elias Levita, einem jüdischen Gelehrten aus Neustadt an der Aisch, der den Kardinal in Aramäisch und Hebräisch unterrichtet, damit der den Talmud und das Alte Testament erforschen kann. Religiöse Animositäten? Mitnichten, wie ein Brief von Levita aus dem Jahr 1538 beweist.
Stabi_04_Brief 37:60
„Da steht als Adresse – es beginnt in aramäischer Sprache und geht dann Hebräisch weiter, .... (hier im Original der Brief) Das heißt ‚zu Händen des großen und teuren Herrn, bei dem die Erleuchtung wohnt“ ... (hier weiter im Original) „das ist mein teurer Herr Jochanan, also Johannes Widmannstetter ist gemeint. Drunter steht me Venezia ... (hier weiter im Original bis „ve shalom“) „Aus Venedig der großen Stadt nach Rom, Fürstin der Länder, und Shalom – Frieden!“
Musik: ZE001630114 Canzon prima für Cembalo 0‘53
SPRECHERIN:
Der Wittelsbacher Herzog Albrecht V., genannt der Prächtige, ist ein Sammler: Antike Skulpturen und Münzen, Gemälde, edle Rosse, venezianisches Glas, Preziosen für seine Wunderkammer UND Bücher! Wie alle Renaissancefürsten stellt er durch die Präsentation kostbarer Objekte seinen Anspruch auf Königs- und Kaiserwürden klar. Folgerichtig bieten ihm Widmanstetters Töchter den Nachlass ihres Vaters an. Dessen Einzigartigkeit aber erschließt sich Albrecht nicht: Er lehnt den Kauf ab!
Erst als der bibliophile Gelehrte Johann Jakob Fugger ihm klar macht, dass Widmanstetter einen einmaligen Bestand an orientalischen Handschriften und Drucken hortete, besinnt er sich: Die Karriere der Stabi beginnt.
Stabi_05_Kauf:
Der Herzog hat dann 1000 Gulden gezahlt, nicht auf einmal, sondern über mehrere Jahre und verzinst, und diese Bibliothek dann zum Grundbestand seiner neuen herzoglichen Bibliothek gemacht, der Hofbibliothek, aus der die Bayerische Staatsbibliothek geworden ist.“
SPRECHERIN:
Bibliotheken neigen zum Wachstum. So auch die von Widmanstetter, die Herzog Albrecht ins ‚alte Gewölb’, das Archiv im Kanzleigebäude des Alten Hofs in München, bringen lässt. Der „Prächtige“ ergattert bald die nächste Sammlung: Sie gehört ausgerechnet seinem künstlerischen Berater Johann Jakob Fugger. Der muss Bankrott anmelden, da die spanische Krone die Tilgung ihrer hohen Kredite aus Augsburg schuldig bleibt. Bayern profitiert von dem Fiasko: Fuggers Sammlung, 10'000 Bände etwa, ist epochal, so Claudia Bubenik, die das Referat „Alte und Seltene Drucke“ leitet:
Stabi 07_Fuggersammlung
In seiner Sammlung verbergen sich seltenste Drucke auch des 16. Jahrhunderts, wie eine Ausgabe von Gilles Corrozet, die Hecatomgraphie, ein 1543 in Paris gedrucktes Werk, das also auch noch die alte Signatur der Hofbibliothek trägt ‚statio 7, die Nummer 31’.
Musik: ZE013680108 Ricercar für Cembalo 0‘52
SPRECHERIN:
Neben alten Handschriften hat Fugger alles gesammelt, was damals aktuell auf den Markt kam, die Neuerscheinungen quasi: Pierre Belons Vogelkunde, 1557 in Paris gedruckt, oder Juan di Isíars Anleitung zur Kalligraphie, Saragossa 1548, die „Carta Marina“ des Bischofs Olaus Magnus, gedruckt in Rom 1539 ... Last but not least gehört Fugger die nachgelassene Bibliothek des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel, inklusive seines Hand-Exemplars der „Weltchronik“.
Natürlich zieht der exquisite Erwerb eine ganze Reihe Folgekosten für Albrecht V. nach sich:
Stabi_08_Buchbinden
„Die Bände waren ja damals nicht gebunden auf dem Markt erhältlich, sondern in Lagen und das heißt, je nach Geldbeutel des neuen Besitzers, ließ dieser sich die Bände in prächtigen Einbänden binden oder eben in einfachen Pergamenteinbänden oder einem Coperteinband und es liegen zum Teil auch noch Unterlagen vor im Archiv, aus denen hervorgeht, welcher Buchbinder für wie viel Geld wie viele Bände bekam zum Einbindenlassen.“
SPRECHERIN:
Längst reicht ein Archivar wie Erasmus Fendt zur Betreuung der Sammlung nicht mehr aus: Ein Bibliothekar muss engagiert werden.
Stabi_09_ Örtel
Der erste Bibliothekar von dem es auch eine offizielle Bestallungsurkunde gab, war Egidius Örtel, der 1561 angestellt wurde, und die sogenannte ‚liberey’ zu verwalten hatte. Von ihm liegt auch der erste oder älteste Katalog der Hofbibliothek vor, zu den dialecticae ed grammaticae, leider nur als Fragment ...
Stabi_10_Prommer
Prägend für die Hofbibliothek war aber Wolfgang Prommer. Prommer kam aus Landsberg am Lech und wurde 1562 von Johann Jakob Fugger für seine Bibliothek eingestellt und kam, als Fugger seine Sammlung 1571 an Albrecht V. veräußern musste, mit der Bibliothek in die Hofbibliothek und hat dort sofort begonnen, diese Masse an 10'000 Bänden, die da plötzlich hereinschwappten, zu ordnen, aufzustellen und zu katalogisieren.
Musik: ZE001630110 Amarilli mi abella 0‘37
SPRECHERIN:
Von „seinen“ Büchern untrennbar wechselt Prommer Ort und Auftraggeber! Auch sein Katalog ist in Teilen erhalten und zeigt seine penible Arbeitsweise.
Die höchsten Folgekosten von Albrechts Ankauf sind räumlicher Natur: Das Kanzleigebäude im Alten Hof fasst Fuggers Büchermengen nicht! Die „liberej“ zieht um: in das von dem Kunstagenten Jacopo Strada entworfene und vom Augsburger Stadtbaumeister Simon Zwitzel errichtete „Antiquarium“. Im oberen Stock dieses ersten Museumsbaus nördlich der Alpen werden ihre Bände als Saalbibliothek entlang der Wände in Regalen aufgestellt und ergänzen so die Antikensammlung im Erdgeschoss: Eine ideale Umsetzung des Bildungsideals der Renaissance und für Albrecht zugleich die Chance, mit kostbaren Einbänden zu glänzen.
Zugänglich aber ist diese Bibliothek nur der Oberschicht: dem Hof und seinen adeligen Eliten. Später sind auch Jesuitenobere, Verwaltungsbeamte und Gelehrte zugelassen.
Nicht alles, was Albrecht angekauft hat, dürfen sie lesen. Sein Sohn, Wilhelm V., ordnet eine Revision an: Prommer muss anstößige, vor allem aber anti-katholische Werke aussortieren. Ziel jeglichen Bücherstudiums soll die Stärkung und Verteidigung des katholischen Glaubens gegen Luthers Lehre sein. Nicht umsonst trägt dieser Wittelsbacher den Beinamen „der Fromme“.
Musik: ZE001630110 Amarilli mi abella 0‘39
SPRECHERIN:
Werke von Melanchton, Calvin, Osiander usw. gelten als häretisch. Doch werden sie nur ab- und nicht ausgeschieden und zwar in einen Raum, zu dem Wilhelm V. den Schlüssel hat. Rund 600 geistliche Werke mit 1500 Schriften fallen darunter.
SPRECHERIN:
Man erkennt sie daran, dass Prommer KEINE neue Signatur in roter Tinte im Vorderdeckel anbringt. Wer sie erforscht, braucht auch heute eine Sondergenehmigung: Nicht, weil sie auf dem Index stehen, sondern weil sie unersetzliches Kulturgut sind.
Musik: Z8026958106 Nature existence 0‘33
Das studiert man im ersten Stock des Südflügels. Hinter einem gut bewachten Drehkreuz liegt der Handschriftenlesesaal. Mit Blei gefüllte Samtschlagen hängen zur Beschwerung der Seiten über hölzernen Buchwiegen. Weiße Handschuhe liegen bereit. Am „Tresortisch“ in der Nordostecke des Saals liest man die wertvollsten Werke unter den strengen, in Öl gemalten Augen von Johann Andreas Schmeller:
Stabi_11_größterBiblio
„der mit Fug und Recht als größter Bibliothekar des 19. Jahrhunderts der Hof- und Staatsbibliothek bezeichnet werden kann“...
SPRECHERIN:
... so Wolfgang Ikas, Leiter des Referats „Handschriften und Benutzung“. Neben Schmellers Porträt sitzt der Benediktinermönch Bruder Willibaldus, alias Martin Schrettinger, im Goldrahmen. Bevor sein Kloster Weißenohe der Säkularisierung zum Opfer fällt, geht er als Hofbibliothekar nach München, wo er heute als Begründer der Wissenschaft vom Bibliothekswesen gilt. Kritisch beäugt von diesen verdienten Vorläufern öffnet Wolfgang Ikas ein grünes Kästchen. Passgenau eingebettet liegen zwei Tontäfelchen und vier Ton-Kegel darin. Im Jahr 2034 v. Chr. drückte ein Schreiber die waagrechten, senkrechten und schrägen Dreiecke in den frischen Ton:
Stabi_12_Tontafel
„Da handelt es sich um eine Abrechnung über 183 Tonnen Getreide, die geerntet und zu Mehl verarbeitet worden sind.“
SPRECHERIN:
Vor über 4050 Jahren! Uralt auch der Kegel, den Herr Ikas zwischen seinen behandschuhten Fingern hält.
Stabi_13_Tonkegel
„Da handelt es sich um Schafe, die für einen Götterkult am Tempel abgegeben wurden, und entsprechend weiterverarbeitet wurden. Das stammt aus dem Jahr 2046 vor Christi Geburt.“
Musik: ZR005190101 Tempus transit 0‘47
SPRECHERIN:
Viel jünger als diese Keilschriften, weitaus poetischer, ja geradezu identitätsstiftend für Bayern sind die „Carmina Burana“, die die Stabi hütet, das „Wessobrunner Gebet“ oder der „Tegernseer Liebesgruß“, den ein Benediktiner Ende des 12. Jahrhunderts zwischen die lateinischen Seiten einer Handschrift aus dem Tegernseer Kloster schreibt. Dieses Einsprengsel ist wohl das älteste Liebesgedicht in deutscher Sprache – ein Sprachdenkmal.
Stabi_14_Liebesgruß
Du bist min, ich bin din,
Du bist mein, ich bin dein, dessen sollst du gewiss sein, du bist eingeschlossen in meinem Herzen, verloren ist das Schlüsselchen, du musst auf immer darin sein.
SPRECHERIN:
Auch Weltdokumentenerbe der UNESCO birgt die Stabi, nämlich die „Leithandschrift A“ des Nibelungenliedes, die früher als die älteste Abschrift dieser Dichtung angesehen wurde, außerdem die Handschrift „D“, die Wiguläus Hundt, Kanzler von Albrecht V., im 16. Jahrhundert auf Burg Prunn im Altmühltal entdeckt.
Stabi_15_Leithandschriften
„Sie ist zwar textlich nicht so bedeutend, wie die drei Leithandschriften, aber sie ist wunderschön illuminiert ...“
SPRECHERIN:
Wie ihre Paarreime klingen, weiß Herr Ikas natürlich auch:
Stabi_16_Nibelungenlied
„Uns ist in alten mæren wunders vil geseit /
von helden lobebæren, von grôzer arebeit,
von fröuden hôchgezîten, von weinen und von klagen,
von küener recken strîten muget ir nun wunder hœren sagen.“
Musik: Z8034319124 Cans and computers (c) 0‘58
SPRECHERIN:
Wer diese Handschrift mit ihren verspielten Initialen in Rot, Blau, Grün und Gold durchblättern will, braucht weder Handschuhe, noch eine Genehmigung. Selbst die Sigle „CGM 31“ muss er nicht wissen. Es reicht, „digitale-sammlungen.de“ in eine Suchmaschine einzugeben und „Prunner Codex“ in das Feld mit der Lupe, das dann aufleuchtet: Schwupp, erscheint der abblätternde Ledereinband aus dem 14. Jahrhundert auf dem Bildschirm. Komplett. Samt den Messingschließen, die seine 350 Seiten eng zusammenhalten, damit kein Staub zwischen die Blätter dringt und kein Papierfischchen! Um die Schließen zu öffnen, muss man nicht mit der Faust auf den Buchdeckel schlagen, wie beim Original: Der Cursor erledigt das mit einem Mausklick. Er kann das, weil im Erdgeschoss des Südflügels das „Münchener Digitalisierungszentrum“, kurz MDZ, wirkt. Es löst 1997 die „Fotostelle“ ab, in der Bücher seitenweise „abgeknipst“ wurden, um sie den Lesern zu erhalten. Inzwischen hat die Stabi drei Einheiten zur Digitalisierung, so Martin Hermann, der das Referat Digitale Bibliothek leitet.
Stabi_17_Digital
„Das beschäftigt sich vor allem mit der Digitalisierung der hochwertigen, seltenen, unikalen Stücke, die auch einer besonderen Behandlung bedürfen“...
SPRECHERIN:
Dafür tasten in abgedunkelten Räumen Handauflagescanner die Seiten ab. Das klingt so:
Stabi_18_Atmo_Scanner
SPRECHERIN:
Oder so, wenn es sich um ein älteres Scanner-Modell handelt:
Stabi_19_Atmo_Scanner-laut (unter Text durchlaufen lassen)
SPRECHERIN:
Dabei kommt oft eine Erfindung des MDZ zur Anwendung: Die „Münchner Finger“, flach zulaufende Stäbe aus Plexiglas, beschweren die Papiere.
Das jüngste Großobjekt des MDZ war die „Tabula Palatinorum“ von Johannes Herold aus dem Jahr 1556: Ein Stammbaum der Pfälzer Linie der Wittelsbacher, der vom sagenhaften König Chlodwig bis zu Kurfürsten Friedrich II. von der Pfalz reicht, vom 6. bis ins 16. Jahrhundert. Eine Hängetafel aus auf Leinwand fixierten Blättern mit gut 4 m Länge und 1,26 m Breite. Durch Mehrfachdigitalisierung und Bildbearbeitung sorgte das Team des MDZ dafür, dass die Leser das Objekt im Ganzen abrufen können. Der Mehrwert dabei? Die hochaufgelösten Dateien lassen tiefer blicken als das Original und das menschliche Auge: Wer sich diese „Tabula Palatinorum“ auf den Bildschirm holt, kann auch noch die dünnste Schraffur in den wuchernden Ästen des Baumes erkennen. Er entdeckt unbekannte Wittelsbacher, z.B. „Dodo, Dux Bavariae“, bayerischer Herzog im Jahr 666, aber auch winzige Fehl- und Knickstellen. Das „Institut für Bestandserhaltung und Restaurierung“, das im Untergeschoss der Stabi sein hochmodernes Labor hat, sorgt dafür, dass die Knicke nicht aufbrechen.
Einzelstücke wie dieser Stammbaum sind Scan-Sonderprojekte im MDZ, denn Digitalisierung muss vor allem eines können: Masse. Deshalb arbeitete das MDZ an der Entwicklung von Robotern, die das Umblättern der Seiten übernehmen.
Stabi_20_Atmo_Staubsaugerscanner (unter Text laufen lassen)
SPRECHERIN:
Was wie ein aggressiver Staubsauger klingt, war ein technischer Quantensprung: Die Bände liegen auf etwa 30° geöffnet in der Buchwiege. Ein dreieckiges Prisma fährt von oben in sie hinein und scannt beim Hochfahren beide Seiten gleichzeitig. Ein Luftstoss bläst die rechte Buchseite nach links. Das Prisma fährt wieder nach unten. Auf der Homepage der Stabi zeigt ein Zähler, dass die Bücher im Internet-Regal so täglich mehr werden: Über 3,7 Mio sind es inzwischen. Das ist ein Segen für die Originale, deren Papier wegen Säure- oder Tintenfraß zerfällt. Licht, Staub, Feuchtigkeit sind elementare Bedrohungen für jeden Band – und es ist ein Segen für die Leser! Nicht zu vergessen: Die Digitalisierung ermöglicht den Zugriff von jedem Schreibtisch der Welt aus, egal ob er in Wien steht, in Johannesburg oder in Tokio.
Stabi_20_Atmo_Staubsaugerscanner (ausfaden)
Musik: MR010690W04 Konzert für Klarinette und Orchester C-Dur, 1. Satz Allegro 1‘15
SPRECHERIN:
Doch, Moment?! Bevor man in der Staatsbibliothek scannen kann, muss die ja erst einmal gebaut werden. Wie kommt es dazu?
Aus dem Antiquarium war die Hofbibliothek nach mehreren Zwischenstationen in das „Wilhelminum“ gezogen, heute „Alte Akademie“ genannt. Der ungeliebte Pfälzer Kurfürst Karl Theodor hatte ihr dort einen ganz in Weiß gehaltenen Bibliothekssaal mit Galerie errichten lassen, mit verglasten Buchschränken unter klassizistischen Stuckaturen. Ein Schau-Objekt? Nicht nur: Diese Bibliothek hat drei Lesezimmer und zwar für alle, ohne Unterschied des Standes, wie das Münchner Intelligenzblatt im Juli 1789 verkündet. Diese Öffnung muss man vor dem Hintergrund der Französischen Revolution lesen: Wer keinen Volksaufstand riskieren will, muss an Exklusivität dreingeben. Doch warum verlassen die nun rund 71'000 Bücher und 2000 Handschriften diesen idealen Platz an der Neuhauser Gasse? Weil die Bibliothek 1802/1803 von Büchern geradezu überschwemmt wird. Man geht, so Peter Schnitzlein ...
Stabi_21_Säkularisation
„davon aus, dass circa 500'000 Bände und 20'000 Handschriften ins Haus gekommen sind, aus den Klosterbibliotheken, nachdem eben Klöster aufgelöst wurden im Zuge der Säkularisation, und die Bibliothek war nicht benutzbar.“
SPRECHERIN:
Ein Großteil der Schätze, die heute den Ruf der Bayerischen Staatsbibliothek ausmachen, fallen ihr durch Enteignung in den Schoß! Alle diese Werke müssen gesichtet, katalogisiert und aufgestellt werden, bevor man sie lesen kann! Diese Sisyphusarbeit leisten vor allem Johann Andreas Schmeller und Martin Schrettinger. Und für die Aufstellung? Muss ein Neubau her!
Musik: R0092400010 Allegro non troppo O‘31
Eigentlich schwebt König Ludwig I. dafür der Platz vis-à-vis der Glyptothek vor. So würden antike Skulpturen und Bücherschätze wieder eine Einheit, wie schon im Antiquarium. Doch dann fällt seine Wahl auf „seine“ Prachtmeile, die Ludwigstraße. Realisieren soll den Bau sein Architekt Friedrich von Gärtner, dem er ständig in die Pläne pfuscht: Er will eine glatte Fassade, keine Säulen, keinen Portikus... Resigniert präsentiert ihm Gärtner 1831 schließlich eine „langweilige Bücherkaserne“. Der König schwelgt:
Stabi_22_Ludwig_Zitat
„’Gärtner, das kann das großartigste Gebäude in München werden!’ In seinem Tagebuch hat er dann sogar noch vermerkt, zu diesem Fassadenentwurf, ‚einfach schönes Äußeres, würdevoll’.“
Musik: C1589890113 Consistent method 0‘36
SPRECHERIN:
150 Jahre später ist auch dieser riesige Blankziegelbau schon wieder zu klein! Widmanstetters 800 Bände sind angewachsen auf heute über 11 Millionen. Aber die sind jetzt allen zugänglich, weltweit! Damit verwirklicht die Stabi ein Ideal, das Widmanstetter vorgelebt hat: den von Ländergrenzen, Religionen und Ideologien ungehinderten Zugang von Forschenden und Wissenschaftlern!
Als Inbegriff des Kirgisischen wird das Werk des Autors Tschingis Aitmatow oft bezeichnet. Was genau aber als 'kirgisisch‘ gesehen wird, ist ein Produkt der sowjetischen Kulturpolitik. Diese forcierte Kulturevolution forderte ihre Opfer, wie auch die Familie Aitmatows zu spüren bekam. Autorin: Fiona Rachel Fischer (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Fiona Rachel Fischer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Julia Fischer, Katja Amberger, Rainer Buck
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Dr. Moritz Florin (Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen)
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Ajtmatov, Cingiz (1994): Nomaden auf dem Weg zu sich selbst. In: Cingiz Ajtmatov, Asta Scheib und Wolfdietrich Fischer (Hg.): Friedrich Rückert - Vorläufer einer neuen Zeit. Festvortrag des zehnten Preisträgers des Friedrich-Rückert-Preises der Stadt Schweinfurt. Würzburg: ERGON-Verl. (Rückert zu Ehren, 5), S. 13–22.
Tschingis Aitmatow: Kindheit in Kirgisien. Autobiographische Erzählung. Herausgegeben und übersetzt von Friedrich Hitzer. Zürich: Unionsverlag 19995.
Moritz Florin (2015): Kirgistan und die sowjetische Moderne. 1941-1991. Zugl.: Hamburg, Univ., FB Geschichte, Diss., 2013.
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Liebesbriefe sind spannende Zeitzeugnisse. Sie spiegeln Hoffnung und Sehnsucht und sind eine mutige Selbstoffenbarung mit dem Risiko. Mache gewähren auch Einblick in das Auf und ab von Beziehungen. Vor allem sind Liebesbriefe tiefromantische Bekenntnisse im Versuch, das ganz große Gefühl auszudrücken und für immer auf Papier zu bannen. Autorin Valerie von Kittlitz
Credits
Autorin dieser Folge: Valerie von Kittlitz
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Amberger, Jenny Güzel, Johannes Hitzelberger, Florian Schwarz, Hemma Michel
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Eva Wyss, Germanistin
Johannes Kleinbeck, Literaturwissenschaftler
Marie von Heyl, Künstlerin, Philosophin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Literatur:
Sigmund Freud, Martha Bernays: Brautbriefe. Sie waren nie zur Veröffentlich vorgesehen und bieten nun überaus faszinierende Einblicke in die große Liebe des Vaters der Psychoanalyse. Der letzte Band ist noch nicht erschienen.
Johannes Kleinbeck, „Geschichte der Zärtlichkeit. Die Erfindung des einvernehmlichen Sex und ihr zwiespältiges Erbe bei Rousseau, Kant, Hegel und Freud”. Spannende Darstellung des schleppenden Wandels einer tristen Pflichterfüllung durch die Aufklärung.
Eva L. Wyss, Susanne Häberlin, Rachel Schmid: Übung macht die Meisterin: Ratschläge für einen nichtsexistischen Sprachgebrauch. Ein wertvoller Ratgeber.
Linktipp: Eclectic Engineering ¬– toller Philosophie Podcast von Gesprächspartnerin Marie von Heyl HIERWir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin
In Mexiko-Stadt gibt es einen Platz, an dem Schreiber sitzen. Unter Kolonnaden, vor Hitze und Regen geschützt, betreiben sie ein uraltes Geschäft. Es kommen Menschen zu ihnen, die Hilfe suchen. Oft sind es Liebende. Die Schreiber hören zu und übersetzen ihre Gefühle in Liebesbriefe.
[Zitate: Wie aus der Ferne]
Zitatorin 1 Bachmann
Lieber, Du, (…) Zwei- oder dreimal hab ich einen Brief an Dich geschrieben und dann doch nicht weggeschickt.
Zitator 2 Celan
Ingeborg, liebe, nur ein paar Zeilen, in aller Eile, um Dir zu sagen, wie sehr ich mich freue, das Du kommst. (…) Ich bin voller Ungeduld, Liebe. Dein Paul.
Sprecherin
Ingeborg Bachmann und Paul Celan im Jahr 1949. Es sind die ersten Briefe der stürmischen Liebe zwischen Dichterin und Dichter. Celan überschüttet Bachmann mit Mohnblumen, die in ihrem Zimmer leuchten, bevor sie verwelken. Er schreibt Gedichte für sie – und glühende Briefe.
Musikakzent
Zeilen über das schönste Gefühl der Welt. Auf den zweiten Blick ist ein Liebesbrief allerdings gar keine so unkomplizierte Sache. Wie findet man überhaupt Worte für ein Gefühl? Den Mut, sich zu bekennen? Einmal abgeschickt beginnt das Bangen. Denn wer einen Liebesbrief bekommt, kann erfreut sein, aber auch peinlich berührt. Hoffnungen, Enttäuschungen, Verletzungen stehen auf dem Spiel.
Vielleicht faszinieren die Liebesbriefe großer Literatinnen und Künstler deshalb. Mit viel Fantasie und Begabung werden hier Gefühle ausgedrückt. Reihenweise füllen Editionen von Liebesbriefen berühmter Menschen die Buchhandlungen, oft sind es Bestseller. Sie gewähren Einblick in das private Leben von Personen, die wir sonst nur aus der Öffentlichkeit kennen. Wer hätte denn gedacht, dass der “Eiserne Kanzler” Otto von Bismarck seiner Verlobten geschrieben hat, sie solle ihn benutzen, misshandeln, und seine Briefe unterschrieb mit
Zitator 3
“Dein Knecht“ ?
Sprecherin
Oder dass Franz Kafka von Felice Bauer verlangt hat, ihre Post einmal pro Woche pünktlich zum Sonntag zu schicken, weil ihn tägliche Liebesbriefe zu sehr mitnähmen?
[Ende Einleitung, nochmal Schreibmaschinengeklapper, bricht ab]
O-Ton 1_Eva L. Wyss, Germanistin [9 Sek.]
Über die Liebesriefe der Menschen aus der Mitte der Gesellschaft gab es eigentlich keine Forschungsliteratur.
Sprecherin
Die Germanistikprofessorin Eva Lia Wyss wollte sich nicht mit der großen Literatur beschäftigen. Als Sprachwissenschaftlerin interessierte sie sich für die Liebesbriefe der Allgemeinheit. Nur: sie fand keine Quellen.
O-Ton 2_Eva L. Wyss, Germanistin [6 Sek.]
Das fand ich bemerkenswert und hab dann gedacht, ich probiere das mal aus.
Sprecherin
In den 90er Jahren begann sie, quer durch die Schweiz Gratisanzeigen zu schalten, in denen sie dazu aufrief, ihr Liebesbriefe zu schicken. Besonders hoffnungsvoll war sie anfangs nicht.
O-Ton 3_Eva L. Wyss, Germanistin [9 Sek.]
Meine Kolleginnen und Kollegen an der Uni Zürich damals haben mir auch gesagt, “Du kriegst sicher keine Briefe, was denkst Du Dir wohl dabei”.
Sprecherin
Aber es kam anders. Knapp 2500 Liebesbriefe stapelten sich innerhalb von wenigen Monate auf ihrem Schreibtisch.
O-Ton 4_Eva L. Wyss, Germanistin [31 Sek.]
Briefe die nicht abgeschickt wurden, also beispielsweise nach einer Beendigung einer Liebesbeziehung, solche Bilanzbriefe. Briefe von Menschen, die mir die mit einer Erläuterung zum Entstehungsprozess auch überlassen haben. Ein Ehepaar, die haben mich zu sich nach Hause eingeladen, die wollten mich ein bisschen mustern, und schauen wer da Liebesbriefe sammelt, und haben mir dann die Briefe überreicht, auch mit Bedingungen, ob es publizierbar sei oder nicht.
Stimmenkollage [überlagernd]
Zitatorin 4
Mein lieber Uli! Schnell möchte ich Dir mein Lieberì ein paar Worte schreiben, Wie geht es Dir? Hoffe gut, was auch bei mir der Fall ist. Bist Du noch gut heimgekommen, am Mittwoch?
Zitator 3
Liebstes Lisel!
Bin nun ganz traurig dass ich Dich heute nicht telephonisch erreichen konnte. Aber weist Du, ich habe den Eindruck, es wird eben nicht sehr gefällig aufgenommen, wenn ich Dir anläute.
Zitatorin 4
Wie muss das schön sein, einmal von Dir Kinder zu haben, und sie zusammen zu guten und lieben Menschen zu erziehen.
… Werden wir uns dann wohl sehen? Nun aber muss ich schnell unter die Decke, es ist schon wieder ziemlich spät. Empfange meine liebsten Grüsse und viele Küsse von Deinem Klärli.
Sprecherin
Die Riesenmenge an Post überforderte Eva Lia Wyss zunächst. Der Fluss an Zusendungen brach auch nicht ab. 1997 entschloss sie sich, ein Archiv zu gründen. Dieses Liebesbriefarchiv umfasst heute um die 50.000 Zusendungen, die in Zusammenarbeit mit Universitäten in Dortmund und Koblenz archiviert, digitalisiert und weit erforscht worden sind. Es ist das größte deutschsprachige Archiv seiner Art. Mit
sorgsam verfassten Schriftstücken auf feinem Papier. Kreis- oder herzförmig geschriebenen Liebesbriefen, reich verziert. Aber auch Zettelchen, schnell die auf Rückseite einer Rechnung oder mit Bleistift gekritzelten Briefen. Der älteste ist von 1715. Wie erforscht man so einen riesigen Fund?
O-Ton 5_Eva L. Wyss, Germanistin [13 Sek.]
Textmuster herauszuarbeiten, das ist für die Sprachwissenschaft natürliches ganz etwas Grundlegendes, inwiefern unterscheidet sich jetzt der Liebesbrief von anderen Briefsorten.
Zitator 3 “Max Oberdorfer” [zügig, direkt]
Mannheim, d. 23. Juni 1902
Mein liebes Fräulein Bertha. Ich erhielt heute früh Ihr liebes Briefchen und sage Ihnen dafür meinen herzlichsten Dank. Aus dem Inhalt selbst kann ich mir eigentlich nicht ganz klar werden, jedoch weiss ich überzeugt sein zu können, dass Sie mich lieben, und gebe ich Ihnen die Versicherung, dass mein Herz nur allein für Sie meine liebe Bertha schlägt.
Sprecherin
Ein Liebesbrief folgt einer bestimmten Struktur. Zentral Elemente sind Gruß, Abschied, und Liebesbekundung. Und jeder Brief enthält dabei Codes, sprachliche Verschlüsselungen von Gefühlen, von Begehren.
Zitator 3 “Max Oberdorfer” [Fortsetzung: zügig, direkt]
Wegen eines Andenkens bin ich mit einer Miederschnur zufrieden, die ich als winziges Andenken an Sie, meine Liebe, aufbewahren würde. Auf frohes Wiedersehen. Ich grüsse und küsse Sie herzlichst Ihr Sie liebender Max Oberdorfer.
Sprecherin
Mal ist ein Liebesbrief sehr formal und kühl, ein anders Mal eher plump oder verspielt und poetisch.
Zitatorin 4 [zärtlich]
Heute Mittag stahl ich mich ganz leise ins Dörfchen. Von Konstanz konnte ich gleich mit dem Dampfboot heimfahren. Da find ich für Dein Bild einen vertrauten Rahmen, da haben wir uns gefunden in dieser herrlichen Natur, es liegt eine tiefe Weise darin und bürgt viel mehr für ein schönes, grosses Leben.
Sprecherin
Ob ein Brief eher formell oder poetisch ist, hat übrigens vor allem mit dem Charakter des Schreibenden zu tun, oder einer Form von Talent. Und nur begrenzt mit Bildungsstand oder Herkunft. Verspieltes, Ästhetisierung, wie Eva Lia Wyss es nennt, findet sich klassenübergreifend und querbeet in Liebesbriefen. Und noch eines hat sie gefunden: Der Liebesbrief ist ein Männergenre.
O-Ton 6_Eva L. Wyss, Germanistin [28 Sek.]
Der Liebesbrief ist eine männliche Gattung deswegen, weil er ursprünglich, und vor allem in 19 Jahrhundert, der Brief ist, der an Frauen gerichtet wird. Es zeigt sich schon auch dass diese Codierungen des Begehrens, die Darstellung der Imaginationen, männlich gegendert ist, also: Ich möchte Dich auf Deine Lippen küssen, ist ein Satz den man nicht liest in einem Brief von einer Frau.
Sprecherin
Männern schrieben Frauen an. Neben Werbungsriefen, die sich vereinzelt finden, gibt es Brautbriefe, die regelmäßigen Austausch zwischen Männern und Frauen dokumentieren. Brautbriefe waren die Briefwechsel, die zur Verlobungszeit entstanden. Früher wurden sie häufig noch abends der Mutter vorgelesen, damit sie ihre Meinung abgab.
O-Ton 7_Eva L. Wyss, Germanistin [11 Sek.]
Es gibt auch in den Briefstellen Hinweise dazu, dass die Frauen sehr züchtig zurückschreiben sollen, im 19. Jahrhundert und eigentlich auch lange im 20. Jahrhundert noch.
[Kleine Atempause]
Sprecherin
Das bestätigt auch Johannes Kleinbeck. Er ist Literaturwissenschaftler und hat sich mit den Brautbriefen zwischen Sigmund Freud und seiner Verlobten Martha Bernays beschäftigt.
O-Ton 8_Johannes Kleinbeck, Literaturwissenschaftler [20 Sek.]
Ach, ich muss recht lachen, wie eifrig Du immer auf dem Genuss der Gegenwart bestehst, als wärest Du eine robuste Heidin, two thousand years ago, (…) anstatt ein frommes zartes Kind des spiritualistischen 19. Jhdt. und meine Braut (…) Aber schön ist die Gegenwart doch in der man so schöne Hoffnungen hegen darf wie: ich dürfte Martchens Lehrer sein.
Sprecherin
Solche Sätze finden sich häufig in den Briefen des berühmten Nervenarztes. Er weist seine Verlobte regelmäßig zurecht. Für Freud passt vieles, was Martha schreibt, nicht zum damaligen Idealbild einer Braut. Mit den ambivalenten Gefühlen, die zu einer Beziehung gehören, kann er anfangs nur begrenzt umgehen. Über wenig streiten die beiden so viel wie darüber, was “Zärtlichkeit“ ist – damals ein gängiges Wort für Liebe.
O-Ton 9_ Johannes Kleinbeck, Literaturwissenschaftler
Und somit kann man schon sagen, dass diese Briefe ein Versuch sind einer Disziplinierung, in der er eine bestimmte Form von Zärtlichkeit realisiert haben möchte.
[kurze Pause/ Blick in die Geschichte]
Sprecherin
Sigmund Freud und Martha Bernays lernen sich im Jahr 1882 kennen. Freud ist auf Anhieb verliebt. Er schickt der jungen Martha täglich Rosen. Und sie ist beeindruckt und angetan von ihm. Nur zwei Monate später sind die beiden verlobt. Doch die Hochzeit muss warten. Weder kann Martha die damals übliche Mitgift liefern, noch hat Sigmund das Einkommen, um eine Familie zu ernähren. Martha Bernays lebt in der Nähe von Hamburg, Sigmund Freud in Wien. Über diese große Distanz schreiben sie sich jeden Tag, viereinhalb Jahre. Ca 1500 Briefe reisen hin und her.
Zitator 2 Freud
Mein süßes Martchen! Dein Brief, dein holder Brief, ich habe ihn erst zweimal gelesen, kann noch nicht darauf antworten. (…) Am liebsten schriebe ich nichts als: Mein teures Martchen, meine süße Martha...
Sprecherin
Das junge Glück ist anfangs unbändig. Die Postkutsche braucht vier Tage. Die Briefe schwirren hin und her. Oft entsteht ein heilloses Durcheinander, aber die beiden sind sehr darum bemüht, klarzustellen auf welchen Brief sie sich beziehen und alles zeitlich zu verorten.
Zitatorin 1 Bernays
Gestern, Geliebter, war unser junges Glück acht Tage alt. Die Gedenkfeier jener seligen Morgenstunden konnte ich im Wald halten – unter alten, ehrwürdigen, wetterfesten Riesen, bei denen ich mir doch noch winziger vorkam als neben Dir, Du großer Mann.
Sprecherin
Marthas Briefe haben oft einen scherzhaften Ton. Die Einundzwanzigjährige ist witzig und lebt gerne genussvoll. Aber sie kokettiert auch und macht sich dabei klein.
Zitatorin 1 Bernays
Nun habe ich eben Deinen Brief bekommen, und nun bin ich gar nicht mehr unzufrieden und undankbar. Innigen, heißen Dank, dass Du Dich in Gedanken so viel mit dem unbedeutenden Ding beschäftigst, dass sich “Martha“ nennt.
Sprecherin
Freud reagiert wechselhaft. Mal ist er geradezu entsetzt über solche Töne, dann wieder macht er sie selbst klein. Seine Briefe schwanken zwischen heißer Liebesbekundung und trockenem Bericht. Kitsch ist ihm zuwider. Am liebsten würde er es sachlich halten. Ihn wurmt, dass Marthas männliche Künstlerfreunde wie Fritz Wahle ihr spielerisch “unendliche Liebe“ bekunden.
Zitator 2 Freud
Solche Überschwänglichkeit des Ausdrucks und der Gebärde, wie sie Fritz beliebt, mißfällt mir nun aus zwei Gründen. Zunächst an und für sich, weil es unserer Zeit mehr angemessen ist, mit den einfachsten Mitteln und dem geringsten Aufwand von Gefühlsregungen hauszuhalten, und dann, weil ich glaube, daß es auch Dir peinlich sein muß, wenn Du Dir bei denselben Worten und denselben Gebärden nicht dasselbe denken darfst. Es ist verwirrend, und der Mensch soll es nicht tun, dasselbe Wort, das ihm als Losung und als Heilwort dient, als Phrase zu gebrauchen, dieselbe Handlung einmal als eine gleichgültige, einmal als eine zauberkräftige zu verrichten.
O-Ton 10_ Johannes Kleinbeck, Literaturwissenschaftler [25 Sek.]
Was an solchen Passagen faszinierend ist, ist erstmal, dass es hier eine wirkliche Theorie der Liebe gibt, eine Theorie der Zeichen der Liebe, wann sie angemessen sind, wann sie nicht angemessen sind. Ich würde allerdings nicht sagen, dass das Eifersucht ist, beziehungsweise ich glaube, wenn man jetzt zu schnell mit so allgemeinen Begriffen wie Eifersucht herantritt, dann sieht man nicht, dass diese Gefühle immer Medieneffekte sind.
Sprecherin
Medieneffekte: Damit meint Kleinbeck : Ein Liebesbrief steht zu jeder Zeit in einer bestimmten Tradition. Sitten und Moralvorstellungen schreiben sich durch ihn im wahrsten Sinne des Wortes fort. Althergebrachtes und Neues werden hier verhandelt. Und Freuds gemischte Gefühle haben eben damit zu tun, dass sich seine eigene Prägung beißt mit der Art, wie sich seine Braut im Brief präsentiert.
Solche
Ambivalenzen finden sich auch darin, was uns der “Vater der Psychoanalyse“ über den Liebesbrief und unser Seelenleben lehrt. Vielleicht würde er sagen: einen Liebesbrief zu schreiben ist, wie mit angezogener Bremse zu fahren. Denn in der Regel verfasst man ihn aus einem Begehren heraus – nach Freuds Triebtheorie könnte man sagen, aus nichts anderem als dem Sexualtrieb. Und der kam in Freuds Verlobungszeit zu kurz.
O-Ton 11_ Johannes Kleinbeck, Literaturwissenschaftler
Das Interessante ist eben, dass Freud gewissermaßen schon in den Brautbriefen selbst wie dann später in der Psychoanalyse diesen spezifischen Anforderungen an das Triebleben in der Verlobungszeit eine pathogene, das heißt eine krankmachende Wirkung zuschreibt.
Sprecherin
Leiden und Leidenschaft. Damals wie heute kann ein Brief körperliche Distanz nicht aufheben. Im Gegenteil, er ist Sinnbild dafür. Im Zweifelsfall steigert er Sehnsucht und Verlangen nur.
Zitatorin 1 Bernays
Das leere Papier gähnt einen ordentlich an, nicht wahr? Du bist mein Gedanke bei Tag und bei Nacht und wohnst – leider in der Kaiser-Josefsstraße!
[kleine Atempause]
Sprecherin
Wird Martha Bernays nun respektlos von Freud erzogen? Das kann man so pauschal nicht sagen, betonen die Herausgeber der Brautbriefe, und auch Kleinbeck. Denn es gibt eine Entwicklung. Der Briefwechsel steht für das Auf und Ab einer gelebten Beziehung, in der zwei Menschen anfangs frisch verliebt sind, sich über Briefe kennen lernen müssen und sich wortwörtlich zusammenraufen. In ihrer Gänze zeugen die Briefe von Ideenreichtum, Witz und intensiver Zuneigung. Grundlage für eine lange Ehe. Die Titel der Bände verweisen auf diese Entwicklung: Der erste heißt „Sei mein, wie ich mir’s denke“. Der letzte: „Dich so zu haben, wie Du bist“.
Die Zeiten haben sich geändert. Freud beobachtet unter seinen eigenen männlichen Patienten eine allgemeine Misogynie – das Erniedrigen von Frauen bei gleichzeitigem Begehren. Heute wird ständig neu verhandelt, was Respekt ist. Auch im Brief.
O-Ton 12_Eva Wyss, Germanistin [20 Sek.]
Aufgewühlterweise, zu nächtlichen Stunden, ich: Schattenfängerin, Zwischenzeit heute, morgen, Zukunft, sie schillert magisch. Ängste treiben wilde Blüten. Wer werde ich sein? Wie werde ich werden?
Sprecherin [evtl überlegen über file “Zwischenteil”?]
Eva Wyss liest einen Brief aus dem Archiv vor, der sie besonders bewegt hat. Er ist aus den Achtzigerjahren. Geschrieben hat ihn eine Frau.
O-Ton 13_Eva L. Wyss, Germanistin [49 Sek.]
Alltägliche Winzigkeiten als Kristalle eines Liebeslebens. Du, wie Du Dir die Zähne putzt, Dein vornüber geneigtes Profil im Ausschnitt der halboffenen Türe, der nicht gekochte Tee frühmorgens, mein stummer Ärger, eine Bitte, eine Entschuldigung, eine befreiende Ironie, eine Bewegung von Haut zu Haut. Wir wachsen. Herzblättrig zu Dir… und dann der Name, die Unterschrift. Das war für mich so ein Ausdruck, oder eine Suche nach einer Möglichkeit Liebe zum Ausdruck zu bringen, relativ authentisch, also da steht nicht, ich möchte Deine Lippen küssen, ich möchte Dir in die Augen schauen, sie schickt mir ein Strumpfband.
Sprecherin
Mit dem gesellschaftlichen Wandel haben sich Vorstellungen von Moral, von Liebesleben, von Gemeinsamkeit geändert. Auch davon, ob die eigenen Gefühle überhaupt geteilt werden müssen. Das Individuum steht im Zentrum. Den meisten Schreibenden ist damit auch bewusst, dass ihr Brief unterschiedlich aufgefasst werden kann.
O-Ton 14_Eva L. Wyss, Germanistin [12 Sek.]
Was liest man denn, wenn man den Brief liest, was versteht man, was ist die Bedeutung für diese Person da, da gibt es unendlich viele Möglichkeiten einen Brief zu lesen.
Sprecherin
Dieses Bewusstsein ist unter anderem einer philosophischen Schule zu verdanken: Den Poststrukturalisten. Besuch im Atelier der Philosophin und Künstlerin Marie von Heyl. Sie hat sich eingehend mit zwei Vertretern dieser Schule beschäftigt: Jacques Lacan und Jacques Derrida. Beide revolutionieren in den Sechzigerjahren die Idee von Sprache.
O-Ton 15_Marie von Heyl, Künstlerin und Philosophin [12 Sek.]
In dieser Sprachauffassung ist Sinn nicht irgendwas was schon da ist, und durch Sprache transportiert wird, sondern Sinn entsteht erst, und wird produziert, und auch erst nachträglich.
Sprecherin
Die poststrukturalistische Philosophie hat recht eigenwillige und auch komplizierte Ideen von Sprache hervorgebracht. Dabei haben Lacan und Derrida über ein Paradox gestritten: Wie kann man behaupten, dass es keine Wahrheit gibt, und das gleichzeitig als absolute Wahrheit darstellen? Letztendlich verbindet beide, dass sie sagen, dass immer etwas zwischen den Zeilen steht, auch in einem Liebesbrief.
O-Ton 16_Marie von Heyl, Künstlerin und Philosophin [21 Sek.]
Diese Sprachauffassung die kann einen, ((und das ist diesem Poststrukturalismus auch vorgeworfen worden)), quasi natürlich ins Chaos stürzen, so kann man das sehen, dass man nirgendwo mehr Halt hat, man kann das Ganze aber auch unheimlich produktiv auffassen, dass wir, wenn wir in der Sprache sind, immer andere adressieren und dass das eigentlich ist wie Sinn überhaupt erst entsteht.
Sprecherin
Nämlich dadurch, dass wir überhaupt miteinander reden oder uns Briefe schreiben. Andere machen etwas aus unseren Worten – und sei es etwas ganz Eigenes. Und jeder Text kann anders gelesen werden.
O-Ton 17_Marie von Heyl, Künstlerin und Philosophin [12 Sek.]
So ein Leser zum Beispiel ist auch Derrida. Also er guckt sich Texte an, die schon hundertmal besprochen worden sind, und liest die eigentlich ein bisschen wie… wie Liebesbriefe.
[Langsam wieder Einblenden: zarte Musik]
Sprecherin
Für Marie von Heyl sind Liebebriefe Einladungen zu Denken. Sie sind auch zentraler Teil ihrer Arbeit als Philosophin und Künstlerin. Sie findet spannend und schön, dass ein Text immer wieder zu einem neuen, unerwarteten Gedanken führen kann.
Wer einen Liebesbrief schreibt, hat vielleicht immer auch ein bisschen Angst, missverstanden oder abgelehnt zu werden. Aber es gibt von vornherein ein Trostpflaster. Natürlich hofft man in der Regel, dass ein Brief mit Wohlwollen gelesen wird, dass unsere Gefühle erwidert werden. Wenn aber nicht – Denker wie Derrida würden sagen, es entsteht immerhin immer etwas Neues, selbst in der Verneinung. Sprache ist unendlich, und wir in ihr. Und wer einen Liebesbrief schreibt, trägt bei zum andauernden Kreislauf der Gedankenproduktion. Der verewigt sich.
O-Ton 18_Marie von Heyl, Künstlerin und Philosophin [12 Sek.]
Ich glaube er nennt das an anderer Stelle sogar ein Testament. Für Derrida ist es so, dass Sprache den Tod enthält, und zwar weil sich Sprache von uns ablöst. Das meint er erstmal in so einem abstrakten Sinne, aber das Beispiel, das er dafür nutzt, ist eben auch ein Brief. Wenn ich einen Brief schreibe, dann kann ich nie wissen, ob der Adressat, die Adressatin noch am Leben ist. Und andersherum genauso.
Sprecherin
Zur dunklen Kehrseite des Lebendigen gehört die Vergänglichkeit. Und letztlich ist sie ein zentraler Aspekt der Romantik, die den Liebebrief prägt. Mit Grußformel und Abschied, mit Hoffnung und tiefer Sehnsucht.
Zitatorin 1 Gedicht
Warum ich wieder zum Papier mich wende?
Das musst du, Liebster, so bestimmt nicht fragen:
(....)
Weil ich nicht kommen kann, soll, was ich sende,
Dein ungeteiltes Herz hinübertragen
Mit Wonnen, Hoffnungen, Entzücken, Plagen:
Das alles hat nicht Anfang, hat nicht Ende.
Goethe.
Sprecherin
Und heute? Welchen Stellenwert hat ein Liebesbrief? Post-its auf dem Kühlschrank, öffentliche Bekundungen in den sozialen Medien sind neue Formen von Gefühlsergüssen, Den echten Liebesbrief macht immer noch die klassische Struktur von Anrede, Abschied und Liebesbekundung aus. Die meisten schreiben ihn zu Jubiläen oder Festtagen. Für alles Alltägliche gibt es SMS oder Email.
Der Liebesbrief steht für den Versuch, wahre Liebe in Wort und Schrift festzuhalten. Für Sehnsucht, Romantik und Hoffnung. Für eine Verbindlichkeit – denn schnell löschen lässt sich ein Brief aus dem Postkasten nicht mehr. Für Eva Lia Wyss gibt es noch einen klaren Hinweis dafür, dass Liebesbriefe Bestand haben: dass schon Kinder sie schreiben. Das Liebesbriefarchiv enthält viele Beispiele. Kinder verfassen Liebesbriefe, sobald sie schreiben lernen – mit Pathos und Mut.
[Auf halber Strecke einblenden/unterlegen: zarte Musik, mit Ende zum letzten Satz hin]
O-Ton 19_Eva Wyss, Germanistin [47 Sek.]
Nicht einfach, ich habe Dich, und hast Du mich auch, und “kreuze an”, diese Beispiele, die da immer wieder genannt werden, sondern in denen tatsächlich auch Probleme des Austausches thematisiert werden, wo man sieht, es gibt ein Interesse, diese ganze Romantik in den Griff zu bekommen. Dass zum Beispiel riesengroße Herzen gemalt werden, um zu zeigen, dass man ein Bewusstsein schon entwickelt hat von dieser vielleicht eben gefahrvollen, aber auch großartigen, existenziellen Kulturform, nicht, die da auf die Kinder wartet, der Liebe, der romantischen Liebe.
Wer heiratet, kann viel Geld sparen. Möglich macht es das Ehegattensplitting. Der Steuervorteil ist umso größer, je ungleicher Eheleute verdienen. Das begünstigt eine traditionelle Rollenverteilung. Tatsächlich stammt das Splitting noch aus den 1950er Jahren. Warum hält es sich so hartnäckig? Autorin: Maike Brzoska (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Christopher Mann, Sissi Forster
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Yvonne Maier
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Katharina Wrohlich, Ökonomin und Genderforscherin am DIW und Professorin an der Universität Potsdam;
Miriam Beblo, Ökonomin und Professorin an der Universität Hamburg;
Malte Chirvi, Steuerberater und Dozent an der Hochschule Flensburg;
Andreas Peichl, Ökonom, Forscher am ifo-Institut und Professor an der LMU
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Mütter und Väter erzählen ungefiltert von ihrem Leben als Eltern. Vom irrsinnigen Glück. Vom ganz normalen Wahnsinn. Und von ihren dunklen Momenten. Die Journalist*innen Ruslan Amirov, Schlien Gollmitzer, Kathrin Hasselbeck und Kristina Weber sind selbst Eltern und sie wissen: Es ist und bleibt ein Abenteuer.
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Literaturtipp:
Maria Wersig: Der lange Schatten der Hausfrauenehe. Zur Reformresistenz des Ehegattensplittings. Verlag Barbara Budrich, 2013.
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Wer stottert, wiederholt unfreiwillig Buchstaben, Silben oder Laute. Betroffen sind etwa ein Prozent aller Menschen. Meist tritt Stottern zwischen zwei und sechs Jahren erstmals auf. Über die Ursachen wird immer noch geforscht, Gene spielen offensichtlich eine wichtige Rolle. Für Betroffene gibt es inzwischen vielversprechende Behandlungsmethoden. Von Claudia Steiner (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Slke Wolfrum
Es sprachen: Katja Amberger
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Georg Thum (Sprachheilpädagoge und akademischer Sprachtherapeut, Stotterberatungsstelle der Ludwig-Maximilians-Universität München);
Martin Sommer (Professor; Klinik für Neurologie in Göttingen);
Isabella Colthorp (Stottertherapeutin);
Besmir (Betroffener);
Kinder (namentlich nicht genannte Kinder der Intensivtherapie "Stärker als Stottern" in Berg am Starnberger See)
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Was ist ein Meilenstein der Technik? Genau weiß man das immer erst im Rückblick. Im Deutschen Museum jedoch musste man seit jeher einschätzen, was einst ein Meilenstein werden würde. Ob und wie das im Laufe der Museumsgeschichte gelang und welche Hürden dabei zu nehmen waren, erzählt diese Sendung. Autorin: Christiane Neukirch (BR 2023)
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Autorin dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Laura Maire, Peter Lersch
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Helmuth Trischler, Bereichsleiter Forschung Deutsches Museum;
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Die kostenlose App des Deutschen Museums:
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Literaturtipps:
Füßl, Wilhelm und Trischler, Helmuth (Hrsg.): Geschichte des Deutschen Museums / Akteure, Artefakte, Ausstellungen. Prestel Verlag, München 2003.
Füßl, Wilhelm: Oskar von Miller, 1855 – 1935 / Eine Biografie. Verlag C.H.Beck, München 2003.
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Zu Lebzeiten waren seine Erzählungen nur in Pulp-Magazinen zu lesen. Heute gilt H.P. Lovecraft als einer der einflussreichsten Horrorschriftsteller der letzten 200 Jahre. Seine düster-subtilen Erzählungen haben bis heute Einfluss auf Literatur, Film und Popkultur. Und doch umwehen den eigenwilligen Schöpfer unaussprechlicher Monstrositäten bis heute Legenden und Geheimnisse. Autor: Michael Zametzer (BR 2023)
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Autor dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Wilkening
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
Interviewpartner/innen:
Prof. Marco Frenschkowski, Universität Leipzig;
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Hörspielserie von Gregor Schmalzried | Produktion, Musik und Regie von Lorenz Schuster | Mit Julia Gruber und Bastian Pastewka
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Weitere Infos und Behind the Scenes finden Sie HIER.
Literaturtipp:
H.P. Lovecraft – Chronik des Cthulhu-Mythos. Band I und II. Festa Verlag Leipzig 2011. Mit einem Vorwort und Kommentaren von Prof. Marco Frenschkowski
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Eben noch die große Liebe und im nächsten Moment will der oder die andere keinen Kontakt mehr, ist aus dem eigenen Leben verschwunden wie ein Geist. "Ghosting" ist der Fachbegriff für dieses Phänomen. Was passiert mit denen, die so plötzlich verlassen werden und nicht wissen warum? Und warum ghosten Menschen andere? Von Katharina Hübel
Credits
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Christiane Klenz
Es sprach: Heiko Ruprecht
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Anja Wermann, Ghosting-Ambulanz Berlin
Pia Kabitzsch, Buchautorin und Psychologie-Podcasterin
Michaela Forrai, Kommunikationswissenschaftlerin, Universität Wien
Daniela Liebsch, Betroffene
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literatur:
Pia Kabitzsch: It’s a date. Tindern, ghosting, große Gefühle. Was die Psychologie über Dating weiß. 2022. – Ein Sachbuch übers Swipen, den Algorithmus von Dating-Apps, wie wir uns besser durch den Dating-Dschungel bewegen können, ohne aus Überforderung andere ghosten zu müssen und wie erste Dates gelingen können.
Timmermans, E., Hermans, A. M., & Opree, S. J. (2020). Gone with the wind: Exploring mobile daters’ ghosting experiences. Journal of Social and Personal Relationships, 1-19. Das ist die im Feature erwähnte Studie zu den Motiven von Ghostern. HIER
Linktipps:Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
OT01 Pia Kabitzsch
Ich wurde geghostet. Tatsächlich. Was mich sehr aus der Bahn geworfen hat, weil es ein sehr schönes Date war. Wir haben uns geküsst, es war megaschön und dann hab ich nie wieder was von dem gehört.
MUSIK 2 Air - Night Hunter 0’50
Sprecher
Ein Mensch antwortet plötzlich nicht, meldet sich nicht mehr. Reagiert nicht auf Nachfragen oder Kontaktversuche. Ist unerklärlicherweise von einem Tag auf den anderen aus unserem Leben verschwunden.
OT2 Pia Kabitzsch
Und ich war einfach nur so: Was soll das? Warum ghosten Leute?
Sprecher
Ohne ein Wort des Abschieds, ohne eine Begründung. Dabei gibt es sie noch. Man sieht sie auf Instagram Stories posten. Hört von Freunden, dass sie sich mit anderen getroffen haben. Ihr Beziehungsstatus ändert sich von Single auf verliebt. Manchmal sind es auch jahrelange Freunde, denen man vertraut – und die plötzlich nichts mehr mit einem zu tun haben wollen – ohne weitere Erklärung. Oder: Familienangehörige. Spurlos aus dem eigenen Leben verschwunden. Wie ein Geist.
MUSIKENDE
Sprecher
Pia Kabitzsch hat viel Erfahrung mit Online-Dating. Eine feste Beziehung ist das, was sie damals sucht. Sie schreibt sich ein, zwei Wochen mit einem Mann. Telefoniert mit ihm.
OT03 Pia Kabitzsch
Und ja, dann haben wir uns in der Bar getroffen. Und ich habe die 36 Fragen zum Verlieben mitgebracht, weil ich so dachte, warum nicht, probiere ich mal aus, wie er reagiert. Ich muss auch dazu sagen, ich bin nicht so der Smalltalk-Mensch, das gibt mir nicht so viel. Ich gehe schnell auf tiefere Themen.
Sprecher
Pia Kabitzsch hat Psychologie studiert, ist Buchautorin und Psychologie-Podcasterin: die 36 Fragen zum Verlieben sind für sie so eine Art Handwerkszeug. Sie wurden von dem amerikanischen Wissenschaftler Arthur Aron entwickelt. Das Experiment: Können sich zwei bis dato völlig fremde Personen in Rekordzeit miteinander verbunden fühlen? Ja, wenn sie bestimmte vorgegebene Fragen ehrlich beantworten – und sich so von einer verletzlichen Seite zeigen.
OT04 Pia Kabitzsch
Wir haben unter anderem darüber gesprochen, dass mein Stiefvater verstorben war – die Frage war: mit wem würdest Du gerne nochmal, wenn du alle Personen der Welt zum Essen einladen könntest, gern nochmal essen? Und da ist mir mein Stiefpapa in den Sinn gekommen…. Er hat mir auch von seinen Eltern erzählt, wir haben über Träume gesprochen, über Wünsche, über Ängste und dann haben wir uns geküsst. Dann hat er mich noch zur Straßenbahn gebracht. Ja, und dann habe ich den nie wieder gehört, nie wieder gesehen.
MUSIK 3 ( Air – J’ai dormi sous L’eau 1‘17)
Sprecher
Pia Kabitzsch kann erstmal nicht glauben, dass er einfach nicht mehr antwortet.
OT 05 Pia Kabitzsch
Ich hab ihm nochmal geschrieben, direkt noch in der Tram. Vielen Dank für den schönen Abend, ich würde mich total freuen, wenn wir das wiederholen. Und dann hat er am nächsten Tag nicht geantwortet. Ich war schon so: Mensch, was soll das? Dann hab ich nochmal geschrieben. Hey, alles gut?
OT05 Pia Kabitzsch
Man wertet sich natürlich selbst ab, weil man die Ursache häufig bei sich selbst sucht. Ich war einfach so enttäuscht und verletzt und ich hab schon gedacht: Okay, was hast Du eigentlich erzählt, vielleicht irgendwie komisch, dass Du mit diesen Fragen um die Ecke gekommen bist. War der Kuss zu früh? Dieses Gedankenkarussell geht dann los. (…) Man kann damit nicht so ganz abschließen. Damals war es schon so, dass ich die nächsten ein, zwei Wochen immer zum Handy gesprungen bin, wenn das vibriert hat, weil ich dachte, jetzt hat er sich doch gemeldet. Es gibt irgendeine Erklärung, weil es kann ja nicht sein, dass er sich nicht mehr gemeldet hat. Es war ja so schön. Aber ich hab tatsächlich nie wieder was von ihm gehört. Vielleicht war ihm das zu tiefgründig. Vielleicht hat er sich geöffnet und danach gedacht: Oh Gott, das ist mir gerade viel zu schnell gegangen. Vielleicht hatte er Bindungsangst. (…) Aber in dieser Ungewissheit zu bleiben… Hoffnung ist da halt schon so ein kleines Arschloch, sagen wir es mal so.
MUSIKENDE
Sprecher
Ghosting ist einfacher geworden. Vielen Menschen, denen wir online schreiben, begegnen wir einfach nicht beim Bäcker oder im Supermarkt, müssen ihnen auf der Arbeit nicht in die Augen schauen, und auch unsere engen Freunde kennen sie nicht. Wir wischen in der Dating-App Profile weg, blockieren Kontakte, ignorieren Chatverläufe, bekommen längst wieder die nächste Nachricht, haben hunderte von Freunden, tausende von Followern.
OT06 Pia Kabitzsch
Online-Dating hat definitiv unser Dating- und Liebesleben verändert. Es ist alles ein bisschen schnelllebiger, weil man einfach weiß, man hat eine große Auswahl an potentiellen Partnern und Partnerinnen.
Sprecher
Pia Kabitzsch hat sich auch als Psychologin mit dem Daten via App beschäftigt und dabei ein relativ neues Phänomen beobachtet: „Dating-Burnout.
OT07 Kabitzsch
Das ist dieses Müdesein, Frustriertsein, Überfordertsein vom Onlinedating. Viele gehen halt ohne Plan in diesen Online-Dating-Dschungel und versuchen sich irgendwie durchzunavigieren und das Gehirn ist einfach komplett überfordert. Innerhalb von 0,1 Sekunden machen wir uns ein Blitzurteil über eine andere Person, ob wir sie vertrauenswürdig finden, sympathisch finden, attraktiv finden. Ob man jetzt nach rechts oder links wischt, ob man Interesse hat oder nicht. Viele denken ja auch, dass es da draußen das Perfect Match gibt, dass man nur so lange wie möglich oder so lange wie nötig irgendwie swipen muss, bis man diese perfekte Person findet. Die es aber gar nicht gibt.
Sprecher
Andere, die man bereits kontaktiert hat, zu ghosten, kann eine Folge dieser Illusion sein. Auf der Suche nach dem perfekten Match schreiben manche nicht nur einige wenige Menschen an, sondern viele. So viele, dass sie den Überblick verlieren – oder auch die nötige Aufmerksamkeit für eine einzelne Person, um diese wirklich kennen und möglicherweise lieben zu lernen. Es ist auch die Angst, Mr oder Mrs Perfect zu verpassen, wenn man sich zu lange mit einer Person exklusiv schreibt. Der Effekt: Unverbindlichkeit. Statt Bindung.
MUSIK 4 ( Pete Yorn - Someday 0’15)
Sprecher
Doch manchmal hat es gar nichts mit dem Überangebot einer Dating-App zu tun. Manchmal sind es ausgerechnet die wichtigsten Personen im Leben eines Menschen, die keinen Kontakt mehr wollen.
MUSIK 5 ( Fiona Brice – Ascending 2’04)
OT08 Daniela Liebsch
Ich hatte mein ganzes Treppenhaus hier voll mit Familienbildern. Auch von meinen Kindern. Irgendwann habe ich gewusst, ich kanns nicht mehr sehen, weil das nicht mehr so ist. So sind sie nicht mehr. Sie wollen mich nicht mehr.
Sprecher
Daniela Liebsch ist Mutter von zwei Töchtern und Oma. Seit gut fünf Jahren haben ihre Kinder keinen Kontakt mehr zu ihr.
OT09 Daniela Liebsch
Ich habe eine Kiste genommen, hab die Bilder rein und habe die Kiste verschlossen. Ein einziges Bild von meinem Enkel habe ich in meinem Arbeitsraum stehen. Das ist das Einzige, was ich mir anschaue. Wo er und ich drauf sind, da springt so viel Verbundenheit raus. Da war er noch klein. Alles andere habe ich verbannt, ich kann es nicht mehr anschauen.
Sprecher
Wenn Familienangehörige ohne Erklärung den Kontakt abbrechen, dann ist das anders als ein Date, das sich nicht mehr meldet. Das kann man, wenn es gut geht, irgendwann abhaken. Aber die Beziehung zu den eigenen Kindern?
OT10 Daniela Liebsch
Es ist eine Lebensaufgabe.
So ein Ende von einer Beziehung Kind-Eltern, wenn mir das einer gesagt hätte, dass mir das mal passiert, hätte ich gesagt: niemals im Leben, das gibt es nicht, hätte ich gesagt. Ich weiß jetzt, dass es das gibt und mein Standardsatz ist: Ich komme damit nicht klar. Ich komme damit nicht klar. Der Zustand ist wie Trauer, ich kann das gut vergleichen, wie mein Mann gestorben war, es ist im Prinzip der gleiche Zustand, nur, dass sich das so verändert, dass man damit umgehen kann. Mit dieser Trauer kann ich nicht umgehen. Ich komme aus dieser Trauerschleife nicht raus.
MUSIKENDE
Sprecher
Denn: Die Kinder leben. Sie wollen Daniela Liebsch nur nicht mehr sehen und nicht mehr mit ihr sprechen. Und die Mutter versteht nicht, wieso. Auslöser waren der Tod ihres Mannes und kurz darauf: stirbt auch noch Danielas Vater. Beide Familienangehörigen waren für die Kinder sehr wichtige Personen – aber auch für Daniela Liebsch selbst. Eigentlich betrauern Mutter und Töchter den gleichen großen Verlust. Aber die emotionale Extremsituation schafft keinen Zusammenhalt, im Gegenteil: die Töchter machen Daniela Liebsch Vorwürfe. Sie hätte sich zu Lebzeiten gestritten mit dem Vater. Sie sei keine gute Mutter gewesen. Und vieles mehr … Doch was genau ist los? Was konkret ist passiert? Was kann sie tun? Daniela Liebsch bekommt seit fünf Jahren keine Antworten auf ihre Fragen. Die Töchter sind für sie nicht mehr erreichbar. Sie ist komplett abgeschnitten von ihrem Leben.
OT11 Daniela Liebsch
Das ist mit das Schlimmste gewesen, dass man abgelehnt wird. Es hat die Wertigkeit gezeigt, die man als Mutter plötzlich hat, auch als Mensch fühlst Du Dich als bist Du nichts mehr wert. In der Anfangszeit bin ich geschwankt, also wenn mich jetzt einer nicht kennt und hätte mich gesehen, wie ich schwankend laufe, der hätte gedacht, ich stehe unter Alkohol. Ich hatte meine Mitte nicht mehr. Ich war völlig außer mir. Der Fall nach unten ist so tief, das kann man sich überhaupt nicht vorstellen und vor allen Dingen die Gedanken kreisen täglich. Es ist heut noch so: So wache ich auf, so schlafe ich ein, du wirst täglich getriggert durch irgendwelche Dinge, was einen an die Kinder erinnert. Oder wenn ich jetzt kleine Jungs sehe, denke ich mir: Du hast einen Enkel, darfst ihn nicht mehr sehen. Du nimmst als allererstes die komplette Schuld auf Dich. Du fühlst Dich so schuldig, dass Du nicht mehr richtig gehen kannst.
Sprecher
Das Gegenüber, mit dem die Mutter die belastenden Fragen klären und besprechen will, gibt es für sie nicht mehr.
OT12 Daniela Liebsch
Wie wenn ich vor einer Betonwand stehe und weiß, dahinter wäre eine Möglichkeit. Dahinter sind die Personen, mit denen ich dringend sprechen möchte und nicht kann, nicht darf. Es wird mir einfach verwehrt.
Sprecher
Daniela Liebsch ist gefangen. In einer emotionalen Endlosschleife.
OT13 Daniela Liebsch
Ich sehe das heute noch so: Es sind meine Mädchen und das werden sie immer bleiben. Meine Kinder waren für mich das größte Geschenk, was ich je in meinem Leben hatte. Und ich weiß nicht, wie oft ich meinen Kindern gesagt habe, ich kann mich noch gut entsinnen: Ihr seid das Beste, was mir je in meinem Leben passiert ist – da könnt ich jetzt weinen… und das ist auch so.
MUSIK 6 ( Sine – Colour Shades Air 1’01)
Sprecher
Dazu kommen Migräneattacken, körperliche Schmerzen, Gewichtsverlust… Psychosomatische Beschwerden, stellt ihre Hausärztin fest. Daniela Liebsch kann die Gefühle und Schmerzen nicht mehr alleine bewältigen und beginnt eine Psychotherapie.
OT14 Daniela Liebsch
Da arbeite ich dran, dass ich mir das auch selber verzeihen kann. Es ist auch ein ganzes Stück weit besser geworden. Aber ganz kann man es nicht verdrängen.
Sprecher
Die Psychologie hat Ansätze dafür, wie Menschen besser mit Verlust und Trauer umgehen können, mit Wut und Ohnmacht, wie sie Schuldgefühle oder Resignation hinter sich lassen und ihr Leben wieder angehen können. Doch speziell zu Ghosting gibt es bislang sehr wenig Forschung. Das hat auch Anja Wermann festgestellt. Sie ist psychologische Beraterin und hat in Berlin eine Ghosting-Ambulanz aufgebaut, nachdem sie selbst von einem Mann geghostet wurde, in den sie sich verliebt hatte.
MUSIKENDE
OT15 Anja Wermann
Ich glaube, wenn Menschen klarer wissen, dass Ghosting eben nicht einfach nur eine normale Trennung ist, sondern nochmal was Eigenständiges, würden sie vielleicht achtsamer damit umgehen. Das Problem kenne ich auch aus meinen Beratungen: dass die Klientinnen und Klienten teilweise hören: Aber Du hast doch schon andere Trennungen gehabt. Warum nimmt dich das jetzt so mit? Weil der Freundeskreis das eben auch noch nicht weiß: Das ist eben was anderes als eine Trennung. Die sehen wir halt meistens kommen oder hat auch schon zehn Gespräche oder hunderte mit seinem Partner, seiner Partnerin geführt. Warum das irgendwie nicht funktioniert und was wir jetzt ändern müssen und so weiter und so fort. Bei dem Ghosting ist es ja wirklich das absolute Abrupte plus noch, dass der andere nicht mehr zu erreichen ist. Man kann es auch nicht mehr klären.
Sprecher
Und das genau ist für die Psyche extrem schwierig.
OT16 Anja Wermann
Das ist schon ein bisschen wie ein Schock, wenn plötzlich eine Person von heute auf morgen verschwindet. (…) Dass man dann durch diesen plötzlichen Abbruch so ein ganz starkes Sehnsuchtsgefühl hat, den Eindruck, wir brauchen den anderen jetzt unbedingt. Und man braucht nochmal die Bestätigung oder die Klarheit, was da eigentlich passiert ist.
MUSIK 7 ( Air – Highschool Lover 0‘52)
Sprecher
Das Gehirn sucht Antworten, Hinweise, will verstehen. Und kommt nie an. Einfach weiterleben, die Gedanken und Fragen loslassen, funktioniert oft nicht.
OT17 Anja Wermann
Ungefähr die Hälfte, die zu mir kommt, da liegt die Ghosting-Erfahrung schon länger zurück, also teilweise auch mehrere Jahre und ist aber noch nicht verarbeitet. Da ist auch ein sehr großer Leidensdruck aufgebaut über die Jahre, weil man einfach diesen Ausweg nicht findet.
OT18 Anja Wermann
Dieses Wissen darum, dass Menschen dazu neigen, dass eine Gestalt geschlossen sein muss – also eine unvollständige Gestalt hinterlässt halt immer so ein Gefühl von: man kann es nicht abschließen. Und dann habe ich halt geschaut – okay, was sind Möglichkeiten, diese Gestalt abzuschließen oder diese Frage zu beenden.
Sprecher
Anja Wermann hat eine Übung gefunden, die ihre Klientinnen und Klienten wieder in die Gegenwart holen kann: Die Übung mit dem Buch.
OT19 Anja Wermann
Da geht es im Grunde darum, dass ich mir vorstelle, ich lese ein Buch, das ist ein total schön geschriebenes Buch und ich lese das so gerne. Und dann bin ich schon bei der Hälfte des Buchs und blättere um und zack: Seite leer. Dann sind Sie so völlig verdattert vor diesem Buch – was ist denn jetzt los? Warum geht es hier nicht weiter? Ich will doch wissen, wie die Geschichte weitergeht. Aber die ist einfach radikal mittendrin zu Ende. Dann kann ich mir halt überlegen: Möchte ich jetzt hier noch die nächsten zwei Jahre vor diesem Buch sitzen mit der Frage: Was ist eigentlich passiert? Wie geht’s weiter? Wann geht’s weiter? Oder kann ich das Buch erstmal zuklappen und ins Regal stellen und mich erstmal wieder umschauen in meinem Leben. Ja, ich habe diese unvollendete Geschichte. Aber wie kann mein Leben trotzdem weitergehen?
Sprecher
Jahre später können sich die Betroffenen möglicherweise erneut mit dem imaginären Buch beschäftigen.
OT20 Anja Wermann
Wenn man sich weiterentwickelt hat, andere Dinge erfahren hat, vielleicht fällt einem noch was ein zu diesem Buch und der Geschichte. Man kann es auch wieder rausnehmen aus dem Regal und noch mal seine Ergänzungen formulieren.
Sprecher
Manchen Klientinnen und Klienten hilft die Übung allerdings nur für kurze Zeit.
MUSIK 8 ( Mark Allaway / Jeffrey Lardner: Winds Of Change (Underscore) 1’09)
OT21 Anja Wermann
Aber dann fängt der Verstand wieder an zu kreisen. Da habe ich dann diese Übung mit dem Spürhund draus entwickelt. Im Grunde ist unser Verstand wie so ein Spürhund. Wir geben unserem Spürhund, unserem Verstand Aufgaben. Zum Beispiel: Such die Antwort auf die Frage, was da jetzt passiert ist. Dann rennt der Spürhund los und sucht. Der kann wirklich jahrelang laufen und suchen, der ist super ausdauernd. (…) Es gibt Spürhunde, die sind einfach sehr energiegeladen. Und die möchten halt eine Aufgabe nach der nächsten haben. Dann überlegen wir zusammen: Mit was könnten wir den Spürhund beschäftigen?
Sprecher
Zum Beispiel damit: Such den nächsten Weg da raus. Oder: Was war es, das mich an dem vermissten Menschen so fasziniert hat? Könnte ich das irgendwie auch anderweitig in mein Leben holen? Ansätze, die Ohnmacht hinter sich zu lassen. Doch die nagende Frage nach dem Warum lässt sich oft schwer abstellen – und vor allem das Gefühl einer großen Verunsicherung: Kann ich mir selbst noch trauen?
OT22 Anja Wermann
Ist meine Menschenkenntnis wirklich so gut? Und gleichzeitig aber auch eine Unsicherheit, ob man einer neuen Person wieder trauen kann. Das kann teilweise schon zu einem Rückzug führen, dass man zum Beispiel weniger neue Kontakte knüpft, weil man eben denkt, das hält jetzt eh nicht lange oder die Person verschwindet wieder.
Sprecher
Mehr über das Warum zu wissen, über die andere Seite, würde Betroffenen helfen, mit ihrer Situation besser fertig zu werden.
Eine niederländische Studie aus dem Jahr 2020 hat zumindest einige Antworten darauf gefunden, weshalb Menschen andere ghosten.
OT23 Anja Wermann
Es sind teilweise Menschen, die den Konflikt scheuen, die denken, das kann ich jetzt nicht bewältigen oder ich hab jetzt gerade nicht die Kapazitäten dafür oder manche sind noch von ihrem gesamten Leben aus irgendeinem Grund überfordert. Und dadurch kommt es zu diesem Bruch. Es gibt aber tatsächlich auch den Fall, dass man denkt: ich will jetzt die andere Person halt nicht verletzen. Und ohne es zu wissen tatsächlich leider eine sehr viel verletzende Wirkung haben kann, weil: werden wir keine Antwort auf die Frage nach dem Warum haben, das kann einen viel länger beschäftigen als wenn ich ganz klar weiß: Okay, die Person hat das und das gestört. Das ist zwar doof oder tut mir auch weh, aber ich kann es halt wenigstens verarbeiten und hinter mir lassen. (…) Ich denke, es hat wahrscheinlich auch ein bisschen auch was mit einem vermeidenden Bindungsstil zu tun, wenn jemand ghostet.
Sprecher
Doch das muss nicht immer der Fall sein. In der niederländischen Studie haben Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch angegeben, dass sie jemanden geghostet haben, weil sie das Verhalten des anderen enttäuschend, diskriminierend oder schlimm fanden – oder so gar keinen Draht zu der anderen Person hatten und sie einfach gar nicht sympathisch fanden.
MUSIK 9 ( Air - Night Hunter 0’40)
Sprecher
Die Kommunikationswissenschaftlerin Michaela Forrai hat 2023 an der Universität Wien zu den Motiven von Ghostern geforscht. Dabei geht sie schon dann von Ghosting aus, wenn sich Freunde einfach länger nicht mehr melden – auch wenn sie gar nicht bewusst den Kontakt abbrechen wollen. Für ihre Studie hat sie junge Leute zwischen 16 und 21 befragt und zwar jeweils zweimal im Abstand von vier Monaten. Sie sollten zum einen angeben, ob und wen sie schon mal geghostet haben. Zum anderen ging es auch um folgende Fragen:
MUSIK 10 ( Air – Dark Messages 0‘30)
OT24 Michaela Forrai
Communication overload, das ist das Gefühl, dass man auf social media von einer Nachrichtenflut geradezu überwältigt wird, dann das Selbstwertgefühl der Personen und depressive Tendenzen. (…) Und es sah dann so aus, dass Personen, die in der ersten Befragung angegeben haben, dass sie von Social Media von einer Nachrichtenflut überwältigt wurden, dass die dann beim zweiten Zeitpunkt angegeben haben, dass sie romantische Partner:innen geghostet haben.
Sprecher
Michaela Forrai nimmt an:
OT25 Michaela Forrai
Das hat sich auch in vergangener Forschung schon gezeigt, die Kommunikation mit romantischen Partner:innen ist oft etwas fordernder als mit Freund:innen. Also kann es sein, dass es sich so anfühlt, als wäre Ghosting der einfachste Weg raus.
Sprecher:
Flirten und eine Person neu kennenzu lernen ist also anstrengender für Menschen als die Kommunikation in bereits gefestigten Freundschaften. Freunde warten schonmal auch geduldig auf eine Antwort – und man fühlt sich in der Regel von Freunden akzeptiert. Bei einem Flirt haben Menschen oft das Gefühl, sich erst beweisen zu müssen. Auch wird da in der Regel erwartet, dass man häufiger und in kürzeren Abständen hin und her schreibt. All das wird tendenziell als stressig bewertet. Wird es zu viel, scheint Ghosting für manche der einfachste Ausweg zu sein. Vor allem, wenn man keine gemeinsamen Bekannten hat.
Michaela Forrai erfragt in ihrer Studie auch, welchen Effekt dieses Verhalten auf die Ghoster selbst hat.
OT26 Michaela Forrai
Tatsächlich war es so, dass Leute, die romantische Partner:innen geghostet haben, da keinen Effekt auf ihr Wohlbefinden hatten, sowohl das Selbstwertgefühl als auch die depressiven Tendenzen sind weder gestiegen noch gesunken. Aber bei Freundschaften war es so, dass die Leute, die zu Beginn der Erhebung meinten, dass sie schon innerhalb von Freundschaften geghostet haben, dann höhere depressive Tendenzen hatten.
MUSIK 11 ( Pete Yorn - Someday 0‘18)
Sprecher
Ghosting geht also auch an Menschen, die ihre Freunde ghosten, nicht immer spurlos vorüber. In der Befragung von Michaela Forrai waren es immerhin knapp über 70 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die schon einmal einen Freund geghostet haben. Und weit über die Hälfte ihren Partner, ihre Partnerin.
MUSIK 12 (Air – Retour sur terre 0‘30)
Sprecher
Wer von Ghosting betroffen ist wie Daniela Liebsch, die seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Töchtern und ihrem Enkel hat, dem bleibt vorerst nur, sich mit der Situation, so wie sie ist, zu arrangieren – und vielleicht einen ganz kleinen Funken Hoffnung zu bewahren.
Daniela hat nicht nur eine Therapie geholfen, sondern auch eine Selbsthilfegruppe und regelmäßige Auszeiten im Kloster.
OT27 Daniela Liebsch
Da habe ich Gemeinschaft, da habe ich Menschen, die mit mir reden, die mich nicht als schlechten Menschen sehen. Das habe ich auch erst wieder lernen müssen, dass andere mich ganz anders wahrnehmen als meine Töchter.
MUSIK 13 Air – J’ai dormi sous L’eau 0‘30
Sprecher
Pia Kabitzsch, die nach dem ersten Treffen mit ihrem Online- Date, nichts mehr von dem Mann gehört hat, hat sich damals selbst eine Deadline gesetzt. Zwei Wochen. Und dann den Kontakt aus ihrem Handy – und damit auch aus ihrem Kopf: gelöscht.
OT 28 Pia Kabitzsch
Ich bin dann in Anführungszeichen aus dieser Opferrolle rausgegangen. Dann werde ich selber aktiv und hab das Ganze wieder in der Hand. Und so war es dann auch. (…) Ich dachte mir dann auch so: Okay, das ist dann halt wahrscheinlich nicht die Person für mich.
Steine, darauf tausende Seeigel. Diese Unterwasserwüste war artenreicher Tangwald. Sein Verschwinden wird zum Problem, ökologisch, als Rohstoff der Zukunft, vor allem aber als großer CO2-Speicher. Höchste Zeit, eine kaum sichtbare und bedrohte Ressource zu beachten, zu erhalten und zu schützen. Von Andreas Pehl
Credits
Autor: Andreas Pehl
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse und Julia Fischer
Technik: Josef Angloher
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Andreas Altenburger, Marianne Frantzen, Jenny Haugland Dølvik, Markus Molis, Ida Søhol, Taucher (Anita, Delphin, Niklas, Juan)
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Forschungsinstitut Akvaplan.NIVA
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Forschungsprojekte zu Tang
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https://akvaplan.no/no/prosjekt/arkelp
Homepage der Tangwächter/ Tarevoktere
EXTERNER LINK
Tauchen durch den Tang/ Seeigel
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Presse-/Podcast-Text Die Lederhose gilt als das Kleidungsstück, das am passendsten das Wesen des Bayern ausdrückt. Doch das hirschlederne Beinkleid war ursprünglich "nur" eine Arbeitshose - die Herrscher wie Bewohner von Königreich wie Freistaat indes stets mit der von ihnen gewünschten Bedeutung aufzuladen wussten. Von Lukas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Johannes Hitzelberger
Redaktion: Karin Becker
Im Interview:
Stefan Dettl, Sänger und Trompeter von LaBrassBanda, Truchtlaching;
Simone Egger, Junior-Professorin für Kulturanthropologie, Universität des Saarlandes, Saarbrücken; Michael Thalhammer, Lederhosen-Manufaktur „Brandner und Kneißl“, Sauerlach;
Alexander Wandinger, Trachteninformationszentrum des Bezirks Oberbayern; Benediktbeuern
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Sprecher
Sie sitzt wie eine zweite Haut...
Musik Tuba-Ton, hoch
Sie schützt vor Hitze, wie vor Kälte...
Musik Tuba-Ton, tiefer
Sie ist bereit, mit ihrem Träger durch Dick und Dünn zu gehen.
Musik Tuba-Ton tief
Sprecherin
Die Rede soll heute sein von der Lederhose. Strapazierfähig und in zeitlosem chic ist sie für manchen Bewohner des Freistaats ein lebenslanger Begleiter – weshalb ihr Träger zuweilen zur Lederhose ein anderes emotionales Verhältnis entwickelt, als zu einem x-beliebigen, austauschbaren Kleidungsstück.
O-Ton 1 Stefan Dettl, Sänger und Trompeter von LaBrassBanda
„Die Lederhose ist ein Lebensgefühl, das seit früher Jugend dabei ist…“
Sprecherin
...sagt der Sänger und Trompeter der bayerischen Funk-Brass-Band LaBrassBanda, Stefan Dettl.
O-Ton 1 Dettl weiter
Es gibt so den Mythos, wenn du eine schöne Lederhose hast, dann ist die dein Leben lang da….“
Sprecher
Doch beginnen wir im Allgemeinen: Hosen aus Leder sind und waren zu allen Zeiten zuerst einmal eines: Wunderbar praktisch. Schon Menschen der Steinzeit nutzten von erlegtem Wild nicht nur das Fleisch, sondern auch das Fell, aus dem sie Hemden und Blusen, Lendenschurze – aber auch bald Hosen machten. Die Samen im Norden Skandinaviens fertigten bis zur frühen Neuzeit ihre gesamte Kleidung aus Leder – knöchellange Lederhosen inklusive. Im Hochland von Ecuador schützen sich die Ureinwohner bis heute mit Hosen aus Fellen und Leder von Ziege, Lama oder Ozelot. Über Jahrhunderte war Leder auch hierzulande das naheliegende Material der Wahl - für Kleidung, die vor allem zweckmäßig sein musste, sagt die Kulturanthropologin Simone Egger. Sie hat den wissenschaftlichen Aufsatz „Dirndl und Lederhosen. Zur Kostümgeschichte der modernen Tracht“ verfasst.
O-Ton 2 Simone Egger, Junior-Professorin für Kulturanthropologie, Universität des Saarlandes
„Im Grunde war die Lederhose tatsächlich das Gleiche wie die Jeans: von Anfang an ein Arbeitsgewand, eine Arbeitshose. Es gab die geschnürten Lederhosen, die unterm Knie geschnürt wurden, und es gab die kurzen Lederhosen….und das hat natürlich auch immer was damit zu tun gehabt, was man auch damit arbeitet Wenn ich jetzt im Wald arbeite, brauche ich etwas, was meine Knie mitgeschützt, wenn die Holzstämme bewege oder so etwas hat es dann tatsächlich. Die Funktion ist da das zentrale Merkmal zuerst…“
Sprecher
Die Lederhose: Sie hat sich über die Jahrhunderte nicht nur für die Arbeit „im Holz“ und auf dem Feld bewährt. Sie tut ihren Dienst als Arbeitshose auch heute noch – und besteht ihre Bewährungsprobe nicht nur im dunklen Wald, sondern auch im hellen Rampenlicht.
O-Ton 3 Stefan Dettl Teil 1
„Die Lederhosn hat sich bei uns auf der Bühne herausgestellt als das praktischste Bühnenoutfit.“
Sprecher
...sagt LaBrassBanda-Frontmann Stefan Dettl.
O-Ton 3 Dettl weiter
„Wenn man sich vorstellt; Auf der Bühne machen wir quasi Sport. Wir spielen zwei Stunden, springen, hupfen, singen...also man schwitzt da ganz brutal. Und ich sag jetzt mal so: A Jeanshosn dad des gar ned mitmachn. Wenn wir zehn Tage auf Tour sind, denn bräuchte ich ja sechs Jeanshosen. Und wenn man in a Jeanshosn einischwitzt...und wenn man die am nächsten Tag wieder anhat, dann is des koa guads Gfui. Und bei der Lederhosn is des ned so. Da kannst einischwitzen, die lebt mit dir mit, die macht alles mit. Und am nächsten Tag duasd as kurz an die frische Luft hängen – und zackbum, gehts scho wieder weida. Die Lederhosn is für uns des oanzige Bühnenoutfit, das geht.“
Info an Regie: Wenn untenstehender Abschnitt in (( )) gekürzt werden muss, bitte dies einsetzen: - vom Erjagen des Materials übers monatelange Gerben bis zum Nähen und Besticken.
Sprecherin
Damit eine Lederhose so haltbar wird und auch noch fesch ausschaut: Dafür muss sie einen aufwendigen Herstellungsprozess durchlaufen. (( Doch zuerst einmal muss das Ausgangsmaterial für die Lederhosen besorgt - oder besser, erjagt – werden, weiß Michael Thalhammer: Er gestaltet und verkauft aus Hirschleder gefertigte Hosen in Sauerlach bei München.
O-Ton 4 Michael Thalhammer, Lederhosen-Manufaktur „Brandner und Kneißl“, Sauerlach
„Ich hab wirklich ganze Hirschen da. Also ned Hirschen, sondern Hirschleder. Weil du brauchst für eine Hose der Größe 50 brauchst du 22 Quadratfuß. Was umgerechnet 2,04 Quadratmeter san. Du brauchst immer zwoa Hirschen. Und die werden immer im Pärchen gefärbt. (...)Wir haben fünf Lederfarben zur Auswahl...und über die Gerbemethode der sämischen Gerbkunst, also des is, runtergebrochen, die Umwandlung von verwesbaren Eiweiß in nicht-verwesbares Eiweiß. Wir gerben mit einem Fischöl, und dieses Fischöl wandelt dieses verwesbare Eiweiß um. Dann haben wir, nach einem sehr langwierigen Prozess, der zwischen 12 und 18 Monate dauert je nach Witterung, haben wir zuerst einmal das Leder. Und dann wird die Hose gebaut...also genäht.“
Sprecherin
Auch ohne Naht und kunstvollem Stick, mit dem ein Säckler die Hose später versehen wird – )) das weiche, edel und teuer anmutende Material Leder wirke und wirkte - stets schon für sich, sagt Alexander Wandinger, Leiter des Trachten-Informationszentrums des Bezirks Oberbayern. Ein Grund, warum sich Menschen im Laufe der Jahrhunderte an lederner Mode unterschiedlichsten Schnitts versuchten. So tauchte die französische culotte, eine ursprünglich bis zum Knie reichende Stoffhose, bald auch in Süddeutschland auf: Aber eben in einer Leder-Version, die das Modische mit den praktischen Anforderungen der bayerischen Landbevölkerung verband.
O-Ton 5 Alexander Wandinger, Leiter des Trachten-Informationszentrums des Bezirks Oberbayern, Benediktbeuren
Vom Schnitt her gibt es verschieden Typen bei den Lederhosen...Die Kniebundhose aus dem 18. Jahrhundert, die´s ja bis heute gibt. Dann gibt es noch die kurze Lederhose, die sich aus der Kniebundhose entwickelt hat. Deswegen sind seitlich am Bein immer noch Bänder und Knöpfe! Das heißt: Die kurze Lederhose ist eigentlich eine verkürzte Kniebundhose.“
Musiktrenner
Sprecher
Dass die Lederhose schließlich so viel mehr werden sollte als „nur“ eine modisch geschnittene Hose aus Leder: Das hat zunächst einmal mit politischen Entwicklungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu tun. 1806 entstand - nach Auflösung des Heiligen Römischen Reiches - das eigenständige „Königreich Bayern“. Die Wittelsbacher herrschten auf einmal über so unterschiedliche Stämme wie die Franken, Schwaben, Pfälzer und die Bayern – und suchten nach einem Weg, dem neu entstandenen Volk eine gemeinsame Identität zu verleihen. Alexander Wandinger:
O-Ton 6 Wandinger
„Aus einem Vielvölkerstaat heraus braucht das Volk natürlich auch ein Wissen darum, wo es hingehört und braucht ein Nationalgefühl. Und das haben die Wittelsbacher sehr bald erkannt. Max, der erste Josef da ist es noch nicht so stark, aber seine Nachfolger, die haben ja Leute aufs Land geschickt, die sogar aufgenommen haben. Was haben die Menschen für Bräuche? Wie ziehen Sie sich an? Was essen Sie? Was trinken Sie? Wie sprechen Sie und so weiter? Das heißt, der Mensch auf dem Land wird entdeckt Anfang des neunzehnten Jahrhunderts...“
Sprecher
Auch selbst in Lederhosen gekleidet, wollten die bayerischen Herrscher fortan Volksnähe demonstrieren. Auch wenn die vorgeblich ländliche Alltagskleidung, die König Maximilian II. Joseph „zur Hebung des bayerischen Nationalgefühls“ auserkoren hatte - lederne Hose und Filz-Joppe - weniger einer Bauernkleidung als dem alpinen Jägergewand ihrer adeligen Jagdgefährten entsprach. Die Bevölkerung aber griff ihrerseits das Begehr der Wittelsbacher-Könige gerne auf, die ihre Alltagskleidung nun als typisch bayerische „Tracht“ fördern wollten.
O-Ton 7 Wandinger
„Im 18. Jahrhundert ist der Mensch auf dem Land einfach Leibeigener. Oder ist Steuerzahler, wie auch immer. In dem Augenblick, in dem die Menschen auf dem Land sozusagen entdeckt werden, nach 1800, Anfang des 19. Jahrhunderts, bemerken die Menschen in der Kleidung, die wir heute als „Tracht“ bezeichnen, natürlich auch, dass sie angesehen werden und bewundert. Dann wächst auch das Selbstbewusstsein der Landbevölkerung, die werden ja bejubelt, die werden angesehen.“
Sprecher
Dabei war die Lederhose für die Menschen auf dem Land in Sachen „Tracht“ zunächst nicht einmal erste Wahl. Statt in Leder kleideten sie sich oft lieber in Loden.
Sprecherin
Es war ein Lehrer namens Josef Vogl, der trotzdem bereits Ende des 19. Jahrhunderts das schleichende Verschwinden der Lederhose beklagte – und beschloss, dagegen anzukämpfen. Vogl gründete dafür 1883 den „Verein zur Erhaltung der Volkstracht im Leitzachthal“, den Vorläufer des bald wirkmächtigen Trachtenvereins Miesbach.
(( O-Ton 8 Wandinger
„Diese frühen Trachtenvereine: die waren ja auch revolutionär in ihrer Art...“
Sprecherin
...sagt der Trachtenforscher Alexander Wandinger. )) Die Mitglieder der ersten Trachtenerhaltungsvereine waren keine Bürger oder Bauern, die Grund besaßen – sie entstammten vor allem einem sozialdemokratisch gesinnten nicht-bürgerlichen Milieu, das mit der katholischen Kirche tief verbunden war - in gegenseitiger Ablehnung: Das erzbischöfliche Ordinariat München etwa erklärte die „Kurzhosenvereine“ für sittenwidrig. In die Kirche mit der Lederhose? Ein Tabu! Die frühen Trachtler indes wahren ihrerseits eher antiklerikal, und dem Revolutionären zugeneigt. Und dies nicht nur in ihrer politischen Haltung – sondern auch in ihrem Verhalten.
O-Ton 9 Wandinger
„In ihrer Art und Weise, sich zu zeigen: Die kurzen Lederhosen waren natürlich ein Zeichen von: Ich ziehe an, was mir passt. Am Sonntag nicht in die Kirche zu gehen, sondern vielleicht auf Gaufest zu fahren. Ich gehöre zu einer Gruppe, die sich einfach traut, was anders zu machen. (…) Junge Frauen, junge Männer zusammen im Trachtenheim, unbeaufsichtigt. Das war ja alles vollkommen neu. Es war provokativ und war eigentlich auch nicht geduldet….Dieses ostentative zur Schau stellen von uns geht's gut, wir machen, was wir wollen.“
Sprecherin
Diese „Trachtenbewegung von unten“ wuchs und gedieh. In zahlreichen bayerischen Regionen entstanden Trachtenvereine. „Über den Umweg der Miesbacher Tracht haben viele Gegenden Bayerns wieder zu ihrem eigenständigen Volkstum gefunden“, heißt es stolz in einer Festschrift des Miesbacher Trachtenvereins. Doch obwohl sich viele der neuen Vereinigungen als „Trachtenerhaltungsvereine“ bezeichneten, entwickelten diese oft die althergebrachte bäuerliche Kleidung weiter – oder erfanden sie gar neu.
O-Ton 10 Egger
„Natürlich wird hier nicht eine Lederhose eins zu eins übernommen, sondern es wird schon begonnen zu übersetzen und zu designen. Und das ist eigentlich ein ganz wichtiger Faktor. Diese wichtigste, bekannteste Lederhose, die wir heute kennen, also die dunkle Lederhose mit der grünen Paspelierung: Das ist eine im Design tatsächlich von Trachten-Jäger in Miesbach. Und da hat eben der Bruder an der Akademie studiert, hat verschiedene Entwürfe gehabt, und der, der sich durchgesetzt hat, hat sich wirklich durchgesetzt. Oder: das ist sicherlich die erfolgreichste Lederhose überhaupt.“
Sprecher
Die „Miesbacher Gebirgstracht“ sollte weltweit Anklang finden, doch steht sie keineswegs für eine jahrhundertealte Tradition. Simone Egger:
O-Ton 11 Egger
„´n klassischer Fall von „Invention of Tradition, wie man das so schön nennt. Eric Hobsbawm, der er britische Historiker spricht, eben von der ,Einführung einer Tradition’…“
Sprecher
Dass eine Hose Sinn und Identität zu stiften vermag, indem sie für die gemeinsame, vermeintlich lange andauernde Vergangenheit eines Volks steht: Dies funktionierte mit dieser dunklen, grün bestickten Lederhose letztendlich so gut, dass die Eigenheiten anderer regionaler Hosen und Dirndln dahinter zurückstehen mussten, ja, sogar verdrängt wurden. Der Trachtenforscher Alexander Wandinger verweist darauf, dass es jahrhundertelang ohnehin praktische Anforderungen wie soziale Gegebenheiten waren, die bestimmten, was man trug – und nicht Verbundenheit mit einer Tradition, mit einer Region oder gar „Heimatliebe“.
O-Ton 12 Wandinger
„Was wir heute als typische Tracht bezeichnen und vielleicht auch noch als „echt“ erklären, war einfach einmal Mode einer bestimmten Zeit, einer bestimmten sozialen Schicht – und das aber auch nur immer 20, 30 Jahre lang, bis halt die nächste Modewelle alles wieder verändert hat. Dass sich so etwas wie die kurze Lederhose dann über 100, fast 200, 220 Jahre hält – das ist ein Phänomen.“
Sprecher
Die nunmehr mit einer urbayerischen Identität aufgeladene Lederhose entwickelte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Strahlkraft bis weit über das bayerische Königreich hinaus. In Bayern selbst trug die ehemalige Arbeitshose der Gebirgler bald auch das städtische Bürgertum. Die Trachtenvereine ihrerseits reagierten auf diese soziale Aufwertung damit, dass sie eine Schautracht für Festtage entwickelten – die Lederhose, besonders der Latz, wurde üppig mit Ornamenten verziert. Die „Hebung des Nationalgefühls, insbesondere der Landestrachten“, die Maximilian II. 1853 verordnet hatte – sie schien binnen weniger Jahrzehnte gelungen. Dem neuen, vom König verordneten Zeitgeist folgend, begannen mehr und mehr Adelige und wohlhabende Städter, sich für Land und Leute zu interessieren, und in der Folge das Oberland und die Alpen zu bereisen.
Sprecherin
Es waren die Anfänge des alpenländischen Tourismus, der bald – als „Sommerfrische“ – zu einem Massenphänomen wurde. Dort, im Ferienort, dürstete es die Urlauber nach Unterhaltung – und die Einheimischen lieferten. Sie begannen, Tracht und Bräuche – vom Schuhplatteln bis zum Watschentanz - als Show zu inszenieren.
O-Ton 13 Egger
„Der Fremdenverkehr spielt eine ganz große Rolle, weil in dem Moment, indem Menschen von außen auf des blicken, was vielleicht vorher selbstverständlich ist. Oder ganz gewöhnlich, muss ich mir überlegen okay, was setze ich in Szene? Was sind vielleicht Bilder, die für meine Region stehen...und das sind dann wieder die Bilder, die gut funktionieren, die eingängig sind: die schöne Alpensilhouette, aber eben auch Dirndl und Lederhosen.“
Sprecherin
Besonders das Bauerntheater verbreitete dieses Abzieh-Bild eines Bayern, das vor allem die alpenländischen Bewohner entworfen hatten: Lederbehoste Lackl´n oder Schlitzohren, auf jeden Fall aber urwüchsige Natur-Burschen, die stets ein wenig zur Handgreiflichkeit neigten; die Fingerhakelten und Schuhplattelten – und bei feschen Madln fensterlnten (zum Fensterln gingen). Das stand bald für ganz Bayern.
O-Ton 14 Wandinger
„Natürlich ist die Lederhose konnotiert immer mit einer Vorstellung von Männlichkeit. Von Schneid, dieses Wilderer-Flair, dieses Jägerische, Almerische. Das schwingt bis heute mit. Und der Draufgänger, ein bisschen Draufgängertum...Ich kann machen, was ich will.“
Sprecherin
Oft dürfte dieses Bayern-Bild weniger Realität, als die Sehnsucht von städtischen Urlaubern widergespiegelt haben. (( Städtern – oft selber ländlicher Herkunft – die hofften, mit den Unterhaltungsdarbietungen an der urwüchsigen Kraft und Naturverbundenheit der Einheimischen teilhaben zu können. Stadtbewohner, die glaubten, sich wieder zum echten, erdverbundenen Mannsbild rück-verwandeln zu können, sobald sie die Lederhose überstreiften.))
Sprecher
Angekommen im 20. Jahrhundert, zeigt sich unsere schon etwas speckige Lederhose von zwei Seiten. Je nach Blickwinkel verkörpert sie den wenn nicht revolutionären, so doch zumindest den rebellisch-anarchischer Charakter des Bayern – oder, andererseits, dessen konservative Beharrungskraft: Das Festhalten an einer Gruppen-Identität, vertrauend auf die Gemeinschaft stiftende Macht der Tracht.
Musiktrenner
Sprecher
Zwei Seiten der Lederhose, die im vergangenen Jahrhundert wohl niemand so ausdrucksstark verkörperte wie der Schriftsteller Oskar Maria Graf. Der ließ sich seine „Krachlederne“ auch von den Nazis nicht nehmen: Die Nationalsozialisten propagierten die Lederhose als „geerbte Vätertracht“, und wollten diese als gesamtdeutsches Kleidungsstück – bereinigt von regionalen Eigenheiten - etablieren. Graf dagegen machte die Lederhose zum Symbol für Heimatliebe wie für Dissidenz – indem er sie sogar im New Yorker Exil selbstbewusst trug. Damit sollte der 1967 verstorbene Autor Vorreiter werden für einen Umgang mit der Lederhose, wie er sich eigentlich erst in den letzten Jahrzehnten durchsetzte.
Sprecherin
Doch zunächst einmal verschwand diese gegen Ende der 1960er-Jahre weitgehend aus der Öffentlichkeit. Die Mehrheit hatte genug von der als miefig empfundenen Enge traditioneller Tracht: eine Haltung, zu der die in der Nachkriegszeit populären Heimatfilme nicht unwesentlich beigetragen hatten. Dies änderte sich mit den 90er-Jahren. Die Professorin für Kulturanthropologie, Simone Egger:
O-Ton 16 Egger
„ ….da kommt jetzt plötzlich eine junge Generation, die nicht mehr das Problem hat, sich so massiv von einer Elterngeneration absetzen zu müssen. Und man konnte jetzt diese Dinge auch neu entdecken oder neu erfinden. Und so nach und nach hat sich da so ein neues Interesse tatsächlich entwickelt an Tracht, an Volkskultur, auch an einer Auseinandersetzung irgendwie mit dem: Was ist dieses Bayern eigentlich?“
O-Ton 17 Dettl
„ Im Jugendalter, 16, 17 furtgehn, und dann auch nach den Konzerten mit der Blasmusik furtgehn - und dann hat man halt die Lederhosn angehabt. Wenn du in den Reggae und Punkclub gegangen bist, dann war das irgendwie ok….Und das hat hat ein bisschen damit zu tun, dass ich auch heute keine Berührungsängste hab. Wenn ich die Lederhose anhab, gehe ich auch auf Punkkonzerte. Oder in total elitäre Szene-Clubs geh ich auch selbstbewusst mit der Lederhosn eini.“
Sprecher
Es sind Prominente wie der LaBrassBanda-Frontman und Trompeter Stefan Dettl, die der Lederhose eine neue Sichtbarkeit verliehen haben – indem sie diese auch außerhalb des erlaubten und erwünschten Rahmens von Blaskapelle und Trachtenverein tragen. Eine andere Strategie, die Lederhose quasi neu zu interpretieren, liegt in der Umgestaltung des Kleidungsstücks selbst. Dem „Lederhosen-Rebellen“ Michael Thalhammer etwa reichte es bald nicht mehr, seine Krachlederne mit Turnschuhen oder Badelatschen zu kombinieren, wenn er sie auf der Bühne mit seiner Wiesn-Band, den „Wuidara Pistols“, trug. Zwar trug er seine Lederhose ohnehin nicht am Bauchnabel sitzend, sondern lässig unter der Hüfte hängend. Aber irgendwie noch immer nicht cool genug.
O-Ton 18 Thalhammer
„Und ich wollte die halt dann zu was besonderem machen: (...) Und hab halt dann bei einem Trachtengeschäft meines Vertrauens in Egling unser Bandlogo drauf sticken lassen. Und ich werde nie den Blick der Seniorchefin vergessen, wo ich gesagt habe, was ich drauf haben will. Weil die Wuidara Pistols haben als Logo einen Totenkopf mit einem Gamsbarthut gehabt. Zwar einen freundlichen Totenkopf, aber es ist ein bleibt der Totenkopf, die hat wirklich gschaut: „WOS, Wos wollen Sie da draufhaben? An Totenkopf?!“ Und dann haben mir die den dann auch mit viel Diskussionen und nicht unbedingt wohlwollend draufgestickt.
Sprecher
Der flächig gestickte Totenkopf scheuerte aber beim Tragen der Hose. Thalhammer überlegte - und erinnerte sich an seinen Opa, der hobbymäßig Motive in Holz brannte. Könnte diese Technik nicht auch auf Leder funktionieren? Michael Thalhammer probierte es aus – es klappte. Und Thalhammer machte das Lederhosen-Branding zu einem Business namens Brandner und Kneißl. Eine Lederhose mit individuellem Motiv – das treffe einen Nerv bei Einheimischen, wie bei Kunden aus Übersee. Ein Pilot trage „seine“ Lederhose mit dem Bild eines Flugzeugs; ein junger Surfer ließ sich eine Palme ins Leder brennen; und ein Mexikaner nahm aus Sauerlach eine Lederhose mit einer calavera, einem mexikanischen Totenkopf, mit nach Hause. Seinen Kunden, sagt der „Lederhosen-Rebell“ Thalhammer, gehe es um Individualität und um Zugehörigkeit gleichzeitig.
Musikakzent
Sprecherin
Er sei keine „Lederhosenpolizei“, betont Alexander Wandinger vom „Zentrum für Tracht“ des Bezirks Oberbayern. Wandinger freut sich vielmehr über Vielfalt – und eine neu erwachte Freude an der Tracht: die neue Selbstverständlichkeit mit der die einen sie als Partykleidung nutzten, andere indes die Besonderheiten regionaler Volkskleidung bewahrten. Wobei eine „echte“ Tracht schon seit jeher eine Illusion sei.
O-Ton 20 Wandinger
„Ich würde wirklich sagen: anything goes bei der kurzen Lederhose. Ich persönlich würde immer natürliche Materialien bevorzugen...dass es vielleicht von einem regionalen Säckler oder einer Säcklerin kommt,. Dass man sich einfach was kauft, was man lang hat. Das hat auch was mit Nachhaltigkeit zu tun. Dass man sämisch gegerbtes Hirschleder nimmt...womit man sich nicht vergiftet, wie mit billigem chromgegerbten Ledern. Das ist wichtig. Ansonsten kann man die kurze Lederhose natürlich ganz unterschiedlich anziehen. Ich hab selber zwei Söhne: der eine, der würde die kurze Lederhose nur ganz traditionell anziehen, der andere mit langen Haaren und Bart, der Trick zu kurzen Lederhose oder T-Shirt. Beides sieht überraschenderweise gut aus.“
Wenn die Eltern alt werden, bekommen sie vielfach Unterstützung von ihren Kindern. Die kümmern und sorgen sich. Doch oft lassen sich die alten Eltern nichts von ihnen sagen. Ein schwieriger Rollentausch, der viel mit Loyalität und Fürsorge, aber auch mit und Wut und Überforderung zu tun hat. Autorin: Karin Lamsfuß
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Sebastian Fischer
Technik:
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Anne Otto, Dipl. Psychologin und Autorin;
Dr. Susanne Zank, Professorin für rehabilitationswissenschaftliche Gerontologie;
Dr. Katja Werheid, Professorin für Neuropsychologie;
Katrin und Barbara, Mutter und kümmernde Tochter,
Johanna, Tochter einer demenzkranken Mutter.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Linktipps:
Studie von Susanne Zank zur Lebenssituation Hochaltriger: HIER
Literatur:
Anne Otto: Für immer Kind, Wie unsere Beziehung zu den Eltern erwachsen wird, Edition Körber, 2022
Katja Werheid: Nicht mehr wie immer. Wie wir unsere alten Eltern begleiten können. Piper 2020
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Gespräch zwischen Mutter und Tochter (0‘51“)
Katrin: Jetzt wohnst du hier im Erdgeschoss in nem Mietshaus, und es ist auch schon mal eingebrochen worden, und vor Jahren… hast du dir so ein doppeltes Schloss machen lassen, und wenn ich mal komme und es ist hier keiner, und dieses wunderbar angebrachte Schloss ist überhaupt nicht abgeschlossen, dann denke ich mir so ‚geht’s noch? Kannst du das mal bitte abschließen?‘
Barbara: Also bei mir ist noch nie eingebrochen worden und bei mir ist auch noch nie was geklaut worden, ich denke, das muss erst mal passieren, bis ich das einsehe, dass ich mich mehr schützen muss.
Katrin: Und dann find ich halt… was heißt, dass ich ein Recht habe, dir das zu sagen… ich will dir das dann sagen, „du das änderst und deine scheiß Tür abschließt, damit nicht eingebrochen wird!“
Barbara: Jaaaa…. Die ist ganz schön streng mit mir!
Erzählerin:
Eine ganz typische Szene zwischen der 58jährigen Katrin und ihrer 85jährigen Mutter Barbara. Beide wollen nur ihre Vornamen nennen. Mutter Barbara lebt alleine und kommt eigentlich noch gut klar.
Doch immer öfter braucht sie Unterstützung von ihren beiden Töchtern: bei Bankgeschäften, Behördenschreiben, bei Arztbesuchen oder der Bedienung ihres Hörgeräts.
In Musik einbetten
O-Ton 2 Gespräch zwischen Mutter und Tochter (0‘11)
Katrin: Fühlst du dich denn getadelt, wenn ich sage „Zieh mal das Hörgerät an!“?
Barbara: Jooo… Ich denke, ich kann das alleine bestimmen, ob ich das anziehe oder nicht.
Katrin: Denkst du dann, ich bevormunde dich?
Erzählerin:
Katrin kümmert sich gerne. Doch sie hat oft etwas andere Vorstellungen davon, was das Richtige für ihre Mutter ist. Das sorgt manchmal für Konflikte.
Sprecher:
Fast alle erwachsenen Kinder erleben solche oder ähnliche Situationen. Es passiert schleichend. Irgendwann zwischen 40 und 60. Lange Zeit war die Beziehung zwischen ihnen und den Eltern auf Augenhöhe. Und plötzlich verändert sich etwas: Die alten Eltern benötigen Unterstützung.
O-Ton 3 Anne Otto (0‘24“):
Ich hab das ja selbst in meinem Freundeskreis festgestellt, dass immer mehr Leute von ihren ganz alten Eltern erzählen und sind selbst schon so um die 50, 60 und kümmern sich jetzt um 80-, 90jährige, andererseits bedeutet das, dass man dieser Beziehung auch immer eine neue Form geben muss und sich wahrscheinlich auch immer neu abgrenzen – einfach bewusster.
Erzählerin:
Sagt die Psychologin Anne Otto. Für ihr Buch „Für immer Kind – Wie unsere Beziehung zu den Eltern erwachsen wird“ – hat sie erwachsene Kinder interviewt, die sich um ihre alten Eltern kümmern.
O-Ton 4 Anne Otto (0‘13“):
Das gab es so früher nicht, eine Zahl, die kommt aus ner Studie von Hans Bertram, einem Sozialwissenschaftler, der halt sagte: Vor 100 Jahren hatten Väter und Kinder nur 15 gemeinsame Jahre! 15 bis 20. Heute sind das 60!
Sprecher:
Viele träumen von der Vorstellung, wo die Alten - intergiert in die Familie - liebevoll bis zum Schluss versorgt werden. Und die Kinder den Eltern von Herzen das zurückgeben, was sie selbst einmal bekommen haben. Das gibt es nach wie vor. Doch die meisten tun sich schwer mit dem Rollentausch.
Diese neue, oft lange gemeinsame Lebensphase zu gestalten ist für viele eine große Herausforderung. Vor allem ab dem Moment, wo die Eltern Hilfe brauchen. Anfangs sind es meist nur Dinge des Alltags wie Einkaufen, Behördengänge oder Bankgeschäfte. Später vielleicht auch Beantragen einer Pflegestufe. Oder Unterstützung bei der Körperpflege. Die alten Eltern müssen ihre erwachsenen Kinder zunehmend um Hilfe bitten und geraten in eine abhängige Rolle. Nicht ganz einfach.
Erzählerin:
Auch die 85jährige Barbara bemerkt die Rollenumkehr: Obwohl sie sich gut mit ihren beiden Töchtern versteht, ist es ein seltsames Gefühl: Plötzlich ist sie nicht mehr die „Wissende“ die „Erfahrene“, die ihren Kindern die Welt erklärt. Nun braucht sie selbst Hilfe. Nach Jahrzehnten der Autonomie.
O-Ton 5 Barbara (0‘28“):
Ich war ja immer schon alleine, also ohne Mann, und musste immer alles alleine machen und denke: Ich kann alles alleine, und bin froh, dass ich in meinem Alter noch so das kann, was ich so möchte, aber ich sag ja: Ich fühle mich getadelt, und ich hab auch etwas Angst vor Katrin, wenn ich weiß, die kommt: „Hast du auch die Tür zwei Mal abgeschlossen? Hast du auch die Waschmaschinentür aufgelassen?“
Sprecher:
Wenn alte Eltern erkennen, dass sie manches nicht mehr allein können, tut das erst mal weh.
Erzählerin:
Dr. Susanne Zank ist Professorin für Rehabilitationswissenschaftliche Gerontologie an der Uni Köln und hat in einer großen repräsentativen Studie die Lebenssituation der Hochbetagten untersucht, also der Menschen über 80.
O-Ton 6 Susanne Zank (0‘30“):
Da ist offenbar eine sehr, sehr große Angst davor, wahrzunehmen, dass die eigenen Kräfte geschwunden sind, und das kann man nicht mal so eben ablegen. Und wenn ich 70 Jahre lang völlig selbstständig gelebt habe, und das für mich auch ein großer Wert war und ist, autonom zu sein, selbstständig zu sein, und da kommt dann auf einmal dieses blöde Kind – das ist jetzt zwar auch 60 Jahre alt – und will mir erzählen, was ich zu tun und zu lassen habe!
Sprecher:
Wenn die alten Eltern zunehmend hilfsbedürftig werden, lassen sie sich ungern etwas sagen. Von ihren eigenen Kindern oft schon mal gar nicht.
Erzählerin:
Das sorgt für Zündstoff, sagt die Psychotherapeutin und Neuropsychologin Prof. Katja Werheid. Vor allem dann, wenn alte Eltern und kümmernde Kinder kein wirklich liebevolles Verhältnis zueinander haben.
O-Ton 7 Katja Werheid (0‘27“)
Selbst, wenn es Konflikte gibt, selbst wenn die Beziehung nicht so eng ist – trotzdem lässt das Kinder nicht kalt, wenn ihre Eltern gebrechlich werden. Im Gegenteil: Da kommen diese ganzen Fragen von Schuld, warum ich, warum nicht meine Geschwister? Also diese ganzen Geschichten kommen dann wieder hoch; ich bin nicht unbedingt immer dafür, dass man alles geraderaus ansprechen muss.
Musikzäsur
Erzählerin:
Johanna hatte ein konfliktbeladenes Verhältnis zu ihren Eltern. Statt Liebe erfuhr sie Strenge, Druck und Härte. Mit 18 verließ sie ihr Elternhaus, ging ins Ausland und zog in eine andere Stadt, etwa 300 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt.
Der Kontakt zu den Eltern war eher spärlich. Als der Vater starb, besuchte sie alle paar Wochen ihre Mutter. Widerwillig.
O-Ton 8 Johanna (0‘22“):
Da hab ich sehr drunter gelitten, und bin da manches Mal hingefahren und völlig verzweifelt nach Hause gefahren, weil nur Boshaftigkeit war, weil sie sehr in so alten Geschichten auch wühlen konnte, die zwischen uns schief gelaufen sind und ich gedacht hab: ‚oh Gott, diese weiter Fahrt, das viele Geld, was du verfährst – das um dich fertig machen zu lassen?‘
O-Ton 9 Anne Otto (0‘13“):
Jetzt ist man ja erwachsen, fühlt sich eigentlich sehr souverän, kommt dann ins Elternhaus und wird dann mit alten Sätzen und alten Triggern konfrontiert und ist dann sofort in Gefühlen aus der Kindheit.
Erzählerin:
Nach dem Tod des Vaters veränderte Johannas Mutter ihr Wesen. Kam mit vielem nicht mehr klar. Johanna befürchtete: Demenz.
O-Ton 10 Johanna (0‘29“)
Und habe dann bei einem Psychiater an ihrem Wohnort einen Termin vereinbart, um das mal checken zu lassen, da hat sie sich gebärdet wie eine Wilde: Sie wär doch nicht verrückt! Und hab mit viel Geduld es geschafft, dass sie mit mir dahin gegangen ist, dann saßen wir in der Sprechstunde, es war ein rammelvolles Sprechzimmer, wir mussten Stunden warten, sie stand mehrfach auf und wollte rausrennen, und meckerte: „Das brauch ich nicht! Ich will hier nicht warten!“
Sprecher:
Rollenumkehr. Es gibt einen Punkt, an dem erwachsene Kinder ihre Eltern nicht nur unterstützen und ihnen gleichzeitig ihre Autonomie lassen, sondern in hohem Maße Verantwortung für deren Leben übernehmen. Übernehmen müssen.
Erzählerin:
Johannas 80jährige Mutter, so diagnostizierte der Arzt, sei in einem Stadium fortgeschrittener Demenz.
So machten sich Johanna und ihre Schwester auf die Suche nach einem guten Platz für die Mutter. Hinter deren Rücken.
O-Ton 11 Johanna (0‘20“):
Ich hatte oft das Gefühl, ich hab nicht das Recht in ihr Leben einzugreifen. Man überschreitet Grenzen dessen, was zwischen Eltern und Kindern normal üblich ist. Ich hab viele schlaflose Nächte darüber gehabt, ich hab nicht gewusst: Darf ich das? Soll ich das? Kann ich das? Muss ich das? Es war einfach richtig, richtig schwer.
Erzählerin:
Es fällt leichter, so die Psychologin Anne Otto, wenn Kinder ihren alten Eltern schon in guten Zeiten über die entscheidende Frage gesprochen haben: Was ist, wenn du mal nicht mehr für dich sorgen kannst?
O-Ton 12 Anne Otto (0‘49“):
Und die Tendenz ist dann häufig, es bis zum letzten aufzuschieben, und ich hab ja auch für das Buch mit vielen Familien gesprochen, und es war immer wieder das gleiche Muster: Erst wenn die alten Eltern stürzen oder eine schwierigere Erkrankung da ist, dann wird dieses Thema unheimlich forciert. Auf ne Art ist das auch verständlich, aber ich glaube, dass es gut ist, mit nem bisschen längeren Anlauf… dass man guckt: Wie wollen wir das eigentlich gestalten? Denn irgendwann kommt das, und immer mal wieder dieses Thema aufgreifen: „Wie willst du später wohnen? Möchtest du mal in die Stadt ziehen, in der ich bin? Was für ne Art von Pflege?“ und dass man sich da so ein bisschen gemeinsam vortastet.
Erzählerin:
Johanna und ihre Mutter konnten nie darüber sprechen. Vielmehr verhakten sie sich im täglichen Kampf um die Grundversorgung: Haarewaschen, Nägel schneiden, Kühlschrank leerräumen, in dem die Mutter 15 Pakete Wiener Würstchen und sieben Pakete Butter hortete. Vieles schon vergammelt. Die Rollen kehrten sich um.
O-Ton 13 Johanna (0‘06“):
Das hat auch zu unglaublichem Streit geführt, dann schrie sie rum „Ich lass mich nicht entmündigen von dir, hau ab!“
Sprecher:
Respektvoll und fürsorglich mit garstigen, abweisenden, vielleicht auch wütenden alten Eltern umzugehen, kann zur riesengroßen Herausforderung werden.
Erzählerin:
Susanne Zank sagt: Der erste Schritt ist es, anzuerkennen, dass auch das, was den Kindern als absurd und unvernünftig erscheint, in den Augen der Eltern eine Berechtigung hat: Hinter jeder Abwehrreaktion steckt eine tieferliegende Angst.
O-Ton 14 Susanne Zank (0‘18“):
„Man will mich entmündigen!“ Man muss im Einzelfall gucken: Was könnte dahinterstecken? Was ist die konkrete Bedrohung dieser Person vor dem Hintergrund ihrer Biografie? Was ist daran so schrecklich, Hilfestellungen anzunehmen?
Erzählerin:
Dabei sei hilfreich, so die Psychologin Anne Ottto ist es, wenn Kinder zuvor etwas erreicht haben, was man in der Fachsprache „filiale Reife“ nennt.
O-Ton 15 Anne Otto (0‘16“):
Dass man z.B. sagt: Ich will von meinen Eltern nicht mehr kindliche Bedürfnisse befriedigt haben oder ich sehe meine Eltern als ‚ganze‘ Menschen und nicht nur als meine Eltern, da gibt es Konzepte, wie man das lernen kann, in einem anderen Verhältnis zu den Eltern zu stehen.
Sprecher:
Filiale Reife heißt: Von den Eltern nichts mehr erwarten. Ihnen erwachsen begegnen. Akzeptieren, dass vielleicht noch alte Rechnungen offen sind, die niemals mehr beglichen werden. Und sie sehen als das, was sie sind: alte Menschen, die ihr Leben gelebt haben und nun vielleicht hilfsbedürftig sind.
Erzählerin:
Wenn die Eltern mit Wut und Abwehr reagieren, hilft es, etwas Grundlegendes zu verstehen, so Susanne Zank, Professorin für Rehabilitationswissenschaftliche Gerontologie: Die heute 80jährigen sind Kriegskinder. Und in diesen Biografien gibt es Gemeinsamkeiten:
O-Ton 16 Susanne Zank (0‘29“):
Dass sie sehr schnell sehr selbstständig werden mussten keine Schwäche zeigen, nicht hilfsbedürftig sein, sondern im Gegenteil: Zu einer Zeit, wo sie vielleicht selbst hilfsbedürftig waren, durften sie es nicht sein, Wenn Sie in ihrem ureigensten Kern das Gefühl haben ‚Ich muss besonders stark sein!‘, dann fällt es Ihnen auch sehr, sehr schwer, überhaupt wahrzunehmen, dass Sie jetzt weitere Unterstützung brauchen.
Sprecher:
Eltern, die nur schwer Hilfe annehmen können und Kinder, die sich verantwortlich fühlen. Manchmal über-verantwortlich. Ein Konflikt, der oft schwer auszuhalten ist.
Musikzäsur
Erzählerin:
Vor einiger Zeit hatte sich Katrin große Sorgen um ihre Mutter gemacht, die für viele Wochen im Krankenhaus war. Nach einer großen Operation war sie anfangs sehr geschwächt und wackelig auf den Beinen. Katrin hatte Sorgen, dass die Mutter stürzt.
In Musik einbetten
O-Ton 17a Gespräch zwischen Mutter und Tochter (0‘23“)
Katrin: 31‘30“ Du hast ein Riesen Theater gemacht! „Ich geh doch nicht mit dem Rollator über die Straße! Bist du irre? Brauch ich nicht!“ geht weiter, Überhang O-Ton zum Unterlegen
Erzählerin darüber:
Und während Katrin argumentiert, dass der Rollator ein tolles Hilfsmittel ist, verzieht Mutter Barbara nur angewidert den Mund. Ihre größte Sorge:
O-Ton 17b Gespräch zwischen Mutter und Tochter (0‘08“)
wieder hochziehen:
Barbara: Dass ich hier ziemlich bekannt bin und dass dann alle Leute sehen „Guck mal, die Barbara, die geht jetzt auch am Rollator! Ist die so alt geworden?
Sprecher:
Brille, Hörgerät, Rollator, vielleicht auch irgendwann Inkontinenzeinlagen. Das sind nicht nur sinnvolle Hilfsmittel, sondern auch Symbole. Symbole fürs Älterwerden, für den Verlust von Fähigkeiten, für schmerzhafte Abschiede von dem, was ein Leben lang selbstverständlich war.
Erzählerin:
Für Barbara spricht der Rollator seine ganz eigene Sprache:
O-Ton 18 Mutter und Tochter (0‘07“)
Barbara: Dass man nicht mehr alleine gehen kann.
Katrin: Und dass man ein tolles Hilfsmittel hat?!
Barbara: Man kann so viel nicht mehr, wenn man älter wird!
Erzählerin:
Alt zu werden ist für viele Menschen eine ganz große Herausforderung, weiß Susanne Zank:
O-Ton 19 Susanne Zank:
Das ist ne massive Kränkung. Man muss sich damit arrangieren, dass Verluste häufiger werden, diese körperlichen Verluste, aber natürlich auch soziale Verluste, und insofern sind die meisten alten Menschen eigentlich sehr gut darin, sich zu adaptieren. Aber nicht von heute auf morgen!
Sprecher:
An dem Punkt entsteht ein großes Spannungsfeld, das für die erwachsenen Kinder nur schwer auszuhalten ist: Natürlich haben sie nicht das Recht, ihren Eltern Hilfsmittel vorzuschreiben oder riskantes Verhalten zu verbieten. Gleichzeitig haben Kinder ein berechtigtes Interesse, dass die Eltern so lange wie möglich gesund und selbstständig bleiben. Denn wer wird sich im Pflegefall kümmern? Die erwachsenen Kinder natürlich. Die aber sind oft schon am Limit: gehen Vollzeit arbeiten, haben eine eigene Familie und sind zudem in einem Alter, in dem sich oft erste gesundheitliche Baustellen zeigen. Die Energie schwindet. Das Kümmern um die eigenen Eltern wird zum Kraftakt.
Musikzäsur
Sprecher:
Wie spricht man diese Dinge am besten mit den alten Eltern an? So dass sie nicht in Trotz und Abwehr verfallen und sich bevormundet fühlen?
Erzählerin:
Die Neuropsychologin Katja Werheid sagt: Es ist sinnvoll, nicht in der Situation zu streiten, sondern in einem ruhigen Moment konkrete Erlebnisse anzusprechen.
O-Ton 20 Katja Werheid (0‘38“):
Zu sagen: „Ich mach mir Sorgen!“ Also ich mach mir Sorgen, nicht du musst was ändern. Ich weiß nicht: Ist das jetzt noch sicher, und wenn ich jetzt so weit entfernt wohne, oder wenn du hier allein unterwegs bist, fühlst du dich dann noch sicher? Vielleicht hast du ja auch einen anderen Vorschlag.“ Vielleicht ist es nicht der Rollator, sondern erst mal der Stock oder der Handlauf, der montiert werden muss… also im Gespräch bleiben, das ist das, was wichtig ist, nicht so im Tiefflug reingeschneit kommen, schnell mal Ratschläge an alle verteilen und dann wieder abziehen, und die Eltern dann völlig entkräftet da sitzen und denken: Naja, jetzt hat er oder sie es uns mal wieder gegeben!
Erzählerin:
Geduldig, langsam, gegebenenfalls auch mehrfach ansprechen. Mal führt das zum Erfolg, gibt Katja Werheid zu, mal nicht.
Musikzäsur
Sprecher:
Das Thema „Autofahren“ ist vielleicht das brisanteste unter den Eltern-Kind-Themen. Jedenfalls sorgt es für maximalen Zündstoff. Denn da geht es nicht nur um die eigene Unversehrtheit, sondern auch um die anderer Menschen.
Musik, dann darüber:
O-Ton 21 Gespräch zwischen Mutter und Tochter (0‘29“)
Katrin: Autofahren ist ein sehr schwieriges Thema.
Barbara. Warum?
Katrin: Dass ich finde, dass du schlimm Auto fährst, das weißt du ja.
Barbara: Das kann ich überhaupt nicht akzeptieren. Ich bin die beste Autofahrerin der Welt.
Katrin: Ein Blick rechts über die Schulter - kommt da ein Fahrrad oder nicht? machst du nie.
Barbara: Doch!
Katrin: Ich wundere mich total, dass du noch nie einen Fahrradfahrer totgefahren hast,
Barbara: Ich gucke immer nach rechts! Ich gucke überhaupt überall hin! Ich bin sehr aufmerksam!
Sprecher:
Autofahren ist vielleicht die letzte Bastion der schwindenden Selbständigkeit. Autofahren bedeutet: Am Leben teilnehmen, Menschen treffen, selbstständig einkaufen gehen, einfach unabhängig sein. Auf dem Land noch mehr als in der Stadt.
[[ O-Ton 22 Barbara (0‘17“):
Da denk ich immer: Hoffentlich passiert mir das nie, dass ich wen umfahre. Aber das weiß ich nicht, ob das ein Grund wäre, den Führerschein abzugeben. Also das Auto ist mir schon sehr wichtig. Und ich bin der Überzeugung, dass ich ne gute Autofahrerin bin.
Erzählerin:
Nach dem Interview wurde Barbara übrigens nachdenklich und hat zum ersten Mal das Thema ‚Autofahren‘ hinterfragt. Ganz vorsichtig. Das Ergebnis steht noch aus.]]
Sprecher:
Es ist ein schwieriger Rollentausch, der viel mit Loyalität und Fürsorge, aber auch mit Wut und Überforderung zu tun hat.
Musikzäsur
Erzählerin:
Die Ereignisse bei Johanna und ihrer demenzkranken Mutter überschlugen sich. Die Mutter drehte mehrfach stundenlang die Gasflamme auf und verließ das Haus. Rief immer wieder die Polizei, weil ihr angeblich etwas gestohlen wurde. Verstaute die Socken im Gemüsefach. Nun war klar: Sie konnte nicht mehr alleine wohnen. Johanna hatte sich bereits hinter dem Rücken der Mutter nach einem Platz für betreutes Wohnen umgeschaut.
O-Ton 23 Johanna (0‘28“):
Da hat sie erst mal genickt. Es war auch ne gewisse Erleichterung spürbar, die auch einen Moment angehalten hat. Am nächsten Morgen gab’s ein riesen Theater: Sie ginge da nicht hin, und sie käme prima zurecht, alles wäre ja sauber und ordentlich, und dann hab ich gesagt „Mama, das stimmt alles, es ist sauber und ordentlich, wir gucken es uns einfach mal an.“ Und sie war eigentlich ganz angetan. Es hatte so ein bisschen den Eindruck eines netten Hotels.
Erzählerin:
Die Mutter war einverstanden, der Vertrag wurde unterschrieben. Es kam der Tag des Umzugs.
O-Ton 24 Johanna (0‘33“):
Das ging noch relativ gut. Dann hat sie ein oder zwei Nächte dort verbracht, und dann haben wir die Wohnung räumen lassen, und plötzlich stand sie in ihrer alten Wohnung. Sie hatte offenbar noch einen Schlüssel und rastete so völlig aus: Wir hätten sie gegen ihren Willen in ein anderes Zuhause gebracht, und sie käme jetzt zurück, sie hätte das schon alles organisiert und sie schrie und brüllte, wir wären gegen die verbündet, wir wollten sie abschieben… also es war wirklich schrecklich.
Kurzer Musikakzent
O-Ton 25 Johanna (0‘31“):
Ich hatte auch mit den Tränen zu kämpfen, und ich hatte von dem Psychiater eine Tablette, ich weiß nicht mehr, was das war, er sagt: Die wirkt ganz schnell, dann kommt die runter. Dann haben wir sie alleine gelassen und sind ein paar Mal um den Block gegangen, und wir kamen zurück und sie saß ganz friedlich am Küchentisch, und völlig willenlos ließ sie sich dann zurück transportieren, meine Schwester ist bei ihr geblieben, ich hab dann weiter räumen lassen, und wir haben dann den Schlüssel einfach weggenommen.
Erzählerin:
Johanna musste ihre eigene Mutter bevormunden, Entscheidungen für sie treffen, zeitweise sogar gegen deren Willen. So wie die Mutter es früher getan hat, als Johanna klein war. Dieser Rollentausch fühlte sich einerseits richtig an und andererseits verkehrt.
O-Ton 26 Johanna (0‘34“):
Ganz schwierig war für mich in der ganzen Phase mit meiner Mutter, dass ich nicht das Recht hatte, sie zu manipulieren, sie zu hintergehen, also hinter ihrem Rücken ein anderes Zuhause zu suchen, nicht ehrlich mit ihr umzugehen, gleichzeitig wuchs in mir auch so ein Gefühl von Pflicht, ich hab die Pflicht, für sie zu entscheiden, wenn sie es nicht mehr kann, und diese widerstrebenden Gefühle auszuhalten, war oft total schwer.
Erzählerin:
Die Neuropsychologin Katja Werheid sagt: Auch die Eltern kommen mit diesem Rollentausch aus einem weiteren Grund nicht gut klar:
Denn für sie bleibt auch das erwachsene Kind – von dem sie zunehmend abhängiger werden - immer ein bisschen Kind. Das Kind, das sie einst versorgt haben.
O-Ton 27 Katja Werheid (0‘13“):
Und das sind auch sehr, sehr einprägsame Erlebnisse, die einem, selbst wenn man stark demenzkrank ist, immer noch präsent sind, wie man sein Kleinkind, sein Baby damals im Arm gehalten hat, das vergisst man nicht.
Musikzäsur
Sprecher:
Generell ist es für erwachsene Kinder eine große Herausforderung zu einem tieferen Verständnis für ihre alten Eltern zu kommen: die einst als Kriegskinder geboren wurden und viel zu früh viel zu selbstständig waren. Für die Hilfe annehmen viel mit Schwäche zu tun hat.
Die den Schmerz der vielen Verluste im Alter tragen. Deren Radius immer weiter schrumpft. Und die vielleicht irgendwann mal völlig hilflos werden.
Und gleichzeitig gilt es für die erwachsenen Kinder zu begreifen, dass sie von den alten Eltern nichts mehr erwarten können und vieles für immer ungelöst und ungeklärt bleiben wird.
Erzählerin:
Johannas Mutter gefiel es gut im betreuten Wohnen. Trotzdem baute sie in kurzer Zeit ab. Die Demenz schritt voran. Nach eineinhalb Jahren starb die Mutter an einem Herzinfarkt. Johanna hatte schon lange vorher ihren Frieden mit der Mutter geschlossen:
O-Ton 28 Johanna (0‘24“):
Wenn ich an sie denke, denke ich nicht als strafende Mutter an sie, sondern als alte Frau, mit der ich auch manchmal noch lachen konnte und echten Spaß haben konnte und die mir gut war und der ich gut sein konnte. Und wo ne tiefe Liebe da war, die nicht mehr so nach Erwiderung gesucht hat. Und das hat mich dann auch den Tod von ihr, der dann ja sehr plötzlich kam, sehr gut überwinden lassen.
Die Siebziger Jahre begannen grenzenlos optimistisch, was sich auch in Design, Musik und Architektur widerspiegelte. Doch die Ölpreiskrise 1973 läutete das Ende des Nachkriegsbooms ein, und eine allgemeine Zukunftsangst begann um sich zu greifen. Ein Jahrzehnt zwischen Aufbruch und Krise. Autorin: Julia Devlin (BR 2023)
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Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner/innen:
Prof. Markus Caspers, Professor für Gestaltung und Medien, Hochschule Neu-Ulm;
Prof. Thomas Raithel, Institut für Zeitgeschichte, München
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Markus Caspers: 70er. Einmal Zukunft und zurück. Utopie und Alltag 1969-1977. Köln 1997;
Thomas Raithel: Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Entwicklung und Auseinandersetzung während der 1970er und 1980er Jahre. München 2012;
Konrad H. Jarausch, Krise oder Aufbruch? Historische Annäherungen an die 1970er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006), H. 3
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Bernadette Banner: Women's Pockets Weren't Always a Complete Disgrace - A Brief History: England, 15th c - 21st c HIER ENTDECKEN
Ein historischer Überblick über die Umbindetasche vom Victoria and Albert Museum HIER
Janet C. Myers, “Picking the New Woman's Pockets”, in: 19th Century Gender Studies, 10.1, 2014. HIER
Rebecca Unsworth, “Hands Deep in History: Pockets in Men and Women's Dress in Western Europe, c. 1480–1630”, in: Costume, 51.2, 2017. HIER
Jutta Zander-Seidel, “Die Lesbarkeit frühneuzeitlicher Kleidung”, arthistoricum, 2018 HIER
Someone clever once said: Women were not allowed pockets – Datenanalyse zu Taschengrößen und Funktionalität in aktueller Frauen- und Männerbekleidung HIER
Die weltweite Nutzung von Taschen, New York Times, 1899 HIER
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Barbara Burman & Ariane Fennetaux, “The Pocket – A Hidden History of Women’s Lives”, 2019, das Standardwerk über die historische Bedeutung der Umbindetaschen für Frauenleben. Leider bisher nur auf Englisch erschienen.
Hannah Carlson, “Pockets – An Intimate History of How We Keep Things Close”, 2023, eine erhellende Kultur- und Geschlchtergeschichte der Taschen in Männer und Frauenbekleidung. Auf Englisch.
Claire Wilcox, “Handtaschen. Moden & Designs im 20. Jahrhundert”, 1998. Ein Bildband über die Entwicklung der Taschen und Handtaschen – von der Umbindetasche bis zur It-Bag.
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Voice Over 01
Ich entschuldige mich im Voraus für das Maß an reiner, destillierter, passiver Wut in diesem Video. Aber eigentlich auch nicht, weil die schiere Ungerechtigkeit dieser Sache... (PIEP) Wir sind inzwischen allzu vertraut mit der blasphemischen Schmach der Taschen in Frauenkleidung...
ERZÄHLERIN
Bernadette Banner ist wütend. Die Kostümbildnerin und Historikerin filmt normalerweise launige Erklär-Videos bei Youtube – zum Beispiel über die desolate Lage von Taschen in Frauenkleidung. 1,7 Mio. Follower schauen ihr dabei zu. Und die sind diesmal genauso aufgebracht, wie Banner:
Musik: Source code 0‘27
ZITATORIN
Die Tatsache, dass Frauenoberbekleidung, Mäntel, Jacken usw. nie eine Innentasche haben, während Männerkleidung IMMER eine hat, macht mich so wütend, dass ein Vulkanausbruch daneben harmlos erscheint.
ZITATORIN 2
„Preach, Girl, Preach!“
ZITATORIN
Ich brauche Taschen, so tief wie meine Seele, dass meine Dolche hineinpassen. Ich meine, Stifte..
ZITATORIN 2
“Viva la pocket revolution!“
Musik: Nr.2 D-Dur Andante 0‘31
ERZÄHLERIN
Bernadette Banner schneidert und designt historisch korrekte Kostüme und Alltagskleidung und lebt zumindest modisch auch selbst im späten 19. Jahrhundert. Die langen braunen Haare locker, aber elegant hochgesteckt. Eine hochgeschlossene Bluse, dazu ein weiter, langer Rock, Schnürstiefel, Handschuhe. Gegenüber Jeans, Yoga-Leggings und schmalen Sommerkleidern hat ihr anachronistisches Outfit einen unsichtbaren – aber entscheidenden Vorteil:
[PAUSE/Musik weg]
Tiefe Taschen in den Rockfalten.
ZSP 02 Bernadette Banner Everything
Voice Over 02
Frauen trugen diese riesigen Kleider, es gab also viel Platz für Taschen. Ich habe viktorianische Taschen in meinen Rekonstruktionen eingenäht und nutze sie auch in meiner eigenen Kleidung, weil sie riesig sind. Ganze Bücher, Wasserflaschen, Snacks – eigentlich alles was man den Tag über braucht, passt in eine viktorianische Tasche.
ERZÄHLERIN
Kleidertaschen in denen ein ganzes Picknick Platz findet – das klingt wie eine Utopie. Und tatsächlich: Der Taschenreichtum im Viktorianischen Zeitalter Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Ausnahme von der Regel. Die längste Zeit über hatte Frauenkleidung nämlich gar keine eingenähten Taschen!
Musik: Servants and farmhands B 0‘52
ERZÄHLERIN:
Bis ins 16. Jahrhundert tragen Frauen und Männer in Europa ihre kleinen Besitztümer in Beuteln am Gürtel. Als sich die Schneidertechniken weiterentwickeln, entstehen aus Tunika und Beinlingen der Männer Hemden und Kniebundhosen. Und in die werden ab etwa 1550 die ledernen Beutel, die zuvor an ihren Gürteln über der Tunika baumelten, einfach als Taschen in den Hosenbund eingenäht. Das Gewand der Frauen verändert sich nicht so drastisch. Unabhängig vom gesellschaftlichen Stand und sich wandelnden Moden tragen sie Unterkleider, Röcke und ein Mieder. Und am Gürtel Beutel. Doch die verschwinden Mitte des 17. Jahrhunderts... (PAUSE)
… scheinbar.
Denn nun binden sie sich große, birnenförmige Taschen aus Leinen, Seide, Leder oder Baumwolle mit einem Band um die Hüfte – und unter die Röcke – statt darüber. Das liegt am besonderen Design der Röcke dieser Zeit, sagt Bernadette Banner:
ZSP 03 Bernadette Banner Umbindetaschen
Voice Over 03
Die Röcke sind zweigeteilt und werden wie zwei Schürzen vorn und hinten gebunden, so dass sie sich an den Seiten überlappen. Dadurch ist es einfacher sich anzuziehen, aber es hat auch den Vorteil, dass so ein Schlitz an der Seite entsteht, durch den man mit den Händen in die Tasche greifen kann. Ja, das ist super sicher! Und darum haben Frauen ihre Taschen lange Zeit unter den Kleidern getragen, weil das am sichersten war.
Musik: Old mill 0‘28
ERZÄHLERIN
Die Umbindetaschen sind geräumig – und praktisch: Die Hände frei, trotzdem jederzeit alles Nötige und Wichtige nah bei sich. Auf dem Feld und in der Werkstatt, genau wie auf dem Markt und im Haushalt.
Barbara Burman ist Textilhistorikerin und hat der Umbindetasche ein ganzes Buch gewidmet: Die verborgene Geschichte vom Leben der Frauen. Denn die Umbindetasche verband Frauen über Standesgrenzen hinweg. Eine verblüffende Entdeckung:
ZSP 04 Barbara Burman Gemeinsamkeiten
Voice Over 04
Eine Herzogin machte dieselbe Erfahrung wie eine Prostituierte oder die Frau des Metzgers. Wir erkannten, dass die Umbindetasche eine gemeinsame materielle Kultur war, die alle Klassen und regionalen Unterschiede überwand. Es war eine Offenbarung, denn die Modegeschichte erzählt von all diesen Unterschieden, aber das stimmt eigentlich nicht.
ERZÄHLERIN
Ob reich bestickt und aus wertvollen Stoffen gefertigt oder aus ein paar alten Flicken recyclet: Frauen nutzten ihre Umbindetasche auf ähnliche Weise, mit den gleichen Gesten, lernten sie zu tragen und wie sie hergestellt wurden. Aber auch:
ZSP 05 Barbara Burman Gemeinsamkeiten 2
Voice Over 05
Unabhängig von Ihrem sozialen Rang hatten Sie diese gemeinsame Erfahrung und die gemeinsame Angst, dass Ihnen auf der Straße etwas weggenommen werden könnte.
Musik: At the crime scene 0‘58
EZÄHLERIN
Eine begründete Angst! Denn die Geschichte der Taschen ist auch ein Stück Kriminalgeschichte. In den deutschen Nachrichtenblättern und Zeitungen häufen sich ab dem 18. Jahrhundert die Anzeigen wegen Taschendiebstahls. Am 25. Juli 1774 meldet der Hamburger Relations Courier zum Beispiel einen Diebstahl in Preßburg:
ZITATOR Hamburger Relations Courier
Eine Galanteriehändlerin steckte hier dieser Tage auf offenem Markte etwa 50 Gulden wohl eingewickelt in ihre Tasche. Ein wohlgekleidetes Weibsbild sahe solche, und näherte sich sogleich dem Standort, um Perlen zu kaufen. Sie ließ sich solche um den Hals von der Händlerin anprobieren, und zog ihr indessen unvermerkt die 50 Gulden aus der Tasche und gieng davon.
ERZÄHLERIN
Arbeitende Frauen und Händlerinnen tragen ihre Taschen im 18. Jahrhundert nicht versteckt unter den Röcken, sondern sichtbar neben ihrer Schürze auf dem Kleid, ihre Waren und Geld schnell griffbereit. Darauf haben es Beutelschneider und Taschendiebe abgesehen. Tausende Verfahren befassen sich allein am Londoner Old Bailey Court zwischen 1674 und 1913 mit Taschenkriminalität
Musik: Z8046179105 Limitation of lifetime 0‘58
Die Gerichtsprotokolle lassen uns tief in die verlorenen und gestohlenen Taschen der Trägerinnen blicken. Wir sehen darin, was ihren Besitzerinnen vor hunderten Jahren so wichtig ist, dass sie es den ganzen Tag lang – auch bei der Arbeit nah bei sich tragen. Mit Kamm, Schleifenband und weiteren Kleidungsstücken bei sich, können Frauen ihr Aussehen schnell verändern – und rund um die Uhr angemessen gekleidet von der Waschküche zum Markt und auf Botengänge gehen.
Dazu Nähzeug, ein kleines Messer, Werkzeuge für die Arbeit, Schlüssel, Obst und Brot. Manche Frauen verstauen Andenken in ihren Taschen, Briefe, wertvolle Schmuckstücke oder Münzen, eingewickelt in Papier, Tücher oder in Tabakdosen.
ZSP 07 Barbara Burman Gericht
VOICE OVER 07
Manchmal glaubten die Magistrate nicht, was die Frauen über den Diebstahl erzählten. Einer von ihnen sagte berüchtigterweise zu einer Frau im Gericht: „Es heißt, dass die Taschen der Frauen keinen Boden hätten.“ Oft nahmen sie auch an, dass es darin chaotisch zuging, ein gieriges Durcheinander, in das man so viel wie möglich stopfen konnte. Diese Vorstellung des Überkonsums und die sehr negativen Bilder weiblichen Verhaltens prägten die Wahrnehmung.
ERZÄHLERIN
Anders als in der Fantasie der Magistrate und Satiriker dieser Zeit, sind die Taschen alles andere als chaotisch –hat alles seinen Ort. Oft befinden sich innerhalb einer Tasche weitere Fächer und Ösen, um den Inhalt zu organisieren und bedeutsame Dinge zu schützen.
Musik: C1608590105 I can’t express my deep love 0‘25
ERZÄHLERIN
Weil die Taschen so nah am Körper getragen werden, geben sie den Frauen ein Gefühl von Eigentum und Privatsphäre – was ihnen, besonders in niedrigeren Ständen und nach der Heirat – die Gesellschaft rechtlich bis ins späte 19. Jahrhundert nicht zugesteht
ZSP 09 Barbara Burman Privat
VOICE OVER 09
Es gibt eine Vermischung von Geheimhaltung und Privatsphäre. Im Zeitraum, den wir untersuchen, beginnt sich die Idee der Privatsphäre auszubreiten – es wird langsam als legitim angesehen, dass eine Frau in ihrem eigenen Zuhause Privatsphäre hat. Das Konzept der Geheimhaltung bleibt jedoch bestehen, und die Tasche befindet sich gewissermaßen in einem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen.
ERZÄHLERIN
Frauen – besonders aus niedrigeren Ständen – werden häufig verdächtigt gegen Sitten und Gesetze zu verstoßen.
[Pause]
Und das tun sie tatsächlich auch oft. Mal mehr und mal weniger geschickt:
Musik: Z8038426125 Nasty Ambush 0‘39
ZSP 10 Barbara Burman Enten
VOICE OVER 10
Aber man konnte eine Menge transportieren. In Warwickshire, im ländlichen Raum zum Beispiel, hat eine Frau mit zwielichtigem Ruf zwei lebende Enten vom Bauern gestohlen. Sie steckte sie in ihre Tasche und rannte über die Felder...
[etwas hörspielig produzieren, mit Geräuschen]
… Der Bauer hinterher. Er wollte die Enten unbedingt zurück und verfolgte sie über die Felder, bis er sie einholte...
[Stille]
...Sie wurde wegen Diebstahls der Enten angeklagt.
[MUSIK WECHSEL/PAUSE]
ERZÄHLERIN
Die Umbindetasche ist so nützlich, dass sie auch nicht dauerhaft abgelegt wird, als sich nach der französischen Revolution die Frauenmode radikal verändert.
Musik: Champ de ble 0‘34
Modern sind nun feine, weiße Musselinstoffe, die sich an die Körper der Frau schmiegen, wie die Kleider antiker Statuen. Unter den oft durchscheinenden Kleidern trägt die Umbindetasche auf, darum haben viele Frauen in der Öffentlichkeit nun kleine Säckchen als Handtaschen bei sich – sogenannte Réticules (Aussprache: Französisch). Sie sind eher Schmuckstück, als Transportmittel.
Diese Empire-Mode vergeht schon um 1820 wieder und ausladende Röcke mit Crinolinen und Korsetts sorgen für die ideale Sanduhrsilhouette. In den üppigen Rockschichten ist jetzt auch wieder Platz für Taschen. Kurzzeitig werden diese sogar in die großen Röcke eingenäht. So, wie in die Hosen, Jacken und Mäntel der Männer, die von Taschen für alle möglichen Zwecke inzwischen regelrecht übersäht sind:
ZSP 11 Barbara Burman Herrentasche
VOICE OVER 11
Wenn man die Taschen an einem dreiteiligen Herrenanzug zählt und dazu die Manteltaschen, dann erreicht man schnell eine zweistellige Anzahl: verschiedene Taschen, Taschen für Tickets, größere Taschen (...) Tasche für Sandwiches, für Flaschen, für Geld...
Musik: Simple life 0‘29
ERZÄHLERIN
. Mit ihren vielen Taschen sind die Männer für jede Situation unterwegs ausgestattet. Das wünschen sich die höheren Damen für ihre Reisen mit Kutschen und der neuen Eisenbahn auch. Die eingenähten Kleidertaschen werden zum Ausdruck von Modernität und ab Mitte des 19. Jahrhunderts breiten sie sich auch auf der gesamten Frauenkleidung aus: Die große deutsche Modezeitung Bazar zeigt Ende der 1870er Jahre dekorative Taschen auf den Röcken und Jacken. Analog zu den vielen spezialisierten Taschen des Herrenanzugs hat die modische Frau nun Taschen für Fächer und sogar Schirme auf dem Rock – scheinbar. Denn die sind zwar hübsch verziert, aber leider ganz und gar nicht brauchbar.
ZSP 12 Hannah Carlson Handtasche
VOICE OVER 12
Dann kommt die Handtasche auf und es entsteht die Vorstellung, dass Frauen keine Taschen brauchen, weil sie ja eine Handtasche haben. Und warum sollten Frauen sich darüber überhaupt beschweren?
ERZÄHLERIN
In fast jeder Ausgabe des Bazars sind nun neue, modische Varianten des Arbeitsbeutels zu sehen – kleine Kästchen und Handtaschen, die ursprünglich für die Aufbewahrung von Nähutensilien gedacht waren.
Denn die Röcke sind jetzt so schmal geschnitten, dass eingenähte Taschen höchstens noch in der voluminös gebauschten Rocköffnung am Po versteckt werden können. Bernadette Banner:
ZSP 13 Bernadette Banner Rückentasche
VOICE OVER 13
Aber sie bestanden auf ihre Taschen! Dort, wo das Kleid sich öffnete, überlappt sich der Stoff. Und dort befand sich eine Tasche. Es ist so einfallsreich. (...) Und es ist auch unnatürlich und ein bisschen seltsam, aber zumindest hatten sie eine Tasche. Und das war besser als keine Tasche zu haben.
Musik: Hobbling down 0‘29
ERZÄHLERIN
Aber: Die Frauen müssen sich jetzt regelrecht verrenken, um an ihre Tasche zu kommen
Der Grund für die merkwürdige Positionierung: Sie soll die Silhouette der Frau – die durch strenge Röcke und steife Korsetts diszipliniert und in Form gebracht wird – nicht durch unansehnliche Beulen und Ausbuchtungen stören. Manche Schneiderinnen und Schneider verweigern ihren Kundinnen die Taschen sogar gänzlich:
ZSP 14 Hannah Carlson Suffragetten
VOICE OVER 14
Die Suffragette Elizabeth Cady Stanton berichtete in den 1890er Jahren amüsant über eine Diskussion mit ihrem Schneider. Sie bestand auf Taschen und der Schneider erwidert: Nein, Nein! Die würden sie ausbeulen. Einfach furchtbar! Wissen Sie was, ich werde ihnen keine Taschen einnähen.
ERZÄHLERIN
Das zeige sich bis heute in der Frauenmode und den mangelnden Taschen darin, sagt die Modehistorikerin Hannah Carlson. Sie hat eine Kulturgeschichte der Tasche verfasst:
ZSP 15 Hannah Carlson Problem
VOICE OVER 15
Die Vorstellung, dass Taschen nicht in Frauenbekleidung passen, beginnt genau in diesem Moment. Es ist der Übergang von viktorianischer Kleidung mit Korsetts und großen Röcken in die moderne Ära. Und das Problem, dass Frauenbekleidung keinen festen Platz für Taschen hat, ist geblieben und hat sich bis ins 20. und 21. Jahrhundert fortgesetzt.
Musik: Think and follow 1 0‘22
ERZÄHLERIN
Statt eine Tasche zu konstruieren, mit der Form und Schnitt des Kleidungsstückes intakt bleiben, nehmen Schneider und öffentliche Kritiker an, dass Frauen diese Taschen ja eigentlich gar nicht benötigen. Diese Haltung wird im Laufe der Jahrhunderte auch in Karikaturen und Satiren deutlich.
ZSP 16 Barbara Burman Opfer
VOICE OVER 16
Die Frauen wurden Opfer der Idee, dass sie nicht zu viel besitzen sollten. Und wenn sie Schlüssel und Geld besaßen, dann war das ein wenig verwerflich – denn es bedeutete, dass die Frau mobil ist. Und das wiederum hieß, dass sie ein gewisses Maß an Unabhängigkeit besaß.
ERZÄHLERIN
Taschen gelten als Privatsache, als Teil der Unterbekleidung und haben lange Zeit etwas anrüchiges an sich. In Satiren und Parodien ziehen Männer über die chaotischen Taschen der Frauen her. In Deutschland entwickelte sich das Wort „Tasche“ zum Schimpfwort für die Frau. Und auch Réticules und Arbeitsbeutel ziehen die Häme zeitgenössischer Kritiker auf sich, die sich an den zur Schau gestellten Habseligkeiten der Frauen stören.
Musik: Organic technology 0‘31
Ende des 19. Jahrhunderts machen die Frauenrechtlerinnen die Tasche zum Politikum.
Die Feministin Alice Duer Miller bringt die ungerechte politische Situation der Frauen 1914 auf den Punkt – Frauen dürfen nicht wählen, zahlen aber Steuern. In ihrer Polemik „Warum wir gegen Taschen für Frauen sind“ münzt sie die absurden Argumente gegen das Frauenwahlrecht auf die desolate Taschenlage um. Darunter:
ZITATORIN Alice Duer Miller Pockets for Women (†1942)
Weil Taschen kein Naturrecht sind.
Weil die meisten Frauen keine Taschen wollen – wäre es anders, hätten sie sie.
Weil Männer Männer und Frauen Frauen sind. Wir dürfen uns nicht gegen die Natur stellen.
ERZÄHLERIN
und schließlich:
ZITATORIN Alice Duer Miller Pockets for Women (†1942)
Weil Männern in ihren Taschen Tabak, Pfeifen, Whiskyflaschen, Kaugummi und kompromittierende Briefe tragen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Frauen die Taschen klüger verwenden würden.
ERZÄHLERIN
Die britischen und US-amerikanischen Suffragetten machen aus den fehlenden Kleidertaschen ein Sinnbild für andere fehlende Rechte im Kampf um Gleichberechtigung, sagt Hannah Carlson.
ZSP 18 Hannah Carlson Karikaturen
VOICE OVER 18
Erstaunlicherweise thematisieren Suffragetten die Taschen ziemlich oft, und ihre Gegner verspotten sie deswegen. Die konservative Presse schreibt damals Dinge wie: „Warum geben wir Frauen nicht einfach Taschen statt des Wahlrechts? Dann sind sie glücklich und hören auf zu meckern.“
Hommage an Kurt Weill 2 0‘18
ERZÄHLERIN
Es kommt anders: Das Wahlrecht erstreiten sich Frauen in Europa und den USA Anfang des 20. Jahrhunderts. Doch Taschen in der Frauenkleidung bleiben weiterhin Mangelware.
Und vor einhundert Jahren macht die Modejournalistin Julie Elias 1924 im Karlsruher Tageblatt eine Beobachtung, die auch heute noch gilt:
ZITATORIN Julie Elias – Die Tasche, 1924
“ Was der Herrenschneider für natürlich und selbstverständlich hält, den Taschenreichtum, das ist für den Damenschneider im allgemeinen Luxus und Modesache.”
ERZÄHLERIN
Im 20. Jahrhundert kommt und geht die Tasche in der High Fashion, wie es dem Zeitgeist beliebt. Aber so große und nützliche Taschen wie in den beiden Jahrhunderten zuvor haben Frauen nie wieder in ihrer Kleidung. In der Fast Fashion von heute ist keine Zeit für das aufwendige Einsetzen und Gestalten von funktionalen und formwahrenden Taschen in die oft figurbetonte Frauenkleidung.
ZSP 19 Hannah Carlson Fast Fashion
VOICE OVER 19
Es ist leicht darauf zu verzichten in der Fast Fashion aber auch im mittleren Preissgegment. Eine Tasche einzufügen ist teuer und außerdem: Frauen haben Handtaschen. Ich glaube, dass ist der Hauptgrund, dass Taschen in der Frauenbekleidung fehlen.
Musik: Opportunity 0‘25
ERZÄHLERIN
Die Handtasche hat sich in den vergangenen hundert Jahren als weiblicher Transportgegenstand durchgesetzt – und zu einem wichtigen Umsatzfaktor in der Modeindustrie entwickelt.
1924 glaubt die Modejournalistin Julie Elias, den hartnäckigsten und langlebigsten Grund gegen die Kleidertaschen endlich überwunden zu haben:
ZITATORIN Karlsruher Tageblatt Julie Elias 1924
“Als die engen und engsten Röcke noch rigoros herrschten, wie oft mußte man da nicht bei schüchternen Anspielungen die Antwort hören:„Eine Tasche? Aber das trägt ja viel zu stark auf." Manchmal gab es zwar Taschen, aber man durfte um des Himmels willen nichts hineintun.(...) Heute hat man andere Sorgen, (...) u. die Männertasche erregt der Frau wirklich keine Bedenken mehr. Sie darf herzhaft auf ihre Tasche schlagen und mit jenem Philosophen sprechen: „Omnia mea mecum porto."
ERZÄHLERIN
„All meinen Besitz trage ich bei mir.“ Doch Ciceros Ausspruch bleibt bis heute eine Wunschvorstellung – zumindest für Frauen: Bei vergleichbaren Jeansmodellen sind die Taschen in Frauenhosen 48% kürzer als die der Männer und die Hand der Trägerin passt kaum hinein: nur in ein Zehntel der Taschen. Das hat eine Datenanalyse von The Pudding 2018 ergeben.
ZSP 20 Hannah Carlson Fazit
VOICE OVER 20
Die Kleidertasche zeigt, dass rückständige Vorstellungen von Geschlecht, von denen wir dachten, wir hätten sie überwunden, immer noch bei uns sind. Auf subtile Weise tauchen sie sogar in unserer Kleidung auf.
Musik: We will still be social o’27
ERZÄHLERIN
Das jahrhundertelange Ringen um Stauraum in der Kleidung der Frauen – ist auch ein Ringen um ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Um Privatsphäre, Eigentum und Mobilität - und damit um weibliche Selbstbestimmung. Bis heute.
Oder wie Youtuberin Bernadette Banner es in ihrem Video über Kleidertaschen ausdrückt:
ZSP 21 Bernadette Banner Youtube Ende
VOICE OVER 21
Ihr seht, liebes Publikum, all die Zeit haben wir schweigend hingenommen, dass die Gesellschaft uns einredet, wir hätten im 21. Jahrhundert endgültig den patriarchalen Einfluss auf die weibliche Freiheit besiegt, während uns in Wirklichkeit unsere materielle Freiheit schrittweise direkt vor unseren Augen geraubt wurde – in Form von teuren Jeans mit falschen Taschen, weswegen es teure Handtaschen braucht. Verwendet diese Information, wie ihr wollt.
Im Gebirge sind Bäume besonderen Lebensbedingungen ausgesetzt und Naturgefahren wie Lawinen, Muren oder Felsstürze setzen dem Wald zu. Zugleich erfüllt er wichtige Funktionen als Schutzwald. Nun verändert die Klimakrise die Höhengrenzen der Baumarten. Das besondere Ökosystem steht vor neuen Herausforderungen. Von Georg Bayerle (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Georg Bayerle
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß
Technik: Christiane Gerhäuser-Kamp
Redaktion: Matthias Eggert
Interviewpartner/innen:
Jörg Ewald (Prof. Dr.; Professur für Botanik und Gebirgsökosysteme, Hochschule Weihenstephan-Triesdorf);
Thomas Feistl (Dr.; Leiter Lawinenwarndienst Bayern);
Philipp Imwinkelried (Bergbauer Obergesteln, Schweiz);
Hans-Peter Mannes (Tonholzhändler, Mittenwald);
Hans Neubauer (Revierleiter Nationalpark Berchtesgaden);
Sabine Rösler (Dr.; Botanikerin, Lehrstuhl für Botanik und Gebirgsökosysteme, Hochschule Weihenstephan-Triesdorf);
Roland Wagner (Förster, Stadt Wien)
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Magie ist ein schillernder Begriff, der sich nicht leicht fassen lässt. Letztlich aber geht es darum, das Schicksal zu beeinflussen mit Praktiken und Ritualen, die modernen Vorstellungen irrational erscheinen. Dennoch zieht sich Magie als kulturgeschichtliches Phänomen wie ein roter Faden bis heute durch alle Epochen und Kulturen der Menschheit. Von Thomas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Hemma Michel, Carsten Fabian
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Josefine Biedinger, Kuratorin und Archäologin am Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Die Sonderausstellung „Magie – das Schicksal zwingen“ ist im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale) noch bis zum 13. Oktober 2024 zu sehen.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Erzähler
Er war die große Liebe ihres Lebens. Eines Tages jedoch verließ er die junge Frau – für eine andere. Und dafür sollte er büßen, der untreue Liebhaber. Schmerzen sollte er erleiden – so lange, bis er zu der Verlassenen zurückkehrte.
Erzählerin
Doch wie sollte das gehen? Sein Herz hatte ja längst anders entschieden. Das ahnte auch die enttäuschte Frau. Daher wählte sie eine spezielle Methode, einen magischen Liebeszauber. Sie nahm sich einen 30 Zentimeter großen Block aus Pflaumenholz und fing an zu schnitzen. Schon bald waren die Umrisse eines Menschen erkennbar; zwar nur grob, aber um künstlerische Details ging es ja nicht. Kaum war die Puppe fertig, schlug ihr die liebeskranke Frau eiserne Nägel ins Holz. Vier in den Schädel, und einen mitten ins Herz hinein. Der schmerzhafte Liebeszauber konnte nun wirken.
Erzähler
Glaubt man den Quellen, so hat die Rachepuppe ihr Ziel nicht erreicht. Der Ex kehrte nie wieder zu seiner früheren Geliebten zurück. Dass die Holzpuppe dennoch zu einem wertvollen Objekt für die Wissenschaft wurde, hat mit ihrem Herstellungsdatum und ihrer Herkunft zu tun. Das Nadelpüppchen war nämlich kein Jahrtausende altes Relikt, wie wir es aus Mesopotamien, Ägypten oder dem alten Rom kennen. Es war erst in den 1950er Jahren entstanden, im nördlichen Saarland. Und 2024 landete es auf einem Ausstellungsplakat im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale. Der Titel der Schau: „Magie – Das Schicksal zwingen“
Musik: Mystic tendency (c) 0‘28
Erzählerin
Magie ist ein schillernder Begriff, der sich nicht leicht fassen lässt. Um ihn ranken sich zahlreiche Geschichten von übernatürlichen Kräften und rituellen Handlungen, von geheimnisvollen Sprüchen und Gegenständen, mit denen sich angeblich handfeste Wirkungen erzielen lassen.
Erzähler
So weit, so rätselhaft. Wer sich wissenschaftlich mit dem Thema befasst, um Licht ins Halbdunkel der magischen Welt mit ihren Voodoo-Püppchen, Hexenfläschchen und Nachgeburtstöpfen zu bringen, braucht eine genaue Definition des Begriffs. Die studierte Archäologin Josefine Biedinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Landesmuseum Halle. In der Sonderausstellung, sagt Biedinger, werde Magie verstanden als eine erlernbare Fähigkeit,
ZSP 1 Bied was 0,17
Die von jedem aufgenommen werden kann. Die sich von Religion zum Beispiel insofern unterscheidet, dass man keine Götter braucht, die man auf seine Seite ziehen muss, durch Opfer zum Beispiel oder beten, sondern dass es etwas ist, das man selber ausführen kann, um eben sein Schicksal selbst zu bestimmen.
Erzählerin
Sein Leben in die eigene Hand nehmen, um die persönliche Zukunft positiv zu gestalten – dieses Anliegen erscheint durchaus plausibel. Die Wahl der Mittel hingegen aus heutiger Sicht eher nicht. Und doch gab es zu allen Zeiten magische Bemühungen, sagt Josefine Biedinger, weil Menschen stets Hoffnungen und Ängste haben.
ZSP 2 Bied warum 0,20
Jeder wollte schon immer sein Hab und Gut schützen, sein Haus schützen, seine Familie schützen. Und weil die Menschen eben so viele Sorgen hatten oder Wünsche und die sich nicht immer durch ihre eigenen Taten herbeiführen ließen, hat man eben versucht, sich auf andere Mittel zu berufen, um das dann auch wirklich herbeizuführen.
Musik: Lydian 0‘38
Erzähler
Die Mittel der Magie! Sie gehorchen oft eigenen Gesetzen, die von den Naturgesetzen abweichen. Magische Urformen finden wir vermutlich schon in der Steinzeit, sagt die Archäologin Biedinger. Bereits damals trugen Menschen Amulette aus fossilen Muscheln oder nutzten Farben, um Zeichen an die Wände ihrer Höhlen zu malen. Magie als kulturgeschichtliches Phänomen zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Menschheitsgeschichte.
ZSP 3 Bied Quellen 0,28
Die ersten schriftführenden Kulturen in Mesopotamien und Ägypten haben alle Belege von Magie. Wir haben diverse griechische Geschichtsschreiber, die eben über Magie in allen Formen reden. Wir haben römische Geschichtsschreiber, die sich teilweise auch lustig drüber machen. Also zum Beispiel bei der Zukunftsschau sagen, ja, das ist natürlich alles Humbug. Also die Kritiker hat es auch immer gegeben. Insofern in jeder Kultur, zu der wir Schrift haben, haben wir auch irgendeine Erwähnung von Magie, in welcher Form auch immer.
Musik: Ancient world 0‘55
Erzählerin
Gewisse Grundmuster dieses globalen Phänomens kehren immer wieder. Zum Beispiel die Vorstellung, dass eine Puppe einen bestimmten Menschen repräsentiere. Was ich ihr antue, etwa mit Nadeln, wirke sich dann auch auf den realen Menschen aus. Wie im Kleinen, so im Großen! Dieses Denken in Analogien ist gepaart mit der Vorstellung von Ursache und Wirkung. Denn Mikrokosmos und Makrokosmos, so die Annahme, beeinflussen sich gegenseitig.
Erzähler
Vor diesem Hintergrund erscheint es auch plausibel, wenn man eine grüne Eidechse blendet und in ein Glas sperrt, in der Hoffnung, die Selbstheilungskräfte des Tieres würden bald auf den Menschen überspringen, der sein Augenleiden kurieren will.
Erzählerin
Die magische Methode funktioniert immer. Wenn man dran glaubt. Sollte sie tatsächlich mal nicht funktionieren, dann hat eben der Magier beim Ritual was falsch gemacht. Zum Beispiel den Zauberspruch nicht richtig aufgesagt. Das magische System an sich aber wird nicht in Frage gestellt. Allenfalls die angestrebten Ziele. Denn seit jeher werden zwei Formen von Magie unterschieden.
ZSP 4 Bied zwei Formen 0,20
Die sogenannte weiße Magie, die eben dazu da ist, anderen Leuten zu helfen, sich selber zu helfen, Krankheiten zu heilen oder sich selber zu schützen. Da fallen eben auch Amulette rein, die Unheil abwenden sollen. Das andere ist die schwarze Magie, die eben dazu da ist, anderen Leuten seinen Willen aufzuzwingen, anderen Leuten zu schaden, Rache zu üben, solche Dinge.
Musik: School of wizards 0‘38
Erzähler
Zur schwarzen, also bösen Magie wird übrigens auch der Liebeszauber gerechnet, weil er das Opfer manipulieren und um seinen freien Willen bringen will. Die magische Trennlinie zwischen schwarz und weiß lässt sich freilich nicht immer scharf ziehen. Auch wenn es seit alters versucht wird. Im 18. Jahrhundert vor Christus zum Beispiel, im Codex Hammurabi. Diese berühmten Sammlungen von Rechtssprüchen aus dem antiken Mesopotamien regelten alle möglichen Aspekte des Lebens. Auch Zauberei und magische Praktiken.
Erzählerin
Wenn etwa jemandem vorgeworfen wurde, er habe sich schwarz-magischer Methoden bedient, um einem anderen zu schaden. Der Beschuldigte wurde vor Gericht gestellt und musste in einen Fluss springen. Ging er unter und ertrank, dann war er schuldig. Das Haus des ertrunkenen Schwarzmagiers bekam sein Kontrahent. Ging aber der Beschuldigte nicht unter, dann galt er als unschuldig. Und sein Ankläger wurde hingerichtet.
Erzähler
Mit heutigen Rechtsvorstellungen ist dieses Verfahren nicht in Einklang zu bringen. Der Zweck des Verfahrens aber wird deutlich, sagt Josefine Biedinger: Zauberei und verbotene schwarz-magische Praktiken sollten verhindert werden.
ZSP 5 Bied alltäglich 0,22
Wo aber auch gleichzeitig klar wird, dass andere Formen von Magie erlaubt sind. Also dass Magie einfach etwas sehr Alltägliches war für den Menschen. Wir kennen aus dem mesopotamischen Raum zum Beispiel auch ein Hexenabwehrritual, das benutzt wurde, um den Fluch einer Hexe von sich abzuwenden. Also auch da wieder der Schutz vor schwarzer Magie. Also diese Angst war sehr reell für die Leute, die zu dem Zeitpunkt gelebt haben.
Musik: Historic secrets 0‘48
Erzählerin
Und keineswegs nur damals. Denn Ängste gibt es zu allen Zeiten, in allen Kulturen. Zum Beispiel die Angst vor Wiedergängern, die – auf unnatürliche Weise ums Leben gekommen – weiter als Untote auf der Welt herumspuken. Oder die Angst vorm bösen Blick. Als „Fenster der Seele“, sagt man, sei das menschliche Auge besonders empfänglich für missgünstige, unheilbringende, neidvolle Blicke. Die gelte es abzuwehren, etwa mit vulgären Gesten wie der Ficus-Geste, bei der der Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt wird.
Erzähler
Vor bösen Blicken schützen angeblich auch die Darstellungen von Augen. Schon die alten Ägypter malten sie auf den Bug ihrer Schiffe, damit diese wieder heil in den Hafen zurückkehrten. Solche Augen sind heutzutage noch an modernen Kreuzfahrtschiffen zu sehen. Auch „Magie-to-go“ war stets sehr beliebt: Objekte, die man sich um den Hals hängt, damit sie vor bösen Blicken schützen – Augenamulette etwa oder Phallus-Amulette.
ZSP 6 Bied Talisman 0,21
Das Amulett schützt mich vor Dingen, der Talisman dagegen soll mir Glück bringen. Also das eine wehrt etwas ab und das andere führt etwas herbei. Die können beide aus allem Möglichen hergestellt sein. Das kann zum Beispiel auch eine Hasenpfote sein. Es muss eine Bedeutung haben für mich als Person. Und diese Bedeutung kann natürlich daher kommen, dass ich denke, dass das Material irgendwie besonders ist. Das muss aber nicht so sein.
Erzählerin
Manchen Gegenständen wird besondere Schutzkraft nachgesagt. Dem Georgs-Taler zum Beispiel, der bei Soldaten sehr gefragt war. Denn so eine Münze mit dem Abbild des heiligen Georg soll einst im Dreißigjährigen Krieg einem sächsischen Offizier das Leben gerettet haben: die tödliche Gewehrkugel war in der Münze steckengeblieben.
Erzähler
Der perfekte Glücksbringer fürs Schlachtengetümmel also. Genau in die andere Richtung sollten die Täfelchen aus Blei wirken, die in der römischen Antike gern zum Einsatz kamen. Gegner aller Art, sei es im Sport, vor Gericht oder im Geschäftsleben, wurden mit solchen Täfelchen verflucht.
Musik: Archaic power 0‘40
Erzählerin
Zum Beispiel ein gewisser Artemios, der als Wagenlenker der blauen Circus-Partei in Rom um 400 nach Christus lebte. Mit herkömmlichen Methoden war dem erfolgreichen Rennfahrer der Sieg offenbar nicht streitig zu machen. Deshalb rief ein missgünstiger Rivale die Göttinnen und Dämonen gegen Artemios an,
Zitator:
„dass er kopflos, fußlos, kraftlos ist mit den Pferden der Blauen.“
Erzähler
Auch Bayern kommt in der Magie-Ausstellung von Halle nicht zu kurz. Am Beispiel von Wetterkerzen, wie sie heutzutage noch in den Devotionalien-Läden bayerischer Wallfahrtsorte zum Kauf angeboten werden. Solche geweihten Kerzen sollen vor Sturm, Hagel und Blitzschlag schützen. Obwohl Blitzableiter und Elementarversicherung längst erfunden sind.
Musik: Perchten-Tanz 0‘43
Erzählerin
Ebenfalls aus Bayern, nämlich dem oberbayerischen Kirchseeon, stammen Bilder von zeitgenössischen Perchtenmasken. Mit solchen Holzmasken ziehen junge Männer bei traditionellen Perchtenläufen durch die Straßen, um lärmend die bösen Geister des Winters zu vertreiben. Eine Tradition heidnischen Ursprungs, die lange Zeit von der Kirche verboten war.
Erzähler
Denn solche frei vagabundierenden magischen Praktiken, die potenziell jeder ausüben kann, benötigen keinen festen Glauben an eine Religion. Sie brauchen auch keine Götter und keine Priester. Was Kirchenoberen natürlich nicht gefallen kann. Andererseits sind Magie und Religion immer schon eng miteinander verbunden gewesen, sagt Josefine Biedinger.
ZSP 7 Bied Magiegötter 0,20
Man kann gerade in den alten Kulturen Magie nicht hundertprozentig von Religion trennen, weil es in den frühen Wüstenkulturen, die Magie praktiziert haben, spezifische Götter gab. Also die Hekate bei den Griechen, den Tod bei den Ägyptern, die Mesopotamier hatten gleich mehrere Magiegötter. Also es gab immer jemanden, der irgendwie dafür zuständig war.
Musik: Archaic secrets 1‘00
Erzählerin
Letztlich kommt keine Religion ohne Magie aus. Die Wunder zum Beispiel, die in der katholischen Kirche als ein Kriterium für Heiligsprechung gelten, haben durchaus magische Qualitäten. Offiziell als Wunder anerkannt werden sie aber erst nach sorgfältiger Prüfung durch höchste kirchliche Stellen. Alles andere gilt als Aberglauben und Zauberei.
Erzähler
Der „Magus“, der „Wissende“ war einst gleichbedeutend mit einem Priester der zoroastrischen Religion im alten Persien. Das Wort Magie wanderte dann durch die Jahrhunderte und wandelte sich. Auch im Neuen Testament ist von einem Magier namens Simon die Rede, der die Menschen mit Zauberei beeindruckte. Wegen seiner Lehren und Praktiken wird Simon oft als erster Häretiker des Christentums bezeichnet.
Erzählerin
Auch Kirchenväter wie Tertullian, Hieronymus und Augustinus setzten sich kritisch mit Magie auseinander und verurteilten ihre Praktiken. Weil die sich aber nicht völlig ausmerzen ließen, wurden sie mitunter ins Glaubenssystem integriert. Vor allem in der Volksreligion der einfachen Leute gab es kein strenges „Entweder oder“, sagt Josefine Biedinger.
ZSP 8 Bied Religion 0,35
Wir haben zum Beispiel diese schöne Münze in der Ausstellung, die auf der einen Seite eine christliche Darstellung hat, nämlich ein Herz mit durchbohrten Händen und Füßen, also mit den Jesus-Malen und auf der anderen Seite aber das Sator-Arepo-Quadrat, also etwas, was im magischen Kontext benutzt wird, wo offensichtlich sich jemand gedacht hat, okay, er geht auf Nummer Sicher und nimmt einfach beides.
Musik: Historic secrets (b) 0‘37
Zitator
„SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS“
Erzähler
Seine magische Wirkung entfaltet dieser Sator-Arepo-Spruch, weil er ein Satzpalindrom ist. Man kann ihn vorwärts oder rückwärts lesen, von oben nach unten oder umgekehrt – der Satz lautet immer gleich. Schon in der römischen Antike kam das den Menschen magisch vor. Und so wurde Sator-Arepo zur Schutzformel, die vor Übel aller Art bewahren sollte.
Erzählerin
Dass dieser Satz nicht einfach zu übersetzen ist, macht ihn noch geheimnisvoller. Manche sehen in Arepo einen Eigennamen, andere lesen den Spruch im Sinne von „Der Schöpfer hält die Werke in Gang". Oder sinngemäß „Man erntet, was man sät“.
Erzähler
Andere Zauberformeln wie „Hokuspokus“ oder „Abrakadabra“ sind längst sprichwörtlich geworden. Als magisch klingendes Kauderwelsch, das oft auch zur inneren Anwendung gebracht wurde. Nämlich auf sogenannten Schluckzettelchen. Auf die hat man Zaubersprüche geschrieben, danach wurden sie zusammengefaltet und von einem Hilfesuchenden verschluckt.
ZSP 9 Bied Schluckzettelchen 0,21
Die Kirche hat das natürlich nicht gerne gesehen, konnte es aber auch nicht einstellen. Und da sieht man die Christianisierung sehr schön, dass es dann eben kein Verbot von Schluckzettelchen gibt, sondern die haben dann einfach ihre eigenen hergestellt mit einem Marienbild drauf. Und dann hat man statt den heidnischen Zaubersprüchen stattdessen die Gottesmutter verschluckt und das hat dann genauso gut verholfen. Also es war dieselbe Tradition, bloß mit neuer Farbe.
Musik: White whereever you look 0‘27
Erzählerin
Die Menschen früherer Zeiten waren nicht dümmer als wir heute. Sie hatten nur andere Möglichkeiten, Herangehensweisen und Weltanschauungen, um Lösungen für ihre Probleme zu finden. So waren magische Rituale und Praktiken für sie wichtige und durchaus praktische Mittel im Kampf gegen Krankheiten.
ZSP 10 Bied Medizin 0,21
Das ganze Medizinische ist ja an einem bestimmten Zeitpunkt auch immer irgendwie mit Magie behaftet, dass sie sagen, ah, okay, jetzt haben mich eben die Götter geheilt und dabei war es eben irgendeine Salbe. Das ist ja schon bis zu einem gewissen Grad fast schon Wissenschaft gewesen. Man musste wissen, wie man diese Salben zusammen mischt, ohne dass man Leute vergiftet oder eine andere Wirkung erzielt. Es war bloß einfach ein magischer Gedanke dahinter.
Erzähler
Nicht umsonst wurden Magie und Zauberei seit der Antike als „Kunst“ bezeichnet – Kunst im Sinne von Wissenschaft. Auch wenn die „Wissenschaftlichkeit“ dieser „ars magica“ aus heutiger Perspektive zweifelhaft erscheinen mag.
Erzählerin
Ein berühmtes Beispiel für einen Gelehrten des frühen 16. Jahrhunderts ist Doktor Johann Georg Faust, der in Deutschland viel Aufsehen erregte als Magier, Alchemist, Astrologe und Heiler. Abenteuerliche Legenden rankten sich um diesen Doktor, der schließlich Eingang fand in die große Literatur. Johann Wolfgang von Goethe schuf zu Beginn des 19. Jahrhunderts in „Faust“ eine Figur, die in ihrem Streben nach Wissen auch einen Pakt mit dem Teufel nicht scheute.
Musik: Deserted and destroyed 0‘40
Zitator:
Drum hab ich mich der Magie ergeben,
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund.
Erzählerin
Seit Ende des 15. Jahrhunderts wurden magische Praktiken rigide bekämpft. Bei den sogenannten Hexenverfolgungen, die ihren Höhepunkt zwischen 1570 und 1630 erlebten, wurden in Europa schätzungsweise 40.000 bis 60.000 Menschen hingerichtet. Vor allem Frauen. Es ist ein trauriges Kapitel europäischer Geschichte, sagt Josefine Biedinger.
ZSP 11 Bied Hexen 0,28
Dass man eben alles verfolgt hat, was irgendwie anders ist, vor dem man irgendwie Angst haben kann. Zum Beispiel Wissen, was einem sich selber nicht erschlossen hat. Also letzten Endes ist ja ganz viel von dem, was wir heute unter Magie verstehen, nichts anderes gewesen als sehr altes Wissen. Also zum Beispiel Kräutermedizin, das, was wir jetzt als magische Kräuter bezeichnen, das ist im letzten Ende einfach nur in irgendwelchen diversen Salben benutzt worden. Und das hat man dann natürlich alles verfolgt, einfach weil man es nicht verstanden hat und weil man es auch nicht konkurrierend wollte zum eigenen Glauben.
Musik: Ti-Roro drums solo 0‘28
Erzähler
Wenn heute von Magie die Rede ist, lässt das Wort Voodoo meist nicht lange auf sich warten. Obwohl man die Voodoo-Religion in Haiti keineswegs auf Magie reduzieren kann, gibt es in ihr Untergruppen, die angeblich heute noch magische Rituale einsetzen. Wie zum Beispiel die Bizango-Geheimgesellschaft. Im großen Eingangsbereich des Landesmuseums von Halle steht eine Installation mit modernen Kunstwerken aus Haiti. Zu sehen sind sieben lebensgroße Bizango-Figuren, eingesperrt in einem Käfig. Jede einzelne hat ihre ganz bestimmte Funktion im magischen Ritual.
ZSP 12 Bied Bizango 0,24
Diese Geheimgesellschaft zum Beispiel benutzt angeblich, weil das ist alles nicht belegt, diese Figuren, also die Bizango-Armee wird das genannt, um diverse Geister auf ihre Seite zu ziehen, um eben für Sicherheit auf den Straßen zu sorgen. Das ist eigentlich der Hintergrundgedanke, dass da, wo zum Beispiel die Polizei nicht durchgreift und nicht für Sicherheit sorgt, dass man da Magie benutzt, um das dann selber durchzusetzen.
Erzählerin
Solche Rituale mögen uns in modernen Industrie-Gesellschaften seltsam vorkommen. Aber sind wir selbst völlig frei von magischem Denken?
Musik: "A Kind of Magic" 0‘25
Erzählerin
Nicht nur in Popsongs wie „A Kind of Magic“ von Queen oder in Harry-Potter-Verfilmungen spielt Magie heute eine Rolle. Auch im Alltag bleibt das Phänomen lebendig. Seit Jahrzehnten befragen Meinungsforscher Menschen zum Thema Aberglauben. Die Ergebnisse sind recht konstant. Auch in unserer durch Technik und Wissenschaft geprägten Zeit haben Magie und Aberglaube ihre Anziehungskraft nicht verloren. 2021 gaben immerhin 30 Prozent der Befragten an, hin und wieder abergläubisch zu sein. Frauen mit 39 Prozent deutlich häufiger als Männer, bei denen es nur 21 Prozent waren.
Erzähler
So sah jede und jeder Zweite in einem vierblättrigen Kleeblatt einen Glücksbringer, klopfte auf Holz oder trug einen Glückspfennig bei sich. Und immerhin 39 Prozent jener, die hin und wieder abergläubisch sind, glauben, dass die Zahl 13 Unglück bringt. Auch der Blick ins Horoskop der Tageszeitung gehört für viele zum morgendlichen Frühstücksritual.
Erzählerin
Nachfrage gibt es also selbst in unseren Zeiten noch zuhauf. Was dann mitunter kommerzielle Anbieter „magischer“ Dienstleistungen auf den Plan ruft. Vor allem im Internet.
ZSP 13 Bied heute 0,23
Es werden Liebeszauber angeboten, es werden Schadenszauber angeboten, es werden Glückszauber angeboten, Geldsegen zum Beispiel. Es gibt diverse Urteile auch, tatsächlich moderne, in denen Geldmacher in Anführungszeichen verurteilt wurden, weil sie eben Leuten das Geld aus der Tasche gezogen haben mit magischen Versprechen. Also es ist schon noch ein aktuelles Thema, dass die Leute weiterhin beschäftigt.
Musik: Cosmetic wonder 0‘39
Erzähler
Um einiges billiger als der Internet-Zauber sind vermutlich die Vorhängeschlösser, die manche Paare an Brücken oder Zäunen befestigen, um den geliebten Partner an sich zu binden. Möglichst für immer, weshalb auch der Schlüssel zum Schloss weggeworfen wird. Bleibt zu hoffen, dass diese Art von Magie wirkt. Immerhin würde man sich so eine schmerzhafte Trennung ersparen. Und eine Rachepuppe, die mit Nadeln durchbohrt wird, müsste man dann auch nicht basteln.
Er war weder gelernter Diplomat noch Mitglied einer Volkspartei. Trotzdem gilt Gustav Stresemann als herausragender Staatsmann der Weimarer Republik. 1923 wurde er Reichskanzler und Außenminister - in einem Jahr der Krise. Zwar dauerte Stresemanns Kanzlerzeit nur wenige Monate, doch schaffte er in dieser Zeit den Umschwung. Von Rainer Volk (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Rainer Volk
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Clemens Nicol
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Christina Stresemann, Enkelin von Gustav Stresemann.
Prof. Andreas Rödder, Co-Vorsitzender der Gustav-Stresemann-Gesellschaft, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Erzähler:
Berlin, 6.Oktober 1929. Reichsaußenminister Gustav Stresemann wird mit einer Trauerprozession durch das Regierungsviertel zu Grabe getragen. Eine Militärkapelle spielt; fast alle deutschen Spitzenpolitiker begleiten den Sarg. Und der Reichsrundfunk wagt seine erste „Live“-Reportage von einem Großereignis. Reporter ist Alfred Braun; er berichtet vom Sitz des Auswärtigen Amtes in der Wilhelmstraße:
(O-Ton Reportage)
Der düstere Pomp ist mehr als nur ein „Wahren der Form“. Er zeigt: Das politische Berlin spürt, was der Tod Stresemanns für die Weimarer Republik bedeutet – den Verlust einer ihren zentralen Figuren – eines Vollblut-Politikers, der mithilfe von Diplomatie und Verhandlungen die Isolierung Deutschlands nach der Niederlage im 1.Weltkrieg überwinden wollte.
OT 2:
„Er hat ja versucht, die Lasten, die Deutschland durch den Versailler Vertrag auferlegt bekommen hatte, erträglich zu gestalten. Und da war für ihn das Mittel der Wahl, Minderung der Reparations-Zahlungen, Abkommen mit Frankreich.“
Erzähler:
- erklärt Christina Stresemann, die Enkelin von Gustav Stresemann. Seine Politik sei einerseits pragmatisch gewesen - aber nicht nur:
OT 3:
„Er war auf der anderen Seite auch Idealist und wollte unbedingt, dass Deutschland in den Völkerbund aufgenommen wird. Das war ihm ganz wichtig, dieser Weg – und dieser friedliche weg.“
Erzähler:
Stresemann gilt heute als eine Art „Urahn“ der Aussöhnung Europas, symbolisiert durch das Abkommen von Locarno, sagt der Historiker Prof. Andreas Rödder, Co-Vorsitzender der Gustav-Stresemann-Gesellschaft.
OT 4:
„Weil das der große Vertrag ist, unter Beteiligung der Briten, mit den Franzosen. Locarno markiert – und das ja keine sieben Jahre nach dem Ende des Krieges – die Wiederaufnahme Deutschlands auf gleicher Ebene in die Riege der europäischen Großmächte.“
MUSIK 1 Fiona Brice: Ascending 1’07
Erzähler:
Der Weg zum „großen Staatsmann“ ist bei Gustav Stresemann indes lang: Er ist ein Kind des Kaiserreichs, hat sieben Geschwister. Sein Vater füllt in Berlin in einer kleinen Fabrik Bier ab und ist Gastwirt. Ein Aufsteiger-Milieu, das die Monarchie und Preußens Militär bejubelt. Stresemann zeigt schon als Schüler ungewöhnliche Intelligenz. Unmittelbar nach seinem Wirtschaftsstudium beginnt er, für Industrie-Verbände zu arbeiten – weil er so gutes Geld verdient. 1914, praktisch zeitgleich mit dem Ausbruch des 1.Weltkriegs, wird er Abgeordneter für die Nationalliberale Partei im Reichstag und unterstützt dort die Absicht Gebiete zu annektieren, die im Krieg erobert werden. Er erlebt im Reichstag aber auch 1918 das Ende der Weltmacht-Ambitionen des Reiches. Welche Unsicherheit dieser Epochen-Bruch auslöst, zeigt eine Rede von Reichstagspräsident Constantin Fehrenbach aus dem Oktober 1918, der Stresemann höchstwahrscheinlich vor Ort beiwohnt:
OT 5: (Tondokumente zur Deutschen Geschichte: Friedrich Ebert 4. Februar 1871 - 28. Februar 1925 Z1457 / Archiv Verlag ?? // Oder: Stimmen des 20. Jahrhunderts: Die Reichskanzler der Weimarer Republik in Originaltonaufnahmen / 14653 / DRA production ??)
Rede Fehrenbach) – „Eine neue Zeit ist im politischen Leben des deutschen Volkes angebrochen. Es ist selbstverständlich, dass manche Kreise im Hinblick auf die Großtaten der Vergangenheit diesem Neuen kritisch, zweifelnd – ja sogar ablehnend gegenüberstehen. Wir erhoffen von den Leistungen der neuen Zeiten eine versöhnende und klärende Wirkung…“
(langsam ausgeblendet unter Erzähler)
Erzähler:
Der Waffenstillstand vom November 1918, die Flucht Kaiser Wilhelms II. ins niederländische Exil und der Versailler Friedensvertrag führen dazu, dass Gustav Stresemann seine bisherigen politischen Überzeugungen ändert. Er spürt: Die Monarchie hat ausgedient – und er wird zum politischen Brückenbauer im Dienst der Republik. Andreas Rödder:
OT 6:
„In den Jahren nach dem 1. Weltkrieg, als sich weite Teile der Gesellschaft, und zwar sowohl nach links wie nach rechts radikalisieren, in dem Moment entwickelt sich Stresemann zu einem integrativen Mann der Mitte. Und er sieht, was diese Radikalisierung, insbesondere auf der rechten Seite, mit sich bringt. Und zum anderen: Stresemann ist in der Lage, und das zeichnete ihn außenpolitisch gegen fast allen anderen aus, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen.“
Erzähler:
Anders als über den Politiker ist über den Privatmann Gustav Stresemann nur wenig bekannt. So ergibt eine Schnell-Recherche im Internet kaum mehr als die Tatsache, dass er im Jahr 1903 geheiratet und das Ehepaar zwei Söhne großgezogen hat. Wie erklärt sich das? War es Diskretion – Abschotten des Privaten vom Öffentlichen? Enkelin Christina Stresemann erklärt es anders:
OT 7:
„Vielleicht liegt das auch daran, dass er als Politiker, wie auch die heutigen Politiker, sehr eingespannt war und vielleicht hatte er auch gar nicht so ein richtiges Privatleben. Ein ausgedehntes Familienleben gab’s jedenfalls in der Zeit, für die er steht, in der Weimarer Republik, in den 20er Jahren, nicht. Er war ja ständig unterwegs und viel beschäftigt.“
Erzähler:
Die Enkelin ist sich in einem Punkt sicher: Die Ehe von Gustav und der fünf Jahre jüngeren Käte Stresemann, die aus einer zum Protestantismus konvertierten jüdischen Kaufmannsfamilie stammt, ist glücklich.
OT 8:
„Meine Großmutter war, glaub‘ ich, auch ein wenig ausgleichend. Weil sie hat auch dann Gesellschaften gegeben - und so das gesellschaftliche Leben organisiert und galt als glänzende Gastgeberin - also das harmonierte, glaube ich, sehr gut, die beiden zusammen.“
Erzähler:
Wichtig ist: Gustav Stresemanns Gesundheit ist von Jugend an schwach. Deshalb muss er im 1.Weltkrieg nicht als Soldat dienen. Doch auch das Leben eines Berufspolitikers verlangt seiner Physis viel ab. 1919, mit 31 Jahren, hat er einen ersten Herzinfarkt.
OT 9:
„Er hatte die so genannte „Basedow’sche Krankheit“, das ist eine Schilddrüsenerkrankung. Wenn man heute auch zum Beispiel weiß, wie wichtig Bewegung für die Gesundheit ist, muss man feststellen: Er hat keine ausgedehnten Wanderungen oder so unternommen. Er war eigentlich immer nur unterwegs. Jedenfalls ab den 20er Jahren. Also da kann man sich vorstellen, dass das seiner Gesundheit natürlich überhaupt nicht zuträglich war.“
OT 10 /MUSIK 2
(Couplet: C1074900 016 Otto Reutter – „O, Du liebes deutsches Gretchen“ 0’50)
Erzähler:
Dieses Couplet von Otto Reutter aus den 1920er Jahren amüsiert sich darüber, dass sich zwar die Nationalfarben geändert haben - Schwarz-Rot-Gold und nicht mehr Schwarz-Weiß-Rot, wie im Kaiserreich – die Geisteshaltung der Deutschen aber nicht. Gustav Stresemann ist dem Zeitgeist in dieser Hinsicht weit voraus. Was selbst seine Freunde im liberalen Lager anfangs anzweifeln. Als sich Ende 1918 der politische Liberalismus in zwei Parteien spaltet, verweigert ihm die Deutsche Demokratische Partei DDP die Mitgliedschaft. Stresemann schließt sich der Deutschen Volkspartei DVP an, die weiter rechts steht, wird ihr Vorsitzender – und Fraktionschef im Reichstag. Durch sein Talent als Redner und Verhandler wird die DVP zum wichtigen Akteur in Krisensituationen. Das beste Beispiel ist die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Januar 1923.
OT 11 / ATMO: (Geräusch „Infanterie und Kavallerie gehen vorbei“)
Erzähler:
Es sind dramatische Szenen, die der Sonderkorrespondent des Berliner Tageblatts am 11.Januar 1923 aus Essen meldet:
Zitator:
„Gegen 2 Uhr erfolgte der Einmarsch der Franzosen in die Stadt. Voran einige Radfahrer, ihnen folgend Infanterie und anschließend einige tausend Mann Kavallerie im Trab. …Sämtliche öffentliche Gebäude und der Bahnhof wurden ebenso wie sämtliche Straßenkreuzungen durch Posten mit aufgepflanztem Bajonett besetzt.“
Erzähler:
Anlass für den Ruhreinmarsch sind Reparationen, die das Deutsche Reich laut Versailler Vertrag leisten muss – wegen der Wirtschaftskrise im Land aber schuldig geblieben ist. Die Besetzung der Region mit ihren Kohle-Bergwerken und ihrer Stahlindustrie soll ein „Faustpfand“ sein, um die Lieferung dieser Rohstoffe zu erzwingen. – Eine Fehlkalkulation. Denn die Regierung in Berlin ermuntert die Einheimischen zu passivem Widerstand durch einen Generalstreik. Es kommt zu Sabotage-Anschlägen – worauf die Kommandeure der Besatzungstruppe tausende Gefängnisstrafen verhängen, Beamte und Angestellte ausweisen, die ihren Befehlen nicht gehorchen und auf Demonstranten schießen lassen. –
MUSIK 3 Ulrike Haage: Universum II 0’57
Eine Sackgasse. Die Weimarer Republik zahlt den Streikenden und Ausgewiesenen ihre Löhne weiter – obwohl das teuer ist. Sie muss dafür die Notenpresse anwerfen – was eine Hyperinflation auslöst. Im Juli 1923 schreibt die „Deutsche Allgemeine Zeitung“
Zitator:
„Unruhe und Nervosität greifen Platz. Man stürzt sich auf die Läden. Man kauft, was zu kaufen ist. Man hamstert notwendige und überflüssige Dinge. Die Teuerung wächst. Alle Millionen reichen nicht für den dringendsten Magenbedarf .
Erzähler:
Die Geldentwertung hält über den Sommer und bis in den Herbst hinein an. Sie treibt Millionen Deutsche in größte Not und lässt sie glauben, sie würden von der Politik im Stich gelassen. Im August 1923 ist Reichskanzler Wilhelm Cuno so umstritten, dass er zurücktreten muss. Rasch kommt eine „Große Koalition“ zustande - mit Ministern aus SPD, katholisch-konservativem Zentrum und den beiden liberalen Parteien DDP und DVP. Stresemann wird in Personalunion Kanzler und Außenminister – ein wahres Himmelfahrtskommando. Denn die Ruhrbesetzung muss beendet UND die Hyperinflation gestoppt werden. Dazu kommen innenpolitische Krisen in Sachsen und Thüringen. Hier wollen paramilitärische Hundertschaften der Kommunisten gewählte Regierungen stürzen, während in Bayern ultrarechte Verbände drohen, das ganze Weimarer System auszuhebeln. Gustav Stresemann meistert die Situation bemerkenswert gut, sagt Andreas Rödder:
OT 12:
„Er schafft drei Dinge: Erstens diesen nicht mehr aufrechtzuerhaltenden passiven Widerstand zu beenden – ohne dass das ganze Reich zusammenbricht! Zweitens: Eine Währungsreform vorzubereiten. Und drittens mit seiner Art der Einstellung des Ruhrkampfes, mit der Währungsreform und mit dem Antrag auf die Einsetzung einer Überprüfungskommission für die Reparationen, schafft Stresemann im Grunde die Wende für die Weimarer Republik.“
MUSIK 4 Bela Dajos: Das Lila Lied 1’10
Erzähler:
„Wende“ bedeutet: Innerhalb weniger Wochen stabilisiert sich die Lage des Reiches. Stresemann verschafft ihm nicht nur eine Art „Atempause“, sondern sorgt so auch dafür, dass wenig später die Blütezeit der Weimarer Republik beginnt, oft als „Goldene Zwanziger Jahre“ bezeichnet: Mit stabiler Währung, relativ niedriger Arbeitslosigkeit und einem kulturellen Aufbruch ungeahnter Dimension.
Da ist Gustav Stresemann jedoch längst nicht mehr Regierungschef. Ende November 1923 muss er als Reichskanzler nach nur 103 Tagen zurücktreten: Er hat im Parlament eine jener Vertrauensabstimmungen verloren, die für die Weimarer Republik typisch sind.
Persönlich genießt er weiter so viel Respekt, dass er Reichsaußenminister bleibt - bis 1929, egal ob der jeweilige Reichskanzler konservativ, sozialdemokratisch oder parteilos ist. Diese Kontinuität nutzt Stresemann für sein großes Anliegen – das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich nach zwei blutigen Kriegen friedlich zu gestalten. Andreas Rödder:
OT 13:
„Stresemann ist in der Lage, und das zeichnete ihn außenpolitisch gegen fast allen anderen aus, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen. Stresemann hat einen Sinn dafür, dass dieses im 1.Weltkrieg zwar geschlagene, aber eben nicht vollständig niedergeschlagene Deutsche Reich für die Franzosen die potenzielle Bedrohung bleibt, weil die Deutschen zwar geschlagen, aber potenziell übermächtig sind. Und Stresemann ist jemand, der wirklich eine Vorstellung von einem Interessenausgleich hat.“
Erzähler:
Es ist ein glücklicher Zufall, dass zu dieser Zeit Aristide Briand Frankreichs Außenminister ist. Er fasst Vertrauen zu dem gut 15 Jahre jüngeren Deutschen. Als Stresemann ihm vorschlägt, beide Staaten sollten sich wechselseitig ihre Grenzen garantieren, beruft Briand 1925 eine internationale Konferenz ein - nach Locarno in der Schweiz. Hier einigen sich die ehemaligen „Erzfeinde“ auf die Anerkennung der Grenzen von 1918, die allmähliche Demilitarisierung des Rheinlands – und auf die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Für die Öffentlichkeit, sagt der Stresemann-Experte Rödder, ist Locarno bis heute ein erster Meilenstein der deutsch-französischen Aussöhnung. Das übersieht ein privates Treffen der beiden Politiker ein Jahr später in einem Gasthaus in Thoiry am Genfer See – wo sie viel weiterdenken:
OT 14:
„Da schimmert eine irrsinnige Perspektive auf, dass man sich gegenseitig verständigt, auf ein leben und leben lassen von zwei Mächten, die seit Jahrhunderten rivalisieren und Krieg gegeneinander führen. Thoiry ist auf der einen Seite das Wetterleuchten dessen, was möglich gewesen wäre. Und auf der anderen Seite aber auch der Punkt, wo’s wieder umkippt. Weil sowohl Briand als auch Stresemann merken müssen: Genau dafür, für diese Haltung – die die Interessen meines eigenen Landes mit der Rücksicht auf die Interessen der anderen verbindet, findet weder Briand eine Mehrheit in Frankreich noch Stresemann in Deutschland.“
MUSIK 5 Ulrike Haage: At Cosmic Speeds 0’30
Erzähler:
Im Gegenteil: Der deutsche Außenminister wird für seine Aussöhnungs-Politik mit Paris innenpolitisch scharf angegriffen. Auch der Friedensnobelpreis, den er 1926, gemeinsam mit Aristide Briand, erhält, beeindruckt seine Gegner wenig. Denn die Auszeichnung hat damals noch nicht ein vergleichbar großes Prestige wie heute. Statt die Vorteile von Kompromissen anzuerkennen, die in Verhandlungen erzielt werden, bezeichnen ihn Kritiker als „Erfüllungspolitiker“. Enkelin Christina Stresemann erklärt Grund und Wirkung:
OT 15:
„Erfüllungspolitiker“ – das war also die Erfüllung der Versailler Verträge. Das war für die rechtsorientierten Nationalisten was ganz Schlimmes. Und da gab’s zum Beispiel so Sprüche auf Plakaten wie „Stresemann – Verwese Mann“. Und er war ja ein empfindsamer Mensch – das hat ihm natürlich auch zugesetzt.“
Erzähler:
Trotzdem ist im Rückblick zu fragen: Welche Seiten von Stresemanns Politik sind zu kritisieren? Seriösen Historikern fällt in dieser Hinsicht ein Aspekt ein: Dass er - anders als Richtung Westeuropa – kaum Initiativen entwickelt, mit den Nachbarn im Osten, vor allem mit Polen, einen Ausgleich zu finden. Die Idee, auch ein „Ost-Locarno“ auszuhandeln bleibt sehr vage – sagt Professor Andreas Rödder:
OT 16:
„Polen wird 1918 neu gegründet und hat mit keinem einzigen seiner Nachbarn eine unumstrittene Grenze. Im Auswärtigen Amt sind in den 20er Jahren dann so Ideen ventiliert worden – dass man gesagt hat: Sollen wir nicht sehen, dass man die überwiegend deutschsprachigen Teile, die jetzt zu Polen gekommen sind, wieder zu Deutschland zurückbekommt. Es ist dazu nie gekommen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass Stresemann bereit gewesen wäre, eine Lösung zu suchen, mit der sowohl Polen als auch das Deutsche Reich hätte leben können.“
MUSIK 6 Ulrike Haage: Battle Of The Angels II 0’43
Erzähler:
Dass seine Politik unvollendet bleibt, gehört zur persönlichen Tragik von Stresemann wie zu der von Weimar. Ein Grund dafür ist, das die erste deutsche Demokratie innenpolitisch nie zur Ruhe kommt - fast jedes Jahr finden wichtige Wahlen statt. Und Gustav Stresemann als bekanntester Politiker im liberalen Lager ist als Redner ein gefragter Mann. Deshalb ist er auch „im Einsatz“, als für die Reichstagswahl im Frühjahr 1928 eine Schallplatte mit Rednern aller wichtigen Parteien produziert wird. Der folgende Ausschnitt klingt fast wie ein Vermächtnis:
OT 17: Stresemann 1928 historisch
In Zeiten großer bewegender Fragen, von denen unsere Zukunft abhängt, gibt es für uns den Parteien nur einen Leitstern: die Ansprüche der Zeit zu befriedigen, frei von Illusionen in sachlicher nüchterner Arbeit und jener Realpolitik, die in Wirklichkeit das Höchste an Idealismus ist und das heiße Herz da bändigt, wo nur der kühle Verstand uns vorwärts zu bringen vermag.
Erzähler:
Als Folge der Überarbeitung erleidet Gustav Stresemann am 3.Oktober 1929 einen Schlaganfall und stirbt. Er sei der Inbegriff der Hoffnungen und Möglichkeiten der Weimarer Republik gewesen, bilanziert der Zeithistoriker Andreas Rödder:
OT 18:
„Insofern schrieb die „Vossische Zeitung“ ja, als er gestorben war: „Mehr als ein Verlust – ein Unglück.“ Und da ist schon eine Menge dran. Also in Stresemann verkörpert sich sehr, sehr viel, was die Möglichkeiten von Weimar angeht – und auch die Tragik.“
OT 19: (Trauerzug – Reportage und Musik)
Erzähler:
Der Trauerzug durch Berlin, der Stresemanns Sarg zum Friedhof begleitet, wird live übertragen. Beim Staatsakt im Reichstag spricht Reichskanzler Hermann Müller von der SPD – in seiner Rede ist der Schockzustand spürbar, in dem sich die Anhänger der Demokratie befinden:
OT 20: Historisch
„Wenn heute eine Welle tiefer Trauer durch unser Volk geht, wenn selbst die Gegner die Degen an seiner Bahre ehrend senken, so gilt diese Trauer aber nicht allein dem großen Staatsmann und Führer. Sie gilt auch dem Menschen Stresemann, den wir alle liebten.“
Erzähler:
Doch Gustav Stresemanns Verdienste geraten in Vergessenheit, als sich die Krise der Weimarer Republik zuspitzt. Die Enkelin berichtet, dass die Nationalsozialisten 1933 Stresemanns Witwe Käte die Pension streichen. Mehr noch: Für sie und ihre Kinder besteht wegen ihrer jüdischen Herkunft Lebensgefahr. Mitte der 1930er Jahre wandert die Familie nach New York aus. Und als sie zurückkehrt in die junge Bundesrepublik zögert diese mit der Wiedergutmachung, weiß Christina Stresemann – und erzählt von einem Bittgang ihres Vaters:
OT 21:
„Er ist damals zum Bundespräsidenten Theodor Heuss gegangen …und hat ihm die Situation meiner Großmutter geschildert und hatte gehofft, dass vielleicht dann doch wieder eine Pension wieder aufgenommen wird. Es ist dann ein kleiner, so genannter, „Ehrensold“ ausgesetzt worden – aber längst nicht das, was eigentlich eine Pension gewesen wäre.“
Erzähler:
Heute gilt Gustav Stresemann als eine Art „Ur-Vater“ des Ausgleichs mit Frankreich und Vordenker für ein einiges Europa. Doch ist der Name nicht nur in der Politik weiterhin bekannt, sondern auch in der Herrenmode.
MUSIK 7 Johnny Klimek & Tom Tykwer: Der Bahnhofscoup 0’56)
Der ewig unter Termindruck stehende Politiker ist nämlich auch Schöpfer einer Anzug-Kombination, die bei manchen Anlässen bis heute getragen wird. Christina Stresemann erzählt diese Geschichte mit einem Lächeln.
OT 22:
„Man trug damals ja noch im Parlament und zu Empfängen und so, trug man noch Frack. Und er wollte sich aber nicht mehrfach am Tag umziehen und wollte auch etwas Bequemeres haben. Und da hat er dann entschieden, dass er zwar diese grau-weiß gestreiften Hosen, wie man sie zum Frack trug, trägt – aber dazu ein schlichtes schwarzes Jackett. Und das war dann „der Stresemann“. Ich glaub‘ er geht grade mal als Hochzeitsanzug durch. Aber das kennen noch viele Leute, den Begriff – ja.“
Die Hisbollah ("Partei Gottes") ist politische Kraft und Miliz im Libanon. Entstanden ist sie aus einer Bewegung von Schiiten, die sich nicht ausreichend vertreten fühlte, doch schon lange hat es die Hisbollah in die libanesische Nationalversammlung geschafft. Sie kämpft politisch, aber auch militärisch gegen Israel. Von manchen Staaten wird sie als Widerstandsbewegung, von anderen als Terrororganisation angesehen. Von Claudia Steiner
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Andreas Neumann
Technik: Tim Höfer
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dominik Hamm, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, Fakultät für Politikwissenschaften der Holy Spirit Universität, Beirut.
Bente Scheller, Leiterin des Referats Nahost und Nordafrika der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin.
Heiko Wimmen, International Crisis Group, Beirut.
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Literatur:
Manuel Samir Sakmani, Der Weg der Hisbollah, Klaus Schwarz Verlag
Imad Mustafa, Der politische Islam – Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah, ProMedia
Linktipps:https://www.deutschlandfunkkultur.de/israel-libanon-krieg-100.html
https://dserver.bundestag.de/btd/19/296/1929678.pdf
https://embassies.gov.il/berlin/AboutIsrael/the-middle-east/naherostendokumente/DieHisbollah.pdf
https://www.rosalux.de/news/id/52178/der-alleingang-der-hisbollah-im-libanon
https://taz.de/Reaktionen-aus-dem-Libanon/!5965842/
https://www.boell.de/de/2023/11/20/hisbollah-verstolpert-in-der-eigenen-propaganda
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SPRECHER/SPRECHERIN ABWECHSELND
Militärische Miliz, Widerstandsbewegung, politische Partei, Wohlfahrtsorganisation, Unternehmen, kriminelle Vereinigung, Drogenkartell, Terrororganisation.
SPRECHERIN
So unterschiedlich die Fremd- und Eigenbezeichnungen auch klingen mögen, sie alle stehen für eine Gruppierung: die libanesische Hisbollah, die „Partei Gottes“.
SPRECHER
Wer die Entstehung der Hisbollah im Libanon verstehen möchte, muss sich mit dem Nahost-Konflikt, der Islamischen Revolution im Iran und der demografischen Zusammensetzung des Libanon befassen.
MUSIK 2
Titel: " موسى صام" - Mitwirkende: Lebanese Maronite Order & Antoine Tahan - Album: تراتيل الآلام والقيامة - Komponist: الأب يوسف الخوري & الليتورجيا المارونيّة - Länge: 0'44
SPRECHERIN
18 Religionsgemeinschaften sind im Libanon offiziell anerkannt, darunter Maroniten, griechisch-orthodoxe, griechisch-katholische, protestantische und armenische Christen, Sunniten, Schiiten, Drusen und Aleviten. Diese heterogene Zusammensetzung der Bevölkerung sorgte bereits vor, aber auch nach der Unabhängigkeit 1943 immer wieder für Konflikte und Krieg. Traditionell lebten die verschiedenen Konfessionen in unterschiedlichen Regionen des Landes - Maroniten zum Beispiel in den Bergen, griechisch-orthodoxe Christen an der Küste, Schiiten im südlichen Libanon.
O-TON 1
Die Schiiten waren (…) die Minderheit. Und so waren sie nicht nur politisch benachteiligt, sondern auch ökonomisch, sozial immer diejenigen, die schlechter gestellt sind als die meisten anderen und gegenüber den dominanteren Konfessionen, den christlichen Maroniten und den Sunniten.
SPRECHER
…sagt Bente Scheller. Die Politikwissenschaftlerin leitet das Referat Nahost und Nordafrika der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Die verschiedenen Religionsgruppen hatten sich darauf geeinigt, Staatsämter nach einem Proporzsystem aufzuteilen. Grundlage dafür war eine Volkszählung aus dem Jahr 1932. Doch dieses System sorgte nicht für einen echten gesellschaftlichen Ausgleich: Tatsächlich waren christliche Clans am reichsten, Schiiten häufig verarmt. Die Schiiten begehrten mehr und mehr auf sagt Heiko Wimmen. Der Nahost-Experte arbeitet für die International Crisis Group, einer Nichtregierungsorganisation, in Beirut:
O-TON 2
Dann gab es eine (…) Mobilisierung der schiitischen Unterschicht, (…) die haben sich politisiert.
SPRECHERIN
Besonders Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre kamen zahlreiche palästinensische Flüchtlinge in den Libanon, auch immer mehr Kämpfer der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO. Die Zahl der Muslime wuchs und damit auch die Konflikte zwischen den verschiedenen Konfessionen. Ab 1975 tobte ein blutiger Bürgerkrieg in dem Land, das an Israel und Syrien grenzt. Bente Scheller:
O-TON 3
Dann ist auch Israel interveniert, weil aus dem Libanon heraus Israel angegriffen wurde, im Wesentlichen damals durch die PLO. Es ist dann aber dazu gekommen, dass es Israel gelungen ist, die PLO zu vertreiben. Und im Zuge dessen hat sich die Hisbollah gegründet, als eine Widerstandsbewegung gegen die damit einhergehende israelische Besetzung des Südlibanons.
SPRECHER
1978 fand die erste israelische Invasion des Libanon statt, 1982 rückten israelische Truppen bis Beirut vor. Und ab 1982 formierte sich die Hisbollah. Ihr Ziel: Die israelischen Truppen aus dem Libanon zu vertreiben. Drei Jahre später zog sich die israelische Armee aus dem Land zurück. Sie hielt aus Sicherheitsgründen aber das Grenzgebiet im Süden weiter besetzt. Erst im Jahr 2000 dann der komplette Truppenabzug. Der Rückzug des israelischen Militärs, das als Besatzer angesehen wurde, verschaffte der Hisbollah - auch über Konfessionsgrenzen hinweg – Ansehen und Anerkennung.
MUSIK 3
"Yâ Dâèm / O Eternal" - Album: Anthology of Iranian Rhythms - Volume 2 / Daf (mystical Drum), Dayré & Zang-e Saringôshti - Künstler und Komponist: Madjid Khaladj - Länge:
SPRECHERIN
Unterstützt in ihrem Kampf gegen Israel wurde die Hisbollah von Anfang an aus Teheran. Im Iran fand 1979 die Iranische Revolution statt. Nach Massendemonstrationen wurde Schah Mohammed Reza Pahlavi gestürzt. Er floh nach Ägypten. Ayatollah Khomeini kehrte aus dem französischen Exil zurück und rief die Islamische Republik aus. Die Mullahs wollten die Revolution auch in andere schiitische Gesellschaften exportieren – mit Erfolg. Befeuert durch die Revolution wuchs auch unter Schiiten im Libanon ein politisch-religiöses Bewusstsein. Bis heute gehört das iranische Regime zur größten Stütze der Hisbollah.
SPRECHER
Die Hisbollah kontrolliert im Libanon wichtige Infrastruktur wie den Hafen und Flughafen von Beirut. Dies erleichtert Transaktionen mit Teheran, sagt Dominik Hamm. Der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler lehrt an der Fakultät für Politikwissenschaften der Holy Spirit Universität in Beirut und forscht unter anderem zum Thema Terrorfinanzierung.
O-TON 4 neu
Sie verwalten den Flughafen, aber nicht wie eine Flughafengesellschaft, sondern, dass man mal eine Nachricht bekommt, diese und jene Person aus diesem Flugzeug, die wird nicht kontrolliert, wenn die hier ankommen.
SPRECHERIN
Experten gehen jedoch davon aus, dass durch die internationalen Sanktionen gegen den Iran und der Wirtschaftskrise die finanziellen Hilfen an die Hisbollah inzwischen zurückgegangen sind, so Heiko Wimmen.
O-TON 5
Aber die Unterstützung ist sicherlich nach wie vor ganz wichtig, ganz substanziell, gerade auch eben was die militärische Ausrüstung angeht. Das heißt, Waffen, die geliefert werden, das heißt militärisches Training im Iran und dergleichen mehr.
SPRECHER
Offiziell finanziert sich die Hisbollah durch Spenden. Auch in Deutschland wird Geld für die Hisbollah gesammelt. In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion aus dem Jahr 2021 hieß es:
SPRECHERIN
„Die Anhänger der „Hizb Allah“ pflegen in Deutschland den organisatorischen und ideologischen Zusammenhalt unter anderem in örtlichen Moscheevereinen, die sich in erster Linie aus Spendengeldern finanzieren. Darüber hinaus nutzt die „Hizb Allah“ Deutschland als Rückzugs- und Rekrutierungsraum sowie für Beschaffungs- und Spendensammelaktivitäten.“
SPRECHER
2023 ging das Bundesamt für Verfassungsschutz von einem Personenpotenzial von 1.250 Menschen in Deutschland aus. Die Hisbollah ist aber nicht nur in Deutschland aktiv – sie verfügt unter anderem auch in Südamerika, Kanada, den USA, Australien, Südostasien und Afrika über Netzwerke. So haben zum Beispiel in Westafrika viele Menschen aus dem Libanon Firmen aufgebaut. Heiko Wimmen:
O-TON 6
Da ist dann nicht immer klar zu unterscheiden: (…) Ist das Unterstützung, die freiwillig geleistet wird? Ist das eine Besteuerung dieser Diaspora-Gemeinschaften, die also mit (…) Druck erfolgt, kann man nicht beurteilen. All das ist natürlich nach europäischer Darstellung, amerikanischer Darstellung Finanzierung von Terrorismus. Aus der Sicht der Menschen, die da in der Diaspora leben, ist es vielleicht die Unterstützung eines politischen Akteurs oder eines politischen Projekts, das sie unterstützen.
SPRECHERIN
Denn die Hisbollah besteht eben nicht nur aus einer Miliz, sondern ist auch eine politische Partei, doch dazu später mehr. Außerdem soll die Hisbollah in Afrika im Diamantenhandel aktiv sein, Geldwäsche und Drogenhandel betreiben. Die Nahost-Expertin Bente Scheller:
O-TON 7
Durch ihre internationalen Netzwerke hat sie sehr viele Möglichkeiten, auch unternehmerisch tätig zu sein. Und das sind legale Geschäfte. Aber es sind eben auch Drogengeschäfte, Waffengeschäfte und andere Schmuggelgeschäfte, bei denen klar ist: sie hat hier genügend Möglichkeiten, auch selbst ein Einkommen zu haben. Das ist immer wichtiger geworden. Und deswegen greift es auch zu kurz zu sagen, wenn wir dem Iran die Gelder abschneiden, dann ist auch die Hisbollah am Ende kaltgestellt. Das ist sie nicht. Dafür ist sie zu gut vernetzt.
SPRECHER
Beispiel Drogenhandel: So wird seit langem in der Bekaa-Ebene im Osten des Libanon Cannabis angebaut. Doch aufgrund der Wirtschaftskrise und Veränderungen auf dem Drogenmarkt bringt dieses Geschäft nicht mehr so viel ein wie früher. Viel lukrativer ist inzwischen der Handel mit Captagon, sagt Dominik Hamm. Die synthetische Droge ist ein süchtig machendes Aufputschmittel.
O-TON 8
Es ist eine sehr, sehr hohe Nachfrage vor allen Dingen in den Golfstaaten, Saudi-Arabien, aber mittlerweile auch mehr in Europa. Captagon kann sehr, sehr schnell produziert werden, weil es eine chemische Droge ist - und ist ziemlich günstig. Die Produktion von 200.000 Captagon-Tabletten kostet um die 10.000 Dollar, und dadurch kann man dann einen Gewinn von um die 1,5 Millionen generieren.
SPRECHERIN
Der größte Captagon-Produzent ist das Nachbarland Syrien. Dort sichert sich Machthaber Bashar al-Assad mit dem Drogengeschäft offenbar die Macht. Die Hisbollah übernimmt Berichten zufolge den Transfer und verschifft die Droge von Beirut aus. Wie hoch die Einnahmen der Hisbollah aus diesen illegalen Geschäften tatsächlich sind, ist unklar. Im Libanon soll das Captagon-Geschäft in den Händen schiitischer Clans sein - zumindest ein Teil der Gewinne landet nach Einschätzung von Experten auch in den Händen der Hisbollah. Es gibt viele Berichte – zum Beispiel aus den USA oder Israel. Im Kern seien diese Berichte wahr, sagen Experten wie Heiko Wimmen. Aber:
O-TON 9
Ich denke, man kann, man muss, oder man sollte von dem, was da behauptet wird, öfter mal einiges abziehen, weil eben diese Forschungen oft auch politisch motiviert sind. Aber in der Substanz ist das, denke ich, trotzdem überzeugend. Da gibt es Geldquellen, die ganz klar aus kriminellen Aktivitäten herrühren.
SPRECHER
Syrien gilt ebenfalls als Unterstützer der Hisbollah. So pflegt Machthaber Assad enge Beziehungen mit Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah. Im syrischen Bürgerkrieg verteidigte die Hisbollah wiederum den Diktator gegen seine rebellierende Bevölkerung und schickte Kämpfer zur Unterstützung. 2013 erklärte Nasrallah in einer Rede, warum sich die Hisbollah in den syrischen Bürgerkrieg einmischte:
SPRECHERIN
„In aller Deutlichkeit: Syrien ist das Rückgrat des Widerstands gegen Israel. Und der Widerstand kann nicht mit verschränkten Armen dastehen, während sein Rückgrat gebrochen wird. (…) Wenn Syrien fällt, ist Palästina verloren, der palästinensische Widerstand, das Westjordanland, Gaza, das erhabene Jerusalem; wenn Syrien in deren Hände fällt, dann erwartet die Völker und Staaten unserer Region eine harte, schlimme und ungerechte Zukunft.“
MUSIK 4
"I" - Album: Equlirium - Komponist: Peter votava - Ausführende: PRSZR - Länge: 1'30
SPRECHER
Die USA setzten die Hisbollah 1997 auf die Liste ausländischer Terrorvereinigungen. Auch Länder wie Kanada und Israel stufen sie als terroristische Organisation ein. In Deutschland gilt seit 2020 ein Betätigungsverbot. Teilweise unterstützt durch den Iran, teilweise durch andere extremistische Gruppierungen soll die Hisbollah für viele Anschläge und Angriffe verantwortlich oder zumindest in sie verstrickt gewesen sein. So wurden zum Beispiel 1983 Selbstmordattentate auf die US-Botschaft und das Hauptquartier der US-Marines in Beirut sowie auf den Standort des französischen Kontingents einer multinationalen Friedenstruppe verübt. Dabei waren insgesamt rund 360 Menschen getötet worden. Auch für Anschläge in Paris 1985 und 1986 mit 13 Toten ist Beobachtern zufolge die Hisbollah verantwortlich. 1994 starben bei dem Bombenanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires 85 Menschen. 2005 soll ein Kommando der Hisbollah einen Sprengstoffanschlag in Beirut verübt haben. Dabei wurden der frühere libanesische Premierminister Rafik Hariri und 21 weitere Menschen getötet.
SPRECHERIN
Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel blickte die Welt gebannt auf die Reaktion der Hisbollah. Seit Beginn des Krieges im Gazastreifen liefert sich die Miliz immer wieder einen Schlagabtausch mit israelischen Streitkräften. Die Intensität der Gefechte nahm dabei zu.
MUSIK 5
H. Scott Salinas - Komponist: A Private War (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: H. Scott Salinas - Länge: 0'37
SPRECHER
Angesichts der Kämpfe im Grenzgebiet sind bis Juni 2024 nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration mehr als 92.000 Libanesinnen und Libanesen aus der Region geflohen. Auch in der Grenzregion auf der israelischen Seite gab es im Juli 2024 rund 100.000 Binnenflüchtlinge. Die Sorge vor einem weiteren regionalen Krieg im Nahen Osten wächst.
Die meisten Menschen im Libanon wollen, dass ihr Land nicht in den Krieg hineingezogen wird. Nach einer Umfrage von Statistics Lebanon vom Oktober 2023 sind 73 Prozent der Menschen dafür, sich beim Krieg gegen Israel herauszuhalten. Kein Wunder: Lange Zeit galt der Libanon als „Schweiz des Nahen Ostens“ - doch davon ist nichts mehr übrig. Die politische Instabilität, eine hohe Inflation und Arbeitslosigkeit sowie Korruption führen dazu, dass immer mehr Menschen verarmen. Der Zusammenbruch wird von der Weltbank zu den drei schwersten Wirtschaftskrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts gezählt.
SPRECHERIN
Bis zum Sommer 2024 versuchte die Hisbollah eine komplette Eskalation zu vermeiden. Dies könnte sich allerdings zum Problem für die Organisation entwickeln, denn damit könnte das Narrativ vom Kampf gegen Israel und seinem Verbündeten, den USA, langfristig unglaubwürdig werden. Das Potential der Hisbollah ist jedenfalls enorm. Sollte sich der Konflikt dennoch ausweiten, hätte dies dramatische Folgen. Heiko Wimmen:
O-TON 10
Und wir haben hier natürlich einen Gegner mit Hisbollah, der ein ganz anderes Kaliber hat, in einem Land operiert, wo er eine offene Grenze zu einem Hinterland hat, sprich Syrien, wo Verbündete, eben der Iran, ungehinderten Zugang hat, um Hisbollah mit Nachschub zu versorgen – im Gegensatz zur Hamas, der Gazastreifen ist ja abgeriegelt von allen Seiten. Das sieht hier ganz anders aus.
SPRECHER
Die Hisbollah gilt nämlich als deutlich stärker und schlagkräftiger als die Hamas.
O-TON 11
Wir wissen natürlich längst nicht alles, aber was wir wissen, ist erschreckend genug. (…) Der Generalsekretär Hassan Nasrallah hat vor nicht langer Zeit eine Zahl von 100.000 Kämpfern in die Debatte geworfen. Da ist sicherlich (…) recht viel Propaganda dabei. Aber Schätzungen gehen schon davon aus 20.000, 30.000 Kämpfer mögen sie schon haben. Es mag möglich sein, noch deutlich mehr zu mobilisieren, wenn das notwendig ist.
SPRECHERIN
Deutlich wichtiger als die Zahl der Kämpfer ist das Waffenarsenal. In Berichten taucht immer wieder die Zahl von 130.000 Raketen auf. Die Hisbollah gilt damit als bestgerüstete, nichtstaatliche, bewaffnete Organisation des Nahen Ostens. Bente Scheller von der Heinrich-Böll-Stiftung:
O-TON 12
Was bekannt ist, ist, dass die Hisbollah sehr viel weitreichendere Raketen mittlerweile hat, dass eben auch klar ist, aus weiter entfernten Landesteilen wie eben der Beeka-Ebene, die an der syrischen Grenze im Osten des Landes liegt, auch von dort aus ist es möglicherweise erreichbar, israelische Städte bis Tel Aviv auch zu treffen. Also diese Reichweite der Raketen, über die sie verfügt, deutet darauf hin, dass die Hisbollah eine wirkliche Bedrohung auch sein kann für Zivilist:innen in Israel, genau im Herzland.
MUSIK 6
"Herzan" - Ausführender: Soap Kills - Album: Golden Beirut - New Sounds from Lebanon - Länge: 0'35
SPRECHER
Die Hisbollah setzt im Libanon ihre Interessen durch. Aber anders als die iranischen Führer ist die Hisbollah, die einst von Revolutionswächtern gegründet wurde, in alltäglichen Fragen eher pragmatisch. Bente Scheller:
O-TON 13
Sie greift (…) nicht gegen alles durch. Sie hat auch gelernt, sie kann nicht bestimmte Dinge in der Bevölkerung durchsetzen, die dort eigentlich nicht toleriert sind. Also Alkoholverbot zum Beispiel, hat sie versucht, ist damit nicht durchgekommen. Oder an Stränden sich eben so zu kleiden, dass es nach den starken Vorgaben des Iran oder der Hisbollah-Lesart, wie Frauen sich kleiden sollten, genehm ist. Damit ist sie auch nicht durchgekommen. Da ist sie dann auch nicht so ideologisch, dass sie versucht, es durchzusetzen, sondern sie ist eigentlich in vielerlei Hinsicht außerordentlich pragmatisch - sehr rücksichtslos, wenn sie ihre Interessen verteidigen will, aber nicht, dass sie jedes Interesse auf Biegen und Brechen umsetzt.
SPRECHERIN
Auch wenn Kritiker der Hisbollah in sozialen Medien oft als „Agenten Israels“ diffamiert werden, bis zu einem gewissen Grad toleriert die Hisbollah Widerspruch. Wo allerdings die rote Linie verläuft, ist oft nicht vorhersehbar.
O-TON 14
Im Libanon ist einfach sehr viel möglich. Das ist kritisch. Aber es ist nicht so, dass es systematisch verfolgt wird. Da muss man darauf gefasst sein, dass es passiert, weil es willkürlich ist, wo dann eben tatsächlich Grenzen gezogen werden. Bei manchen ist es ganz klar, dass hier die Hisbollah versucht, ein Zeichen zu setzen. Das sind insbesondere die drastischen politischen Morde. Die Hisbollah gibt es nicht zu, dass sie es war. Sie übernimmt keine Verantwortung dafür. Aber gerade vor einigen Jahren wurde ja ihr prominentester Kritiker Lokman Slim umgebracht. Da ist schon sehr klar: in dem Gebiet, in dem das geschehen ist, trägt es die Handschrift der Hisbollah, wäre gegen sie nicht möglich und das ist natürlich dann sehr drastisch.
SPRECHER
Der säkulare Schiit Lokman Slim wurde 2021 tot in einem Mietwagen im Südlibanon gefunden – mit mehreren Kopfschüssen. Er war Filmemacher, Publizist, Politikaktivist und viele Jahre der schärfste Kritiker der Hisbollah. Heiko Wimmen:
O-TON 15
Da wollte offensichtlich jemand klarmachen, das war eine Hinrichtung und kein Selbstmord. (…) Wie immer im Libanon bei politischen Verbrechen, konnte natürlich der Täter nie festgestellt werden. Die Familie von Herrn Slim und alle, die ihm politisch nahestehen, sind davon überzeugt, dass Hisbollah diese Hinrichtung vorgenommen hat. Da gibt es (…)sehr viele Anzeichen, dass das wahrscheinlich so stimmt. (…)Und das ist tatsächlich (…) wirklich ein Aspekt, der sehr bedenklich ist, dass man eben als Kritiker sich sozusagen jahrelang betätigen kann und nichts passiert. Und dann, in einem Moment, wo sich die Partei unter Druck fühlt, (…) fällt irgendwo eine Entscheidung, dass jetzt ein Exempel statuiert wird.
MUSIK 7
"Dafa" - Mitwirkende: Andre Hajj & Ensemble - Album: Instrumental Music from Lebanon - Amaken - Länge: 0'23
SPRECHERIN
So schwierig es für Kritiker ist, die rote Linien zu erkennen, so schwierig ist es, die Grenzen zwischen den verschiedenen Tätigkeitsfeldern zu ziehen. Die Hisbollah selbst stellt sich gerne als Wohlfahrtsorganisation dar, verweist auf soziale Projekte und Einrichtungen, sagt der in Beirut lebende Politologe Dominik Hamm.
O-TON 16
Es gibt viele Krankenhäuser, manche der besten Krankenhäuser im Land wurden durch die Hisbollah gebaut und geführt, die Hisbollah baut Moscheen, Schulen, Community Centers.
SPRECHER
Von diesen Einrichtungen profitieren nicht nur Schiiten, sondern auch viele andere Konfessionen in dem Land mit seinen rund sechs Millionen Einwohnern. Die Hisbollah ist inzwischen eine Art Staat im Staat: Sie kümmert sich örtlich um die Trinkwasserversorgung und die Müllabfuhr. Es gibt Apotheken, Banken und Wechselstuben, die der Gruppierung zugerechnet werden. Außerdem besitzt die Hisbollah Immobilien, verkauft Strom und Öl. Sie ist auch für viele Menschen Arbeitgeber – und zwar einer, der er sich leisten kann, Mitarbeiter auch in Dollar und nicht in libanesischen Pfund zu bezahlen. Über Dienstleistungen, Hilfen und Jobs versucht die Organisation, die Menschen für sich zu gewinnen und an sich zu binden. Ein ganzer Informationsstab kümmert sich zugleich um die Öffentlichkeits- und Pressearbeit: Mit Plakaten, Flugblättern, einer eigenen Website, über soziale Medien, Zeitungen, Radiosender und den Fernsehsender „Al Manar“ nimmt die Hisbollah Einfluss auf die öffentliche Meinung.
Musik 8
"Rawak" - Mitwirkender: Ziyad Sahhab - Album: Golden Beirut - New Sounds from Lebanon - Länge: 0'24
SPRECHERIN
Außerdem ist die Hisbollah seit 1992 als politische Partei in der Nationalversammlung und war in mehreren Kabinetten der libanesischen Regierung vertreten. Anfang 2024 hatte die Partei 13 von 128 Sitzen im Parlament.
MUSIK 9
"Dafa" - Mitwirkende: Andre Hajj & Ensemble - Album: Instrumental Music from Lebanon - Amaken - Länge: 0'22
SPRECHER
Egal, ob man die Hisbollah als Partei, Miliz, soziale Bewegung, Widerstandsbewegung, Terrororganisation oder kriminelle Vereinigung sieht, sie ist ein wichtiger Machtfaktor im Libanon und tatsächlich viele Dinge in einem, sagt Bente Scheller:
O-TON 17
Die einzelnen Gruppen kann man so, glaube ich, gar nicht voneinander trennen. Das ist auch bewusst so angelegt, so möchte es die Hisbollah. Sie möchte als ein Akteur wirken, damit man da auch nicht Keile dazwischen treiben kann. Das macht es aber natürlich auch schwierig, von außerhalb das gut handzuhaben. (…) Kann man sie auf Sanktionslisten setzen? Kann man einen Kompromiss finden, indem man sagt, sie hat einen bewaffneten Arm, während eigentlich die Hisbollah so gar nicht denkt? Das ist wirklich schwierig, damit umzugehen, und sehr wichtig aber zu verstehen, dass sie all diese Komponenten erfüllt und damit weitaus mehr als nur eine terroristische Organisation ist.
Elixiere, Tinkturen, Shots - Bitterstoffe liegen voll im Trend. Allerlei gesundheitsfördernde Wirkungen werden ihnen nachgesagt. Wissenschaftlich belegt ist wenig davon. Tatsächlich fangen Forschende gerade erst an, zu verstehen, was Bitterstoffe alles bewirken - und vor allem, wo im Körper sie wirken. Von Maike Brzoska
Credits
Autorn dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Julia Fischer
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Franziska Hanschen, Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau, Großbeeren
Prof. Maik Behrens, Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München
Prof. Ute Wölfle, Abteilung Dermatologie und Venerologie des Universitätsklinikums Freiburg
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SPRECHERIN
Vor einigen Jahren gab es eine Entdeckung, die für Aufsehen in Wissenschaftskreisen sorgte. Ein US-Forscher-Team hatte - zufällig - herausgefunden, dass Bitterstoff-Rezeptoren, mit denen wir Bitteres schmecken, nicht nur auf der Zunge vorkommen, sondern überall im Körper.
01 OT (Wölfle)
Zum Beispiel im Gehirn, im Herzen, in der Leber, in der Lunge.
SPRECHERIN
Sagt die Biologin Dr. Ute Wölfle. Sie forscht in der Hautklinik des Universitätsklinikums Freiburg.
02 OT (Wölfle)
Und am Anfang hat man gedacht: Was soll das? Was braucht man Geschmacksrezeptoren in anderen Organen?
SPRECHERIN
Geschmacksrezeptoren in der Leber und in der Lunge – das klingt erst einmal kurios. Kann unsere Lunge etwa schmecken? Nein, sagt Ute Wölfle. Aber die Bitterstoffe, zum Beispiel aus Salat oder Gemüse, können an die Lunge andocken, genauer gesagt: an die Zellen der Lunge.
03 OT (Wölfle)
Es ist eine Struktur auf der Zelloberfläche, an die der Bitterstoff andockt, und der dann zu einer weiteren Reaktion führt.
Musik: Lab rat 0‘25
SPRECHERIN
Auf diese Weise können Bitterstoffe auch in der Lunge – oder in anderen Organen – eine Wirkung entfalten. Die Frage war nun: Welche?
Die überraschende Entdeckung, dass Bitterstoff-Rezeptoren überall in unserem Körper vorkommen, gab den Anstoß für viele neue wissenschaftliche Fragestellungen.
04 OT (Wölfle)
Und da wird jetzt in letzter Zeit sehr stark geforscht. So quasi jeder Forscher guckt jetzt in seinem eigenen Gebiet: Was machen da die Bitterstoff-Rezeptoren? Und was kann man da erwarten?
SPRECHERIN
Einige neue Erkenntnisse gibt es bereits. Dazu gleich mehr. Aber erst einmal muss man verstehen, was ein Bitterstoff überhaupt ist.
05 OT (Wölfle)
Ja, das ist gar nicht mal so einfach zu beantworten, weil die einzige Qualität, die einen Bitterstoff zu einem Bitterstoff macht, ist, dass er bitter schmeckt.
SPRECHERIN
Und das können, chemisch betrachtet, sehr unterschiedliche Stoffe sein.
06 OT (Wölfle)
Das kann ein Salz sein, Magnesiumsulfat, genauso wie irgendwie eine Aminosäure, Tryptophan, genauso wie Pflanzenstoffe, also Koffein vom Kaffee zum Beispiel. Oder auch Grapefruit, das wären dann eher so Saccharide. Also wirklich nur die Qualität, dass es bitter schmeckt, macht einen Bitterstoff zu einem Bitterstoff.
SPRECHERIN
Die Gruppe der Bitterstoffe ist also sehr heterogen. Und sie ist sehr groß. Wobei Forschende gar nicht genau wissen, wie groß, also wie viele Bitterstoffe es insgesamt gibt, sagt Dr. Maik Behrens. Er forscht am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie der Technischen Universität München.
07 OT (Behrens)
Man weiß es nicht. Man kann aber schätzen, dass es wohl deutlich über 1000 gibt.
SPRECHERIN
Das sind deutlich mehr als bei den anderen Geschmacksrichtungen, also süß, sauer, umami und salzig.
08 OT (Behrens)
Die Süßstoffe, da gibt es auch noch recht viele, so um die 100 würde ich mal sagen. Aber das ist nur ein vergleichsweiser kleiner Teil verglichen mit den Bitterstoffen.
Musik: Style analysis 0‘21
SPRECHERIN
Weil es so viele verschiedene Bitterstoffe in der Natur gibt, haben wir auch relativ viele Geschmacksrezeptoren auf der Zunge, mit denen wir Bitteres wahrnehmen können. Wenn wir Chicorée, Radicchio oder Brokkoli essen, signalisieren uns diese Rezeptoren: schmeckt bitter.
09 OT (Behrens)
Tatsächlich haben wir insgesamt so um die 25 unterschiedliche Rezeptoren für die Bitterstoffe.
SPRECHERIN
Wobei nicht jeder Mensch genau die gleichen Rezeptoren hat. Denn von einigen Rezeptoren gibt es verschiedene Varianten.
10 OT (Behrens)
Das heißt, der Rezeptor unterscheidet sich zwischen den Menschen. Der berühmteste Rezeptor, was das angeht, ist der sogenannte TAS2R38, der kommt in der menschlichen Bevölkerung in zwei verschiedenen Hauptvarianten vor. Die eine Variante wird auch die Schmecker-Variante genannt.
SPRECHERIN
Für die Träger dieser Variante schmecken zum Beispiel viele Kohlsorten bitter. Die Träger der anderen Variante, die sogenannten Nicht-Schmecker, nehmen bei Kohl hingegen keinen bitteren Geschmack wahr.
11 OT (Behrens)
Deswegen lohnt es sich nicht über Geschmack zu streiten beim Essen, weil das kann also sehr unterschiedlich wahrgenommen werden.
SPRECHERIN
Wobei die Fraktion, die den Kohl als bitter wahrnimmt, statistisch betrachtet, größer ist.
12 OT (Behrens)
Die menschliche Bevölkerung teilt sich so ungefähr in 70 Prozent Schmecker und 30 Prozent Nicht-Schmecker auf.
Musik: Microelements 0‘33
SPRECHERIN
Aber dank der übrigen Rezeptoren können auch die Nicht-Schmecker Bitterstoffe sehr gut wahrnehmen. Und das ist auch wichtig – evolutionär betrachtet sogar überlebenswichtig. Denn in grauer Vorzeit, als wir noch als Jäger und Sammlerin auf der Suche nach Nahrung durch die Natur streiften, halfen uns die Geschmacksrezeptoren dabei, Essbares von Nicht-Essbarem zu unterscheiden. Dabei war der Geschmacks-Sinn quasi die letzte Instanz.
13 OT (Behrens)
Wir haben natürlich noch unsere anderen Sinne, die helfen uns auch mit, zum Teil schon im Vorfeld. Also wir würden wahrscheinlich eine Speise, die nicht gut aussieht, überhaupt nicht in den Mund stecken. Dann würden wir wahrscheinlich dran riechen und auch da hätten wir wieder eine Warnung gegebenenfalls. Und dann die letzte Instanz ist tatsächlich unser Geschmackssinn, der entscheidet, ob wir etwas runterschlucken oder ausspucken.
Musik: Network access 0‘35
SPRECHERIN
Jede der Geschmacksrichtungen zeigt etwas anderes an. Der saure Geschmack weist darauf hin, dass Früchte unreif sind oder dass Lebensmittel bakteriell verdorben sein können. Der süße Geschmack, zum Beispiel von Früchten, zeigt an, dass das Obst reif und damit genießbar ist. Und darüber hinaus noch viele Kohlenhydrate liefert. Das war für die Menschen früher sehr wichtig, um Hungerperioden zu überstehen. Heute wird uns das – in Form von zu vielen Kalorien – eher zum Verhängnis. Und genau wie der süße und der saure Geschmack zeigt auch der bittere etwas Bestimmtes an.
14 OT (Behrens)
Der soll unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, dass unter Umständen gesundheitsschädliche oder gar giftige Substanzen in der Nahrung sind. Evolutionär war das von großer Bedeutung. Deswegen ist es bei Kindern auch angeboren, diese Abneigung gegen bitter.
SPRECHERIN
Kinder verziehen in der Regel erst einmal das Gesicht, wenn sie etwas Bitteres probieren. Igitt, schmeckt nicht! Erst mit der Zeit lernen die meisten Menschen, Nahrungsmittel mit bitterem Geschmack zu tolerieren – oder sogar zu mögen. Das passiert durch Gewöhnung, aber auch durch gute Erfahrungen, die wir mit einem Lebensmittel im Laufe des Lebens machen.
15 OT (Behrens)
Beispielsweise wenn irgendeine Prüfung ansteht und wir noch viel lernen müssen, ist der bittere Kaffee, der uns wachhält, etwas, was mit einer positiven Wirkung verknüpft wird. Und wenn eine negative Wirkung von dem Kaffee, Sodbrennen oder ähnliches, ausbleibt, dann erwerben wir praktisch so eine Toleranz für moderat Bitteres.
Musik: Delicate information (reduziert) 0‘37
SPRECHERIN
Dennoch bleibt bei vielen Menschen zeitlebens eine gewisse Abneigung gegen Bitteres. Deshalb gibt es in Rezepten oft Tipps, wie man den bitteren Geschmack, zum Beispiel von einem Gemüse oder einem Salat, neutralisieren kann, zum Beispiel indem man Zucker oder Honig zufügt.
Dabei schmeckt unser Gemüse heute größtenteils schon sehr viel milder als früher. Denn der bittere Geschmack wurde nach und nach rausgezüchtet, weil es die meisten Menschen so lieber mögen.
Daneben wurden einige Gemüsesorten aber auch erst genießbar, nachdem die Bitterstoffe durch Züchtung stark reduziert wurden.
16 OT (Hanschen)
Man muss auch dabei bedenken, dass viele dieser Bitterstoffe halt auch eine toxische Wirkung hatten.
SPRECHERIN
Sagt die Lebensmittelchemikerin Dr. Franziska Hanschen. Sie forscht am Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau.
17 OT (Hanschen)
Das heißt, man hat das halt gezielt weggezüchtet, einmal, um das geschmacklich attraktiver zu gestalten, zum anderen aber auch, weil einige Bitterstoffe halt auch giftig sind.
SPRECHERIN
Ein Beispiel sind Kürbisgewächse, also etwa Zucchini, Gurken oder eben Kürbisse. Früher enthielten diese Gemüse-Sorten sehr viel Cucurbitacin, ein Bitterstoff, der in hohen Dosen stark giftig ist.
18 OT (Hanschen)
Und deshalb ist es gerade bei diesen Pflanzen auch wichtig, dass man da keine Züchtungsexperimente selber macht, weil es dann halt auch schon vorgekommen ist, dass quasi wieder rückzüchtet wurde und diese Bitterstoffe wieder erhöht wurden, wodurch dann Vergiftungserscheinungen immer mal wieder bei Hobbygärtnern aufgetreten sind.
Musik: Weird instructions 0‘26
SPRECHERIN
Zu Rückkreuzungen kann es beispielsweise kommen, wenn Pollen von einem giftigen Zier-Kürbis auf die Blüten der Kürbispflanze im Gemüsebeet gelangen. Der Kürbis, der nach der Befruchtung wächst, schmeckt dann ungewöhnlich bitter – und sollte auf keinen Fall gegessen werden, weil er vermutlich größere Mengen des Bitterstoffes Cucurbitacin enthält. Solche Rückkreuzungen sind aber sehr selten. In der Regel ist unser bitteres Gemüse sehr gesund – und zwar gerade, weil es bitter ist.
19 OT (Hanschen)
Es gibt durchaus Bitterstoffe, die positive Effekte für uns haben. Zum Beispiel Sesquiterpenlactone, das sind Inhaltsstoffe, die man aus dem Chicorée oder aber auch aus dem Löwenzahn kennt und die dort für den bitteren Geschmack verantwortlich sind. Die können durchaus positive Effekte für uns haben, zum Beispiel auch antimikrobiell oder auch anti-inflammatorisch, also entzündungshemmend wirken.
SPRECHERIN
Die positiven Wirkungen tun uns besonders gut, wenn wir krank sind. Und erstaunlicherweise kann dann sogar die Abneigung gegen Bitteres zeitweise abnehmen.
20 OT (Wölfle)
Wenn man erkältet ist, dann ist es ja so, dass man irgendwie einen anderen Geschmack hat. Plötzlich schmecken Einem Sachen vielleicht, die man sonst nicht so mag, auch bittere Tees. Und das liegt daran, dass Entzündungsstoffe diese Bitterstoffrezeptoren so ein bisschen modifizieren, blockieren können. Und plötzlich mag man bitter, was man sonst nicht trinken würde. Und wenn es Einem wieder besser geht und diese Entzündungsstoffe weg sind, dann will man das nicht mehr. Dann hat man wieder seinen normalen Geschmack.
SPRECHERIN
Ute Wölfle kennt das aus eigener Erfahrung.
21 OT (Wölfle)
Also zum Beispiel gibt es so einen Hustensaft, der schmeckt wirklich sehr bitter, und ich mochte den eigentlich nie. Dann hab ich gedacht bei der letzten Erkältung, ich probiere den einfach mal – und ich fand den lecker. Also das war irgendwie ganz angenehm. Und als es mir dann wieder besser ging, dachte ich: uah, das geht nicht, ich musste fast würgen. Also das ist wirklich interessant, wie der Körper, wenn es ihm guttut, dann plötzlich die auch wirklich mag und man deswegen die zu sich nehmen kann.
SPRECHERIN
Aber nicht nur bei kranken, sondern auch bei gesunden Menschen können Bitterstoffe viele positive Wirkungen haben.
22 OT (Wölfle)
Die Hauptwirkung ist eben, dass es auf den Magen-Darm-Trakt wirkt, eben die Verdauung, Fettverdauung fördert und auch einfach bei Völlegefühl gut wirkt oder den Appetit anregt. Das ist so das Hauptanwendungsgebiet, dass man es einsetzt bei der Verdauung.
Musik: Needle and twine red. 0’35
SPRECHERIN
Es gibt unzählige Arten von Magenbitter, jede Region kennt ihre eigene Version: Underberg, Lauterbacher Tropfen, Gammel Dansk, Kümmerling, Rhöntropfen. Dass Bitterstoffe gut für die Verdauung sein können, sind Erfahrungswerte aus der Naturheilkunde. Verschiedene traditionelle Heilkünste gehen außerdem davon aus, dass Bitterstoffe den Körper insgesamt stärken und vitalisieren können.
23 OT (Wölfle)
Die ayurvedische Medizin beschreibt, dass Bitterstoffe helfen, Fett zu reduzieren, das Blut zu reinigen, Muskelkraft zu tonisieren. Auch in der chinesischen traditionellen Medizin setzt man Bitterstoffe ein, so in der Ernährung, da ist es dem Element Feuer zugeordnet und es ist da eher auch für Tatendrang, für Vitalität. Und in der Klostermedizin oder in der europäischen Medizin, Paracelsus, der hat im 17. Jahrhundert ein Lebenselixier beschrieben.
SPRECHERIN
Bestehend aus Myrrhe, Bitterwurzel und Aloe.
24 OT (Wölfle)
Und daraus ist dann später das Grundrezept des Schwedenkräuters geworden. Das kennt vielleicht der ein oder andere.
SPRECHERIN
Die „Schwedenkräuter“ sind eine Mixtur, die -oft gelöst in Alkohol - innerlich oder äußerlich angewendet wird.
Musik: Odd facts 0‘32
Neben diesem naturheilkundlichen Wissen gab es in den letzten Jahren aber auch neue Erkenntnisse aus der Forschung. Denn nachdem zufällig entdeckt worden war, dass es Rezeptoren für Bitteres nicht nur auf der Zunge, sondern auch an anderen Organen gibt, fragten sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, welche Wirkung Bitterstoffe denn dort haben können. Dass sie eine Wirkung haben, scheint sicher zu sein.
25 OT (Wölfle)
Man weiß, wenn ein Stoff an den Rezeptor bindet, dann passiert irgendwas in der Zelle, und auch immer wieder das Gleiche. Also es ist nicht nur so jetzt ein Erfahrungswert, sondern es ist wirklich wissenschaftlich belegt.
SPRECHERIN
Die Frage war nun also: Was genau passiert, wenn ein Bitterstoff an einem Organ andockt? Die ersten Studien gab es zur Lunge.
26 OT (Wölfle)
Und plötzlich hat man festgestellt, dass die Bitterstoffe zum Beispiel in Bronchien vorkommen, und wenn dann ein Bitterstoff bindet an den Rezeptor, dann kommt es zu einer Gefäßerweiterung.
Musik: Still waiting red. 0‘47
SPRECHERIN
Was das Atmen erleichtert. Das könnte für Menschen mit Asthma oder chronischer Bronchitis hilfreich sein. Denn bei diesen Erkrankungen ist das Atmen beeinträchtigt. Die Betroffenen kriegen schlecht Luft. Bitterstoffe könnten Abhilfe schaffen. Denn inzwischen haben mehrere Studien gezeigt, dass Bitterstoffe, wenn sie inhaliert werden, die Muskulatur in der Lunge entspannen und auf diese Weise das Ein- und Ausatmen erleichtern können. Der Effekt, den Forschende gefunden haben, ist stärker als der von heutigen Asthma-Medikamenten. Deshalb rechnen Viele damit, dass es künftig Medikamente auf Grundlage der neuen Erkenntnisse geben wird.
Daneben haben Forschende herausgefunden, dass es Bitterstoff-Rezeptoren auch in der Schleimhaut der Nase gibt. Offenbar können dort ebenfalls Bitterstoffe andocken.
27 OT (Wölfle)
Wenn da ein Bitterstoff bindet, wird zum Beispiel Stickstoffmonoxid gebildet, was zum Abtöten der Bakterien führt. Gleichzeitig fangen die Flimmerhärchen im Nasenschleimepithel an, ganz wild zu schlagen und Fremdkörper, Bakterien, die werden nach außen geschleudert. Und damit hat man eigentlich einen idealen Effekt bei Atemwegserkrankungen.
SPRECHERIN
Wegen der interessanten Ergebnisse anderer Fachbereiche begann auch Ute Wölfle mit ihrem Team nachzuforschen, was Bitterstoffe in ihrem Fachgebiet, also auf der Haut, bewirken können. Die ersten Versuche waren allerdings eher ernüchternd, erzählt die Forscherin.
28 OT (Wölfle)
Wir haben gedacht, es wirkt vielleicht anti-entzündlich, was sonst viele unserer Pflanzenstoffe machen, aber der Effekt ist eher gering.
SPRECHERIN
Wissenschaft verläuft selten geradlinig, aber Wölfles Team forschte weiter. Die nächste Frage war, ob Bitteres einen Effekt hat auf den Stoffwechsel der Haut.
29 OT (Wölfle)
Und da haben wir festgestellt, dass es eben Schutzproteine für die Haut bildet und auch Lipide für die Haut, was auch für den Außenschutz wichtig ist. Und dass so die Bitterstoffe eher für den Hautschutz wichtig sind, so für die äußere Barriere.
SPRECHERIN
Dafür muss man die Bitterstoffe mithilfe von Cremes auf die Haut auftragen. Wobei man nicht irgendeinen Bitterstoff nehmen kann, denn einige können Kontakt-Allergien oder Ausschläge auslösen. Eine weitere Vermutung von Ute Wölfle war, dass junge Menschen mehr Bitterstoff-Rezeptoren haben als ältere.
30 OT (Wölfle)
Weil oft ist es ja so, im Alter nimmt irgendwas ab. Aber es ist genau umgekehrt. In jungen Jahren hat man wenige Bitterstoff-Rezeptoren und im Alter werden es viel mehr. Und es ist vielleicht eine Gegenreaktion des Körpers gegen die nachlassende Schutzwirkung. Die Haut wird ja im Alter dünner und vielleicht ist es so eine Reaktion des Körpers. Er bildet jetzt mehr Bitterstoff-Rezeptoren, dass die Barriere doch noch einigermaßen erhalten bleiben kann.
Musik: Explain simple 0‘31
SPRECHERIN
Das zeigt auch: Forschung besteht oft aus trial and error, aus Versuch und Irrtum. Und nicht jede neue Erkenntnis führt letzten Endes zu neuen Anwendungen oder Medikamenten. Einfach, weil unser Körper sehr komplex ist und Erkenntnisse auch immer mal wieder revidiert werden. Eine Schwierigkeit bei den neu entdeckten Bitter-Rezeptoren an den Organen ist, dass es eben nicht nur den einen Rezeptor gibt, sondern verschiedene.
31 OT (Wölfle)
Es gibt 25, und in dem einen Gewebe sind ein paar und im anderen Gewebe sind andere, und ein Bitterstoff kann unterschiedliche Bitterstoff-Rezeptoren aktivieren. Und das macht das Ganze relativ kompliziert.
SPRECHERIN
Deshalb sollte man wohl auch manche der neuen Studienergebnisse zum Thema Bitterstoffe mit Vorsicht genießen. Zum Beispiel gab es bereits Schlagzeilen, dass Bitteres gegen Krebs hilft, weil Forschende entdeckt haben, dass Bitterstoffe an Krebszellen andocken können. Oder dass Bitterstoffe beim Denken helfen.
32 OT (Wölfle)
Auch im Gehirn werden Bitterstoff-Rezeptoren gebildet und da konnte man feststellen, wenn man Nervenzellen mit Bitterstoffen behandelt, dass es dazu führt, dass die Nervenzellen besser vernetzt sind und man dann annehmen kann – das ist jetzt so ne Hypothese – dass es einfach beim Denken auch helfen kann.
Musik: Pending molecules 0‘38
SPRECHERIN
Hier wird die Forschung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zeigen, was Bitterstoffe wirklich leisten können – und was nicht.
Nichtsdestotrotz hat der Bittertrend aber heute schon die Konsumwelt erreicht. In Supermarkt-Regalen und Drogerien gibt es jede Menge Bitterstoff-Mixturen in Form von Tropfen, Tabletten oder Sprays. Bitter gleich gesund – dieser Eindruck entsteht, wenn man sich die zahlreichen Versprechungen durchliest, mit denen die Produkte beworben werden. Einige sehen diesen Hype kritisch. Zum Beispiel Maik Behrens.
33 OT (Behrens)
Ich hatte ja schon erwähnt, es gibt also eine unglaubliche Vielzahl von Bitterstoffen. Eben mindestens 1000. Viele von denen sind giftig. Und da irgendetwas zu pauschalisieren halte ich für falsch. Ja, tatsächlich sollte man die Warnung, die der bittere Geschmack Einem bietet, ernst nehmen. Und ich würde tatsächlich davon abraten, solche bitteren Nahrungsergänzungsmittel zu mir zu nehmen.
SPRECHERIN
Ganz anders ist das bei unseren gängigen bitteren Lebensmitteln, also zum Beispiel Salat, Gemüse, aber auch Kaffee oder Bitterschokolade. Da hat der Forscher keine Bedenken.
34 OT (Behrens)
Da gibt es ja sozusagen zum Teil jahrhundertelange Erfahrung, dass diese Gemüse, die wir standardmäßig konsumieren, sicher sind. Also da braucht man sich keine Sorgen machen.
SPRECHERIN
Auch Ute Wölfle findet Nahrungsergänzungsmittel mit Bitterstoffen unnötig, vor allem, weil sie meistens sehr teuer sind.
35 OT (Wölfle)
Ich denke, Bitterstoffe sind auf jeden Fall wichtig, aber es müssen keine teuren Produkte sein, die man dafür verwendet.
SPRECHERIN
Sie geht davon aus, dass der Bitter-Hype irgendwann wieder abebbt – zumindest was die überteuerten Produkte angeht.
Musik: New ideas 0‘29
36 OT (Wölfle)
Und vielleicht bleibt dann – hoffentlich – eben der bittere Tee, einfach das normale Essen, dass man wieder sagt; okay, ich esse Radicchio-Salat, weil man sich an das Bittere auch gewöhnen kann.
SPRECHERIN
Und vielleicht isst man den bitteren Salat, das bittere Gemüse ja irgendwann sogar richtig gerne.
Thunfische sind die bedrohten Tiger der Meere. Der Mensch mit seinen zerstörerischen Fangmethoden und die zunehmende Umweltverschmutzung sind die größte Bedrohung dieser Fische. Forscher haben nun mehr über das Verhalten der Tiere herausgefunden. Wie kann ein internationales Management aussehen, das den Thunfisch rettet? Von Marko Pauli (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Marko Pauli
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Andreas Neumann, Caroline Ebner, Diana Gaul
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Rainer Froese, Fischereiwissenschaftler und Meeresbiologe am Geomar Helmholtz-Zentrum für Meeresforschung Kiel;
Laurenne Schiller, Wissenschaftlerin für Meeresschutz, Halifax, Kanada;
Sandra Schöttner, Meeresbiologin und Meeresschutzexpertin bei Greenpeace
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Das Volk der Kogi lebt in den Bergen an der kolumbianischen Karibikküste. Ihre Kultur gilt als letztes Relikt der südamerikanischen Hochkulturen vor der Kolonisation. Jahrhundertelang verbargen sich die Kogi, die sich als 'Hüter der Erde' verstehen und bewahrten ihre spirituellen und ökologischen Traditionen. Nun aber gehen sie in Kontakt mit der modernen Welt und fordern eine ökologische und kulturelle Wende, um sich und den ganzen Globus zu schützen. Von Geseko von Lüpke (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Geseko v. Lüpke
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer
Technik: Robin Auld
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
'Mama' José Gabriel (Mama-Priester der Kogi, Kolumbien);
Alan Eirera (Filmemacher, Autor und Historiker, England);
Lucas Buchholz (Friedens- u. Konfliktforscher, Autor, Deutschland);
Falk Parra-Witte (deutsch-kolumbianischer Ethnologe);
Aregoces Coronado (Kogi-Lehrer und Übersetzer, Kolumbien);
'Mama' Manuel (Mama-Priester der Kogi, Kolumbien)
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Literaturtipps:
Buchholz, Lucas: Kogi. Wie ein Naturvolk unsere moderne Welt inspiriert, Neue Erde-Verlag 2019.
Ereira, Alan: The Elder Brothers Warning, Tairona Heritage Trust 2009.
Julien, Eric: Der Weg der neun Welten. Die Kogi-Indianer und ihr Urwissen vom Leben im Einklang mit Himmel und Erde, Neue Erde-Verlag 2022.
Parra Witte, Falk X. :Living the Law of Origin: The Cosmological, Ontological, Epistemological, and Ecological Framework of Kogi Environmental Politics. Doctoral thesis, Department of Social Anthropology, University of Cambridge, Cambridge, U.K. 2018.
Rachel-Dolmatoff, Gerardo: The Kogi. A tribe in the Sierra Nevada de Santa Marta, Bogota (Kolumbien) 1951 // in spanisch: Los Kogi. Vol. I & II. Bogotá: Procultura S.A. (1950, 1951). 1985.
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Die Landschaft der Hallertau wird geprägt von Hopfengärten mit ihren acht Meter hohen Rankgerüsten. Es ist vielen Innovationen und dem technischen Geschick der Hopfenbauern zu verdanken, dass die Hallertau heute das größte Hopfenanbaugebiet der Welt ist. Von Renate Ell
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Ell
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Caroline Ebner, Frank Heilbach
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Christoph Pinzl, Direktor des Deutschen Hopfenmuseums, Wolnzach
Walter König, Geschäftsführer des Bayeri-schen Brauerbundes und der Gesellschaft für Hopfenforschung
Hans Schreier, Hopfenpflanzer, Pfaffenhofen an der Ilm
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Linktipps:
Hopfen aus der Hallertau - Film von 1964 in der ARD-Mediathek (alpha retro)
Bitterstoff - Blog des Deutschen Hopfenmuseums in Wolnzach
Publikationen des Deutschen Hopfenmuseums, u.a. "Die Hopfenregion. Hopfenanbau in der Hallertau - Eine Kulturgeschichte" von Christoph Pinzl
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
So ein Hopfengerüst ist ein massives Bauwerk: Viele mächtige Holzsäulen. In sieben Metern Höhe: waagerechte Drähte. Und von dort nach unten: senkrechte Drähte, um die sich die Hopfenranken winden. Sie sprießen jedes Jahr aufs Neue aus ihren Wurzelstöcken, die bis zu 50 Jahre alt werden.
Im zeitigen Frühjahr hat der Hopfenpflanzer Hans Schreier in Pfaffenhofen an der Ilm die Wurzelstöcke beschnitten, um das Wachstum anzuregen. Und dann geht es ganz schnell.
(1. ZUSP.) HANS SCHREIER
In dem Augenblick, wo wir Temperaturen um die 20 Grad oder auch 25 Grad bekommen, dann kann der ganz viel und teilweise pro Tag 20, 30 Zentimeter Wachstum vorlegen, und dann hast Du innerhalb weniger Tage eine Pflanze, die dann eigentlich unbedingt Hilfe braucht – das sind dann mehrere Triebe, die man dann an die Drähte anleitet.
ERZÄHLERIN
Deshalb gehen im April Helferinnen und Helfer von Pflanze zu Pflanze und winden ausgewählte Ranken um die Drähte.
(2. ZUSP.) HANS SCHREIER
Wenn man das versäumt, oder das Personal nicht zur Verfügung steht, dann hat man Mehrarbeit, weil er dann eigentlich schon zu weit ist, und dann muss man das mit viel mehr Aufwand bewältigen.
ERZÄHLERIN
Auch heute verlangt der Hopfen noch viel Handarbeit. Bis Maschinen wenigstens die schwersten Arbeiten übernehmen, bis Drahtgerüste die Hallertauer Landschaft prägen: Das ist eine Geschichte von Krisen und Innovationen.
MUSIK ELECTROCHEMICAL (LÄNGE: 0´28´´) UNTER:
ERZÄHLERIN
Seit Bier gebraut wird, braucht man dafür Hopfen – zunächst vor allem um es frisch zu halten, denn Hopfen wirkt anti-bakteriell. Und seit dem Reinheitsgebot von 1516 ist Hopfen auch das einzig erlaubte Gewürz. Ursprünglich wird Hopfen praktisch überall auf kleinen Flächen für den lokalen Brauerei-Bedarf angebaut, sagt Christoph Pinzl, Direktor des Deutschen Hopfenmuseums in Wolnzach.
(3. ZUSP.) CHRISTOPH PINZL
Es gibt ein paar so Inseln, die etwas mehr machen, ein bisschen über-regionaler arbeiten, die Hallertau ist bis ins achtzehnte Jahrhundert auf alle Fälle kein Hopfenanbaugebiet. Es gibt Hopfen, vielleicht gibt es auch ein bisschen mehr als anderswo, aber als Anbaugebiet, da wäre ich sehr vorsichtig.
MUSIK M MASSIVE_1193_008_THE TICK-TOCK OF TIME_LARS KURZ (LÄNGE: 0´42´´) UNTER:
ERZÄHLERIN
Im 19. Jahrhundert ändert sich Entscheidendes. Der kleinräumige Anbau für den lokalen Bedarf war das Metier von Großgrundbesitzern und dem Bürgertum, ein Nebenverdienst für Ärzte und Lehrer. Einfache Bauern hingegen sind zur so genannten Dreifelderwirtschaft verpflichtet, dem Wechsel einjähriger Kulturen auf den Äckern – die sie auch nur gepachtet haben. Erst als sie ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts ihren eigenen Grund nach eigenen Plänen bewirtschaften können, wird der Hopfen für sie interessant. Weil sie ohne den Zwang der Dreifelderwirtschaft eine mehrjährige Kultur anbauen können. Und weil sie selbst Zugang zum Markt bekommen.
[[(4. ZUSP.) CHRISTOPH PINZL
Hopfen esse ich nicht selber auf. Das bringt mir direkt gar nichts, ich brauche einen Markt, und diesen Markt muss ich beliefern dürfen, so wie ich das meine.]]
M MASSIVE_1193_006_THE TICK-TOCK OF TIME_LARS KURZ (LÄNGE: 0´55´´) UNTER:
ERZÄHLERIN
Der Markt ist da: Die Bevölkerung nimmt zu, in Bayern von 1816 bis 1870 um mehr als ein Drittel. Und immer mehr Menschen wollen Bier trinken. Damit ist der Weg geebnet für den lukrativen, großflächigen Anbau. Aber kaum kommt der in Schwung, gibt es auch schon die erste Krise: Hölzerne Hopfenstangen, die ursprüngliche Rankhilfe, werden knapp und entsprechend teuer. Zwar gibt es schon lange Ideen für Gerüste mit Schnur oder Draht als Rankhilfe. Aber die Bauern sind zunächst skeptisch gegenüber diesen Experimenten von Großgrundbesitzern und Gelehrten. Die Hallertauer Hopfenbauern entwickeln lieber ihr eigenes, so genanntes Bock-Gerüst. Dafür brauchen sie zwar auch viel Holz. Die nötigen Bauteile können sie aber, anders als die extralangen Hopfenstangen, aus dem eigenen Wald holen und selbst zusammennageln. Statt teure Baumaterialien einzukaufen.
(5. ZUSP.) CHRISTOPH PINZL
Eigentlich zwar schon ein modernes Gerüst, auf der anderen Seite relativ unpraktisch, weil es mit sehr viel Querstangen aufgebaut hat werden müssen, und gerade die alten Hopfenbauern haben mir immer beschrieben, wie gefährlich das auch war.
ERZÄHLERIN
Bauern stürzen beim Zusammenbau von der hohen Leiter, verletzen sich schwer, sogar tödlich. Querstangen fallen herunter und erschlagen Erntehelfer.
(6. ZUSP.) CHRISTOPH PINZL
Aber man hat so versucht, da den richtigen Durchschlupf zu finden. Man war modern, aber nicht ganz modern. Ich behauptet, das ist auch mit ein Geheim¬nis der Hallertau. So ein bissel diese Eigensinnigkeit, diese Eigenständigkeit schon bewahren, aber irgendwo merken: Ab einem gewissen Punkt muss ich jetzt mitmachen.
[[ERZÄHLERIN TEILKÜRZUNGEN MÖGLICH, VORLETZTE KÜRZUNG
Ein wichtiges Vorbild ist ein Hof, den eine englische Hopfen-Handelsfirma in den 1860er-Jahren kauft und dort mit modernsten Techniken arbeitet.
(7. ZUSP.) CHRISTOPH PINZL
Wir wissen auch, dass die Leute da in Scharen hin gepilgert sind und sich das anschauen.
[[ERZÄHLERIN
So stehen in der Hallertau bis 1930 überall Drahtgerüste. Fränkische Hopfenbauern verwenden noch in den 1950er-Jahren Hopfenstangen – ihr Anbaugebiet wird dann immer kleiner.]]
MUSIK MASSIVE_1182_009_FORCED FLOATATION_MANUEL LOOS; LARS KURZ (LÄNGE: 1´03´´) UNTER:
ERZÄHLERIN
Parallel zu den Gerüsten werden auch die Werkzeuge nach und nach moderner. Vor allem das Frühjahr ist ursprünglich geprägt von schwerster Handarbeit. Erst befreit man die Hopfenstöcke mit einer primitiven „Hopfenhaue“ vom Frostschutz aus Erde – da werden Tonnenlasten bewegt. Auch von Frauen. Mit dem Aufkommen der Gerüste stehen die Stöcke weiter auseinander, und Hallertauer Schmiede entwickeln extra schmale Pflüge, sodass Ochsen oder Pferde die Last übernehmen können. Solche lokalen Innovationen sind im Hopfenbau die einzige Möglichkeit zur Modernisierung, denn der Markt dieser speziellen Kultur ist viel zu klein für überregionale Firmen. Manche Bauern tüfteln auch selbst, bauen sich eigene Werkzeuge, um sich ihre harte Arbeit zu erleichtern. Dem stehen aber nicht selten Traditionen entgegen. Davon erzählt einer der alten Hopfenbauern, geboren 1919, die Christoph Pinzl für sein Buch „Die Hopfenregion“ interviewt hat:
M ZITATE: DRAMEDY EN MINIATURE (E) (LÄNGE: 0´40´´) UNTER:
(8. ZUSP.) ZITATOR (Pinzl: Die Hopfenregion, S. 144)
Die meisten Bauern haben gesagt, der Hopfenstock darf nicht geschnitten werden, der verblutet. Jetzt hast‘ alles mit den Händen auszupfen müssen. Da hast‘ arbeiten müssen wie ein Verrückter, damit du beim Ausputzen mitkommst. […] Hände haben wir gehabt wie von Teer. Kohlrabenschwarz. Das hat Monate gedauert, bis du das Zeug wieder weggebracht hast. […] Also, der Hopfenstock ist ja behandelt worden, als wie ein Diamant.
ERZÄHLERIN
Moderne Drahtanlagen, neue Geräte, bald auch erste, extra schmale Schlepper – der Hopfenanbau wird effizienter, und belegt immer mehr Fläche in der Hallertau. Es geht voran
MUSIK SOFDU UNGA (LÄNGE: 0´30´´) UNTER:
– und dann kommt die fast vernichtende Krise der 1920er-Jahre: Hopfenpflanzen verfärben sich rötlich, werden welk, sterben ab. Die Ursache ist ein Pilz namens „Peronospora“. Der Ertrag sinkt auf ein Viertel der üblichen Menge. Brauerbund und Hopfenhandels-Verband gründen 1926 in Wolnzach die Gesellschaft für Hopfenforschung; Walter König ist heute ihr Geschäftsführer.
(9. ZUSP.) WALTER KÖNIG
Die Gründung der Gesellschaft führt darauf zurück, dass die Brauwirtschaft, weil sie ans Reinheitsgebot gebunden ist, Angst hatte keinen Hopfen mehr zu bekommen.
ERZÄHLERIN
Man erprobt Gegenmaßnahmen und berät die Bauern, die jetzt erstmals mit Pflanzenschutzmitteln hantieren.
(10. ZUSP.) WALTER KÖNIG
[[Man damals, wenn man Bilder heute betrachtet von früher, überhaupt nicht auf Schutzmaßnahmen der Person geachtet,]] die sind da drin gestanden mit der kurzen Hose ohne Atem-Maske und haben zwar den Hopfen gespritzt, aber sich selber sicherlich auch mit geschädigt.
ERZÄHLERIN
Christoph Pinzl zitiert in seinem Buch die Erinnerung eines Hopfenbauern an die ersten Erfahrungen mit der Chemie:
M ZITATE: DRAMEDY EN MINIATURE (E) (LÄNGE: 0´15´´) UNTER:
(11. ZUSP.) ZITATOR (Pinzl: Die Hopfenregion, S. 160)
Gespritzt hat man mit Kupferkalk Wacker und mit Kupfervitriol. Das war sauber giftig. Wenn du das länger als eine Stunde in einem Kübel gehabt hast, dann war der durch. Das hast du nur im Holzfass machen dürfen.
ERZÄHLERIN
Der Pflanzenschutz fordert auch Investitionen. Kleine tragbare „Buckel-Spritzen“ oder „Schubkarren-Spritzen“ bringen nur mit Mühe genug Druck auf, um die Spritzbrühe mehrere Meter hoch an die Hopfenreben zu befördern. Also braucht man eine Maschine.
(12. ZUSP.) CHRISTOPH PINZL
Und wenn du eine vernünftige gekauft hast, dann waren das schon wieder 2000 Mark. Das ist extrem viel Geld in der Zeit -
ERZÄHLERIN
In der Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg, mit beginnender Wirtschaftskrise.
MUSIK ELECTROCHEMICAL (LÄNGE: 1´06´´) UNTER:
Doch nun ist die Hopfenversorgung wieder gesichert, und im Sommer leuchten die Blüten hellgrün zwischen dem dunklen Laub. Dolden werden sie genannt, was botanisch nicht korrekt ist. Sie erinnern an winzige Tannenzapfen, drei, vier Zentimeter lang, mit versetzt übereinanderliegenden Blättchen. Sie verbergen die Quelle für den aromatischen Duft reifer Hopfendolden.
(13. ZUSP.) WALTER KÖNIG
Das ist das Lupulin, das sind goldgelbe, kleine Kristallkügelchen, die beinhalten eben die wichtigen Stoffe, das ist die Bittersäure, die das Bier bitter macht, und es sind die Hopfenöle, die dieses markante florale Hopfenaroma ins Bier bringen, was in diesen Lupulin-Körnern drin ist.
ERZÄHLERIN
Von der sieben Meter hoch rankenden Pflanze mit ihrem dichten Blattwerk braucht man also nur den allerkleinsten Teil: dieses Pulver in den Hopfendolden, das Lupulin. Und deshalb ist die Ernte so aufwändig: Die Dolden müssen vom Rest getrennt werden.
M LUISE (LÄNGE: 0´35´´) UNTER:
Mit der zunehmenden Anbaufläche sind die Landwirte seit Ende des 19. Jahrhunderts für dieses „Hopfen-Zupfen“ auf Hilfe von außen angewiesen. Für drei Wochen ab Mitte August herrscht Ausnahmezustand: In Spitzenzeiten kommen bis zu 150.000 Erntehelfer in die Hallertau – mehr als dort wohnen. Es sind Wanderarbeiter, die anderswo bei der Getreide- oder Kartoffelernte helfen. Oder Menschen aus dem Bayerischen Wald, die einen Zuverdienst gut brauchen können.
(14. ZUSP.) CHRISTOPH PINZL
Wir haben schon die Schilderungen gerade auch noch um die Jahrhundert¬wende, bis zum Ersten Weltkrieg, da ging es schon auch rund, also nicht nur immer lustig rund, sondern auch viele Streitereien bis hin zu Mord und Totschlag,
M LUISE (LÄNGE: 0´56´´) UNTER:
ERZÄHLERIN
Denn es kommen sehr viele Menschen auf sehr engem Raum zusammen, schlafen in Wirtshaussälen oder Scheunen. Legendär sind allerdings eher die Erzählungen von fröhlichem Beisammensein am Abend – (das folgende leicht anzüglich betonen) und manchmal auch in der Nacht. Die Helfer brauchen einen Ausgleich für die Akkordarbeit: Tag für Tag die Dolden von den rauen Pflanzen zupfen, ohne Handschuhe, die die Fingerfertigkeit behindern würden, ohne helfende Gerätschaften. Am Abend gibt es vielleicht Schweinefett für die geschundenen Finger. Und dann: kommt der letzte Tag der Ernte.
(15. Zusp.) Christoph Pinzl
Da ist sozusagen Abschlussfeier, das Hopfenmahl, da kann jeder essen und trinken, was er will, [[und essen und trinken war sehr wichtig lange Zeit für alle Beteiligten,]] das Geld wird ausbezahlt, [[ich habe jetzt sozusagen knapp drei Wochen gearbeitet, jetzt kriege ich erst Geld, und kriege richtig Geld auf die Hand,]] alle sind glücklich, alle zufrieden, und das nehmen die mit nach Hause.
ERZÄHLERIN
In den schwierigen 1920er-Jahren kommen auch Arbeitslose aus den Gro߬städten, während des Zweiten Weltkriegs werden Schüler und Mitglieder der Hitlerjugend oder des Bundes Deutscher Mädel zwangsverpflichtet – sie schaffen aber nicht so viel wie geübte Hopfen-Zupfer. Nach Kriegsende helfen Flüchtlinge bei der Ernte. Viele Frauen bringen ihre Kinder mit, es herrscht eine freundlich-familiäre Stimmung. Aber bald ist kaum noch jemand auf den Lohn für drei Wochen mühselige Arbeit wirklich angewiesen. Und schließlich ist auch der Zuverdienst kein ausreichender Anreiz mehr. Die nächste Krise in der Hallertau: Die Hopfendolden sind reif, aber kaum jemand ist da, um sie zu ernten. Und diesmal ist die Lösung eine in jeder Hinsicht gewaltige Innovation: 1955 kommt die erste Hopfen-Pflückmaschine in die Hallertau, aus England. Jetzt reißen Finger aus Metall die Dolden ab – nur ein paar Helfer müssen dem furchteinflößenden stählernen Monstrum die Hopfenreben zuführen. 60-tausend Mark kostet die Maschine, so viel wie zwei Einfamilienhäuser in München. Dazu braucht man eine Halle – die Maschine ist 25 Meter lang, acht Meter hoch. Einer der Hopfenbauern, die Christoph Pinzl interviewt hat, erinnert sich:
M ZITATE: DRAMEDY EN MINIATURE (C) (LÄNGE: 0´12´´) UNTER:
(16. ZUSP.) ZITATOR (Pinzl: Die Hopfenregion; S. 234)
Seitdem, dass die Hopfenzupfmaschine auf dem Hof ist, kommst Du aus den Schulden nicht mehr raus. Weil die Rösser sind früher immer nachgewachsen.
ERZÄHLERIN
Die unvermeidliche Investition in neue Technik lohnt sich nur für größere Mengen, deshalb geben kleinere Höfe den Anbau auf. Ende der 50er-Jahre gab es knapp 8000 [[Hopfen-Betriebe]] in der Hallertau, zur Jahrtausendwende noch knapp 1600 – derzeit gut 800.
MUSIK ELEKTROCHEMICAL (LÄNGE: 1´36´´) UNTER:
ERZÄHLERIN
Auf das Hopfenzupfen folgt der diffizilste Arbeitsschritt des Hopfenanbaus: Die frisch gezupften Hopfendolden müssen getrocknet werden. Ursprünglich einfach auf Dachböden oder auch in der Sonne – aber das tut dem Lupulin nicht gut. Also entstehen so genannte Hopfen-Darren – hohe Gebäude, an denen man einen Hopfen-Hof bis heute erkennt. Nirgendwo entwickelt sich die Trockentechnik so schnell wie in der Hallertau. Weil man sich die neuen Gebäude leisten kann. Und auch weil ein Wolnzacher Zimmerer-Meister ab 1896 die so genannte Hallertauer Darre baut. Das Prinzip ist, in zeitgemäßer Form, bis heute aktuell: Unten steht ein Ofen, heiße Luft wird durch Metallrohe nach oben geleitet. Auf mehreren Ebenen liegen die Hopfendolden in flachen Kästen, so genannte Horden, anfangs auch auf Leintuch. Die frischen Dolden liegen zunächst ganz oben, werden nach einer Weile auf die nächst-tiefere Ebene umgeschüttet und kommen schließlich perfekt getrocknet unten an. [[Wenn nichts schief geht – noch heute gehen jedes Jahr in der Hallertau zwei, drei Hopfendarren samt Ernte in Flammen auf; früher, mit Holz- oder Brikettfeuerung, passierte das noch häufiger.]]
Weil der Wassergehalt entscheidend ist für die Qualität des Hopfens, überwacht der Hopfenbauer persönlich den Trockenvorgang. Aber mit der Hopfenzupf-Maschine gerät der gewohnte Ablauf der Ernte aus den Fugen.
(17. ZUSP.) CHRISTOPH PINZL
Diese Pflückmaschine macht natürlich in ein paar Stunden das, was vorher die Hopfenzupfer in drei Wochen gemacht haben. Tagsüber schafft es die Darre gar nicht, die ist viel zu klein
ERZÄHLERIN
Also wird rund um die Uhr getrocknet – und die Bauern müssen ständig ihre Darre überwachen. Einer von ihnen erzählte Christoph Pinzl im Interview, dass er einmal in 15 Tagen nur elf Stunden geschlafen habe. Ein anderer erinnert sich an einen Trick seines Schwiegervaters:
M ZITATE: DRAMEDY EN MINIATURE (D) (LÄNGE: 0´12´´) UNTER:
(18. ZUSP.) ZITATOR (Pinzl: Die Hopfenregion; S. 252)
Der hat ein Holzscheit genommen und ein Brett, hat das Holzscheit hingestellt und das Brett drauf, und da hat er sich draufgesetzt. Und wenn er eingeschlafen ist, dann ist er runtergefallen.
ERZÄHLERIN
Heute sind die Hopfendarren groß genug, und elektronische Messfühler registrieren den Wassergehalt. Aber für den Hopfenpflanzer Hans Schreier aus Pfaffenhofen gilt bis heute:
(19. ZUSP.) HANS SCHREIER
Die letzte Entscheidung treffe auch ich immer noch durch visuelles Begutachten von den Hopfendolden und auch mit den Fingern. Weil: Die ganze Technik, gutes Hilfsmittel, kann einen aber auch täuschen, und dann hast‘ ein Problem.
ERZÄHLERIN
Erfahrung und Geschick sind auch entscheidend für den letzten Schritt im Hopfenanbau: den Verkauf. Es beginnt das „Hopfen-Roulette“.
(20. ZUSP.) CHRISTOPH PINZL LEZTE KÜRZUNG
Du hast da deine Ernte, alles bestens, aber du weißt überhaupt nicht, was du dafür bekommst. [[Und das entscheidet sich auf irgendeinem anonymen, eigentlich Weltmarkt mit diesen Händlern mit den Bierbrauern, und alle versuchen, ein gutes Geschäft zu machen, und zum Teil haben sie enorme Geschäfte machen können, aber auch alles verlieren können.]] Das ist auf der einen Seite sehr belastend. Aber faszinierend, ein bisschen wie Glücksspiel halt.
ERZÄHLERIN
Schlage ich zu früh ein, warte ich zu lange? Beides ist riskant.
M FRICTION 8 (LÄNGE: 0´45´´) UNTER:
Um stets über die Marktpreise auf dem Laufenden zu sein, nutzen Hopfenbauern schon im 19. Jahrhundert die modernsten Informationstechnologien. In Geisenfeld mit seinen damals rund 2000 Einwohnern sollen im Jahr 1879 von September bis Dezember rund 2200 Telegramme das örtliche Telegrafenamt durchlaufen haben. Wenn nicht gerade jemand die Telegrafenleitungen durchgeschnitten hatte – angeblich im Auftrag von Hopfenhändlern. Und schon wenige Jahre nachdem in Berlin die ersten Telefonate geführt wurden, gibt es in der Hallertau sehr viel mehr Telefone als in anderen ländlichen Gegenden.
MUSIK WEG
ERZÄHLERIN
Der Hopfen verlässt den Hof, die Hallertau, Bayern – im Lauf des 20. Jahrhunderts auch zunehmend Deutschland und Europa. Seit 1967 ist die Hallertau das größte Hopfenanbaugebiet der Welt, mit kleinen Unterbrechungen, berichtet Walter König, Geschäftsführer der Gesellschaft für Hopfenforschung. Rund 80 Prozent der Ernte wird exportiert.
(21. ZUSP.) WALTER KÖNIG
Wir produzieren hier gut ein Drittel der Welt-Hopfen-Bedarfsmenge; in den USA sind jetzt aufgrund des Abflauens des Craft-Bier Marktes über 2000 Hektar Hopfen aus der Produktion genommen worden, es ist immer so ein kleines Kopf-an-Kopf-Rennen. Jetzt hat die Hallertau wieder den Kopf vorne.
ERZÄHLERIN
Mit mehr als 17-tausend Hektar Anbaufläche. Craft-Bier, also: handwerklich gebrautes Bier, kommt ab den 1970er-Jahren in den USA auf. [[Als Gegenpol zu den Standard-Biersorten der wenigen großen Brauereien, die die Prohibition der 1920er-Jahre überlebt hatten. Tausende kleine Brauereien entstehen dort – und die Craft-Bier-Welle schwappt auch nach Europa.]] Mit der Beliebtheit des neuen Bier-Stils steigt der Hopfen-Bedarf.
(22. ZUSP.) WALTER KÖNIG
Die Brauer nutzen natürlich den Hopfen sehr gut aus, man nennt das die Hopfenausbeute, Hopfen ist teuer. Für ein Helles oder Pils, wie wir es hier kennen, werden ungefähr 120 bis 200 Gramm Hopfen für hundert Liter eingesetzt, in der Craft-Bier-Szene verwendet man in der Regel acht- bis zehnmal so viel Hopfen, da wird schon mal mit einem Kilo oder mehr pro hundert Liter gearbeitet.
MUSIK ELEKTROCHEMICAL (LÄNGE: 0´26´´) UNTER:
ERZÄHLERIN
Weil Aromahopfen deutlich weniger Bitterstoffe enthält, die jedes Bier braucht. Mit dem Craft-Bier-Boom nimmt auch die Vielfalt der Hopfen-Sorten zu. Ursprünglich gibt es einerseits Bitterhopfen, dessen Lupulin-Körner vor allem Bitterstoffe enthalten, andererseits Aromahopfen, bei dem das Hopfen-Öl die Hauptrolle spielt.
(23. ZUSP.) WALTER KÖNIG
Und mittlerweile gibt es auch eine dritte Kategorie das sind die speziellen Aromasorten, die man im Laufe der Craft-Bier-Bewegung gezüchtet hat, und die Aroma-Varianten nach Zitrus, tropischen Früchten, schwarze Johannisbeere und so weiter ins Bier bringen, wenn man sie im Brauprozess dementsprechend einsetzt.
ERZÄHLERIN
Nach dem Craft-Bier mit seiner besonderen Wertschätzung des Hopfens ist die jüngste Entwicklung wieder eine Krise – die aber nicht nur den Hopfenanbau trifft. In immer mehr Hopfengärten sind Kästen mit Steuerungsgeräten installiert, und am Boden liegen Schläuche. Auch bei Hans Schreier. In regelmäßigen Abständen breitet sich ein feuchter Fleck auf dem Boden aus.
(24. ZUSP.) HANS SCHREIER
Wir dürfen über die Tropfbewässerung, über die Schläuche pro Jahr 1000 Kubikmeter Wasser ausbringen, also man kann 100 Liter Niederschlag ersetzen. Wenn man bedenkt, dass man bei uns in der Gegend einen Jahresniederschlag von 700 Liter, 750 Liter idealerweise hätte, dann ist 100 gar nicht so viel.
ERZÄHLERIN
Entscheidend ist die Versorgung im Juni, Juli und August. Mit der Tropf-Bewässerung landet das Wasser direkt an den so genannten Sommerwurzeln: Feine weiße Fäden in den obersten Zentimetern des Bodens. Noch dazu ist das Wasser in den Schläuchen mit Nährstoffen angereichert.
(25. ZUSP.) HANS SCHREIER
Das ist, wie wenn ein Mensch eine Infusion kriegt, man kann dann ohne Verluste sehr gezielt die Pflanze, sage ich mal, füttern, und somit auch zum guten Ergebnis beitragen.
MUSIK SOFDU UNGA (LÄNGE: 0´34´´) UNTER:
ERZÄHLERIN
In Dürrejahren wie 2018, 2019 ist der Klimawandel existenzbedrohend – für Betriebe, die keine Bewässerungsanlage haben.
Der Hallertauer Hopfenpflanzer-Verband möchte deshalb Wasser aus der Donau ableiten, wenn die Pegel hoch sind, und für den Sommer speichern, damit noch mehr Hopfengärten bewässert werden können; derzeit reichen die Genehmigungen nur für 20 Prozent. Gleichzeitig werden auch klima-stabile Sorten gezüchtet, mit besonders vielen, tief reichenden Wurzeln.
ERZÄHLERIN
Es ist wie immer in der Geschichte des Hallertauer Hopfenanbaus: wieder eine Krise, wieder wird sie bewältigt: Mit Innovationen und Investitionen. Mit neuer Technik und mit Tüftelei. Der Hopfenanbau ist so speziell, der Umfang im Vergleich zur restlichen Landwirtschaft so klein, dass die Hopfenpflanzer auf sich selbst gestellt sind, um Krisen zu bewältigen – unterstützt von der Brauwirtschaft. Denn die ist auf den Hopfen angewiesen. Deshalb werden die sieben Meter hohen Rank-Gerüste auch weiter die Landschaft der Hallertau prägen, dem größten Hopfenanbau-Gebiet der Welt.
Das Gehirn von Kraken ist bemerkenswert. Nur ein Teil davon befindet sich im Kopf, der Rest ist verteilt auf die acht Arme, so können sie sich auch unabhängig vom Zentralgehirn bewegen. Die Komplexität von Signalverarbeitung und Verhalten bei Kraken ist vergleichbar mit der von Wirbeltieren. Wie erklärt man sich das? Von Prisca Straub (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Irina Wanka, Peter Lersch
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. Antje Boetius, Meeresbiologin, Alfred-Wegener-Institut, Bremerhaven
Prof. Dr. Gerhard Haszprunar, Zoologe, Zoologische Staatssammlung München
Prof. Dr. Gilles Laurent, Neurobiologe, Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt am Main
Dr. Michel Kuba, Neuroethologe, Universität Federico II, Neapel
Prof. Dr. Judith Burkart, Evolutionsbiologin, Institut für Anthropologie, Universität Zürich
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Um 1900 suchen die Wiener Sezessionisten, allen voran Gustav Klimt, Anschluss an die europäische Avantgarde in der bildenden Kunst. Sie rebellieren gegen den rückwärtsgewandten Kunstgeschmack der etablierten Kunstinstitutionen und geben sich ein provokantes Motto: der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit. Von Brigitte Kohn
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Karin Becker
Im Interview:
Dr. Mona Horncastle, Kunsthistorikerin, Kuratorin, Autorin, Klimt-Biographin
Dr. Thomas Moser, Kunsthistoriker, technische Universität Wien
Literatur:
Horncastle, Monika, Weidinger, Alfred: Gustav Klimt. Die Biografie. Brandstätter Verlag Wien 2018. Gut lesbare, spannende Biografie über den Jahrhundertkünstler und die Wiener Kunstszene seiner Zeit.
Schulze, Sabine (Hrsg.): Sehnsucht nach Glück. Wiens Aufbruch in die Moderne. Klimt, Kokoschka, Schiele: Verlag Gernd Hatje 1997. Abbildungen, Bildinterpretationen, Essays zu einzelnen Künstlern, Motiven und europäischen Beziehungen der Sezession.
Moser, Thomas: Körper und Objekte. Kraft- und Berührungserfahrungen in Kunst und Wissenschaft um 1900. Dissertation, Fink Verlag München 2022. Wissenschaftliche Arbeit über europäische Kunst um 1900 und die Querverbindungen zwischen Kunst und Wissenschaft. Theoretischer Zugang: sinnesphysiologische Wahrnehmung, Tastsinn
Wunberg, Gotthart: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart Reclam 1981. Originaltexte der Literaten, Philosophen, Psychologen und sezessionsfreundlichen Publizisten (z. B. Hermann Bahr) der Wiener Moderne mit Einführung und Erläuterungen.
Vergo,Peter: Kunst in Wien Klimt-Kokoschka-Schiele. 1898 – 1918. Edel books Neumühlen o. J. Bildband mit viel Text über die im Untertitel genannten Künstler und andere Künstler der Wiener Sezession, inklusive der Architekten und der Wiener Werkstätte
Linktipps: Internetseite von Gesprächspartnerin Dr. Mona Horncastle HIERWir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR BAHR:
„In Europa weiß man von Wien, dass dort immer Sonntag ist, immer am Herd sich der Spieß dreht …, dass es „halt“ die Stadt der Backhendel, der feschen Fiaker und der weltberühmten Gemütlichkeit ist.“
ERZÄHLERIN:
Der österreichische Schriftsteller Hermann Bahr hasst Wien und liebt es zugleich, wie viele seiner fortschrittlichen Zeitgenossen. Am Ende des 19. Jahrhunderts ist die Hauptstadt der österreich-ungarischen Doppelmonarchie einerseits so konservativ-katholisch geprägt wie eh und je und andererseits ein weithin ausstrahlender intellektueller Brennpunkt.
Musik: For Alban Berg 0‘27
Die Wiener Moderne formiert sich. Literaten, bildende Künstler, Musiker und Wissenschaftler treffen sich in den Caféhäusern und führen intensive Debatten. Die Industrialisierung und der Aufschwung von Technik und Naturwissenschaft verändern das Leben und Denken, soziale Reformideen breiten sich aus, und rivalisierende politische Ideologien bekämpfen sich. Sigmund Freud entwickelt in Wien die Psychoanalyse, die auch die Künstler stark beeinflusst: Auch sie wenden sich nun verstärkt dem individuellen inneren Erleben zu. Derweil erbaut die Stadt Wien ihre berühmte Ringstraße ganz im repräsentativen Stil des Historismus. Ein Prachtbau nach dem anderen erinnert entweder an die Antike, die Gotik oder die Renaissance, nur nicht an die Gegenwart. Das stört den Publizisten Hermann Bahr.
Musik: Stück für Klavier h-Moll 0‘25
ZITATOR BAHR:
„Wir sind keine barocken Menschen, wir leben nicht in der Renaissance, warum wollen wir so tun? Das Leben ist anders geworden, (…) da muss auch das Bauen der Menschen anders werden, ihrem neuen Sinn und ihrem neuen Tun gemäß.“
ERZÄHLERIN:
Nicht nur das Bauen, alle Kunst muss anders werden. Aber in den konservativen Wiener Kunstakademien und Künstlervereinigungen schottet man sich ab gegen die europäische Avantgarde, sehr zum Verdruss der jungen Künstlergeneration, die weltoffen sein und gleichzeitig die Eigenheit des Vielvölkerstaates Österreich in die internationale Kunstszene einbringen will. Die Spannungen entladen sich im Jahr 1894 in einem Kunstskandal, wie Wien ihn noch nie erlebt hat. Der aufstrebende Dekorationsmaler Gustav Klimt soll die Aula der neuen Universität mit Allegorien auf die Philosophie, Theologie, Jurisprudenz und Medizin ausstatten. Klimt aber entfernt sich beim Malen seiner Fakultätsbilder stark von den Vorstellungen der Honoratioren; er malt im Stil des modernen Symbolismus. Man sieht einen Totenschädel im Bild der Medizin und einen nackten, alten, verzweifelt grübelnden Mann, umgeben von nackten, verführerischen Frauengestalten, im Bild der Philosophie: Eros und Tod kennzeichnen die Begrenztheit des menschlichen Strebens nach Wissen. Das missfällt den ehrengeachteten Professoren fast noch mehr als Klimts unkonventioneller Umgang mit Nacktheit. Bei ihm sieht man sehr viele lüsterne Blicke und bisweilen sogar das Schamhaar!
Ein Proteststurm bricht los und fegt durch die ganze Stadt. Die Professoren sehen die Moral der studierenden Jugend gefährdet, sagt die Kunsthistorikerin und Klimt-Biographin Mona Horncastle.
01 O-TON DR. MONA HORNCASTLE
Die möchten, dass er Dinge nachbessert, letztendlich zensieren sie ihn. Und Klimt ist erbost. Er rückt die Bilder auch gar nicht raus, zahlt sein Honorar zurück. Und in der Folge nimmt er nie wieder einen Staatsauftrag an.
Musik: Erinnerung für Klavier 1‘09
ERZÄHLERIN:
Es gibt neben Klimt viele weitere Künstler in Wien, deren Schaffen von den damals modernen Kunstrichtungen geprägt ist. Oft sind sie auf mehreren Gebieten gleichzeitig tätig. Klimts enger Freund Carl Moll malt hauptsächlich Landschaften und Stillleben im Stil des Impressionismus, er ist zugleich ein Meister des Holzfarbschnitts und betätigt sich auch als Kunstschriftsteller. Ernst Stöhr ist Maler, aber auch ein anerkannter Musiker und Dichter. Die Künste zueinander in Beziehung setzen, das wollen alle, die sich am 3. April 1897 in der „Vereinigung der bildenden Künstler Österreichs“, kurz Wiener Secession genannt, zusammenschließen. Neben den bereits Genannten entschließen sich unter anderen auch der von Naturalismus und Realismus geprägte Maler Josef Engelhart, die Architekten Joseph Maria Olbrich, Otto Wagner und Josef Hoffmann und der Kunstgewerbler Koloman Moser für eine Mitgliedschaft.
Die Bauten der sezessionistischen Architekten und Stadtplaner prägen Wien bis heute. Sie umfassen ein breites Spektrum, darunter Heil- und Pflegeanstalten, Villen, Kirchen und Wohnhäuser. Es werden häufig radikal neue Materialien wie Beton, Glas und Eisen verwendet, die widerstandsfähig gegen Umweltverschmutzung und Witterungseinflüsse sind und dem wachsenden Hygienebewusstsein der Moderne Rechnung tragen. Die glasierten Platten an Otto Wagners Majolikahaus sind noch dazu, typisch für den Jugendstil, mit farbenprächtigen floralen Motiven verziert.
Musik: Erinnerung für Klavier 0‘45
ERZÄHLERIN
Aber die künstlerisch überragende Größe unter den Sezessionisten ist Gustav Klimt, und er ist auch der erste Präsident der Sezession. Sezession bedeutet Abspaltung; gemeint ist die Abspaltung von etablierten künstlerischen Traditionen und Institutionen wie den Kunstakademien der Zeit. Sezessionen gibt es auch in München und etwas später auch in Berlin. Die Wiener verzichten auf ein Programm. Jeder Künstler geht seine eigenen Wege und knüpft Kontakte zu unterschiedlichen Kollegen in anderen europäischen Ländern, um sie zur Teilnahme an den geplanten Ausstellungen zu bewegen, sagt der Kunsthistoriker Thomas Moser von der Technischen Universität Wien:
02 O-TON DR. THOMAS MOSER:
Diese sehr starke Vernetzung hat auch zu einem Stilpluralismus geführt. Ein Nebeneinander von sehr unterschiedlichen Stilen hat sich auch in der Sezession niedergeschlagen. Es ist eine sehr vielstimmige Bewegung.
Musik: 2. Satz Tempo di Menuetto 0‘31
ERZÄHLERIN:
Die Zeitschrift der Wiener Sezessionisten, die im Januar 1898 zum ersten Mal erscheint, heißt „Ver sacrum“, übersetzt „heiliger Frühling“. Sie ist graphisch sehr aufwändig im Jugendstil gestaltet: geschwungene Linien, florale Formen. Das Titelblatt schmückt ein Bäumchen, dessen Wurzeln den Pflanztrog sprengen.
03 O-TON DR. THOMAS MOSER:
Der Jugendstil leitet sich sprachlich ab von der Zeitschrift „Die Jugend“, die in München verlegt worden ist. Letzten Endes muss man sagen, dass der Jugendstil eine Art Sammelbegriff ist, in Frankreich sind dann andere Begriffe, eben „Art Nouveau“, die neue Kunst, eher üblich. In Spanien ist es der „Modernismo“, in Italien der „Stile Liberti“.
ERZÄHLERIN:
Ver Sacrum stellt Verbindungslinien zwischen bildender Kunst, Literatur und Musik her. Sie versteht sich als Gesamtkunstwerk und propagiert diese Idee: Alle Künste sollen zusammenwirken, damit sich die von Industrialisierung, von ethnischen Spannungen im Vielvölkerstaat und Umbrüchen im sozialen Gefüge getriebene Epoche positiv in ihnen spiegeln und einer erlösten Zukunft zustreben kann.
04 O-TON DR. MONA HORNCASTLE:
Die Sezessionisten wollten nicht schockieren, sondern sie haben sehr stark auf Vermittlung gesetzt, weil sie die Kunst in den Alltag der Menschen bringen wollten. Die Sezessionisten hatten eine Mission und haben daran geglaubt, dass Kunst politisch ist. Weil sie das Leben ästhetisiert oder verfeinert, wie man damals gesagt hat, und damit das Wertesystem der Gesellschaft. Das hehre Ziel der Sezessionisten war also nichts Geringeres als Weltrettung durch Kunst.
Musik: Poem für Klavier 0‘28
ERZÄHLERIN:
1898 organisieren die Sezessionisten die erste Ausstellung, in den Räumen der Wiener Gartenbaugesellschaft.
Gezeigt werden vor allem Werke ausländischer Künstler, die die Wiener noch nie gesehen haben. Die Räume sind kostbar ausgestattet. Jedes Bild kommt gut zur Geltung und korrespondiert mit seiner Umgebung; diese Sorgfalt ist etwas ganz Neues in dieser Zeit. Die Wiener, die in Scharen herbeiströmen, nehmen ein ganzheitliches ästhetisches Erlebnis mit nach Hause. Selbst Kaiser Franz Joseph lässt sich empfangen, kauft aber nichts, hält also Distanz. Doch viele reiche Wiener Bürger wollen die Bilder haben, und anschließend ist genug Geld in der Kasse, um ein eigenes Ausstellungsgebäude in der Nähe des Karlsplatzes zu bauen.
05 O-TON DR.THOMAS MOSER:
Zunächst ist aber geplant gewesen, den Bau für die Sezession am Opernring noch prestigeträchtiger zu platzieren. Das hat allerdings sowohl im Gemeinderat als auch im Kriegsministerium, das wäre gegenüber gewesen und war Besitzer des Baugrunds, zu heftigen Diskussionen geführt. Das Kriegsministerium hat befürchtet, dass seine Ländereien durch die vermeintlich modernistische Verschandelung an Wert verlieren würden, und enorme Preise aufgerufen, so dass als Kompromiss ein anderer Ort gefunden worden ist.
ERZÄHLERIN:
Der Sezessionsbau gilt mit seinen kubischen Formen und seiner auffälligen Kuppel aus vergoldeten schmiedeeisernen Lorbeerblättern
als programmatische Absage an den Historismus und als Paradebeispiel für den Jugendstil in der Architektur. Er ist in moderner Weise zweckgebunden, widersteht aber mit seinem reichen Dekor und den edlen Materialien der funktionalen Nüchternheit des Industriezeitalters. Unterhalb der Kuppel prangt das Motto der Wiener Sezession in goldenen Buchstaben.
ZITATOR:
Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.
Musik: Ode an die Freude 0‘49
ERZÄHLERIN:
Im Jahre 1902, anlässlich der 14. Ausstellung, bekommt die Öffentlichkeit Klimts Beethovenfries zu sehen, der noch heute im Sezessionsgebäude betrachtet werden kann.
07 O-TON DR. MONA HORNCASTLE:
Beethoven um 1900 – das war ein Superstar. Klimt malt sich an seinem Fries an der 9. Sinfonie entlang. Die hat Richard Wagner als Erster als Gesamtkunstwerk bezeichnet. Das verarbeitet Klimt, und natürlich verarbeitet er auch Schillers Ode an die Freude. Die ist bei ihm im Bild aber nicht nur ein Triumphgesang, sondern das war Beethovens Gassenhauer zu der Zeit. Die Melodie hatte echt jeder im Ohr. Und so hat es Klimt geschafft, ein synästhetisches Gesamtkunstwerk zu schaffen in seinem Fries, und da packt er dann noch ganz viel Zeitgeist rein, weil: Was Klimt da malt, das ist musikalisch, das ist eine kultische Verehrung Beethovens als Genie, und das ist ein existentieller Fiebertraum.
ERZÄHLERIN:
Der Fries, eine zusammenhängende Bilderfolge, zeigt den Menschen, so schildert es Klimts Biografin Mona Horncastle, in seinem Ringen mit Krankheit, Wahnsinn und Tod, mit seiner Sehnsucht nach Glück und Erfüllung, und alles strebt auf das eine triumphale Ziel hin: Freude schöner Götterfunken, die Ode an die Freude. Zwischendrin zeigt auch ein Affe seine Zähne. Möglicherweise erinnert er an die Macht der sexuellen Triebe, die Sigmund Freud aus der Tabuzone geholt hat, möglicherweise auch an Darwins Evolutionstheorie, die im 19. Jahrhundert das Menschenbild und das Naturverhältnis revolutioniert. Die konservativen Wiener Bürger wollen aber durchaus nicht vom Affen abstammen und ärgern sich auch und zum wiederholten Male über Klimts nackte Frauen, weil diese eben nicht so züchtig aussehen wie die nackten Liebesgöttinnen der Kunstgeschichte.
Die Wiener hätten sich mit Klimts nackten Frauen vielleicht ganz gern arrangiert, wenn er sie ausschließlich im Glanz der Jugend dargestellt hätte …
09 O-TON DR. MONA HORNCASTLE:
Aber Klimt zeigt sie eben in allen Lebensphasen. Er zeigt sie jung und alt und schwanger und krank und gebrechlich. Das macht er in seinen symbolistischen Gemälden wie eben auch in dem Beethovenfries immer, weil er das Leben nicht beschönigen möchte und weil das ganz existentiell ist für sein Verständnis des Gesamtkunstwerkes. Na ja, was seine Kritiker aber sehen, ist vor allem das Skandalöse.
ERZÄHLERIN:
Dabei kann Klimt noch ganz anders. Seine Aktzeichnungen hält er zu Lebzeiten sorgfältig unter Verschluss. Mit Frauen, die sich selbst befriedigen, wäre die Öffentlichkeit heillos überfordert gewesen. Es reicht schon, dass Klimt niemals heiratet, aber Liebesverhältnisse mit einigen seiner Modelle unterhält und einige uneheliche Kinder hat.
10 O-TON HORNCASTLE:
Klimt legt diese Zeichnungen immer als Serie an, mit bis zu 15 Blättern, und auf diesen Blättern sehen wir alle Stadien der weiblichen Selbstliebe. Klimt setzt in ihnen der Lust der Frau ein Denkmal und gesteht den Frauen zu, was seine Geschlechtsgenossen ihnen absprechen. Nämlich sexuelle Selbstbestimmung und damit Macht.
Musik: 4. Satz Adagietto 0‘51
ERZÄHLERIN:
Klimt setzt die Frauen auch in seiner Porträtkunst machtvoll in Szene, allerdings ganz anders. Vom Körper sind nur Gesicht und Hände sichtbar, der Rest verschwindet unter ornamentreichen Gewändern, die, flächig gestaltet, mit dem ebenso ornamental gestalteten Hintergrund verschmelzen. Betrachtet man Gesicht und Hände, so findet man einen Zugang zum Seelenleben der dargestellten Frau, man kann sich ihren einzigartigen Charakter vorstellen; während die prachtvolle Ornamentik die allgemeine kulturelle Bedeutung von Weiblichkeit für das Kunstschaffen in Szene setzt und den repräsentativen Charakter des Gemäldes betont.
Diese Porträts sind regelmäßiger Teil der Ausstellungen und Klimts Haupteinnahmequelle. Die Auftraggeber stammen meist aus dem jüdischen Großbürgertum. Natürlich sind nicht alle Wiener Juden reich, es strömen auch zahllose bitterarme Juden gerade aus dem Osten in die Hauptstadt des Kaiserreiches; aber wenn sie reich und gebildet sind, so haben sie oft einen unkonventionelleren Kunstgeschmack, als das katholische Bürgertum, und unterstützen vor allem Klimt, aber auch andere Sezessionisten großzügig mit Aufträgen und ihrer Sammlertätigkeit. Klimt kann sich seine Kunden aussuchen.
12 O-TON DR. MONA HORNCASTLE:
Wenn ihn eine Frau ihn nicht interessiert, dann porträtiert er sie nicht. Das war übrigens nicht ganz günstig. Ein Porträt von Klimt hat so ungefähr 10 000 Kronen gekostet, das entspricht knapp siebzigtausend Euro.
MUSIK: 4 Stücke für Klarinette und Klavier, Nr.3 sehr rasch 0‘38
ERZÄHLERIN:
Um 1900 gibt es Spannungen im Geschlechterverhältnis, denn immer mehr Frauen wollen sich der männlichen Dominanz entziehen und auf eigenen Beinen stehen. Warum wendet die Frau in Klimts berühmtem Bild „Der Kuss“ ihr Gesicht ab und bietet dem Mann nur die Wange dar? Hält sie die Hand des Mannes auf ihrer Schulter fest, um ihn von gewagteren Erkundungen abzuhalten? Will sie Abhängigkeit vermeiden, ihre Souveränität behaupten, bei aller im wörtlichen Sinne kniefälligen Hingabe an den bewunderten Geliebten? Manche Experten erkennen im Antlitz der Frau Klimts enge Gefährtin Emilie Flöge, die als selbstständige Designerin arbeitet. Unter anderem entwirft sie locker fallende, modern gemusterte Reformkleider, um die Frauen von Korsett und Mieder zu befreien, sagt Mona Horncastle.
13 O-TON MONA HORNCASTLE
Die beiden, die Starken, als Liebespaar, haben eine Affäre. Die beendet Emilie aber, weil Klimt notorisch untreu ist. Aber sie bleiben, trotz allem, enge Vertraute, und sie teilen sich auch ihre Auftraggeberinnen. Ihr Atelier lässt sich Emilie Flöge übrigens von der Wiener Werkstätte einrichten, und wenn man eine Tapete der Wiener Werkstätte mit einem Stoffmuster von Emilie Flöge vergleicht, dann sieht man sofort die geistige und auch die ästhetische Nähe.
ERZÄHLERIN:
1903 wird diese Wiener Werkstätte im Umfeld der Sezession gegründet. Sie verbindet die elaborierten Techniken des traditionsreichen österreichischen Kunsthandwerks mit dem Formenreichtum des neuen Jugendstildesigns. Ausgewählte Arbeiten wie zum Beispiel Möbelstücke werden regelmäßig auch auf den Ausstellungen gezeigt. Schließlich hat schon die erste Ausgabe der Zeitschrift Ver sacrum ihren Lesern versprochen, dass die Kunst auch den Alltag der Menschen erhellen solle:
Musik: Sonate für Klavier op 1 0‘32
ZITATOR VER SACRUM:
„Wenn du keine Bilder magst, so wollen wir dir deine Wände mit herrlichen Tapeten schmücken. … Oder willst du ein köstliches Geschmeide, ein seltsam Gewebe, um dein Weib oder deine Geliebte damit zu schmücken? … Wir wollen dir beweisen, dass du eine neue Welt kennen lernst, dass du ein Mitdenker und ein Mitbesitzer von Dingen bist, deren Schönheit du nicht ahnst, deren Süße du noch nie gekostet hast!"
ERZÄHLERIN:
Einer der Gründer der Wiener Werkstätte ist der äußerst vielseitig begabte Koloman Moser, der als Graphiker, Ausstellungsgestalter und Möbel- und Stoffdesigner arbeitet. Moser bereichert den hauptsächlich floral geprägten Wiener Jugendstil um geometrische Formen und lässt sich auch von japanischer Kunst inspirieren. Die Produkte der Wiener Werkstätte sind meist kostbar und teuer.
14 O-TON DR. THOMAS MOSER:
Grundsätzlich ist es so, dass die Idee des Gesamtkunstwerks, die Verschränkung zwischen Kunst und Leben, bis heute ein wichtiges künstlerisches Thema geblieben ist. Man muss aber schon feststellen, dass das Vorhaben, Kunst zu demokratisieren, letztlich als gescheitert zu bewerten ist, weil es sich eben doch um Elitenphänomene gehandelt hat.
ERZÄHLERIN:
Bald werfen große Fabrikanten preiswerte Kopien auf den Markt, und der Jugendstil wird zur Modeerscheinung. Der wachsende Erfolg und die unvermeidliche Kommerzialisierung führen dazu, dass unterschiedliche Kunstauffassungen innerhalb der Künstlervereinigung nicht mehr wie früher integriert werden können, sondern zu heftigen Streitigkeiten führen. Soll man das Kunstgewerbe nicht lieber lassen und sich ganz auf die Malerei konzentrieren, soll man Klimts innovativem Wagemut folgen oder sich doch mehr auf impressionistische und naturalistische Malweisen konzentrieren, die zu dieser Zeit für viele Mitglieder modern genug waren? Vor allem Josef Engelhart, ein damals berühmter Maler und einflussreich im Kreis der Sezessionisten, opponiert gegen Klimts Hang zu Ornament, Ästhetizismus und Abstraktion, und seine Anhänger stimmen ihm zu. Fronten bilden sich, und schließlich treten Gustav Klimt, Koloman Moser, Carl Moll und andere aus der Sezession aus. Diese besteht, mit Unterbrechung durch ein Verbot durch die Nationalsozialisten, bis heute fort und widmet sich der Förderung avantgardistischer Kunst der Gegenwart. Noch heute betont sie ihre Unabhängigkeit, genau wie ihre fest in den Kanon der Kunstgeschichte eingegangenen Gründerväter um 1900. Thomas Moser sagt,
15 O-TON THOMAS MOSER:
„… dass die Sezession als Teil einer sehr viel größeren, auch länger andauernden gesamteuropäischen Entwicklung zu verstehen ist, die Kritik an den etablierten Einrichtungen des Kunstbetriebs geübt hat und eine vehemente Kritik am Kunstmarkt. Das wäre später, soweit kann man sich vielleicht aus dem Fenster lehnen, nicht denkbar gewesen, hätten nicht unter anderem die Wiener Sezessionisten diese Pionierarbeit geleistet.
Musik: Abend auf dem Lande für Klavier 1‘09
ERZÄHLERIN:
Nach 1905 haben die verbliebenen Sezessionisten mit dem Problem zu kämpfen, dass nicht sie selbst, sondern die Abtrünnigen um Klimt die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Klimts Ruhm strahlt inzwischen so hell, dass er keine Gruppe mehr braucht. Klimt ist es auch, der die nachfolgende Künstlergeneration großzügig fördert, Egon Schiele und Oskar Kokoschka vor allem. Ohne das große Vorbild Klimt ist Egon Schieles Werk nicht zu denken, wenn auch Schieles Erkundung von Körper und Seele des verstörten modernen Menschen mit allem Ornamentalen bricht und viel radikaler wirkt. Dazu mag auch der 1. Weltkrieg beigetragen haben, der das Vertrauen in das große Versprechen der sezessionistischen Kunst, die Welt zu einem schöneren und besseren Ort zu machen, nachhaltig erschüttert hat. Der Expressionismus bricht sich Bahn – und mit ihm wird ein neues Kapitel der Kunstgeschichte aufgeschlagen.
Elterntaxi, Schulbus oder stundenlanger Fußmarsch - allmorgendlich machen sich zig Kinder auf den Weg zur Schule. Wie hat sich dieser Weg im Laufe der Jahrhunderte verändert? Und wie sieht er in anderen Ländern aus? Radiowissen mit einer Reise durch die Zeit, entlang der Schulwege dieser Welt. Von Susanne Hofmann
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Stefan Wilkening
Redaktion: Maike Brzoska
Im Interview:
Prof. Dr. Rudolf Egger, Professor für Pädagogik am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz, Fachbereichsleiter Empirische Lernweltforschung
Saskia Haspel, Gründerin und Leiterin der österreichischen Montessori-Akademie in Wien
Malte Pfau, Campaigner für Bildung der Kindernothilfe
Linktipp:
- Malte Pfau: Zur Schule ohne Hindernisse – Was Schulwege weltweit mit dem Kinderrecht auf Bildung zu tun haben, 2023: https://www.bildungskampagne.org/zur-schule-ohne-hindernisse-was-schulwege-weltweit-mit-dem-kinderrecht-auf-bildung-zu-tun-haben HIER gehts zur WebsiteUnd noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Einschulung: Tipps für den perfekten Schulanfang auf ARD alpha HIER ENTDECKEN
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER
Wenn Frieda Specker, geboren 1932 in Augsburg, von ihrem Schulweg erzählt, blitzen ihre Augen vergnügt. Sie erinnert sich noch genau an ihre Erlebnisse, damals vor mehr als 80 Jahren:
MUSIK ENDE
1. ZUSPIELUNG Frieda Specker
„Also wir sind mit Freundinnen und mit meiner Schwester immer gemeinsam in Schule gegangen, haben Blödsinn gemacht. Und es war immer schön. Im Winter haben wir Schneeballen in die Kirch nei geschmissen oben, und wenn meine Mutter kein Brot mehr hatte, dann haben wir zehn Pfennig gekriegt. Und dann hat sie gesagt: Aber nicht mit Kuchen vertun, sondern wir sollten uns zwei Brezen kaufen. Ja, was haben wir uns gekauft? Boxer! Boxer waren Amerikaner, die unten mit Schokolade bepinselt waren oder mit Zuckerguss. Ja, und da war man natürlich als Kind ganz wild drauf. Und dann sind wir weiter die Karmelitengasse hoch und da war links das Gefängnis. Und da sind wir immer mit Ehrfurcht vorbei gegangen und haben Mitleid gehabt und Angst gehabt, was da für Räuber drin sind. Und am Rückweg da war dann ein Schuster, der immer so blöd geschaut hat, da haben wir immer an die Scheibe hingehauen, und da habe ich mal zu fest hingehauen, das war eine Katastrophe! Ja, da kann ich mich gut erinnern. Ja, freilich ja, ja, meine Eltern mussten das ersetzen, und: So ein freches Kind!
MUSIK „Sophies Thema“; ZEIT: 00:31
ERZÄHLER
Kleine Abenteuer erleben, Streiche spielen, auch einmal über die Stränge schlagen – das ist es, was auch Waltraud Fischer, geboren 1943 im Allgäu, von ihrem Schulweg in Erinnerung geblieben ist. Noch heute weiß sie, wie sie die Kinder beneidet hat, die in den Einödhöfen hoch oben auf dem Berg lebten – denn deren Schulweg war besonders lang.
MUSIK ENDE
2. ZUSPIELUNG Waldtraud Fischer
Und drum sind wir öfter mal mitgegangen mit denne, das war einfach toll. Freiheit! Du bist nicht so schnell heimgekommen. Im Winter sind sie mit dem Schlitten gekommen. Und man hat gestritten miteinander, und man hat auch die Buben geärgert. Das hat dazu gehört, und es war einfach schön.
MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:34
ERZÄHLER
Den Schulweg umgibt ein Hauch von Freiheit, nicht nur in der Erinnerung der beiden älteren Damen. Er bietet von je her für viele Kinder und Jugendliche einen Freiraum zwischen den Anforderungen der Schule und den Anforderungen der Eltern, eine Nische, in der sie sich weitgehend ohne Erwachsene bewegen können – jedenfalls wenn sie es dürfen, sagt die Montessori-Pädagogin Saskia Haspel, Gründerin und Leiterin der österreichischen Montessori-Akademie in Wien:
MUSIK ENDE
3. ZUSPIELUNG Saskia Haspel
Der Schulweg ist in mehrfacher Hinsicht etwas ganz Besonderes für Kinder. Einerseits kann er eine sehr gute Brücke darstellen zwischen dem Zuhause und umgekehrt. Das heißt, das Kind hat Zeit, Eindrücke zu verarbeiten, sich auch einzustellen darauf, was jetzt Neues kommt. Menschen brauchen ja Zeit für viele Übergänge aus einer Situation in die andere. Und das leistet der Schulweg schon einmal sehr, sehr gut, da Zeit zu geben. Das zweite, und für uns als Pädagoginnen vielleicht immer das Wichtigste ist, dass Kinder durch die selbständige Bewältigung des Schulwegs einfach eine ganz andere Möglichkeit haben, sich draußen in der Welt zu bewähren. Also nicht nur einfach in die Schule zu gehen, sondern natürlich auch Situationen vorzufinden, mit denen sie vielleicht nicht gerechnet haben oder die vielleicht auch an einer Stelle mal ein bisschen herausfordernder sind, und dann auch dieses Gefühl haben zu können: Ich habe etwas selbständig bewältigt – sei es jetzt leicht gewesen oder auch einmal bisschen schwieriger.
ERZÄHLER
Eine Straße überqueren, sich vielleicht an einem finsteren Eck oder einem kläffenden Hund vorbeitrauen, mit anderen ins Gespräch kommen, in der Schule Erlebtes besprechen, sich mit dem Taschengeld eine Kleinigkeit kaufen – Kinder, die solche Situationen ohne Eltern meistern, bekommen die Chance, sich als selbständig und erfolgreich zu empfinden. Für ihre Entwicklung ein wichtiger Schritt, ist die Pädagogin Saskia Haspel überzeugt. Das entscheidende Ziel nennt sich Selbstwirksamkeit:
4. ZUSPIELUNG Saskia Haspel
Also ich fühle mich mächtig, etwas in dieser Welt zu schaffen oder zu verändern. Und je älter das Kind wird, desto größer ist natürlich der Spielraum. Je mehr wir es behindern, desto weniger kann es das Gefühl aufbauen: Ich kann etwas schaffen. Vielleicht nicht beim ersten Mal, vielleicht beim zehnten Mal. Also es hat sehr viel zu tun mit Selbstvertrauen, ja, aber auch mit Selbstwertgefühl. ((Wenn ich mich als handelnde Person fühlen kann, die etwas bewirken kann in dieser Welt, ja, ich glaube, was wünschen wir uns mehr für unsere Kinder als, dass sie sich zu solchen Menschen entwickeln?))
ERZÄHLER
Auf dem Schulweg sind das viele kleine unscheinbare Situationen, in denen sich Kinder selbstwirksam fühlen können, sagt Rudolf Egger, Professor für Pädagogik am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz. Und dennoch prägt sich diese Erfahrung ein, auch unbewusst:
5. ZUSPIELUNG Rudolf Egger
Ein kleines Beispiel: Ein Mädchen kommt an eine Kreuzung, und dort ist ein Fußgängergang in Zebrastreifen. Sie schaut nach links, sie schaut nach rechts, so wie sie das gelernt hat, wieder nach links, und da kommt ein Riesen SUV daher, und sie schaut dem Fahrer in die Augen, und der Fahrer wird langsam, und nur durch den Augenkontakt merkt dieses Mädchen, dass es einen riesengroßen Volvo abbremsen kann, wir nennen das Joint Attention, das sind die Begegnungsflächen, wo ich merke, ich brauche nicht immer eine Druckknopfampel oder Schülerlotsinnen und -lotsen. Ich kann selber, durch so etwas Bescheidenes wie den Augenkontakt, was eigentlich was Großartiges ist, in die Gesellschaft eingreifen und dort meinen Platz finden.
ERZÄHLER
Doch der Pädagogik-Professor Rudolf Egger beobachtet, dass Kindern die Möglichkeit, solche Erfahrungen zu machen, inzwischen oft genommen wird. Das habe mit der Motorisierung und mit der getakteten Arbeitswelt ihrer Eltern zu tun.
6. ZUSPIELUNG Rudolf Egger
Vielleicht haben Sie das auch schon festgestellt – so 20 Minuten vor Schulbeginn ist quasi Großkampf-Arena vor den Schulen. Die Eltern würden ihre Kinder am liebsten mit dem SUV in die Klasse führen, weil sie Angst vor dem Verkehr haben, den sie selber verursachen. Und das ist der Teil, wo wir uns gefragt haben: Was hängt eigentlich am Schulweg, wenn immer weniger Kinder quasi einen selbstgestalteten Schulweg haben - wie hängt es dann mit dem Erleben der Umwelt, mit dem Erlernen von Demokratie, mit dem Erlernen des Miteinander - wie hängt das zusammen?
MUSIK „“I need exile; ZEIT: 00:50
ERZÄHLER
Rudolf Egger forscht zu Lernprozessen, die außerhalb von Institutionen, beispielsweise der Schule, stattfinden und untersucht, was informelle Lernprozesse fördert. Auch der Schulweg ist so eine Lernwelt – oder könnte es sein, sagt Egger: Hier können sich Kinder, zumindest in einem gewissen Rahmen, ausprobieren, sich selbst ihren Weg bahnen, anderen Menschen begegnen, Unvorhergesehenes erleben und auch einmal Umwege machen. All das kennzeichnete über Jahrzehnte den Schulweg, und machte ihn zu einer eigenen kleinen Lernwelt. Egger beobachtet jedoch, dass sich die Spielräume von Kindern zunehmend verengen. Viele Eltern stehen aufgrund ihrer Berufstätigkeit unter Druck. Insbesondere morgens gilt es, alle Familienmitglieder auf die Spur zu bringen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen und alle anstehenden Aufgaben zu bewältigen.
MUSIK ENDE
7. ZUSPIELUNG Rudolf Egger
Man versucht, das sehr strikt zu handhaben, aber was dabei eben, wenn das so reglementiert ist, auf der Strecke bleibt, ist, dass es kaum mehr Begegnungsflächen zwischen den Menschen gibt, sondern es gibt in der Früh Stress bis alle im Auto sitzen, und dann sind sie quasi kleine Monaden, die zugestöpselt sind mit Kopfhörern - dieses Phänomen gibt es schon sehr lange und ist jetzt in den letzten 15 Jahren viel, viel stärker geworden.
MUSIK „Familiar things disappear”; ZEIT: 00:46
ERZÄHLER
Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten tobt heute in vielen Städten der Verkehr und stellt insbesondere für junge Schüler, die damit noch wenig Erfahrung haben, eine Gefahr dar und schränkt ihre Bewegungsfreiheit ein. Der Tag von Kindern gleicht außerdem zunehmend dem von Erwachsenen. Er ist von früh bis spät durchorganisiert: Auf den regulierten Schulalltag folgt die durchgeplante Freizeit. Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen sowie TÜV-geprüfte Spielplätze und wohlgeordnete Parkanlagen sind an die Stelle von unbeaufsichtigten Hinterhöfen, Straßen, öffentlichen Plätzen, Fabrikgeländen und Wäldern getreten, in denen sich Kinder noch vor wenigen Jahrzehnten weitgehend nach ihrer eigenen Vorstellung bewegen konnten. Zeiten, in denen sie niemand unbeobachtet, sind rar geworden für die Kinder von heute.
MUSIK ENDE
Ein wichtiger Lernschritt auf dem Weg zum Erwachsenenalter ist aus Sicht der Pädagogen auch, dass Kinder mit anderen Kindern zusammen sein können, und zwar ohne die Aufsicht von Erwachsenen. Dass sie sich als Mitglied einer Gruppe fühlen und Verantwortung übernehmen, für sich selbst und für andere. Auch dafür eignet sich der Schulweg. ((Zugleich sei ihre Aufgabe, so Saskia Haspel,
9. ZUSPIELUNG Saskia Haspel
dass sie aufmerksam bleiben, dass sie fokussiert sind auf den Straßenverkehr, dass sie genug Selbstsicherheit haben, nicht mitzumachen, wenn andere Kinder auf Ideen kommen, die vielleicht gefährlich sein könnten.))
ERZÄHLER
Aber im gleichen Maße, wie der Schulweg ein wichtiger Schritt eines Kindes zu mehr Autonomie ist, ist er eine Herausforderung für die Eltern. Sie müssen eine Balance finden zwischen ihrem Sicherheitsbedürfnis und dem Selbständigkeitsdrang des Kindes. Die Eltern haben dabei die Verantwortung, dem Kind zu zeigen, wie es sicher zur Schule kommt, müssen es dann aber schrittweise in die Unabhängigkeit entlassen, findet die Montessori-Pädagogin Saskia Haspel:
10. ZUSPIELUNG Saskia Haspel
Also wichtig ist, wirklich aufs Kind zu schauen. Manche Kinder brauchen länger, manche Kinder sind unsicherer, die brauchen danach wirklich länger die Begleitung, und die müssen wir ihnen geben. Natürlich. Was wir nicht machen dürfen, ist aus falsch verstandener Fürsorge vielleicht oder aus eigener Bequemlichkeit, wenn man länger schlafen kann, wenn man das Kind mit dem Auto vor die Schule führt, ihm diesen Schulweg wegzunehmen. Das ist sehr, sehr schade und des verhindert die Entwicklung die Selbständigkeit in diesem Bereich.
ERZÄHLER
Beim Loslassen können Eltern auf das bauen, was sie ihrem Nachwuchs in den ersten sechs Lebensjahren mitgegeben haben, so Saskia Haspel. Normalerweise unternehmen Kinder in dieser Zeit auch schon kurze Wege alleine, besuchen vielleicht Freunde um die Ecke oder gehen auch schon einmal alleine zum Bäcker. Dadurch können das kindliche Selbstvertrauen und das Vertrauen der Eltern in die Kinder gleichermaßen wachsen. Wenn Kinder dagegen viel Zeit im Auto sitzen, anstatt selbst zu laufen oder mit dem Fahrrad zu fahren, hat das sichtbare Folgen für ihre motorische Entwicklung, beobachtet Saskia Haspel im Schulalltag: Beim Treppensteigen gingen viele Schulanfänger noch jede einzelne Stufe mit zwei Füßen oder auch seitwärts.
11. ZUSPIELUNG Saskia Haspel
Und ja, da würden wir uns natürlich wünschen, dass sie mehr Gelegenheit gehabt hätten, sich zu bewegen, und jede Bewegung, die ein Mensch macht, ist gut, wenn sie strukturiert ist und somit natürlich auch ein Schulweg, der zu Fuß bewältigt wird oder ein Teil davon zu Fuß bewältigt werden kann, sehr hilfreich auch für die weitere Entwicklung. Von einer Gehsteigkante hinuntersteigen, braucht Bewegungskoordination, oder links und rechts zu schauen und dann loszugehen. Also man muss gut in seinem Körper zu Hause sein, ein gutes Körperbild haben, seinen Körper gut kennen, auch wissen, was kann ich mir denn zutrauen an Bewegung, und ein wirklich stabiles reifes Gleichgewichtssystem entwickelt zu haben, sind wesentliche Voraussetzungen dafür, unter anderem den Schulweg sicher bewältigen zu können.
ERZÄHLER
Die Eltern müssen sich zudem darauf verlassen können, dass sich ihr Nachwuchs an Regeln hält. Sie brauchen aber auch das Vertrauen in die Kinder und insbesondere in die Jugendlichen, dass sie auch dann zurechtkommen, wenn sie einmal vom vorgegebenen Pfad abweichen, meint Saskia Haspel:
12. ZUSPIELUNG Saskia Haspel 9.30
Menschen probieren neue Dinge aus, auch Kinder probieren neue Dinge aus. Und manchmal ist es doch ein bisschen gefährlich oder manchmal ist es keine besonders gute Idee. Aber auch das gehört dazu und auch daran wächst man. Wir hatten ja noch Samstagsschule, und ich ging an einer Kirche vorbei, und samstags wird häufig geheiratet. Ich hatte die Freiheit, ich hatte noch kein Handy, mir hat nicht nach 10 Minuten schon jemand nachtelefoniert: Wo bleibst du?, wenn ich mich ein bisschen verspätet hab, ich konnte dort Braut schauen, bei der Kirche stehen bleiben, wenn da gerade eine Hochzeit war. Niemand hat sich damals Sorgen gemacht, wenn ein Kind 10 Minuten später dran war. Oder wenn man einen Bus später gekommen ist. Also auch da wird Kindern sehr viel Freiheit genommen. Heutzutage diese Handy-Nabelschnur, dass sofort angerufen wird. Wo bleibst du denn? Was ist denn los?
ERZÄHLER
Saskia Haspel und Rudolf Egger erkennen einen Hang zur Überfürsorge bei heutigen Eltern – das spiegelt sich auch im Begriff Helikoptereltern. Daran, wie Kinder zur Schule kommen, lasse sich ablesen, wie sich die Gesellschaft und auch die Beziehung zwischen Eltern und Kind in den vergangenen Jahrzehnten verändert hätten. Rudolf Egger:
13. ZUSPIELUNG Egger
Kind ist natürlich Statussymbol Nummer eins, also für den Großteil der Eltern – hängt natürlich von der sozioökonomischen Situation ab – ist Kind Identifikationsmerkmal. Also Kinder werden immer wichtiger, Kinder sind ganz wesentliche Elemente der eigenen Lebensplanung, und auf der anderen Seite hat sich das auch eben durch die strukturelle Berufstätigkeit auch verändert, diese Beziehung, wo wir eben vieles organisieren müssen. Und man ist froh, wenn die Kinder hinten im Auto eben zugestöpselt sind. Weil da kann man sich selber konzentrieren, was man alles zu tun hat.
MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:16
ERZÄHLER
Der Weg zur Schule unterscheidet sich nach der Beobachtung von Rudolf Egger deutlich vom Heimweg, vor allem, was die emotionale Verfassung der Schülerinnen und Schüler angeht:
MUSIK ENDE
14. ZUSPIELUNG Egger
Der Weg von der Schule nach Hause dauert in der Regel ungefähr acht bis zehn Minuten länger, weil sie langsamer gehen, nicht so zielbezogen gehen, vielleicht einmal einen Umweg auch noch machen und Möglichkeiten finden, quasi diesen Ballast der Schule auch abzulagern. Weil Schule ist - da darf man sich auch nichts vormachen - ist Druck auch schon für die ganz Kleinen. Schule ist soziales Miteinander, kognitives Lernen, Forderung, und mit dem muss auch umgehen lernen, das Fading-Out von der Schule - auch dafür ist der Schulweg ganz, ganz wichtig.
MUSIK privat Take 016 „Interlude II”; Album: Prince of Persia: The Forgotten Sands; Label: Ubisoft 2010; Interpret: Tom Salta; Komponist: Tom Salta; ZEIT: 00:51
ERZÄHLER
In den Weiten der Savanne im Süd-Westen Kenias: Wenn sich der 8-jährige Musega auf den Weg zur Schule macht – die einzige im Umkreis von 20 Kilometern -, hat er einen ständigen Begleiter: Die Angst vor wilden Tieren wie Hyänen, Löwen und Elefanten.
Exotisch anmutende Schulwege wie der von Musega werden gerne in Dokumentationen gezeigt, beobachtet Malte Pfau von der Kindernothilfe, einem der größten christlichen Hilfswerke in Deutschland. Der gelernte Lehrer setzt sich seit Jahren auf der politischen Ebene für Kinderrechte ein. Sein Schwerpunkt-Thema: Das Recht auf Bildung und die Frage, wie man mehr Kindern eine Schulbildung ermöglichen kann.
MUSIK ENDE
15. ZUSPIELUNG Malte Pfau
Dass Kinder mit einer Seilbahn über Schluchten fahren oder mit einem Esel über Gebirgspässe gehen, das ist natürlich auch alles da, aber ich denke immer, das romantisiert das so ein bisschen, das stellt das so dar, als wären das Abenteuer auf dem Weg zur Schule. Und ich glaube, für 99,99 Prozent der Kinder gilt einfach nur, dass die Entfernung die Einschränkung, Gefahren diese Länge des Weges mit sich bringt.
ERZÄHLER
Malte Pfau war für die Kindernothilfe selbst viel in fernen Ländern unterwegs, unter anderem in Indien und mehreren afrikanischen Ländern und hat dort erfahren: Ein großes Hindernis für Kinder und ihr Recht auf Bildung ist die Distanz zur nächsten Schule. Insbesondere in ärmeren, weniger entwickelten Ländern ist der weite, oftmals beschwerliche Weg zur Schule ein großes Problem.
16. ZUSPIELUNG Malte Pfau
Schulwege von einem bis zwei Stunden – also hin und zurück sind es dann eher drei bis vier – sind schon eher die Regel, aber das sind zumindest noch Schulwege, die ja bewältigt werden können. Die weiterführende Schule ist dann ja häufig eher in Oberzentren oder in Städten angesiedelt. Das heißt, wenn Kinder oder Jugendliche dann die Grundschule verlassen und auf eine weiterführende Schule gehen, bedeutet das häufig, dass das Kapitel Schule zu Ende ist, einfach weil gar nicht mehr erreichbar ist, oder aber dass Kinder schon sehr früh das Elternhaus verlassen, um dann in Städten bei Verwandten zu leben oder aber auch teilweise auch allein zu leben, um die weiterführende Schule wahrnehmen zu können.
MUSIK „The game has changed”; ZEIT: 00:18
ERZÄHLER
Auch in den Großstädten des globalen Südens machen sich unzählige Kinder jeden Tag auf den Weg zur Schule. Erschwert wird ihnen der Weg dort vor allem durch den Verkehr und die unzureichenden Öffentlichen Verkehrsmittel, sagt Malte Pfau.
MUSIK ENDE
17. ZUSPIELUNG Malte Pfau
Also wenn man sich jetzt solche Millionenstädte wie Addis Abeba anguckt oder Nairobi, Kapstadt, Johannesburg, das sind ja alles Städte, wo wir ja in den Townships oder Slums arbeiten, wo es zwar natürlich häufig auch Schulen gibt, aber auch da ist es ja so, dass Kinder innerhalb dieser Städte wahnsinnige Distanzen zurücklegen, die auch nicht vergleichbar sind mit Leben in der Großstadt bei uns, weil es halt einfach kein öffentliches Transportsystem gibt, was man so nutzen kann oder teilweise Schnellstraßen oder Hindernisse innerhalb einer Stadt darstellen, die bedeuten, dass man kilometerweit erst einmal gehen muss, um überhaupt einen Weg zu finden, um diese fast schon Flüsse ohne Brücken innerhalb der Städte überwinden zu können.
ERZÄHLER
Weltweit sterben täglich 500 Kinder bei Verkehrsunfällen, die meisten von ihnen vermutlich auf ihrem Schulweg. Das heißt, für junge Menschen auf der ganzen Welt ist der Straßenverkehr die Todesursache Nummer eins, noch vor Naturkatastrophen, Kriegen oder Seuchen. Dazu kommt insbesondere für Mädchen in vielen Ländern die Gefahr, auf ihrem Schulweg Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden.
18. ZUSPIELUNG Malte Pfau
Weil Raubüberfälle aber auch sexueller Missbrauch an der Tagesordnung ist, und das weiß ich auch aus dem südafrikanischen Kontext, dass da der Missbrauch von Mädchen massiv steigt, wenn die Ferienzeit vorbei ist, weil Schule und Schulweg für Mädchen einfach grundsätzlich sehr gefährlicher Ort ist, wo Übergriffe tagtäglich leider sind.
ERZÄHLER
Nicht wenige Eltern behalten ihre Kinder auch deshalb lieber zuhause, wo sie dann von jeglicher Schulbildung abgeschnitten sind.
MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:27
ERZÄHLER
Aber trotz aller Gefahren, die auf dem Schulweg insbesondere in den Ländern des globalen Südens lauern: Für Kinder weltweit ist der Schulweg nicht nur ein Weg zu einer Bildungsstätte. Er ist auch ein wichtiger Schritt auf ihrem Weg ins selbständige Leben und bietet die Chance auf eine ganz eigene wertvolle Erfahrung. Davon ist Malte Pfau überzeugt.
MUSIK ENDE
19. ZUSPIELUNG Malte Pfau
Für viele Kinder ist das ja auch nur der einzige unbeobachtete Moment, den sie am Tag haben – die Schule ist wahnsinnig streng, das Elternhaus ist wahnsinnig streng. Im Elternhaus sind die auch voll eingebunden. Das ist ja nicht so, dass sie da irgendwie ihr eigenes Zimmer haben, sondern auch häufig ist das irgendeine Lehmhütte, wo man irgendwie zu acht in einem Raum wohnt. Das heißt, dieser Schulweg ist ja für die so der einzige Moment am Tag, wo sie vielleicht auch für sich mal mit anderen Kindern Quatsch machen können oder so ein bisschen, ja, Kind sein können.
MUSIK privat Take 009 „Realise“; Album: Eyes of a Beginner; Label: 2013 Thomas Marland; Interpret: Thomas Marland; Komponist: Thomas Marland; ZEIT: 00:47
ERZÄHLER
Kind sein, Quatsch machen, ein kleines Stückchen Freiheit genießen zwischen Schule und Elternhaus – das haben wohl die meisten Schulwege dieser Welt gemeinsam, auch wenn sie sonst sehr verschieden sind. Und auch die beiden älteren Damen Frieda Specker und Waldtraud Fischer sind sich einig:
20. ZUSPIELUNG
Es war schön, es war lustig, ich möchte‘s nicht missen.
Ein Kind braucht den Kontakt mit anderen Kindern, kann über Lehrer schimpfen und, ja, kann einfach sich ausdrücken lernen. Und das finde ich sehr wichtig.
Das Volk der Yanomamis im Amazonas ist bedroht: Von den Folgen des Klimawandels, aber auch von gelegten Waldbränden, rücksichtslosen Goldsuchern, einer machtvollen Agrarindustrie, Zivilisationskrankheiten. Doch der Indianerstamm kämpft um sein Überleben. (BR 2021)
Autor/in dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Irina Wanka, Thomas Birnstiel, Jennifer Güzel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Davi Kopenawa Yanomami, Autor, Schamane und Sprecher der Yanomami, Alternativer Nobelpreisträger;
Dario Kopenawa, Leiter der Yanomami- Vertretung 'Hutukara';
Bruce Albert, franz. Ethnologe;
Gabriele Herzog-Schröder, deutsche Ethnologin, LMU München;
Martin v. Hildbrandt, Aktivist, Alternativer Nobelpreisträger, Kolumbien;
Christina Haferkamp, Aktivistin für indigene Völker
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Sie gelten als eine der großen Gefahren der Klimaerwärmung, sogenannte Kippelemente. Das sind Teile des Klimasystems, die sensibel auf eine Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur reagieren und sich an einem bestimmten Punkt irreversibel verändern. Was sind das für Elemente und welche Folgen hätte ihr Kippen? (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Roana Brogsitter
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Redaktion: Matthias Eggert
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Prof. Dr. Holger Martens: Das Dilemma der Milchkuh, Agrar- und Veterinär- Akademie (AVA); Steinfurt, 2022
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EXTERNER LINK | https://qualzucht-datenbank.eu/wp-content/uploads/2022/01/Martens-Buch-Milchkuh-FlyerFin.pdf
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Jonas Pfister, Kritisches Denken. Reclam, 2020.
Pia Lamberty, Katharina Nocun, Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. Quadriga, Köln 2021.
Rita Seuß, et al./ Club of Rome, Earth for All: Ein Suvivalguide für unseren Planeten, Oekom Verlag, München 2022
Interviewpartner/innen dieser Folge:
Dr. Jonas Pfister, Philosoph
Dominik Teckentrup, Club of Rome
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Credits
Autor dieser Folge: Marko Pauli
Regie: Christiane Klenz
Es sprach: Andreas Neumann
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Prof. Dr. Angelika Humbert, Glaziologin und Leiterin der AWI-Arbeitsgruppe zur Eisschildmodellierung, Professorin an der Universität Bremen
Dr. Olaf Boebel, Leiter der AWI-Arbeitsgruppe „Ozeanische Akustik“
Prof. Dr. Bettina Meyer, Gruppenleiterin Ökophysiologie pelagischer Schlüsselarten am Alfred-Wegener-Institut und Professorin
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1888: In London streiken die Streichholzmädchen. Dieser Streik wird viel verändern für die Arbeiterklasse in der Hochphase der Industrialisierung. Initiiert von Frauen und Mädchen, die ihr Leben in den Fabriken riskierten. Doch die Geschichte war lange unentdeckt. Katharina Hübel hat eine Nachfahrin getroffen.
Credits
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Rahel Comtesse, Shirin Lotze, Gabi Hinterstoißer
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Samantha Johnson, Gründerin und Vorsitzende des Matchgirls Memorial, Urenkelin von Sarah Chapman
Dr. Anna Robinson, Historikerin, University of East London
Podcasttipp: Der KI-Podcast
Künstliche Intelligenz ist kein Zukunftsthema mehr – KI prägt unsere Gegenwart. Künstlich generierte Texte, Bilder und Stimmen sind überall ... und werden wöchentlich besser. Welche Auswirkungen bringt die KI in Arbeitswelt, Bildung und Gesellschaft mit sich? Wie kann man künstliche Intelligenz selbst im Alltag nutzen? Und was passiert, wenn jeder Inhalt im Internet auch ein KI-Fake sein könnte? Gregor Schmalzried, Marie Kilg und Fritz Espenlaub stellen sich jeden Dienstag den großen und kleinen Fragen der KI-Revolution – und trennen die Fakten vom Hype.
ZUM PODCAST
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Linktipps:
Samantha Johnson, die Urenkelin von Sarah Chapman, einer der Anführerinnen des Streiks der Streichholzmädchen 1888 und der Präsidentin einer der ersten Frauengewerkschaft in Großbritannien, hat das „Match Girls Memorial“ gegründet, das die Geschichte der Arbeiterinnen von Bryant und May aufarbeitet und weiterverbreitet. Sie hat auch das anonyme Grab von Sarah Chapman gefunden und für den Erhalt gekämpft. Sie möchte weitere Erinnerungsorte in London schaffen. Eine inspirierende Seite
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Beethovens Totenschädel berühren oder in einem finsteren Kerker sitzen und das Elend längst verstorbener Gefangener am eigenen Leib erfahren - Erlebnisse dieser Art sind es, die den Komponisten Anton Bruckner faszinieren und inspirieren. Was ist es, das die Faszination des Makabren ausmacht? Autorin: Katharina Neuschaefer (BR 2023)
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Autorin dieser Folge: Katharina Neuschaefer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Peter Weiß
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Diplom-Psychologin Dorit Mettin
Prof. Dr. Dorothea Hofmann, Dozentin für historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater München
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Um 1200 erlebt die Welt der Musik eine Revolution: Die Entwicklung der Mehrstimmigkeit schafft neue Dimensionen des Hörens und Musikerlebens. Die Folgen dieser Revolution klingen bis heute nach. Von Markus Vanhoefer
Credits
Autor dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Thomas Birnstiel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zitator:
Vox est aer spiritu verberatus. Die Stimme ist der von Geist beseelte Hauch,..
Sprecher:
… Isidor von Sevilla, ein Musiktheoretiker des Frühmittelalters. Das Brockhaus-Lexikon schreibt:
Zitator:
Polyphonie. Vielstimmigkeit eines Musiksatzes bei voller melodischer Eigenständigkeit jeder einzelnen Stimme.
(Musik geht weg!) ))
Sprecher:
Es ist im Jahr 1163 nach Christus, als auf der Pariser „Ile de cité“ eine Großbaustelle ihren Betrieb aufnimmt. Steinmetze behauen Granitblöcke und fügen sie in himmlischer Höhe zu Spitzbögen zusammen. Die Kathedrale Notre Dame de Paris entsteht. Die mächtige Kirche soll ein Gesamtkunstwerk werden, Porta coeli, die Pforte zum Paradies, ein mystischer Ort, der seinen Besuchern eine so überwältigende wie universelle Erfahrungen bietet.
Zitator:
Was leuchtet vor Schönheit, was entzückt durch Duft, was dem Geschmack schmeichelt, was das Ohr bezaubert,
Sprecher:
…sagt Suger, der Abt von Saint Denis. „Was das Ohr bezaubert“ heißt: Ein unverzichtbarer Bestandteil des theologischen Konzepts „Kathedrale“ ist Musik.
(Musik 2: Perotin: „Sederunt principes“. Musik bleibt unter Text. Hilliard Ensemble. Auf: Hilliard Ensemble: „Perotin“.
Sprecher:
Dieses „Sederunt“ ist ein Stück, das im Umfeld der Pariser Dombaustelle gesungen wird. Es ist mindestens genauso revolutionär, wie Notre Dames gotische Architektur. Kompositionen wie diese markieren den Beginn der abendländischen mehrstimmigen Musik. Von der „Schule von Notre Dame“ spricht die Musikwissenschaft. Und noch ein weiteres, wichtiges Phänomen lässt sich mit Blick auf die soeben gegründete Kathedrale beobachten. Den entscheidenden Hinweis liefert der Reise-Bericht eines anonymen englischen Mönches. In ihm entdeckt der Leser zwei Namen, Leonin und Perotin, beide sind vor und nach 1200 Kapellmeister der Pariser Kathedrale. Leonin sei…
Zitator:
…Optimus organista - größter Komponist von Organa, …
Sprecher:
…vermerkt der Unbekannte, sein Nachfolger Perotin sei..
Zitator:
…optimus discantor et melior quam Leoninus - größter Meister des Discants und noch bedeutender als Leoninus.
Sprecher:
Leonin und Perotin, es sind die ersten überlieferten Komponistennamen der Musikgeschichte.
(Musik hoch und weg!)
Sprecher:
Die Erwähnung der beiden Komponistennamen ist ein Indiz für ein
gesellschaftliches Umdenken: Der schöpferische Mensch tritt aus dem Dunkel des Kollektivs. Denn bisher unterscheidet der Sprachgebrauch zwischen zwei Musikertypen. Da ist auf der einen Seite der Cantor, der ausübende Musiker, zu ihnen zählt der Komponist. Der Cantor gilt als Musiker zweiter Klasse, ihm gegenüber steht der musicus, der Musiktheoretiker. Der Benediktiner Aurelius Reomensis:
Zitator:
Der Unterschied zwischen musicus und cantor ist so groß wie zwischen praktischem Können und Verstehen. Das praktische Können dient gewissermaßen als Sklave, während das Verstehen sozusagen als Herr befiehlt, da die Hände eines Schaffenden vergeblich arbeiten, außer das Werk wird vom Verstand belebt.
(Musik 3: Perotin: „Viderunt“. Hilliard Ensemble. Auf: Hilliard Ensemble: „Perotin“. ECM 1385.
Sprecher:
Das erwachende Bewusstsein für individuelle kreative Leistung und die Nennung der beiden Komponisten Leonin und Perotin hängen sicherlich zusammen mit der Musik, die in Notre Dame entsteht. Natürlich hat es bereits zuvor mehrstimmige Versuche gegeben, in Paris kristallisieren sich diese Ansätze zu qualitativ hochstehenden Kunstwerken. Kompositionen dieser Art hat es bisher noch nicht gegeben.
(Musik hoch!)
Sprecher:
Dieses „Viderunt omnes“ hat Perotin vermutlich zum Weihnachtsfest 1196 geschrieben. Es ist die erste bekannte vierstimmige Komposition der abendländischen Musik. Perotin hat das epochale Werk im so genannten Organum-Stil verfasst, der von einer rhythmischen Motorik gekennzeichnet wird. Der Begriff „Organum“ ist für unser heutiges Verständnis verwirrend, denn er hat mit dem Instrument Kirchenorgel nichts zu tun. Organa sind „Engelsgesänge“:
Zitator:
Celeste organum hodie sonuit in terra, / ad partum virginis superum cecinit caterva - Das himmlische Organum ertönte heute auf der Erde, / die überirdische Schar sang zur Geburt der Jungfrau,..
Sprecher:
…. heißt es in einem zeitgenössischen Weihnachtshymnus.
(Musik 4: Monteverdi: „Missa in illo tempore“. Daraus: “Gloria”. Sprecher darüber! The Sixteen.
Sprecher:
Die Ära der Vokalpolyphonie erstreckt sich über 400 Jahre. Sie entwickelt ihre erste Blüte um 1200 und verklingt im Übergang der Renaissance zum Barock an der Schnittstelle des 16ten zum 17ten Jahrhunderts.
(Musik hoch)
Sprecher:
Dieses Gloria aus Claudio Monteverdis 1610 komponierter „Missa in illo tempore“, kennzeichnet den musikhistorischen Bruch. Erst zur Monteverdi-Zeit entwickelt sich unsere moderne Harmonielehre, die den Zusammenklang mehrerer Töne als Akkord begreift und diese Akkorde in einem funktionalen Zusammenhang bringt. Die Harmonielehre der „musikalischen Neuzeit“ denkt vertikal, die polyphonen Komponisten des Mittelalters und der Renaissance denken dagegen horizontal. Sie schichten eigenständige melodischen Linien übereinander. Ein Empfinden für Akkorde gibt es noch nicht. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
(Musik kurz hoch und weg!)
Sprecher:
Wie funktioniert Vokalpolyphonie? Wie sieht polyphone Kompositionstechnik aus? Was ist der geistige Hintergrund? Um das Prinzip der Mehrstimmigkeit zu begreifen, ist es notwendig, sich mit deren Entstehungsgeschichte genauer auseinanderzusetzen. Und die beginnt lange vor dem Bau von Notre Dame und Perotin.
(Musik 5: Notker: „Innocentes- Sequenz „Laus tibi Christe“. Ensemble Gilles Binchois. Auf: „Musique et poesie à Saint-Gall”. harmonia mundi France
Sprecher:
Mit dieser einstimmigen Sequenz sind wir sind in den Jahren 500 bis 1100 nach Christus. Ohne Musiktheorie keine Praxis, denn die Mehrstimmigkeit benötigt ein ausgeklügeltes Tonsystem. Dieses Konstrukt schaffen gelehrte Mönche wie der Sankt Gallener Klosterbibliothekar Notker der Stammler oder der italienische Benediktiner Guido von Arezzo. Sie legen das musiktheoretische Fundament, auf dem die Musik des polyphonen Zeitalters ruhen wird. Diese geweihten Männer sind Wissenschaftler, die Musik als Teil der „sieben freien Künste“ betreiben. Die „Artes Liberales“ sind im Mittelalter der Kanon der universitären Bildung. Einer ihrer Fach-Bereiche ist, neben der Theologie, der Rhetorik und der Mathematik, die Musik. Allerdings nicht als ausübende Kunst, sondern als Mischung aus Musiktheorie und Physik bzw. Akustik. Der Gelehrte Cassiodor:
MUSIK ENDE
Zitator:
Musik ist die Wissenschaft, die die Harmonie der Dinge untereinander, das heißt ihrer Klänge, nach ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten erforscht.
(Musik 6: Perotin: „Dum sigillum“. Hilliard Ensemble. Auf: Hilliard Ensemble: „Perotin“.
Sprecher:
Was sind die musiktheoretischen Voraussetzungen der Vokalpolyphonie? Vor der Mehrstimmigkeit steht Einstimmigkeit. Aber bereits sie braucht Grundlagenforschung. Das ist zunächst die physikalische Analyse eines klingenden Tones, meist anhand einer schwingenden Saite. So führt die Beobachtung von Obertonreihen zur Entwicklung von Tonleitern. Ein zweiter Schritt zur Polyphonie ist die Erfindung einer Notenschrift mit exakter Tonhöhe. Sie ermöglicht die genaue Zuordnung von Tönen zu einem gemeinsamen Klang. Ein dritter Schritt ist folgende Überlegung: Wenn zwei Töne zusammen erklingen, was empfindet unser Ohr als wohlklingend und was nicht?
MUSIK ENDE
Zitator:
In der Musik gibt es bestimmte festgelegte Intervalle, aus denen Zusammenklänge entstehen können, …
Sprecher:
… „Musica Enchiriadis“, ein berühmtes Traktat des späten 9. Jahrhunderts. Die Definition, welche Intervalle, also welche Tonabstände, konsonant und welche dissonant sind, ist eine der weitreichendsten „Regeln“ der westlichen Musik. Nach diesen Kriterien komponieren Leonin und Perotin. Und noch Jahrhunderte nach ihnen werden Komponisten nach diesen Kriterien komponieren.
Musik 7: Johannes Ockeghem: „Missa Mi-MI”. Daraus „Sanctus“.
The Clecrks´Group.
Sprecher:
Und dann gibt es noch einen wichtigen Aspekt für das Verständnis der polyphonen Musik von Perotin bis Monteverdi. Der Zusammenhang zwischen Mathematik, Musik und Theologie. Diese Idee führt uns zurück zu den „sieben freien Künsten“ des Mittelalters. In deren Philosophie gehört alles zusammen, die Bewegung der Gestirne, der Klang einer Saite, der menschliche Herzschlag, all das lässt sich in Zahlen ausdrücken. Die wiederum sind Offenbarungen einer göttlichen Harmonie.
Zitator:
Die Musik ist eine Lehre, bzw. eine Wissenschaft, die von den Zahlen handelt, …
Sprecher:
…schreibt Aurelius Cassiodor im sechsten Jahrhundert:
Zitator:
Auch der Himmel und die Erde und alles, was auf göttliche Anordnung hin geschieht, besteht nicht ohne Musik; wie Pythagoras bezeugt, ist diese Welt durch Musik begründet und wird durch Musik gelenkt.
Musik 8: Philippe de Vitry: „Impudenter Circumvivi”. Sprecher darüber! Auf: Sequenzia: “Philippe de Vitry“ deutsche harmonia mundi.
Sprecher:
Von der Mystik zum realen Klang. Musik ist immer ein Fall von Moden, was heute in ist, ist morgen out. Das 13. Jahrhundert. Paris ist das Zentrum der frühen Mehrstimmigkeit. In der Seine-Stadt werden Innovationen entwickelt und allgemein gültige Standards gesetzt. Der erste polyphone Megatrend ist das Organum. Um 1250 wird es von einer Form verdrängt, die für die Mehrstimmigkeit genauso bedeutend sein wird, wie die Sonate für Klassik und Romantik: Die Motette.
Sprecher:
Das Revolutionäre an der mittelalterlichen Motette ist ihr Umgang mit dem Text. Der Begriff Motette selbst ist eine Verkleinerungsform des französischen „mot“, auf deutsch „Wort“, und bedeutet so viel wie „viele kleine Wörtchen“, denn in ihr werden die Stimmen, manchmal jede für sich, neu textiert. Diese Neu-Dichtung kann sowohl kirchlich als auch weltlich sein.
(Musik 9: privat: Anonymus: „Je ne chant pas“. Auf: Gothic Voices: „The Marriage of Heaven and Hell”. )
Sprecher:
„Je ne chant pas“ ist diese Motette eines unbekannten Meisters des 13. Jahrhunderts überschrieben.
Zitator:
Ich singe nicht aus Heiterkeit oder Fröhlichkeit, denn die Liebe hat mich so lange leiden lassen. Ich werde mich nie von diesem Leiden geheilt sehen. Denn niemand außer ihr kann mich wieder gesund machen.
Sprecher:
Dem allegorischen Liebesleid steht in einer anderen Gesangsstimme Liebeslust gegenüber:
Zitator:
Ich möchte ihr zuliebe singen, die ich so lange geliebt habe. Gott! Ich fand so viel Vergnügen daran, sie anzuschauen, ihren schönen Körper und ihr rosiges Gesicht.
(Musik kurz hoch!)
Sprecher:
Motetten wie diese gelten als elitär und sublim.
Zitator:
Diese Art von Musik sollte nicht vor der breiten Bevölkerung aufgeführt werden, denn diese versteht weder ihre Subtilität, noch hat sie Freude daran, sie zu hören, …
Sprecher:
…warnt ein Traktat des Jahres 1300. Das heißt auch, mit der Motette verlässt die musikalische Hochkultur die Kathedrale und erschließt sich ein höfisches Umfeld.
(Musik hoch mit Schluss.)
Sprecher:
Im Jahr 1322 sorgt eine Abhandlung für Aufsehen, die einer ganzen musikgeschichtlichen Epoche den Namen gibt. „Ars Nova“. Verfasser ist Philippe de Vitry, ein ehemaliger Student der Pariser Sorbonne, der seine Kirchenkarriere als Bischof von Meaux beenden wird.
Zitator:
Wisse, dass Musik die Wissenschaft vom richtigen Singen ist, …
Sprecher:
…steht in der Einleitung eines Traktates, in dem sich Philippe de Vitry mit einem essenziellen Problem der polyphonen Musik seiner Zeit auseinandersetzt. In der damals gebräuchlichen Notation lassen sich schwierige rhythmische Verhältnisse nicht darstellen. Eine Lösung dieses Dilemmas wäre ein einfaches Hilfsmittel, der Taktstrich. Doch auf diese naheliegende Idee kommen selbst die klügsten Musiktheoretiker über Jahrhunderte nicht. Stattdessen erfindet de Vitry Sonderzeichen und komplexe Regeln für Rhythmusmodelle.
(Musik 10: / privat: Philippe de Vitry, Cum statua. Motette zu 3 Stimmen, BLUE, Music of the Gothic Era (CD 2); ZEIT: 01:20
Sprecher:
Diese Innovationen erschweren das Verständnis eines Notentextes ungemein - Notationskunde ist heute ein Fach der Musikwissenschaft - andererseits öffnen sie den Komponisten das Fenster zu bis dahin nicht realisierbaren Gestaltungsmöglichkeiten. „Ars Nova“ bedeutet deshalb, eine „neue Kunst“ als Avantgarde, die sich bewusst gegen die „alte Kunst“ „Ars antiqua“ abgrenzt.
(Musik hoch)
Sprecher:
Philippe de Vitry, der Vordenker der „Ars Nova“, ist einer der führenden Intellektuellen seiner Zeit, der musikalische Superstar des 14. Jahrhunderts ist jedoch ein anderer: Der Kleriker, Höfling, Komponist und Dichter Guillaume de Machaut. Das Allround-Genie, das viele seiner Texte vertonte, soll sogar von Groupies umschwärmt worden sein. So raunt ein weit verbreitetes Gerücht, der alte Machaut sei den Verführungskünsten eines 17-jährigen Mädchens aus dem Hochadel erlegen, das an seinem Ruhm teilhaben wollte. Das Ergebnis der „unheiligen“ Liaison ist angeblich einer der ersten Liebesromane der französischen Literatur: „Le Livre du voir dit - Das Buch von der wahren Dichtung“. In einer pikanten Szene überreicht die blutjunge Protagonistin ihrem Geliebten, einem nicht mehr ganz taufrischen Poeten, den goldenen Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel, der Clavette.
Zitator:
Und die Musik ist eine Wissenschaft, sie will, dass man lacht, singt oder tanzt,…
Sprecher:
…heißt es im Prolog eines Machaut-Manuskripts.
Musik 11: Guillaume de Machaut: „Ma fin est mon commencement“. Sprecher beginnt bereits unter Text! Hillard Ensemble.
Sprecher:
Superstar Machaut, der Erfolg verhilft dem Kanonikus der Kathedrale von Reims zu einem außergewöhnlichen Künstlerleben. Machaut kann sich seine Mäzene aussuchen. Er schließt sich dem Hofstaat des Herzogs Johann von Luxemburg an, den er auf dessen Reisen und Kriegszügen begleitet. Vermutlich ist Machaut sogar vor Ort, als Johann in der Schlacht von Crécy, dem Ausgangspunkt des 100-jährigen Krieges zwischen Frankreich und England fällt.
MUSIK ENDE
(Musik 12: Guillaume de Machaut: „Missa de Notre Dame“, Daraus: „Agnus Dei“. Sprecher nach kurzer Zäsur darüber. Hillard Ensemble.
Sprecher:
Neben seinem so facettenreichen wie raffinierten weltlichen Oeuvre hat Guillaume de Machaut auch als Kirchenkomponist ein musikhistorisches Ausrufezeichen gesetzt. Um 1360 verfasst er die „Messe de Notre Dame“. Es ist die älteste uns bekannte Vertonung des liturgischen Mess-Textes eines einzelnen Komponisten.
(Musik hoch!)
Sprecher:
Komponisten wie Machaut oder Perotin verbindet eines: Die Art und Weise, wie sie komponieren. Sie denken nicht, wie wir heute, in vertikalen Akkorden, sondern horizontal. Das heißt, die Meister der Polyphonie schichten Linie über Linie. Grundlage ihrer Werke ist der so genannte Cantus, eine vorgegebene Melodie. Diese Melodien, es sind meist bereits gebräuchliche liturgische Gesänge, werden zunächst nicht im Original übernommen. Die Notre-Dame-Schule verwendet nur kleine Abschnitte, deren Notenwerte zu schier endlos ausgehaltenen Tönen gestreckt werden. Über diesen Slow-Motion-Cantus wird eine zweite, wesentlich bewegtere Stimme gelegt, der Discantus, danach noch eine dritte Stimme, usw. Die kreative Gestaltung dieser Stimmen ist der eigentliche Kompositionsprozess.
(Musik 13: Josquin Desprez: „Missa l´homme armé“. Daraus „Kyrie“. / CD33925; ZEIT: 01:20)
Sprecher:
Im Laufe der Jahrhunderte verändert sich jedoch der Cantus, bzw. Cantus firmus. Wie hier in der „Missa l´homme armé“ von Josquin Desprez. Die Melodie, die diesem Kyrie zugrunde liegt, ist das Lied vom „bewaffneten Mann“, einer der großen weltlichen Hits der Zeit.
(Musik hoch!)
Sprecher:
Wie ist es mit der Geschichte der Vokalpolyphonie weitergegangen? Es gäbe noch viele Kapitel, die wir aufschlagen könnten. Zum Beispiel das des italienischen Trecento mit dem leuchtenden Namen Francesco Landini. Oder das der Franco-flämischen Schule, sie ist das herausragende musikalische Kraftzentrum der Früh-Renaissance. Johannes Ockeghem, Heinrich Isaac oder der große Josquin Desprez sind hier zu nennen. Die polyphonen Klänge der Franco-Flamen strahlen über ganz Europa bis nach Italien. Dort finden wird den Komponisten, der während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Maß aller Dinge wird: Den päpstlichen Kapellmeister Giovanni Pierluigi da Palestrina. Der „Fürst der Musik“ komponiert in politisch schwierigen Zeiten, jenen von Reformation und Gegenreformation. Der Legende nach schreibt Palestrina seine Missa Papae Marcelli, um das Trienter Konzil vom Verbot mehrstimmiger Sakralmusik abzuhalten. Mit Erfolg. Mit Segen der Kurie wird der so genannte Palestrina-Stil sogar zum verbindlichen Modell für alle Kirchenkompositionen.
Musik 14: Palestrina: “Missa Papae Marcelli”. Daraus “Credo”.
Sprecher:
Am Ende unserer Zeit-Reise durch 400 Jahre Polyphonie steht eine Frage: Wie „vokal“ war die frühe Mehrstimmigkeit? Die Musikwissenschaft war lange vom „Ideal des reinen A-capella-Klangs“ überzeugt. Seit einiger Zeit melden sich immer mehr Zweifler zu Wort: Zwar ist die Mehrstimmigkeit des Mittelalters gesungene Musik. Aber was ist mit Instrumenten? Auch die gibt es. In „La Remède de fortune“ zählt Guillaume de Machaut dutzende auf:
Zitator:
Ich sah sie alle in einem Kreis, die Harfe, Hörner, Sackpfeifen, die Rebeque, Monochorde, Businen, Cymbeln, Violen, Flöten, Pfeifen…
Sprecher:
Kamen diese Instrumente in einem gesungenen Machaut-Stück zum Einsatz? Haben sie die Gesangsstimmen gedoppelt und wenn ja, welche? Wurden Gesangsstimmen vielleicht sogar von Instrumenten ersetzt? Die uns erhaltenen Manuskripte bieten keinerlei Hinweis. Die Aufführungspraxis Alter Musik ist ein spekulatives Abenteuer, bei dem es keine eindeutige Lösung gibt.
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Autor dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Sabine Kienhöfer
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Redaktion: Thomas Morawetz
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Für Polen ist der 1. September 1939 ein zentrales Datum der Erinnerungskultur: Der Überfall der Wehrmacht auf das Land bedeutete den Beginn der brutalen deutschen Besatzung. Doch die Deutschen assoziieren mit dem Datum nur allgemein den Beginn des 2. Weltkriegs. Antideutsche Ressentiments sind bis heute in Polen präsent, die Verständigung über die historischen Traumata dauerte lange - und dauert noch an. Von Jochen Rack
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
OT 01 Basil Kerski:
2.40 Der 1. September ist ein sehr emotionales Datum, weil es ist immer Schulbeginn, () und dass dieser Krieg auch am 1. September, diesem Tag begann, das symbolisiert noch einmal, wie existentiell Kriege sind, die auch Zivilbevölkerung treffen.
OT 02 Urban
0.30 Der 1. September ist der Tag, das ist die große Erzählung von Polen zu Beginn des Krieges: Polen wird angegriffen von einem brutalen Feind.
OT 03: Und wird von denen (), auf die man Hoffnungen gesetzt hatte, nämlich den Briten und Franzosen im Stich gelassen. Das ist die polnische Narration bis heute. 0.55/ Das ist ein zentraler, großer Gedenktag, mit Feiern, mit Politikerreden, mit Kranzlegungen, mit Gedenkminuten, das ist alles auch am 1. September.
OT 04 Jacek Koltan:
0.30 Die Erfahrung des Kriegs ist sehr präsent in dem kollektiven Bewusstsein der Polen. /
OT 05: Und auch der Erfolg der polnischen Museen, die in den letzten 20 Jahren entstanden sind, v.a. das Museum des Warschauer Aufstandes, aber auch des Museum des 2. Weltkrieges in Danzig, hat geholfen, mit der schwierigen und traumatischen Vergangenheit besser umzugehen.
Musik hochziehen und unterblenden
Sprecherin:
Der 1. September 1939 ist als Tag, an dem der Zweite Weltkrieg begann, in der Erinnerung der Völker tief eingebrannt. Doch hat der deutsche Überfall auf Polen, mit dem der Weltkrieg seinen Auftakt nahm, im Gedächtnis von Polen und Deutschen unterschiedliche Spuren hinterlassen. Sieger und Besiegte erinnern sich auf verschiedene Weise an das historische Ereignis, erklärt der Berliner Osteuropahistoriker Stephan Lehnstaedt:
OT 06 Lehnstaedt:
0.25 Die vergleichende Erinnerung in Polen und Deutschland ist insofern interessant, weil in Polen wird es erinnert als der Beginn einer Invasion von zwei Seiten: Also Deutschland von Westen und die Sowjetunion, die mit Russland gleichgesetzt wird, von Osten, natürlich findet das erst am 17. September statt, der Einmarsch der Russen, es ist trotzdem der Überfall von beiden totalitären Diktaturen. Die Erinnerung in Polen ist in Bezug aufs eigene Land, also das ist der Überfall auf uns, wogegen das in Deutschland eher unspezifisch, ja das ist der Beginn des 2. Weltkrieges.
Dark operation red 0‘35
Sprecherin:
Für die Polen bedeutete der Überfall der Wehrmacht das Ende der nach dem Ersten Weltkrieg wiedergewonnenen Staatlichkeit und sechs Jahre brutales deutsches Besatzungsregime, das 5-6 Millionen polnischer Bürger, darunter 3 Millionen Juden, das Leben kostete. Für Hitler-Deutschland dagegen war die in wenigen Wochen erfolgte Eroberung Polens ein erster großer militärischer Sieg und eine Ermutigung für das Nazi-Regime, seinen imperialistischen Feldzug in ganz Europa fortzusetzen.
Wochenschau
Sprecherin:
Der 2. Weltkrieg hat für Deutschland die Teilung und für Polen die Wiedergeburt als sozialistischer Staat bedeutet. Heute ist die Erforschung der geschichtlichen Ereignisse weit vorangeschritten. Doch im öffentlichen Bewusstsein der Deutschen gibt es blinde Flecken über die von den Nazis in Polen begangenen Verbrechen. Die Erinnerung an den Holocaust, das Gedenken an Auschwitz überdeckt vieles andere. Und die Polen wissen nicht immer Bescheid über das, was an Aufarbeitung der Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland passiert ist. Die erwünschte Aussöhnung zwischen den beiden Völkern ist noch immer eine politische und zivilgesellschaftliche Aufgabe. Dabei kommt der Etablierung einer Gedenkkultur, die den unterschiedlichen historischen Erfahrungen von Polen und Deutschen Rechnung trägt, eine bedeutende Rolle zu, meint der in Warschau lebende Autor und ehemalige Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Thomas Urban:
OT 07 Urban:
1.55 Wir haben ja das institutionalisierte Gedenken im „Institut für das nationale Gedenken“ - das heißt wörtlich so -, das alle Akten von 1939-1989 verwaltet, also nicht nur Krieg und Besatzung, sondern danach die Zwangsmitgliedschaft im Ostblock bis 89. Wir haben den 1. September zentral in allen Schulprogrammen, in den Geschichtsbüchern, im Gemeinschaftskundeunterricht, es wird auch von der katholischen Kirche begangen als Gedenktag. Denn was in Deutschland wenig bewusst ist, die Besatzung, die am 1. September ihren Auftakt nahm, war ja auch verbunden mit einer Christenverfolgung in Polen, 2.40 nicht nur mit der Judenverfolgung, sondern die deutschen Besatzer haben auch die katholische Kirche in Polen verfolgt, und ihre Repräsentanten.
Musik: Heartbeat 2 0‘32
Sprecherin:
Dem deutschen Besatzungsterror fielen tausende Vertreter der polnischen Elite zum Opfer, Offiziere, Priester, politische Repräsentanten. Aber auch ganz normale Leute, die das Pech hatten, Opfer deutscher Vergeltungsmaßnahmen zu werden wie zum Beispiel die Bewohner des ostpolnischen Dörfchens Michniow, das die SS als Racheaktion für einen Partisanenangriff am 12.und 13. Juli 1943 auslöschte und über 200 Menschen tötete. Heute erinnern ein Museum und eine Gedenkstätte in Michniow an die Opfer. Kriegsopfer waren aber auch die hunderttausenden von Polen, die als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich oder andere von den Deutschen besetzte Länder deportiert wurden. Seit 2024 erinnert an sie und die Deportierten aus anderen Ländern in Weimar das Museum „Zwangsarbeit“. –
Musik: Nocuturnal research red 1‘09
Sprecherin:
Die Aufarbeitung der Vergangenheit führte in Polen wie Deutschland zur Etablierung zahlreicher Museen und Gedenkstätten. Doch der Prozess der Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschen und Polen dauerte lange. In den Nachkriegsjahren dominierten in Polen verständlicherweise die antideutschen Gefühle, und in Deutschland kam es zur Verdrängung der Schuld. Für Westdeutsche verschwand Polen im Kalten Krieg hinter dem Eisernen Vorhang, das gegen seinen Willen zum Warschauer Pakt gehörende Land wurde dem feindlichen Lager zugeschlagen. Für Polen wiederum war die BRD ein Feind in der ideologischen Konfrontation zwischen Ost und West. Ein menschlicher Austausch fand kaum statt. Die Heimatvertriebenen, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten bzw. dem nach Westen verschobenen Polen fliehen mussten, und ihre Verbände waren ein politisches Unruhepotential bei der Aussöhnung, denn die Frage der Grenze zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland war völkerrechtlich nicht geregelt. Erst die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt erkannte im Jahr 1970 die Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze vertraglich an, allerdings nicht verbindlich für den Fall einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands. Brandt setzte anlässlich der Vertragsunterzeichnung in Warschau ein unvergessliches Zeichen der Aussöhnung, als er vor dem Ehrenmal für die Opfer des jüdischen Gettoaufstandes 1943 auf die Knie fiel. Für die deutsch-polnischen Beziehungen ein äußerst bedeutsamer Moment, sagt der Danziger Philosoph und Forschungsleiter am Danziger „Europäischen Zentrum der Solidarität“ Jacek Koltan.
OT 08 Koltan- Anfang kürzen:
Natürlich es war auch in Polen eine tiefe Erfahrung dieser Geste spürbar und sichtbar, aber man hat natürlich auch diese politische Spielerei zu beobachten, wie Willy Brandt dargestellt wurde, wie die Perspektive manipuliert wurden von den Bildern. Man darf nicht vergessen, wir sprechen von dem kommunistischen Polen und von einem westlichen Vertreter der kapitalistischen Welt, der immer als Gegner dargestellt wurde. Die ideologischen Unterschiede haben dazu geführt, dass diese Geste in Polen nicht genug Anerkennung gefunden hat. 9.30
Sprecherin:
Auch in der Bundesrepublik war Brandts Ostpolitik nicht unumstritten, sagt der Historiker Stephan Lehnstaedt:
OT 09 Lehnstaedt:
45.00 () Die Hälfte der deutschen Bevölkerung hat das 1970 abgelehnt: sich entschuldigen bei den Polen, dem geht’s wohl nicht ganz gut? Auf die Ostgebiete verzichten, was soll denn das? Im kommunistischen Polen damals, wo es keine freie Presse gibt, viel weniger wahrgenommen. () Es gibt inzwischen in Warschau eine Erinnerungsstele für diesen Kniefall, also etwas, das man schon erkennt als wichtig für deutsch-polnische Aussöhnung.
Musik: Nature existence d 0‘29
Sprecherin:
Schon einige Jahre vorher hatte der Prozess der Aussöhnung von Polen und Deutschen begonnen. In den frühen sechziger Jahren forderten evangelische Intellektuelle die deutsche Politik zur Anerkennung der polnischen Westgrenze auf. Und 1965 adressierten die katholischen Bischöfe Polens einen Brief an ihre westdeutschen Amtsbrüder, in denen sie Vergebung gewährten und um Vergebung baten.
OT 10 Lehnstaedt:
Für die polnische Seite total wichtig ist der Brief der polnischen Bischöfe, wir vergeben und wir bitten um Vergebung, und das war damals natürlich in Polen hochumstritten, wofür bitten wir denn um Vergebung? Die polnischen Bischöfe hatten das gemünzt auf die Vertreibung, Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa. Das ist das Gegenstück zu der als skandalös empfundenen Geste Brandts… 46.30
OT 11 Urban:
Zum ersten Mal haben Repräsentanten der polnischen Eliten das Wort „Vertreibung“ gebraucht, das war ja ein Tabu in der kommunistischen Zeit. 19.30 [] Also es wurde zum 1. Mal die Vertreibung beim Namen genannt und es wurde gesagt: Jawohl, da ist auch den betroffenen Deutschen Unrecht geschehen. 20.00
Sprecherin:
Das kirchenpolitische Ereignis zeigt auch, welche bedeutsame Rolle die polnische katholische Kirche für den Abbau von Feindbildern im Kalten Krieg spielte. Nicht zuletzt trug der polnische Papst Woityla, Johannes Paul II zum Fall des Kommunismus bei, indem er die Solidarnosc-Bewegung unterstützte, die 1989 Polens Unabhängigkeit von der Sowjetunion erkämpfte.
OT 12 Urban:
5.30 Die Erfolgsgeschichte hat begonnen, der Wendepunkt war das Jahr 1989, der Fall der Berliner Mauer, der ja nur möglich war, was in Deutschland wenig beachtet wird, dass die Polen dazu erhebliche Vorarbeit geleistet haben. Denn sie haben im Juni 1989 die kommunistische Führung abgewählt, in den ersten freien Wahlen im Ostblock, und Polen wurde dadurch zu einem riesigen Loch im Eisernen Vorhang 1989, durch den ja auch schon zehntausende von DDR Bürgern in den Westen gelangt sind.
Musik: Still waiting red. 0‘39
Sprecherin:
Ein neues Kapitel in der deutsch-polnischen Geschichte wurde 1989 aufgeschlagen. Symbolisch steht dafür das Treffen des damaligen bundesdeutschen Kanzlers Helmut Kohl mit dem neu gewählten polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, das am 12. November 1989, drei Tage nach dem Fall der Mauer, im niederschlesischen Kreisau bzw. Krzyzowa stattfand. Die beiden Regierungschefs umarmten sich.
OT 13 Urban:
15.55 Es war ein fundamental wichtiges Ereignis für die deutsch-polnischen Beziehungen. () und es passte nicht zu dem Deutschenbild der polnischen Gesellschaft, dass es da einen körperlich großen deutschen Politiker gibt, der auch noch katholisch ist und in der Messe zur Kommunion geht. () Und dann Masowiecki, Reformkatholik und Helmut Kohl, ein sozial engagierter Katholik, () für Polen war das unglaublich wichtig diese Geste. Es ist ein Vertreter des guten Deutschland.
Musik: Pensive pondering red. 0‘48
Sprecherin:
Die Befreiung vom Kommunismus bedeutete für die Polen auch, dass sie anders über ihre Geschichte sprechen konnten. Etwa über das in der Sowjetzeit tabuisierte Verbrechen der Erschießung polnischer Offiziere durch den sowjetische NKWD in Katyn, aber auch über die deutsche Besatzungszeit. Als wesentliche Institution wurde 2004 das Museum des Warschauer Aufstandes eröffnet. In Polen ist der Warschauer Aufstand gegen die Deutschen, der vom 1. August bis 2. Oktober 1944 dauerte, von zentraler Bedeutung. 15.000 polnische Soldaten verloren dabei ihr Leben, und nachdem die Deutschen den Aufstand niedergeschlagen hatten, legten sie Warschau systematisch in Schutt und Asche.
OT 14 Lehnstaedt:
7.45 Warschauer Aufstand, 150.000 Tote haben wir da mindestens, davon 10.000 sind tatsächlich Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen, die anderen gehören zur Zivilbevölkerung. Da gibt es 1962 ein Buch in Deutschland und seitdem () sind keine Bücher von deutschen Autoren erschienen zum Thema Warschauer Aufstand.
Sprecherin:
Das populäre Museum des Warschauer Aufstandes ist ein Projekt des freien demokratischen Polen. Schon zu kommunistischer Zeit gab es das Gedenken an den Aufstand im Warschauer Getto im April 1943, mit dem sich die Juden gegen ihre Deportation in die Vernichtungslager zu wehren suchten. Das den Opfern gewidmete Ehrenmal wurde 1948 enthüllt und ist vielen Deutschen durch Willy Brandts Kniefall davor bekannt. Heute steht auf dem Willy-Brandt-Platz in Warschau das 2013 eröffnete Museum der Geschichte der polnischen Juden. Die Planungen für ein eigenes Gettomuseum in Warschau sind weit gediehen.
Musik: Still waiting 0‘31
Sprecherin:
Das Wissen um die eigene Nationalgeschichte ist in Polen groß und wird durch Museen, Mahnmale und Gedenkrituale gefördert. Da der Zweite Weltkrieg mit der Beschießung der Westerplatte vor der Freien Stadt Danzig begann, war es naheliegend, ein Museum des Zweiten Weltkrieges dort zu schaffen, erklärt Basil Kerski, Direktor des Europäischen Zentrums der Solidarität:
OT 15 Kerski:
6.00 () Für die Polen war Danzig nach dem 1. Weltkrieg der größte Hafen, der Zugang zum Meer für die entstehende polnische Republik. Es war nicht leicht, die Stadt ins Polnische zu integrieren, denn Danzig war seit dem 16. Jahrhundert eine protestantische Stadt. () Danzig ist ein natürlicher Ort, an dem man den Weltkriegsbeginn in Polen erinnern muss, weil Danzig war ein symbolischer Konfliktpunkt.
Sprecherin:
Auf der Westerplatte steht heute ein Denkmal, das an den Überfall der Wehrmacht erinnert, ein typisches sozialistisches Monument, das den Heroismus der polnischen Verteidiger der Stadt preist. Man trifft auf dem Gelände polnische Schulklassen und historisch interessierte Danzigreisende aus Deutschland.
Musik: Human affliction 0‘40
Sprecherin:
Wielun, Michniow, auch das sind Orte, von denen im Danziger Weltkriegsmuseum erzählt wird. Ein Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf der Darstellung des deutschen Überfalls auf Danzig, der auch zur Erstürmung des polnischen Postgebäudes führte, von der Günter Grass in seinem Roman „Die Blechtrommel“ erzählt. Heute ist das Postgebäude ein Museum. In die Erinnerung an den 2. Weltkrieg ist ins kollektive Gedächtnis der Polen aber auch ein anderes Datum eingeprägt, das in Deutschland weniger bekannt ist: Der 23. August 1939, der Tag, an dem Deutschland und Russland den Hitler-Stalin bzw. Molotow-Ribbentrop-Pakt unterzeichneten. Der Nichtangriffspakt zwischen beiden Ländern, der in seinem geheimen Zusatzprotokoll die geplante Teilung Polens regelte. In Polen wird das Datum jedes Jahr mit einer Schweigeminute begangen. Stephan Lehnstaedt:
OT 17 Lehnstaedt:
39.20 Als Erinnerungsort ist der Hitler-Stalin-Pakt ganz wesentlich, weil es das Trauma zwischen dem Zerriebenwerden zwischen zwei übermächtigen Nachbarn symbolisiert. () Deshalb wird jede deutsch-russische Freundschaft misstrauisch beäugt. Und dann kommen die Deutschen auf die Idee, ihre Ölpipeline um Polen herum zu bauen, und da sagen die Polen: das macht ihr mit Absicht, ihr möchtet uns doch abschneiden von der Ölversorgung usw., also da hat man einfach historische Ängste, und diese Ängste werden in Deutschland nicht ernst genommen. Man tut die ab und sagt, das ist doch Blödsinn. () Aber die historischen Ängste gibt es halt trotzdem 40.30 und das zeigt, dass wir zu wenig Verständnis für unsere polnischen Nachbarn haben.
Green planet red 0‘33
Sprecherin:
Doch seit 1989 und der Grenzöffnung nahm das Verständnis stetig zu. Viele Millionen Polen sind nach Deutschland emigriert und haben sich eine neue Existenz aufgebaut. Der 2+4 Vertrag bestätigte endgültig die Oder-Neiße-Grenze. Auf politischer Ebene gab es im sich verbessernden Verhältnis der beiden Nationen allerdings einen Rückschlag, als 2015 die polnische rechtspopulistische PiS an die Regierung kam und während ihrer achtjährigen Regierungszeit antideutsche Ressentiments schürte. Als Reparationen für von den Deutschen verursachte Kriegsschäden wurden 1,3 Billionen Euro gefordert. Eine Forderung, die seit 2023 und der Wahl von Donald Tusk und seiner Koalition nicht mehr erhoben wird.
OT 18 Urban:
Ich denke, dass dieses Thema materiell und politisch erledigt ist, das ist völkerrechtlich sehr eindeutig. Ich glaube auch nicht, dass das () Argument verfängt. In der deutschen Gesellschaft zwei Generationen nach dem Krieg gibt es nicht das allgemeine Schuldgefühl gegenüber Polen. 11.55
Sprecherin:
Zur Annäherung von Polen und Deutschland hat sicher auch beigetragen, dass beide Länder Mitglieder der Europäischen Union sind, politisch verbunden und wirtschaftlich miteinander verflochten. Das gegenseitige Verstehen soll in Zukunft auch eine neue Institution fördern: Das sogenannte Deutsch-Polnische Haus.
Musik: Surgery 0‘26
Sprecherin:
Um eine gemeinsame Perspektive auf die traumatische Geschichte der beiden Länder zu finden, existiert auch ein deutsch-polnisches Geschichtsbuch für Schulen, dessen letzter und 4. Band – „20. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ – im Jahr 2020 erschien.
OT 20 Lehnstaedt:
51.40 Eine ganz tolle Sache, viele Jahrzehnte haben deutsche Historiker und Historikerinnen mit polnischen Historikern und Historikerinnen zusammengearbeitet. In jüngster Zeit ist ein gemeinsames Geschichtsbuch erschienen, das die gemeinsame Geschichte der beiden Länder darstellt, und es ist ein ganz wunderbares Buch, es wird nur leider nicht eingesetzt, weil sowohl die deutschen Lehrpläne auf deutscher Geschichte wie die polnischen auf polnische Geschichte abstellen.
Musik: Prayer wheel (red) 0‘35
Sprecherin:
Dennoch: Auf politischer Ebene tut sich etwas. Anfang Juli 2024 gab es gemeinsame Regierungskonsultationen in Warschau, dabei wurde auch ein deutsch-polnischer Aktionsplan beschlossen, der „die Untaten und Verbrechen, die die deutschen Aggressoren in der NS-Zeit an Polinnen und Polen begangen haben“ anerkennt und eine finanzielle Unterstützung für die noch lebenden Opfer des deutschen Angriffs und der Besatzung vorsieht, die über die Stiftung „Deutsch-Polnische Aussöhnung“ ausgezahlt werden soll. Es geht um 200 Millionen Euro für 40.000 Menschen, die im Krieg als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt oder in KZs eingesperrt worden waren. Entschädigung, nicht Wiedergutmachung, und eine Geste der Anerkennung deutscher Schuld, die helfen kann, antideutsche Ressentiments in Polen zu mildern. Und eine gedeihliche Nachbarschaft in der EU herzustellen.
OT 21 Urban:
4.45 Die Deutschen und Polen sind in denselben westlichen Strukturen integriert, sind wichtige Partner auf allen Ebenen, die Deutschen sind die wichtigsten Außenhandelspartner für Polen, die politische Zusammenarbeit seit dem Regierungswechsel funktioniert sehr gut.
Sprecherin
Die Annäherung beider Länder wird seit 2022 und dem russischen Krieg gegen die Ukraine auch gestärkt durch das Bewusstsein, gemeinsame liberale Werte zu teilen und diese auch gemeinsam im Rahmen der NATO verteidigen zu müssen. Polen wurde von Russland oft genug besetzt, so ist man motiviert, die Rüstungsausgaben auf 4 Prozent des BIP zu steigern. Es gibt auch eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Bundeswehr, erzählt Basil Kerski.
OT 22 Kerski:
3.40 () Dienstag letzte Woche waren bei mir etwa 35 Soldaten polnische und deutsche, zum ersten Mal hatte ich hier Gäste in Felduniform. () Die deutsche und die polnische Armee schauen: Sind sie vorbereitet auf einen möglichen Angriff Russlands? () Die deutschen Offiziere lernen die Straßenbrücken Polens kennen. () Sie kamen als Freunde am 85. Jahrestag des Überfalls, die kamen auch als Offiziere, die ähnliche Werte und Interessen verteidigen und sie haben die Last der Geschichte gespürt, weil Zukunft so gefährlich ist.
Musik: Matters of fact (red) 0‘37
Sprecherin:
Dass aufgrund der äußeren Bedrohung Polen und Deutsche zusammenrücken, hat als Voraussetzung die Aufarbeitung der traumatischen Geschichte zwischen beiden Ländern, die sich in den über acht Jahrzehnten nach Ende des 2. Weltkrieges vollzogen hat. Die Deutschen haben ihre Schuld anerkannt, es gab Gesten der Versöhnung, politische Verträge und eine finanzielle Wiedergutmachung zwischen den Ländern. Heute ist das deutsch-polnische Verhältnis so gut wie nie zuvor.
Weltweit geht in jedem Jahr eine Fläche an nutzbarem Boden verloren, die halb so groß wie die EU. Geht es so weiter, wie bisher, drohen zwei Drittel der Landfläche in den nächsten Jahrzehnten unfruchtbar zu werden. Die Desertifikation schreitet in fast allen Ländern dieser Welt voran. Sie ist ein globales Umweltproblem. Von Dagmar Röhrlich (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Dagmar Röhrlich
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Johannes Hitzelberger, Gudrun Skupin
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Professor Roland Baumhauer, Universität Würzburg;
Professor Barron Joseph Orr, UNCCD;
Dr. Ibrahim Thiaw UNCCD;
Dr. Alisher Mirzabaev, ZEF
Linktipps:
Seite der Deutschen Gesellschaft für Zusammenarbeit zum Weltwüstentag 2021:
EXTERNER LINK | https://www.desertifikation.de
Weltatlas der Desertifikation, European Commission: Joint Research Center:
EXTERNER LINK | https://wad.jrc.ec.europa.eu
Konvention der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Desertifikation:
EXTERNER LINK | https://www.unccd.int/sites/default/files/relevant-links/2017-01/German%20%28including%20all%20annexes%29.pdf
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Ihr Antrieb ist die Sehnsucht nach Freiheit und Natur: Die Camper. Eine Sehnsucht, die mit der zunehmenden Digitalisierung immer größer wird. Mit Zelt und Wohnmobil raus aus dem Alltag und rein in die eigene Campingwelt! Gerade in Corona - Zeiten erlebt das Campen einen wahren Boom. Autor: Johannes Marchl (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Johannes Marchl
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling, Shenja Lacher, Karin Schumacher, Benedikt Schregle
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
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Im Interview:
Hasso Spode (Leiter des historischen Archivs zum Tourismus an der TU Berlin);
Andreas Jörn (Präsident des Deutschen Camping Clubs);
Susanne Hinzen (Direktorin des Museums des mobilen Reisens Erwin Hymer)
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Jahrhundertelang war Arsen das beliebteste Mordgift, auch als "Erbschaftspulver" bekannt. Lange Zeit war es kaum nachzuweisen und konnte an fürstlichen Höfen wie im privaten Familienkreis Misstrauen und Schrecken verbreiten. Das toxische Halbmetall hat allerdings auch andere Seiten. Es verlieh Bildern berühmter Maler leuchtende Farben, steckt in Raumschiffen wie Solaranlagen - und kann sogar Krankheiten heilen. Von Lukas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Irina Wanka, Andreas Neumann, Friedrich Schloffer
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Bettina Wahrig, Lehrstuhl für Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte an der Technischen Universität Braunschweig;
Dr. Gabriele Roider, Pharmakologin am Institut für Rechtsmedizin, LMU München;
Simon Brugner, Fotograf und Autor „The Arsenic Eaters – die Arsenfresser“;
Prof. Christopher Rensing, Chinese Academy of Agricultural Sciences Fujian, Academy of Agricultural Sciences, Fuzhou
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR 1
„Er ist von schöner Farbe, die an Gold erinnert. Ein künstlicher Stoff, hergestellt durch Alchemie. Aber - er ist wirklich giftig!“
ZITATOR 2
„Das Arsenicum wirkt ähnlich dem Sandarak, aber schärfer, wird daher zum Ätzen und zum Wegbeizen der Haare angewendet. Es nimmt auch die Nagelgeschwüre, die fleischigen Auswüchse in der Nase, die Geschwüre am After und alles wilde Fleisch weg. Seine Kraft wird erhöhet, wenn man es in einem neuen Tiegel so lange röstet, bis es die Farbe verändert hat.“
ZITATOR 1
„Unter der geringsten Menge liegt unermessliche Bosheit
verborgen“.
MUSIK ENDE
Sprecherin
Es ist eine Mischung aus Bewunderung und Angst, die aus diesen Worten über Arsen spricht: Zuerst dem Satz des spanischen Malers Francisco Pacheco, der seine Bilder mit arsenhaltiger Farbe zum Leuchten brachte; dann dem Kommentar des römischen Gelehrten Plinius über kosmetische und heilende Wirkung von Arsenicum; und schließlich einem Satz über das Arsen aus dem ersten deutschsprachigen Lehrbuch der Toxikologie.
MUSIK „Discombobulate“; ZEIT: 00:19
Zu Weltruhm gelangte Arsen freilich als Mordgift. Die Karriere dieses chemischen Elements mit der Ordnungszahl 33 indes ist so schillernd wie facettenreich – und reicht zurück bis weit ins Altertum.
MUSIK ENDE
Bei genauerer historischer Betrachtung zeigt sich: Arsen, dieses meist im Stein verborgene Halbmetall, trägt seinen verruchten Ruf zu Unrecht: Denn schon die alten Griechen machten sich Arsen zwar vor allem seiner Giftigkeit wegen zu Nutze, wie die Braunschweiger Wissenschaftshistorikerin Bettina Wahrig weiß...
O-Ton 1 Prof. Bettina Wahrig, Wissenschaftshistorikerin, Uni Braunschweig
„Also man hatte das ganz, ganz breit eingesetzt, und eine der wichtigen Einsatzmöglichkeiten war natürlich die Bekämpfung von Insekten, Schadinsekten - oder auch eben Ratten und Mäusen.“
Sprecherin
Arsen war im Altertum aber auch eine wichtige Arznei. In Griechenland und dem alten Rom zerrieb man arsenhaltiges Gestein zu Pulver, mischte es zu Salben, und kurierte damit Asthma genauso wie Hautkrankheiten. Die augenfälligste Anwendungsform von Arsen, sagt Bettina Wahrig, war bis in die Neuzeit aber eine andere.
O-Ton 2 Wahrig
„Also einmal als Farbe: Einmal ist es ne Schwefel-Arsen-Verbindung, die ganz rot ist. Die heißt dann in der frühneuzeitlichen Sprache dann auch „Realgar“, also „das königliche Rot“, eigentlich. Und eine sehr schöne gelbe Tönung, Auripigment, also ne goldene Färbung, und die wurde auch zu Farben eingesetzt.“
MUSIK „Lucy's party”; ZEIT: 00:18
Sprecherin
Silber bekam in Verbindung mit Arsen eine goldartige, Kupfer eine weiße Farbe.
MUSIK ENDE
In der Natur kommt Arsen nur selten in seiner Reinform vor, die wenig giftig ist. Meist tritt es auf in Gestein, in Verbindung mit Metallen oder Schwefel – und ist dann hochtoxisch, sagt die Pharmakologin Gabriele Roider vom Institut für Rechtsmedizin der LMU München.
O-Ton 3 Dr. Gabriele Roider, Institut für Rechtsmedizin, LMU München
„Das gibt es so als kristalline Form... Also, wenn ich jetzt von Arsen spreche, meine ich jetzt immer Arsenik, also Arsentrioxid. Es gibt auch noch metallisches Arsen, und es gibt auch organisch gebundenes Arsen, was viel zum Beispiel in Fischen und Meerestieren drin ist. Und aber ich spreche jetzt dann von Arsenik. Also das ist die toxischste Verbindung, damit die toxikologisch relevanteste Verbindung - und auch die wirtschaftlich interessanteste Verbindung.“
Sprecherin
Bis heute ist Arsentrioxid ein Ausgangsstoff für industrielle Anwendungen – etwa zur Herstellung von Batterien. Arsenverbindungen stecken aber auch in Halbleiter-Chips für Solaranlagen wie für Satelliten oder Raumschiffe.
Die Entwicklung von Arsen als wichtigem Wirtschaftsgut begann im Mittelalter. Es war der Regensburger Bischof Albertus Magnus, der 1240 erstmals die Herstellung metallischen Arsens durch Erhitzen von Arsenkies beschrieb. Um den Stoff in größeren Mengen wirtschaftlich zu nutzen, brauchte es eine geradezu fabrikmäßige Herstellung: Zu Beginn von Bergbau und Hüttenwesen im frühen Mittelalter fiel Arsen zunächst einmal als Abfallprodukt an. Etwa bei der Verhüttung von Metallen wie Kupfer, Zinn, Silber oder Gold in den Bergbauregionen der Steiermark. Dabei erhitzte man arsenhaltige Steine in Brenn-Öfen.
O-Ton 4 Simon Brugner Fotograf + Autor „Die Arsenfresser“ Teil 1
„In Schmelzprozessen verdampft das Arsenik, das verflüchtigt sich ziemlich schnell, und das Arsen, das im Gestein drinnen ist, wird zu Arsentrioxid. Und das ist das giftige…
Sprecherin
sagt der österreichische Fotograf und Autor Simon Brugner,
O-Ton 4 Brugner Teil 2
„...deswegen immer auch die ganzen Brennöfen hoch bauen – weil wenn dich so ein Schwaden trifft, ist die Gefahr für Leib und Leben sehr hoch. Man hat dann – nachdem es am Anfang ein unerwünschtes Nebenprodukt war - bald auch Arsen bewusst produziert. Das ist in so genannten Gifthütten passiert, die keine nach oben gerichteten Schornsteine hatten, sondern das waren horizontale Kammern, durch die der Rauch durchgeleitet wurde. Das Arsen hat sich verflüchtigt, hat sich in diesen horizontalen Rauchfängen als weißes Pulver abgesetzt.(…) Die Bergarbeiter, also die in der Verhüttung Tätigen, haben einfach den Beschlag abgeklopft, und so hat man dann wirklich reines Arsen gewonnen. Auch als wirtschaftlich wichtiges Handelsgut.“
Sprecherin
Vor allem Orte in der Ober- bis zur Oststeiermark waren in den vergangenen Jahrhunderten Hotspots der Arsen-Produktion. Die dortigen Minen waren strategisch günstig gelegen. Zum einen unweit von Ungarn, wo man Arsen als Heil- und Dopingmittel für Pferde nutzte. Die Hauptabnehmer für das steirische Arsen saßen jedoch südlich der Alpen. Simon Brugner:
O-Ton 5 Brugner
„Wo es wirklich zu großen Mengen verwendet wurde, ist in der Glasherstellung…. also das meiste. Der Großteil vom steirischen Arsenik wurde nach Venedig für die Muranoglas-Erzeugung verkauft. Also da gingen zig Tonnen jährlich nach Venedig.“
Sprecherin
Bald war Arsen vom Abfallprodukt zu einem wirtschaftlich wichtigen Handelsgut der K.u.K.-Monarchie geworden. Die österreichische Herrscherin Maria Theresia hatte ein genaues Auge auf die Arsen-Produktion ihrer Untertanen. Steuern und Zölle für Erzeugung und Transport waren zu entrichten. Doch die penible Reglementierung von Herstellung und Handel hatte einen weiteren Grund:
O-Ton 6 Brugner
„Arsen ist hochpotentes Gift. Es wurde immer stark kontrolliert. Also der Umgang mit Giften, der war immer schon rechtlich reglementiert.“
MUSIK „The game is on”; ZEIT: 00:50
Sprecherin
Dennoch sollte Arsen für die Herrschenden im 18. Jahrhundert zunehmend zum Problem werden. Denn trotz der genauen Kontrolle war der hochgiftige Stoff leicht zu haben, er wurde „legal“ vielfältig verwendet. Gleichzeitig gelangten zunehmend Nachrichten von Giftmorden mittels Arsen in Italien und Frankreich ans Licht der Öffentlichkeit. Mit der Aufklärung hatte die Bevölkerung hierzulande lesen gelernt - und verschlang aktuelle wie historische Berichte von Mord und Totschlag, Schuld und Sühne begierig. Man erfuhr von in Serie verübten Giftmorden der Borgia und der Medici, begangen mutmaßlich mit Arsenik. Später war in den Zeitungen von aqua tofana zu lesen, einer Arsen-Mischung, die jenseits der Alpen dutzenden Männern den Tod brachte.
MUSIK ENDE
O-Ton 7 Wahrig
„In der Tat gab es in Italien einen sehr, sehr großen Giftmordprozess gegen [00:09:00] eine relativ große Zahl auch an Frauen, die mit der sogenannten Aqua Tofana gehandelt haben. Und das soll eben ein sehr... raffiniert zubereitetes Gift gewesen sein, das so gewirkt haben soll, dass man der Person, die man gerade loswerden wollte, über längere Zeit kleine Mengen von diesem Gift untergejubelt hat und dass die dann irgendwann mal gestorben sind, ohne dass man wirklich Krankheiten oder andere Ursachen erkennen konnte.“
Sprecherin
Das berüchtigte Arsen-Elixier raffte Dutzende, wenn nicht gar Hunderte dahin, sagt die Professorin für Wissenschaftsgeschichte und Pharmazie, Bettina Wahrig. Dass vor allem Frauen schwunghaften Handel mit dem Gift trieben und bandenmäßig mordeten – dies, sagt Bettina Wahrig, war auch den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldet.
O-Ton 8 Wahrig
„Wenn wir das heute lesen, dann denken wir, naja gut, da gibt es eben eine Partnerschaft Mann-Frau, also die Frau hat ihn satt - und weg damit! Aber die sozialen Beziehungen am Hof waren ja viel, viel komplizierter. Deswegen...also es gab [00:11:00] jedenfalls ein Netzwerk von Leuten, die dieses Giftwissen verbreitet haben und die so gefährlich erschienen, dass extra eine Serie von Gerichtsverhandlungen abgehalten wurde, um diese Leute abzuhandeln, abzuurteilen. Natürlich ging es da auch darum, wieder zu zeigen: Der König, die Souveränität, bemerkt das und richtet die Leute deswegen dann hin oder verurteilt sie deswegen.“
MUSIK „My Mind Rebels At Stagnation”; ZEIT: 00:43
Sprecherin
Arsen war also zur Bedrohung der patriarchalen politischen und sozialen Ordnung geworden – gegen die die Herrschenden infolge energisch vorgingen.
Der „Geist des Gifts“ war dennoch aus der Flasche – und sorgte auch in deutschen Landen zunehmend für Verwerfungen. Hier waren es vor allem Ärzte und Apotheker, die vor einem allzu sorglosen Umgang mit Arsen warnten. Und die dafür warben, den Zugang zu Giften zu beschränken, sowie die Bevölkerung aufzuklären, um unabsichtliche – oder auch absichtliche -Tötungen durch Arsen zu vermeiden.
MUSIK ENDE
Sprecherin
War dies wirklich ein Unfall? War es Mord? Oder war es gar keine Vergiftung? Diese Fragen mussten sich Rechtsmedizinern wie Richtern seinerzeit häufig stellen, sagt die Apothekerin Gabriele Roider. Klare Antworten aber fanden sie selten...
O-Ton 10 Roider
„Weil die Symptomatik, die wurde damals viel mit der Cholera verwechselt. Die hygienischen Verhältnisse waren ja vor bis vor 200 Jahren sehr, sehr schlecht. Das heißt, die Leute hatten häufig Brechdurchfall, und das ist auch so die typische Vergiftungserscheinung bei einer akuten Arsen-Intoxikation (…)eben
MUSIK „My Mind Rebels At Stagnation”; ZEIT: 01:29
Sprecherin
Dass der kenntnisreich ausgeführte Giftmord kaum nachzuweisen war; dass breite Gesellschaftsschichten mittlerweile Zugang zu umfangreichem Giftwissen hatten: Dies trieb auch die Schriftsteller der Aufklärung um. ETA Hoffmann etwa zeichnete in seiner Erzählung „Das Fräulein von Scuderi“ das dystopische Bild einer Gesellschaft, in der die Allgegenwart von Giften wie Arsen letztlich zu einer völligen Zersetzung des sozialen Zusammenhalts führt:
ZITATOR 1
Man sah Familienväter ängstlich in entfernten Gegenden Lebensmittel einkaufen, und in dieser, jener schmutzigen Garküche selbst bereiten, in ihrem eigenen Hause teuflischen Verrat fürchtend. Und doch war manchmal die größte, bedachteste Vorsicht vergebens.“
Sprecherin
Auch für die Ärzte hierzulande galt letztendlich, was ein französischer Kollege angesichts der nur zufälligen erfolgten Entdeckung des Giftmischers Godin de Sainte-Croix schrieb:
ZITATOR 1
„Bey diesen Giften ... werden die Erfahrungen falsch, die Regeln ungewiss, und die Aphorismen lächerlich. Sie schwimmen auf dem Wasser; sie lassen in der Feuerprobe bloß eine süße unschädliche Materie zurück, und liegen in den
tierischen Körpern so künstlich versteckt, dass man sie unmöglich erkennen
kann.“
MUSIK ENDE
Sprecherin
An einem gerichtsfesten Nachweis von Arsen forschten Wissenschaftler jahrzehnte-, ja, jahrhundertelang. Fand man verdächtige Materie, so gab man sie Tieren, um zu sehen, ob diese verendeten. Zuweilen warf man eine Probe auf glühende Kohlen. Enthielt diese Arsen, so entwickelte sich ein Geruch nach Knoblauch.
MUSIKAKZENT „Discombobulate“; ZEIT: 00:04
Es sollte bis 1836 dauern, dass der britische Chemiker James Marsh einen Apparat entwickelte, mit dem sich selbst kleine Mengen von Arsenik im Mageninhalt oder an Teilen einer Leiche wissenschaftlich nachweisen ließen. Dazu gab man zunächst Schwefelsäure und Zink in ein Reagenzglas und erzeugte so Wasserstoff. Dann gab man die Probe hinzu. Schließlich erhitzte man das Gemisch und hielt ein Porzellanstück hinein. Enthielt die Probe Arsen, so bildete sich am Porzellan ein gut sichtbarer, schwarzer Film.
O-Ton 11 Wahrig
Und das konnte man dann in den Gerichtssaal tragen. Und damit war es in der Tat auch für Juroren, also wenn man Schöffen hatte - oder eben Geschworene oder Richter - ein [00:17:00] glaubhafter Beweis.“
Sprecherin
Die Zahl der Morde mit Arsen gingen mit Etablierung des Marsh-Tests schlagartig zurück. Und doch: Die letzten Geheimnisse von und um Arsen waren damit noch immer nicht gelüftet.
MUSIK „The game is on”; ZEIT: 00:12
Bis nach Übersee drang Ende des 19. Jahrhunderts die Kunde von tollkühnen Pferdeknechten aus der Steiermark, die Arsen ganz freiwillig und in beträchtlichen Mengen als Droge konsumierten.
MUSIK ENDE
O-Ton 12 Brugner
Kokain, Methamphetamin. Das ist wahrscheinlich das vergleichbarste mit Arsenik. (...) Man hat quasi klarere Gedanken, man kriegt leichteren Atem, man steigt leichter die Berge hinauf. Es wird auch beschrieben, die Leute hatten mehr Courage, waren rauflustiger. Das Sexualdrang wurde gesteigert. Also es war eigentlich ein Aufputschmittel.“
Sprecherin
Arsenesser waren zuerst die Berufsgruppen, die durch ihren Job mit der Substanz in Berührung kamen: Bergleute, Beschäftigte in Schmelzhütten - aber auch hart schuftende Holzarbeiter, die Arsenpulver gewissermaßen als Dopingmittel zu sich nahmen. Arsen brachte die Wangen von Pferdeknechten zum Glänzen, und das Fell ihrer Tiere zum Leuchten. „Man trank es, wurde jung - und nach einiger Zeit vom Teufel geholt“, schrieb der Volksdichter Peter Rosegger über seine arsenessenden Landsleute: Denn Arsen kann sich im Körper einlagern und bei Langzeitkonsum Krebs oder Nervenschäden verursachen. Und nicht selten ging die genaue Dosierung schief bei Konsumenten, die ohnehin eine geringe Lebenserwartung und wenig zu verlieren hatten. Doch warum überlebten andere gar jahrzehntelang den Konsum von Arsen, einem Gift, dessen tödliche Dosis zwischen 60 und 170 Milligramm – in etwa der Größe einer Tablette – liegt?
MUSIK „Discombobulate“; ZEIT: 00:13
Die Kunde von diesen geheimnisvollen Bergbewohnern, die ein hochpotentes Gift aus reinem Spaß am Genuss konsumierten, machte europaweit die Runde.
MUSIK ENDE
Sprecherin
Wie konnte es also sein, dass eine Person an einer minimalen Dosis Arsen qualvoll verendete - sich eine andere aber mit der drei- bis vierfachen Menge Hochgefühle verschaffte? Gab es schlicht einen Gewöhnungseffekt? Oder war es die Art der Aufnahme von Arsenik, das man wie Kandiszucker lutschen oder als feingemahlenes Pulver schlucken konnte? Die Wissenschaftlerin Gabriele Roider glaubt, dass dies am Mikrobiom der Arsenesser liegen könnte….
O-Ton 14 Roider
„...also die mikrobielle Besiedelung des Magen-Darm-Traktes sozusagen. Das ist das Mikrobiom, das setzt sich aus ganz vielen verschiedenen Bakterien und Mikroorganismen zusammen. Und da gibt es tatsächlich auch welche, die (…) das metallische Arsen in organisch gebundenes Arsen überführen. Dann ist es ungiftiger und kann auch besser über die Nieren ausgeschieden werden. Und so können auch bestimmte Bakterien im Mikrobiom tatsächlich Arsen entgiften, sodass es also vorstellbar ist, dass das möglicherweise der Mechanismus ist….
Dass die vielleicht ein bestimmtes Mikrobiom hatten und vielleicht das auch so ein bisschen gefördert haben durch diese relativ häufigere oder einigermaßen regelmäßige Arsen-Aufnahme und das Mikrobiom also die Bakterien im Magen-Darm-Trakt dann schon viel davon entgiftet haben, sozusagen und dann gar nicht so viel von dem Gift tatsächlich im Körper von diesen Arsenik-Essern angekommen ist.“
Sprecherin
Wie Arsen im menschlichen Organismus wirkt – das ist bis heute nicht bis ins Letzte verstanden. Aktuell konzentriert sich die Arsenforschung auf Kleinstmengen, die aus Gesteinsschichten unter der Erde ins Trinkwasser gelangen – und die Gesundheit von Millionen Menschen in Indien und Bangladesch, aber auch in den USA, Asien und Europa gefährden.
MUSIK „Lucy's party”; ZEIT: 00:20
Doch Arsen hat - heute wie damals – nicht nur Schattenseiten. Als Mordgift und Aufputschmittel weitgehend passé, schickt sich das schillernde Halbmetall an, erneut Karriere als Arznei zu machen.
MUSIK ENDE
O-Ton 16 Prof. Christopher Rensing
„Was einen am meisten wundert, ist, wie viele Gene es gibt, die irgendwie was mit Arsen zu tun haben.“
Sprecherin
...sagt der Mikrobiologe Christopher Rensing, der zu Arsen in Stoffwechselprozessen forscht.
Seit dem 19. Jahrhundert erforscht die moderne Medizin die Mechanismen, wie Arsen auch heilend in den menschlichen Stoffwechsel, den Metabolismus, eingreifen könnte. Die so genannte Fowler´sche Lösung, die Kaliumarsenit enthielt, senkte erfolgreich das Fieber von Patienten und wirkte als Heilwasser gegen Schuppenflechte. Schließlich wurde das „heilende Arsen“ ab 1910 zum ersten Mittel der modernen Chemotherapie. Mit „Salvarsan“ hatte der Mediziner und Nobelpreisträger Paul Ehrlich das erste wirksame Medikament gegen die Volksseuche Syphilis gefunden. Wegen starker Nebenwirkungen geriet das vermeintliche Wundermittel jedoch bald wieder in Vergessenheit.
Heute sehen Forscher wieder großes Potenzial für Arsen als Arznei.
O-Ton 18 Rensing
„Arsenid-Trioxid, zusammen mit so einem Vitamin A-Derivat, wird das in der Krebsbekämpfung bei akuter promyelozyter Leukämie eingesetzt. (…) Da kann man dann fragen: Ja, aber wenn das da funktioniert, warum soll das nicht dann bei Brustkrebs oder bei Lungenkrebs... warum soll das da nicht funktionieren? Aber dann ist da das Problem, wenn man da jetzt Arsen so einsetzen würde, dann wird die toxische Wirkung irgendwann zu viel sein. Und deshalb, dann, jetzt wird halt versucht, das Arsen gezielt an den Wirkungsort zu bringen. Also, wenn man jetzt in Liposomen, also so kleine Fettkügelchen, wenn man da die Arsenverbindung reinbringt und dann so Moleküle da rein tut, dass die halt den richtigen target finden, dann ist natürlich die Hoffnung, dass man den Krebs auch gezielt dann bekämpfen kann.“
Sprecherin
Gemeinsam mit Kollegen fand der Professor Christopher Rensing außerdem heraus, dass Arsenpräparate auch dort wirken, wo herkömmliche Medikamente versagen: Etwa gegen einen Krankenhauskeim, der lebensbedrohliche Lungenentzündungen auslösen kann.
MUSIK „Lucy's party”; ZEIT: 00:45
O-Ton 19 Rensing
„Das, denke ich, wird auch viel Zukunft haben. weil es wird immer mehr zunehmen, dass Leute halt ins Krankenhaus kommen und nicht mehr behandelt werden können, weil die Antibiotika nicht mehr wirksam sind...da wird das natürlich dann auch wieder interessant dann, weil man natürlich eine Alternative auch braucht.(…)
Sprecherin
So könnte Arsen - über Jahrhunderte als Werkzeug der Gift-Mörder verrufen - vielleicht dabei helfen, zwei gegenwärtige Geißeln der Menschheit zu besiegen – und vom verruchten Killer künftig vielleicht zum anerkannten Lebensretter werden.
Vertrocknete Wälder, Dürre, überschwemmte Orte: Die Klimakrise ist Realität. Genauso wie das Artensterben. Für beides braucht es eine Lösung, gleichzeitig. Wissenschaftler forschen daran, wie beides gehen kann. Von Daniela Remus (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger und Andreas Dirscherl
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER
Linktipps:
Zum Verhältnis von Biodiversität und Klimawandel (Englisch):
EXTERNER LINK | PNAS - POST-2020 BIODIVERSITY TARGETS NEED TO EMBRACE CLIMATE CHANGE
Zum Flächenverbrauch (Englisch):
EXTERNER LINK | ANNUAL REVIEW OF ENVIRONMENT AND RESOURCES
Zur Landnutzung (Englisch):
EXTERNER LINK | SPRINGER - A NEW MODELLING APPROACH TO ADAPTATION-MITIGATION IN THE LAND SYSTEM
Infos zur Fraunhofer Agri-Photovoltaik:
EXTERNER LINK | FRAUNHOFER-INSTITUT FÜR SOLARE ENERGIESYSTEME ISE - AGRI-PHOTOVOLTAIK
Unsere Podcasttipps für Naturinteressierte:
"Tierisch! – Entdeckungsreise in die wilde Welt der Tiere" - Der erste lustig-leichte, zoologischen Plauderpodcast mit bodenlos wissenschaftlicher Tiefe. Moderiert von Lydia Möcklinghoff und Dr. Frauke Fischer, zwei wildnisverrückten Abenteurerinnen und studierten Zoologinnen. Hier geht es zum Podcast:
EXTERNER LINK | https://weltwach.de/tierisch/
Wilde Winkel. Bayerns Natur-Podcast
„Wilde Winkel“ nimmt Dich mit auf Entdeckungstour in Bayerns wertvollste Natur. Jeden Monat geht’s in einen anderen wilden Winkel Bayerns zwischen den Alpen und der Rhön, dem Nördlinger Ries und dem Fichtelgebirge.
EXTERNER LINK | SPOTIFY.COM | WILDE WINKEL.
Deutschland ist das einzige europäische Land, in dem sich die Bevölkerung nach der Sprache betitelt hat und nicht nach dem Land. Deswegen ist die Geschichte der Deutschen Sprache auch immer eine Geschichte Deutschlands. Doch die Frage "wie" und "was" gesprochen wird, war aber auch immer ein Politikum. Von Markus Mähner (BR 2021)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Literaturhinweis:
Wer ausgiebiger zu dem Thema lesen will, dem sei das Buch „Deutsch. Biografie einer Sprache“ von Karl-Heinz Göttert empfohlen. Es ist auch für Laien gut lesbar und regt auch immer mal zum Schmunzeln an:
Karl-Heinz Göttert. Deutsch – Biografie einer Sprache
Ullstein Verlag, Berlin 2010
ISBN 9783550087783, 400 Seiten
Putin ist ehemaliger KGB-Agent. Das beeinflusst seine Politik und sein Weltbild. Doch wie einflussreich sind die russischen Geheimdienste bis heute? Haben sie den russischen Staat gekapert? Ein ehemaliger Spion kannte Putin persönlich und berichtet über den langen Schatten des KGB. Von Jerzy Sobotta
Credits
Autor dieser Folge: Jerzy Sobotta
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Sergei Jirnov, ehem. KGB-Agent
Mark Galeotti, britischer Geheimdienst- und Russland-Experte
† Andreas Hilger, Historiker und ehem. Leiter der Max-Weber-Stiftung in Tbilissi, Georgien
Literatur:
Catherine Belton, „Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste.“ – ein beeindruckend recherchiertes Standartwerk über Putin, sein KGB-Netzwerk und den Aufstieg im Kreml.
Ein Heft der Zeitschrift Osteuropa (11/2022) zu Russlands Geheimdiensten: „Mit Mord und Tat“. Eine aktuelle Bestandaufnahme über Geschichte und Gegenwart der russischen Geheimdienste.
„Schwarzbuch Putin“, herausgegeben von Stéphane Courtois und Galia Ackermann mit wertvollen Beiträgen unter anderem zu Putins Zeit beim KGB und den Geheimdienstaktionen Russlands im Westen und der Ukraine.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Moskau im Winter 1999: Im Hauptquartier des Inlandsgeheimdienstes FSB am Lubjanka-Platz wird ein Fest begangen: Der „Tschekisten-Tag“, ein staatlicher Gedenktag, der den Mitarbeitern der Sicherheitsorgane Russlands gewidmet ist. Am Rednerpult steht ein schlanker, blonder Mann: Wladimir Putin. Zwei Wochen später wird er Präsident der Russischen Föderation.
O-Ton 01: Putin am Tag der Tschekisten 20.12.1999 (10 Sek.) –
OV
Die Gruppe von FSB-Agenten, die verdeckt in der Regierung arbeitet, hat die erste Etappe ihrer Aufgabe erfolgreich abgeschlossen.
SPRECHERIN:
Auf seinem Gesicht scheint für eine Sekunde ein verstohlenes Grinsen auf. Agenten, die die Regierung infiltrieren? Nur ein kleiner Scherz für seine Geheimdienstkollegen, die hier versammelt im Saal sitzen? Oder eine denkwürdige Szene, die viel aussagt über Russlands Weg zurück in ein autoritäres System? Kurz zuvor war Putin noch ihr Chef: Als Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB – der Nachfolgeorganisation des sagenumwobenen sowjetischen Geheimdienstes KGB. In diesem hatte Putin 15 Jahre lang gedient und ihn als Oberstleutnant verlassen, als die die Sowjetunion zusammengebrochen ist.
Die Szene wirft viele Fragen auf: Über Putins Werdegang. Über seine brutale Politik nach Innen und Außen. Und über die Leute, die an seiner Seite die wichtigsten Stufen der Macht erklommen haben. Die Geschichte des KGB wirft einen langen Schatten auf das Land.
MUSIK ENDE
O-Ton 02: Breschnew eröffnet Olympia 1980 (0.13 – ohne OV) – (als Atmo) – darüber:
SPRECHERIN:
Zeitsprung zurück: Moskau im Sommer 1980.
O-Ton 03: OT: Eröffnung Olympia 1980 - Kommentator mit Hymne (aus: W5001960Z00)
(Auf Dt.:) Nun wird die olympische Flagge von acht berühmten sowjetischen Sportlern ins Stadion gebracht. [Nach Bedarf stehen lassen – oder als Atmo runter faden]
SPRECHERIN:
Besucher aus aller Welt kommen zu den Olympischen Sommerspielen in die Hauptstadt der Sowjetunion. Ein junger Student einer Moskauer Eliteuniversität hat einen Sommerjob gefunden: Sergei Jirnov [Сергей Жирнов / Sergej Žirnov, spr: [ʒirnov] – wie ‚Journal‘] sitzt in der Telefonauskunft der Olympiade. Er spricht fließend Französisch und verquatscht sich mit einem Franzosen– sie telefonieren zwei Stunden miteinander. Das ist verdächtig.
O-Ton 04: Jirnov: Verhör, Typ hieß Putin
OV
Da kam so ein Typ. Er hat gesagt: folgen Sie mir. Er hat mich in ein Auto gesetzt und in die KGB-Zentrale gebracht. Dann hat er mich zwei Stunden lang befragt. Und dieser Typ war Hauptmann Wladimir Wladimirowitsch Putin.
SPRECHERIN:
Jirnov ist damals 19, Putin 27 – Und zu diesem Zeitpunkt schon seit fünf Jahren beim KGB – in seiner Geburtsstadt Leningrad. Doch zur Überwachung der Olympiade mit ihren vielen tausenden ausländischen Besuchern holt sich der KGB Verstärkung aus dem Rest des Landes.
O-Ton 05: OT Jirnov: Warum Dutzen Sie mich Genosse Putin?
OV
Im Verhör hat er mich plötzlich angefangen zu duzen. Ich habe ihm sofort gesagt: Wieso duzen Sie mich? Lassen Sie uns doch beim ‚Sie‘ bleiben, Genosse Putin.
SPRECHERIN:
Psychologische Spielchen im Verhör: Warum telefoniert ein Russe zwei Stunden mit einem Franzosen? Warum spricht er so gut Französisch? Putin habe seine Chance gewittert, sagt Jirnov.
O-Ton 06: Jirnov: KGBler will dich einknasten
OV
Es ist klar: Wenn einer beim KGB arbeitet, ist seine Aufgabe, dich einzusperren. Denn dann bekommt er ein neues Abzeichen, vielleicht etwas Geld. Vielleicht versetzen sie ihn nach Moskau. Jemand in der Spionageabwehr wird immer dann befördert, wenn er jemanden erwischt und ins Gefängnis steckt. Deswegen war es seine Aufgabe, mich einzusperren. Und meine Aufgabe war es, mich nicht einsperren zu lassen.
SPRECHERIN:
Jirnov lässt sich weder einsperren, noch einschüchtern. Doch in diesen zwei Stunden hat sich ihm das Bild vom KGB-Mann Wladimir Putin eingebrannt:
O-Ton 07: Jirnov: Eindruck von Putin
OV
Er wirkte wie ein absolut farbloser, verklemmter und provinzieller KGB-ler. Ich hatte den Eindruck, dass ihn die Macht berauscht. Wenn jemand die Macht hat, dich einzusperren, dann sieht man es ihm an: Gefällt ihm das oder nicht. Putin hat es offensichtlich gefallen, dass er mich in Gewahrsam hatte und in der KGB-Zentrale verhören konnte.
SPRECHERIN:
so der Eindruck von Sergei Jirnov. Was beide zu dieser Zeit noch nicht wissen: Sie werden sich wieder begegnen. Vier Jahre später, an der Kaderschmiede des KGB: Am „Juri Andropow Rotbanner-Institut“ in Moskau. Denn auch Sergei Jirnov wird vom KGB angeworben. Ab 1984 werden beide im KGB-Institut auf ihre Auslandseinsätze vorbereitet: Jirnow wird mehrere Jahre lang in Paris die französische Elite ausspionieren. Und Putin kommt in die DDR – allerdings nicht ins Spionen-Nest Ost-Berlin, sondern in die KGB-Residentur nach Dresden.
MUSIK privat Take 011 „Hydra“; Album; Captain America The Winter Soldier;
SPRECHERIN:
Viele Mythen ranken sich um Putins Einsatz in Dresden: War er ein Superspion? Verbindungsmann zur RAF, der Roten Armee Fraktion? Ein furchtloser Verteidiger, der Dresdner Demonstranten 1989 von der Schwelle zur KGB-Filiale vertreibt? Wenig davon dürfte wahr sein und noch weniger lässt sich belegen.
Der ehemalige KGB-Agent Sergei Jirnov hält Dresden für ein Abstellgleis, für eine Sackgasse in jeder Agenten-Karriere. Das Image eines ruchlosen Spions hat Putin sich erst verpasst, nachdem er 2000 Präsident geworden ist. Dabei sei Putin kein echter Spion gewesen – sondern ein Mann der Spionage-Abwehr:
O-Ton 08: Jirnov: Spione und Tschekisten
OV
Man sagt: Wenn du ein guter Tschekist bist, dann bist du ein schlechter Spion. Ein guter Tschekist, der jagt Spione und Verräter. Dafür braucht man Tschekisten. Und ein Spion? Der ist das Gegenteil: Er ist ein Bandit, der die Gesetze bricht und selbst von der feindlichen Spionageabwehr gejagt wird. Es ist eine ganz andere Psychologie: Der Polizist und der Bandit. Der Spion ist ein Bandit. Der Tschekist ist ein Polizist. Putin ist ein Tschekist. Denn er hat in der Tscheka gedient, er hat das Hirn eines Tschekisten. Und dann wollten sie aus ihm einen Spion machen: Aber das hat nicht geklappt.
MUSIK „Heart“; ZEIT: 00:45
SPRECHERIN:
Doch was ist ein Tschekist? Der Begriff führt an den Anfang der sowjetischen Geheimdienste ins Jahr der Oktoberrevolution 1917.
O-Ton 09: Lenin 1919 – Kurz hoch, ohne Overvoice, nur als Atmo.
(Original Grammophon-Aufnahme)
SPRECHERIN:
Lenin und die herrschenden Bolschewiki gründeten die „We-Tsche-Ka“: die „Allrussische außerordentliche Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution, Spekulation und Spionage“. Eine Geheimpolizei, die inmitten eines blutigen Bürgerkriegs die Macht der neuen Regierung absicherte. Eine Truppe für alle Aufgaben:
MUSIK ENDE
O-Ton 10: Hilger: Was macht die Tscheka
Wenn Arbeiter streikten, in dem neuen System, dann war die Tscheka auch dafür zuständig, diesen Streik zu unterdrücken. Sie war dafür zuständig, die Transportwege zu sichern gegen mögliche Überfälle, also den Eisenbahnverkehr zu sichern. Sie war dafür zuständig, Zwangsabgaben von der ländlichen Bevölkerung einzutreiben. Sie war dafür zuständig, Intellektuelle zu verfolgen und zu unterdrücken. Sie hat Massenmorde begangen in Aufstandsgebieten.
SPRECHERIN:
Andreas Hilger, Osteuropahistoriker: Er hat bis zu seinem Tod im Juni 2024 das Büro der Max-Weber-Stiftung in Georgien geleitet.
((O-Ton 11 entfällt))
Heroisch verklärte Gestalt der Tscheka war ihr erster Chef: Der polnische Revolutionär Feliks Dzierżyński [spr. Dseržinski [Dsierʒynski] – ž wie in ‚Journal‘], der wegen seines Fanatismus und der Hingabe an die Partei „eiserner Felix“ genannt wurde. Er galt als Vorbildfigur für den Tschekisten-Kult.
O-Ton 12: Hilger: Idealbild Tschekist
Also mit ‚Tschekist‘ verbindet sich bis heute ein vermeintliches Idealbild von Personen, die selbstlos für eine gute Sache eintreten, sich selber nicht schonen und hart aber gerecht gegenüber den Feinden sind.
SPRECHERIN:
Sagt Andreas Hilger. Das regimetreue Idealbild überdauerte den Namen der Geheimpolizei, der in den kommenden Jahrzehnten dauernd wechselte: Tscheka, GPU, OGPU, NKWD, MGB, KGB und schließlich FSB. Sinnbildlich verkörpert wurde der Kult von der meterhohen Dzierżyński-Bronzestatue. Sie stand vor der Geheimdienst-Zentrale Lubjanka – einem wuchtigen neo-barocken Gebäude aus gelbem Backstein mitten in Moskau.
O-Ton 13: Hilger: Lubjanka
Es ist natürlich der zentrale Ort von Repression, Überwachung, Verfolgung, von Andersdenkenden. Aber auch von Überwachung und Formung der gesamten Gesellschaft.
O-Ton 14: ATMO_Jubel Menschenmenge
SPRECHERIN:
Die unterdrückte Erinnerung bricht sich 1991 Bahn: Der August-Putsch reaktionärer Hardliner ist gerade abgewendet, da stürmen tausende Menschen vor die Lubjanka und reißen die Dzierżyński-Statue nieder. Für die Bevölkerung ein Symbol für das Leid, das der Geheimdienst über das Land gebracht hatte.
Äußerste Brutalität, Folter und Massenerschießungen gehörten schon seit seiner Gründung zum Instrumentenkasten. Doch seine mit Abstand blutigste Episode erreichte der Schrecken in der Stalin-Zeit, als die Welle des Terrors jeden einzelnen Bürger völlig willkürlich mit sich reißen konnte – direkt in den Tod, oder ins Lagersystem Gulag.
O-Ton 15: Hilger: Opferzahlen
Das sind fast um die 30 Millionen Häftlinge, die da geschätzt werden, die zu der einen oder anderen Zeit mal im Lager saßen. Mit Höhepunkten unter Stalin. Und die Dimension des großen Terrors spiegelt dann noch einmal diese Intensivierung wider: Mit rund 1,5 Millionen Verurteilungen zu Haftstrafen und mit fast 700.000 Todesurteilen in einer sehr kurzen Zeit.
SPRECHERIN:
Es folgen Deportationen ganzer Völkerschaften und die massenhafte Internierung von Heimkehrern aus deutscher Kriegsgefangenschaft, wegen angeblichen Verrats. Die Opferzahlen gehen in die Millionen.
Meist war der sowjetische Geheimdienst das Werkzeug der stalinistischen Repressionen.
MUSIK „Golden arrow“; ZEIT: 00:40
SPRECHERIN:
Das Ende der Sowjetunion bietet eine kurze Chance für einen Bruch mit dieser Geschichte: Doch eine komplette Neuaufstellung des Geheimdienstes, der damals fast eine halbe Million Menschen beschäftigt, findet unter Präsident Boris Jelzin nicht statt. Zwar wird der KGB offiziell aufgelöst und später in den Inlandsgeheimdienst FSB sowie den Auslandsgeheimdienst SWR aufgespalten. Doch ein großer Teil der Kader mit ihrer tschekistischen Kultur überdauern die Systemtransformation, sagt Osteuropa-Historiker Andreas Hilger.
MUSIK ENDE
O-Ton 16: Hilger: Keine Aufarbeitung
Weil man diese gesamte Vergangenheit des Dienstes nicht aufarbeitet. Kommissionen, die das in den Blick nehmen sollen, führen zu keinen Ergebnissen. Und es fehlt da einfach an diesem radikalen Schlussstrich und Umbruch, der nötig gewesen wäre.
SPRECHERIN:
Im Chaos der Neunziger-Jahre bleiben Teile der Geheimdienst-Mitarbeiter eine verschworene Gruppe, die sich in der neuen Ordnung zurechtfinden muss – neben Oligarchen, korrupten Politikern und der organisierten Kriminalität. Es sind vor allem die jüngeren, reformorientierten KGB-Funktionäre, die nicht nur dabei zusehen wollen, wie andere die Reichtümer des Landes plündern. Sie wollen ihren eigenen Anteil daran haben.
O-Ton 17 Jirnov: KGB war ein weiterer Bandit
OV
Die KGB-Leute wurden zu einer anderen Art von Banditen, die mit mafiösen Mitteln etwa Unternehmen vor anderen Banditen beschützen.
SPRECHERIN:
Sergei Jirnov quittiert zu dieser Zeit seinen Dienst beim KGB und widmet sich zivilen Berufen im Fernsehen und als Berater.
Zur gleichen Zeit sucht Wladimir Putin in Sankt Petersburg eine zivile Anstellung. Er ist gerade aus Dresden zurückgekehrt und hat gute Kontakte zu seinen früheren Kollegen, in die höchsten Spitzen des örtlichen KGB. Viele Experten vermuten, dass es ein wichtiger Grund war, für Putins kometenhaften Aufstieg, während der 1990er Jahre: Der beginnt als rechte Hand des Bürgermeisters von Petersburg. Er setzt sich ab 1996 im Moskauer Kreml fort. Dort arbeitet sich Putin innerhalb kürzester Zeit zum stellvertretenden Chef der mächtigen Präsidialverwaltung unter Boris Jelzin hoch und wird später unter anderem zum Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB ernannt.
O-Ton 18: ATMO_Yeltsin Resignation (kein OV), darüber:
SPRECHERIN:
Die Krönung dieser Karriere erfolgt am Silvesterabend, der das neue Jahrtausend einläutet: Boris Jelzin, politisch und gesundheitlich angeschlagen, gibt in der Neujahrsansprache im Fernsehen seinen Rücktritt bekannt – und seien Nachfolger: Wladimir Putin.
# Jelzin nochmal kurz hoch (ohne OV)
((Hier wird ein Mann zum Präsidenten ernannt, der bis dahin nie in einer Wahl aufgestellt wurde. Putin ist nicht als Politiker an die Macht gekommen, sagt Sergei Jirnov, den ehemalige KGB-Spion:
O-Ton 19: Jirnov: Putin ist kein Politiker
OV
Putin war nie ein Politiker. Er wurde nie gewählt. Er war nie Teil einer politischen Partei, außer der kommunistischen. Er hat die Karriere eines Beamten gemacht. Und das hat mit Politik nichts zu tun. In die Politik kam er als Resultat eines Staatsumsturzes. Sie haben ihn durch die Hintertüre in die Politik eingeführt. Er war nie ein Politiker.))
MUSIK privat Take 011 „Hydra“; Album; Captain America The Winter Soldier;
SPRECHERIN:
Putin hat vom ersten Tag an der Spitze des Staates bedeutende Posten seiner Regierung mit ehemaligen KGB-Kollegen besetzt. Ist er also Teil einer Gruppe von FSB-Agenten, die verdeckt in die Regierung eingeschleust wurde, um sie für den Geheimdienst zu unterwandern? – Wie er noch wenige Tage zuvor am „Tschekisten-Tag“ vor seinen FSB-Kollegen im KGB-Hauptquartier an der Lubjanka frotzelte... Ist er nur eine ausführende Marionette, die in fremden Auftrag handelt?
Nein, sagt der Geheimdienst-Experte Mark Galeotti [spr.: Ga-le-otti]:
MUSIK ENDE
O-Ton 21: Galeotti: Putin ist nicht platziert
Ich glaube nicht für eine Sekunde daran, dass der Geheimdienst Putin gezielt als einen Agenten auf diesen Posten gesetzt hat. Aber wegen seiner Vergangenheit ist er sehr loyal gegenüber den Mitgliedern der Dienste und hält viel auf sie. Doch das führt nicht dazu, dass sie ihm sagen können, was er machen soll.
SPRECHERIN:
Die Geheimdienste sind keine geheime Macht, die aus dem Verborgenen heraus die russische Politik steuert. Aber sie sind wichtig, weil Putin als ehemaliger KGB-Mitarbeiter den Geheimdiensten eine wichtige Rolle zukommen lässt.
O-Ton 22: Galeotti: Personalistisches System
OV
Das zeigt die personalistische Natur dieses Regimes. Wir sehen, dass er sich Menschen zuwendet, denen er schon lange nahestand. Aber das heißt nicht, dass die Geheimdienste das System dominieren.
SPRECHERIN:
Sagt Mark Galeotti vom britischen Thinktank “Royal United Services Institute”. Er ist einer der bedeutendsten Experten für russische Sicherheitspolitik.
In den mehr als zwei Jahrzehnten seiner Macht hat Putin ein System errichtet, das Politikwissenschaftler als Machtvertikale bezeichnen: Alle Institutionen und Personen in Russland sind auf den Präsidenten ausgerichtet. Und der erwartet von seinen Untergebenen Loyalität, Abhängigkeit und Gehorsam, sagt Mark Galeotti.
O-Ton 23: Galeotti: KGB-ler teilen sein Weltbild
OV
Putin wählt sich Leute aus dem ehemaligen KGB, weil sie eine Gemeinsamkeit mit ihm haben: Sie teilen sein paranoides und nationalistisches Weltbild. Das sind die Einstellungen, die an Putins Hof vorherrschen – und sie sind der Grund dafür, dass er so viele dieser Veteranen an die Spitze seines Systems gesetzt hat.
SPRECHERIN:
Dieses Weltbild prägt das Handeln des russischen Staates – nach innen wie nach außen, sagt Osteuropa-Historiker Andreas Hilger. Es ist die Denkweise der ehemaliger KGB-Funktionäre:
O-Ton 24: Hilger: Weltbild - Überall Feinde
Die klare Überzeugung von Gegnern, die das russische Reich damals, dann die Sowjetunion und jetzt wieder Russland bedrohen. Die von außen tätig werden, die aber auch im Innern Russlands versuchen, die Gesellschaft zu zersetzen. Und die letztendlich mit allen möglichen Mitteln zu bekämpfen sind.
SPRECHERIN:
Das ist der lange Schatten des KGB. Sinnbildlich wird er im September 2023, als im Innenhof des Auslandsgeheimdienstes SWR ein Denkmal enthüllt wird. Es ist die Bronzestatue vom Tscheka-Chef Feliks Dzierżyński, die vor mehr als dreißig Jahren von der Menschenmenge heruntergerissen wurde. Heute sei Dzierżyński wieder eine der „wichtigsten moralischen Leitlinien geworden“ sagt der Behördenchef des SWR feierlich bei der Einweihung.
MUSIK „Armory“; ZEIT: 01:15
SPRECHERIN:
Welche konkreten Aufgaben haben die Geheimdienste in Russland? Welche Rolle spielen sie in Putins System?
O-Ton 25: Galeotti: Taschenmesser – ohne OV
The intelligence community is Putin’s Swiss Army knife. It’s his universal tool, whenever he has something that needs doing.
SPRECHERIN:
Sie sind sein Schweizer Taschenmesser, sagt Russland-Experte Mark Galeotti. Sie dienen einzig den Bedürfnissen des Herrschers, je nach tagespolitischen Bedürfnissen des Augenblicks. Zu Beginn von Putins Präsidentschaft haben sie die politische Konkurrenz ausgeschaltet und die Macht der Oligarchen eingehegt. Dann waren sie für die Unterdrückung von Massenprotesten verantwortlich, die Einschüchterung von Medien und Oppositionellen. Es folgten gezielte Tötungen, Giftanschläge. Und schließlich Desinformations-Kampagnen, Unterstützung ausländischer Politiker und Parteien, Vorbereitungen von Aufständen und Militärinvasionen. Dabei richten sich viele Angriffe auch gegen den Westen. Denn Putin sieht sich im Krieg gegen den Westen, sagt Mark Galeotti.
MUSIK ENDE
O-Ton 26: Galeotti: Bilanz der Dienste
OV
Seine Geheimdienste arbeiten effizient und sind heute so beschäftigt, wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges. Einige ihrer taktischen Operationen waren sehr erfolgreich. Aber insgesamt fällt ihre Bilanz phänomenal schlecht aus. Das Problem ist: Putin hat über lange Zeit ein System aufgebaut, in dem er gesagt bekommt, was er hören will – nicht was er wissen muss. Und das ist die größte Sünde in der Geheimdienstarbeit.
SPRECHERIN:
Jeden Morgen liest Wladimir Putin die Dossiers seiner Geheimdienste: Die Geheimdienste bestimmen das Bild, das er von der Welt hat, noch bevor er mit Diplomaten oder Beratern spricht. Allerdings haben sie ein entscheidendes Problem: Putin mag keine schlechten Nachrichten, sagt Mark Galeotti:
SPRECHERIN:
Das führt dazu, dass er ein verfälschtes Bild der Wirklichkeit hat: Etwa, dass sein Militär in wenigen Tagen die Ukraine einnehmen kann.
Aber zu Fehleinschätzungen neigt man nicht nur im Kreml, sondern auch im Westen.
O-Ton 28: Galeotti: Überschätzung Putins
OV
Die Angriffe der russischen Geheimdienste gegen den Westen sind viel weniger erfolgreich, als viele Menschen fürchten. Zu oft nehmen wir die die Russen als Alibi her für Dinge, die wir nicht mögen. Etwa, wenn die falsche Person gewählt wird oder ein Referendum den falschen Ausgang nimmt. – Dann ist es einfach, Putin dafür verantwortlich zu machen.
MUSIK privat Take 011 „Hydra“; Album; Captain America The Winter Soldier; Label: Hollywood Records – D0001911602; Interpret: Gavin Greenaway; Komponist: Henry Jackman; ZEIT: 01:30
SPRECHERIN:
Sagt Mark Galeotti. Die gesellschaftlichen Spannungen im Westen seien hausgemacht. Russische Einflussoperationen können sich nur die Probleme zunutze machen, die ohnehin schon da sind. Sie können Stimmungen verstärken, Zweifel und Widersprüche ausnutzen. Aber sie können sie nicht erfinden.
SPRECHERIN:
Eine schwierige Gratwanderung also: Man darf den langen Schatten des KGB nicht verkennen. Die Gewalt, mit der er Russlands Elite, ihre Denkweise und die Gesellschaft beherrscht. Die Aggression, mit der er sich gegen seine Nachbarn und den Westen richtet. Aber nicht alles, was in Russland passiert, wird vom Geheimdienst gesteuert. Nicht alle, die Putin unterstützen, sind seine Agenten. Sieht man nur noch Geheimdienste am Werk, dann ist man selbst ihrem Bann verfallen: ihrer Paranoia und ihrem Hang zur Verschwörung.
Wunden in der Landschaft. Das ist oft der erste Eindruck eines aufgelassenen Steinbruchs. Doch manchernorts verwandeln Naturschützer die Mondlandschaften zu einem Refugium für seltene Tier- und Pflanzenarten. Aber die paradiesischen Orte sind auch nicht ganz unumstritten. Von Katharina Hübel
Credits
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Hemma Michel
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Pascal Bunk und Annika König, Biodiversitätsmanager:innen von Knauf;
Tom Konopka, Regionalreferent für Mittelfranken BUND Naturschutz in Bayern e.V.;
Dr. Andreas von Lindeiner, Artenschutzreferent und Landesfachbeauftragter des Landesbunds für Vogel- und Naturschutz
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 Reportageszene
Reporterin: Wir stehen hier in so einer leichten Kuhle mitten im Gras…
Mann (empört): Das ist kein Gras!
Reporterin: Das ist kein Gras? Was isses denn?
Mann: Ein bisschen Gras ist dabei, aber wenn man so genau hinguckt, sieht man auch viele Kräuter. Also, das ist hier eine extrem artenreiche Wiese …
MUSIK „Clock Winder“; ZEIT: 00:57
Sprecherin
+ Atmo 01 im Hintergrund
Am Rande des südlichen Steigerwaldes. Im Landkreis Kitzingen, bei Iphofen, liegt Hellmitzheim. Ein kleines fränkisches Dorf. Pascal Bunk ist Ökologe und unterwegs, um den Zustand einer Wiese zu untersuchen.
02 Reportageszene
Wiesenlabkraut haben wir hier … sind fast schon kleine Büschel, die wachsen … - Und das, wo Sie gerade die Bestimmung machen? Das hat so ein bisschen größere, daumenlange Blätter - mal schauen …. Der Große Wiesenknopf wird das mal. - Es ist der, der dann so lila blüht, wie so ein knopfförmiger Blütenkopf ….
MUSIK ENDE
Sprecherin
+ Atmo 02 im Hintergrund (zu hören sind Protas und Reporterin, bitte ganz ganz niedrig ziehen, damit man den Eindruck hat: da ist jemand gemeinsam unterwegs, aber man hört nicht, was gesagt wird)
Annika König (Aussprache bitte hinten mit hartem k) ist eine Kollegin von Pascal Bunk und mit dabei auf der Suche nach seltenen Pflanzen und Tieren.
03 Reportageszene
Pascal, hast Du was gefunden? – Ja, das müsste die veronica spicata sein, der Ährige Ehrenpreis …
Sprecherin
+ Atmo 03 im Hintergrund
Pascal Bunk macht ein Foto von einer Staude und lädt es in seine Pflanzenbestimmungs-App hoch. Volltreffer: Veronica spicata. Kategorie: gefährdet. Eine Rote-Liste-Art. Lila-bläulich ragen ihre länglichen Blüten im Frühsommer zwischen den schmalen Blättern hervor. Ein Festmahl für Schmetterlinge.
OT 04 Pascal Bunk
Verschiedenste Bläulinge, Dickkopffalter, den Schwalbenschwanz habe ich hier auch schon gesehen. Bienen, Wildbienen jede Menge …. Also das ist halt ein Insektenparadies, so ne Wiese. (…)
OT 05 Pascal Bunk, leiser, etwas weiter entfernt, nähert sich an:
Auch sehr unscheinbar, das ist jetzt ein Hirschhaarstrang ….
Reporterin: Was ist das Besondere an dem?
Das es den hier eigentlich gar nicht mehr gibt in der Landschaft, nur noch in Naturschutzgebieten ist der zu finden, und wir haben ihn jetzt hier wieder auf dieser Renaturierungsfläche ansiedeln können.
Atmo 04 kurz freistehend, Schritte, die gehen, Vögel, die singen
MUSIK privat Take 017 Bio Diversity; Album: Green Planet; Label: 2008 UPPM RECORD; Interpret: James Kaleth; Komponist: James Kaleth; ZEIT: 00:21
Sprecherin
+ Atmo 04 im Hintergrund
Die Wiese war nicht immer so artenreich – über hundert verschiedene Pflanzen wachsen dort mittlerweile. Vor zwanzig Jahren war sie das Gegenteil. Pascal Bunk und Annika König sind nämlich keine üblichen Naturschützer: Sie sind Angestellte in der Rohstoffindustrie. Unterwegs im Auftrag einer Gipsfirma.
MUSIK ENDE
Atmo 05 Ziegen
Sprecherin
+ Atmo 07 im Hintergrund
Nicht weit entfernt umgibt ein hoher Metallzaun ein Areal. Die Grasfläche, auf der die Ziegen und zwei schottische Hochlandrinder weiden, endet bald und geht über in offene Erde. Klumpen bleiben an den Schuhen hängen.
08.2. Reportage Sequenz
Die Klüfte haben sich natürlich gebildet. Das Wasser fließt, schlängelt sich so durch, wir stehen hier auf so Erdstufen, würde ich es mal nennen.
Sprecherin
+ Atmo 07
Und dann: geht es senkrecht in die Tiefe. Eine Steilwand aus Erde und Steinen tut sich auf. Unten ein riesiges Loch, in dem sich Wasser sammelt. Ein bisschen Schilf ist in der Ferne zu sehen. Dahinter: Rapsfelder.
OT 09 Pascal Bunk
Wir sind jetzt im Steinbruch Hellmitzheim, der ist frisch stillgelegt, also vor drei Jahren wurde hier die letzte Tonne rausgeholt.
Sprecherin
+ Atmo 07
Ein Steinbruch der Firma Knauf, die sich auf den Abbau von Gips spezialisiert hat. Die Firma, bei der Pascal Bunk und Annika König angestellt sind.
OT 10 Pascal Bunk
Und der Teil, in dem wir jetzt stehen, der wird renaturiert. Also, der wird komplett sozusagen für den Naturschutz hergerichtet und soll ein so genanntes Ökokonto werden. Also hier sammeln wir sozusagen Naturschutzpunkte. Wir werten sozusagen die Landschaft auf.
Sprecherin
+ Atmo 07
Drei Hektar Land, die das Unternehmen einem Landwirt abkaufen konnte, bevor hier Steinbruch war. Der Steinbruch selbst war viel größer: zehn Hektar. Nicht alle Bauern wollten ihr Land verkaufen.
Manche verpachten nur für die Dauer des Abbaus. Am Horizont sieht man noch ein paar Steinhaufen.
OT 11 Pascal Bunk
Was hier abgebaut wird ist Naturgips, also wirklich Stein. Deswegen sieht man auch so diesen Höhenunterschied. Deswegen ist es wie ein Hügel da hinten, das ist das Massendefizit.
Sprecherin
Die Landschaft hat jetzt eine Delle, wo der Gips aus dem Boden herausgeholt worden ist. Gipsabbau gibt es in dieser Region schon seit dem Mittelalter. „Wein, Gips und Holz sind Iphofens Stolz“ steht auf der Homepage der Stadt, in der Knauf seinen Hauptsitz hat. Als das „weiße Gold Iphofens“ wird der Naturgips auch bezeichnet. Das Unternehmen ist mit diesem Rohstoff zum weltweiten Player geworden.
OT 12 Pascal Bunk
In der Regel sind wir nicht Eigentümer von diesen Flächen, die wir abbauen, sondern wir haben Abbauverträge mit den Eigentümern, weil Gips ein so genannter grundeigener Bodenschatz ist, das heißt, er gehört den Grundeigentümern. Das ist anders als zum Beispiel Kohle oder Metall. Die gehören dem Staat.
Sprecherin
Nach dem Abbau müssen Rohstoff-Firmen meistens wieder Ackerland herstellen, wenn die Bauer ihr Land wieder zurückwollen. In neunzig Prozent der Fälle ist das so, schätzt Pascal Bunk. Dafür trägt man den Oberboden extra vor dem Gipsabbau ab und lagert ihn ein. Dann kommt der Boden wieder aufs Land. ‚Rekultivieren‘ heißt das.
OT 13 Pascal Bunk
Das ist schon ziemlich tricky. Man hat ja das Bodengefüge zerstört, das auch durch Regenwürmer und so entstanden ist. Das dauert eine Weile, bis sich das wieder regeneriert hat. Man sagt: Zehn Jahre kann das dauern, bis die Ertragsfähigkeit der Böden wieder so ist wie vorher.
Sprecherin
Dann ist die Fläche zwar wieder grün, aber oft wachsen darauf eben nur bestimmte Nutzpflanzen. Auch die Tierarten, die dort vorkommen, sind überschaubar. Das, was Pascal Bunk als Ökologe erreichen möchte, ist ein anderer Zustand. Der geht aber nur, wenn die Bauern das Land verkaufen:
OT 14 Pascal Bunk
Das ist eine Renaturierung, weil wir halt weggehen von der vorherigen landwirtschaftlichen Nutzung … Und jetzt sehen wir einen kleinen See mit einer Insel und hier hinter uns werden wir Grünland entwickeln und Hecken pflanzen, das ist sozusagen Renaturierung, weil der Zustand der Natur näher ist als er vorher war.
OT 14.2.
Es ist immer der Fall, dass, wenn man in Deutschland was baut oder Rohstoffe gewinnt, muss man kompensieren, das ist im Bundesnaturschutzgesetz so geregelt.
MUSIK
OT 16 Pascal Bunk
Die Idee ist schon, dass man das als Rohbodenstandort erhält. Es gibt sehr viele Rohbodenpioniere oder Rohboden besiedelnde Arten, gerade diese Wildbienen als Beispiel. Die brauchen sowas, finden das aber in unserer Kulturlandschaft gar nicht mehr.
Sprecherin
+ Atmo07
Aus diesem Grund wird auch die Steilwand, die noch an den Gipsabbau erinnert, nicht verändert oder begrünt.
Sprecherin:
+ Atmo08
Störungsökologie ist der Fachbegriff.
Fortsetzung 16.2. Reportage Sequenz
Dynamische Lebensräume sind viel artenreicher als solche statischen Lebensräume. (…) Wenn jetzt so Spalten und Fugen entstehen, da können dann zum Beispiel Fledermäuse reingehen, die gerne auch in solchen Felswänden mal sitzen. Oder, wenn es ein größerer Abriss ist, könnte man sich auch vorstellen, dass da mal ein Uhu brütet.
OT 17 Pascal Bunk
Wir nehmen den Steinbruch selbst als Biotop.
Sprecherin
+ Atmo 07
Ein bisschen nachhelfen müssen die Ökologen allerdings schon, vor allem zu Beginn. Sie machen eine so genannte Geländemodellierung. Die Idee dahinter ist, möglichst viele verschiedene Strukturen in der Landschaft anzulegen. Das machen die Bagger vom Steinbruch.
OT 18 Pascal Bunk
Wir sagen, wir hätten gerne an der Stelle eine kleine Insel in dem See. Wir haben hier einen Flachuferbereich, da hab ich gesagt, den hätte ich gerne. Und dann machen sie das schon mit ihren Maschinen, dass das alles so passt. Ich brauche das Saatgut, ich brauche die Bäume, die Sträucher, ich brauche hier einen Steinhaufen. Ich brauche Totholz.
Sprecherin
+ Atmo 07
Verschiedene Strukturen in der Landschaft bedeuten: verschiedene Lebensräume für Spezialisten in der Tier- und Pflanzenwelt.
OT 19 Pascal Bunk
Da könnte sein, dass jetzt schon ein paar Rallen brüten, da unten sind verschiedene Amphibien, die Ringelnatter, die jagt in dem Uferbereich. Zauneidechsen hat man auch schon gesehen …
MUSIK „Clock Winder“; ZEIT: 00:40
und Atmo 09 als Übergang
Sprecherin
Hellmitzheim ist nicht der einzige ehemalige Steinbruch, den Pascal Bunk und Annika König betreuen.
Sprecherin
Rund 900 Steinbrüche und Kiesgruben sind derzeit in Bayern insgesamt in Betrieb, 860 Hektar Land pro Jahr werden dadurch von verschiedenen Firmen abgebaut. Das sind etwas über 0,01 Prozent der Landesfläche laut Angaben des Bayerischen Industrieverbands Baustoffe, Steine und Erden.
21 Reportageszene
Reporterin: Für mich sieht das aus wie eine Weide, da ist auch ein Weidezaun … Wo war denn der Steinbruch?
PB: Wir stehen direkt vor ihm. Wir gucken jetzt hier auf diese Infotafel, wir haben einen Rundwanderweg gemacht …
Das ist ein Vorzeigeprojekt, weil wir das gemeinsam mit dem Landesbund für Vogelschutz gemacht haben.
Sprecherin +Atmo 09
Willkommen im Steinbruch Markt Nordheim!
Das Logo des LBV ist auf der Infotafel der Firma Knauf gut zu sehen: ein weißer Eisvogel auf blauem Grund. Weiter den Wander-Weg entlang jedoch …
OT 22 Reporterin
Da sehen wir jetzt das Naturschutzgebiet: das grüne Dreieck mit dem Vogel drauf …
Sprecherin
+ Atmo 09
… hat noch ein Naturschutzverband seine Schilder aufgestellt. Nur der schmale Wanderweg trennt die beiden Grundstücke voneinander.
Sprecherin
Seit den 1960ern gehört das Nachbargrundstück schon dem BUND. Als Anfang der 2000er Jahre die Firma Knauf direkt angrenzend Gips abbaute, wurde das für das Unternehmen …
OT 24 Pascal Bunk
… einer der konfliktreichsten Abbauten, die wir jemals hatten. Da gab es richtig Demonstrationen und gerichtliche Auseinandersetzung.
OT 24.2.
Was jetzt das Besondere an der Fläche ist und auch das extreme Konfliktpotential hervorgerufen hat, ist das, was man hier oben sieht. Das sind die so genannten Sieben Buckel. Das ist ein Naturschutzgebiet, da hat sich eine bestimmte Vegetationsform entwickelt, die so genannte Gipssteppe, die wächst direkt auf Gips. Das ist sozusagen ein Relikt. Das gibt es nur noch an dieser Stelle und ein bisschen weiter, südlich in Kühlsheim gibt es das noch und in Sulzheim gibt es noch Gipssteppe. Ansonsten war es das, das ist in Bayern das letzte Stück Gipssteppe, was wir noch haben.
Sprecherin
Ein Relikt aus der Eiszeit. Eine einzigartige Tundravegetation. Pflanzen, die jede für sich genommen, auch wo anders wachsen könnten, aber in der Kombination miteinander nur auf Gips vorkommen. Beispielsweise der rauhaarige Alant, verschiedene Haarstrang-Arten, die Wildform der Katzenminze. Und:
OT 25 Pascal Bunk
Hier ist das Frühlingsadonisröschen, ein Highlight, wo dann wirklich die Freaks ankommen und sich das angucken. (…) Es ist eigentlich nur eine relativ unscheinbare Pflanze für den Laien. Der würde jetzt nicht sofort erkennen, dass das was Tolles ist, hat eine schöne Blüte, aber ansonsten ist es halt etwas tolles botanisch. Diese Steppenvegetation ist eigentlich ein Sammelsurium der seltensten und einzigartigsten Arten, die man sich vorstellen kann, europäisch streng geschützt. Es ist wirklich was Tolles, was Besonderes.
Sprecherin
Die Sieben Buckel und die Gipssteppe ließ die Rohstoff-Firma unangetastet. Aber der Bund Naturschutz befürchtete eine Grundwasserabsenkung, die sich auch auf die Sieben Buckel auswirkt – dadurch, dass Knauf direkt nebenan Gips aus dem Boden holte.
OT 26.3. Pascal Bunk
Das war auch Teil der Genehmigungsauflagen, dass wir hier ein dauerhaftes Grundwassermonitoring machen. Also wir gucken hier genau, in welcher Tiefe ist das Grundwasser, kommen wir mit unserem Gipsabbau irgendwie in die Gegend, dass wir Einfluss auf das Grundwasser haben. Aber ich kann gleich vorweg sagen: haben wir nicht.
Sprecherin
Der Bund Naturschutz hatte laut einer Pressemitteilung aus dem Jahr 2008 selbst vorgehabt, das ehemalige Ackerland nebenan zu erwerben, auf dem Knauf dann Gips abbaute – und freizugeben für die Pflanzen der Gipssteppe. Tom Konopka war damals schon der zuständige Regionalreferent des BUND:
OT 27 Tom Konopka
Im Steinbruch ist der Gips jetzt abgebaut, er ist weg, man ist nahe am Grundwasser, damit ist natürlich auch das Potential weg, diesen Arten überhaupt noch zu helfen.
OT 26 Pascal Bunk
Wir haben Bereiche, wo wir den Gips abgebaut haben, wir haben Bereiche, wo wir hinterher aber wieder Gips aufgetragen haben, also Scherbenkiesstruktur und haben dann Bereiche mit Heusaat angesät.
OT 26.2.
Man muss ja dazu sagen, vorher war das Acker. Also jetzt hat man zumindest die Möglichkeit, die Chance, dass sich da was ansiedelt.
Sprecherin
Tom Konopka widerspricht.
OT 27.2. Tom Konopka
Unsere Prognosen sind eingetreten, dass es im Steinbruch keine Gipssteppenvegetation geben wird.
Sprecherin
Eine Zusammenarbeit mit rohstoffabbauenden Betrieben lehnt der BUND bis heute ab.
OT 28 Tom Konopka
Wir unterscheiden uns in wenigen Punkten als Bund Naturschutz in Bayern vom Landesbund für Vogelschutz. Das ist allerdings einer, wo wir uns ganz stark unterscheiden. Für uns sind die Eingriffe, die hier in Natur und Landschaft stattfinden, Eingriffe in Primärlebensräume. Und das, was daraus entsteht, sind Sekundärlebensräume, die oftmals nur ein schwacher Abglanz dessen sind, was entweder vorher da war oder was als Potenzial noch vorhanden war.
Sprecherin
Nachhaltiger wäre es für Tom Konopka, über Recycling von Rohstoffen nachzudenken, anstatt immer neue aus dem Boden zu holen. Und sich darüber Gedanken zu machen, wie man seltenen Tieren und Pflanzen allgemein mehr Freiraum zurückgeben kann.
OT 29 Tom Konopka
Normalerweise würden diese Arten an Flüssen vorkommen, die noch frei mäandrieren können (…). Das ist klar: Solange die Flüsse alle versteint sind und festgelegt sind in ihrem Lauf, kommen keine solchen Strukturen mehr vor. Zum Zweiten haben wir in einer konventionellen Landwirtschaft, die alles mit Pestiziden behandelt und mit Kunstdünger zumüllt, auch keinen Platz für sehr viele Arten, die weniger nährstoffreiche Böden brauchen.
Sprecherin
Dass die Rohstoffbetriebe die gesetzliche Auflage haben, wieder ein Stückchen Natur herzustellen, hält Tom Konopka für wenig nachhaltig und das Mindeste.
OT 30 Tom Konopka
Es ist eine kleine Auflage für einen gigantischen Eingriff, den sie gemacht haben.
OT 30.2. Tom Konopka
Die Sekundärstandorte nach dem Abbau sind oftmals nicht stabil. Das heißt, hier muss alle paar Jahre eingegriffen werden, um für die Pionierarten stabilen Verhältnisse zu sorgen. Die Firmen, die die Auflage haben, nach ihrem Abbau eine naturschutzgemäße Fläche zu hinterlassen, ziehen sich dann zurück und ziehen sich aus der Verantwortung. Dann muss der Steuerzahler ran und alle paar Jahre dort Maßnahmen durchführen. Oder die Umweltverbände.
OT 30.3. Tom Konopka
Es ist vor allem Greenwashing für die Bauindustrie, die sich keine Gedanken macht, wie sie eigentlich den Raubbau beenden könnte. Denn davon leben sie.
Sprecherin
Andreas von Lindeiner vom Landesbund für Vogelschutz sieht das etwas anders.
OT 31 Andreas von Lindeiner
Ich habe überhaupt kein Problem damit, mit der Industrie zu reden. Die Industrie hat sich zu Anfang unserer Kooperation auch selber als der Drecksack gesehen, der da alles nur kaputtmacht und wurde auch so tituliert. Wir haben mittlerweile einen ganz anderen Umgang. Es ist ja nicht nur, dass wir an einem Standort Partner gewonnen haben, mit dem wir zusammen Gelbbauchunken schützen, sondern wir gewinnen gemeinsam Verständnis für die Belange des anderen.
Sprecherin
Der LBV berät Unternehmen, wie sie während des Abbaus die Natur möglichst schonen können und auch, wie sie danach am besten renaturieren. Rund 280 Pflanzen- und Tierarten, darunter einige Rote-Liste-Arten, leben in ehemaligen bayerischen Steinbrüchen, informiert der Industrieverband Baustoffe, Steine und Erden. In vielen ehemaligen Steinbrüchen sind auch Gewässer angelegt. Gewässer, die in der Natur eben immer seltener vorkommen.
OT 32 Andreas von Lindeiner
Sodass wir einfach feststellen müssen: Arten wie die Kreuzkröte, die Wechselkröte, die Gelbbauchunke sind zu einem so hohen Bestandteil ihrer Gesamtpopulation auf Rohstoffgewinnungsstätten angewiesen, dass hier tatsächlich wohl keine Alternative besteht, ihr Fortkommen auch zu sichern.
MUSIK
Atmo 10 Aussteigen aus dem Auto
35 Reportageszene
Wollen wir mal ein bisschen weiter, ein bisschen tiefer, da brauchen wir ein bisschen Trittsicherheit …
Das ist auch bewusst angelegt hier so ein schattiges Geröllfeld, mit Sicherheit sind da Fledermäuse drin, da sind so Spalten und kleine Ritzen als Höhlen … Die mögen es so ein bisschen geschützt, schattig, feucht. Als Ruhequartier ist das auf jeden Fall gut geeignet.
36 Reportageszene
Hier ist jetzt wieder so ein Flachuferbereich, der sich auch ständig verändert. Wir haben ja ne natürlich Dynamik drin. Dass es einfach, je nach Niederschlägen, ein bisschen überfluteter ist und mal wieder weniger und dadurch auch ein spezieller Lebensraum entsteht. Hier wird jetzt zum Beispiel Tausendgüldenkraut wachsen …. (…)
Sprecherin
+ Atmo 16
Das Geröllfeld und der Tümpel drohen bereits von Wald zugewuchert zu werden. Hier müsste jetzt eigentlich der Mensch bald nachhelfen und Bäume entfernen, um das Refugium für Fledermäuse und Amphibien zu sichern. Wenn nicht wenn nicht bereits ein Biber Einzug gehalten hätte. Er könnte es schaffen, den Sumpfbereich von allzu vielen Bäumen freizuhalten. Ein natürlicher Helfer für die Kommune, die sich mittlerweile um die Fläche kümmern muss: Der Rohstoffbetrieb ist aus der Verantwortung und Pflege raus. Pascal Bunk verschafft sich trotzdem manchmal einen Eindruck davon, wie es mit dem Gebiet weitergeht.
MUSIK „Clock Winder“; ZEIT: 00:59
OT 40 Pascal Bunk
Wir haben hier durch diesen Wanderweg natürlich schon gewissen Druck durch Menschen. Ich hab das auch schon oft beobachtet, dass hier Leute baden oder grillen, das ist jetzt natürlich nicht so dolle. Das wird ja auch eine touristische Marke dadurch, dass man halt den Wanderweg da hingelegt hat, dass man das als Naturschauplatz Steigerwald ausgezeichnet hat. Man findet es im Internet. Da hinten ist auch ein Geocash, das find ich auch nicht so prickelnd …
(…) Da war ja ein Schild, dass bestimmte Sachen nicht erlaubt sind, aber wer will es kontrollieren? Dann müsste rund um die Uhr jemand stehen und aufpassen ….
Reporterin: Hier habe ich jetzt eine Flasche gefunden, hat jemand liegen lassen …
(entfernt:) Das Ding gehört hier auch nicht hin….
Von genussreichen Festen bis zu asketischen Mönchen, von Atheisten bis zu Geisterglaube: der Buddhismus ist enorm vielfältig. Vor zweieinhalb Jahrtausenden begann er von Indien aus seinen Siegeszug in Asien. Heute wird er auch in Europa "in". Dabei hat jede Region ihre eigene Version entwickelt. Autorin: Bettina Weiz (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Irene Schuck
Es sprach: Irina Wanka
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Nicole Ngo und ihrer Mutter (Buddhistinnen),
Jens-Uwe Hartmann (Indologe, LMU München),
Patrice Ladwig (Buddhismus-Forscher)
Literatur:
Paul Williams, Patrice Ladwig, Buddhist funeral cultures of Southeast Asia and China, Cambridge : Cambridge University Press, 2012
Michael Kenna, Gudrun Melzer, Jens-Uwe Hartmann, Ira Stehmann: Buddha. München: Prestel-Verlag 2020
Tansen Sen (ed.), Buddhism Across Asia, Networks of Material, Intellectual and Cultural Exchange, Singapore 2014 ISEAS Publishing
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In Zeiten von Klimawandel und steigendem Meeresspiegel bekommt das Bauen auf Wasser eine existentielle Bedeutung. Niedrig liegenden Gebieten droht die Überflutung. Schwimmende Bauten sollen Abhilfe leisten. Von Renate Eichmeier (BR 2020)
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Autorin dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen:Katja Amberger, Christian Baumann, Rahel Comtesse
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Marlies Rohmer, Architektin, Amsterdam;
Dr Peter Strangfeld, Institut für Schwimmende Bauten, Brandenburgische Technische Universität, Cottbus-Senftenberg
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Die Idee, Lasten oder Personen an einem Seil in luftiger Höhe über Hindernisse zu befördern, ist schon Jahrhunderte alt. Doch erst dank moderner Technik wurden Seilbahnen zu einem zuverlässigen Transportmittel. Heute befördern sie Millionen von Menschen nicht nur auf Berggipfel, sondern auch durch Großstädte. Von David Globig (BR 2021)
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Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprach: Andreas Neumann
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Julia Schneeweiß (ehemals Schwärzler), Unternehmenssprecherin, Doppelmayr Seilbahnen GmbH;
Dr. Georg Schober, Leiter der Prüfstelle / Benannten Stelle für Seilbahnen, TÜV SÜD;
Prof. Klaus Bogenberger, Lehrstuhl für Verkehrstechnik, Technische Universität München
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER:
Unterwegs zu Deutschlands höchstem Berggipfel. In der Talstation der "Seilbahn Zugspitze" schließen sich die Türen der rundum verglasten Kabine. Langsam setzt sie sich in Bewegung, nimmt Fahrt auf und gleitet schließlich mit rund 40 Stundenkilometern gipfelwärts.
Bei ihrer Einweihung Ende 2017 hat die Bahn mehrere Rekorde aufgestellt, erklärt Julia Schwärzler. Sie ist Unternehmenssprecherin bei der Doppelmayr Seilbahnen GmbH. Die österreichische Doppelmayr/Garaventa-Gruppe ist führend auf dem Weltmarkt für Seilbahnen - und von ihr stammt auch diese Anlage. (37")
02 O-TON Schwärzler 14: (38")
"Die 'Seilbahn Zugspitze' hat insgesamt drei Weltrekorde - und zwar: die höchste Fachwerk-Stütze aus Stahl, mit 127 Metern, der größte Höhenunterschied, das heißt die Differenz zwischen Talstation und Bergstation mit knapp zwei Kilometern, und das längste Spannfeld. Das Spannfeld ist die Distanz, also bei der 'Seilbahn Zugspitze' zwischen der Stütze und der Bergstation. Und die ist über 3000 Meter lang. Das heißt, wir haben 3000 Meter freihängendes Seil zwischen Stütze und Bergstation, also eine absolute Rekordleistung."
MUSIK Coconami Moliendo Café 0.34 min.
SPRECHER:
Die Anfänge der Seilbahnen waren allerdings deutlich bescheidener – und sie liegen lange zurück. Die Idee, Lasten oder Menschen zu transportieren, indem man ein Seil zwischen zwei Punkten aufspannt, an dieses Seil einen Korb hängt und den dann hin und her zieht, diese Idee ist einige Jahrhunderte alt. Möglicherweise hat man in Teilen Asiens sogar schon vor mehreren tausend Jahren so Flüsse und Schluchten überwunden. (27")
MUSIK In the meadows 0.55 min.
SPRECHER:
Im Spätmittelalter wurde das Seilbahn-Prinzip aber auch in Europa genutzt: Das zeigen Abbildungen aus dem 15. Jahrhundert. 1644 hatte dann der niederländische Ingenieur Adam Wybe den Einfall, für den Bau einer Bastion in Danzig ein umlaufendes Seil zu nutzen. Daran hingen dutzende Eimer, die kontinuierlich in Bewegung waren und Erde zur Festungs-Baustelle beförderten. Das Seil wurde über mehrere Stützen geführt und von Pferden angetrieben.
Damit waren die grundlegenden Komponenten für Seilbahnen erfunden. Doch bis daraus ein wirklich zuverlässiges Transportsystem wurde, sollte noch einige Zeit vergehen. Denn erst im 19. Jahrhundert standen moderne Drahtseile und leistungsfähige Antriebe zur Verfügung. (48")
03 ATMO Fabrikhalle Doppelmayr (Atmo 4 übergeblendet in Atmo 2), darüber: (3")
SPRECHER:
Eine riesige Fabrikhalle in Wolfurt, südöstlich vom Bodensee. Mit einem schrillen Pfeifen schneiden robotergeführte Laser Stahlplatten zu. Es wird geflext, geschweißt, gehämmert. Doppelmayr produziert hier unterschiedlichste Bauteile für seine Seilbahnsysteme. Einige davon sind Standard-Elemente in großen Stückzahlen, doch vieles auch Einzelanfertigungen. Auch wenn keine Anlage der anderen gleicht, kann man sie in verschiedenen Kategorien zusammenfassen. (7")
05 O-TON Schwärzler 1: (17")
"Was wir am besten kennen, ist die sogenannte Einseil-Umlaufbahn. Wir kennen das vom Skisport. Da hat die Seilbahn nur ein Seil und dieses Seil hat dann die Funktion des Tragens und des Ziehens, das heißt bei uns Förderseil, das heißt ein Seil, das sämtliche Funktionen übernimmt."
MUSIK Con me 0.03 min.
SPRECHER:
Beispiel für dieses Prinzip ist der Sessellift. Andere Seilbahntypen nutzen hingegen mehrere Seile - z.B. die Pendelbahn. Während beim Skilift ein Seil alle Aufgaben gleichzeitig erfüllt, gibt es bei der Pendelbahn ein separates Tragseil. Auf diesem Seil fährt das sogenannte Laufwerk, an dem die Kabine hängt, mit Rollen auf und ab. (23")
MUSIK Con me 0.08 min.
SPRECHER:
Seilbahnen müssen aber gar nicht unbedingt auf "Schienen in der Luft" unterwegs sein. Es gibt auch sogenannte Standseilbahnen – auf einem Gleis am Boden. (23")
07 O-TON Schwärzler 5: (16")
"Eine Standseilbahn ist schienengebunden, aber von einem Seil gezogen. Also wie eine Straßenbahn in ihrem Aussehen, sage ich jetzt mal, gibt es eben auch Schienen, auf denen die Standseilbahn fährt."
MUSIK Con me 0.03 min.
SPRECHER:
Luft- oder Standseilbahn, Umlauf- oder Pendelbetrieb, eine unterschiedliche Zahl von Seilen – neben diesen Kategorien existieren noch zwei weitere, in die man Seilbahnen einordnen kann: fixe und kuppelbare Anlagen. Bei fixen Anlagen sind die Sessel oder Kabinen über eine verschraubte Klemme fest mit dem Seil verbunden. Will man ein Fahrzeug abbremsen, muss das ganze Seil langsamer laufen. (25")
08 O-TON Schwärzler 4: (32")
"Bei der kuppelbaren Technologie ist es so, dass sich das Seil eben auf einer konstanten Geschwindigkeit bewegt, also die Fahrgeschwindigkeit. Und wenn die Fahrzeuge in die Station einfahren, wird durch einen Mechanismus die Klemme geöffnet. Das Fahrzeug wird auf eine komfortable Einstiegs-Geschwindigkeit verlangsamt. Wenn die Fahrgäste in der Kabine sind beispielsweise, schließen sich die Türen wieder, und das Fahrzeug wird auf die Seilgeschwindigkeit beschleunigt, wird wieder aufgekuppelt und tritt so die Bergfahrt an."
SPRECHER:
Dass man in einer Sessel- oder Gondelbahn in mehreren Metern Höhe an einem Stahlseil hängt, nur gehalten von einer Klemme, die sich öffnen lässt - das kann einen schon ins Grübeln bringen: Wie sicher ist eigentlich so eine Seilbahn? (15")
MUSIK Isarmärchen MR009810 105 0.27 min.
09 ATMO Anlegen Industrie-Klettergurt (ab 3:41), darüber: (3")
SPRECHER:
Ortstermin in Garmisch-Partenkirchen: Dr. Georg Schober legt einen Industrie-Klettergurt mit extragroßen Karabinerhaken an. Der Leiter der "Prüfstelle für Seilbahnen" beim TÜV SÜD will einen Sessellift checken. Dafür wurde zusätzlich eine spezielle Arbeitsplattform am Seil montiert. (18")
10 ATMO Einsteigen Wartungs-Plattform (ab 20:01) (2")
SPRECHER:
Georg Schober steigt mit einem Seilbahn-Mitarbeiter auf die Plattform, dann setzt sich der Lift in Bewegung. (7")
11 ATMO Anfahren (20:24) (2")
SPRECHER:
Bis die Plattform an der ersten Stütze ankommt. (3")
12 ATMO Auf der Strecke (40:29): (4")
"Und auf Schleichgeschwindigkeit. Und Stopp."
13 ATMO Abbremsen (21:50) (2")
SPRECHER:
An den Stützen kontrollieren die beiden unter anderem die Rollen, über die das Förderseil läuft, sowie Bolzen und Lager. Außerdem testen sie die Sicherheitseinrichtungen, erklärt Betriebsleiter Florian Dreher. (12")
14 O-TON Florian Dreher (Atmo – 31:13): (12")
"Auf jeder Stütze ist die Seillage überwacht. D.h. wenn das Seil von der Rolle runterspringt, dann bleibt die Bahn automatisch stehen. Und zeigt mir dann da an, auf welcher Stütze die Seillage nicht stimmt."
SPRECHER:
Zur Kontrolle werden sogenannte Bruchstäbe herausgezogen. Damit ist ein spezieller Stromkreis unterbrochen. Das Gleiche passiert, wenn das Seil von einer Rolle springt und den Bruchstab zerstört. Auf einem Monitor im Betriebsraum gibt es prompt eine Fehlermeldung. (17")
15 ATMO Betriebsraum (30:34) (4")
"Jetzt habe ich wieder 'Seillage Stütze 2' – Ja, passt."
SPRECHER:
Im Laufe des Tages arbeitet TÜV-Experte Georg Schober eine umfangreiche Liste ab: Er checkt, ob sich Stützen geneigt haben, testet, wie schnell die Bremsen die Anlage zum Stillstand bringen. Er lässt den Motor für den Notantrieb starten, mit dem man den Lift bei einem Stromausfall evakuieren kann. Hoch oben auf den Stützen greift er außerdem immer wieder zum Hammer: (24")
16 ATMO TÜV Klopfen mit Hammer, darüber (3")
SPRECHER:
Der Klang verrät ihm unter anderem, ob die Schrauben noch fest angezogen sind - oder ob sie sich gelöst haben. Je heller der Klang, desto höher ist die sogenannte Vorspannkraft der Schrauben.
Natürlich kommt auch das zentrale Element des Sessellifts dran: das Stahlseil. Diesmal wird nur seine Oberfläche begutachtet, ob irgendwo kleine gebrochene Drähtchen zu erkennen sind.
SPRECHER:
Doch in regelmäßigen Abständen schaut man auch ins Innere des zentimeterdicken Seils: mit einer sogenannten magnet-induktiven Prüfung. Dazu wird das Seil also magnetisiert. Schäden verändern nämlich das magnetische Streufeld – und das kann man messen, beschreibt Georg Schober. (44")
17 O-TON Schober 5: (22")
"Angenommen, da wäre ein Drahtbruch drin. Das kann passieren. Das kommt immer mal wieder vor. Und das gibt einen sogenannten Störpegel. Es ist ein Störausschlag, den kann man deutlich erkennen. Und da gibt es entsprechende Vorgaben in der Norm, wie viele in welchem Abstand eben vorhanden sein dürfen. Und dementsprechend ist das Seil noch betriebssicher oder nicht mehr."
SPRECHER:
Denn bei der Vielzahl von dünnen Drähten oder Litzen, die in einem Stahlseil miteinander verdrillt sind, bei dieser Vielzahl muss das Seil nicht zwangsläufig ausgetauscht werden, wenn nur einer der Drähte gebrochen ist. Auch dann halten die Seile immer noch ein Mehrfaches der Belastung aus, für die sie zugelassen sind. Häufen sich die Fehlstellen allerdings, dann muss ein neues Seil her. Die strengen Vorgaben und regelmäßigen Prüfungen schlagen sich auch in den Unfallzahlen nieder. (33")
18 O-TON Schober 7: (ca. 14")
"Es ist so, dass die Statistik uns ganz klar zeigt, dass, bezogen auf die Beförderungs-Stunde pro Passagier, die Seilbahn eines der sichersten Transportmittel ist - weit vor dem Flugverkehr." STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHER:
Wenn man die Unfälle in Relation zu den zurückgelegten Kilometern nimmt, liegt das Seilbahnfahren allerdings hinter dem Fliegen und ist vergleichbar mit der Fahrt in einem ICE.
Natürlich kann es in trotzdem zu Katastrophen kommen. So wie am 11. November 2000 bei Kaprun. Dort hatte ein Zug einer Standseilbahn Feuer gefangen. Damals berichtete die Tagesschau: (26")
19 ZUSPIELUNG Tagesschau Katastrophe bei Kaprun: (17")
"Dichter Qualm dringt aus der Bergstation auf dem Österreichischen Kitzsteinhorn. Tief unten spielt sich eine Tragödie ab. Etwa 170 Menschen sterben beim Brand der Gletscherbahn im kilometerlangen Tunnel – unter ihnen viele Kinder und Jugendliche."
SPRECHER:
Ausgelöst wurde die Tragödie durch einen Heizlüfter im Zug. Dieser Lüfter hatte Hydrauliköl in Brand gesetzt. (7")
20 O-TON Schober 9: (19")
"Hier war es so, dass auch nichtkonforme Komponenten verbaut wurden, in Kombination mit ungünstigen Situationen vor Ort. Und genau dieses Unglück hat auch zu einer massiven Verbesserung des Systems Seilbahn, gerade in Bezug auf Brandschutz, geführt."
SPRECHER:
Ein Thema, das bei Luftseilbahnen ebenso wichtig ist. (4")
21 O-TON Schober 6a: (10")
"Wenn etwas brennt, dann ergreifen Sie in der Regel die Flucht, steigen aus oder schließen die Tür hinter sich. Das können Sie bei einer Seilbahn so nicht machen."
SPRECHER:
In den Kabinen dürfen deshalb keine brennbaren Materialien verbaut sein. Aber auch die Stationen und die technischen Anlagen müssen entsprechend geschützt werden. Damit z.B. die Seile auf keinen Fall durch das Feuer versagen – und damit die Bahn möglichst sogar weiterlaufen kann. (18")
22 O-TON Schober 6b: (10")
"Das heißt, die technische Integrität und Funktionsweise muss so lange erhalten bleiben, bis alle Passagiere eben in Sicherheit sind."
SPRECHER:
Auch wenn dank dieser ganzen Maßnahmen Seilbahnen in der Unfallstatistik kaum auftauchen: Einen absoluten Schutz vor Seilbahnunglücken wird es trotzdem nie geben. Denn es bleibt der Faktor Mensch: Menschliches Versagen lässt sich nie ganz ausschließen. Das hat sich unter anderem im Mai 2021 am Lago Maggiore gezeigt. Die Tagesschau berichtete auch hier. (24")
23 ZUSPIELUNG Tagesschau "Seilbahn-Unglück": (11")
"Schock und Trauer im norditalienischen Urlaubsort Stresa. 14 Menschen sind gestern bei einem Seilbahnunglück ums Leben gekommen, nur ein Kind überlebte schwerverletzt."
SPRECHER:
Das Zugseil der Bahn hatte versagt, die Gondel war daraufhin am Tragseil Richtung Tal gerast - und schließlich abgestürzt. Dass ein Zugseil reißt oder sich löst, das sollte eigentlich nie vorkommen. Doch entscheidend war wohl, dass man an der Gondel eine für genau diesen unwahrscheinlichen Fall eingebaute Notbremse mit einem Werkzeug blockiert hatte. (23")
24 O-TON Schober 8: (ca. 9")
"Hier wurde eine Sicherheitsfunktion vorsätzlich überbrückt. Das ist etwas, was Sie halt nicht tun dürfen als Betreiber."
25 ATMO Seilbahn Zugspitze, darüber: (2")
MUSIK Ananas Man 0.58
SPRECHER:
Zurück zur "Seilbahn Zugspitze". Keine zehn Minuten nach dem Start nähert sich die Kabine der Gipfelstation. Für die Fahrgäste war es ein besonderes Erlebnis: Die rundum bis zum Boden verglaste Kabine bietet einen spektakulären Ausblick – während sie teilweise 250 Meter über den Felsen nach oben schwebt. (20")
Der "Event-Charakter" spielt bei vielen neuen Seilbahn-Projekten eine wichtige Rolle. Es gibt drehbare Kabinen, die für einen Rundumblick während der Fahrt langsam rotieren. Und am Vierwaldstättersee in der Schweiz fährt seit einigen Jahren eine Cabrio-Seilbahn, beschreibt Julia Schwärzler vom Seilbahnhersteller Doppelmayr. (21")
26 O-TON Schwärzler 10+11: (18")
"Das ist eine große Kabine, hat ein Fassungsvermögen von 60 Personen, ist doppelstöckig; und der obere Stock, der hat kein Dach; wie ein Cabrio ist man oben an der frischen Luft."
SPRECHER:
Auch viele Jahrhunderte nach ihrer Erfindung wird die Seilbahn ständig weiterentwickelt. Z.B. zur autonom fahrende Seilbahn. (15")
27 O-TON Schwärzler 8: (18")
"Wir nützen da insbesondere Sensor- und Kamera-Überwachungstechnologie, insbesondere im In und Ausstiegsbereich. Und die Seilbahn ist intelligent und vernetzt und erkennt Unregelmäßigkeiten im Betrieb, analysiert diese und setzt dann die richtigen Maßnahmen."
SPRECHER:
Wenn z.B. ein Fahrgast mit seinem Skistiefel in der Tür klemmt, dann stoppt die Anlage automatisch - ohne dass dafür Personal in der Tal- oder Bergstation notwendig wäre. Es gibt allerdings einen Kontrollraum, in dem nach wie vor ein Mensch sitzt. Der hat dann mehrere Seilbahnen bzw. Seilbahnstationen gleichzeitig im Blick.
MUSIK Con me 0.03 min.
SPRECHER
Eine weitere neue Entwicklung ist der Transport von Menschen und Waren - gemeinsam in einer Seilbahn-Kabine. Erstmals realisiert wurde das am Eigergletscher in der Schweiz. (36")
28 O-TON Schwärzler 9a: (11")
"Die Seilbahn übernimmt nicht nur den Personentransport, sondern eben auch die Güterlogistik für die Gastronomie am Berg, für die Souvenirshops beispielsweise, die Material brauchen." STIMME OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHER:
Diese Güter werden auf Standardpaletten transportiert. Ein Verladeroboter setzt jeweils eine dieser Paletten vollautomatisch in die dafür angepasste Seilbahnkabine hinein bzw. holt sie heraus. (13")
SPRECHER:
Neue Möglichkeiten eröffnen Seilbahnen aber auch abseits von Bergsport und Tourismus. (5")
MUSIK Capicua (b) 1.19 min.
29 ATMO Straßenverkäufer in Bolivien (C105767 017), darüber: (3")
30 O-TON Schwärzler 12: (27")
"Wir haben in La Paz in Bolivien das größte urbane Seilbahnnetz umgesetzt. Das hat über 30 Kilometer Strecke, zehn Linien, die funktionieren wie eine U-Bahn, nur in der Luft. Knapp 1400 Kabinen sind da im Einsatz, 26 Stationen, die den Fahrgästen zur Verfügung stehen, um ein und auszusteigen. Ja, einfach ein modernes ÖPNV-Netz mit Seilbahnen."
SPRECHER:
Bolivien, Venezuela, Kolumbien, Brasilien, Mexiko – Lateinamerika hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Hotspot entwickelt für städtische Seilbahnen. Die bieten als Verkehrsmittel etliche Vorteile. Zum einen bewegen sie sich auf einer anderen Ebene als der Straßenverkehr: über ihm. Dadurch sind sie nicht staugefährdet. Sie brauchen nicht einem verwinkelten Straßenverlauf zu folgen, um z.B. ein enges Stadtviertel zu durchqueren. Sie bewältigen problemlos große Steigungen. Und Seilbahnen sind – verglichen mit anderen Verkehrsmitteln – relativ einfach und günstig zu bauen, erklärt Prof. Klaus Bogenberger. Er leitet den Lehrstuhl für Verkehrstechnik an der Technischen Universität München. (45")
31 O-TON Bogenberger 3:
"Weil sie am Boden zum Beispiel keine Fahrbahnen errichten müssen. Das heißt, wenn sie ein Waldstück oder Ähnliches überwinden müssen oder einen Fluss oder Ähnliches, brauchen Sie keine Brücke bauen, brauchen Sie keine Straße, brauchen Sie keine Schienen bauen; eventuell nur sehr wenig Bäume dafür opfern, weil, Sie brauchen nur ein paar Stützen, und sie überspannen eben solche Hindernisse." (26")
MUSIK Con me
SPRECHER:
Genauso wie man bestehende Bauwerke überspannen kann. Seilbahnen sind aber nicht nur für Städte interessant, die Nachholbedarf beim öffentlichen Nahverkehr haben. Mit Luftseilbahnen lässt sich auch ein gut ausgebautes Verkehrsnetz sinnvoll ergänzen. (17")
32 O-TON Bogenberger 4: (23")
"Viele Städte, so wie München, die auch stark wachsen, haben ein radiales System. Das heißt: Alle Linien - Bus, U-Bahn, Trambahn - sind sternförmig auf das Stadtzentrum ausgerichtet. Und je mehr diese Städte nach außen wachsen, desto mehr bilden sich dann auch sogenannte tangentiale Verkehrsbeziehungen aus." STIMME OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHER:
Immer mehr Menschen brauchen also Querverbindungen zwischen den strahlenförmig nach außen laufenden Verkehrslinien. Ringstraßen, wie es sie z.B. in München gibt, reichen da nicht aus. Denn Busse, die dort fahren, stehen in der Rushhour oft im Stau. Für die Querverbindungen wären also straßenunabhängige Lösungen ideal. Doch die existieren in vielen Städten nicht. (24")
33 O-TON Bogenberger 5: (14")
"Und wenn man jetzt diese Lösungen schnell anbieten will oder auch muss, weil man ein Verkehrsproblem hat, dann bieten sich natürlich Seilbahnen als eine Möglichkeit an für solche Tangential-Beziehungen."
SPRECHER:
Tatsächlich muss man einige Besonderheiten beachten, wenn Seilbahnen in den öffentlichen Nahverkehr integriert werden sollen, unterstreicht Klaus Bogenberger. U-Bahnen, Trambahnen und Busse arbeiten z.B. in einem Takt-System, mit einem 5- oder 10-Minuten-Takt. (30")
35 O-TON Bogenberger 2: (22")
"Das heißt, eine U-Bahn und Bus kommt alle 5 oder 10 Minuten. Bei Seilbahnen ist es im urbanen Anwendungsfall so, dass sie quasi kontinuierlich kommt. Also, da kommt also eine 10er-, 12er- 20er-Kabine, was sie auch immer haben, und die kommt quasi ständig. Alle paar Sekunden kommt eine in die Station, und es ist ein kontinuierliches Angebot der Beförderung." STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN!
SPRECHER:
... was ein Vorteil sein kann, aber nicht immer zu einem Takt-Angebot passt. Denn wenn z.B. aus einer U-Bahn mehrere hundert Fahrgäste gleichzeitig aussteigen, die dann in eine Seilbahn wechseln wollen, dauert es ein wenig, bis nach und nach für alle Wartenden eine Kabine vorbeigekommen ist. Es gibt noch weitere Einschränkungen: Seilbahnstrecken können nicht beliebig lang sein – und sie können auch nur eine begrenzte Zahl von Zwischenstationen bedienen.
Kosten und Nutzen müssen gegeneinander abgewogen werden. (34")
36 O-TON Bogenberger 10: (20")
"Man schaut nach, wie viele Fahrgäste so was in etwa haben wird. Und das hat dann einen Nutzen: Die gewinnen zum Beispiel an Reisezeit, die verbrauchen weniger Energie, weil sie nicht mehr Auto fahren. Man reduziert Staus, das sind alles Nutzen. Und denen stellt man dann die Kosten der Anlage gegenüber."
SPRECHER:
Die Zahl der möglichen Fahrgäste lässt sich dabei mit entsprechenden Computerprogrammen simulieren. (7")
37 O-TON Bogenberger 9: (26")
"Da gibt es makroskopische Verkehrsplanungs-Modelle, wo man sehr genau die Bewegungsströme der Menschen in einem Ballungsraum kennt und auch abbildet. Und dort baut man dann im Endeffekt in eine Computersimulation diese Seilbahn mal ein, und man schaut sich an, wie viele würden dann dort fahren, wie viele würden das annehmen?" STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN!
MUSIK Isarmärchen 0.46 min.
SPRECHER:
Eine Frage, vor der auch in Deutschland gerade mehrere Großstädte stehen. Schnellschüsse nach dem Motto: Wir probieren das einfach mal, kann man ja auch problemlos wieder abreißen – solche Schnellschüsse sollte man besser vermeiden, so Bogenberger. (18")
38 O-TON Bogenberger 8: (23")
"Ich denke, es ist sehr wichtig, nicht übereilt irgendwo einfach eine Seilbahn aufzubauen. Jetzt in so einem Stadium, wo man so ein neues Verkehrsmittel irgendwie installieren möchte, braucht man einen Anwendungsfall, der dann richtig gut funktioniert. Sonst läuft man Gefahr, dass man das Verkehrsmittel verbrennt als Innovation."
SPRECHER:
Eine Innovation, deren Anfänge bereits viele Jahrhunderte zurückliegen. Und die in den Bergen längst bewiesen hat, wie zuverlässig sie ist. (9")
MUSIK (leise), darüber:
39 ATMO Seilbahn Zugspitze - Ankunft Talstation
Sind Menschen frustriert oder unglücklich, richten sie ihre Aggression oft auf Personen oder Gruppen, die unbeliebt, leicht identifizierbar und machtlos sind: Man sucht - und findet - Sündenböcke. Die haben zwar oft gar nichts mit der konkreten Bedrohung zu tun, stärken aber scheinbar die Gemeinschaft. Von Frank Halbach
Credits
Autor und Regie dieser Folge: Frank Halbach
Es sprach: Katja Bürkle
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. Helga Schachinger, Sozialpsychologin
Prof. Dr. Claus Leggewie, Politikwissenschaftler
Literatur:
-Christian Bartolf: Das Opfer und der Sündenbock: Gedanken zur Ethik der Gewaltfreiheit. Eine kulturanthropologische Untersuchung zweier Opfertheorien (unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenhangs von Opfermythos und Sündenbockmechanismus). Berlin 2020.Umfangreiche Abhandlung über den Sündenbock in der Kulturtheorie.
Helga Elisabeth Schachinger: Wie Frieden schaffen? Eine Sozialpsychologie von Trauer- und Versöhnungsarbeit. In: Psychologie in Österreich 3 2023, S. 207-213. Geht der Frage nach, welche Identitätsentwicklung ohne Feindbilder möglich erscheint
Claus Leggewie: Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co. Berlin 2016. Präzise Analyse, wie Populisten die mythischen Muster von Sündenbock und Opfer-Kult für ihre Zwecke nutzen.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK „Mad Rush“; ZEIT: 01:19
Wieder zu spät? Ja, natürlich, Sie sind nicht schuld, sondern - wie immer!- die Bahn! Dann eben mit dem Auto. Schon wieder zu spät? Wegen der rücksichtslos und ohne Umsicht fahrenden Machos? Oder wegen dieser bummelnden Frauen am Steuer?
Wieso müssen wir überhaupt so hetzen? Warum sind wir so im Stress? Wir müssen immer mehr leisten. Die Jugend kümmert sich nur noch um Work-Life-Balance, anpacken will von denen keinen mehr. Nein? Schuld sind doch die viel zu vielen Alten, deren Rente wir bezahlen müssen, während wir wahrscheinlich gar keine mehr kriegen?
Wir sind echt arm dran. Und wir können nichts dafür. Schuld sind die anderen: der hochbezahlte, aber unfähige Trainer, die Ausländer, die ignoranten Lehrer, die die Begabung meines Kindes nicht erkennen, die Sozialschmarotzer, die Politiker, die Klimakleber – Schuld sind: die anderen!
Bevorzugt natürlich die, gegen die wir Vorurteile hegen. Und die traurige Wahrheit ist:
Alle Menschen – und zwar wirklich ALLE - haben Vorurteile, doch nur 40% erkennen sie bei sich.
MUSIK ENDE
O-Ton 1 Schachinger (15:11)
Schon kleine Kinder. Wenn die irgendetwas machen, was sie nicht machen dürfen, können die schon, sobald Sie reden können im Kindergarten, wenn sie irgendetwas machen, sagen sie: „Nein. Nein, ich bin nicht schuld. Die hat angefangen, oder der hat angefangen.“ Also Schuld bei anderen zu suchen, ist sozusagen etwas Urmenschliches, das kennen wahrscheinlich alle Menschen in der einen oder anderen Form.
SPRECHERIN
Sagt die Sozialpsychologin und Buchautorin Dr. Helga Schachinger.
O-Ton 2 Schachinger (15:38)
Und deswegen funktioniert das auch auf der Gruppenebene so gut, weil es für einen selber angenehmer ist, wenn man dann als braver und unschuldiger Mensch dasteht und man sagen kann: „Nein, er hat angefangen.“
MUSIK „In your head now“; ZEIT: 00:55
SPRECHERIN
Eine verlorene Ernte, an einer Krankheit eingegangenes Vieh: In der frühen Neuzeit war schnell klar, wer schuld war: Die, die abseits des Dorfes wohnte, die mit den roten Haaren: die Hexe.
Man möchte meinen die Hexenverfolgung sei ein Relikt der Vergangenheit. Aber die Jagd auf Minderheiten, auf Außenseiter oder Schwächere in unserer Gesellschaft ist keineswegs verschwunden. Sie
ist allgegenwärtig in der Politik, im Sport und im Privatleben: die Suche nach Sündenböcken.
Früher wurden die, die man für schuldig befand, öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Heute fegt meist „ganz zivilisiert“ der Shitstorm der „sozialen“ Medien über die Sündenböcke hinweg.
Aber warum brauchen wir überhaupt Sündenböcke? Und wie werden sie erzeugt?
MUSIK ENDE
O-Ton 3 Schachinger (01:06)
Wir haben in der experimentellen Sozialpsychologie die Begrifflichkeiten „Fremdgruppen“ im Gegensatz zu „Eigengruppen“ beziehungsweise Fremdbilder im Gegensatz zu Selbstbildern. Und aus diesem Fremdgruppen und Fremdbildern werben eben auch unter Umständen, wenn bestimmte Bedingungen eintreten, Feindgruppen und Feindbilder.
SPRECHERIN
Zunächst aber ist die Einteilung in Fremdbilder und Selbstbilder ein Prozess, der einfach nur dazu dient, die vielschichte Wirklichkeit so zu vereinfachen, dass sie verarbeitet werden kann.
O-Ton 4 Schachinger (02:59)
Es werden Kategorien gebildet. Das sind abstrakte Gruppenbildungen. Umgangssprachlich könnte man sagen: Menschen verwenden gerne Schubladen, in die sie Menschen hineinstecken.
Und durch diese Kategorienbildung entstehen eben dann diese Eigen- und diese Fremdgruppen, wobei die Eigengruppe die Gruppe ist, der ich selber angehöre, und die Fremdgruppe ist die Gruppe, der ich nicht angehöre. Und die Kategorien können jetzt ganz unterschiedlich und komplett beliebig sein.
SPRECHERIN
Das Denken in Bildern und Kategorien ist ein grundlegender psychischer Prozess: Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Partei, Hobby, Religion… alles Kategorien, die Orientierung bieten und helfen sollen die eigene Identität in Abgrenzung von anderen zu bestimmen. Gruppenbildungen erfüllen das menschliche Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. Eine positive soziale Zugehörigkeit schenkt ein positives Selbstwertgefühl. So weit so gut. Aber:
O-Ton 5 Schachinger (05:43)
Es gehen damit bestimmte Denkfehler einher, die in vielen, vielen Studien schon in den 50er, 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts nachgewiesen wurden. Diese Denkfehler sind zum Beispiel, dass eine Fremdgruppe, egal ob das jetzt für mich als Frau, die Männer sind, oder für mich als ältere Frau die jungen Menschen sind. Diese Fremdgruppe wird homogener und gleichartiger wahrgenommen, als sie tatsächlich ist.
SPRECHERIN
Es wird also verallgemeinert, über einen Kamm geschoren: Typisch Mann! Typisch Frau! Die Jugend! Die Ausländer! Die Muslime!
O-Ton 6 Schachinger (07:05)
Also der eine Fehler ist: Fremdgruppen werden homogener und gleichartiger wahrgenommen, als sie tatsächlich sind.
Und der zweite Denkfehler - auch bestens nachgewiesen seit Jahrzehnten in Studien - ist, dass die Unterschiede zwischen der eigenen Gruppe und der Fremdgruppe, egal ob das jetzt jung-alt, Mann-Frau, was auch immer ist, diese Unterschiede werden größer wahrgenommen, als sie tatsächlich sind.
SPRECHERIN
Zum Beispiel: Frauen können sich nicht durchsetzen. Männern fehlt das Einfühlungsvermögen. Oder: die Muslime passen einfach nicht zu „unserer“ Kultur.
SPRECHERIN
So entsteht Parteilichkeit in sozialen Beziehungen: Beispielsweise werden Menschen derselben Hautfarbe, Kultur oder Sprache bevorzugt.
Wer fühlt sich nicht in „vertrauter“ Gesellschaft am wohlsten?
Aus Parteilichkeit werden schnell Vorurteile: Gegen das vorab Verurteilen haben Fakten oder Argumente bereits kaum noch eine Chance.
Wird das Vorurteil zum Ausdruck gebracht, wird es zur Diskriminierung.
Dazu rückt man oft Merkmale in den Vordergrund, die man für typische Merkmale einer bestimmten Gruppe hält, zum Beispiel Haar- oder Barttracht.
O-Ton 7 Schachinger (12:44)
Das heißt es wird der Selbstwert der eigenen Anhängerschaft
gehoben, in dem eine andere Gruppe abgewertet wird, als minderwertig oder wie es die Nazis gemacht haben, als Untermenschen, als lebensunwertes Leben, das eigentlich gar nicht verdient zu leben. Also, es kommt zu extremen Abwertungen, und gleichzeitig wird die eigene Gruppe unrealistisch idealisiert und erhöht.
SPRECHERIN
Aus der Identitätsstiftung im Spannungsfeld von wir und die anderen wird: Wir gegen die anderen.
Am Ende der Spirale steht die Jagd nach Sündenböcken: verbale oder gar physische Angriffe. Und da bevorzugt Mitglieder von Minderheitsgruppen angegriffen werden, können sich die Opfer in der Regel schlecht bis gar nicht wehren.
MUSIK „In Doubt“; ZEIT: 01:05
Diese Wehrlosigkeit des Opfers entspricht einem uralten Muster: Magisches Denken, also die Annahme, man könne die Götter, das Schicksal, die Götter oder das Schicksal durch bestimme Handlungen oder Rituale beeinflussen, die Außenwelt zum Positiven verändern, Unheil abwenden.
Ein Blick in die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt:
In Krisenzeiten befolgen Gemeinschaften seit Menschengedenken ein Patentrezept: das Ritual der Opferung.
In alten Kulturen waren die Opfer Menschenopfer. Sie wurden später durch Tieropfer ersetzt. Ein spezielles Opfer spielte im Judentum bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels, im Jahr 70 nach Christus, eine besondere Rolle: In der Liturgie des Großen Versöhnungstages wurde ein Bock symbolisch mit den Sünden des Volkes Israel beladen und in die Wüste getrieben. Danach galt die Gemeinschaft gereinigt und Gott und Mensch versöhnt.
MUSIK ENDE mit GONG MUSIK “The Temple of Doom”; ZEIT: 00:03
Diese Art von Opfer, das Sündenbockritual, nimmt auch eine zentrale Stellung in den Überlegungen des Kulturanthropologen, Religionsphilosophen und Literaturwissenschaftlers René Girard ein. Girards Thesen gelten als wegweisend hinsichtlich einer kulturgeschichtlichen Betrachtung des Sündenbockdenkens:
MUSIK 4 „Organics“; ZEIT: 00:57
Eine menschliche Gesellschaft, so René Girard, sei nur dann überlebensfähig, wenn sie in der Lage sei, die Ausbreitung von Gewalt innerhalb einer Gruppe erfolgreich entgegenzuwirken.
Indem die Gruppe ein Objekt oder Kollektiv als schuldig ausmacht, polarisiert sie die Gewalt einheitsstiftend.
Eigene Schuld und Aggression wird auf einen Sündenbock projiziert.
Das geschieht vermehrt in Krisenzeiten. Die Hexenverfolgung des 16. Jahrhunderts zum Beispiel, der 40.000 bis 60.000 Menschen, zumeist Frauen, zum Opfer fielen, sie lässt sich auf die klimatische Abkühlung der Kleinen Eiszeit zurückführen, die Ernteausfälle und Hunger zur Folge hatte.
MUSIK ENDE
O-Ton 8 Schachinger (14:07)
Krisen sind natürlich der perfekte Zeitpunkt, um Sündenböcke zu generieren. Sündenböcke haben den Vorteil: Das ist leicht zu kommunizieren, wenn man sagt: die sind die Bösen. Und komplexe Gemengelagen und komplizierte Ursachenfaktoren sind viel schwieriger zu kommunizieren, sind schwer verstehbar. Und meistens gibt es ja auch eigene Fehler und hausgemachte Probleme. Von diesen eigenen Fehlern und hausgemachten Problemen kann ich bestens ablenken, indem ich eben ein Feindbild und einen Sündenbock habe, auf den nicht alles Negative abschieben kann.
SPRECHERIN
Den Schuldigen auszustoßen, ihn zu opfern, stabilisiert die Gruppe. Das „Eigene“, das sich als eine Gruppe von Opfern interpretiert, macht den Sündenbock im „Fremden“ aus. Dem Sündenbock werden möglichst sichtbare Merkmale zugeordnet, beispielsweise Hakenasen, Schläfenlocken, dunkler Teint, lange Bärte oder Kopftücher.
Diese alten Muster prägen uns nicht nur bis heute, sondern bergen auch das Potential, uns zu manipulieren: Populisten machen sich zunutze, wie wir ticken: Sie erklären uns zu Opfern und sich selbst zu unseren Anwälten.
MUSIK „Mad Rush“; ZEIT: 00:29
O-Ton 9 Trump (06.25)
The forgotten men and women of our country will be forgotten no longer…
SPRECHERIN
Populisten teilen großzügig die Unschuld des Opfers. Denn Schuld sind – wie wir wissen – immer die anderen.
O-Ton 10 Weidel W0461466
Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.
MUSIK ENDE mit MUSIK “The Temple of Doom”; ZEIT: 00:03
O-Ton 11 Leggewie (01.22)
Im Grunde genommen appellieren die Populisten, die ich autoritäre Nationalisten nenne, an den Täterinstinkt derjenigen, die sie ansprechen.
SPRECHERIN
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie beschäftigt sich seit langem eingehend mit den Narrativen des Populismus und der damit verbundenen Übertragung von Frust und Wut auf Sündenböcke.
O-Ton 12 Leggewie (01:33)
Das heißt, hier hat sich über Jahrzehnte hinweg ein großes Rachebedürfnis, ein großes Ressentiment, eine große Wut gegenüber der etablierten Politik, gegenüber anderen Eliten aufgestaut. Und was Trump, Putin, Erdoğan und europäische Nationalisten tun ist im Grunde genommen, den Täterinstinkt der Revanche gegen diese Eliten zu steigern. Das wird allerdings in der Tat mit einer Opferrhetorik unterlegt, kein Täter würde gerne Täter sein; es ist attraktiver ein Opfer zu sein und aus einer Art Notwehrsituation heraus zu reagieren.
SPRECHERIN
Der individuellen Sehnsucht des Einzelnen nach Identität wird also eine gemeinsame Identität als Opfer angeboten.
O-Ton 13 Leggewie (01:33)
Das Problematische an so einer Konstruktion ist natürlich, von vorneherein, dass Täter und Opfer immer Einzelpersonen sind, immer Individuen. D.h., sobald eine Gruppe sich als Gruppe in den Opferstatus hinein fantasiert, einen Opfermythos entwickelt, der gewissermaßen diese Gruppe begründet, wird es schon problematisch.
SPRECHERIN
Präsentiert wird dieser gemeinschaftsstifte Opfermythos allzu gerne von einem auserwählten Anführer. Angeblich ist der einer von uns – und der Retter der Unzufriedenen, Wütenden und angeblich Abgehängten.
O-Ton 14 Leggewie (18.34)
Sie haben sich einen Volkstribun ausgesucht, sie haben sich eine Führerpersönlichkeit ausgesucht, die so ist wie sie selbst - das betrifft z.B. die Vulgarität der Sprache, das betrifft die Schlichtheit des Denkens, das betrifft die Unverschämtheit und Respektlosigkeit gegenüber Leuten, die was von der Sache verstehen. All diese Dinge erkennen sie in ihm, es ist einer von ihnen, aber es ist jemand der Macht hat, deswegen gerne ein Milliardär, wie Trump oder Berlusconi, deswegen gerne jemand aus dem Geheimdienst wie Putin, deswegen gerne jemand, der sich ein Vermögen zusammengeklaut hat wie Viktor Orban oder Erdoğan.
MUSIK „In your head now“; ZEIT: 00:32
SPRECHERN
Jemand, der offen die Schuldigen benennt und heilige Wahrheiten ausspricht, die nicht hinterfragbar sind.
O-Ton 15 Kellyanne Conway
We have Alternative Facts!
SPECHERIN
Endlich trifft die gefühlte Wahrheit zu. Mythische statt faktische Wahrheit. Vom Propheten, der uns Opfern beisteht gegen „die da oben“, die uns doch „nur verarschen“, wie es so oft heißt.
MUSIK ENDE
O-Ton 16 Leggewie (19.20)
Also der Widerspruch besteht nicht darin, dass Menschen glauben, ein Milliardär könnte die Armen retten, sondern der Widerspruch besteht darin, dass die Milliardäre sich einen Scheißdreck darum kümmern, was ihre Bevölkerung für Wünsche hat, sondern sie an der Nase herumführt. Es ist ganz eindeutig so, dass die genannten Autokraten alle ihr privates Interesse, das ihrer Familie, das ihres Clans, bedienen, und nicht im Mindesten irgendeine Hinwendung zu, Zuwendung, Fürsorge für das bedrückte Volk haben. Da hat Bertolt Brecht in den 30er Jahren gesagt: „Die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber.“ Das ist der Prozess, den wir im Moment haben, d.h., es gelingt diesen Superreichen, Supermächtigen tatsächlich, den Widerstand, den man eigentlich gegen die Macht erwartet von populistisch genährten Gruppen, also „gegen die da oben“, die können umgepolt werden, nicht auf sie selbst dort oben, sondern auf Minderheiten, Fremde, Einwanderer, Flüchtlinge, Schwächere. Das ist der Trick, der hier passiert.
SPRECHERIN
Es werden kollektive Sündenböcke angeboten: Feindbilder, gezielt entwickelt, um bestimmte Minderheiten zum Sündenbock für aktuelle Krisenerscheinungen zu machen oder von der eigenen mangelnden oder nachlassenden Legitimation abzulenken.
Eine solche Projektion auf einen Sündenbock kann für die Bevölkerungsmehrheit eine identitätsstiftende Funktion bekommen. Sagt der Politikwissenschaftler Claus Leggewie.
O-Ton 17 Leggewie (21:25)
Der entscheidende Begriff ist natürlich der der Identität, das ist ja der Catch-all-Begriff, das Passepartout dafür, aller rechten autoritären Nationalisten. Die Vorstellung ist aus der Ich-Psychologie entlehnt und zwar fälschlicherweise. Auch das geht wieder nicht. Ich kann von mir sagen, wer ich bin. Und ich kann mir sagen, dass ich bestimmte Identitätsmerkmale habe, die teilweise übereinstimmen, teilweise auch miteinander im Konflikt sein können. Ob es eine Wir-Identität gibt, ob es so etwas gibt, wie völkische, nationale oder wie auch immer Identität, wage ich stark zu bezweifeln. Ganz einfach deswegen, weil eine solche Menge von Individuen, mit so vielen unterschiedlichen Lebensentwürfen auf keinen Fall eine verbindliche kollektive Identität bekommen kann.
MUSIK „In Doubt“; ZEIT: 01:05
SPRECHERIN
Um die Welt zu verstehen, teilt unser Gehirn sie von Kindheit an in Begriffe, Kategorien und Bilder ein: Das ist ein Hund, der bellt „Wau wau“, das ist eine Katze, die maunzt „Miau“. So kategorisieren wir nicht nur andere, sondern sortieren uns auch selbst in dieser Welt ein:
„Ich bin ein Mädchen, blond, 7 Jahre alt, tanze gerne und möchte mal Schauspielerin werden.“
Dieser grundlegende psychische Prozess findet bei jedem automatisch und ständig statt. Denn diese Bilder haben für unser kognitives System entscheidende Vorteile, wie zum Beispiel schnelles Reagieren in kritischen Momenten. Sie reduzieren die Komplexität der sozialen Welt und tragen entscheidend dazu bei, unsere eigene Identität
zu formen.
MUSIK ENDE
Die Einteilung der Welt in Schubladen macht es einerseits möglich, mit ihr zurechtzukommen. Andrerseits sollten wir uns vor Augen halten, dass eine verbindliche kollektive Identität gar nicht wirklich existiert. Die Psychologin Helga Schachinger:
O-Ton 18 Schachinger (09:28)
Keine Gruppe, von diesen vielen Gruppen, in die wir Menschen einteilen können, ist eine einheitliche, homogene Masse. Sondern jede Gruppe ist, wenn sie hinreichend groß ist, zerfällt sie in der Regel viele Untergruppen, (...) Und nicht nur gibt es viele Untergruppen in der Regel, sondern jede Gruppe ist de facto ein bunter Haufen aus unterschiedlichsten Individuen mit unterschiedlichen Zielen, die diese Individuen verfolgen, mit unterschiedlichen Eigenschaften, Merkmalen Denkmustern, Meinungen.
SPRECHERIN
„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“ Dieses Zitat des Münchner Komikers Karl Valentin ist ein Leitmotiv für die Erfahrungen, die
Migranten machen, jedoch ebenso für uns selbst.
Eine Studie der Krankenkasse IKK classic hat ergeben, dass die Mehrheit der Menschen von Vorurteilen betroffen ist oder war.
Besonders oft sind LGBTIQ* und Menschen mit körperlichen Einschränkungen betroffen. Menschen mit Migrationshintergrund werden häufiger bei der Wohnungssuche benachteiligt, schlechter bewertet oder man unterstellt ihnen schlechtere Deutschkenntnisse. Die Studie hat außerdem festgestellt, dass ein sichtbarer Zusammenhang zwischen Diskriminierungserfahrungen und Erkrankungen besteht.
Wir alle können bei der Verschiebung negativer Gefühle oder Aufwertung einer Gruppe selbst zu Sündenböcken werden.
O-Ton 19 Schachinger (16:30)
Und daher ist es so einfach dann mit guter Propaganda sozusagen auch ganze Gruppen zu Sündenböcken und Feindbildern zu machen. Weil dann sind wir die Braven, die eh alles richtig machen, aber die anderen sind die Bösen und da werden wir uns ja bitte wohl verteidigen dürfen.
SPRECHERIN
Aber unsere Welt ist nicht einfach, sie ist nicht schwarz-weiß. Wenn wir Anderes, Neues, Abweichendes ausblenden, wenn wir unsere Bilder und Kategorien nicht weiterentwickeln können, werden unsere Auffassungen zu Vorurteilen gerinnen: Was nicht in unser Bild passt, „übersehen“ wir, andere einzelne Merkmale werden überbetont, aus vielen unterschiedlichen einzelnen Menschen kann ein kollektiver Sündenbock werden.
Das wirksamste Mittel gegen Vorurteile ist und bleibt: Kontakt. Wir sollten unsere Identität besser mit als gegen die Anderen entwickeln.
O-Ton 20 Schachinger (17:25)
Es ist für mich unglaublich: wir haben seit der Steinzeit als Menschheit einen unglaublichen Fortschritt gemacht (…) 17:54 Aber wir haben es nicht geschafft, diese grundlegenden psychologischen Mechanismen von Gut und Böse zu überwinden. Und da sind die Bösen, und wir sind die Guten - und dabei schlagen wir uns jetzt wechselseitig die Schädel ein.
MUSIK „Readytoconect“; ZEIT: 01:15
SPRECHERIN
Zur Entwicklung von Vielfalt und Veränderungsfähigkeit nennt Helga Schachinger drei Identitätsebenen:
1. Die individuelle Identität: Wer bin ich und was macht mich einzigartig?
2. Die soziale Identität: Wir sind soziale Wesen und gehören unterschiedlichsten Gruppen an, doch die subjektive Wichtigkeit von sozialen Zugehörigkeiten ist flexibel.
3. Die Globale oder universelle Identität: Wie wäre es, wenn Sie sich als Teil der Menschheitsfamilie sehen? Eine solche globale Identität fußt auf universellen Gemeinsamkeiten, die wir alle miteinander teilen, wie Gefühle oder Lernfähigkeit.
Umfassende Verbundenheit und Verantwortung statt Abgrenzung und Schuldabwälzung auf Sündenböcke?
Geeint sein in größter Vielfalt und Kooperation - eine unrealistische Utopie? Oder überlebensnotwendig für die Menschheit?
Um das Leben der Tiroler Landesfürstin Margarete (1318-1369) ranken sich zahlreiche Legenden: Unfassbar hässlich sei die "Maultasch" gewesen, ein lasterhaftes Mannweib mit Bärenkräften. Nichts davon entspricht der Realität... Von Carola Zinner (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Udo Wachtveitl, Katja Schild, Carsten Fabian
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartnerin:
Prof. Dr. Julia Burkhardt, Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München
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Die Isar ist in Europa einzigartig: Sie darf auf immerhin 20 Kilometern noch fließen wie vor 200 Jahren. Doch der milchig türkis-schimmernde Fluss hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Wie die Isar allen Zähmungsversuchen zum Trotz doch immer ein bisschen wild geblieben ist, das erzählt RadioWissen in diesem Podcast. Von Jenny von Sperber
Credits
Autorin dieser Folge: Jenny von Sperber
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Burchard Dabinnus
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Prof. Dr. Aude Zingraff-Hamed: Expertin für Hochwasserschutz durch naturbasierte Lösungen, eh. TUM, jetzt Universität Straßburg, CNRS Centre national de la recherche scientifique Paris, ENGEESÉcole Nationale du Génie et de l'Eau et de l'Environnement de Strasbourg
Dr. Tobias Lang: Wasserwirtschaftsamt Weilheim, Fachbereich Talsperren
Andreas Riesch: Kraftwerks-Betriebsleiter Sylvensteinspeicher
Dr. Michael Schödl: LBV, Gebietsbetreuer obere Isar
Dr. Martin Kessler: Institut für Bayerische Geschichte, LMU
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Fangen wir an der oberen Isar an. Dort, wo sie noch wild fließen darf und fast so aussieht wie vor 200 Jahren.
MUSIK: „moto perpetuo“ – (0:35)
SPRECHERIN
Wenn sie als sprudelnder Gebirgsfluss in Bayern ankommt, dann hat die Isar schon 22 Kilometer im Karwendelgebirge in Österreich zurück-gelegt. Dann fließt sie kalt und milchig-türkis durch Mittenwald und Krün, schlängelt sich zwischen Kiesbänken dahin. Mal tiefer, mal fla-cher schiebt sie den Kies aus den Alpen mit sich, verzweigt sich in mehrere Arme. Ein wilder, freier, unschiffbarer Gebirgsfluss.
(Musik turbulent geht zu Ende)
Zsp 01: Isar-Wasser Atmo, dann Schritte Schödl
SPRECHER (nur für Überschriften):
Die wilde Isar
Zsp. 02: 001 Schödel, 0.36
Da finden wir eine Menge Tiere und Pflanzen, (x) die es nur noch hier gibt. Weil sie anderswo an der Isar und auch sonst überall schon aus-gestorben sind.
Zsp 03: 005 Schödel – Schritte Atmo (dann untergelegt)
SPRECHERIN
Der Biologe Michael Schödel ist an der oberen Isar unterwegs. Er ist der Gebietsbetreuer in diesem ganz besonderen Naturschutzgebiet. Schödel kennt hier, an den Ufern und auf den Kiesbänken, fast jeden Busch und er beobachtet genau, wie die Isar ihre direkte Umgebung und das Leben darin ständig aufs Neue verändert.
Zsp 04: 1.42 Atmo Isargluckern dann Schritte über Kiesbank
Zsp 05: 002 Schödel 01.20
Dass ist das Spannende hier oben, dass es hier ein Kommen und Ge-hen von neuen Flächen ist, ein Mosaik. Geschiebematerial, also Steine vom Berg, die in den Fluss getragen werden, immer wieder verlagert werden.
MUSIK: „moto perpetuo“ – (0:15)
SPRECHERIN
Die Isar darf hier machen, was sie will. Und genau deshalb leben hier so viele seltene Pflanzen und Tiere. Sie brauchen dieses „Atmen der Isar“, die ständige Veränderung. Die deutsche Tamariske zum Beispiel:
Zsp 06: 002 Schödel 00.00
(x) Hier schon ein großes Exemplar. Die werden bis zu 2,50 groß. Ta-mariske, das ist ein Gewächs, das kennt man aus dem Mittelmeer-raum. Da gibt’s ungefähr 70 Arten weltweit und eine in Deutschland, und die fängt jetzt grad an zu blühen (x) wir sehen, dass die hier in dem Weidenbusch bisschen ins Hintertreffen gerät. Die ist sehr konkur-renzschwach. (x) Sie braucht immer wieder neue Kiesbänke, wo sie ihre Samen, das sind wie beim Löwenzahn so Schirmchenflieger, wo sie ihre Samen ausstreuen kann, die müssen dann innerhalb von 3 Wochen auf feuchten Sand kommen, damit sie keimen können, und dann können sie die neue Fläche besiedeln.
Lebendige Flussmusik unterm Ton rausfaden
Zsp 07: 010 Schrödel 1.35 Schritte und Gemurmel („schauen wir mal da auf die Insel rüber“)
SPRECHERIN
Nur ein paar Schritte weiter entdeckt der Biologe die nächste seltene Art und fängt sie mit der Hand ein: Eine kleine graue Heuschrecke mit einem riesigen Kopf:
Zsp 08: 015 Schödel Schnarrschrecke A
(Schritte schon unter Text vorher legen) – … das hier ist eine Larve von einer gefleckten Schnarrschrecke. Die können mit den Flügeln so ein brrr brrr brrrt erzeugen…
SPRECHERIN
Drüben am anderen Ufer wachsen Orchideen. Und Schmetterlinge taumeln durch die Luft. Ein Stück weiter flussaufwärts leben sogar ein paar Flussregenpfeifer:
Geräusch Flussregenpfeifer
Zsp 11: 006 Schödel 2.10
… das ist so ein ganz putziger Vogel, hat ne schwarze Maske und n hel-len Augenring, ein helles braun auf dem Rücken, rennt immer ganz schnell über die Kiesbänke, und brütet direkt auf dem blanken Kies.
SPRECHERIN
Früher waren es vor allem die Hochwasser, die die ungeschützten Nes-ter bedroht und weggespült haben.
MUSIK: „Elements“ – (0:40)
SPRECHERIN
Heute haben sie ein anderes Problem: Es gibt keine wilden Flüsse mehr.
Zsp 13: 006 Schödel 04.00 (Flussregenpfeifer weg)
Der Fluss Regenpfeifer verabschiedet sich mehr und mehr von unseren Flüssen, weil er diese Bedingungen nicht mehr findet und geht in Er-satzlebensräume: Wie Kiesgruben, Abbaugebiete oder Supermarktdä-cher (x) Wenn da Wasser ist. Wenn die ne Regenrinne haben oder ei-nen Eimer. Ansonsten sitzt er da und die Jungen haben ein schlechtes Auskommen.
SPRECHERIN
Weil die Flussvögel nicht nur die Kiesbänke, sondern auch das Wasser dringend brauchen.-
Zsp: Musik nochmal hoch dann raus
SPRECHERIN
Wenn Kiesbrüter wie die seltenen Fluss-Regenpfeifer an einem Fluss brüten, wie hier, dann zeigt das den Biologen, dass der Fluss sauber und intakt ist.
Zsp 14: 010 Schödel 2.30 Atmo Wasserplätschern und Vögel un-tergelegt
Zsp 15: 012 Schödel 05.12
Das Tollste an der Isar ist eigentlich, dass der Fluss mit der Aue noch korrespondiert, dass die noch einen Bezug haben. Alle Flüsse, die wir sonst haben, da sind die halt abgehängt, da gibt’s ein Gewässerbett und einen Damm und dahinter ne trockene Aue. Hier sind wir auf fast dem gleichen Niveau, wenn jetzt hier der nächste Hochwasserschub kommt, dann kann der Geschiebematerial in die Aue tragen und dann geht der Entwicklungszyklus immer weiter. (Pause)
SPRECHERIN
Die Isar ist der einzige Fluss, die es auf 20km noch so machen darf.
Und zwar in ganz Europa.
MUSIK: „Wintersonnenwende“ – (0:20)
SPRECHER
Die Isar bringt Zitronen und Bier
SPRECHERIN
Nennen wir in Bartholomäus. Ein Mann, dessen ganzes Leben sich um die Isar dreht. Denn Bartholomäus ist Flößer. Er bringt Reisende den Fluss weiter runter, bis nach München. Ein gefährlicher Job.
Zsp 16: Kessler 3, 0.25 Flößerei Teil A
Wie risikoreich das war und was für ein harter Job das war! Und oft kam es vor, dass die Flößer stark angetrunken waren, um sich Mut an-zutrinken und ihre Nerven zu beruhigen wahrscheinlich auch.
SPRECHERIN
Das erzählt Martin Kessler. Er arbeitet am Institut für Bayerische Ge-schichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
MUSIK: „Wintersonnenwende“ – (0:30)
SPRECHERIN
Bartholomäus ist der älteste Sohn einer Flößerfamilie aus Bad Tölz. Schon sein Urgroßvater, den nennen wir jetzt Ludwig, hat Reisende auf der Isar nach München gebracht. Und Ludwig gibt seinen Söhnen und Enkeln all sein Erfahrungswissen über den gefährlichen Fluss weiter. In Bad Tölz sind sie eine angesehene Flößer-Familie. Anders ist es, wenn sie in München ankommen:
Zsp 18: Kessler 3, 2.50
Es waren im gewissen Sinne auch fahrende Gesellen, die immer unter-wegs waren. Und wenn man da unterwegs war, dann war man immer dubios, wenn man nicht einheimisch war.
(Mittelaltermusik nochmal hoch, dann raus)
SPRECHERIN
Durch die Flößerei wurde die Isar zu einer wichtigen Handelsstraße, er-zählt Tobias Lang vom Wasserwirtschaftsamt Weilheim. Ab der Römer-zeit kamen alle Waren aus Italien über Mittenwald und von dort über die Isar.
Zsp 19: Lang 2 / 8.30
Wenn Sie nach Wien reisen wollten, haben Sie sich in Mittenwald eine Fahrkarte gekauft, für ein Floß. (x) So sind alle Waren, Wein Tuche, Gewürze, Leder, ist ab Mittenwald auf der Isar transportiert worden. Das war die Lebensader, der Arbeitgeber des Isarwinkels und so wurde auch das Bier nach München gebracht. Früher hat man auf dem Okto-berfest kein Münchner Bier getrunken, sondern natürlich Tölzer Bier.
Mittelaltermusik wieder rein
SPRECHERIN
Per Floß kamen auch exotische Südfrüchte bis nach München: Zitronen oder Aprikosen aus Venedig und Bozen. Zu Hochzeiten landeten jedes Jahr über 8000 Floße in der Stadt. Und zwar genau dort, wo Martin Kessler jetzt am Isarufer steht:
(evtl „Atmo Kessler“ nutzen)
Zsp 20: Kessler 2, 4.30
Dann kamen sie hier an, an der Isarlände. Die Isarlände war ungefähr hier so schräg gegenüber, da mussten sie dann abgelegt werden und angeboten, sie waren zum Teil auch für den Münchner Hof bestimmt.
SPRECHERIN
Andere Waren reisten weiter über Isar und Donau bis an den Hof nach Wien. Ohne die Isar und die Floße hätte sich die ganze Region nicht so entwickelt, wäre nicht so gewachsen.
Zsp 21: Kessler 1, 11.40
Die Isar war – anders als Donau oder Inn - nicht schiffbar. Da war sie einfach nicht tief genug, da war sie einfach zu unstet und hat sich zu stark verändert, deswegen konnte man nur mit Flößen auf der Isar fahren. (x) Der Floßverkehr ist bis Mitte des 19. Jahrhunderts stark vorhanden, (x) bis er dann um 19. eingeht und für den Warentransport keine Rolle mehr spielt.
MUSIK: „Wintersonnenwende“ – (0:20)
SPRECHER
Die Isar muss gezähmt werden
SPRECHERIN
Das meiste Holz aus dem Oberland kam übrigens nicht per Floß, denn es schwamm von ganz alleine: Es wurde mit Holztriften den Fluss run-ter transportiert. Kurz gesagt: die Stämme wurden in die Isar geworfen und sich selbst überlassen.
Zsp 22: Kessler 1, 13.00
Und zwar in rauen Mengen, ja? Tausende Stämme wurden da in einer konzertierten Aktion nach München getrieben und aufgefangen am Holzrechen, der sich ungefähr auf Höhe der heutigen Praterinsel be-fand (x) an dem das Holz hängen blieb und dann von vielen Arbeitern in den sogenannten Holzgarten getrieben wurde.
SPRECHERIN
Der berühmte Holzrechen bestand selbst aus Holz: Der Hofbaumeister Reiffenstuhl vom Tegernsee hatte dafür Holzpfähle in den Isargrund rammen lassen. Er war Anfang des 17. Jahrhunderts ein gefragter Baumeister, wenn es um Holzkonstruktionen im Fluss ging. Selbst der kaiserliche Wiener Hof bat ihn um Hilfe, um in der Donau zu bauen.
Zsp Musik, sehr lebhaft (Moldau?)
MUSIK: „Elements“ – (0:40)
SPRECHERIN
Aber die Isar war eine besondere Herausforderung: Wild und unbere-chenbar.
Zsp 23: Kessler 1, 00.40
(x) Die Isar war hier noch weitgehend unreguliert (x,) wenn wir im Hochmittelalter sind: ein Kiesbett mit mehreren Armen, die sich immer wieder verändert haben, es gab schon sicher einen Hauptarm,
SPRECHERIN
Martin Kessler deutet rüber zur Ludwigsbrücke am Deutschen Museum.
aber was die Isar (x) schon festgelegt hat an diesen Ort, sonst wär sie vielleicht weiter noch nach Westen ausgebrochen, ist diese Brücke, die ungefähr seit 1180 belegt ist.
SPRECHERIN
Damals war auch die Brücke noch aus Holz.
Zsp 24: Kessler 1, 1.30
Wenn man eine Brücke hinsetzt, dann heißt das, man legt fest, dass der Fluss auch unter der Brücke zu fließen hat. Und seitdem muss die-se Isar an diesem Ort verhaftet bleiben…
SPRECHERIN
……was eine Herausforderung für die Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit war: Denn bei München fließt die Isar durch flaches Land und will ihre Kiesbänke eigentlich weiträumig hin- und her schie-ben.
Zsp 25: Kessler 1, 4.00
(x) Es waren hauptsächlich Holzgerüste, die man in den Fluss gesetzt hat (x) ein ganzes Ensemble an Kästen und Zäunen, „Schlachten“ war der Begriff, den man im Bayerischen Raum benutzt hat. (x) Ein Fluss-bauwerk, eine Reihe von Pfählen, die dann in der Mitte gefüllt wurde mit Kies oder Zweigen und Reisig, die den Fluss dann abgehalten hat, oder in ein gewisses Bett gezwungen hat.
MUSIK: „Wintersonnenwende“ – (0:20)
SPRECHER
Isar-Umbau im großen Stil
Musik: 20er Jahre Musik
SPRECHERIN
Nach dem verlorenen 1. Weltkrieg brauchten die Menschen Energie. Strom. Kohle hatten sie nur wenig, denn die war eine Reparationsleis-tung. Und so machten sich einfallsreiche Ingenieure daran, die Kraft des Wassers zu nutzen. Auch die der wilden Isar.
Zsp 26: Lang 2 / 6.30
Diese Energie hat dann erst möglich gemacht, dass man diesen Indust-riestandort Bayern aufbauen konnte. Das hat die Entwicklung möglich gemacht. Im Umkehrschluss war dann halt kein Wasser mehr in der Isar. Vor allem nach dem 2. Weltkrieg war nichts mehr da, als man dann auch noch den Rißbach abgeleitet hat. Die Isar war in trockenen Zeiten eine Kieswüste.
MUSIK: „Der Jongleur“ – (0:25)
SPRECHERIN
Die Menschen glaubten, sie bräuchten die Kraft des Wassers dringen-der als den Fluss selbst. Und so haben sie das Wasser der Isar bei Krün in den Walchensee abgeleitet und von dort über riesige Rohre in den tieferen Kochelsee fallen lassen - und dabei verstromt. Damals eine unglaubliche Innovation.
Zsp 27: Atmo obere Isar Schödel = ZSP 04
SPRECHERIN
Nur: Ohne Fluss ging es natürlich auch nicht, erzählt der Biologe Schö-del an der oberen Isar:
Zsp 28: 012 Schödel 1.30, damals
Hier ist nur an 60 Tagen im Jahr Schmelzwasser gelaufen. Es war so ne komplett trockene Landschaft. Sie hatten keine Weiden oder Fichten, die wir hier sehen. (x) Also ganz ganz trocken.
(Atmo raus)
SPRECHERIN
Bald wollten die Isar-Anwohner ihren Fluss zurück. Ihre Verkehrsstra-ße. Sie wollten ihre Flößerei zurück. Und natürlich auch genügend Was-ser für ihre Felder.
Also beschloss man, der Isar bei Krün wieder eine Restwassermenge zu lassen. Dieser Rest sollte in wasserreichen Zeiten gesammelt und in trockenen Zeiten wieder abgegeben werden. Eine von Menschen ge-steuerte Isar also. Ein großer Speichersee musste her. Eine Talsperre.
Zsp 29: Lang 2 / 10.00 Wie sollte man Damm bauen???
Aber man konnte gar nicht hinfahren zum Speicher, es gab keine Stra-ßen oder Bahnlinien, auch kein Floß mehr, weil es kein Wasser mehr gab. Man hatte kein Material, kein Geld keine Arbeitskräfte. Man hat auf der grünen Wiese bei 0 angefangen. (x) Ein Riesenprojekt in den 50er Jahren und bei der Geldnot eine schwierige Aufgabe.
SPRECHERIN
Die Talenge in der Nähe von Lenggries, zwischen dem markanten Syl-venstein und dem Hennenköpfle, war zwar ideal für eine Talsperre. Aber man hatte keine Erfahrung mit einem Gebirgsfluss wie der Isar: Ein großer Teil ihres Wassers fließt nämlich unterhalb der Sohle, im Kies, wo man es nicht sieht. Und auch dieses Wasser muss ja gestaut werden.
Zsp 30: Lang 2 / 5.00 Schwierigkeiten beim Bau
Und deshalb ist es wichtig, ein stabiles Fundament zu haben, das das verhindert. Da haben die in den 50er Jahren zwei Jahre lang gebraucht und Zement in den Untergrund eingepresst, um den Untergrund abzu-dichten und als sie fertig waren, haben sie begonnen den Damm zu bauen.
MUSIK: „Morgenstrahlen“ – (0:30)
SPRECHERIN
Als der Damm 1959 samt Wasserkraftwerk fertig war, staute er das Isarwasser an der Talenge auf und die Isar flutete das ganze Tal. In ihrem Wasser versank auch der kleine Ort Fall, wo die Anwohner schon im 16. Jahrhundert versucht hatten, ihre Isar für Flößerei und Holztrift zu zähmen. Der Bauingenieur Andreas Ries zeigt das versunkene Dorf auf einem alten Foto:
Zsp 31: Riesch 20 / 2.00
Da sieht man die Kurven, wo die Flößer haben rüberfahren müssen und da ist der Fels schon mal bearbeitet worden. Da war ein großer Hof, der Jägerhof hat der geheißen, mit 16.000 Hektar Fläche. Das waren die ersten Ansiedler da. Haben riesige Flächen gehabt, aber schwer zu bewirtschaften, sehr gefährdet durch Hochwasser.
SPRECHERIN
Andreas Riesch ist ein Nachkomme der Leute vom Jägerhof. Doch der Hof seiner Vorfahren liegt seit über 50 Jahren unter dem Wasserspiegel des Speicherseees. Ein Wasserspiegel, den Riesch mit seinem Betrieb heute steuert. Er ist Betriebsbeauftragter am Sylvensteinkraftwerk. Hier wird eingestellt, wie viel Wasser in der Isar weiterfließen darf.
Simpel gesagt ist der Speichersee wie eine Badewanne, bei der man den Stöpsel am Grund stückweise öffnen und schließen kann.
MUSIK: „Elements“ – (0:40)
SPRECHERIN
Allerdings: Ein wilder Gebirgsfluss wie die Isar lässt sich nicht so einfach regulieren. Immer wieder – und bis heute - stellt sie Ingenieure vor neue Herausforderungen. Was sollte zum Beispiel mit dem ganzen Kies passieren, den sie aus den Bergen mit sich bringt? Der fing nämlich bald an, den Speichersee Stück für Stück aufzufüllen!
Musik raus, Lastwagen-Bagger-Atmo rein (Medienbroker)
SPRECHERIN
Bis heute wird dieser Kies an Vorsperren ausgebaggert. Und teilweise auf Lastwagen an der Talsperre vorbei flussabwärts gefahren. Unter-halb der Talsperre wird er dann wieder in die Isar gekippt. (Atmo raus)
Auch die Talsperre selbst muss immer wieder nachgebessert werden, erklärt Riesch. Der Damm wurde schon zwei Mal um insgesamt 5 Meter erhöht und neue Stollen in den Fels gesprengt.
Zsp 33: Riesch 24
Wir sind jetzt am (x) Eingangsportal zum Sickerwasserstollen, der ist 2010 im Zuge der Dammsanierung gebaut worden. Seit 2015 in Be-trieb, jetzt gehen wir durchs Tor nei in den Stollen (schöne Schlüssel und Stollen Atmo) –
Zsp 34: Atmo Sickerwassertröpfeln
SPRECHERIN
Dichtungskern sanieren, Messsysteme erneuern, ein 2. Kraftwerk bau-en: Die Isar war und ist niemals endgültig gezähmt.
Und jetzt, im Klimawandel, wird es wohl so weiter gehen, sagt Tobias Lang. Denn es wird zu mehr Hochwassern kommen und das Isarwasser darf den Damm keinesfalls überströmen. Das wäre eine Katastrophe für das gesamte Isartal dahinter.
Zsp 35: Riesch 30 – Zukunft
Im Prinzip ist es eine ewige Baustelle das Ganze. Es wird immer wieder neue Erkenntnisse geben, damit man den anpassen kann und muss. Auch zu Zeiten des Klimawandels, kriegt ja jeder selber mit, dass die Niederschläge extremer werden und die Trockenzeiten extremer wer-den, und an das wird man ihn anpassen müssen. Wird a ewige Baustel-le bleiben das Ganze. Weg geht er nimmer. Also muss man das Beste draus machen.
Zsp 36: Atmo Riesch 28, 0.28 Schlüsselklimpern, dann raus
Musik: düstere 90er Musik (z.B. sonoton AB-C033806)
MUSIK: „Elements“ – (0:40)
SPRECHERIN
In den 90er Jahren schien die Isar vorerst gebändigt: Viele kleine Kraftwerke verstromten ihre Kraft bis runter zur Donaumündung. Wo die Isar durch München floss, musste sie sich durch Kaimauern durch-zwängen. Viele Fische, Vögel und Pflanzen verschwanden und immer wieder trat das schnell fließende Wasser über die betonierten Ufer. Schön war das nicht.
MUSIK: „Wintersonnenwende“ – (0:20)
SPRECHER
Die Isar wird wieder frei gelassen
SPRECHERIN
Musik: positive 90er Musik, oder Moldau
Die ersten Pläne, die Isar aus ihrem Korsett zu befreien, gab es schon in den 80ern. Die Bevölkerung machte Druck und in den 90ern wurde es dann konkret:
Zsp 37: Aude 3.17
(x) In der Zeit war Flussrenovierung nicht das Alpha und Omega von den Wasserwirtschaftsämtern. Das war ein Sonderfall. Das war nicht, was man in der Zeit gemacht hat. In der Zeit hat man, wenn man ein Problem hatte mit einem Fluss, Beton benutzt und Blöcke hat man die Ufer befestigt, verbaut (x) Dass man überhaupt eine Flussrenaturie-rung in Frage kommt, das war ein Umdenken bei Planern und Ent-scheidungsträgern.
SPRECHERIN
Prof. Aude Zingraff-Hamed kommt aus Frankreich und hat in München studiert. Im Rahmen ihrer Promotion hat sie sich mit der Isar-Renaturierung beschäftigt.
Zsp 38: Aude 05.00
Die Flussrenaturierung war wahrscheinlich die allerbeste Idee, die man hatte in der Zeit. Nicht nur weil es ein supertolles Ergebnis ist für die Bevölkerung, den Hochwasserschutz und die Biodiversität, sondern auch, weil in der Zeit es war wirklich Innovation, was da geschafft wurde, da hat man technische Innovation geschafft und viel weitere Flussrenaturierung inspiriert und überhaupt gezeigt, dass Flussrenatu-rierung in einer Stadt möglich ist.
MUSIK: „Morgenstrahlen“ – (0:30)
SPRECHERIN
In München – mitten im Stadtgebiet - hat die Isar seitdem wieder viel mehr Platz, sie darf Kies hin und herschieben, ihren Flusslauf ein biss-chen verändern.
Und weil es in München so gut geklappt hatte, bekam die Isar auch an anderen Orten ein bisschen Freiheit zurück. Am Isardelta kurz vor Landau waren sogar die Experten überrascht, wie kraftvoll der wun-derschöne Fluss auf die Lockerung reagiert hat:
Zsp 40: Antje Uhl, Projektleiterin Wasserwirtschaftsamt Lands-hut:
Wir hätten uns nicht gedacht, dass die Isar zum Beispiel an dem Fleck so eigendynamisch sich entwickeln würde. Es ist jetzt 4 Jahre her, dass wir diesen neuen Seitenarm hergestellt haben und es ist immer wieder ein Naturschauspiel, auch hier zu kommen und zu sehen, wie sich die-ser Abschnitt weiterentwickelt.
SPRECHERIN
Antje Uhl ist die Projektleiterin vom Wasserwirtschaftsamt Landshut und freut sich über die neu entstandene Insel und über die vielen Fi-sche, die zurückgekehrt sind. Und wer hier unten, nahe der Isarmün-dung, auch wieder aufgetaucht ist:
Zsp 41: Flussregenpfeifer = ZSP 10
SPRECHERIN
Der Flussregenpfeifer!
MUSIK: „Flying Fish“ – (0:15)
Musik vom Anfang wilde Isar, dann untergelegt
SPRECHERIN
Momentan wird verhandelt, wie es nach 2030 mit dem Isarwasser bei Krün weitergeht. Also wie viel Wasser die Isar behalten darf und wie-viel ins Kraftwerk am Walchensee fließen soll.
MUSIK: „moto perpetuo“ (1:35)
SPRECHERIN
Die milchig, türkis-schimmernde Isar, soviel wissen wir mittlerweile, ist ein einzigartiger Fluss. Wasser abdrehen oder einsperren – das funktio-niert bei ihr nicht. Längst ist sie für viele Menschen ein fast schon ma-gischer Fluss geworden.
Zsp 42: 016 Schödel
Also für mich ist die auch persönliche Entspannung und auch ein biss-chen Lebensinhalt. Ich bin jetzt seit 30 Jahren mit der verbandelt. Ja, man muss n bisschen aufpassen, dass man es nicht persönlich nimmt, wenn ihr was passiert. Aber man leidet natürlich schon mit, wenn ihr was passiert.
Zsp 43: Lang 4 / 6.40 / Zukunft der Isar
(x) Sie ist wirklich ein Juwel im Vgl zu anderen Flüssen, wie dem Lech oder dem Main. Es ist nicht grundlos, dass diese Isar immer wieder ausgezeichnet wird als schönstes Gewässer.
Zsp 44: 10:50 Aude
Die Isar bedeutet für mich sehr viel Erinnerung. Ich habe die beste Zeit, meine Zeit in München an der Isar gelebt. Und wenn ich zurück nach München komme, es ist um die Isar wieder zu erleben – ach! So schön die Isar.
In Europa ist die Feuerbestattung mittlerweile die vorherrschende Bestattungsform. Dabei sehen die monotheistischen Religionen vor, die Toten in der Erde zu bestatten, um ihre Wiederaufstehung nicht zu gefährden. Autorin: Daniela Remus (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Caroline Ebner, Jerzy May
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Norbert Fischer (Professor; Kulturanthropologe, Universität Hamburg);
Christa Frateantonio (Dr.; Religionswissenschaftlerin, Leibniz Universität Hannover);
Netanel Olhoeft (Institut für jüdische Theologie, Rabbiner, Universität Potsdam);
Paula Schrode (Professorin; Religionswissenschaftlerin, Universität Bayreuth)
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Über 300 Jahre lang machen sich Scharen von Kindern im Frühjahr aus den Alpengebieten nach Oberschwaben auf, um sich dort als saisonale Arbeitskräfte zu verdingen. Sie sind zwischen sechs und 14 Jahren alt und leisten als so genannte Schwaben- oder Hütekinder Schwerstarbeit, statt zur Schule zu gehen. Das Phänomen des "Schwabengehens" endet erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Autorin: Ulrike Beck
Credits
Autorin dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Baumann, Julia Fischer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Sabine Mücke, Historikerin, Leiterin des Museums Humpis Quartier in Ravensburg
Dr. Tanja Kreutzer, Kunsthistorikerin, Leiterin des Bauernhaus Museums Wolfegg
Literaturtipps:
Regina Lampert, „Die Schwabengängerin - Erinnerungen einer jungen Magd aus dem Vorarlberg 1864-1874“. Ein anschaulicher und lebendiger Einblick in Regina Lamperts Leben und Alltag als Schwabenkind. Diese Memoiren hat Lampert 1929 im Alter von 75 Jahren in Heften für ihre Familie niedergeschrieben.
Elmar Bereuter, „Die Geschichte des Kaspanaze - Die Schwabenkinder“. Der Roman erschien 2002 und diente Jo Baier als Vorlage für seinen Film „Schwabenkinder“. Eine sehr berührende und anschauliche Darstellung der Erfahrungen des Schwabenkindes Kaspar.
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zitatorin (Lampert Die Schwabengängerin S. 66)
Eines Tages sagte der Bauer etwa Ende Juli: “Die Gäns verlieren schon viel Federn, die müssen gerupft werden, bevor die Ernte angeht, denn dann hat man keine Zeit mehr, die Viecher zu rupfen. So zehn Stück solltest rupfen können im Tag.“ …Zuerst ging es nicht gut; an der ersten hatte ich fast ein halben Tag, bittere Tränen hab ich geweint dabei, bis ichs endlich gemerkt habe, wie das geht.“
Erzähler
Das schreibt Regina Lampert in ihren autobiografischen Memoiren „Die Schwabengängerin - Erinnerungen einer jungen Magd aus Vorarlberg“.
Erzählerin
Sie ist zehn Jahre alt, als sie im Frühjahr 1864 zum ersten Mal aus ihrem Heimatdorf Schnifis aufbrechen muss, um bis zum Herbst auf einem Bauernhof in Berg am Bodensee zu arbeiten.
MUSIK ENDE
Erzähler
Sie ist eine von zigtausenden so genannten Schwabenkindern, die sich über 300 Jahre lang in der Fremde verdingt haben. Aber sie ist die Einzige, deren Erlebnisse 1996 als Buch erscheinen, das eine Welle der Erinnerung auslöst.
Erzählerin
Und mit den Impuls gibt für grenzüberschreitende Projekte in Europa, für die sich Historiker und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Liechtenstein und Italien ab 2006 auf die Spuren der Schwabenkinder machen.
Erzähler
Im Bodenseekreis und im Landkreis Ravensburg durchforsten sie Dienstbotenverzeichnisse und werden fündig. Dort sind die Namen aufgelistet, genau wie das Alter, der Herkunftsort und der jeweilige Dienstherr.
Erzählerin
Zusammen mit den Informationen aus den Schulakten, sowie Zeitzeugenberichten, die die Nachfahren der ehemaligen Schwabenkinder und Archive beisteuern, setzt sich ein Puzzle zusammen, wie das Leben der bis dahin meist Unbekannten ausgesehen haben könnte.
Erzähler
Am Ende sind es 14.000 Biografien, die in die Schwabenkinderdatenbank aufgenommen und abgerufen werden können.
MUSIK privat Take 001 „Gute Nacht“; Album: Die Winterreise; Label: CD BABY.COM/INDYS; Interpret: Yi-Tzu Pan & Hendrik Heilmann; Komponist: Franz Schubert; ZEIT: 01:05
Erzähler
Die Geschichte des Schwabengehens beginnt bereits Ende des 16., Anfang des 17.Jahrhunderts. Als die ersten Bergbauernkinder aus Vorarlberg, Tirol, Südtirol, der Schweiz und Liechtenstein sich nach Oberschwaben aufmachen – so nannte man damals die Gegend im südöstlichen Baden-Württemberg und im südwestlichen Bayern.
Erzählerin
Eine Gegend, die durch den Getreideanbau und auch den Getreideexport in die Schweiz und nach Österreich längst als Kornkammer im Alpenraum bekannt ist. Eine Gegend, in der auch Kinder als Arbeitskräfte an den großen Höfen gebraucht werden.
Erzähler
Die Historikerin Sabine Mücke leitet das Museum Humpis Quartier in Ravensburg und hat sich im Rahmen der EU-geförderten Projekte intensiv mit der Geschichte des besonderen Phänomens des Schwabengehens beschäftigt.
MUSIK ENDE
1.O-Ton (Mücke Ausstellung Humpis Museum ab 5:46)
Der Grund (…) dass sehr viele Menschen aus den Alpenregionen, vor allen Dingen Tirol, auch Graubünden bis hin nach Südtirol, Vorarlberg natürlich auch nach Oberschwaben kamen, war die Tatsache, dass es schon nach dem Dreißigjährigen Krieg ja hier ein Bevölkerungsvakuum gab. Die Bevölkerung war durch Kriegseinwirkungen, durch Seuchen, Pest und so weiter stark reduziert worden in einem ohnehin schon dünn besiedelten Gebiet.
Hier gab es eben große Höfe, die einfach auch Arbeitskräfte benötigten. (…) Und deswegen war es eigentlich fast natürlich, dass es diese Arbeitsmigration gab. Das waren auch Erwachsene, die saisonal sich dann hier Arbeit gesucht haben und diesen Migrationsbewegungen folgten dann letztlich auch die Kinder.
Erzähler
Im Laufe der Jahrhunderte etabliert es sich, dass die Kinder allein geschickt werden und die Eltern daheim bleiben. Anfang bis Mitte des 19.Jahrhunderts erreichen die Kinderwanderungen ihren Höhepunkt.
Erzählerin
Laut Schätzungen sind es pro Jahr 5000 Buben und Mädchen, die aus dem nördlichen Alpenraum ins Schwabenland ziehen, um auf den Höfen als Hütejungen, Mägde oder Knechte zu arbeiten. Kinder, die zwischen sechs und 14 Jahre alt sind.
2.O-Ton (Mücke Ausstellung ab ca. 9:11)
Man muss aber sagen, dass die Zahlen so hoch waren, weil das eine Zeit war, die durch Hungerkrisen also gerade 1816/ 17 und die folgenden Jahre auch hier durch hohe Auswanderung, also auch im Königreich Württemberg oder in Baden gab es viel Armut und Auswanderung nach Amerika, was aber gleichzeitig dann wieder Arbeitskräftemangel hier evoziert hat und so lag also dieser Höhepunkt dieser Wanderung dann in diesen Jahrzehnten.
MUSIK privat Take 001 „Gute Nacht“; Album: Die Winterreise; Label: CD BABY.COM/INDYS; Interpret: Yi-Tzu Pan & Hendrik Heilmann; Komponist: Franz Schubert; ZEIT: 00:55
Erzählerin
Es ist die Armut, die ihre Eltern dazu bringt, eines oder mehrere ihrer zahlreichen Kinder in die Fremde zu schicken. Die die beschwerliche Wanderung aber nicht allein bewältigen müssen, sondern sich als Gruppe mit anderen Kindern aus dem Dorf aufmachen.
Erzähler
Sie sind nicht ganz ohne Schutz unterwegs, sondern immer in Begleitung eines Erwachsenen. Wie notwendig diese Begleitung ist, das geht aus der nachgestellten Erzählung des ehemaligen Schwabenkindes Katharina hervor. Die so im Bauernhaus-Museum Wolfegg zu hören ist. Katharina ist 11 Jahre alt, als sie sich 1836 von Graubünden aus auf den Weg macht:
MUSIK ENDE
3.O-Ton [0:00:09] (Katharina) :
Wie wir aufbrechen am frühen Morgen ist wie gsagt überall noch Schnee. Acht Kinder sind wir und die Frau, die uns begleitet. Der Vater sagt: die bringt euch ins Schwabenland und holt euch wieder ab im Herbst. Tut, was sie sagt. Der Weg ist steil von Samnaun hinunter ins Inntal. Wir laufen hintereinander, ich bin hinten und habe Mühe im Schnee. Vor mir ist mein Bruder und hinter mir noch die kleine Anna. Aber plötzlich, als ich zurückschaue, ist sie nicht mehr da. Die Anna schrie ich. Die Führerin hält sofort an, schaut, kommt zurück und geht eilig den Berg hinauf. Ich gehe mit, und wir finden sie. Anna hockt im Schnee. Sie ruft nach ihrer Mutter und weint. Und auch bei mir kommen die Tränen. Unsere Führerin kniet bei der Anna, hält sie fest, redet ihr leise zu und beide stehen auf. Sie führt sie an der Hand. Ich folge den beiden stumm.
MUSIK privat Take 012 „Einsamkeit“; Album: Die Winterreise; Label: CD BABY.COM/INDYS; Interpret: Yi-Tzu Pan & Hendrik Heilmann; Komponist: Franz Schubert; ZEIT: 00:20
Erzählerin
Neben dem Heimweh und der Ungewissheit, was sie im Schwabenland erwartet, ist auch der Weg für die Jungen und Mädchen eine Tortur. Sabine Mücke:
4.O-Ton (Mücke Int. ab 1:07)
Da die Kinder um Mitte März herum schon in Oberschwaben sein mussten, weil da beginnt einfach dann so das bäuerliche Arbeitsjahr mit Aussaatarbeiten, mussten sie sich eben dann auch auf den Weg machen. Und Mitte März lag eben in den Alpen in den höheren Regionen auf jeden Fall immer noch Schnee.
Das heißt vor allen Dingen für die Kinder (1:31), die aus Südtirol, auch aus Tirol kamen, stand der Arlberg im Weg. (…) Und man muss sich eben vorstellen, wenn dann diese Kinder sich zu Fuß durch den noch meterhohen, schweren Schnee auf den Weg machen mussten (ab 02:09…) Also da gibt es wirklich auch beeindruckende Schilderungen, wie gefährlich und auch wie unheimlich und wie anstrengend das war. (…)
Erzähler
Die Kinder sind mit sehr wenig Proviant, zu dünner Kleidung und schlechtem Schuhwerk unterwegs.Mit dem Bau der Arlbergbahn 1884 wird der Weg zumindest für diejenigen aus Tirol deutlich unbeschwerter.
5.O-Ton (Mücke Int. ab ca. 4:00)
Und dann sind auch die Kinder aus Südtirol, die ja sowieso auch noch erst einmal über den Reschenpass kommen mussten und dann hat man sich eben in Landeck in den Zug setzen können, konnte bis Bregenz mit dem Zug fahren. Und dann eben teilweise sind die Kinder dann mit dem Schiff nach Friedrichshafen oder eben zu Fuß weiter nach Oberschwaben oder auch ins oberschwäbische Allgäu.
Erzähler
Je jünger die Kinder sind, desto größer ist das Heimweh. Je älter sie sind, desto häufiger sind sie auch stolz, im Schwabenland ein paar Gulden für ihre Familie daheim dazu zu verdienen. Und sich hoffentlich satt essen zu können.
6.O-Ton (Mücke Int. ca. 6:00)
Weil sie wussten auch zuhause wird das Essen eben knapp gerade am Ende vom Winter. Man muss, glaube ich immer sich vor Augen halten, dass sie nicht so viele Wahlmöglichkeiten hatten, nun das dann einfach mehr oder weniger so auf sich genommen haben.
MUSIK privat Take 001 „Gute Nacht“; Album: Die Winterreise; Label: CD BABY.COM/INDYS; Interpret: Yi-Tzu Pan & Hendrik Heilmann; Komponist: Franz Schubert; ZEIT: 00:25
Erzählerin
Kaum in Friedrichshafen oder Lindau angekommen, geht es auf einen der Hütekindermärkte, die bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein regelmäßig um Josephi, also am 19.März stattfinden. Es ist der Ort, wo die Arbeitsstellen vergeben werden.
Erzähler
Kindergesindemärkte gibt es in Ravensburg, Friedrichshafen, Kempten und - je nach Bedarf auch in Wangen, Weingarten, Tettnang und Bad Waldsee. Die zentrale Anlaufstelle ist Mitte des 19.Jahrhunderts der in Ravensburg.
MUSIK ENDE
7.O-Ton (Mücke Int. ab 9:51 Humpis Quartier)
(9:51) Der Treffpunkt war in der unteren Bachstraße im Bereich des damaligen Gasthaus Krone (…) Und eben vor diesem Gasthaus war der Kindergesindemarkt, Hütekindermarkt, Schwabenkindermarkt.
(weiter ab 10:18) Dort trafen sowohl die Kinder ein (…) 11:04 Und dann kamen (…) die Bauern, sprachen verschiedene Kinder oder auch deren Begleiter an, je nachdem, was sie halt suchten. Die einen suchten eine Gänsemagd wie das Regina Lampert ja auch schön erzählt oder vielleicht jemand, der in der Küche im Haushalt hilft.
Erzählerin
Andere suchen nach einem Knecht, der das Vieh hüten, sich um die Kühe kümmern und bei der Ernte mithelfen kann.
Erzähler
Die Bauern begutachten die Kinder, fragen wie alt sie sind und sobald die Wahl getroffen ist, geht es um den Lohn, den die Buben und Mädchen für ihre Arbeit bekommen sollen. Der meist höher ausfällt, wenn die Person die Verhandlungen übernimmt, die sie auf dem Weg begleitet hat:
8.O-Ton (Mücke Int. ab 12:01)
Da gab es natürlich so übliche Bedingungen, wieviel Lohn für so einen Schwabenkind sein sollte. Von fünf bis zehn Gulden ist oft die Rede. Aber ganz wichtig war natürlich auch die Zusatzleistung wie das berühmte doppelte Häs, also ein doppeltes Gewand Kleidung mit Schuhen am besten noch und das eben in zweifacher Ausführung. Kost und Logis natürlich mit dabei. Manchmal wurde auch so was - sie hat am Sonntag frei noch mit verhandelt. Aber es gibt auch Aussagen von Kindern, die sagen, sie haben eigentlich gar keinen Geldlohn bekommen, sondern wirklich nur dieses Essen. Und wurden am Schluss in Naturalien ausbezahlt, also durch Kleidung.
MUSIK privat Take 011 „Frühlingstraum“; Album: Die Winterreise; Label: CD BABY.COM/INDYS; Interpret: Yi-Tzu Pan & Hendrik Heilmann; Komponist: Franz Schubert; ZEIT: 00:22
Erzählerin
Um die Kinder vor der Willkür ihrer Dienstherren zu schützen, gründen Venerand Schöpf und Josef Anton Geiger 1891 den Tiroler Hütekinderverein. Schöpf ist damals Pfarrer und war als Kind selbst ein Schwabengänger.
MUSIK ENDE
Geiger ist Gemeindevorsteher aus Pettneu am Arlberg.
Erzähler
Sie erstellen nicht nur Muster-Dienstverträge und versuchen damit, einen gerechteren Lohn für die Kinder festzulegen. Sondern besuchen auch die jungen Mägde und Knechte während des Sommers auf den Höfen.
Erzählerin
Um nachzusehen, ob es den Kindern gut geht, wie die Kunsthistorikerin Tanja Kreutzer ausführt. Sie ist Leiterin des Bauernhaus-Museums in Wolfegg.
9.O-Ton (ab 1:44 Kreutzer Nachgestellte Stimmen - zum Verein)
Es sind (…) Geistliche, die sich um das Wohl dieser Kinder sorgen und sagen: Nein, da muss man was tun. Und dann muss man reglementieren. Vor allem auch hier in Oberschwaben. Pfarrer, die sagen, sie fahren mit dem Fahrrad jeden einzelnen Hof auch ab. Deswegen ist auch hier das Fahrrad noch einmal ausgestellt. Um eben zu gucken: Wird dieser Vertrag auch eingehalten, der jetzt erstmals eben auch schriftlich fixiert wird? Und geht es den Kindern gut in ihrer jeweiligen Arbeitsstätte?
Erzähler
Der Hütekinderverein kümmert sich auch um die Bildung der Schwabenkinder. Denn auch wenn im Königreich Württemberg seit 1836 die Schulpflicht besteht, gilt sie bis 1921 nicht für ausländische Kinder.
Erzählerin
Bis dahin sind die Jungen und Mädchen in ihren Heimatregionen jedes Jahr für die Zeit des Schwabengehens von der Schulpflicht befreit. Ihnen bleiben damit nur die vier Wintermonate, in denen sie zu Hause sind, um ein bisschen Stoff nachzuholen.
10.O-Ton: (Kreutzer Int. ab ca. 12:00)
Das ist natürlich auch etwas, dass diese Kinder prägt. Wobei es durch den Tirolerhüte Kinderverein die Bemühungen gab, dass man wenigstens den sonntäglichen Kirchgang und die anschließende Betschule auch für diese Kinder öffnete. Und dass die tatsächlich dann auch vom hiesigen Pfarrer in Oberschwaben eine Bestätigung brauchten, dass sie da teilgenommen haben, was sie dann wiederum in ihren Heimatorten abgeben mussten.
MUSIK privat Take 010 „Rast“; Album: Die Winterreise; Label: CD BABY.COM/INDYS; Interpret: Yi-Tzu Pan & Hendrik Heilmann; Komponist: Franz Schubert; ZEIT: 00:30
Erzähler
Die Kinder werden sehr unterschiedlich behandelt, wie aus den Quellen hervorgeht, die Tanja Kreutzer durchforstet hat. Je nachdem, ob sie auf einem reichen oder armen Bauernhof arbeiten. Dabei es kommt es sehr auf den Dienstherren an, für den sie arbeiten.
MUSIK ENDE
11.O-Ton (Kreutzer Int. ab ca. 7:30)
So unterschiedlich wie die Menschen sind, so unterschiedlich ist dann auch die Behandlung, die diese Kinder erfahren haben. Also zum Teil gibt es eben auch Berichte von Misshandlungen. Das wissen wir auch aus einigen Gerichtsakten oder amtlichen Zeugnissen, dass eben auch Anzeige erstattet wurde, weil ein Kind wieder nach Hause gehen musste, weil es so verhauen wurde und misshandelt wurde, dass es Verletzungen hatte, die erst Monate später geheilt sind.
Erzählerin
In den Berichten ist auch von sexuellen Übergriffen die Rede, die auch Regina Lampert in ihren Erinnerungen andeutet:
11.O-Ton (Kreutzer Int. ab 8:18)
Dass sie eben tatsächlich vom Bauern aufgefordert worden sei, einmal als sie da auf der Weide saß, ihren Rock zu lüften. Und erst als sie dann den weggestoßen hat, hat sie gemerkt: das ist der Bauer, der sie hier angeht.
Aber wir haben aber eben auch Zeugnisse und das ist durchaus die Mehrheit, dass es diesen Kindern durchaus gar nicht schlecht ging auf den Höfen. Dass da ein recht gutes Verhältnis mit der Familie auch vorhanden war im Rahmen dessen, was man als Gesinde in der Zeit auch erwarten konnte, als relativ weit unten stehend in der Hierarchie und eben auch entsprechend den Anweisungen des Bauern verpflichtet.
Erzähler
Jacob Stoffel ist eines der Kinder, das gute Erfahrungen macht. Er geht 1896 zusammen mit 20 Kindern aus der Gemeinde Vals ins Schwabenland, um bis zum Herbst auf einem Hof im Niederwangen zu arbeiten.
Erzählerin
Jacob Stoffel ist damals 13 Jahre alt und schreibt später in einem Aufsatz:
MUSIK privat Take 013 „Die Post“; Album: Die Winterreise; Label: CD BABY.COM/INDYS; Interpret: Yi-Tzu Pan & Hendrik Heilmann; Komponist: Franz Schubert; ZEIT: 01:17
Erzähler (als Zitator)
So flog die Zeit in strenger Arbeit vorüber. Das Essen war einfach, aber immer gut zubereitet. Auch die Behandlung war recht gut.
Etwa um den 20.Oktober kam unsere Führerin, um uns wieder abzuholen. Mein Meister bezahlte mir den vereinbarten Lohn und gab mir einige Mark als Reisgeld mit. Dankbar verabschiedete ich mich von den Meistersleuten und seiner Familie, sowie von den Diensten und versprach, das nächste Jahr wiederzukommen.
Die Reise wurde bis Bregenz zu Fuß zurückgelegt. Auf der Heimreise aus der Fremde waren wir alle „Kapitalisten“. Somit erlaubten wir uns mit der Eisenbahn von Bregenz-Feldkirch-Buchs bis Chur zu fahren.
Erzählerin
Davon unabhängig ist es aber Schwerstarbeit, die die Kinder leisten. Zu den Aufgaben der Jungen zählt es nicht nur, Gänse, Schweine und Kühe zu hüten, sondern auch, bei der Stallarbeit und der Ernte zu helfen.
Erzähler
Zu den Aufgaben der Mädchen gehört es, auf die Kinder der Bauernfamilie aufzupassen und beim Kochen, Backen, Waschen mitzuhelfen. Was leichter klingt, als es noch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein war. Sabine Mücke:
MUSIK ENDE
12.O-Ton (Mücke Int. ab 27:21)
Alles Mögliche musste erst noch geschält, gestampft, Gänse mussten gerupft werden. Eben Feuer musste gemacht, am Laufen gehalten werden, die Kessel waren groß und schwer, alles musste hinterher geschrubbt und von Hand wieder abgespült werden. (…) Dann kam dazu das ganze Wäschewaschen. (…weiter ab ca. 30:30)
Also sie wurden wirklich als kleine Arbeitskräfte eingesetzt, die aber eigentlich mehr oder weniger eine Magd oder einen Knecht ersetzt haben. Aber zu dann zu einem Drittel vom oder und Viertel vom Lohn.
Erzähler
Es sind lange Arbeitstage, die die sechs- bis 14-jährigen Kinder jeden Tag aufs Neue vor sich haben. Die früh morgens um vier oder fünf Uhr beginnen und im Sommer während der Ernte erst um zehn Uhr abends enden. Dann, wenn die Sonne untergeht. Nur unterbrochen von den Essenszeiten, wie Tanja Kreutzer ausführt:
13.O-Ton (Kreutzer Int. ab ca. 1:50)
Da gab es fünf Mahlzeiten am Tag, wo man dann auch zusammen mit der Familie gegessen hat. Das waren durchaus nahrhafte Gerichte, die es da gab, aber einfache Gerichte. Brenzmus zum Beispiel, dass ist so ein Haferbrei mit Butterschmalz obendrauf. (…ab ca. 2:28) Und eben auch Bratkartoffeln oder Speck. Zum Teil auch (…) Suppengemüse, also durchaus nahrhafte und vitaminreiche Kost, die man hier während der Sommermonate auch bekommen hat.
Erzählerin
So etwas wie Freizeit gibt es für die Kinder nur selten. Nach dem harten Arbeitstag sinken sie auf ihr Bett, das meist aus einer mit Stroh gefüllten Matratze besteht. Oft teilen sie sich nicht nur das Zimmer mit einem Knecht oder einer Magd, sondern auch das Bett.
MUSIK privat Take 012 „Einsamkeit“; Album: Die Winterreise; Label: CD BABY.COM/INDYS; Interpret: Yi-Tzu Pan & Hendrik Heilmann; Komponist: Franz Schubert; ZEIT: 00:10
Erzähler
Dabei ist auf vielen Höfen immer wieder Thema, dass viele der Kinder ins Bett machen.
MUSIK ENDE
14.O-Ton (Kreutzer Int. ab 5:32)
Tatsächlich dieses Bettnässen scheint ein Phänomen gewesen zu sein, wo man einfach wirklich merken kann, dieser psychische Druck, der hier da war, das Heimweh, auch das in die Fremde gehen. Auch erst mal keine Schutzperson zu haben. Man ist jetzt vollkommen von der Familie und von allen, die man kennt und die für einen da sind erst einmal getrennt. (…) (6:11) Und man geht auch davon aus, dass durchaus auch der Schlafmangel da eine Rolle gespielt haben mag, dass die Kinder einfach wirklich reihenweise nachts ins Bett gemacht haben.
MUSIK privat Take 012 „Einsamkeit“; Album: Die Winterreise; Label: CD BABY.COM/INDYS; Interpret: Yi-Tzu Pan & Hendrik Heilmann; Komponist: Franz Schubert; ZEIT: 00:25
Erzählerin
Mit Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts werden es immer weniger Kinder, die im Frühjahr aufbrechen. Aber es dauert noch bis in die 1950er Jahre, bis das Phänomen des Schwabengehens endgültig aufhört. Sabine Mücke:
MUSIK ENDE
15.O-Ton (Mücke Int. ab 24:41)
Also das, was man so wirklich als Schwabengängerei bezeichnet, hörte eigentlich schon mit dem Ersten Weltkrieg auf. (…) Die Grenzen waren zu, und damit kam das schon ganz stark zum Erliegen. (…) Es gab aber natürlich dann in den 20er-Jahren und in den 30er-Jahren (…) Kinder, die kamen. Vor allen Dingen waren es dann die Kinder aus Vorarlberg, (ab 25:35) die dann zur Arbeit noch ins Schwabenland gekommen sind. Aber (…) nach dem Zweiten Weltkrieg war das Thema zu Ende.
MUSIK privat Take 001 „Gute Nacht“; Album: Die Winterreise; Label: CD BABY.COM/INDYS; Interpret: Yi-Tzu Pan & Hendrik Heilmann; Komponist: Franz Schubert; ZEIT: 01:10
Erzähler
Dass die Geschichte des „Schwabengehens“ nicht in Vergessenheit geraten ist, ist vor allem für die Nachkommen der Schwabenkinder von besonderer Bedeutung.
Erzählerin
Viele von ihnen haben nun die Gewissheit, dass es wirklich ihre Großmutter oder der Urgroßvater war, die sich als Schwabenkinder verdingen mussten.
Erzähler
Sie finden heute in Museen oder auf Wanderwegen Orte, die einen Teil ihrer eigenen Familiengeschichte veranschaulichen.
Erzählerin
Darüber hinaus bleibt das Schwabengehen als sozialgeschichtliches Phänomen der Arbeitsmigration von Kindern als Saisonarbeiter ein aktuelles Thema. Denn Kinderarbeit gibt es bis heute.
Pflastersteine zählen, die Bettdecke richtig ausrichten, den Herd mehrfach prüfen. Harmlose Eigenarten oder bedenkliche Zwänge? Fast jeder Mensch hat Spleens, Ticks oder Marotten. Manche sind den Betroffenen nicht mal bewusst. Wie bedenklich sind solche Spleens, und inwiefern lassen sie sich von Zwangsstörungen abgrenzen, die man behandeln sollte? Überraschend ist: Bis zu einem gewissen Grad kann Zwangshaftigkeit sogar positive Effekte haben. Von Susanne Brandl
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Andreas Neumann, Peter Veit
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Fanny Jimenez, Psychologin und Journalistin,
Michael Kellner, Psychiater und Psychotherapeut, Universitätsklinikum Rechts der Isar,
Katharina Bey, Psychologin und Psychotherapeutin, Universitätsklinikum Bonn;
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
WDR5 Innenwelt - das psychologische Radio HIER ENTDECKEN
Psychologie fasziniert mit Einblick in unsere Innenwelt. Was passiert in unserem Kopf, welche Phänomene begleiten den Alltag? Und was, wenn etwas verkehrt läuft? Bei psychiatrischen Krankheiten ist Hinschauen ein erster wichtiger Schritt.
oder
Zeit für Bayern: Zwänge: Wie es sich anfühlt, mit Zwangsstörungen zu leben - Bayern2 Radio
Literatur:
Ich und mein Spleen. Was wir tun, wenn wir alleine sind. Die Autorin Fanny Jimenez erklärt psychologisch fundiert, dass kleien Zwänge, Spleens oder Marotten uns keine Sorgen machen müssen, im GegenteiL: sie sind gesund, weil sie dabei helfen dabei, uns zu regulieren.
Zwangsstörungen: Die Autorin Katharina Bey geht hier auf theoretische Grundlagen zu Erscheinungsformen, Diagnostik, Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwangsstörung ein und stellt Psychotherapiemaßnahmen vor.
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER:
Es beginnt schon früh morgens, noch vor dem Aufstehen.
O-TON A
Ich stelle mir den Wecker oft ein, zwei Stunden früher als ich tatsächlich aufstehen muss. Einfach weil ich das Gefühl liebe, noch nicht aufstehen zu müssen. Dieser Moment, zu sehen, ah du kannst noch weiterschlafen, das genieße ich total.
ATMO Teller + Besteck
SPRECHER:
Und wenn es dann so weit ist und der Tag beginnt, dann steht erst mal das Frühstück an.
O-TON B
„Beim Essen muss der letzte Bissen der beste Bissen vom ganzen Essen sein und dann esse ich drum herum, um möglichst sicher zu stellen, dass ich nicht mit einem unzufriedenen Gefühl aus dem Essen rausgehe.“
Atmo Geschirr in die Spülmaschine sortieren
SPRECHER:
Dann folgt das Tischabräumen.
O-TON C
„Die Geschirrspülmaschine muss immer ordentlich eingeräumt sein. Links die Messer, rechts das gebogene Besteck.“
ATMO Schranktür
SPRECHER:
Daraufhin steh ich vor dem Kleiderschrank und überlege. Oder auch nicht. Denn eigentlich ist klar:
O-TON D
„dass ich nur weiße Socken trag.“
Atmo Zähneputzen
SPRECHER:
Schnell noch Zähneputzen!
O-TON E
„Ich putz immer in der gleichen Reihenfolge, in dem gleichen Tempo Zähne. Genau nach dem gleichen Prinzip, sonst fühlt sich das nicht richtig an.“
ATMO Schritte
SPRECHER:
Und auf dem Weg in die Arbeit sind da diese Pflastersteine:
O-TON F
„Ich trete nicht auf die Linien von den Steinen auf den Boden, wenn es so große Steine sind, nicht auf die Linien. Warum nicht? Dann hat man irgendwie was zu tun.“
Musik aus
SPRECHER:
Manchmal sind wir seltsam. Wir folgen pedantisch ungeschriebenen Regeln oder Mustern. Wir kontrollieren Herd und Haustür oft mehrfach hintereinander. Wir zählen Autos, Straßenpfeiler oder Fenster. Kleine Zwänge, die uns komische Dinge machen lassen:
O-TON 1 JIMENEZ:
Viele Menschen sind sich ihres Spleens gar nicht bewusst bis es ihnen jemand sagt. Weil die eben so automatisch kommen. Unser Gehirn stellt das sozusagen einfach so zur Verfügung und oft erscheint uns das überhaupt nicht so irrational oder überflüssig wie es anderen erscheint. Und solange uns das keiner sagt, ist es meistens auch nicht peinlich.“
SPRECHER:
Fanny Jimenez, Psychologin und Journalistin. In einer Kolumne befasste sie sich mit Marotten, Schrullen und Fimmeln, die man unter dem Begriff „Spleen“ zusammenfassen kann. Sie analysierte eigenartige Verhaltensmuster, trug Forschungserkenntnisse zusammen und veröffentlichte ihr Wissen in dem Buch. „Ich und mein Spleen.“ Darin bekräftigt sie: Kleine Zwänge müssen uns zunächst mal keine Sorgen machen. Im Gegenteil:
O-TON 2 JIMENEZ:
„Die helfen uns nämlich, unsere Ängste auszuhalten, sie helfen uns dabei, uns ein Gefühl von Kontrolle zu geben, vor allem wenn wir uns überfordert fühlen oder ohnmächtig. Und sie machen die unüberschaubare, unvorhersehbare Welt ein bisschen überschaubarer. Das ist zwar ne Illusion, aber unser Gehirn hat den Eindruck, dass alles ein bisschen sortierter und planbarer und vorhersehbarer funktioniert. Das heißt: Spleens und Marotten beruhigen und trösten uns und nehmen uns Angst und Unsicherheit.
Musik 2: Goldberg-Variationen (Bach) – 35 Sek
SPRECHER:
Woher diese eigenartigen Bewältigungsstrategien kommen, das ist nicht so leicht zu entschlüsseln. Zunächst einmal zur Wortbedeutung: Der Begriff Spleen kommt aus dem Englischen und heißt übersetzt: Milz - ein Organ, das in der Bauchhöhle in der Nähe unseres Magens liegt. Die Milz galt bis ins 19. Jahrhundert als verantwortlich für schwermütige Gefühlslagen, für hypochondrische Verstimmungen und alles, was an komischen Marotten so vorlag. Heute versteht man unter einem Spleen ein harmloses zwanghaftes Verhalten und verortet das vor allem im Gehirn.
O-TON 3 JIMENEZ:
„Das ist ja unsere große Problemlösemaschine - jetzt mal aus evolutionärer Sicht gesprochen - und das Gehirn weiß um bestimmte Phänomene, die uns helfen, die wir manchmal gar nicht wissen. Einfaches Beispiel: Putzen beruhigt enorm.“
SPRECHER:
Das bestätigt eine Studie von der Universität Connecticut aus dem Jahr 2015. In Zeiten hohen Stresses greifen Menschen zu sich wiederholenden Verhaltensweisen wie Putzen, weil sie dadurch ein Gefühl der Kontrolle und Ruhe haben.
O-TON 4 JIMENEZ:
Das heißt, unser Gehirn weiß, was uns hilft, wenn wir überfordert sind oder ängstlich und nutzt diese verschiedenen Wege je nach Persönlichkeit. Mal ist es Putzen, mal ist es irgendwie was essen. Also über Spleens, um uns zu helfen und uns zu unterstützen.
SPRECHER:
Umgangssprachlich sprechen wir auch gerne von Ticks, und meinen damit schrullige, leicht zwanghafte Attitüden, die wir als unbedenklich einstufen.
In der Medizin hingegen steht der Tick für ein neuro-psychiatrisches Krankheitsbild, so der Psychiater und Psychotherapeut Michael Kellner. Er leitet die Spezialambulanz Angst und Zwang an der Münchner Klinik rechts der Isar.
O-TON 5 KELLNER
„Aus medizinischer Sicht ist ein Tick eine motorische oder verbale kurzfristige Entäußerung, zum Beispiel, dass man kurz ne Grimasse macht oder das Augenlid zuckt etcetera. Es gibt aber auch komplexere Ticks wie zum Beispiel Grunzen oder Schimpfwörter rausschreien und die Verknüpfung zur Zwangsstörung: es gibt eine seltene Erkrankung, das „Gilles de la Tourette's syndrome“, bei dem neben Ticks auch sehr häufig Zwangsphänomene zustande kommen. Mutmaßlich Funktionsstörungen an sogenannten Basalganglien, ein tieferes Hirngebiet, wo auch Koordination von Bewegungen mitvermittelt wird und das wäre ne Brücke zwischen Tick und Zwangsstörung.“
SPRECHER:
Zwangsstörungen sind von unproblematischen Zwängen klar zu unterscheiden. Was aber bedeutet unproblematisch?
O-TON 6 KELLNER:
„Es gibt keine klare Trennung zwischen Zwangsphänomenen und wirklicher Zwangsstörung, das ist ein Kontinuum. D.h. man muss da mindestens eine Stunde jeden Tag mit Zwangsphänomenen sich beschäftigen. Und vor allem eine Erkrankung wird bei uns erst eine Erkrankung, wenn das psychosoziale Leistungsvermögen in verschiedenen Rollen bis in den Beruf, Partnerschaft, Familie durch den Zwang beeinträchtigt wird.“
Musik 3: Twelve Month – 50 Sek
SPRECHER:
Herd und Haustür sind die wohl meist kontrollierten Gegenstände auf Erden. Fast jeder kennt das Innehalten und das Zweifeln. Manch einer kehrt noch einmal um. Zwangsneurotiker aber müssen mehrfach kontrollieren und glauben trotzdem noch nicht, dass der Herd aus ist und die Tür verschlossen. Dann sind sie gefangen in Gedanken- und Handlungsschleifen. Diese Art der Erkrankung betrifft circa zwei Prozent der Bevölkerung. Die Wahrscheinlichkeit, eine Zwangsstörung zu bekommen steigt, wenn in der eigenen Kernfamilie schon eine solche Erkrankung vorliegt. Wenn beispielsweise Vater oder Mutter betroffen sind, ist das Risiko für die Kinder, selbst auch zu erkranken, vier Mal so hoch wie das Risiko der Gesamtbevölkerung.
O-TON 7 KELLNER:
„Dann ist es so, dass man gehäuft schwere lebensgeschichtliche Ereignisse, Traumata, besondere Stressoren auch zusätzlich in Vorgeschichten der Patienten findet und manchmal ist es auch nur dummer Zufall, dass ein Zwangsphänomen nicht mehr aufhört, sondern Schleifen dreht.“
Musik 4: Twelve Month – 22 Sek
SPRECHER:
Das heißt, tatsächlich kann ein zunächst unbedenklicher Spleen irgendwann zur Zwangsstörung werden, vor allem, wenn Ängste größer werden. Hat man beispielsweise große Angst vor einem Tennisturnier, dann kann der Spleen, vor dem Spiel alle Spielfeldlinien betreten zu müssen, besonders stark ausgeprägt sein. Verzögert sich aber das Turnier immer öfter, da man bestimmte Linien noch nicht betreten hat, dann wird es problematisch. Der Übergang ist fließend.
Ob Fimmel vererbbar sind, dazu gibt es bislang kaum Forschungsergebnisse. Es scheint aber auch bei harmlosen Zwängen eine genetische Komponente zu geben, so die Psychologin Fanny Jimenez.
O-TON 8 JIMENEZ:
„Was man weiß, ist, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die eine Rolle spielen bei Spleens, dass die relativ hochgradig vererbbar sind wie z.B. Ängstlichkeit. Jeder Mensch hat ein Angstlevel, mit dem er oder sie auf die Welt kommt, das ändert sich auch oft nicht über die Lebensspanne. D.h. so eine Grundbereitschaft sich zu fürchten oder sich Sorgen zu machen. Und das ist tatsächlich zu einem sehr großen Teil vererbt.“
SPRECHER:
Ängstlichere, kontrollbedürftige Menschen tendieren wohl eher dazu, einen Spleen zu entwickeln, so Jimenez, wobei sie hier darauf hinweist, dass dies wissenschaftlich noch nicht bewiesen ist. Bestätigt aber ist: Es gibt eine Gruppe von Menschen, die besonders spleen-anfällig ist.
O-TON 9 JIMENEZ:
„Das sind zum Beispiel Menschen, die ganz allein leben. Der Grund dafür ist, dass Menschen, auch als Erwachsene, immer noch andere Menschen brauchen, die ihnen helfen, ihre Gefühle zu regulieren. Also zum Beispiel Angst und Unsicherheit auszuhalten oder eben zu beruhigen und zu trösten, also gegenzusteuern.“
Musik 5: Brautlied – 40 Sek
SPRECHER:
Auch Kinder bewältigen ihre Ängste häufig mit leicht zwanghaften Verhaltensweisen. Oft sind es Begrüßungs- oder Verabschiedungsrituale, die stattfinden müssen, bevor der nächste Schritt erfolgen kann.
Musik weiter
O-TON JIMENEZ 10:
„Als Kind kann man sich noch erinnern, wie wichtig das war, dass die Abende denselben Ablauf hatten, dass es die Gutenachtgeschichte gab, dass immer der Teddy mit dabei war.“
SPRECHER:
In der noch magischen kindlichen Welt verschafft sich das Kind durch immer gleiche Abläufe Orientierung.
O-TON 11 KELLNER:
„In der Kindheit haben die allermeisten von uns meistens so im einstelligen Lebensalter eine kleine zwanghafte Phase hinter sich gehabt, wenn man durch gewisse Berührungsfolgen oder gewisse Rituale vielleicht die Welt oder das Schicksal scheinbar etwas berechenbarer macht. Das ist ein Übergangsstadion, und wenn es kurz ist, sollten sich Eltern da keine großen Sorgen machen.“
SPRECHER:
So der Psychiater Michael Kellner, der noch eine weitere Gruppe nennt, die mit Verunsicherung und Neuorientierung konfrontiert ist:
O-TON 12 KELLNER:
„Interessanterweise sind insbesondere schwangere Frauen und Frauen im Wochenbett durchaus etwas gefährdeter, Zwangsphänomene zu entwickeln.“
SPRECHER:
Eine gewisse Sensibilität ist ebenfalls ein Persönlichkeitsmerkmal, das ein zwanghaftes Verhalten wahrscheinlicher macht, so die Psychologin Katharina Bey von der Universität Bonn:
O-TON 13 BEY:
Sensibilität gegenüber Gefahren oder auch Überschätzungen der eigenen Verantwortlichkeit. Manchmal ist es auch so ein Anspruch, dass man die eigenen Gedanken kontrollieren muss, dass es über die eigene Persönlichkeit etwas aussagt, welche Gedanken man hat, das sind so ganz viele, ja verschiedene Bewertungsprozesse, die damit auch einhergehen.
Musik 6: Twelve Month – siehe vorn – 15 Sek
SPRECHER:
Ein Beispiel: Fast jeder, der ein Messer in der Hand hatte, kam schon mal auf den Gedanken, dass man mit diesem Messer jemanden erstechen könnte.
O-TON 14 BEY:
„Aber die meisten denken ja, das mache ich ja sowieso nicht, das wird nicht passieren, ich bin ja kein gewalttätiger Mensch, also warum sollte ich das machen und dann gehen Sie direkt zum nächsten Gedanken. Aber Menschen, die eben sehr sensibel sind, deren Alarmsensor, wie man das vielleicht nennen möchte, im Gehirn besonders sensibel ist, die machen sich dann gleich Gedanken, vielleicht bin ich dann wirklich ein schlechter Mensch, vielleicht gibt’s da einen Anteil in mir, der das tun möchte, vielleicht verliere ich die Kontrolle und könnte sowas tun und das ist dann natürlich total bedrohlich.“
SPRECHER:
Im Falle einer Zwangsstörung kann sich der Betroffene nicht mehr von diesem Gedanken lösen, dass er oder sie jemanden erstechen könnte und entwickelt darüber hinaus extreme Schuldgefühle. Die Angst vor dem Messer kann allerdings auch als subklinischer, einfacher Spleen auftreten, den Fanny Jimenez an sich selbst entdeckt hat:
O-TON 15 JIMENEZ:
„Womit ich so ein bisschen Schwierigkeiten habe, ist, wenn mir Menschen gegenübersitzen, zum Beispiel beim Mittagessen, und das Messer des Gegenübers zeigt auf mich. Es ist irgendwie unangenehm, ich würde es auch aushalten, also es ist jetzt nicht so, dass ich mich dann gar nicht mehr konzentrieren kann. Aber es ist unangenehm und ich schieb dann meistens ne Wasserflasche oder den Brotkorb oder so dazwischen und dann ist es wieder gut. Das ist auch eine ganz typische Vorsichtsmaßnahme, weil das Gehirn antizipiert, dass dieses Messer potenziell ein gefährlicher Gegenstand sein könnte und daher sicherstellen will, dass wir das im Blick haben.“
SPRECHER:
Damit benennt Jimenez eine von mehreren Kategorien, in die man Spleens unterteilen kann. Sie können potentiellen Gefahren einen Riegel vorschieben, auch wenn die Gefahr selbst heutzutage wenig realistisch erscheint. Unsere Vorfahren waren einst wirklich gezwungen, Messern mit Misstrauen zu begegnen. So kann der Zwang, einem Messer eine Barriere vorzuschieben vor tausenden von Jahren ganz vernünftig gewesen sein - heute scheint er übertrieben, eigenartig, seltsam. Eine weitere Kategorie: Das Zählen von Objekten.
Musik 7: Gimme that shimmy – 32 Sek
O-TON G
„Ich zähle Treppenstufen. Wenn man fünf, sechs Stockwerke hat, dann macht‘s das angenehmer, mitzuzählen im Kopf.“
SPRECHER:
Andere Menschen bilden Quersummen aus den Nummernschildern, wenn sie im Stau stehen. Oder sie zählen die vorbeifahrenden Autos. Das sind Beschäftigungsmechanismen, die unser Gehirn anschaltet, wenn es sich langweilt, so Jimenez. Das Gehirn hat zudem eine ganz große Vorliebe für Symmetrie.
O-TON 16 JIMENEZ:
„Und das ist im Gehirn sehr eng verbunden mit Konzepten, nämlich mit dem Konzept von Gerechtigkeit oder Ausgewogenheit, weswegen es z.B. zu solchen Spleens kommt: wir hatten vorhin die Treppenstufen, die man hochgeht und dabei zählt. Wenn man dabei eine Treppenstufe auslässt, weil man darüber springt, dann gibt es Menschen, die sagen, ich bin noch mal zurückgegangen, weil es war die einzige Treppenstufe, auf die ich nicht getreten bin.“
SPRECHER:
Ein amüsantes, populäres Beispiel für den Zählzwang:
Musik 1:
Und ich zähle: 1,2,3,4 Shrimps zum essen, 1 Regenschirm nicht zu vergessen, 1,2 Segelboote, wunderbar, 1,2 Pelikane fliegen da… ist das beste tief im Meer, schwimmen Fische hin und her,, die ich zählen kann, haha!“
SPRECHER:
Das ist Graf Zahl aus der Sesamstraße.
O-TON 17 JIMENEZ:
„der ja davon lebt, dass er zählt, das sagt er ja auch: Ich lebe wenn ich zähle und der ist halt super spleenig als Figur, aber trotzdem lebt er ganz gut in der Sesamstraße und hat Freunde und kann seinen Alltag bewältigen.“
Musik 8: Immerzu – 21 Sek
SPRECHER:
Nicht ganz so amüsant sind die Spleens, die mit dem Aufstehen und dem Schlafengehen verbunden sind. Sie entstehen oft aus einem Bedürfnis nach Struktur, Sicherheit und Stabilität.
O-TON H
„Wenn ich schlafen gehe, muss das Rollo immer gleich sein, die gleiche Höhe, ja. Es gibt mir Sicherheit, dann schlafe ich ruhiger ein.“
SPRECHER:
Spleens können also durchaus zur Routine werden. Und sie helfen auch hier dabei, sich zu regulieren.
O-TON 18 JIMENEZ:
„Um Handlungen einen verlässlichen Rahmen zu geben, der gerade abends - Einschlafen war für unsere Vorfahren oft ein sehr gefährliches Unterfangen – die uns helfen einzuschlafen und uns sicher zu fühlen.
Musik 9: Greenhouse – 30 Sek
SPRECHER:
Viele Eigenheiten drehen sich besonders um den Bereich der Hygiene. Der Putzfimmel ist ein weit verbreiteter Begriff. Die Betroffenen brauchen das Reinigen, um zur Ruhe kommen oder bei sich anzukommen. Ein Beispiel hierfür ist der Bericht eines Lufthansa Piloten, der nach langen Reisen wieder in seine vier Wände kam:
O-TON 19 JIMENEZ:
„Und der hat mir erzählt, dass er, wenn er nach Hause kommt und todmüde ist und eigentlich nur schlafen will, dass er, bevor er sich hinlegen kann, anfängt zu putzen. Der Mensch ist ja ein territoriales Wesen, wie auch viele andere Säugetiere und viele andere Tiere, also wie so ein Vogel, der, wenn er zurückkommt, sein Nest putzt, damit es wieder ihm gehört und alles wieder so ist, wie er es braucht.
SPRECHER:
Ein Putzbedürfnis, das grenzwertig werden kann, wenn der Schlaf zu kurz kommt. Dann kann ein Putzzwang vorliegen, der sich auch dadurch äußert, dass der Betroffene ständig desinfizieren muss, aus der Angst heraus sich anzustecken. Aber es gibt noch mehr krankhafte Zwangsphänomene, die in der Spezialambulanz rechts der Isar erfasst werden:
O-TON 20 KELLNER:
„Die Fragebögen, die wir den Patienten hier geben, ist ne Unterteilung bezüglich einerseits: Furcht vor Keimen beziehungsweise Kontaminationen. Die zwanghafte Befürchtung, am Unglück anderer Schuld zu sein. Dann die für die Patienten inakzeptablen Gedanken oder Befürchtungen. Und zum vierten: die neudeutsch „Not just right“-Phänomene, wo man so das Gefühl hat, die Sachen sind nicht ganz in Ordnung, man muss sie zurechtrücken, Symmetrie oder eine andere Ordnung herstellen.“
SPRECHER:
Bis in die 80er Jahre hinein meinten Mediziner und Psychologen, dass Zwangsneurosen kaum zu heilen seien. Inzwischen aber gibt es vielversprechende Therapieerfolge, so der Psychotherapeut Michael Kellner.
O-TON 21 KELLNER
„Erste Wahl sind definitiv verhaltenstherapeutische Psychotherapien. Sowohl die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie, wo es sehr viel um Bewertungen von Gedanken, von Situationen, von Handlungen geht, um Neubewertung, die eben gegen die Zwangsrichtung zu einer realistischeren, zwangsferneren Einschätzung führen können. Aber insbesondere auch die sogenannten Expositions- oder Konfrontationstherapien bei der Zwangsstörung, die aber ne sehr gute Vorbereitung brauchen, bis der Patient diese teilweise sehr belastenden Therapien auch mitmacht, also zum Beispiel bei einer Kontaminationsangst.
SPRECHER:
Bei einer solchen Exposition wird der Patient in therapeutischer Begleitung mit der belastenden Situation konfrontiert. Bei dem Zwang, exzessiv zu waschen und zu desinfizieren, kontaminiert der Therapeut den Patienten stückweise durch Türklinken, Geldscheine oder durch Kontakt zur Toilette, bis die Anspannung heruntergeht, und der Betroffene lernt, die Restunsicherheit besser zu ertragen. Bei harmlosen Zwangsgedanken gelingt die Distanzierung von ganz alleine. Vorausgesetzt, dem Betroffenen ist sein Spleen bewusst.
O-TON 22 JIMEMEZ:
„Es ist nicht ganz leicht, weil man muss sich dabei ertappen und wahrscheinlich sucht sich die Psyche dann einen anderen Weg, um zu beruhigen oder die Funktion zu erreichen, die es damit eigentlich erreichen wollte. Aber ja, das geht schon und das ist vielleicht auch ein wichtiger Punkt: wenn das nicht mehr geht, also wenn man einen Spleen so gar nicht abstellen kann, dann wird es schwierig und dann sind wir so ein bisschen in dem Graubereich: Ab wann ist es vielleicht nicht nur ein Spleen, sondern tatsächlich ja eher ein Symptom einer psychischen Erkrankung?
SPRECHER:
Eine Frage, die sich auch 2020 gestellt hat, als die Corona-Pandemie ausbrach. Innerhalb kurzer Zeit fingen die Menschen damals an, wie wild einzukaufen.
Katharina Bey und ihre Kollegen von der Universität Bonn wollten genauer wissen, wer besonders zu Hamsterkäufen neigt.
O-TON 23 KATHARINA BEY:
„zu Beginn der Pandemie haben wir da eine Online-Umfrage durchgeführt, um dieses Thema der in den Medien damals sehr ja heiß diskutierten Hamsterkäufe aufzugreifen. Und da hat sich tatsächlich gezeigt, dass ein Faktor, der das begünstigen kann oder der damit zumindest korreliert ist, subklinische Zwangssymptome sind, also eine Person, die eher dazu tendiert, Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen zu haben, die hat dann in unserer Umfrage auch eher zu Hamsterkäufen tendiert.“
Musik 10: Twelve Month – siehe vorn – 19 Sek
SPRECHER:
Können bestimmte gesellschaftliche Bedingungen, globale Bedrohungslagen, unsichere Zeiten oder eine unvorhersehbare Zukunft dazu führen, dass Menschen zunehmend Zwangsverhalten entwickeln?
O-TON 24 KATHARINA BEY:
„Nicht jeder Mensch nimmt ja dieselbe Situation gleich wahr. Es ist erst kürzlich eine Metaanalyse erschienen. Da gab es große Schwankungen zwischen unterschiedlichen Kulturen und Personen, insbesondere bei Schwangeren war die Quote deutlich erhöht, was ja auch sehr nachvollziehbar ist. Also so, dass man schon gesehen hat, dass während der Pandemie Zwangsverhalten ja doch deutlich verstärkt war. Was sich aber dann mit Abklingen der Pandemie auch wieder reduziert hat.
SPRECHER:
Ob das Coronavirus zu einer Zunahme von ernsthaften Zwangserkrankungen in der Gesamtbevölkerung geführt hat, ist eher umstritten, so Michael Kellner vom Klinikum rechts der Isar. Was die Pandemie aber deutlich gezeigt hat: dass Verhalten, das als krank gilt, in einem Ausnahmezustand plötzlich selbstverständlich wird. Häufiges Desinfizieren hat damals eine eklatante Umdeutung erfahren hin zu einem vernünftigen Verhalten in einer bedrohlichen Lage.
Ob Pandemie oder nicht: Menschen, die von ihrem Zwang so stark beeinträchtigt sind, dass sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen können und dadurch Leidensdruck verspüren, sollten sich in Behandlung begeben.
Musik 11: Spaziergang – 20 Sek
Was aber ist mit denen, die einfach nur ihre Spleens haben? Schadet ihnen oder ihrem Umfeld ihr zwanghaftes Verhalten, sollten sie sich ihre Eigenarten abtrainieren? Und wer bestimmt, was noch normal ist und was nicht?
Musik aus
O-TON 25 JIMENEZ:
Also normal ist immer das, was eine Gesellschaft für normal hält. Und das bedeutet, dass das im Grunde ne große Verhandlungssache ist. Und mir war eben ein ganz großes Anliegen, mit diesem Buch zu zeigen, dass nicht alle Verhaltensweisen, die sich uns nicht auf Anhieb erschließen oder die für uns nicht Sinn ergeben, nicht automatisch bedeuten, dass derjenige ein Problem hat oder eben psychisch erkrankt ist. Ich würde da immer sehr vorsichtig sein, da so zu überpathologisieren und erstmal zu schauen, gibt es nicht vielleicht doch was, das dieses Verhalten, was derjenige zeigt, leistet? Weil meistens tut es das.
SPRECHER:
Das zeigt auch eine Studie, die der schottische Neuropsychologe David Weeks in den 90er Jahren durchgeführt hat.
O-TON 26 JIMENEZ:
„Und zwar hat er sich über 1000 Exzentriker gesucht, in England und in den USA, und hat die mehr als 10 Jahre lang begleitet, und seine Schlussfolgerung war, dass Menschen, die ihre Spleens eben ausleben und vielleicht sogar ein bisschen kultivieren, - denen es also nicht so wichtig ist, konform zu sein - dass die weniger Druck verspüren, dass sie ihrer Psyche eben regelmäßig etwas Gutes tun und dass sich das am Ende auf ihre Gesundheit auszahlt. Das heißt, die waren nicht nur seltener psychisch krank als andere Menschen, sondern sie hatten auch ein sehr gutes Immunsystem und sind seltener zum Arzt gegangen.“
Musik 12: Spaziergang – siehe vorn – 43 Sek
SPRECHER:
Alle, die hier und da ein bisschen verrückt sind, und keinen Leidensdruck verspüren, können also beruhigt weiter ihren Marotten, Fimmeln, Ticks oder Spleens frönen. Und womöglich liegt sogar ein wenig Schönheit darin. So jedenfalls sah es der Maler Vincent van Gogh. Ihm wird ein Zitat zugeschrieben, das den kleinen Zwängen einen wunderbar ästhetischen Wert beimisst:
ZITATOR:
„Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr.“
Im Mai 1915 entwickelte sich in den Alpen ein grausamer Stellungskrieg. Die beteiligten Soldaten Italiens und Österreich-Ungarns waren nicht nur von den unmittelbaren Kampfhandlungen betroffen, sondern auch auf zermürbende Weise den Naturgewalten ausgeliefert. An manchen Frontverläufen kamen mehr Soldaten durch Lawinen und Erfrierung ums Leben als in direkten Kämpfen. Von Markus Mähner
Credits
Autor dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Rahel Comtesse, Sophie Rogall, Johannes Hitelberger
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Literatur:
Alexander Jordan: Krieg um die Alpen - Der Erste Weltkrieg im Alpenraum und der bayerische Grenzschutz in Tirol. Duncker & Humblot 2008. ISBN 978-3-428-12843-3
Alexander Jordan: Die deutschen Gebirgstruppen im Ersten Weltkrieg. Verlag Militaria 2023. ISBN 978-3-903341-32-6
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN 2
Februar 1917. In 2000 Metern Höhe auf dem Pasubio, einem Bergmassiv zwischen Rovereto und dem Flachland von Vicenza. Ein ganzes Dorf ist an den Fels gezimmert, Baracken in unterschiedlicher Form und Größe. Manche von Schnee begraben. Viele noch in Bau oder wieder im Aufbau nach einem Lawinenabgang.
GERÄUSCH Lawine
ZITATOR
20.März: Es ist eine Sisyphus-Arbeit hier. Der Sturm zerstört immer wieder alles, was wir aufgebaut haben. Du kannst Dir das nicht vorstellen!
SPRECHERIN 1
Achille Papa, diensthabender General auf dem Pasubio, in einem Brief an seine Familie.
SPRECHERIN 2
Ein Monat später: Immer noch Schnee überall, doch die Behausungen sind gewachsen, neue hinzugekommen.
SPRECHERIN 1
So zeigen es zwei Fotos eines italienischen Soldaten, der an diesen notdürftigen Unterkünften mitgehämmert hat - und Baumaterial dafür in diese Höhe raufgeschleppt hat:
SPRECHERIN 2
Ein weiteres Foto zeigt eine Kolonne von etlichen Männern – es mögen 50 oder auch 100 sein – die sich durch meterhohen Schnee bergaufwärts graben. Auf ihren Schultern tragen sie 5 Meter lange Holzbalken. Eine Schufterei!
ZITATOR
2. April: Der Schneesturm dauert jetzt schon vier Tage. Es scheint so, als wollte der Südwest-Wind den ganzen Berg schütteln. Der Sturm macht uns fertig. Ich habe alle Arbeiten verboten, damit kein Unglück geschieht. Alle Liebe Achille.
Musik 2: Monumental brass (c) –22 Sek
SPRECHERIN 1
Doch wozu diese Mühsal? Warum Schützenstellungen mitten auf dem Berggipfel bauen, wenn das tief eingeschnittene, breite Etschtal gleich daneben und 2000 Meter tiefer liegt?
SPRECHERIN 2
Die Antwort: Die Täler waren zu gut geschützt. Alexander Jordan, Direktor des Wehrgeschichtlichen Museums Rastatt:
Jordan 5
Im 19.Jahrhundert ist man verstärkt darangegangen vor allem die Täler in Tirol - also die geplanten oder potenziellen Einbruchswege - durch ständige Befestigungen zu sperren: also Fortifikationen unterschiedlicher Größe und Dimensionen, Sperrwerke, ganze Sperrgruppen, die einzelne Täler schließen.
SPRECHERIN 1
Doch nicht nur Festungen sind im 19.Jahrhundert verstärkt gebaut worden. Auch die touristische Erschließung der Alpen um 1900 spielte eine Rolle für den Krieg in den Bergen.
Jordan 4
Man hat immer leistungsfähigere Bahnen gebaut, nicht nur kleine Gebirgsbahnen, sondern auch Vollbahnen: die Semmeringbahn, die Brennerbahn, die Arlbergbahn, die Gotthardbahn. Und so waren Verschiebungen großer Truppenmassen, die für einen Krieg der Moderne unerlässlich waren, schnell und einfach möglich.
SPRECHERIN 1
Und so konnte man schnell die große Anzahl an Soldaten, Trägern, Material und Verpflegung, die man für ein ganzes Kriegsdorf wie auf dem Pasubio benötigte, herankarren. Denn eine Kriegsstellung auf einer Anhöhe hat auch strategische Vorteile. Nochmal Alexander Jordan, Autor der Bücher „Krieg um die Alpen“ und „Die deutschen Gebirgstruppen im 1.Weltkrieg“:
Jordan 3
Das Besondere ist ja, dass die Umweltbedingungen und das Terrain von jeher die Planung und den Ablauf von militärischen Aktionen beeinflusst haben. Also die Topografie des Gebirges steht hier ein bisschen im Fokus. Man hat im Lauf der Geschichte schon viele Schlachten im Gebirgsgelände gekämpft, weil eben die Überhöhung einmal der Verteidigung, andermal aber dem Angriff förderlich war. Und was sich auch zeigt in der Geschichte, dass schon kleine Erhebungen und Hügel oft taktische Vorteile bieten, ohne größere Risiken eingehen zu müssen.
Musik 3: Broken by nature (Part 5) – 20 Sek
+ Atmos Eiswind, Schritte…
SPRECHERIN 2
Allerdings verlagerte sich das Kampfgeschehen im Ersten Weltkrieg in bisher ungeahnte Höhen und Gegenden. Kriegshandlungen in Fels und Eis, im Hochgebirge bis auf 3800 Meter, stellten ganz besondere Herausforderungen dar.
Jordan 6
Prinzipiell ist ja der Zweck aller Kriegshandlungen das Erreichen bestimmter strategischer oder taktischer Ziele. Jedes Gebirge erschwert diese Zielerreichung. Die Gebirge zeichnen sich ja im Gegensatz zum Flachland dadurch aus, dass Faktoren verstärkt zu Tage treten. Faktoren wie Ressourcenlosigkeit, Wege-Armut, schwere Gangbarkeit und plötzlich auftretende Elementarereignisse. Die Ressourcenlosigkeit, die bezieht sich natürlich vor allem auf die Verpflegungs-Quellen für Mann und Tier. Man darf nicht vergessen, dass im Ersten Weltkrieg und insbesondere im Gebirgskrieg die Tiere eine ganz zentrale Rolle im Bereich Nachschub und Logistik ausmachen.
Musik 4: Broken by nature (Part 5) – siehe vorn – 55 Sek
+ Atmos Eiswind
SPRECHERIN 1
Und manchmal, wenn die „plötzlich auftretenden Elementarereignisse“, also Stürme, Schneefall, Lawinenabgänge, Temperaturabfälle auf weit unter Null Grad auftraten, dann blieb dieser Nachschub oft aus – gerne auch mal mehrere Tage.
ZITATOR
Gewaltige Schneemassen bedeckten die Bergflanken, die Temperatur sank oft bis unter 20 Grad Celsius. Um die Truppen zu verpflegen, musste man erst Gassen durch den Schnee brechen und überdies die Fuhrwerke in Schlitten verwandeln. Auf die Höhenstellungen konnte man die Feldküchen nicht hinaufbringen, die Nahrungsmittel mussten unter furchtbarsten Mühsalen täglich hinaufgeschleppt werden. Es kam vor, dass die Truppen lieber ohne Nahrung blieben, als schichtenweise durch metertiefen Schnee bergab und wieder bergauf zu wandern.
SPRECHERIN 2
Aus einem österreichisch-ungarischen Feldpostbrief.
SPRECHERIN 1
Zwar gab es unter den Soldaten, die das ertragen mussten, einige, die eine besondere Ausbildung für den Krieg im Gebirge erhielten. Oder sie hatten bereits selbst Bergerfahrung...
SPRECHERIN 2
Was allerdings manchmal zu absurden Szenen führte: So trafen sich zum Beispiel im Gebiet der Sextner Dolomiten ehemalige Kletterpartner an der Front wieder – auf gegnerischen Seiten!
SPRECHERIN 1
Die meisten Soldaten jedoch, die in den Alpen kämpfen mussten, waren alles andere als ausgebildete Alpinisten.
Jordan 8
[…] da waren Landwehrverbände dabei, die beispielsweise aus Ungarn kamen, aus der ungarischen Puszta, die dann wenn es blöd lief, irgendwo rund um den Ortler in unwirtlichen Gegenden auf fast 4000 Metern kämpfen mussten: in einem Terrain, das ihnen völlig fremd war. Genauso italienische Bauern beispielsweise aus Sizilien oder Süditalien, die mit Gebirge überhaupt nichts am Hut hatten.
SPRECHERIN 2
Auch war die Ausrüstung meist mangelhaft und keineswegs ausgelegt für einen längeren Aufenthalt im Hochgebirge - und für Kampfhandlungen dort schon gleich gar nicht: Zu Beginn des Krieges hatten die meisten Soldaten nur Mützen und keine Helme. Was im Fels ein besonderes Risiko darstellt, da Geschosse gerne mal am Stein abprallen oder Steinstücke losschlagen, die dann wiederum selbst wie kleine Geschosse wirken.
Musik 5: Herr und Frau Iskue – 55 SEk
SPRECHERIN 1
Doch wie kam es überhaupt zu dem Krieg im Gebiet zwischen Ortler, Gardasee, Dolomiten bis hin zum Fluss Isonzo kurz vor der Bucht von Triest?
SPRECHERIN 2
Heute ist der Isonzo auch unter seiner slowenischen Bezeichnung Soca bekannt
SPRECHERIN 1
Italien war eigentlich bei Kriegsausbruch mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündet. Grundlage hierfür war der sogenannte Dreibund.
SPRECHERIN 2
Der Dreibund war ein Defensivbündnis zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Italien, das seit dem 20.Mai 1882 bestand. Doch mit der Kriegserklärung von Kaiser Franz Josef an Serbien am 28.Juli 1914 beginnt das Bündnis zu wackeln:
Jordan 1 + Jordan 2
1914/15 beginnt fast schon so etwas wie ein Geschacher hinter den Kulissen: Italien fordert immer unverhohlener im Gegenzug für die Neutralität österreichische Gebiete. Da gehört vor allem Tirol bis zum Brenner dazu, auch Teile von Dalmatien. Und als unabdingbare Voraussetzung für das Zustandekommen eines Abkommens war die sofortige Abtretung dieser genannten Gebiete. Deutschland hat versucht das zu unterstützen und drängt Österreich auf die Forderungen einzugehen. Es gibt ein schönes Zitat des preußischen Kriegsministers Wild von Hohenborn, der das weit verbreitete Denken in einem Brief an seine Frau schildert. Zitat: “An sich könnte es uns ja wurscht sein, ob Italien von dem sterbenden Kamel Österreich ein Stück Schwanz mehr abhackt oder nicht. Aber die militärische Lage verschärft sich durch das Eingreifen Italiens doch bedenklich.“
Parallel hat eben Italien sehr erfolgreich mit den Entente-Mächten verhandelt und im Londoner Vertrag vom April 1915 kriegt Italien für den später angedachten Friedensschluss große Gebietsgewinne zugesichert. Genau das, was Italien auch gefordert hat: Tirol bis zum Brenner, Triest und Istrien, das nördliche und mittlere Dalmatien. Und so erklärt Italien formell am Pfingstsonntag, im Mai 1915 der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn den Krieg.
Musik 6: Night fires – siehe vorn – 35 Sek
+ Atmo marschierende Soldaten
SPRECHERIN 2
Um genau zu sein: Am 23.Mai 1915.
SPRECHERIN 1
Kurz darauf schickte Italien seine ersten Soldaten auf die Berghöhen, die die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und dem Königreich Italien darstellen. Dasselbe machte das Kaiserreich Österreich-Ungarn, unterstützt von Deutschen Gebirgstruppen
SPRECHERIN 2
- die anfangs allerdings noch gar nicht angreifen, sondern lediglich den Verbündeten bei der Verteidigung helfen durften.
SPRECHERIN 1
Beide Seiten hatten große Pläne.
Jordan 9
Für Italien war das eben der Versuch, über den Isonzo Richtung Wien vorzustoßen und sich dann als entferntes strategisches Ziel mit den Verbündeten über den Balkan zu treffen. Auf Seiten Österreich-Ungarns war die strategische Komponente die Überlegung: Südtirol, das ja wie ein Splitter ins Fleisch Italiens nach Süden hineinschneidet als Ausgangspunkt für eine Offensive zu nehmen in Richtung Venedig und Adria, also am engsten Punkt zwischen der Reichsgrenze und dem Mittelmeer, Italien sozusagen, das Friaul abzudrücken und die Truppen zu isolieren.
Musik 7: Promenade of stolen Children 1:30 Min
SPRECHERIN 1
Um diese Ziele zu erreichen, schien beiden Kriegsparteien jede Methode recht.
Berühmtestes Beispiel des Alpenkriegswahnsinns ist wohl der Col di Lana, ein 2462 Meter hoher Berg in der Dolomitengruppe Fanes.
ATMO Sprengung
SPRECHERIN 2
Es ist der 17. April 1916. Ein italienischer Alpino zündet um 23:35 Uhr mehr als 5000 Kilogramm Sprengstoff, der vorher in zwei in den Fels gegrabene Minenstollen geschafft wurde. Über diesen Stollen sitzen österreichische Soldaten.
SPRECHERIN 1
Noch heute liegen über 100 Österreicher unter dem Schutt, der durch die gewaltige Explosion entstanden ist. Der Minen-Krater ist gut 25 Meter breit, 35 Meter lang und 12 Meter tief.
SPRECHERIN 2
Seitdem heißt der Col di Lana auch “Col di Sangue” – zu Deutsch “Blutberg”.
SPRECHERIN 1
Doch auch die andere Seite schreckte nicht vor dieser Methode zurück. So sprengten österreichische Truppen ein gutes Jahr später, am 22.Mai 1917 ein Felsband am Kleinen Lagazuoi, keine 15 Kilometer vom Col di Lana entfernt. Um 200.000 Kubikmeter Schutt die Felswand herabstürzen zu lassen, wurden über 30.000 Kilogramm Sprengstoff in diese Höhe geschafft.
SPRECHERIN 2
Unvorstellbar, wenn man bedenkt, dass manche Truppen tagelang ohne Munition, Wasser oder Essen ausharren mussten!
Musik aus, ATMO Eiswind
SPRECHERIN 1
So zum Beispiel einige Kilometer weiter südwestlich, an der Marmolata, mit über 3300 Metern der höchste Dolomitengipfel.
SPRECHERIN 2
Aus dem Gipfelbuch:
ZITATOR
6.November 1916: Furchtbarer Schneesturm, Träger nicht gekommen
SPRECHERIN 2
Darunter:
ZITATOR
Träger wieder nicht gekommen, greifen die Reserveportionen an
SPRECHERIN 2
Wieder darunter:
ZITATOR
Heute die letzte Konserve verzehrt! Wie wird es morgen? Haben nur Bohnen hier ohne alles Zubehör, sehr traurig! Haben nichts mehr zum Heizen und kein Licht, sitzen völlig im Dunkeln.
SPRECHERIN 1
Die Marmolata war zusammen mit der Ortler- und der Adamellogruppe eine besondere Herausforderung für Soldaten des Ersten Weltkriegs. Denn auf den großen Gletschern, die diese Berge beherrschen, gab es keinerlei Möglichkeiten sich vor dem Feind zu verstecken. Deswegen kam der Tiroler Ingenieur Leo Handl auf eine unfassbare Idee: Man könne doch ein Tunnelsystem in den Gletscher bohren – ähnlich wie ein Bergwerk.
Musik 8: Broken by nature (Part 5) – siehe vorn – 20 Sek
SPRECHERIN 2
Und so entstand im Gletscher der Marmolata die erste Stadt im Eis, in der die Soldaten wohnten und durch Stollen mit Höhenunterschieden bis zu 1000 Metern versorgt wurden.
Jordan 13
Das ist ja auch ein unglaubliches Vorgehen, dass man aufgrund der immensen Kälte, der man ausgesetzt war, aufgrund von Stürmen und Schnee und Regen und vor allem auch aufgrund des feindlichen Beschusses beschließt: Man baut als Unterkunft für die Soldaten, aber auch als potenzielles Angriffsgelände eine Art Stadt im Eis, im ewigen Eis der Gletscher. Da kann man heute leider nichts mehr sehen, das ist, denke ich, trotz allem ein Gelände, wo man es vielleicht so ein bisschen erahnen kann, vor welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen die Soldaten beider Seiten standen.
SPRECHERIN 1
Auch wenn man in den Stollen der Witterung deutlich weniger ausgesetzt war als an der Oberfläche, so war das Leben in der Gletscherstollenstadt keineswegs so gemütlich, rein und weiß, wie man es sich vielleicht vorstellt.
Musik 7: Into the open 40 Sek
ZITATOR
Beim Eingang hat das Eis ein grünliches Aussehen, je weiter man in den Stollen kommt, desto dunkler wird es, bis es dann ganz schwarz und finster ist. Ein Gehen ohne Licht war fast unmöglich. Zur Beleuchtung dienten größtenteils Fackeln, die aber so viel Rauch entwickelten, dass man vom Ruß ganz schwarz wurde. Bei Abzweigungen waren Orientierungstafeln angebracht, da ein Zurechtfinden sonst ziemlich ausgeschlossen gewesen wäre.
SPRECHERIN 2
Tagebuch eines unbekannten k.u.k.-Soldaten
SPRECHERIN 1
Trotz der Orientierungstafeln verliefen sich immer wieder Soldaten in dem Stollengewirr. Manche verschwanden sogar für immer. Denn ein Gletscher ist kein starres Gebilde, sondern bewegt sich unentwegt. Und so entstanden immer wieder neue Spalten und Klüfte, die kurz zuvor noch gar nicht vorhanden waren.
SPRECHERIN 2
Überhaupt waren die Naturgewalten für viele Opfer im Gebirgskrieg 1915-1918 verantwortlich. So kamen allein in der Nacht vom 12. auf den 13.Dezember 1916 um die 6000 österreichische Soldaten in Lawinen um. Woanders verhungerten oder erfroren Soldaten, ohne jemals ihr Gewehr benutzt zu haben.
SPRECHERIN 1
Auch kam es immer wieder zu absurden Vorfällen wie zu dem am 17.März 1917 in der Ortlergruppe.
Musik 8: Herr und Frau Iskue – siehe vorn – 38 Sek
SPRECHERIN 2
Da verschwindet auf einmal ein Soldat der italienischen Alpini von der Bildfläche. Wie vom Erdboden – oder besser gesagt Eisboden – verschluckt. Denn unter ihm haben Österreicher einen Stollen bis auf 3500 Meter hoch gegraben. Nur ist die Eisdecke über Ihnen so dünn, dass der italienische Soldat ganz unvermittelt eingebrochen ist.
SPRECHERIN 1
Die gerade mit Graben beschäftigten Österreicher fanden sich so unvermittelt in einem Nahkampf wieder. Ebenso die völlig überraschten Italiener.
MUSIK 9: Mountain brass (c ) - siehe vorn – 38 Sek
SPRECHERIN 1
Zurück zum italienischen Dorf auf dem Pasubio.
SPRECHERIN 2
Die gleiche Szenerie wie zu Beginn, ein halbes Jahr später: Es ist Oktober 1917. Der Ort am Fels ist gewachsen, die zusammengeschusterten Häuser sind inzwischen durch Wege und Steinmauern verbunden, auf Dächern, Mauern und Leinen zwischen den Unterkünften ist überall Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Die Sonne scheint, alles ist trocken, kein Schnee weit und breit. Überall sind Soldaten zu sehen, die Wäsche aufhängen. Ein fast schon idyllisches Bild!
Musik 10: Night fires – siehe vorn – 1:25 Min
SPRECHRIN 1
Doch der Schein trügt. In jenem Oktober begann am Pasubio ein grausames Gefecht: Der Minenkampf.
SPRECHERIN 2
Bereits am 2.Oktober 1917 sprengten italienische Truppen mit sage und schreibe 16.000 Kilo Sprengstoff einen noch heute erkennbaren Trichter von 40m Durchmesser und 20 Meter Tiefe in den Berg. In einen österreichischen Stollen drangen dabei Gase ein und töteten 12 Soldaten.
SPRECHERIN 1
Drei Wochen später begann ein wahrer Reigen der Minensprengungen. Am 29.Oktober starben dabei über 30 Italiener.
SPRECHERIN 2
Am Heilgen Abend luden die Österreicher erneut unter die italienische Platte über 6000 Kilogramm Sprengstoff und sprengten mehr als 50 Italiener in die Luft.
SPRECHERIN 1
Nachdem am 13. März 1918 die mit 50.000 Kilogramm Sprengstoff größte Mine des gesamten Gebirgskriegs die ganze Frontseite der italienischen Platte am Pasubio zum Einsturz brachte, beendeten beide Seiten ihre Minentätigkeiten.
SPRECHERIN 2
Geländegewinne hatte all dies nicht gebracht.
SPRECHERIN 1
Knapp 8 Monate später, am 4.November 1918, endete der Krieg zwischen Italien und Österreich-Ungarn und somit der Krieg in den Hochlagen der Alpen.
SPRECHERIN 2
Was hat das alles am Ende gebracht? War irgendetwas davon kriegsentscheidend?
SPRECHERIN 1
Die wirklich entscheidenden Schlachten wurden woanders gefochten.
Jordan 10
Ja, die Frage, ob der Krieg in den Alpen kriegsentscheidend war, oder ob man sich das nicht hätte sparen können, ist für einen Historiker etwas schwierig zu beantworten. Bei Kriegen ist es prinzipiell ja so, dass die nicht durch einzelne Schlachten gewonnen oder verloren werden, sei es jetzt durch diese oder jene Isonzoschlacht oder durch den Versuch der Mai-Offensive 1916 der Österreicher. Aber es werden manchmal an besonderen Orten die Weichen für den Ausgang eines Krieges gestellt. Letzten Endes war der ganze Krieg natürlich ein unglaubliches Morden und Schlachten in ganz Europa. Und die Sinnhaftigkeit des Ganzen sei dahingestellt.
SPRECHERIN 2
Was bleibt vom sinnlosen Sterben in einer der schönsten Landschaften Europas?
SPRECHERIN 1
Tatsächlich waren die Bauten und Befestigungen des Ersten Weltkriegs förderlich für den wachsenden Tourismus im Alpenraum, der bereits in den 1920er Jahren zu einer Massenbewegung wurde.
SPRECHERIN 2
So begann man bereits 1921 auf dem Pasubio aus einer noch gut erhaltenen Steinbaracke eine Unterkunftshütte für Bergwanderer zu bauen. Sie ist bequem über eine Straße zu erreichen, die von Februar 1917 bis Dezember 1917 gebaut wurde, die „Strada delle 52 Gallerie“, die „Straße der 52 Tunnel“.
Jordan 11
Ein ganz wichtiger Punkt ist meines Erachtens auch der Ausbau von Feldbahnen, von kleinen Eisenbahnen, die dann teils weiter genutzt wurden, aber noch viel stärker von Seilbahnen, die während des Ersten Weltkriegs an vielen Hochgebirgsabschnitten und Gebirgsabschnitten die Lebensadern zur Front waren. Das zeigt sich, wenn sie die Grenze entlang gehen, vom Stilfserjoch bis hinüber in die Dolomiten ein. Selbst auch am Isonzo wurden entsprechende Seilbahnen zur Versorgung der Truppen gebaut. Und diese Infrastruktur - Wege, Seilbahnen, auch Unterkünfte, die teilweise noch gebaut wurden. Die können natürlich nach dem Krieg weitergenutzt werden und sind Grundlage dann auch für ein quantitativ aufwachsendes Feld des Tourismus.
Musik 11: Broken by nature (Part 5) – siehe vorn – 55 Sek
SPRECHERIN 1
Ein weiteres Überbleibsel aus dem Ersten Weltkrieg sind die Denk- und Mahnmäler, wie zum Beispiel auf dem Monte Grappa. Und natürlich die zahlreichen Soldatenfriedhöfe.
Jordan 14
Überhaupt sind diese Friedhöfe, die Sie entlang der Fronten von damals finden, Zeugen des Krieges und Zeugen von Tod und Leid und insofern Punkte, die wir heute auch besuchen sollten, um uns dessen gewahr werden, wie schlimm der Krieg ist - egal, ob es der erste Weltkrieg ist oder aktuelle Kriege. Es ist immer mit Tod und Leid verbunden, und insofern sollten wir alles dransetzen, das auch für die Zukunft in einem Miteinander zu vermeiden.
Sauer macht lustig, Schokolade macht glücklich, Sport macht euphorisch. Hinter diesen Volksweisheiten stecken ein bisschen Wahrheit - und vor allem: Glückshormone. Was bewirken sie? Und wo wird ihnen zu viel Einfluss nachgesagt? Können wir uns mit Ernährung, Bewegung oder auch Lachen glücklich machen? Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann, Constanze Fennel
Technik: Robin Auld
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Prof. Dr. Ingo Froböse, Professor für Rehabilitation und Prävention an der Deutschen Sporthochschule Köln;
Prof. Dr. Henriette Uhlenhaut, Molekularbiologin an der TU München;
Prof. Dr. Inga Neumann, Neurobiologin an der Universität Regensburg;
Caroline Rauscher, Apothekerin und Ernährungsberaterin in Kelheim
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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ATMO 1 Stadion
Zusp. 1 Thomas Müller:
„Dadurch dass ich Dinge von mir selbst abverlange, verlange ich die auch von meinen Mitspielern. Denn am Ende des Tages will ich erfolgreich sein, dann gehe ich glücklich ins Bett und am Ende geht es nur um die Glückshormone.“
SPRECHERIN:
Fußball-Star Thomas Müller ist glücklich, wenn er gewinnt. Trifft er selbst ins Tor, dann sprudeln die Glückshormone besonders üppig! Vor allem der Hormonspiegel von Dopamin und Serotonin, den wichtigsten Botenstoffen in Zusammenhang mit Glücksmomenten und Euphorie wie etwa beim Torjubel Tausender Fans. Insgesamt kennt die Forschung sechs Hormone, die uns glücklich machen. Aber noch weiß sie über sie noch lange nicht alles.
ATMO 2 Reporter
Zusp.2 Sieg:
„Natürlich macht auch ein Sieg im Sport, ein Torschuss, ein Erfolg innerhalb des Sports erstmal glücklich. Es bedeutet eine erbrachte Leistung während der sportlichen Aktivität, auch das macht positive Stimmung. Und dadurch ist letztendlich das große Spektrum der unterschiedlichsten Sportarten in der Lage, positive Effekte auf unsere Glückshormone auszuüben.“
SPRECHER:
Sagt Dr. Ingo Froböse, Professor für Rehabilitation und Prävention an der Deutschen Sporthochschule Köln:
MUSIK: „White wherever you look“ – ARD-AROMA (0:17)
Zitator:
Dopamin
SPRECHER:
Dopamin ist körpereigenes Doping! Glückshormone - und natürlich auch ihre Gegenspieler, die Stresshormone – stellt der Körper selbst her. Sie sind nicht mal unter dem Mikroskop zu sehen. Winzig, aber wichtig!
SPRECHERIN:
Glückshormone bestehen aus Aminosäuren, also aus chemischen Verbindungen mit Stickstoff, Kohlenstoff und Sauerstoff. Prof. Dr. Henriette Uhlenhaut, Molekularbiologin an der TU München, erklärt, dass das System der Glückshormone ein bisschen wie früher die Rohrpost im Büro funktioniert:
Zusp. 6 Brief:
„Ein Glückshormon oder irgendein Hormon ist ein Botenstoff, d.h. Hormone werden irgendwo im Körper – da gibt`s z.B. bestimmte Drüsen – produziert und die werden dann über den Kreislauf, über die Blutbahn zu allen anderen Organen im Körper hin transportiert, um dort eine Botschaft zu übermitteln. D.h. zum Beispiel im Gehirn wird ein Signal losgeschickt, oh, wir müssen jetzt unbedingt den Muskeln was sagen, dann wird eine hormonproduzierende Drüse dieses Hormon ausschütten, das schwimmt sozusagen durch den Blutkreislauf zum Zielorgan hin, schwimmt tatsächlich wie ein Brief durch unsere Blutbahn und docken dann an einem Briefkasten, einem Rezeptor an.“
MUSIK: „Celloverse“ – Z8014390#113 (0:13) und:
MUSIK: „There‘s somebody out“ – Z9382788#004 (0:21)
ATMO 3 Schrei
SPRECHER:
Eine Mutprobe an der Skisprungschanze im slowenischen Planica (sprich: Planitza, Betonung auf erster Silbe). Im Sommer dürfen hier Laien, an einem Drahtseil gesichert, runterspringen. Hier kommt das Signal für die Hormonausschüttung von den Augen der jungen Frau, die oben steht und sich mutig in die Tiefe stürzt.
SPRECHERIN:
Die Augen nehmen also die potentielle Gefahr wahr und schicken diese Botschaft durch die Blutbahnen an die Rezeptoren:
Zusp. 7 Rezeptoren:
„Und diese Rezeptoren sitzen fast überall in unserem Körper, in unseren Zellen: Muskelzellen, Leberzellen, Hautzellen, im Gehirn usw. und reagieren dann auf diese Botschaft. Sie hören diese Botschaft sozusagen und schalten dann Prozesse im Inneren der Zelle an.“
SPRECHER:
Botschaft angekommen: Achtung Abgrund! Vorsicht Gefahr! Jetzt geht der Körper in die Alarmhaltung über:
Zusp. 8 Flucht:
„Wenn jetzt ein Stresssignal den Körper erreicht, dann gibt es diese Hormondrüsen, das sind die Nebennieren, die produzieren dann auf ein Signal vom Gehirn hin das Cortisol und schütten es in die Blutbahn aus. D.h. unser ganzer Körper wird mit dem Cortisol überschwemmt und der Cortisol-Rezeptor geht dann in den Zellkern und schaltet Gen-Programme aus oder an, d.h. im Zellkern würden dann ganz viele Prozesse angesteuert, die wiederum Energie freisetzen z.B., wenn ich gestresst bin und ich muss mich wehren unter Umständen, fight or flight, Kampf oder Flucht, das würde als Antwort auf das Hormon passieren.“
SPRECHERIN:
Bei der Frau an dem Drahtseil ist Flucht nicht angesagt...zumal sie den Sprung in die Tiefe ja frei gewählt und dafür bezahlt hat. Nun mischen sich ihre Stress- und Glückshormone:
MUSIK: „Celloverse“ – Z8014390#113 (0:18)
Zusp. 9 Kampf:
„Diese Hormonrezeptoren setzen jeweils im Inneren der Zelle sogenannte Signal-Kaskaden in Gang, d.h. innerhalb der Zelle bewegen sich jetzt ganz viele kleine Proteine, schalten was an oder aus und schicken Signale hin und zurück und das wird alles in den Zellkern geleitet, wo dann der ganze Prozess integriert wird. Es kommt im Zellkern, auf dem Chromatin, das ist unser genetisches Material, da würde dieser Kampf sozusagen stattfinden. Und was am Ende dabei herauskommt, bestimmt dann, wer den Kampf gewonnen hat. Also wer schaltet mehr Programme ein oder aus?“
SPRECHER:
An der Skisprungschanze heißt die hormonelle Frage: hat es der Frau Spaß gemacht oder eher Stress bereitet?
SPRECHERIN:
Dopamin nur als oberflächlichen Glücklichmacher zu definieren, würde der Bedeutung dieses Transmitters aber nicht gerecht werden. Nervenzellen, in denen Dopamin gespeichert ist, heißen „dopaminerg“. Solche Neuronen kommen unter anderem im Zentralen Nervensystem vor und wandern etwa vom Mittelhirn ins Zwischenhirn und ins Endhirn. Ist der Dopaminhaushalt gestört, kann es zu schweren Erkrankungen wie Parkinson oder Schizophrenie kommen.
SPRECHER:
Auch im Vegetativen Nervensystem spielt Dopamin eine wichtige Rolle: es reguliert die Durchblutung der Bauch-Organe und wirkt bei der Steuerung der Nieren mit, hat also lebensnotwendige Funktionen.
MUSIK: „White wherever you look“ – ARD-AROMA (0:17)
Zitator:
Serotonin
SPRECHERIN:
Auch das im Volksmund als Glückshormon bezeichnete Serotonin ist ein vielseitiger Akteur des menschlichen Körpers! Es beeinflusst die Spannung der Blutgefäße und somit den Blutdruck, auch den Augen-Innendruck, unterstützt die Magen-Darm-Tätigkeit und hilft bei der Blutgerinnung mit. Ohne Serotonin wäre unser Leben nicht möglich. Selbst Einzeller wie Amöben produzieren Serotonin. Sogar Pflanzen bauen auf das Gewebshormon. So kommt die brennende Wirkung der Haare auf den Brennnessel-Blättern von Serotonin.
SPRECHER:
Durch das Stimulieren von Regionen der Großhirnrinde, die unsere Emotionen stark beeinflussen, ist das Serotonin für die Stimmungslage zuständig. Eine ausreichende Konzentration des Neurotransmitters kann Ängste, Aggressionen, depressive Zustände lindern, wie Prof. Dr. Inga Neumann, Neurobiologin an der Universität Regensburg, erklärt:
Zusp. 10 Serotonin:
„Serotonin wird in vielen Regionen des limbischen Systems freigesetzt, es wird im Nukleus raphe produziert und z.B. wenn wir glücklich sind, wenn wir frohen Mutes sind und aktiv sind, dann spielt das eine wichtige Rolle. Im Umkehrschluss, bei Patienten, die Depressionen haben z.B., da geht man davon aus, dass das Serotoninsystem generell unterversorgt ist oder eher nicht so aktiv ist. Deshalb ist eine Behandlungs-Strategie bei klinisch manifester Depression, dass man hier das Serotoninsystem beeinflusst, indem man praktisch die Verfügbarkeit des Serotonins im Gehirn verlängert oder verstärkt.“
SPRECHERIN:
Bei schweren Depressionen kann Serotonin medikamentös verabreicht werden. Die richtige Hormon-Einstellung im Krankheitsfall ist aber eine medizinische Kunst! Zumal die Wechselwirkungen der einzelnen Hormone bisher noch nicht klar erforscht sind.
MUSIK: „White wherever you look“ – ARD-AROMA (0:09)
Zitator:
Oxytocin
SPRECHER:
Neben Serotonin und Dopamin ist auch das Hormon Oxytocin für das körperliche und seelische Wohlbefinden wichtig. Oxytocin ist ein Neuropeptid, also ein Botenstoff, der von Nervenzellen freigesetzt wird. Da es aus neun Aminosäuren aufgebaut ist, wird Oxytocin auch als Nonopeptid definiert. Inga Neumann beschäftigt sich intensiv mit den Wechselwirkungen der verschiedenen Hormone:
Zusp. 11 Neuropeptide:
„Im Zentrum unserer Forschung steht die Frage, wie Emotionen, also z.B. Angst, Furcht oder depressives Verhalten im gesunden Organismus, aber auch unter pathologischen Bedingungen, z.B. bei psychischer Erkrankung, reguliert werden.
SPRECHERIN:
Ihre Untersuchungen haben ergeben, dass ausreichend Glückshormone das seelische Gleichgewicht fördern, aber umgekehrt ein intaktes soziales Umfeld auch den Glückshormonspiegel steigern kann. Einsamkeit etwa wirkt negativ auf das Oxytocin-System, während ein glückliches Familienleben zusätzlich Oxytocin aktivieren kann:
Zusp. 12 Berührung:
„Oxytocin wird freigesetzt in bestimmten Situationen, z.B. sozialer Interaktion, aber auch bei Berührung oder auch bei Sex oder wenn man sich in die Augen schaut, also in bestimmten Situationen, und agiert da auch mit anderen Botenstoffen wie dem Dopamin oder dem Serotonin, die ja auch in die Kategorie Glückshormone gezählt werden.“
Zusp. 13 Kuschel:
„Oxytocin wird in den Medien als Kuschelhormon bezeichnet und in der Tat: Oxytocin fördert Sozialverhalten, es fördert die Mutter-Kind-Bindung und das macht es für mich auch so spannend, dass es einmal die Wirkung als Hormon hat, dass das Muttertier oder die Mutter tatsächlich die Milch geben kann und auf der anderen Seite im Gehirn wirkt es, damit die Mutter sich auch um den Nachwuchs oder das Baby kümmern möchte, dass es die Motivation hat und die Motivation kommt aus dieser Mutter-Kind-Bindung.“
SPRECHER:
Oxytocin ist für seine Wirkung während der Geburt bekannt: es bringt die Gebärmutter dazu, sich zusammenzuziehen, löst dadurch die Wehen aus und leitet den Geburtsvorgang ein. Bei der klinischen Geburtshilfe kann Oxytocin als Tablette, Nasenspray oder mit einer Spritze verabreicht werden.
SPRECHERIN:
Außerdem regt Oxytocin die Brustdrüsen der Mutter an, Milch abzugeben. Diese hormonell gesteuerte Mutter-Kind-Bindung bildet wohl die Grundlage für spätere soziale Beziehungen. Neurochemiker- und Biologen vermuten, dass die Fähigkeit zu Liebe, Zuneigung oder Vertrauen auch von diesem Konglomerat aus neun Aminosäuren abhängt.
Zusp. 14 bewirken:
„Und es geht sicher nicht nur um die Menge des verfügbaren Oxytocins, das beträfe die Synthese, die Bildung des Oxytocins in Nervenzellen, sondern es geht auch darum, wo ziehen diese Nervenzellen hin, welche Fasern gibt es in welchen Gehirnregionen und wie intensiv werden diese Fasern auch genutzt. Hier geht es also auch um Oxytocin-Transport. Dann geht es natürlich auch um Oxytocin-Freisetzung aus diesen Nervenzellen, also um die neuronale Freisetzung in den Gehirnregionen. Die kann unterschiedlich sein. Und last but not least sind es natürlich auch die Rezeptoren, d.h. die Erkennungsstrukturen in den Regionen. Also wir gehen vor allem davon aus, dass es die Rezeptoren sind oder Unterschiede in den Rezeptoren sind, die auch Unterschiede im Sozialverhalten, Unterschiede im emotionalen Verhalten bewirken können.“
SPRECHER:
Noch sind viele Fragen offen, wie genau dieses hochkomplexe System von hormonellen Mit - und Gegenspielern funktioniert. Eines ist aber erwiesen: ein guter, als glücklich empfundener Lebensstil ist auch gut für unsere Gesundheit, sagt Inga Neumann:
Zusp. 15 Dopamin:
„Also z.B. wenn wir ein gutes Essen zu uns nehmen oder uns schon darauf freuen, oder eine gute Flasche Wein trinken und noch in netter Gesellschaft sind, dann sind das alles Sachen, die uns gut tun und das Belohnungssystem uns signalisiert dann dem Körper: davon bitte mehr! Das ist natürlich eine Motivation zu all diesen Sachen, die wir gerne mögen. Dazu gehört natürlich auch Sozialverhalten, dazu gehört auch Sexualverhalten, da wird das Dopaminsystem hochaktiv im Nukleus accumbens und in den entsprechenden Zielregionen der dopaminergen Neuronen. Und hier kommt es dann auch zu einer engen Interaktion mit dem Oxytocinsystem, d.h. Paarung zum Beispiel, Sexualverhalten triggert nicht nur das Dopaminsystem, sondern auch das Oxytocinsystem, die sich dann auch noch gegenseitig ergänzen.“
MUSIK: „White wherever you look“ – ARD-AROMA (0:09)
Zitator:
Noradrenalin
SPRECHERIN:
Ein anderes Hormon, das manchmal als Stress – manchmal als Glückshormon bezeichnet wird, ist Noradrenalin, das im Nebennierenmark gebildet wird. Es wurde erst 1948 entdeckt und wird als Auslöser des Fluchtreflexes gesehen. In Gefahren – oder anderen Ausnahmesituationen - verengt es die Blutgefäße und treibt damit den Blutdruck nach oben. Das macht den Menschen sehr schnell wach und agil. Solch einen gesteigerten Tatendrang empfindet jeder etwas anders.
MUSIK: „White wherever you look“ – ARD-AROMA (0:05)
Zitator:
Endorphine
MUSIK: „There‘s somebody out“ – Z9382788#004 (0:51) und
MUSIK: „Celloverse“ – Z8014390#113 (0:19)
SPRECHER:
Ähnliche Effekte haben auch Endorphine. Chemisch betrachtet sind das Opioid-Peptide. Wenn man so will: selbstproduziertes Opium. Endorphine entstehen im Hypothalamus und in der Hypophyse, also im Gehirn, und können ein Glücksempfinden hervorrufen, das im Extremfall an Drogeneinfluss erinnert. Bekanntes Beispiel aus dem Sport ist das Läufer-High, eine Euphorie, die zum Beispiel am Ende eines Marathons jedes Schmerzgefühl übertüncht. Der genaue Wirkmechanismus ist noch nicht geklärt, aber vermutlich verhindern die Endorphinrezeptoren im Rückenmark, dass ein Schmerzreiz ins Gehirn weitergeleitet wird.
SPRECHERIN:
Als wäre das Zusammenspiel der Glücks-Hormone nicht schon kompliziert genug, mischt sich auch noch unser Essen ein, z.B. Proteine, also Eiweiß!
Zusp. 16 Teller:
„Vom Teller kommt`s in den Mund, wird zerkaut, zerlegt und das Eiweiß ist quasi ein langes Wort und dieses Wort wird in seine Buchstaben zerlegt im Darm, nämlich in die Aminosäuren und diese Buchstaben werden dann wieder zu neuen Wörtern zusammengesetzt und aus diesen Wörtern macht unser Körper beispielsweise Muskelprotein, Organprotein oder eben diese Botenstoffe.“
SPRECHER:
Caroline Rauscher aus dem niederbayerischen Kelheim ist Apothekerin und Ernährungsberaterin. Sie beschäftigt sich intensiv mit der Wirkung verschiedener Lebensmittel auf den Organismus und speziell auf die körperliche Leistungsfähigkeit von Sportlern. Diese hängt natürlich auch mit der emotionalen Verfassung des Athleten zusammen.
Zusp. 17 Darm:
„Die Ernährung liefert uns die Bausteine für unsere Glückshormone.
Grundsätzlich ist der Ansatz natürlich richtig, dass unser Denken durch unsere Ernährung beeinflusst wird, aber das wäre einen Ticken zu einfach, wenn ich nur die richtige Suppe oder das richtig Gericht esse und schon bin ich auf Wolke sieben!“
SPRECHERIN:
Sauer macht lustig, sagen die Einen. Schokolade macht glücklich, meinen die Anderen. Leider stimmen die Botschaften nur sehr bedingt:
Zusp. 18 Schoki:
„Natürlich hat die Schokolade auch Ausgangsstoffe drin, die sich positiv auf unser Glücksgefühl auswirken, aber um da wirklich pharmakologische Effekte zu erzielen, müsste man an die 100 Kilo Schokolade essen, am Tag! Das Serotonin wird zwar in der Darmschleimhaut aufgenommen, kann aber nicht in unser Gehirn gelangen, weil das Tryptophan, so heißt diese Aminosäure, um ins Gehirn zu gelangen und dort Serotonin produzieren zu können, die sogenannte Blut-Hirn-Schranke passieren muss.“
SPRECHER:
Und diese Schranke hat einen lebensnotwendigen Schließmechanismus, wie Biologin Inga Neumann erläutert:
Zusp. 19 Schranke:
„Die wenigsten Neurotransmitter des Gehirns gelangen einfach so durch die Blut-Hirn-Schranke, das wäre auch schlimm, denn ansonsten würde es in Abhängigkeit von der Nahrungsaufnahme, wenn wir gerade ein dickes Steak gegessen haben das durch den Magen-Darm-Kanal in seine Einzelteile, sprich in seinen einzelnen Aminosäuren zerlegt werden. Und wenn wir gerade einen Cocktail an solchen Aminosäuren im Blut haben und die gelangten alle ins Gehirn, dann würden wir da ganz schön durcheinanderkommen. D.h. das Gehirn ist sehr gut geschützt vor solchen peripher zirkulierenden Substanzen, es bekommt deshalb solche Schwankungen, die nahrungsbedingt auftreten, nicht mit.“
SPRECHERIN:
Ernährungs-Expertin Caroline Rauscher unterstützt Profisportler bei ihrer athletengerechten Ernährung. Einigen von ihnen musste sie den Trend zu eiweißreicher und kohlenhydratarmer Ernährung ausreden. Manche Lifestyle-Magazine empfehlen sogar, Kohlenhydrate komplett wegzulassen. Davor warnt die Pharmazeutin, auch in Hinblick auf Glückshormone:
Zusp. 20 Tür:
„Wenn ich jetzt dominant in der Eiweiß-Zufuhr bin, dann habe ich ein hohes Aufkommen von Aminosäuren im Blut und dann haben wir genau diese Konkurrenz-Situation mit dieser Tür, die ins Gehirn hineingeht. Jetzt stehen ganz viele andere Kandidaten noch an, die eben durch diese Tür wollen.“
SPRECHER:
Damit das Gehirn Serotonin bilden kann, braucht es dessen Vorstufe Tryptophan. Die Aminosäure Tryptophan wiederum ist auf Insulin angewiesen und das bildet der Körper aus Kohlenhydraten.
Zusp. 21 Insulin:
„Insulin ist ein Türöffner für das Tryptophan ins Gehirn. Wenn ich Kohlenhydrate esse, dann steigt der Blutzuckerspiegel an und Insulin wird ausgeschüttet. Man kann diesen physiologisch leichten Anstieg von Insulin auch dadurch bewirken, dass man sich mit gesunden, komplexen Kohlenhydraten ernährt, sprich Vollkornbrot, Hülsenfrüchte etc. und damit den Punkt hat, dass ein gewisses Insulinspiegel-Niveau da ist.“
MUSIK: „White wherever you look“ – ARD-AROMA (0:18)
SPRECHERIN:
Neben Nahrungsmitteln können auch Genussmittel oder Drogen die Glückshormone in Gang bringen. Nur führt das früher oder später in eine Abhängigkeit. Dr. Inga Neumann:
Zusp. 22 Droge:
„Das fängt mit Alkohol an, das können aber auch andere Drogen sein, Nikotin natürlich genauso, d.h. das Dopaminsystem wird auch dadurch aktiviert und das Problem ist, dass es dann immer mehr von der Droge braucht, dass das Dopamin auf das hohe Level gepusht wird. Dann ist die Konsequenz, dass die Einnahme der Droge steigt oder steigen muss, damit derjenige dasselbe Glücksgefühl intern erlebt.“
MUSIK: „Celloverse“ – Z8014390#113 (1:01)
SPRECHER:
Dann doch lieber ein anregender Sprung ins eisige Wasser beim Canyoning, um Dopamin oder Noradrenalin freizusetzen. Oder – wie Sportwissenschaftler Ingo Froböse empfiehlt – mäßiger, aber regelmäßiger Sport:
Zusp. 23 entstresst:
„Nach zwei bis drei Monaten bin ich durchaus in der Lage, und das bedeutet ungefähr 20 bis 30 Trainingseinheiten, um diese Glückshormone bewusster wahrzunehmen und entsprechende biochemische Prozesse ausgelöst zu haben. Und das verändert langfristig unseren Lebensstil und auch unser Verhalten. Und da muss man sagen: das ist doch gar nicht so viel! Das dauert zwar einige Wochen, aber dann bin ich genau da, wo ich nämlich sein wollte, entspannt, entstresst und glücklich.“
SPRECHERIN:
Denn die Muskulatur, die bei Bewegung aktiviert wird, ist das größte Stoffwechselorgan des Menschen. Wird sie regelmäßig und über einen längeren Zeitraum benutzt, beeinflusst das den Hormonspiegel erheblich. Der Körper macht dabei einen Lernprozess durch. Deshalb wird Sport auch in Psycho-Therapien wirkungsvoll eingesetzt.
SPRECHER:
Auch Lachen oder Singen kann Glückshormone aufwecken. In entsprechenden Lach – oder Sing-Seminaren wird das zelebriert.
MUSIK: „White wherever you look“ – ARD-AROMA (1:00)
SPRECHERIN:
Egal, ob sich die Forscher aus psychologischer, chemischer, ernährungs-oder sportwissenschaftlicher Perspektive mit dem Phänomen Glückshormone befassen: das System der glücklich machenden Aminosäuren ist faszinierend und noch weitgehend unerforscht, resümiert Molekularbiologin Henriette Uhlenhaut:
Zusp. 24 faszinierend:
„Generell finde ich es wahnsinnig spannend, wie komplex das ist. Wir haben das immer noch nicht verstanden, was Hormone alles bewirken können, was die alles draufhaben! Die regulieren gleichzeitig Zehntausende von Genen und kontrollieren so unterschiedliche Prozesse gleichzeitig: Stoffwechsel, Immunreaktionen, unser Verhalten. Jeder von uns ist den ganzen Tag über hormongesteuert. Wenn man sich das mal verdeutlicht, ist es unglaublich, was in unserem Zellinneren abgeht.“
Boy meets girl - diesen Plot gab es bereits bei den alten Griechen. Der antike Autor Longos lässt in seinem Roman "Daphnis und Chloe" zwei ausgesetzte Königskinder aufeinandertreffen. Ende des 2. Jahrhunderts nach Christus entstand die Liebesgeschichte, die uns Astrid Mayerle vorstellt. (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Astrid Mayerle
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Rahel Comtesse, Anne-Isabelle Zils
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Ondrej Cikan, Altphilologe und Verleger
Georg Danek, Altphilologe
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Mehr als 70 Jahre ist es her, dass sie gegründet wurde - die Organisation erdölexportierender Staaten, kurz: Opec. Vor allem in den 1970ern hat sie wochenlang die Nachrichten dominiert. Inzwischen hört man kaum mehr von ihr. Dennoch wäre es falsch, die Opec als zahnlosen Tiger abzutun. Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Burchard Dabinnus
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Andreas Goldthau, Politologe und Professor an der Universität Erfurt
Alexander Nützenadel, Wirtschaftshistoriker und Professor an der Humboldt Universität Berlin
Literatur:
Jan Martin Witte und Andreas Goldthau: Die Opec. Macht und Ohnmacht des Öl-Kartells. Hanser Verlag, 2009.
Daniel Yergin: Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht. Fischer Verlag, 1991.
Giuliano Garavini: The Rise and Fall of Opec in the Twenties Century. Oxford University Press, 2019.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 TON (Krisenplan): Medienbroker (Video)
240517FSMM50056
1061038; Erstsendedatum:10.11.1973; Titel Ölkrise
(Piepen) Der Krisenplan. (…) Bei einer akuten Gefährdung der Energieversorgung kann die Bundesregierung zeitlich begrenzte Maßnahmen verordnen, um den Energieverbrauch zu drosseln. (…) Erstens: Fahrverbote für Kraftfahrzeuge am Wochenende. (…). Zweitens: Begrenzung der Geschwindigkeit. Nur mehr 100 Stundenkilometer auf der Autobahn. Drittens: Beschränkung der Heizölabgabe an Private. (…) Viertens: Freiwilliger Verzicht auf das Überflüssige. Selbstbeschränkung bei nächtlicher Illumination. Stromsperren wären nur ein letztes Mittel.
SPRECHERIN
Zu den befürchteten allgemeinen Stromsperren kam es im Winter 1973 letztlich nicht. Aber ohnehin sparten viele Menschen, wo sie nur konnten. Denn binnen kurzer Zeit hatte sich der Ölpreis vervielfacht. Viele Wohnungen blieben kalt, auch bei dieser Mutter von zwei Kindern.
02 TON (Frau) Medienbroker: Video 1108035TMM00081; Erstsendedatum: 14.12.1973, 1108035TMM00081; Zum Beispiel Sie/ Heute: Sozialpolitik
Es ist einfach unmöglich, dass ich es mir leiste wie früher, zwei bis drei Räume zu heizen, weils Öl ja ums Doppelte und teilweise ums Dreifache gestiegen ist.
MUSIK: „dark addiction“ (0:30)
SPRECHERIN
Kalte Wohnungen. Fahrverbote. Dunkle Innenstädte. Lange Schlangen an den Tankstellen. Und immer der bange Blick auf den Ölpreis. Keine Frage, der Schock saß tief Anfang der 1970er Jahre, die Stimmung war am Boden – zumindest in den westlichen Staaten. Denn gleichzeitig war die Ölpreiskrise ein voller Erfolg für eine bis dahin eher unbekannte Organisation.
03 O-TON (Goldthau)
Spätestens 1973 mit dem Ölpreisschock zeigten die Opec-Staaten, dass sie in der Lage waren, Preispolitik und Ölproduktion unilateral zu setzen. Damit hatten sie die Opec als zentralen ölpolitischen Akteur etabliert.
SPRECHERIN
Der Politologe Andreas Goldthau. Er ist Professor für Public Policy an der Universität Erfurt.
Mit dem Ölpreisschock begann die goldene Dekade der Opec, das Kürzel steht für Organisation erdölexportierender Länder.
04 O-TON (Goldthau)
Das war der Zeitraum, in dem die Opec Öl, den zentralen Schmierstoff der Weltwirtschaft, nutzte für ihre Zwecke, zu politischen Zielen. Und wenn man so will, konnte man es sehr gut ablesen, wie weit die Macht gediehen war. Denn das Ergebnis war eine weltweite Rezession und das Ende eines jahrzehntelangen weltwirtschaftlichen Aufschwunges nach dem Zweiten Weltkrieg.
MUSIK: „Main capacity reduced “ (0:35)
SPRECHERIN
Die Opec war ab 1973 bis Anfang der 1980er auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Wenn sie drohte den Ölhahn zuzudrehen, zitterte die westliche Welt. Das ist einige Jahrzehnte her. Wie ist das heute? Denn trotz aller Bemühungen, vom Erdöl loszukommen, rollen immer noch unzählige Verbrenner-Fahrzeuge über unsere Straßen und auch Millionen Wohnungen werden weiterhin mit Heizöl geheizt. Hat die Opec die Staaten also immer noch im Griff?
Die meisten Expertinnen und Experten geben Entwarnung. Sie gehen nicht davon aus, dass die Opec die Industrienationen noch mal so in die Zange nehmen könnte. Und das liegt vor allem an der Organisation selbst. Denn von Beginn an hat sie ein grundlegendes Problem: Ihre Mitglieder ziehen selten an einem Strang.
05 O-TON (Goldthau)
Das ist ein sehr heterogener Club. Die haben nicht alle dasselbe Interesse und auch nicht alle dieselben Rationale.
SPRECHERIN
Die Anfänge der Opec reichen zurück bis in die späten 1950er Jahre. Damals schlossen einige ölfördernde Staaten auf Initiative Saudi-Arabiens und Venezuelas den sogenannten Maadi-Pakt. Erklärtes Ziel war, die Ölförderung stärker abzustimmen, um mehr Einfluss zu bekommen. Dass der Pakt tatsächlich schon kurz darauf in eine formale Organisation mündete, war keineswegs ausgemachte Sache. Denn der Nahe Osten war damals bereits eine politisch instabile Region: Im Irak war gerade ein Putschversuch gescheitert. Kuwait befreite sich zu dieser Zeit aus jahrzehntelanger britischer Kolonialherrschaft. Und Iran und Saudi-Arabien rivalisierten, weil beide Staaten die Vorherrschaft im Nahen Osten beanspruchten. Konflikte gab es also genug. Es bedurfte deshalb erst eines gemeinsamen Gegners, damit sich die Staaten zusammenrauften. Und dieser Gegner waren – die „Seven Sisters“, die Sieben Schwestern.
06 O-TON (Nützenadel)
Das waren die großen Erdölgesellschaften wie zum Beispiel BP, wie Standard Oil, wie Royal Dutch Shell und andere Gesellschaften.
SPRECHERIN
Sagt der Wirtschaftshistoriker Alexander Nützenadel. Er ist Professor an der Humboldt Universität Berlin. Die Arbeitsteilung im Erdölmarkt sah damals so aus: Auf der einen Seite gab es die Länder mit den Ölvorkommen, also Saudi-Arabien, Venezuela, Kuwait und so weiter. Auf der anderen Seite standen die Sieben Schwestern, die westlichen Ölkonzerne, welche die Vorkommen ausbeuteten.
07 O-TON (Nützenadel)
Sie haben sozusagen über große Tankerflotten verfügt, über Raffinerien und haben deswegen eine sehr starke Stellung auf dem internationalen Markt gehabt.
MUSIK: „Geiger counter“ (0:50)
SPRECHERIN
Vom Bohrturm bis zur Tankstelle – in den 1950er und 60er Jahren dominierten die Sieben Schwestern den weltweiten Ölmarkt und machten sagenhafte Gewinne. Die Länder, deren Vorkommen sie ausbeuteten, bekamen einen Anteil, der nach einer komplizierten Formel berechnet wurde. Wichtig für den Anteil war der sogenannte Listenpreis. Die Festlegung dieses Rohöl-Preises war deshalb immer eine heikle Angelegenheit. Vor allem Preissenkungen waren schwierig. Denn schon damals waren viele Länder des Nahen Ostens sogenannte Petro-Staaten.
08 O-TON (Goldthau)
Das bedeutet, sie sind sehr stark abhängig von einem einzigen Exportprodukt, das Öl, was wiederum die Haushaltslage direkt beeinflusst, wenn der Ölpreis schwankt.
SPRECHERIN
Eine Senkung des Listenpreises war also gleichbedeutend mit einem schrumpfenden Staatshaushalt. Und genau das wurde Ende der 1950er zum Problem. Weil immer mehr Erdöl auf den Weltmarkt kam, senkten die Ölkonzerne den Listenpreis immer weiter, und zwar weitgehend ohne Absprache. Ein Affront für die Länder, deren Vorkommen sie ausbeuteten. Deshalb schafften es die Staaten, ihre Differenzen zu überwinden und eine neue Organisation zu gründen – die Opec.
09 O-TON (Nützenadel)
Die Opec wurde im September 1960 in Bagdad gegründet.
Es war eine Gruppe von ursprünglich fünf erdölfördernden Staaten Irak, Iran, Kuwait, Saudi-Arabien und Venezuela, die sich zusammenschlossen und entschieden, dass sie ihre Erdölförderung in Zukunft koordinieren, um eine marktbeherrschende Position auf dem internationalen Ölmarkt zu bekommen.
MUSIK: „The vote“ (0:50)
SPRECHERIN
Der Sitz der neuen Organisation war zunächst in Genf und später in Wien. Auf regelmäßigen Konferenzen wollten die Opec-Mitglieder von nun an über Fördermengen und -Preise beraten. Die Stimmung war anfangs euphorisch. Der venezolanische Politiker Pérez Alfonso sagte damals:
ZITATOR
Wir haben einen sehr exklusiven Klub gegründet. Wir kontrollieren 90 Prozent aller Rohölexporte in den Weltmarkt und sprechen jetzt mit einer Stimme. Wir schreiben damit Geschichte!
SPRECHERIN
Das taten sie tatsächlich – allerdings erst später. In den 1960er Jahren hörte man erst mal wenig von der Opec. Und der Listenpreis – der stieg kaum. Das lag vor allem daran, dass die großen Ölkonzerne – die Sieben Schwestern –, auch mit Unterstützung der westlichen Regierungen, geheime Absprachen trafen. Sie bildeten also ein Kartell, um die Politik der Opec zu konterkarieren.
10 O-TON (Nützenadel)
Deswegen hat auch die Strategie der Opec in den frühen Jahren nicht so gut funktioniert.
SPRECHERIN
Das änderte sich schlagartig im Oktober 1973 mit dem Jom-Kippur-Krieg
MUSIK: „Dark heartbeat“ (1:10)
11 TON (Nachricht Krieg)
Seit heute Mittag finden am Suez-Kanal wie auch an der israel-syrischen Front schwere Kämpfe zwischen Panzer, Infanterie und Lufteinheiten der arabischen wie auch israelischen Streitkräften statt.
SPRECHERIN
Weil der Westen Israel mit Waffen unterstützte, beschlossen einige Opec-Staaten ein Ölembargo: Pro Monat wollten sie fünf Prozent weniger Rohöl liefern, und zwar so lange, bis Israel Gebiete räumen würde, die es im vorangegangenen Sechs-Tage-Krieg besetzt hatte. Das Embargo war ein Paukenschlag – selbst Nahost-Expertinnen und Experten hatten das so nicht kommen sehen. Der Krieg selbst dauerte nicht lang, die Angreifer waren schnell zurückgedrängt, bereits Ende Oktober wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Und doch war plötzlich alles anders: Öl war eine politische Waffe – und den westlichen Industrienationen wurde schlagartig bewusst, wie sehr sie am Öl-Tropf hingen. Der fossile Brennstoff war sprichwörtlich in alle Lebensbereiche gesickert.
12 O-TON (Goldthau)
Das war natürlich zum einen Mobilität, also Autofahren. Der Flugverkehr fängt an wichtig zu werden, die Industrieproduktion, die Prozesswärme braucht, oder die Petrochemie, also all die Schwerindustrie, die Öl benötigt. Aber zudem auch der Heizungssektor.
SPRECHERIN
Hinzu kam, dass die Opec-Staaten die Erdölförderung in ihrem Land nach und nach verstaatlicht hatten. Saudi-Arabien tat dies – als eines der letzten Länder – ab 1972. Deshalb bestimmten die Opec-Staaten nun selbst, wie viel Öl gefördert wurde. Den Einfluss der Sieben Schwestern hatten sie, zumindest auf ihrem Staatsgebiet, erfolgreich zurückgedrängt. Ein Erfolg für die Opec.
Aber damit begann auch schon gleich der Abstieg der Organisation. Denn nach dem ersten Ölpreisschock gab es für die Industrienationen nichts Wichtigeres als wegzukommen vom Öl der Opec. Das sollte auf mehreren Wegen passieren.
13 O-TON (Goldthau)
Zum einen gelang es den westlichen Industrienationen, eigene Öl-Produktionen aufzubauen oder auszuweiten. Beispielsweise wurde die Nordsee erschlossen. Man setzt aber auch gleichzeitig auf Alternativen, zum Beispiel in Frankreich auf Atomstrom, in Deutschland auf Erdgas. Insofern es war ein Mix aus mehreren Dingen.
MUSIK: „Knocking“ (0:20)
SPRECHERIN
Aber schon wenige Jahre nach der ersten Ölpreiskrise der nächste Schock: 1979 kam es zur Islamischen Revolution in Iran. Ein Jahr später zum Ersten Golfkrieg – dem Krieg zwischen Iran und Irak. Die Förderung in den Ländern lag weitgehend brach. Es kam zu Engpässen auf dem Rohölmarkt, zu erneuter Panik im Westen – und zur zweiten Ölpreiskrise.
14 O-TON (Goldthau)
Man war noch mitten in der Frage, wie man auf den Ölpreisschock von 1973 reagieren soll. Einige Dinge wurden da bereits angeschoben und gleichzeitig hat man versucht, auch institutionell zu reagieren, zum Beispiel hat man die Internationale Energieagentur geschaffen, die letzten Endes strategische Ölreserven managt für die Industrieländer, um gewappnet zu sein für einen erneuten Schock. Aber damals, 1979, war natürlich all das erst im Aufbau und noch nicht großflächig genug angelegt, um wirklich einem erneuten Schock zu begegnen.
SPRECHERIN
Die Reaktion des Westens: Noch mehr Tempo. Und in Bayern zum Beispiel setzte man auch auf den Ausbau der Kernenergie.
Gleichzeitig veränderte sich aber auch die Opec selbst in dieser Zeit.
Die Differenzen zwischen den Mitgliedern nahmen zu. Die Opec-Konferenzen fanden zwar weiterhin statt, blieben aber oft ohne konkretes Ergebnis.
16 O-TON (Nützenadel)
Die Opec ist eben überhaupt gar keine politische Einheit mehr und es sind ja auch andere Länder hinzugekommen, die sich gar nicht mehr so politisch eindeutig zusammenführen lassen.
SPRECHERIN
Neue Mitglieder, wie zum Beispiel Ecuador, Libyen, Nigeria, Angola und Gabun, sind der Opec nach und nach beigetreten. In den 1980ern kam hinzu, dass das Wachstum der Weltwirtschaft nachließ. Die Nachfrage nach Erdöl sank – und damit auch der Preis. Um den Ölpreis zu stabilisieren, einigten sich die Opec-Staaten darauf, ihre Fördermengen zu kürzen. Zumindest offiziell. Die Praxis sah allerdings meist anders aus. Vor allem kleinere Mitglieder hielten sich oft nicht daran.
17 O-TON (Goldthau)
Wenn es um Förderausweitungen geht, sind Absprachen zumeist unproblematisch. Man fördert einfach mehr. Bei Kürzungen allerdings besteht das große Problem des Freeriding, also des Trittbrettfahrertums.
SPRECHERIN
Trittbrettfahrer profitieren doppelt: Zum einen vom gestiegenen Ölpreis, der dadurch zustande kommt, dass die anderen Staaten ihre Ölförderung drosseln. Zum anderen können sich die trittbrettfahrenden Staaten aber auch Marktanteile der anderen Staaten sichern. Das machte es attraktiv, Förderkürzungen zwar zuzustimmen, sich dann aber nicht daran zu halten.
Dass das System nicht völlig zusammenbrach, lag vor allem an Saudi-Arabien. Das Land fungierte als sogenannter Swing Producer, es fuhr seine eigene Ölförderung so weit zurück, dass sich der Ölpreis – trotz der Trittbrettfahrer – stabilisierte. Saudi-Arabien gehörte damals wie heute zu den größten Erdölproduzenten der Welt – und hat deshalb ein großes Interesse, den Ölmarkt langfristig zu stabilisieren.
MUSIK: „Knocking“ (0:20)
SPRECHERIN
Aber Mitte der 1980er Jahre reichte es den Saudis. Ihre eigene Ölproduktion war mittlerweile so weit heruntergefahren, dass das Land finanzielle Probleme bekam. Es griff zu einer drastischen Maßnahme: Innerhalb kurzer Zeit förderte es sehr viel Öl – und flutete damit den Weltmarkt.
18 O-TON (Goldthau)
Damit kam es zu einem sogenannten Counter-Shock 1986, und der Preis ging in den Keller. Viele Opec-Staaten gerieten in eine Schuldenspirale, was letzten Endes die Handlungsfähigkeit der Opec sehr stark einschränkte. Und dazu kam dann natürlich: Ab den 90er Jahren gab es neue unabhängige Produzenten in der Folge der Auflösung der Sowjetunion, und all das hat die Opec lange Jahre an Einfluss gekostet.
SPRECHERIN
Manche prophezeiten damals das Ende der Organisation. Dass es anders kam, lag weniger an der Opec selbst, sondern an den für sie günstigen Bedingungen. In den 1990er und 2000ern wuchsen Welthandel und Weltwirtschaft sehr stark, Stichwort Globalisierung. Auch der wirtschaftliche Aufstieg von China begann zu dieser Zeit.
19 O-TON (Goldthau)
Seit den frühen 2000er Jahren ist China eines der größten Einfuhrländer (und heute der zweitgrößte Konsument von Erdöl). Und auf der Angebotsseite war ebenfalls einiges los. Die Förderkapazitäten der Opec waren begrenzt. Also das war die Zeit, als Saddam Husseins Irak unter Sanktionen war, später der Iran aufgrund des Atomprogramms.
SPRECHERIN
Auch das trieb den Ölpreis nach oben, weil schlicht weniger Öl auf dem Weltmarkt vorhanden war. In diesem Umfeld schafften es die Opec-Staaten, ihre Politik wieder zu koordinieren – und den Ölpreis weiter nach oben zu treiben.
20 O-TON (Goldthau)
Und all das führte in der Gesamtschau zu einem steigenden Ölpreis 2008 mit über 140 Dollar.
SPRECHERIN
2008 dann die Finanzkrise und ein weltweiter wirtschaftlicher Abschwung. Der Ölpreis sank, aber nur kurz, schon kurz darauf eilte er wieder von Rekord zu Rekord.
MUSIK: „dark addiction“ (0:35)
SPRECHERIN
Aber zur gleichen Zeit zeichnete sich bereits eine neue Droh-Kulisse für die Opec ab. Denn die Industrienationen begannen allmählich, ihre Produktionsweisen umzubauen. Weg von fossilen Brennstoffen, hin zu erneuerbaren Energien. Der Prozess begann zwar schon in den 1970er Jahren, aber erst in den 2010ern wurde die sogenannte Peak Demand These diskutiert.
21 O-TON (Goldthau)
Es geht um die Frage, ob die Weltwirtschaft nicht mittlerweile einen Punkt erreicht hat, in dem die Nachfrage auf einem Plateau angelangt ist und schon langsam anfängt zu sinken. Das hat damit zu tun, dass die Ölintensität der Produktion zurückgeht, wir effizienter geworden sind, dass wir das sogenannte Decoupling hinbekommen haben, also dass wir das Wirtschaftswachstum mittlerweile von der Ölnachfrage entkoppelt haben.
SPRECHERIN
Eine Welt, die immer weniger Erdöl braucht – für Petro-Staaten, deren Staatshaushalt sich aus den Öleinnahmen speist, ist das ein riesiges Problem.
SPRECHERIN
Hinzu kommt aus Sicht der Opec ein weiteres Problem: Die USA, lange Zeit einer der größten Importeure, fördern nun selber Öl im großen Stil.
Die neue Ölschwemme sorgt auf dem Weltmarkt für einen sinkenden Ölpreis. Der Druck auf die Opec steigt. In dieser Situation gelingt der Organisation ein Meilenstein. Sie schmiedet ein neues Bündnis – die Opec Plus.
23 O-TON (Nützenadel)
Die Opec Plus wurde im September 2016 mit einem Kooperationsvertrag zwischen den alten Opec-Staaten und weiteren ölproduzierenden Ländern gegründet. Es kamen eben neue ölproduzierende Staaten wie Russland, Kasachstan, Mexiko oder Oman, die sich eben nicht in der Opec direkt binden wollen, als Kooperationspartner hinzu. Und diese Staaten haben nun das Kartell wieder sehr viel effizienter gemacht, weil sie sozusagen sehr viel effizienter wieder Preisstrategien durchsetzen konnten.
SPRECHERIN
Das neue Bündnis birgt auch intern neue Machtverhältnisse. Während Saudi-Arabien die Opec lange Zeit als größter Produzent und Swing Producer dominierte, gibt es in der Opec Plus nun mit Russland einen weiteren einflussreichen Player. Denn Russland verfügt ebenfalls über riesige Mengen Erdöl.
24 O-TON (Goldthau)
Jetzt hat man Russland eingebunden, der Disziplin quasi des Clubs unterworfen, und sofern Russland mitspielt, ist das durchaus ein Gewinn für die Opec.
MUSIK: „Main capacity reduced “ (0:15)
SPRECHERIN
Was bedeutet das für die Industriestaaten? Wäre eine neue Ölpreiskrise ausgelöst durch die Opec denkbar? Alexander Nützenadel hält das für wenig wahrscheinlich. Das habe auch der Krieg in Nahost gezeigt.
25 O-TON (Nützenadel)
Viele Staaten haben sich doch eher zurückgehalten und haben gesagt: Wir wollen jetzt nicht noch mal eine Ölpreiskrise. Man hat zwar die Ölpreise erhöht und man versucht sozusagen hier auch weiterhin eigene wirtschaftliche Interessen durchzusetzen, aber es gibt keine so starke Zuspitzung des internationalen Konfliktes über den Ölpreis. Das ist doch ein deutlicher Unterschied verglichen mit den frühen 70er Jahren.
SPRECHERIN
Öl als Waffe – diese Zeiten sind mit Blick auf die Opec vorbei, meint auch Andreas Goldthau.
26 O-TON (Goldthau)
Ich glaube, dass spätestens mit den 80er Jahren und dem Counter-Shock, also dem fallenden Ölpreis, die großen internationalen politischen Ambitionen der Opec begraben waren. Die Opec versteht sich heute schlicht als ein Ölmarkt-Akteur, aber nicht mehr als Akteur, der die Entwicklungsagenda des globalen Südens befördert.
SPRECHERIN
Der also Interessen gegen die Industrienationen auf der Nordhalbkugel durchsetzen will.
27 O-TON (Goldthau)
Dafür ist die Opec ist mittlerweile nicht nur zu heterogen, sondern einfach schlicht auch in einem Einkommensniveau angelangt, was den Großteil ihrer Mitglieder angeht, die es auch de facto schwer machen, die Karte des globalen Südens zu spielen.
MUSIK: „dark addiction“ (1:05)
SPRECHERIN
Bleibt die Frage, welche Rolle die Opec Plus, also das erweiterte Bündnis, künftig spielen könnte. Denn dass Russland seine Energielieferungen für politische Ziele nutzt – daran gibt es spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine keinen Zweifel. Wie viel Einfluss die Opec Plus auf den Ölpreis haben wird, wird insbesondere davon abhängen, wie einig sich die beiden großen Player sind, also Saudi-Arabien und Russland. Und da zeigte sich bereits, dass Russland vor allem seine eigenen Interessen verfolgt. So auch zu Beginn des Ukraine-Kriegs, als die Opec Plus Kürzungen beschloss – Russland aber nicht mitzog, auch weil es auf die Einnahmen aus seinen Öl- und Erdgasgeschäften angewiesen ist.
28 O-TON (Goldthau)
Russland steht unter Sanktionen, was zumindest teilweise die Einnahmen gedämpft hat. Es hat daher erst verspätet verabredete Kürzungen umgesetzt, im Gegenteil zunächst seine Produktion gesteigert.
SPRECHERIN
Und in Folge die Einnahmen aus Öl und Gas zeitweise sogar massiv gesteigert.
28 O-Ton Fortsetzung Goldthau Insofern ist die Opec plus im Moment zwar einig im Ziel, aber in der Umsetzung weniger stringent, wie es eventuell nötig wäre, um den Ölmarkt erfolgreich zu managen.
MUSIK: „Main capacity reduced “ (1:15)
SPRECHERIN
Dass die Opec oder Opec Plus in absehbarer Zeit die westlichen Industrienationen erneut in die Zange nehmen können wie Anfang der 1970er, ist deshalb wenig wahrscheinlich. Zu unterschiedlich sind die Interessen, zu heterogen die Mitglieder. Hinzu kommt, dass neue große Erdölproduzenten, wie die USA, entstehende Lücken zumindest ein Stück weit füllen können. Und mit dem Ausbau erneuerbarer Energien sinkt langsam, aber sicher die Abhängigkeit der Industriestaaten von den fossilen Brennstoffen. Und dennoch: Die Unsicherheit bleibt. Die Abhängigkeit von Erdöl birgt eben ein Risiko. Andreas Goldthau meint deshalb:
29 O-TON (Goldthau)
Lasst uns möglichst schnell de-karbonisieren und das Ölzeitalter hinter uns lassen. Denn damit sind wir dann auch das Opec-Problem los.
Er ist ein "herausgerissenes Kind" der Erde, ihr "natürlicher Satellit" und "treuer Begleiter" - und für die Menschheit von überragender Bedeutung: Ohne den Mond würde es uns vermutlich gar nicht geben. Doch wie genau wurde er zum Geburtshelfer für das Leben auf der Erde und wie hilft er bis heute, es zu bewahren? Von Martin Schramm
Credits
Autor dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Andreas Neumann, Rahel Comtesse, Clemens Nicol
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Harald Lesch, Professor für Astrophysik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Lehrbeauftragter für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München.
Dipl.-Geol. Ulrich Köhler, Planetengeologe am DLR-Institut für Planetenforschung in Berlin-Adlershof.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Der Weltraum - vor viereinhalb Milliarden Jahren. - Ein Protoplanet, Vorläufer der heutigen Erde, hat eine schicksalhafte Begegnung:
Er kollidiert mit einem anderen Himmelskörper. Ein gigantischer Knall, bzw. eine Art „Streifschuss“, der Masse aus dem Mantel der Erde reißt - und dafür sorgt, dass sie fortan einen „treuen Begleiter“ hat, einen „natürlichen Satelliten“: den Mond.
SPRECHERIN
So oder so ähnlich könnte sich das damals abgespielt haben. Und auch wenn manches Detail noch im Dunklen liegt, uns dieser treue Begleiter bis heute noch jede Menge Rätsel aufgibt - fest steht: Ohne den Mond würde es uns Menschen vermutlich gar nicht geben - zumindest hätte sich einiges auf der Erde ganz anders abgespielt.
MUSIK: Howling moon 0‘15
GERÄUSCH: Erdbeben
ZITATOR
Der Geburtshelfer - oder: Das herausgerissene Kind der Erde
SPRECHER
Er ist ein Riese. Mit seinem Durchmesser von fast dreieinhalb Tausend Kilometern misst er mehr als ein Viertel des Erddurchmessers.
SPRECHERIN
Und dieses Verhältnis „Mond - Erde“ ist ein Superlativ in unserem Sonnensystem. Kein anderer Planet dort hat einen größeren Begleiter - im Verhältnis zu seiner eigenen Größe - sieht man mal von „Zwergplaneten“ wie Pluto und seinem Mond Charon ([ˈkaːrɔn] [ˈçaːrɔn] [çˈaːʁɔn]) ab.
SPRECHER
Die Erde hat, wie der Astrophysiker Harald Lesch gerne sagt, also einen Mond, der ihm Dienstgrad-mäßig gar nicht zusteht. Doch wie kommt das?
MUSIK: Apollo 0‘40
GERÄUSCH: Baustelle
SPRECHERIN
Dieses Rätsel hat die Astronomen lange Zeit beschäftigt. Und ein wichtiges „Puzzleteil“, um es zu lösen, sind Gesteinsproben vom Mond.
SPRECHER
Im Rahmen der Apollo-Missionen wurde dieses Gestein mit Hämmern, Bohrern, Schaufeln, Rechen und Zangen eingesammelt, in Tüten gesteckt und zur Erde gebracht. - Und die Analyse dieses Materials hatte es in sich:
01-O-TON Lesch Analyse
„Die Analyse des Mondgesteins, immerhin 400 Kilogramm, ergibt ganz eindeutig: Das Mondgestein ist so wie das Erdmantel-Gestein, nur ohne flüchtige Elemente. Das heißt, der Mond ist in seiner Zusammensetzung der Erde unheimlich ähnlich. Aber was fehlt, sind die Elemente, die bei einem starken Einschlag verschwinden, weil es heiß wird.“
SPRECHERIN
Erklären lässt sich das eigentlich nur durch das bereits eingangs geschilderte „Kollisions-Szenario“: ein anderer Planet, der rund 20 % der Erdmasse hatte, muss mit der Urerde kollidiert sein:
02-O-TON Lesch Kollisionsszenario
„Und der musste deswegen so schwer sein, wenn man das betrachtet, der Mond ist ja ein Körper, der außerhalb der Erde ist und ein Einschlag, der zu schwach ist, da fällt das Material einfach wieder auf die Erde runter. Es muss also genügend Bewegungsenergie drin sein, dass das Zeug so weit raus geschleudert wird, dass es nicht wieder auf die Erde zurückfällt. Daher die große Masse. Dieser Einschlag durfte, aber nicht so gedacht, nicht so gewesen sein, also irgendwie zentral volles Rohr sozusagen, sondern der muss streifend gewesen sein. Und dann bildet sich in einem Abstand von 60.000 Kilometer, also zehn Erdradien, bildet sich ein Gesteins-Ring - und innerhalb von wenigen Monaten, es gibt verschiedene Computersimulationen. Die einen sagen innerhalb von wenigen Monaten, die anderen sagen innerhalb von wenigen Jahren, ist aber angesichts der Tiefe der Zeit, in die wir da hineinblicken, auch wurscht, bildet sich der Mond.“
MUSIK: Earthquake 0‘42
SPRECHER
Eben aus jenem Material, das durch den heftigen Streifschuss vor allem aus der Erdkruste gelöst, stark erhitzt und in eine Erdumlaufbahn geschleudert wurde - um sich dort zusammenzuballen und zu einem Begleiter der Erde zu formen.
SPRECHERIN
Der Mond ist also vermutlich so etwas wie ein „herausgerissenes Kind“ der Erde. - Kein Begleiter, den die Erde irgendwie aus dem Weltall „eingefangen“ hat, oder der sich wie ein „Wassertropfen“ von der Urerde abgespalten hat - oder was sonst noch an möglichen Theorien kursierte.
SPRECHER
Und dieses Kind entfaltet zu seiner Mutter eine wechselvolle Beziehung: Mond und Erde ziehen sich gegenseitig regelrecht an - ganz ohne Magie:
03-O-TON Lesch Gravitation
„D.h. das Erde-Mondsystem beeinflusst sich gegenseitig, und zwar exakt in der Art und Weise, dass die Erde den Mond so anzieht, wie der Mond die Erde anzieht. Actio gleich Reactio. Gute alte Newtonsche Physik. Wir brauchen hier keinen Einstein. Wir brauchen gar nix. Wir haben zwei Massen, die sich gegenseitig beeinflussen. Und der Mond heute im mittleren Abstand von 400.000 km beeinflusst über seine Masse die Massenbewegungen auf der Erde, in der Erde, und die Massebewegung der Erde selbst. Das mal grundsätzlich.“
SPRECHERIN
Und dieser Gravitation, also Schwerkraftwirkung, verdanken wir dann Phänomene wie „Ebbe und Flut“ -
SPRECHER
- und eine Art „Knetmaschineneffekt“:
04-O-TON Lesch Knetmaschine
4:30 „Es gibt also tatsächlich zwei Wasserhügel, und die drehen sich um die Erde und zwar deshalb, weil die Erde sich unter ihnen weg dreht. Und das gleiche, was fürs Wasser gilt, gilt auch fürs Gestein. Während man es beim Wasser schön sehen kann - man stellt sich einfach in die Nordsee. Wartet sechs Stunden, und wenn man eben noch im Trockenen stand, wird man dann je nach dem wie weit man ins Watt hinausgelaufen ist, wird einem das Wasser bis zum Hals stehen. Ich kann nur warnen davor. Das Wasser kommt extrem schnell. Und das gleiche gilt also auch fürs Gestein. Das Gestein wird im Mittel um 30 cm angehoben. Und zwar überall auf der Welt. Das ist praktisch so eine ganz große Knetmaschine, die dadurch entsteht, dass die Erde sich am Mond vorbei dreht - und der Mond sich aber gleichzeitig noch einmal im Monat exakt einmal um den Mond herumdreht.“ 5:25
SPRECHERIN
Diese Effekte haben sich im Laufe der Zeit allerdings stark verändert: Der Mond geht nämlich langsam aber sicher auf Distanz zu seiner Mutter, strebt jedes Jahr um ca. eine Daumenlänge, etwa 3,8 Zentimeter von ihr weg.
GERÄUSCH: Meer
SPRECHER
Was andererseits bedeutet: Gerade in seiner Frühzeit vor Milliarden von Jahren war der Mond der Erde erstaunlich nahe – und die Gezeitenkräfte unglaublich heftig. - Ulrich Köhler, Planetengeologe am Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt:
05-O-TON Köhler Leben
“Und da ist ein interessanter Aspekt zu betrachten: in der Zeit hat sich das Leben auf der Erde entwickelt, also vor etwa dreieinhalb Milliarden Jahre. Etwas mehr vermutlich. Und das heißt der Tidenhub war sehr viel stärker. Und wenn man eben davon ausgeht, dass das Meer auf der Erde sich die Mineralstoffe geholt hat durch eben die Gezeiten an der Küste, die immer wieder die Gesteine verwittert haben. Und das gelöste Material dann im Meerwasser - das Meersalz ist das einfachste Beispiel - dass das sehr gute Voraussetzungen geschaffen hat, dass das Leben im Ozean entstanden ist.“
SPRECHERIN
Hinzu kommt ein weiterer Effekt: Die Erde wird durch den Mond regelrecht ausgebremst. Sprich: ohne Mond würde sich die Erde wesentlich schneller um die eigene Achse drehen - nicht in 24 Stunden wie heute - sondern eher in 9 bis 10 Stunden.
GERÄUSCH: Wind
SPRECHER
Mit drastischen Folgen auch für das Leben auf der Erde. - Harald Lesch:
06-O-TON Lesch Flache Bewohner
„Was hat das zu bedeuten – nun, wenn die Erde sich wesentlich schneller drehen würde, dann hätten wir sehr viel schnellere Strömungen in der Hochatmosphäre. Sogenannte schnelle Jetstreams. Die wären nicht 300, 400 km schnell, die wären 800, 900 km schnell. Und diese schnellen Strömungen übersetzen sich auf die tiefere Atmosphäre. Wir hätten hier Windgeschwindigkeiten zwischen 300 und 400 km - auf dem Boden! Wenn es also Lebewesen gäbe - dann wären die in jeder Hinsicht sehr flach. Und da ist der Zusammenhang: Also ohne den Mond würde es sicherlich keine aufrecht gehenden Homo sapiens geben. Wahrscheinlich nur Scholle, Scholle flach. Es hätte sich sicher auch Leben entwickelt, weiß ich nicht, - aber es wäre ganz anders geworden. In diesem Sinne hat der Mond für uns eine überragende Bedeutung.“
MUSIK: It will be fine (reduced) 0‘28
SPRECHERIN
Der Mond wurde aber nicht nur zum Geburtshelfer für das Leben auf der Erde - er hat auch geholfen, das Leben auf der Erde bis heute zu bewahren:
SPRECHER
Wie die Ausleger bei einem Segelschiff stabilisiert er mit seiner relativ großen Masse nämlich auch die Neigung der Erdachse - Ulrich Köhler:
07-O-TON Köhler Der Stabilisator
„Er sorgt mit seiner Bahn um die Erde dafür, dass die Erdachse relativ stabil im Raum orientiert ist. D.h. die Energieeinstrahlung der Sonne folgt einem klaren Muster, seit vielen Milliarden Jahren und verändert sich kaum. Und dadurch haben wir relativ stabile Bedingungen, die das frühe Leben sicherlich geschätzt hat. Und das macht natürlich einen großen Unterschied aus, wann wir Eiszeiten haben, wann wir Warmzeiten haben, wie das, was es sich auf der Erde verteilt und all diese Dinge. Also der Mond – ein schöner kleine Stabilisator für das Leben auf der Erde. Und das ist eine ganz wichtige Funktion.“
MUSIK: The great gig in the sky 0‘21
ZITATOR
Der Mann im Mond - oder: The Dark side of the Moon
SPRECHER
Erste, relativ genaue Mondkarten zeichnet u.a. der Italiener Giovanni Battista Riccioli - Mitte des 17. Jahrhunderts. Durch sein Teleskop erkennt er hellere und dunklere Bereiche, die er als “Terrae” und “Maria” bezeichnet, also als “Länder” und “Meere” - wohl in der Annahme, dass es tatsächlich Wasser und Ozeane auf dem Mond geben könnte.
SPRECHERIN
Heute sind wir schlauer: bei diesen angeblichen „Mond-Meeren“ handelt es sich um dunkle Tiefebenen, gerahmt von Gebirgszügen. Also um große, extrem flache Beckenstrukturen, mit weiten Ebenen aus erstarrter Lava. Staubtrocken. Von Wasser erstmal keine Spur.
MUSIK: Go through the cold (reduced) 0‘42
SPRECHER
Diese Tiefebenen formen auch das typische Mondgesicht - bzw. den „Mann im Mond“ - der in anderen Kulturen schon mal als „Krokodil im Mond“, als „Mondhase“ - oder auch als „Frau im Mond“ gesehen wird, die Brennholz auf dem Rücken trägt.
SPRECHERIN
Doch wie immer man diese Krater auch interpretiert. Eines ist seltsam: Warum schauen wir von der Erde aus eigentlich immer in das gleiche „Mondgesicht“? Warum verschwindet es nicht, oder zeigt sich mal von der Seite?
SPRECHER
Die Antwort lautet: „gebundene Rotation“. Die Gezeitenkräfte haben den Mond in seiner Rotation völlig eingebremst. Der dreht sich dadurch exakt einmal um seine eigene Achse, wenn er sich exakt einmal um die Erde dreht. Deshalb sehen wir immer die gleiche Seite des Mondes, seine „Vorderseite“.
MUSIK: Nocturnal research red 0‘41
SPRECHERIN
Was jede Menge Spekulationen über die von uns abgewandte und dadurch irgendwie auch geheimnisvolle Rückseite hervorrief. Die daher auch gerne mal als „The Dark Side of the Moon“ bezeichnet wurde - was natürlich Unsinn ist. Denn es mag dort vielleicht noch so manches verborgen sein - dunkel ist es dort aber nicht immer. Sprich: die „dunkle Seite“ des Mondes ist regelmäßig auch seine „helle Seite.“ Es gibt also auch auf dem Mond Tag und Nacht.
SPRECHER
Doch die Menschheit musste ganz schön lange warten, bis das Geheimnis um die Rückseite gelüftet wurde.
08-O-TON Köhler Abgewandte Seite
„Ja, da muss man sich bis in die 1960er-Jahre zurückversetzen und natürlich auch noch viel, viel früher. Das war schlichtweg ein Rätsel, wie die Mondrückseite aussehen würde, was würden wir dort erwarten? Und es war tatsächlich eine sowjetische Raumsonde, die Ende der 1950er-Jahre zum ersten Mal über die Mond Rückseite geflogen ist und Bilder zur Erde dann übertragen hat - und gezeigt hat, dass es dort etwas anders aussieht als auf der Mondvorderseite. Und seither wird es natürlich wissenschaftlich diskutiert, warum das so ist. Und eine richtige Antwort muss man ehrlicherweise sagen haben wir bis heute nicht.“
SPRECHER
Kleine grüne Männchen waren auf den Bildern zwar nicht zu sehen, auch keine großen. Doch die Forscher staunten nicht schlecht über die Geografie der Rückseite: Im Gegensatz zur Vorderseite gibt es dort fast keine dunklen Tiefebenen, sondern vor allem kraterreiche “Hochländer.”
SPRECHERIN
Doch wie ist das zu erklären? - Entstanden sind diese Becken auf der Vorderseite vermutlich, als Meteoriten die noch dünne Kruste des Mondes durchschlagen haben, Magma an die Oberfläche drang und die Krater flutete.
SPRECHER
Die Kruste auf der Rückseite ist allerdings deutlich dicker als die auf der Vorderseite: fast doppelt so dick. Und damit vermutlich zu dick, um dem Magma den Weg nach oben frei zu geben.
SPRECHERIN
Warum die Kruste auf der Rückseite so viel dicker ist - dieses Rätsel hat man bislang aber nicht wirklich gelöst.
MUSIK: The universe 0‘28
SPRECHER
Ansonsten steht der Mond im Vergleich zur Mutter Erde recht schutzlos da: Er hat kein Magnetfeld, das ihn vor geladenen Teilchen schützt, die von der Sonne kommen. Und: er hat keine Atmosphäre. Folglich gibt es auch keine Wolken, kein Wasser an der Oberfläche, kein Leben - und es fehlt ein Schutzschild gegen Beschüsse aller Art:
09-O-TON Köhler Schutzschild
„Na ja, das ist ein interessanter Aspekt. Denn, wenn der Mond keine Atmosphäre hat, wird er praktisch von den kleinsten Mikrometer großen Staubteilchen, die noch so im Sonnensystem herumschwirren, praktisch unmittelbar getroffen. Und das sind hohe Geschwindigkeiten, mit denen diese kleinen Teilchen auf die Mondoberfläche prasseln. Die Verglühen bei uns allesamt in der Erdatmosphäre. Wenn es größere millimetergroße Teilchen sind, dann sehen wir das als Sternschnuppen. Und ganz große Körper - kommt man vielleicht mal ein kleiner Meteorit auf der Erde an. Und so was. Aber beim Mond kommt das alles ungebremst und trifft auf die Gesteine der Mondoberfläche. Und pulverisiert die nach und nach, im Laufe der Jahrmillionen und in dem Fall sogar Jahrmilliarden.“
SPRECHERIN
Der Mondboden besteht dadurch aus einem ganz besonderen Staub, dem sogenannten „Regolith“, auf dem die Astronauten der Apollo-Missionen entsprechend scharfkantige Fußabdrücke hinterließen, wie in Zementpulver.
SPRECHER
Die Tatsache, dass dem Mond die Atmosphäre fehlt, hat aber noch weitere Auswirkungen: Sie macht ihn zu einem Himmelskörper der brutalen Extreme:
10-O-TON Köhler Extreme
„Dadurch, dass sie keine Atmosphäre hat, ist es in der Sonne richtig sauheiß, muss man so sagen. Das heißt, Astronauten brauchen entsprechende Kühlsysteme, und die Instrumente müssen vor zu hohen Temperaturen geschützt werden. Und sobald es allerdings Nacht wird und die Nacht dauert ja eben 14 Tage, da lässt die Temperatur sehr schnell nach. Und da geht es dann weit unter minus 100 Grad Celsius runter, weil eben auch wiederum die Wärme des Tages nicht durch eine Atmosphäre in die Nacht mitgenommen werden kann.“
SPRECHERIN
Eine riesige Herausforderung also für Habitate aller Art, die einmal auf dem Mond entstehen könnten: eine perfekte Isolierung wäre unerlässlich, um in der Eiseskälte nicht zu erfrieren. Vor allem weil die Nächte auf dem Mond eben endlose zwei Wochen dauern.
MUSIK: Futuristic workflow (red) 0‘32
SPRECHER
Für Aufregung sorgte schließlich die Entdeckung, dass dieser kalte, tote Brocken, der uns da begleitet, so staubtrocken wie immer angenommen, offenbar gar nicht ist. Eine Sonde lieferte tatsächlich Hinweise auf Wasser - u.a. in den Kratern am Südpol des Mondes, in die nie ein Lichtstrahl vordringt.
11-O-TON Köhler Wasser
„Und dort vermutet man Eis, also Wassereis. Und das hat man eigentlich spektral, mit Raumsonden in der Umlaufbahn schon nachgewiesen. Und da möchte man hin, um dieses Wassereis nutzen zu können. Zum einen eben für eine länger besiedelte Station, die eben genutzt wird für Wissenschaft und für Materialforschung. Und all diese Dinge, die man eben jetzt 50 Jahre nach Apollo machen möchte. Und zum anderen, um Treibstoff zu gewinnen, weil Wasser Eis lässt sich spalten in Wasserstoff und Sauerstoff. Und dann haben sie einen veritablen Raketentreibstoff. Und mit dem könnten sie eine Rakete betanken, die vom Mond dann zum Mars fliegt, weil sie dann nur ein Sechstel der Anziehungskraft beim Start überwinden müssen, um diese Rakete auf Spur zu bringen.“
SPRECHERIN
Und die Mengen, die dort vermutet werden, sind durchaus veritabel: ein paar Füllungen des Bodensees könnten es schon sein.
MUSIK: Mystic 1 0‘13
ZITATOR
Mond-Mythen - oder: Einfach nur ein schöner Brocken
SPRECHERIN
Der Mond hat für uns eine überragende Bedeutung. So viel steht fest, auch wenn wir ihm noch lange nicht alle Geheimnisse entlockt haben.
SPRECHER
Und zu den zahlreichen ungelösten Fragen, die der Mond uns immer noch aufgibt, gesellen sich dann auch noch eine ganze Reihe „Legenden und Mythen“ um die angebliche „Macht des Mondes“.
MUSIK: Well and warm 1‘10
SPRECHERIN
Hartnäckige Annahmen, dass der Mond unser Leben beeinflusst - auch jenseits aller Schwerkraft-Effekte wie Ebbe und Flut, und der Tatsache, dass es je nach Neu- oder Vollmond nachts mal heller und mal dunkler ist.
SPRECHER
Ratgeber bieten Hinweise an, wann man sich am besten operieren lässt, die Haare schneidet, am leichtesten abnimmt, im Garten arbeitet oder Bäume fällt.
SPRECHERIN
Manche Zeitgenossen sind auch fest davon überzeugt, dass sowohl Geburtenraten als auch Verkehrsunfälle vom Mond beeinflusst werden.
SPRECHER
In der Regel lassen sich derartige Zusammenhänge weder statistisch erhärten - noch ist klar, welche Kräfte dabei eigentlich am wirken sein sollen. Für Forschende ist dieser „Mondglaube“ daher nicht nur kaum nachvollziehbar - sie staunen auch, wie wenig derartige Ratschläge kritisch hinterfragt werden. - Der Astrophysiker Harald Lesch:
12-O-TON Lesch Aufklärung
„Alle diese Diskussion über kosmische Energien, ob das nun der Mond ist oder die Sterne oder was auch immer, haben nicht einen einzigen statistischen Test bis heute bestanden. Und wenn ich mir überlege, dass wir im Allgemeinen beim Kauf zum Beispiel eines Staubsaugers, eines Bügeleisens, eines Autos, Qualitätsüberprüfungen vornehmen - und danach fragen: Ja, haben wir denn - gibt es da TÜV-Untersuchungen? Hat die Stiftung Warentest dazu was zu sagen? Wir aber auf der anderen Seite bei solchen Weltbildern offenbar völlig undifferenziert uns einfach irgendwas erzählen lassen und sagen: Ja, Mensch, meine Oma, die hat ja damals auch schon immer gesagt, also der Mond, der Mond. Dann muss ich sagen, dann sind wir doch noch einen weiten Weg entfernt von dem, was Kant schreibt, was Aufklärung ist.“ 19:45
SPRECHERIN
Auch der zwar gesicherte, aber an sich schon eher kleine Schwerkrafteffekt ist eben nicht überall zu beobachten. Er führt nur deshalb zu Ebbe und Flut, weil die Ozeane riesig sind.
SPRECHER
Bei Seen ist bereits kein Effekt mehr zu erkennen. Geschweige denn bei uns Menschen selbst: die Gravitation und damit das Gewicht eines Menschen ändert sich durch den Mond zwischen Voll- und Neumond angeblich gerade mal um 0,000035 %.
SPRECHERIN
Mit anderen Worten: Die Wirkung ist so gut wie nicht messbar:
13-O-TON Lesch winzig
„Also man muss sich darüber im Klaren sein. Die Gravitationskraft ist ein Produkt. Und zwar von zwei Massen, die miteinander in Wechselwirkung treten. Also nehmen wir mal mich - 76 kg. Das ist wenig. Also ich bin jetzt nicht unter dem Einfluss des Mondes - ich bestehe ja wie jeder Mensch aus 70, 80 % Wasser. Das Wasser in mir wird durch die Schwerkraft des Mondes nicht besonders angezogen. Weil meine kleine Masse multipliziert mit der großen Masse des Mondes – meine kleine Masse ist das Problem - wenn ich so schwer wäre wie die Erde. Dann würde ich den Mond spüren. Aber solange ich nur so ein winziges Teilchen bin. Und das wird natürlich noch schlimmer, wenn man auf die molekulare Ebene runtergeht, dann bleibt gar nichts mehr übrig.“
MUSIK: Hopeful view 0‘49
SPRECHER
Unterm Strich fällt das Fazit eines Astrophysikers in Sachen Mondmystik daher erwartungsgemäß nüchtern aus:
14-O-TON Lesch - Schöner Brocken
„Das Ding ist 400.000 Kilometer von uns entfernt. Erstmal möchte ich mal wissen, ob irgendjemand sich vorstellen kann wie viel 400.000 Kilometer sind, es ist lange. Ich habe einen amerikanischen Apollo-Astronauten mal gefragt, hat gesagt: Es sind dreieinhalb Tage, du fliegst dreieinhalb Tage durch absolut nichts. Und bist froh wenn du dann mal wieder was siehst. Es ist wirklich lang. Es ist wirklich weit weg. Dieses Ding macht nichts anderes, als einfach nur schwer zu sein. Der Mond ist nicht geladen, also elektrisch irgendwie, der hat keinen Magnetfeld, nix. Da ist gor nix. Das ist einfach nur ein schöner Gesteinsbrocken. Gott sei Dank, dass wir ihn haben. Aber sonst ist da nichts dran.“
Die Spekulation auf den Finanzmärkten hat enorme Ausmaße angenommen. Die Ursachen dafür gehen zurück bis in die 1970er Jahre, wie die Politökonomin Susan Strange schon vor mehr als drei Jahrzehnten gezeigt hat. Seitdem gewinnen die globalen Märkte immer mehr an Macht gegenüber den Staaten. Von Maike Brzoska (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Jennifer Güzel, Florian Schwarz
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Kai Koddenbrock, Politikwissenschaftler
Randall Germain, Professor an der kanadischen Carleton University
Patricia Owens, Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Oxford
Hans-Jürgen Bieling, Professor an der Universität Tübingen
Stephan Schulmeister, österreichischer Wirtschaftsforscher und Publizist
Literaturtipps:
Susan Strange: Casino Capitalism, Manchester University Press, 1998. Detailreiches und verständliches Buch über die Entfesselung der Finanzmärkte.
Susan Strange: Retreat of the State. The Diffusion of Power in the World Economy, Cambridge University Press, 1996. Wer bestimmt die Spielregeln in der Weltökonomie? Strange argumentiert, dass nicht allein Staaten die Regeln im internationalen Raum bestimmen.
Randall Germain (eds.): Susan Strange and the Future of Global Political Economy. Power, Control and Transformation, 2016. Enthält Beiträge verschiedener Autoren, die mit Stranges Begriffen die Finanzkrise analysieren und die aktuellen Trends der Internationalen Politischen Ökonomie beleuchten.
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Die schleimigen Beläge an Duschvorhängen oder auf unseren Zähnen bestehen aus unzähligen Mikroorganismen. Es sind komplexe Lebensgemeinschaften, Städten nicht unähnlich. Die Bakterien bauen Schutzwälle und legen Flüsse im Inneren an. So können sie unserem Immunsystem und sogar Antibiotika trotzen. Von Maike Brzoska (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Katja Amberger
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Daniela Remus, Matthias Eggert
Im Interview:
Christian Hallmann, Professor an der Universität Potsdam und am Deutschen Geoforschungszentrum
Regine Hengge, Mikrobiologin und Professorin an der Humboldt Universität Berlin
Annette Moter, Ärztin und Epidemiologin und Professorin am Biofilm-Zentrum der Charité Berlin
Literaturtipp:
Hans-Curt Flemming et al: Biofilms: an emergent form of bacterial life. Nature Reviews Microbiology. 2016. Umfassender Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Thema Biofilm.
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Wenn der Flusspegel steigt, können Polder die Wassermassen aufnehmen. Doch es gibt zu wenige - stattdessen zwängen Deiche die Flüsse ein. Mit mobilen Wänden versuchen Städte sich vor Hochwasser zu schützen. Aber auch sie können Überschwemmungs- und Versickerungsflächen vorsehen, damit die Häuser trocken bleiben. Von Renate Ell
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Ell
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprach: Rahel Comtesse
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Hellmuth Nordwig
Im Interview:
Dr. Albert Göttle, früherer Präsident des Bayerischen Landesamtes für Umwelt und des Bayerischen Landesamtes für Wasserwirtschaft
Prof. Dr.-Ing. Arnd Hartlieb, Versuchsanstalt für Wasserbau und Wasserwirtschaft, Technische Universität München
Prof. Dr.-Ing. i.R. Wolfgang Günthert, Forschungszentrum RISK, Universität der Bundeswehr München, Neubiberg
Reinhard Riku Vogt, HochwasserKompetenz-Centrum e.V.
Linktipps:
IQ – Wissenschaft und Forschung Vor der Sturzflut
Bayerisches Landesamt für Umwelt: Hochwasserschäden vorbeugen
HIER
TU München, Lehrstuhl für Wasserbau und Wasserwirtschaft
HIER
Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e.V
HIER
HochwasserKompetenzCentrum e.V.: Hochwasser-Pass für Immobilien
HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Das Wasser steigt. Überwindet die Ufer, kriecht die Straße entlang, erreicht das Grundstück. Jetzt bleibt nicht mehr viel Zeit, um zu handeln – schon dringen die ersten schlammigen Rinnsale durch die Kellerfenster ein, dann immer mehr. Und die Pegel steigen weiter!
ATMO NOCHMAL HOCH
Musik 2: Affected cities – 41 Sek
ERZÄHLERIN
Das könnte durch den Klimawandel in Zukunft öfter Realität werden, immer mehr Menschen treffen: Ein Tiefdruckgebiet bleibt sozusagen hängen über einer Region, und lässt mit wochenlangem Regen die Flüsse in einem großen Gebiet über die Ufer treten. Oder, ebenfalls in den nächsten Jahrzehnten häufiger zu befürchten: Extremwetterlagen mit so starkem Regen, dass Orte innnerhalb kurzer Zeit überschwemmt werden. Sturzfluten können Straßen in reißende Flüsse verwandeln. Aber zumindest wenn es bei Sachschäden bleibt, zeigt die Erfahrung:
(1. ZUSP.) ALBERT GÖTTLE
Der Eindruck von einem Hochwasser verbleibt nicht allzu lange, nach wenigen Jahren sind die Folgen mehr oder weniger beseitigt, und die Menschen haben es wieder aus dem Hinterkopf bekommen.
ERZÄHLERIN
Weiß Albert Göttle – Jahrzehnte lang in Bayern mit Hochwasser befasst, an der Technischen Universität München, im Landesamt für Wasserwirtschaft und später im Landesamt für Umwelt. Und deshalb gibt es einen idealen Zeitpunkt, den Hochwasserschutz zu verbessern, das zeigte sich nach dem Pfingst¬hochwasser 1999 im Allgäu.
(2. ZUSP.) ALBERT GÖTTLE
Diese damalige Situation war so brisant, man hat Krankenhäuser evakuieren müssen, man hat Gebäude, Industrieanlagen, Altersheime hat man räumen müssen, ich war in diesem Krisenstab und habe das alles hautnah erlebt, und anschließend war der Eindruck groß genug, dass es auch eine hohe Bereitschaft in allen Ebenen gegeben hat, und die Phasen, die wir anschließend erlebt haben, in anderen Standorten, die sind wesentlich schwieriger gewesen.
ERZÄHLERIN
Deshalb gelang es nur im Illertal, innerhalb weniger Jahre einen Polder zu bauen. Also eine große Ausweichfläche für Hochwasser in einer Flussaue. Das Wasser kann in die Breite gehen, der Pegel sinkt.
(3. ZUSP.) ALBERT GÖTTLE
Ein Problem bei den Flutpoldern: Man hilft nicht dem, der den Flutpolder auf seinem Gebiet bauen lässt, man hilft dem Unterlieger.
ERZÄHLERIN
Dafür müssen Landwirte ihre Flächen zur Verfügung stellen; nach einer Überschwemmung werden sie natürlich für eine verlorene Ernte entschädigt. Außerdem braucht man einige technische Einrichtungen, um das Wasser im richtigen Moment in den Polder zu leiten. Die Solidarität der Menschen im Illertal wurde allerdings schnell belohnt.
(4. ZUSP.) ALBERT GÖTTLE
2005 wo man es wirklich brauchen konnte, wurde die Stadt Kempten durch die Nutzung dieses Flutpolders, das Abschöpfen der Hochwasserwelle, dann geschont.
Musik 3: Black Ostsee (c) – 48 Sek
ERZÄHLERIN
Der Polder an der Iller war einer von vielen, die nach dem Hochwasser 1999 ins bayerischen „Aktionsprogramm 2020“ und später „2020 plus“ aufgenommen wurden , die meisten an der Donau. Dort dauerte es 20 Jahre, bis der erste Polder fertig war: bei Riedensheim, rund 30 Flusskilometer oberhalb von Ingolstadt. Alle anderen sind entweder im Bau oder sogar noch in der Planung. Vielerorts wehren sich Bürgerinitiativen gegen die Polder.
Da heißt es dann auch manchmal: Warum hier so viel Geld ausgeben, warum unsere Wiesen und Äcker mit schlammigem Wasser überfluten lassen, „das bringt nur ein paar Zentimeter in Passau“. Aber:
(5. ZUSP.) ARND HARTLIEB
Die paar Zentimeter können entscheidend sein.
ERZÄHLERIN
Sagt Professor Arnd Hartlieb von der Versuchsanstalt für Wasserbau und Wasserwirtschaft der Technischen Universität München.
(6. ZUSP.) ARND HARTLIEB
Weil in den unterliegenden Städten wird natürlich dann der Hochwasserschutz auch so ausgelegt, dass er zusammenspielt mit den Flutpoldern.
ERZÄHLERIN
Etwa die Höhe von Deichen und Mauern am Ufer. Diesem geplanten Zusammenspiel liegen penible Berechnungen zugrunde, und natürlich Hochwasser-Daten über viele Jahrzehnte, teils sogar über hunderte Jahre. Diese Daten liefern die so genannte Bemessungsgrundlage: in Bayern wird der Schutz auf ein hundertjährliches Hochwasser ausgelegt.
(7. ZUSP.) ARND HARTLIEB
Das heißt, es tritt in jedem Jahr mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu 100 auf. Also: Sie haben in jedem Jahr die gleiche Wahrscheinlichkeit, dass es wieder auftritt. Selbst wenn jetzt ein Riesenereignis war, heißt es nicht jetzt haben wir die nächsten Jahrzehnte Ruhe; sondern das kann im nächsten Jahr wieder passieren.
Musik 4: Black Ostsee – siehe oben – 25 Sek
ERZÄHLERIN
Die Versuchsanstalt der TU München, in der Arnd Hartlieb arbeitet, liegt idyllisch in der Nähe des Walchensees. Dort kann der Forscher mit Experimenten herausfinden, wie ein Polder oder ein Deich gestaltet sein muss, um seine Aufgabe optimal zu erfüllen. Computermodelle helfen ihm dabei. Aber in vielen Fällen genügt das nicht.
(8. ZUSP.) ARND HARTLIEB
Dann bauen wir die Landschaft nach, teilweise vereinfacht, teilweise in Ausschnitten im Freigelände, teilweise wirklich im Eins-zu-Eins-Maßstab, weil es auch durchaus Probleme gibt, die man eben nicht verkleinern kann, teilweise eben auch verkleinert, aber so, dass es nicht zu klein wird, dass wir diese Übertragung immer noch gegeben haben von dem Modellergebnissen dann auf die Realität.
ERZÄHLERIN
Auf diese Weise zeigt sich nicht nur, welche Fläche ein Polder haben muss, um die Hochwasserwelle flussabwärts um ein bestimmtes Maß zu senken. Sondern auch, wie das so genannte Einlassbauwerk gebaut und gesteuert werden muss. Das ist eine Art Tor in dem Deich, der sich zwischen Fluss und Polderfläche erstreckt.
(9. ZUSP.) ARND HARTLIEB
Das ist häufig auch eine Möglichkeit, um Kosten einzusparen, wir können ja da auch zum Beispiel dann mal eine Planung abspecken, weil man dann in den Modellversuchen merkt: So groß muss es gar nicht werden oder so kompliziert, weil es auch anders funktioniert. Wenn das nicht funktioniert, das Einfache, dann hat man den Nachweis: Wir brauchen die teurere, komplexere Lösung, damit es funktioniert.
ERZÄHLERIN
Auch der richtige Zeitpunkt, das Tor zu öffnen, den Polder zu fluten, ist Teil der Modelle. Neben dem Wasserstand im Fluss kann dabei die Wettervorhersagen eine Rolle spielen. Keinesfalls darf ein Polder zu früh geflutet werden – weil seine Wirkung verpufft, wenn die Spitze der Hochwasserwelle erst danach den Fluss entlang rollt. Und weil man auch nicht unnötig die Wiesen oder Äcker im Polder überfluten will.
(10. ZUSP.) ARND HARTLIEB
Im einen Fall kann es sinnvoll sein, schon zu fluten, weil man jetzt weiß: Bei dem Wasserstand und im Abfluss habe ich annähernd schon die Spitze erreicht, und ich muss schon entlasten. Aber wenn ich weiß, es kommt noch mehr, dann würde ich das Bauwerk wahrscheinlich eher erst noch weniger aufmachen.
Musik 5: Conspiracy – 1:14 Min
ERZÄHLERIN
Aus der Wasserwirtschaft kam vor einigen Jahren die Idee einer simplen und preiswerten Alternative zu einem aufwendigen Stahl-Tor zwischen Deich und Polder, die Arnd Hartlieb auch auf die Probe gestellt hat. Auf einer längeren Strecke wird ein Betonsockel gebaut, der etwas niedriger ist als der Deich. Darauf liegt ein Aufsatz aus Sand und Kies, der auf der gleichen Höhe endet wie der Deich. Damit hat der Deich eine geplante Schwachstelle – Fachleute nennen sie „erodierbare Überlaufstrecke“. Ein Film der Modell-Experimente zeigt, wie das steigende Wasser erst langsam in diesen Aufsatz einsickert – und dann plötzlich Wasser, Sand und Kies in einem Schwung den Betonsockel hinab in den Polder rauschen. Dadurch sinkt der Wasserstand im Fluss sehr schnell. Eine solche Konstruktion wird an der Donau bei Straubing gebaut. Entscheidend ist die passende Kombination von Sand und Kies, die Arndt Hartlieb in Experimenten ermittelt hat: Sie soll halten, solange das Wasser noch niedrig steht.
(11. ZUSP.) ARND HARTLIEB
Ich kann dann eigentlich sehr gut vorhersagen, wann dieser große Abfluss dann auf 90 Meter Breite zum Beispiel in diesen Flutpolder fließt. Wenn ich das mit einem gesteuerten Einlass-Bauwerk haben wollte, dann müsste das sehr, sehr groß sein und sehr, sehr breit und sehr, sehr teuer.
ERZÄHLERIN
Polder werden in Bayern vor allem an der Donau gebaut, einer am Main und demnächst auch einer am Inn. Dort, das haben Experimente mit einem nachgebauten Flussbett gezeigt, braucht man ein vergleichsweise kleines Überflutungsgebiet, weil man im Fluss selbst Platz schaffen kann für zusätzliches Wasser. Denn vor den Stauwehren der Wasserkraftwerke sammelt sich im Lauf der Zeit an der Sohle des Flussbetts Sand und Geröll aus den Alpen an. Bei Hochwasser werden die Stauwehre geöffnet.
(12. ZUSP.) ARND HARTLIEB
Dann hat man plötzlich viel höhere Geschwindigkeiten in Stauräumen, und sehr, sehr viel Sohlmaterial kommt in Bewegung, wird weiter transportiert, und die Sohle sinkt stark ab. Und damit entsteht eben dann Volumen im Hochwasserfall, da bleibt mehr Wasser im Inn, als wenn ich jetzt von dieser Sohle im normalen Betriebszustand ausgehen würde.
ATMOS Wiese + Fluss
ERZÄHLERIN
An kleineren Flüssen braucht man keine aufwändigen Polder, um das Hochwasser erstmal in die Breite gehen zu lassen und damit die Welle flussabwärts zu kappen. Einfacher ist es, den Fluss bei Hochwasser dort aufzustauen, wo sich das Wasser in Auwiesen verteilen kann. Ein solches Hochwasser-Rückhaltebecken gibt es etwa an der Paar südlich von Augsburg. Dazu wird ein unauffälliges Stauwehr in den Fluss gebaut.
(13. Zusp.) Arnd Hartlieb
Bis zu einem gewissen Hochwasserabfluss fließt einfach das Gewässer weiterhin fröhlich durch die Landschaft, und erst, wenn eben ein bestimmter Abfluss erreicht wird, den die Unterlieger nicht mehr verkraften können, beginnt dann automatisch eine Drosselung, und da entsteht dann eben ein sehr großflächiger See, der allerdings relativ geringe Wassertiefen hat.
Musik 6: Aortic... aus: The Knick - Original Series Soundtrack – 25 Sek
ERZÄHLERIN
Immer wieder wird auch die Renaturierung von Flussauen gefordert, um dem Hochwasser Raum zu verschaffen. Arnd Hartlieb hat die Wirkung solcher Maßnahmen an der Donau untersucht, mithilfe rund 200 Jahre alter Landkarten und einem Computermodell. So konnte er das gleiche Hochwasser einmal durch die historische Landschaft schicken und einmal durch die heutige.
(14. ZUSP.) ARND HARTLIEB
Da kann man dann halt wirklich nachweisen, dass gerade bei diesen großen Hochwasserabflüssen sich gar nicht viel verändert, was Wasserstände und auch Zeitpunkte der Hochwasser Spitze sozusagen angeht, dass aber bei kleineren Hochwasserabflüssen diese Renaturierung schon einen deutlichen Effekt hat und eine Verbesserung bringt.
ERZÄHLERIN
Ist ein Fluss renaturiert, werden Polder also nur bei großen Hochwassern gebraucht – und an vielen Stellen ist auch ein Deich nötig, der Siedlungen und Infrastruktur schützt. In Stadtzentren stehen oft Mauern am Flussufer. Aber deren Höhe sind gestalterische Grenzen gesetzt. Und es gibt Extremsituationen, für die kein Deich, keine Mauer hoch genug sein kann. Etwa wenn im Winter Dauerregen und Schneeschmelze auf einen bereits wassergesättigten Boden treffen. Dann kommt die große Stunde des mobilen Hochwasserschutzes. Der Klassiker: Sandsäcke.
(15. ZUSP.) RIKU REINHARD VOGT
Sandsäcke sind für mich Steinzeit.
ERZÄHLERIN
Sagt Riku Reinhard Vogt vom Hochwasser-Kompetenz-Centrum, einem gemeinnützigen Verein; bis 2014 war er für den Hochwasser-Schutz der Stadt Köln verantwortlich.
(16. ZUSP.) RIKU REINHARD VOGT
Man brauche so viele Leute dafür. Das Ganze ist meistens undicht. Die sind nachher kontaminiert, sie sind nicht wiederverwendbar.
ERZÄHLERIN
Sandsäcke eignen sich, um schnell einen Deich zu flicken, aus dem das Hochwasser Stücke herausgerissen hat. Aber um etwa eine Siedlung zu schützen, auf die das Wasser zuströmt, gibt es bessere Systeme. Zum Beispiel riesige Schläuche. Die Feuerwehr befüllt sie am Einsatzort mit Wasser; sie hat Pumpen, mit denen das sehr schnell geht.
(17. ZUSP.) RIKU REINHARD VOGT
Und hat dann den Hochwasserschutz meistens bis zu einer Höhe von einem Meter, aber es gibt auch Systeme, wo mehrere Schläuche übereinander sind die also auch ohne weiteres drei Meter Höhe schaffen.
ERZÄHLERIN
Viel simpler und deshalb für Privathaushalte geeignet sind L-förmige Elemente, die man in einer Reihe nebeneinander aufstellen kann. Der kurze Schenkel am Boden zeigt in die Richtung, aus der das Hochwasser kommt und wird dann vom steigenden Wasser nach unten gedrückt, so steht die Wand stabil. Schnell aufgebaut ist auch ein Baukastensystem aus Europaletten oder anderen Platten, die mit Stützen aufrecht gestellt werden, plus einer kräftigen Folie.
(18. ZUSP.) RIKU REINHARD VOGT
Die Folie wird dann in den Rasen kurz mit einem Spaten hineingebracht, sodass da die Verbindung da ist, und diese Platten Systeme haben wir zum Beispiel 600 Meter in viereinhalb Stunden aufgebaut. Für 600 Meter braucht man 60.000 Sandsäcke, die hat man nicht in vier Stunden gefüllt, und die sind auch nicht so wirksam.
ERZÄHLERIN
Beliebt in hochwassergefährdeten Gemeinden sind so genannte Dammbalken-Wände, die man sich wie hochkant gestelltes Parkett vorstellen kann. Wobei die einzelnen Balken aus Aluminium bestehen, mit einer Gummidichtung. Damit lassen sich schnell enge Durchlässe schließen oder Mauern erhöhen – vorausgesetzt, man hat vorher entsprechende Halterungen für die Stützen und Wandanschlüsse installiert. Das erfordert also Planung und verursacht Kosten in trockenen Zeiten.
(19. ZUSP.) RIKU REINHARD VOGT
Mobiler Hochwasserschutz ist eine Investition, auch wenn sie sich auf Dauer rechnet. Aber keiner weiß natürlich, wann das nächste Hochwasser ist.
Musik 7: Conspiracy – siehe oben – 29 Sek
ERZÄHLERIN
Riku Reinhard Vogt berät Städte und Gemeinden in ganz Deutschland im Auftrag der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall. Er schaut sich an, wie gut sie auf Hochwasser vorbereitet sind und was sie verbessern können. Wie sieht der Bebauungsplan aus, welche Infrastruktur ist gefährdet? Hat die Gemeinde Alarmpläne und Gefahrenkarten? Wie sieht die Öffentlichkeitsarbeit aus?
(20. ZUSP.) RIKU REINHARD VOGT
Ich schlage immer wieder vor: Warum macht ihr nicht einfach an Laternenpfählen eine Marke für ein Extremhochwasser, so hoch kann es stehen, dann kann kein Mensch jemals sagen, er hat es nicht gewusst. Und jeder sich darauf vorbereiten.
Musik 8: Black Ostsee – siehe oben – 22 Sek
ERZÄHLERIN
In Bayern fördert das Landesamt für Umwelt diese so genannten Hochwasser-Audits. Und das Hochwasser-Kompetenz-Centrum, bietet etwas ähnliches für Privatleute und Firmen an, den Hochwasser-Pass, der auch als Gutachten für eine Elementarschaden-Versicherung anerkannt wird.
ATMO GEWITTER + STARKREGEN
ERZÄHLERIN
Wer sich aber jetzt zurücklehnt und meint, ich wohne weit weg von einem Fluss oder Bach – mich kann es nicht treffen – liegt falsch:
(21. ZUSP.) WOLFGANG GÜNTHERT
Starkregen ist etwas, was kurzzeitig innerhalb von Stunden passiert, ist eine Überflutung direkt vor Ort, und dann kann es jeden Ort treffen.
ATMO Kanalisation
ERZÄHLERIN
Warnt Professor Wolfgang Günthert vom Forschungszentrum RISK der Universität der Bundeswehr München. Weil immer mehr Flächen versiegelt sind, fließt das Wasser auf Straßen oder Feldwegen in die Orte. (ATMO Unterwasser) Und dort erstmal in den Kanal unter der Straße.
(22. ZUSP.) WOLFGANG GÜNTHERT
Man sagt, der Kanal nimmt üblicherweise ein seltenes Ereignis auf, was so alle drei bis fünf Jahre eintritt. Uns bei einem zehnjährigen, 15-jährigen Ereignis fließt es oben aus dem Kanaldeckel raus.
ERZÄHLERIN
Und von dort womöglich in den nächsten Keller. Starkregen werden durch den Klimawandel häufiger, deshalb versuchen einige Städte inzwischen, das Wasser an der Oberfläche in bestimmte Bahnen zu lenken; etwa auf einer Straße in einen Park, wo es versickern kann. Für solche Konzepte gibt es das griffige Schlagwort „Schwammstadt“.
(23. ZUSP.) WOLFGANG GÜNTHERT
Im Baugesetzbuch gibt es schon Vorgaben für die Bauleitplanung, dass Niederschlagswasser möglichst vor Ort wieder versickert werden soll, das steht da ganz klar drin. Auch im Wassergesetz steht es drin. Niederschlags¬wasser soll möglichst versickert werden.
ERZÄHLERIN
Um Schäden zu vermeiden und um das Grundwasser wieder aufzufüllen, das durch einige sehr trockene Jahre stark abgesunken ist. Aber Wolfgang Günthert sagt auch: Die Gemeinden sind nicht allein dafür zuständig, die Habe ihrer Bürgerinnen und Bürger vor Wasser zu schützen.
(24. ZUSP.) WOLFGANG GÜNTERT
Das erste ist, dass man in den Keller geht und schaut: Habe ich unwieder¬bringliche Dinge im Keller und die sofort aus dem Keller entfernen, nach oben bringen. Das zweite ist, im Keller zu schauen: Habe ich eine Rückstau¬sicherung vom Kanal. Wenn ich Starkregen habe, ist der Kanal ja bis zur Straßenoberkante voll, und wenn die Rückstausicherung bei mir im Haus nicht funktioniert, dann flute ich meine eigenen Keller. Und das ist etwas, da bin ich selbst verantwortlich, das wissen viele nicht. Und das dritte ist, was ich auch jedem rate: eine Elementarschadenversicherung zu haben.
MUSIK 9: BLACK OSTSEE – S.O. – 35 SEK
ERZÄHLERIN
Alle sollten sich also Gedanken darüber machen, wie sie sich vor Wasser schützen können. Aber vieles bleibt doch die Aufgabe von Kommunen oder dem Land – vor allem die Genehmigung großer Bauprojekte an Flüssen. Nur Polder, Deiche oder Mauern können Siedlungen, Industrieanlagen und Infrastruktur vor starkem Hochwasser in Flüssen bewahren. Viele dieser Baumaßnahmen wurden in Bayern nach großen Hochwassern geplant, etwa 1999 oder 2013 – und kamen dann ins Stocken. In den letzten Jahren zum Teil aufgrund steigender Baukosten.
(25. ZUSP.) ALBERT GÖTTLE
Und die Bürgerbeteiligung kann sich ein Jahrzehnt oder länger hinziehen,
ERZÄHLERIN
weiß Albert Göttle, der Jahrzehnte lang für Hochwasser-Themen verantwortlich war. In den Debatten geht es etwa um die Befürchtung, dass, wenn ein Polder geöffnet wird, auch die Keller in benachbarten Wohngebieten voll laufen. Und die Grundbesitzer müssen überzeugt und ihre Entschädigung im Überflutungs-Fall geregelt werden. Dafür sind die Wasserwirtschaftsämter zuständig – die aber im Zuge der Entbürokratisierung in Bayern verkleinert oder zusammengelegt wurden. Viele Arbeiten mussten Ingenieurbüros übernehmen. Keine optimale Lösung, findet der Fachmann:
(26. ZUSP.) ALBERT GÖTTLE
Die Ingenieurarbeit, die kann man auslagern. Aber zu wissen, was geplant werden muss, die Moderation zum Beispiel mit den Kommunen, wir haben dies und jenes Konzept: So etwas kann ein Ingenieurbüro bedingt machen. Eine Fachbehörde hat einen ganz anderen Zugang zu den Kommunen, weil sie in vieler Hinsicht – Trinkwasserversorgung, Abwasserbeseitigung und so weiter – Partner der Kommune ist. Und diese Planungsleistung, Vorplanungsleistung, die wurde erschwert, indem man gutes Personal nicht erneuern konnte, wenn sie ausgeschieden sind, oder nicht so erneuern konnte, wie man es gebraucht hätte.
ERZÄHLERIN
Behörden sind auch gefragt, wenn es darum geht, gesetzliche Regelungen umzusetzen.
(27. ZUSP.) ALBERT GÖTTLE
Durch eine EU-Vorschrift ist es auch Pflicht, dass alle Länder in der EU sogenannte Hochwasserrisiko-Managementpläne machen.
ERZÄHLERIN
In Bayern findet man die Pläne auf den Webseiten des Landesamtes für Umwelt – einschließlich der wichtigen Gefahrenkarten. Die deutlich zeigen, welche Orte zu stark gefährdet sind, um dort ein neues Bau- oder Gewerbegebiet zu errichten. Was heute auch durch das Wasser-Haushaltsgesetz verboten ist. Früher war das anders.
(28. ZUSP.) ALBERT GÖTTLE
In Überschwemmungsgebieten wurden Siedlungen errichtet in den 60er 70er-Jahren, es gab Landratsämter, die waren so geführt von ihrem Landrat, dass man manches durchgewunken hat gegen den fachlichen Rat der Wasserwirtschaft, später kam dann die Wahrheit, und dann war Wehklagen und dann Ruf nach Entschädigung. Die Objekte, die im Hochwassergebiet wissentlich hineingebaut werden, sind weniger geworden, weil die Rechtsnormen, die man heute erfüllen muss und die lokale Entscheidungs-Kompetenz ein Stück verändert ist.
ERZÄHLERIN
Auch der Einspruch eines Wasserwirtschaftsamts hat heute mehr Gewicht. Damit nicht noch mehr Flächen versiegelt, einem Fluss nicht noch mehr Platz genommen wird für Hochwasser. Zum Schaden der Menschen flussabwärts.
MUSIK 10: BLACK OSTSEE – SIEHE OBEN – 41 SEK
ERZÄHLERIN
Hochwasserschutz – das sind große Bauwerke wie Deiche und Polder; kleinere wie ein Stauwehr oder eine Mauer; oder mobile Barrieren. Hochwasserschutz ist aber auch: Nicht zu bauen – im Überschwemmungsgebiet eines Flusses. Flächensparsam zu bauen, um nicht noch mehr Boden zu versiegeln. Hochwasserschutz ist: Forschen und Experimentieren, planen und debattieren, um die optimale Lösung für den jeweiligen Ort zu finden. Und es ist auch: Solidarität mit den Menschen, die im Nachbarort leben, oder weit flussabwärts.
MUSIK 11: TRUTH DEVELOPMENT INC – 46 SEK
Von den sieben Poldern die nach dem Pfingsthochwasser 1999 geplant wurden, sollten sechs an der Donau entstehen – bis heute gibt es dort nur einen. Die Menschen in Regensburg oder Passau können nur hoffen, dass die anderen fertig werden, bevor das nächste Hochwasser kommt. Kempten hingegen hatte die Solidarität der Menschen flussaufwärts im Illertal: Dort wurde innerhalb weniger Jahre ein Polder gebaut – als die Eindrücke vom Pfingsthochwasser 1999 noch frisch waren. Solidarität und schnelles Handeln – das sind also wichtige Erfolgsfaktoren für den Hochwasserschutz.
Die Luft, die uns auf der Erde umgibt, ist ein Gasgemisch und unerlässlich für jedes Leben. Frische Luft ist sauerstoffreich, farb- und geruchsfrei. Aber vor allem in den Städten sind neben Sauerstoff, Stickstoff und den anderen natürlichen Bestandteilen auch Schadstoffe in der Luft. Autorin: Katrin Kellermann (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Katrin Kellermann
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Christian Baumann, Berenike Beschle, Katja Schild
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Susanne Rehn-Taube, Kuratorin Chemie, Deutsches Museum München;
Prof. Annette Peters, Epidemiologin, LMU München & Institutsleiterin Helmholtz Munich, war als Expertin an den Luftschadstoff-Richtlinien der WHO beteiligt;
Prof. Mark Wenig, Physiker LMU München;
Dr. Stefan Gilge, Zentrum für Medizin-Meteorologische Forschung des Deutschen Wetterdienstes in Freiburg
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Literaturtipps:
„Staub. Alles über fast nichts“, Jens Soentgen, dtv Verlag.
„Ein Meer von Luft: Eine Naturgeschichte der Atmosphäre“, Gabrielle Walker, Berlin Verlag 2007.
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ZUM PODCAST
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Collage Windhauch / Atem / Pusten / Klangspiel
O-Ton Luft 1 Rehn-Taube 00:26
„Also Luft merkt man natürlich nur dann nicht, wenn es wirklich komplett windstill ist. Und sobald ich draußen bin, spüre ich die Luft. Es gibt Wind, es gibt auch Unterdruck, dann ist die Luft auch Träger von Wasserdampf, also wenn es Nebel gibt, das wäre ohne Luft auch nicht möglich, und spätestens, wenn einem die Luft mal ausgeht, merkt man natürlich auch, dass da vorher was war, was man unbedingt gebraucht hat.
Sprecher:
Chemikerin Dr. Susanne Rehn-Taube kuratiert die Chemie-Ausstellung im Deutschen Museum in München. Sie zeigt auf ein riesiges Periodensystem der Elemente. Diese Liste kennen viele aus dem Chemiebuch, allerdings nimmt sie im Museum eine komplette Wandfläche ein. Lila, rot und blau leuchtende Tafeln stellen die verschiedenen chemischen Elemente dar.
O-Ton Luft 2 Rehn-Taube 00:35
„Bei der Luft ist es sehr spannend, weil sie zum größten Teil tatsächlich aus reinen Elementen besteht. Und zwar: Der Hauptbestandteil der Luft ist ja der Stickstoff, zu etwa 78 Prozent, und Stickstoff ist ein Element, das ist ein Elementmolekül aus zwei Stickstoffatomen, und der andere große Bestandteil der Luft ist der Sauerstoff, also auch ein Element, besteht auch aus Elementmolekülen. Wenn man im Periodensystem ganz nach rechts geht, das sind die Edelgase. Und zwar haben wir in der Luft ungefähr, nicht ganz, ein Prozent Argon “
Sprecher:
Das Periodensystem dient heute vor allem der Übersicht. Historisch war es für die Vorhersage zur Entdeckung neuer Elemente und deren Eigenschaften von besonderer Bedeutung. Heute wissen wir, dass die Luft ein Gemisch aus verschiedenen Gasen und damit verschiedenen Elementen ist. Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass Naturforschende Jahrtausende lang eine ganz andere Idee hatten.
Musik Mystic 2 (Länge: 1´00´´) unter:
Sprecherin:
Die Luft selbst sei ein einziges, ganzes und unteilbares Element, ein so genannter Urstoff, so die antike Vorstellung. Der griechische Philosoph Empedokles formulierte die Vier-Elemente-Lehre, wonach Feuer, Wasser, Erde und Luft ewig existent und unveränderlich seien und unterschiedlich gemischt die gesamte lebende Welt abbilden könnten. Diese Überzeugung fand ihren Platz in der Alchemie des späten Mittelalters bis hinein in die frühe Neuzeit.
Musik-Akzent
Sprecher:
Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert beginnen Gelehrte und Naturforscher, sich für gasförmige Stoffe zu interessieren:
O-Ton Luft 3 Rehn-Taube 00:33
„Ein ganz einfacher Versuch: Man nimmt einen abgeschlossenen Glaskolben oder - wie so eine Käseglocke eigentlich - und verbrennt darin eine Kerze. In dieser Glaskuppel geht sie nach wenigen Sekunden aus. Dann liegt natürlich schon nahe, dass da etwas in der Luft ist, was aber nicht unendlich vorhanden ist, also was eben aus geht nach einer gewissen Zeit. Und dann kann man tatsächlich auch dieses Luftgemisch vorher wiegen, nachher wiegen, und kann feststellen, aha, da wurde ein Teil der Luft verbraucht. Und diese Forscher in dieser Zeit wurden sehr neugierig und wollten genau wissen, was hat das damit auf sich.“
Musik Mystic 2 (Länge: 0´47´´) unter:
Sprecher:
Mehrere Forscher machten zur selben Zeit im 18. JH ähnliche Experimente und kamen dabei dem Element Sauerstoff auf die Spur: Der deutsch-schwedische Apotheker Carl Wilhelm Scheele nannte seine Entdeckung Feuerluft. Auch der englische Philosoph und Theologe Joseph Priestley ('Dschoussiff (ss=weich) 'Prihstli (s=scharf)) isolierte diese neue Luft und erkannte deren Besonderheit: So wird er oft mit den Worten zitiert, dass diese Art Luft:
Sprecherin:
… fünf Mal besser zum Atmen und zum Verbrennen sei als normale Luft.
Sprecher:
Um ihre Beobachtungen zu erklären, zogen sie die damals vorherrschende so genannte Phlogiston ('Flohgistonn)- Theorie heran.
M Celestial Map (Länge: 0´33´´) unter:
Sprecherin:
Nach dieser Vorstellung entweicht allen Materialien bei der Verbrennung eine flüchtige Substanz, ein geheimnisvoller Feuerstoff mit dem Namen Phlogiston, vom griechischen Wort für „verbrannt“. Die Luft wird nach und nach mit dem Phlogiston angereichert, bis sie kein weiteres mehr aufnehmen kann. Diese neue Art Luft, in der eine Kerze nun besonders gut brennt, müsste also von Natur aus wenig oder gar kein Phlogiston enthalten.
O-Ton Luft 4 Susanne Rehn-Taube 00:35
„Da hat sehr vieles sehr gut zusammengepasst. Also im Sinne von ich entwerfe eine wissenschaftliche Theorie, die viele Phänomene richtig erklärt, da war die Phlogiston-Theorie eigentlich sehr gut. Doch gewisse Dinge waren dann doch nicht so wie nach der Phlogiston-Theorie vorhergesehen: Wenn ich jetzt zum Beispiel Eisen verbrenne, ist das Produkt Eisenoxid aber schwerer, wie wir heute wissen, weil es mit dem Sauerstoff der Luft reagiert hat. Da hat man sich beholfen, ah Phlogiston hat vielleicht eine negative Masse, also, wenn es entweicht, ist es dann hinterher schwerer. Aber das waren so große Schwächen dieser Theorie.“ (bleibt mit der Stimme oben, bitte stimmlich abnehmen!)
Sprecher:
Die bessere - noch heute gültige – Theorie formulierte der französische Naturforscher Antoine Laurent de Lavoisier (Atto'ann (A=nasal) Lo'ra Lawwoa'sje (s=weich)), der oft als Vater der Chemie bezeichnet wird:
O-Ton Luft 5 Susanne Rehn-Taube 00:19
„Lavoisier war derjenige, der gesagt hat, nein, wir haben es hier mit dem Element Sauerstoff zu tun, Phlogiston-Reaktion gibt es nicht. Auch die Namensgebung, oxygen, also die Benennung des Elements Sauerstoff, ist sein Verdienst. Und dass es sich um chemische Reaktionen handelt: Eine Verbrennung ist eine Oxidation - das ist tatsächlich auf ihn zurückzuführen.“
Sprecher:
Mit einer Reihe von Versuchen hat er also bewiesen, dass sich bei einer Verbrennung der Ausgangsstoff mit dem Sauerstoff aus der Luft verbindet. Mit der so genannten Oxidationstheorie deutete er nicht nur die Vorgänge bei der Verbrennung, sondern auch die bei der alkoholischen Gärung und bei der Atmung.
Sprecherin:
Heute wissen wir: Ohne das Element Sauerstoff, das in der Luft als zweiatomiges kleines Teilchen, als 02-Molekül, als so genannter molekularer Sauerstoff, enthalten ist, würde Feuer nicht brennen und Eisen nicht rosten. Und viele Lebewesen, darunter wir Menschen, könnten nicht existieren.
Musik Hitze Into the Fire (Länge: 0´28´´) unter:
Sprecher:
Die junge Erde vor etwa 4,5 Milliarden Jahren: Eine glühende Kugel aus Gestein, umgeben von heißen und teilweise ätzenden Gasen. Dazu ein sehr hoher Gehalt an Kohlendioxid, Wasserdampf und Methan. Lebewesen wie wir wären in der Ur-Atmosphäre erstickt.
M Aid convoy (Länge: 0´30´´) unter:
Erst Milliarden Jahre später bildete sich die Lufthülle der Erde in der Zusammensetzung, wie wir sie heute kennen. Der Wendepunkt ging von winzigen so genannten Cyanobakterien aus. Sie sind derart klein, dass ein einziger Wassertropfen Milliarden davon enthalten kann. Und sie waren die ersten, die durch Photosynthese Sauerstoff produziert haben.
Sprecherin:
Zur Erinnerung: Die Photosynthese ist ein biochemischer Vorgang, der in einigen Bakterien und vor allem in grünen Pflanzen stattfindet.
Dabei nimmt die Pflanze aus ihrer Umgebung Wasser und Kohlenstoffdioxid auf. Mithilfe der Energie des Sonnenlichts stellt sie dann den für ihr Wachstum notwendigen Zucker her. Als Abfallprodukt entsteht Sauerstoff.
O-Ton 6 Luft Rehn-Taube 00:23
„Und dieser Sauerstoff hat sich quasi auch ungebremst angereichert, weil es gab ja noch keine Tiere, die das hätten weg atmen können ((sozusagen)) und dadurch hat sich die Atmosphäre sehr stark verändert. Und da kann man durch Untersuchung von Gestein, also geologisch, verschiedene Schichten sehen, wo man nachweisen kann, dass der Sauerstoffgehalt der Luft mal höher und mal niedriger war.“
Sprecher:
Erst im Laufe der Evolution haben sich Lebewesen an eine sauerstoffhaltige Umgebung angepasst. Denn Sauerstoff ist hochreaktiv und musste erst in lebenskompatible Bahnen gelenkt werden. Mit der Zeit hat sich dann ein Gleichgewicht zwischen der Produktion von Sauerstoff durch Photosynthese und dem Verbrauch durch atmende Lebewesen eingestellt. Man vermutet, dass der Sauerstoffgehalt etwa seit 350 Millionen Jahren auf dem heutigen Niveau liegt.
Atmo Aus- und Einatmen
Sprecherin:
Die Lungenatmung beim Menschen: Bei einem Atemzug wird etwa ein halber Liter Luft in die Lunge gesaugt. Bei rund 20 000 Atemzügen pro Tag also mindestens 10 000 Liter Luft. Über die Lungenbläschen findet der Gasaustausch statt, Kohlendioxid wird abgegeben und Sauerstoff ins Blut aufgenommen. Es sind die roten Blutkörperchen mit ihrem Farbstoff Hämoglobin, die den Sauerstoff binden und durch die Adern zu jeder Zelle des Körpers transportieren.
O-Ton 7 Luft Annette Peters 00:21
„In den Zellen wiederum gibt es die Mitochondrien. Das ist ein kleines Zellorganell, das darauf spezialisiert ist, aus dem Sauerstoff über die Freisetzung von Sauerstoff-Radikalen Energie zu machen. Das heißt, der Sauerstoff ist unsere Energiequelle.“
Sprecher:
So die Medizinprofessorin Annette Peters. Entscheidend ist die Dosis: Zu wenig Sauerstoff in der Atemluft führt zu Bewusstlosigkeit und Tod durch Ersticken, aber zu viel wäre auf Dauer ebenso lebensfeindlich. Zwar kommt reiner Sauerstoff heute beispielsweise in der Notfallmedizin kurzzeitig zum Einsatz, dennoch: Die Luft unserer Erde wird erst durch den zweiten Hauptbestandteil, dem trägen Stickstoff, zu einer für uns guten Luft:
O-Ton 8 Luft Rehn-Taube 00:39
„Der ist auch chemisch sehr unreaktiv, deswegen heißt er auch Stickstoff, weil er alles erstickt, weil ((sozusagen)) keine Atmung und keine anderen chemischen Reaktionen damit möglich sind. Das ist auch ganz wichtig für uns, dass die Luft so viel Stickstoff enthält, weil wenn wir einen höheren Sauerstoffanteil hätten, dann würde alles viel schneller rosten, unsere Haut würde kaputt gehen. Es gab auch mal so eine Zeit, so Ende der Kreidezeit, als der Sauerstoffanteil in der Luft höher war, da kann man sich dann vorstellen, da gibt‘s viel schneller Brände, Waldbrände und so etwas, weil die Luft einfach viel reaktiver ist, dadurch, dass der Sauerstoffanteil höher ist.“
Musik Ice Sphere (Länge: 0´37´´) unter:
Sprecherin:
Neben den drei Hauptbestandteilen Stickstoff, Sauerstoff und Argon machen andere Gase nur einen geringen Anteil in der Luft aus. Sie werden demnach als Spurengase bezeichnet. Dazu gehören die Edelgase Neon, Helium Und Krypton. Auch das vielzitierte Kohlenstoffdioxid, kurz Kohlendioxid oder CO2, das bei der Atmung und jeder Verbrennung entsteht, und für den Treibhauseffekt, den natürlichen und den menschengemachten, verantwortlich ist, beträgt nur 0, 04 Prozent. Allerdings spielt es in der höheren Atmosphärenchemie eine entscheidende Rolle.
Musik Bioreactor (Länge: 1´00´´)
Sprecher:
Neben verschiedenen Gasen finden sich in jedem Liter Luft tausende Partikel. Feste und flüssige, unterschiedlicher Natur, Herkunft und Größe. Einige sind natürlichen Ursprungs wie Staub aus der Sahara, Pollen oder Rußpartikel von Waldbränden oder Vulkanausbrüchen. Aber die wichtigste Ursache für dicke Luft ist der Mensch. Denn alle unsere modernen Feuer, die im Heizungskeller, im Kraftwerk, in den Industrieanlagen oder in den Motoren produzieren neben Kohlendioxid auch Feinstaub und Abgase. Je nach Wetterlage, Tages- und Jahreszeit ergeben sie eine mehr oder weniger toxische Mischung, sagt die
Epidemiologin und Luftschadstoff-Expertin Annette Peters:
O-Ton 9 Luft Annette Peters 00:18
„Die Luft ist ein ganz ganz komplexes Gemisch und auch die Partikel und die Gase sind nicht statisch. Das heißt, die reagieren miteinander, die Gase kondensieren auf den Partikeln. Die Zusammensetzung der Partikel ist auch für die Schadwirkung verantwortlich.“
Sprecher:
Forschende sprechen manchmal von der „Suppe“, um damit auszudrücken, wie unterschiedlich die Bestandteile sind, die - beispielsweise in der Stadtluft - zusammenkommen und gleichzeitig ein neues Ganzes bilden.
Atmo Stadtverkehr vorhanden?
O-Ton 10 Luft Mark Wenig 00:22
„Jetzt hält hier gerade ein Bus, je nachdem ob das ein Elektrobus ist oder ein Diesel … vom Geräusch her ist es glaub ich kein Elektro, genau! So Busse oder auch LkW, die emittieren sehr viel mehr als ein PKW, also insofern wird jetzt gerade die Belastung wahrscheinlich etwas höher sein als normal.“
Verkehrsatmo
Sprecherin:
Später Mittwochnachmittag im Herbst. Bushaltestelle Maxvorstadt in der Münchner Innenstadt: Professor Mark Wenig vom Meteorologischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München misst die Luftqualität. Dazu hat er eine unauffällige graue Box hinter dem Bushäuschen installiert
O-Ton 11 Luft Mark Wenig 00:35
„Die Luft wird hier über diesen Schlauch eingesaugt und dann da drin analysiert, so dass man dann auf die einzelnen Gase schließen kann… hauptsächlich Stickstoffdioxid, es wird aber auch Ozon gemessen, Co2 und Feinstaub. Und dann haben wir hier oben noch so eine kleine Wetterstation, so dass wir auch wissen, von wo der Wind kommt. Und hier sind noch verschiedene Geräte, die versuchen den Verkehr zu zählen, dass wir halt wissen, wie viele LKW, wie viele Autos, wie viele Busse und so weiter vorbeigekommen sind, um das mit unseren Messungen zu korrelieren, so dass wir dann rauskriegen können, woher kommen ((eigentlich)) diese ganzen Schadstoffe, die wir jetzt gerade messen.“
Verkehrsatmo lebhaft
Sprecherin:
Dass die Luft-Schadstoffe, vor allem Feinstaub und Stickoxide, in der Stadt hauptsächlich vom Straßenverkehr verursacht werden, ist bekannt. Doch Mark Wenig will herausfinden, unter anderem welche Fahrzeuge für welchen Ausstoß verantwortlich sind. Seine Erkenntnisse sind wichtig, denn Luftverschmutzung ist eine ernstzunehmende Gesundheitsgefahr.
Sprecher:
Zwar ist der Mensch an ein Leben in einer staubigen Umgebung angepasst. Die Atemwege - Nase, Mundhöhle, Rachen - filtern den gröbsten Dreck aus der Luft, aber der so genannte Feinstaub lässt sich davon nicht aufhalten. Professorin Annette Peters leitet den Lehrstuhl für Epidemiologie an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist Direktorin des Instituts für Epidemiologie bei Helmholtz Munich. Seit mehr als dreißig Jahren erforscht sie die Auswirkung von Luftschadstoffen und nennt eine Zahl von weltweit sieben Millionen Todesfällen pro Jahr:
O-Ton 12 Luft Annette Peters 00:40
„Wir wissen heute, dass Feinstaub nicht nur die Lunge krank macht, sondern auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen auslösen kann. Es trägt zu einer Verschlechterung von Diabetes bei und wir haben auch festgestellt, dass es Auswirkungen auf das Gehirn gibt. Sowohl bei alten Menschen, d. h. man findet, dass neurodegenerative Erkrankungen häufiger auftreten, wenn eine jahrelange hohe Belastung vorlag, als auch bei Kindern, da haben zum Beispiel Kollegen aus Spanien zeigen können, dass die Gedächtnis- oder Denkfähigkeiten bei diesen Kindern verändert waren.“
M Light reflex (Länge: 0´41´´) unter:
Sprecher:
Im Blickpunkt der Forschenden ist aktuell der so genannte Ultrafeinstaub. Bisher ist die Studienlage noch dünn, aber sicher ist: Je kleiner, desto gefährlicher. Denn diese ultrafeinen Partikel können über die Lungenbläschen bis ins Blut gelangen. Und einmal in der Blutbahn, erreichen sie alle Organe des Körpers, darunter auch das Gehirn.
Sprecherin:
Zudem schweben sie oft wochenlang umher. Die größeren Partikel dagegen sinken nach und nach zu Boden und kleben dort fest, erklärt Physiker Mark Wenig:
O-Ton 13 Luft Mark Wenig 00:21
„Beim Feinstaub zum Beispiel kann es auch einfach ausregnen. Also da gibt es verschiedene Prozesse, die natürlich dafür sorgen, dass die Luft so langsam wieder sauberer wird. Wenn der Wind stärker ist, ist die Luft automatisch sauberer. Weil saubere Luft aus höheren Luftschichten mitreingewirbelt wird und somit auch die Schadstoffbelastung auch wieder geringer wird.“
Sprecherin:
Je weniger Schadstoffe in der Stadtluft, umso besser für die Bewohner. Wer sich eine gute Wohnlage mit sauberer Luft nicht leisten kann, ist auf den Gesetzgeber angewiesen.
Sprecher:
Siebenundfünfzig Messstationen betreibt allein das Bayerische Landesamt für Umwelt in Bayern. So soll die Luftqualität überwacht und die Einhaltung der Grenzwerte überprüft werden. Durch Luftreinhaltepläne, die Ausweisung von Umweltzonen, vieldiskutierte Fahrverbote und den Einbau von Partikelfiltern beispielsweise ist die Luft in den bayerischen Städten in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich besser geworden. Doch laut Weltgesundheitsorganisation reicht das für einen konsequenten Gesundheitsschutz nicht aus. Sie empfiehlt einen Feinstaub-Grenzwert, der fünfmal niedriger ist als der derzeit geltende. Auf EU-Ebene wird jetzt über eine Verschärfung der Grenzwerte verhandelt.
Sprecherin:
Epidemiologin Annette Peters war als Expertin an den WHO-Richtlinien beteiligt und sieht Handlungsbedarf:
O-Ton 14 Luft Annette Peters 00:56
„Generell ist es leider so, dass ich persönlich wenig gegen die Belastung durch Luftschadstoffe machen kann. Wenn ich mich durch eine Maske schützen möchte, würde noch nicht mal die FFP-2 Maske helfen, die wir kennen, sondern ich müsste eine FFP3-Maske tragen, die aber nur im Arbeitsschutz zum Einsatz kommt. Und in der Tat ist es gar nicht gesund, diese Masken so lange zu tragen. Es gibt auch, gerade in sehr belasteten Regionen wie z. B. China, die Bemühungen mit Luftreinigern. Aber damit kann ich ja auch nur die Innenräume säubern und damit habe ich große Einschränkungen in der Lebensqualität, und auch zum Beispiel in der Möglichkeit, körperlich aktiv zu sein, Sport zu treiben. Das heißt, wir sind darauf angewiesen, dass die Luft in unseren Städten gut ist.“
Musik-Akzent oder Atmo Vögel-zwitschern
Sprecherin:
Der Zusammenhang ist unstrittig: Je weniger Schadstoffquellen in der Nähe sind, desto besser die Luft. Demnach gibt es die beste Luft in der unberührten Natur, beispielsweise in den Höhenlagen der Berge.
Und „Gute Luft“ ist auch ein Wirtschaftsfaktor. Orte, die damit Werbung machen und Touristen anlocken wollen, können sich ihre Luftqualität auszeichnen lassen. Doktor Stefan Gilge vom Zentrum für medizin-meteorologische Forschung des Deutschen Wetterdienstes prüft die Gutachten:
O-Ton 15 Luft Stefan Gilge 00:42
„(Also) Es gibt verschiedene Prädikate, das bestimmt der deutsche Heilbäderverband. Zum Beispiel ganz normale Luftkurorte, es gibt aber auch Seeheilbäder oder heilklimatische Kurorte, wo dann noch strengere Luftqualitätsrichtlinien gelten. Es wurden Richtwerte festgelegt, die unter den gesetzlichen Grenzwerten liegen und damit ist sichergestellt, dass der Patient oder der erholungssuchende Urlauber in dem Kurort eine regelmäßige bessere Luftqualität vorfindet als in seinem Heimatort, um den Kurerfolg zu unterstützen, weil Luft natürlich auch ein natürliches Heilmittel ist.“
Atmo Vögel-zwitschern
Sprecher:
Bewegung an der Luft hat viele positive Effekte. Wer nicht das Glück hat in einem Luftkurort zu wohnen, sollte nicht ausgerechnet neben einer vielbefahrenen Straße spazieren gehen. Zudem gilt, dass die Luft in den Morgenstunden oft noch besser ist als im Laufe des Tages. Im Sommer sollten empfindliche Menschen neben Feinstaub und Stickoxid unbedingt auch den Ozon-Gehalt im Blick behalten. Stündlich aktualisierte Werte bieten viele Wetter-Apps oder auch die App „Luftqualität“, die das Umweltbundesamt zur Verfügung stellt.
Sprecherin:
Annette Peters engagiert sich seit Jahrzehnten für den Gesundheitsschutz. Sie betont, dass alle Maßnahmen zum Klimaschutz gleichzeitig unserer Luft zugutekommen: Denn ein verminderter Ausstoß von CO2 bedeutet ja auch, dass dann weniger Schadstoffe wie Feinstaub, Stick- und Schwefeloxide in die Luft geblasen werden. Und davon profitieren wir alle: Die Luft ist schließlich unser Lebenselixier:
Collage nochmal?
O-Ton 16 Annette Peters 00:39
„Wir brauchen saubere Luft zum Atmen, weil saubere Luft uns mit Sauerstoff versorgt auf der einen Seite, und zum anderen, die vielen Schadwirkungen, die Luftschadstoffe haben können, eben nicht hat. Und der dritte Grund: Wir brauchen saubere Luft, damit wir die Klimakrise meistern können. An Tagen mit hoher Hitzebelastung und an der Belastung durch Luftschadstoffe treten vermehrt Todesfälle auf und wir haben alle dann mit der Hitze und der schlechten Luft gleichzeitig zu kämpfen.“
Urbild des Wohnens war für Walter Benjamin das Gehäuse. Der Mensch braucht Schutz, die Wohnung ist jedoch mehr als ein Unterschlupf. Sie ist etwas Persönliches, man richtet sich darin ein. Was verrät das Wohnen über uns? Und wird es im Zeitalter der Migration zum unsicheren Privileg? Von Beate Meierfrankenfeld (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Beate Meierfrankenfeld
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Thomas Birnstiel, Fabian von Klitzing
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Tulga Beyerle, Direktorin des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg;
Florian Rötzer, Philosoph, Publizist und Buchautor
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Literaturtipps:
Walter Benjamin, „Das Passagen-Werk“, 2 Bände, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Suhrkamp 1983
Martin Heidegger, „Bauen Wohnen Denken“, in: „Vorträge und Aufsätze Teil II“, Neske Verlag, 3. Auflage 1967
Alexander Mitscherlich, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden“, Suhrkamp, 29. Auflage 2019
Florian Rötzer, „Sein und Wohnen. Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens“, Westend Verlag 2020
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Sich aufrecht hinzustellen und sich groß zu machen verbessert unser Selbstbewusstsein - das behaupten Studien in der Psychologie, die sich auf die Embodiment-Theorie stützen. Aber stimmt das überhaupt? Wie viel Einfluss hat der Körper wirklich auf Denken und Psyche? Autorin: Rebecca Ricker
Credits
Autorin dieser Folge: Rebecca Ricker
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Xenia Tiling, Johannes Hitzelberger
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Thomas Fuchs, Universität Heidelberg
Prof. Lena Kästner, Universität Bayreuth
Dr. Robert Körner, Universität Bamberg
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Literatur:
Thomas Fuchs: Verteidigung des Menschen - Grundfragen einer verkörperten Anthropologie: Fuchs hat das Buch als Antwort auf die Bedrohung des Menschenbildes durch Künstliche Intelligenz geschrieben. Er glaubt, was uns ausmacht und von Maschinen unterscheidet, ist, dass wir Lebewesen mit Körper sind.
George Lakoff und Mark Johnson: Metaphors We Live By: Ein radikaler Ansatz zum Thema Embodiment, der annimmt, selbst unsere Sprache ist verkörpert. Der Ansatz war prägend für das Thema „Framing“, was heute in politischem Aktivismus eine große Rolle spielt.
Francisco J. Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch -The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience: Ein Standdardwerk zu Embodiment, das Verbindungen zwischen Kognitionswissenschaften, Buddhistischer Meditation, Philosophie und Psychologie zieht.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
Stellen Sie sich vor, Sie haben gleich eine Gehaltsverhandlung mit Ihrer Chefin. Sie sitzen in ihrem Büro, in 10 Minuten ist der Termin. Sie sind nervös, Ihre Hände sind feucht und Ihr Herz schlägt schneller als sonst. Gibt es hier einen Tipp, damit Sie sich besser fühlen? Das sogenannte Power Posing verspricht eine schnelle Lösung:
Musik 2: Main Titles (superman) - 44 Sek
Sprecher:
Gehen Sie ins Badezimmer und nehmen Sie eine Haltung ein wie Wonder Woman oder Superman: Stellen Sie sich aufrecht hin, die Beine hüftbreit auseinander, Brust raus, Schultern zurück, Kinn hoch und stemmen Sie die Fäuste in die Taille. Halten Sie die Pose für ein bis zwei Minuten.
Sprecherin:
Power Posing soll selbstbewusster machen, die Risikofreudigkeit erhöhen und sogar Ihren Hormonhaushalt verändern: Die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol soll zurückgehen und der Testosteronspiegel steigen. Musik aus
Das war jedenfalls das Ergebnis einer Studie, die 2010 von Wissenschaftlern der Harvard- und der Columbia-Universität veröffentlicht wurde.
Sprecher:
Das Ergebnis erregte viel Aufmerksamkeit: Das Video, in dem die Wissenschaftlerin Amy Cuddy die Studie vorstellte, bekam 24 Millionen Aufrufe auf der Videoplattform Youtube. Cuddy verspricht, dass kleine Tricks – zum Beispiel eine Machtpose für zwei Minuten zu halten - riesigen Einfluss auf das Leben haben können. Seither haben sich Power Posen etabliert als Übung für Selbstbewusstsein und gegen Stress – Influencer sprechen davon und selbst eine deutsche Krankenkasse empfiehlt auf Ihrer Website, Power Posen einzunehmen.
Musik 3: Psyching up – 47 Sek
Sprecherin:
Schon lange geht man davon aus, dass die Psyche Einfluss auf den Körper hat. Dass der Körper aber auch Einfluss auf die Psyche und das Denken hat, dass Körper und Geist insgesamt nicht so klar getrennt werden können, ist umstrittener. Diese Ideen sind immer wieder in die Kritik geraten. Ist den Ergebnissen überhaupt zu trauen? Wie sehr kann der Körper Psyche und Denken beeinflussen?
Damit beschäftigen sich Wissenschaftler vieler Disziplinen unter dem Stichwort “Embodiment”, auf Deutsch: Verkörperung. Der Psychiater und Philosoph Professor Thomas Fuchs von der Universität Heidelberg - erklärt das Konzept:
1_FUCHS_NICHT ÄUSSERLICH:
[00:05:40] Das umfassende Prinzip ist, dass unser Körper unserem Erleben, unserem Bewusstsein nicht sozusagen äußerlich ist. Dass er nicht einfach ein Trägerapparat ist, den wir brauchen, damit wir eben denken, wahrnehmen, fühlen, handeln können, sondern dass all diese Prozesse, immer dem Körper als Ganzem, das heißt dem Organismus zugeschrieben werden müssen. All unsere bewussten Erlebnisse und Handlungsweisen sind verkörpert, das heißt, sie sind Handlungsweisen, Erlebnisweisen des ganzen Körpers. [00:06:36][56.9]
Sprecherin:
Die Idee ist also: Denken und Fühlen laufen nicht nur im Gehirn ab, der ganze Körper ist daran beteiligt. Körper und Geist beeinflussen sich gegenseitig und sind untrennbar verbunden.
Das ist die Grundannahme, auf der das Konzept von „Embodiment“ basiert. Um dieses Konzept besser zu verstehen, hilft es, wenn man sich alternative Theorien dazu anschaut, wie Körper und Geist zusammenwirken.
Musik 4: La Cherou – 40 Sek
Sprecher:
In der Philosophie wurde diese Frage seit Jahrhunderten unter dem Begriff des Leib-Seele-Problems diskutiert. Überlegungen dazu gab es schon in der Antike, aber der erste, der die Frage explizit formulierte, war der französische Philosoph René Descartes im 17. Jahrhundert.
Er glaubte, Denken habe eine grundsätzlich andere Substanz als der Körper. Unser Geist sei eine immaterielle Innenwelt, die unabhängig vom Körper funktioniere.
Sprecherin:
Laut Thomas Fuchs diente die jeweilige Technik der Zeit immer wieder als Metapher um zu erklären, wie das Denken funktioniert:
2_FUCHS_DESCARTES
[00:13:06] Bei Descartes finden Sie, dass er versucht, das, was im Gehirn vorgeht, mit den automatischen Wasseranlagen in den Versailler Gärten in Verbindung zu bringen. [00:13:31] Und diese Wasserspiele stellte er sich vor, sind sozusagen ein Prinzip, das uns erklären kann, wie im Gehirn die die Nervenströme so laufen, dass sie uns in bestimmte Bewegungen bringen. Das war ein sehr primitives technisches Vergleichsmodell. Später hat man dann die, denen die Radiowellen oder die Fotografen fotografiert, die die öffentliche Fotografie als Grundlage für zum Beispiel Gedächtnisprozesse im Gehirn angesehen. [00:14:03][31.8]
(([00:14:03] Also sie finden über die Zeit hinweg immer wieder die Nutzung von jeweils neuester Technik, um sie als Modell für das Gehirn Verständnis zu verwenden. [00:14:14][11.3]))
Musik 5: Happy little robots – 33 Sek
Sprecherin:
Prägend für unsere Vorstellung vom Gehirn war besonders eine Erfindung aus den 1940er-Jahren: der Computer.
Sprecher:
Es lassen sich viele Parallelen zwischen dem Gehirn und einem elektronischen Rechner, dem Computer ziehen: Genau wie ein Computer verarbeitet das Gehirn Daten. Es bekommt einen Input und gibt als Reaktion darauf einen Output. Diese Vorstellung, dass unser Gehirn wie ein Computer arbeitet, nennt man Funktionalismus. Und das hat weitreichende Konsequenzen: Wenn das Gehirn das elektronische Gerät ist, dann – so die Überlegung – könnte das Denken die dazugehörige Software sein.
3_FUCHS_SOFTWARE:
[00:16:25] Software kann beliebig realisiert werden, im Gehirn oder in einem anderen Substrat. Man könnte also die Prozesse, die bei uns im Gehirn ablaufen, genauso gut auf einem Computer ablaufen lassen. Denn entscheidend ist dann nur die Informationsverarbeitung.
Musik 6: 1.0_6-leavem3here.flac - 54 Sek
Sprecherin:
In dieser Vorstellung haben das Gehirn und der Körper allgemein keinen Einfluss aufs Denken, er ist nur zufälligerweise die Hardware, auf der die Software “Denken” abgespielt wird.
Für die Forschung an Künstlicher Intelligenz, die in den 50er-Jahren begann, bedeutete das: Wir müssen nur die Regeln des menschlichen Denk-Algorithmus auflisten und dann kann die Software menschlichen Denkens bald auch auf einer Maschine laufen. Wissenschaftler planten, eine Künstliche Intelligenz in wenigen Jahren zu entwickeln. Doch daraus wurde erstmal nichts. Und die Theorie vom Gehirn als Computer zeigte bald Schwächen:
4_FUCHS_BIOLOGISCHE:
[00:16:42] Alles Biologische, alle Prozesse, in denen Biochemie, analoge, also nicht digitale Prozesse ablaufen im Körper, die wurden gewissermaßen ausgeblendet. Und man hat das Gehirn eben nur als ein funktionales System gesehen, in dem Input und Output so ähnlich wie bei einem Computerprozessor verarbeitet und in zur verarbeitet werden und dann zum Output führen. [00:17:12][30.0]
Musik 7: Lost coda – 56 Sek
Sprecherin:
Ein Beispiel: Im Computer können wir Daten speichern. Wenn wir sie wieder brauchen, sind die Dateien noch genauso, wie wir sie abgelegt haben. Bei unserem Gehirn funktioniert das ganz anders: Wenn wir uns erinnern, werden Daten nicht abgelegt, sondern Reaktionsmuster werden immer in leicht veränderter Form wieder aktiviert.
Sprecher:
Genauso wenig wie das Denken funktionieren unsere Gefühle wie eine Software. Ein Computer fängt nicht an, plötzlich zu hüpfen, mehr Wärme auszustrahlen oder effizienter zu arbeiten, weil er zum Beispiel gerade dabei ist, ein Problem zu lösen. Wir aber fühlen nicht nur im Geist, sondern unser ganzer Körper ist beteiligt: Wir schwitzen mehr, unsere Mimik, unsere Haltung verändert sich.
5_FUCHS_AUSDRUCK STILLSTELLEN:
[00:08:57] Man kann gewissermaßen den körperlichen Ausdruck still stellen, bewusst unterdrücken. Dann sind die Gefühle sozusagen nicht mehr sichtbar. Aber sie sind natürlich trotzdem im Körper spürbar, die Schweißsekretion können Sie merken, dass der Körper physiologisch sich verändert, wenn er in Angst gerät. Das ist das Prinzip des Lügendetektors übrigens.
Sprecherin:
Der Körper ist nicht nur bei emotionalen, sondern auch bei kognitiven Prozessen beteiligt:
6_FUCHS_ALLE WORTE:
[00:10:24] Alle Worte, die zum Beispiel Tätigkeiten beinhalten, die ich, die wir benutzen, etwa wenn wir die Worte „lecken“ oder „strecken“ oder „schlagen“ verwenden, dann ist nachgewiesen, dass diese Worte in uns so etwas aufrufen wie die Tätigkeit, die körperlich dabei stattfinden würde, wenn ich lecke, mich strecke oder zuschlage, nicht? Da sind, da werden die Areale im Gehirn aktiviert, die zu diesen Tätigkeiten gehören. Das heißt schon da wird deutlich, dass der Körper auch in der Sprache immer mit aktiviert wird, immer mitläuft, sozusagen. [00:11:10][46.4]
Sprecherin:
Körper und Denken, Körper und Gefühle sind nicht voneinander unabhängig. Diese Erkenntnisse wurden in vielen Disziplinen aufgegriffen und sie befeuerten ab den 1980er- Jahren eine Forschung unter dem Stichwort „Embodiment“.
Musik 8: Psyching up – siehe vorn – 1:06 Min
Sprecher:
Ein populäres Konzept in der Embodiment-Forschung ist die Facial-Feedback-Hypothese: Die Annahme ist, dass die bloße Aktivierung von Gesichtsmuskeln Einfluss auf unsere Gefühle hat.
Um das zu beweisen, hat der deutsche Psychologe Fritz Strack Ende der 1980er-Jahre ein Experiment durchgeführt, das sehr bekannt geworden ist: Die Versuchspersonen mussten einen Stift entweder zwischen den Zähnen oder über der geschürzten Oberlippe halten. Die Kontrollgruppe hielt den Stift hingegen einfach in der Hand. Wenn man einen Stift quer zwischen den Zähnen hält, werden Muskeln aktiviert, die auch beim Lächeln beteiligt sind. Die Zähne-Gruppe lächelte also automatisch bei dem Versuch. Wenn man einen Stift auf der Lippe hält, kann man hingegen nicht lächeln.
Dann mussten die Probanden Comics angucken. Abgefragt wurden zwei Dinge: Zum einen, wie sich die Versuchspersonen fühlten. Zum anderen, wie lustig sie die Comics fanden.
Sprecherin:
Das Ergebnis der Studie war: Die Gruppe, die den Stift zwischen den Zähnen hielt, also automatisch lächelte, fühlte sich besser und fand die Comics lustiger, als die Kontrollgruppe, die den Stift nur in der Hand hielt. Und die Gruppe, die durch den Stift auf der Lippe nicht lächeln konnte, fühlte sich am schlechtesten und fand die Comics am wenigsten lustig. Aus diesen Beobachtungen schloss man, dass die bloße Aktivierung beim Lächeln uns glücklicher macht.
Musik 9: C-5 Galaxy – M0087633Z00 – 49 Sek
Sprecher:
Derartige Erkenntnisse aus der Psychologie sorgten auch für Forschung zum Thema Embodiment in anderen Disziplinen, zum Beispiel in der Pädagogik: So zeigte eine Studie der Universität Erlangen, dass eine aufrechte Körperhaltung Kreativität fördert.
Sprecherin:
Die Ergebnisse erregten viel Aufmerksamkeit, wie auch die anfangs erwähnte Studie zum Power Posing. Schauen wir uns diese Studie über das Power Posing nochmal genauer an. Die Forscher suchten dabei Effekte in drei Bereichen. Der Psychologe Dr. Robert Körner von der Universität Bamberg beschreibt die drei Bereiche, die die Studie von 2010 untersuchte:
7_KÖRNER_ZUM EINEN: [00:01:14]
Zum einen, wie es wirkt auf die Psyche, also das ist die Stimmung. Fühlt man sich positiver oder negativer, ist man selbstbewusster, ist man eben glücklicher. Also das nennen wir alles dann die Wirkung auf psychologische Variablen. Dann, was Sie angesprochen haben, die Physiologie. Also wie wirkt das auf zum Beispiel Hormone, auf Hautleitfähigkeit, auf Herzrate? Und dann gibt es gibt es noch das Verhalten. Also bin ich prosozialer, antisozialer? Bin ich mehr handlungsorientiert, das heißt initiieren wir eher neue Handlungen, Aktionen, Verhaltensweisen. Ob das das eben auch beeinflusst, da wurde oft Risikofreudigkeit untersucht, ob man in bestimmten simulierten Glücksspielen zum Beispiel risikofreudiger ist. [00:01:59][45.0]
Sprecherin:
Die Studie machte in der wissenschaftlichen Community die Runde, weil Effekte nicht nur auf den ersten Bereich, also die Psyche, gefunden wurden. Es zeigten sich auch Effekte auf das Verhalten und auf den Körper.
8_KÖRNER_DAS WAR ERSTMAL WOW: [00:02:24]
wenn man einfach solche raumeinnehmenden Körperhaltung einnimmt für 1 bis 2 Minuten, dass das dann im Vergleich zur einer eher submissiven Körperhaltung, also wenn man sich ziemlich klein macht, eher zusammengezogen sind, eine schlechte Körperhaltung hat, dass das eben Machtgefühl erhöht. Man wird risikofreudiger dadurch, der Testosteronspiegel steigt an und der Cortisolspiegel sinkt. Also wir haben Veränderungen auf psychischer, auf Verhaltens und auf physiologischer Ebene. Und das war erst mal wow. [00:02:57][32.3]
Sprecherin:
Der Effekt ist also noch größer, da er nicht nur auf der subjektiven, psychischen Ebene auftritt - sondern auch auf der physiologischen, zum Beispiel durch Veränderungen bei den Hormonen. Deswegen sorgte die Studie auch für viel Aufruhr in der Forschung.
Musik 10: Mean Motive – Z8021994113 – 1:21 Min
Sprecherin:
Doch kurz danach erschütterte eine Diskussion die Psychologie-Welt:
Sprecher:
In empirischen Wissenschaften wie der Psychologie macht man immer wieder sogenannte Replikationsstudien. Indem man ein Experiment, eine Studie nachstellt, überprüft man, wie zuverlässig das Ergebnis der Studie ist. Aber in den frühen 2010er-Jahren kamen bei derartigen Kontrollen Probleme auf: Viele Ergebnisse diverser psychologischer Studien waren nicht reproduzierbar: Man hat Experimente nachgestellt und nicht dasselbe Ergebnis erhalten. Daraufhin gab es eine Welle von Replikationsstudien. Dabei wurde das Ausmaß der Replikationskrise deutlich: Das Problem betraf nicht nur einzelne psychologische Studien, sondern schätzungsweise die Hälfte aller Ergebnisse war betroffen.
In der Kritik waren dabei auch viele Ergebnisse der Embodiment-Forschung, zum Beispiel dass die bloße Muskelbewegung des Lächeln uns glücklich macht. Oder eben, dass das anfangs erwähnte Power Posing uns selbstbewusster werden lässt.
Sprecherin:
Wie verlässlich sind die Ergebnisse also? Welchen Studien kann man überhaupt noch trauen? (Musik aus)
Um das in Bezug auf Power Posen zu klären, führte der Psychologe Robert Körner Experimente durch, in denen der Effekt von Machtposen untersucht wurde - auf das Selbstbewusstsein, das Verhalten und physiologische Faktoren wie den Hormonhaushalt und die Herzfrequenz. Außerdem veröffentlichte er eine Metastudie zum Thema Power Posing.
9_KÖRNER_UND DA HABEN WIR GEFUNDEN:
[00:04:24] Und da haben wir gefunden so eine Übereinstimmung auch mit unseren Studien, mit dem Selbstwert, dass es eben auf psychische Variablen wirkt, dass man nach Körperhaltung selbstbewusster drauf ist, wie man eben dominante Körperhaltung einnimmt oder die positiven Emotionen mehr erlebt. [00:04:40][15.8]
Sprecherin:
Einen Einfluss auf die Psyche gab es also doch! Der Einfluss aufs Verhalten hingegen war schwächer und weniger eindeutig als früher angenommen, mal gab es Effekte, mal gab es keine. Körner meint, dass das davon abhängen könnte, was genau man untersucht: Dass man sich mit einer dominanten Körperhaltung risikobereiter verhält, stimmt wohl nicht. Möglicherweise agiert man aber generell handlungsorientierter und aktiver.
Sprecher:
Und was ist mit den physiologischen Effekten?
10_KÖRNER_AUSSER IN DER ORIGINALSTUDIE: [00:04:40] Also es konnte danach eigentlich außer in der Originalstudie von 2010 nie wieder gezeigt werden, dass da der Testosteronspiegel ansteigt, der Cortisol Spiegel sinkt. ((Also physiologische Veränderungen, insbesondere Hormonprofile, verändern sich eben nicht durch kurzen Körperhaltungsintervention.))[00:04:59][19.7]
Musik 11: Psyching up – siehe vorn – 32 Sek
Sprecherin:
Zusammengefasst also: Power Posing hat einen Effekt - aber nur auf die Psyche. Damit ist die Wirkung also lange nicht so stark wie anfangs angenommen. Bei der Facial-Feedback-Hypothese – die Hypothese, die im Rahmen der Bleistift-Studie aufgestellt wurde -, ist der Fall wohl ähnlich wie beim Power Posing: Es gibt einen Effekt, aber er ist schwächer als ursprünglich vermutet, sagt Thomas Fuchs, Philosoph und Psychiater von der Universität Heidelberg:
11_FUCHS_FORSCHUNGEN VON STRACK: [00:42:12]
Die Forschungen von Strack zur Rückwirkung des Lächelns, auf also einer Lächelhaltung auf die Bewertung von Situationen – also „Fühlt man Situationen als angenehmer oder lustiger?“ oder „Fühlt man sich besser, wenn man ein Lächeln einnimmt?“ sind zumindest so weit repliziert, dass man sagen kann, das subjektive Gefühl des Sich-besser-, Sich-anders-fühlens das lässt sich schon nachweisen. [00:42:57][44.9]
Sprecher:
Was sich aber nicht immer reproduzieren ließ, war die Bewertung der Situation, also die Frage, wie die Probanden die Comics bewerteten, die sie sich anguckten. Das könnte laut Fuchs aber auch damit zusammenhängen, dass die Originalstudie vielleicht nicht ganz genau nachgestellt wurde: Wenn zum Beispiel eine Kamera statt eines Menschen die Versuchsperson beobachtet, könne das den Effekt verringern. Insgesamt zeige die Replikationskrise, dass man vorsichtig mit den Ergebnissen umgehen müsse, so Thomas Fuchs. Er ist aber trotzdem sicher, dass die Theorie von Embodiment grundsätzlich stimmt:
12_FUCHS_EINE SOLCHE FÜLLE:
[00:40:47] Es gibt eine solche Fülle von Befunden zu diesem Zusammenhang, also der Rückwirkung von Körperhaltungen, Körpererleben, Körperausdruck auf unsere Gefühle und auf die Bewertungen, auf die Wahrnehmung von emotionalen Situationen, dass wir sicher nicht sagen können, dieses Prinzip der Verkörperung ist an dieser Stelle sozusagen widerlegt oder gescheitert. [00:41:18][31.8]
Sprecher:
Das Konzept des Embodiments hat also die Replikationskrise überstanden - in der Psychologie ist es anerkannt. Und selbst in der Computerwissenschaft – die ja geprägt ist durch die Gehirn-als-Computer-Metapher – spielt Embodiment mittlerweile eine Rolle. Das sagt Lena Kästner, Professorin für Philosophie, Informatik und Künstliche Intelligenz.
13_KÄSTNER_ROBOTIKER: [00:03:08]
Wenn Sie mit einem Robotiker oder einer Robotikerin sprechen, da bin ich mir sehr sicher, dass die Embodiment für essenziell halten werden. Denn in der Robotik geht es ja gerade darum, dass wir computationale Prozesse mit Robotern vereinfachen können, dass wir die ein Stück weit auslagern können in die Umwelt und dadurch effizientere Verarbeitungsprozesse haben. [00:03:39][31.3]
Sprecher:
Als Beispiel nennt sie den Roboter Herbert:
14_KÄSTNER_HERBERT: [00:03:39]
Herbert war ein Roboter, den MIT-Forscher gebaut haben. Es war einer der der ersten Roboter, die sich frei daran im Lab herum bewegt haben. Und Herberts Aufgabe war, Coladosen einzusammeln. Und die große Revolution von Herbert gegenüber früheren Robotern war, dass Herbert keine Karte der Labor hatte, sondern Herbert ist einfach losgelaufen und wann immer er ein Hindernis getroffen hat, hat er halt die Richtung gewechselt und er ist halt so durchgelaufen, hat irgendwie die Umgebung exploriert, hat die Labore quasi so nach und nach abgesucht nach Coladosen, die er dann einsammeln konnte. Und auch das Sammeln der Coladose läuft dann über Feedback zwischen Robotern und Umwelt. Also er „sieht“ die Coladose, streckt den Arm aus, greift. Und natürlich braucht es auch da wieder das Feedback, ähnlich wie beim natürlichen Greifprozess, wenn man das jetzt mal so bezeichnen möchte. Auch da spielt ja Feedback halt eine essenzielle Rolle, habe ich ja eben beschrieben. Und auch bei Herbert spielt das eine wichtige Rolle, dass er halt über die Coladosen kann ja unterschiedlich groß sein. Vielleicht sind sie schon verbogen, haben eine etwas andere Form, vielleicht ist noch ein Rest drin, sie schwerer und das wird halt über die Sensoren dann dynamisch angepasst. [00:05:13][94.3]
Sprecher:
Der Roboter Herbert lernte also durch die Interaktion mit der Umwelt. Indem er dadurch seine Motorik anpasste, erfüllte er seine Aufgaben besser. Das Konzept des Embodiments findet auch in der Informatik seine Anwendung
15_KÄSTNER_RIESENTHEMA:
[00:05:13] Und ich denke, wenn man also sofern man das als Informatik bezeichnet und sofern man sich diese Anwendungsform der Informatik anschaut, dann ist Embodiment glaube ich ein Riesenthema. [00:05:23][10.3]
Musik 12: C-5 Galaxy – siehe vorn – 55 Sek
Sprecher:
Das Konzept von Embodiment ist heute ein etablierter Teil vieler Wissenschaften, von der Behandlung von psychischen Krankheiten über die Sportwissenschaften bis hin zur Robotik spielt es eine Rolle. In der Zukunft werden wir sicher neue Antworten finden, auf die Frage, die uns seit der Antike beschäftigt: Wie hängen Körper und Geist zusammen?
Sprecherin:
Doch für jetzt gilt: Körper und Geist sind nicht getrennt voneinander: Die Psyche beeinflusst den Körper und der Körper beeinflusst Denken und Psyche. Auch wenn die Effekte wohl geringer sind als angenommen, kann es tatsächlich helfen, sich vor dem nächsten Vorstellungsgespräch groß zu machen und selbstbewusst hinzustellen – oder einfach mal zu lächeln.
Der Dschungel braucht Hilfe! Denn die Menschheit zerstört das einzigartige Ökosystem und seine enorme Artenvielfalt. Durch illegale Abholzung, Minen- und Staudammbau, Plantagen- und Weidewirtschaft. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2020)
Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Christian Baumann, Jörg Puls, Julia Cortis, Johannes Hitzelberger
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Klimakrise ist JETZT | Amazonas Regenwald vor dem Kipppunkt?
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Prof. Dr. Anja Rammig, Biologin, TU München
Rita Mamallacta, Quechua, Ecuador
Angel Fernandez, Geologe, Nationalpark La Gomera
Diego Restrepo, Minenarbeiter, Kolumbien
Chris Kaiser, Bedandtree.com
Chris Rials-Seitz, Umweltaktivistin, Ecuador
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Autor und Regie dieser Folge: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Burchard Dabinnus
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Im Interview:
Dr. Christian Strippel, Forschungsgruppenleiter am Weizenbaum Institut in Berlin
Literaturtipps:
Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft– Suhrkamp 1977
Gunna Wendt: Computermacht und Vernunft: Gespräche und Geschichten. Hommage an Joseph Weizenbaum zu seinem 100. Geburtstag – Limbus Preziosen 2023
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Im Interview:
Trishna Dutta, Biologin;
Raquel Filgueiras, Leiterin Rewilding Europe, Rotterdam.;
Néstor Fernández, Biologe. Deutsches Zentrum für integrative; Biodiversitätsforschung, Leipzig; Katrin Schikorr, Mitarbeiterin Rewilding Oder-Delta, Berlin.
Ulrich Stöcker, Leiter Rewilding Deutschland, Berlin.
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Der 11. September 2001 gilt als der folgenreichste Terroranschlag der Weltgeschichte, mit fast 3000 Todesopfern. Die Anschläge stufte die US-Regierung als Kriegsakt ein und reagierte in den Folgejahren selbst mit mehreren Kriegen, die dem Ansehen der USA in der Welt schadeten und der Beziehung zu den Bündnispartnern einen gehörigen Stresstest unterzogen. (BR 2021) Autor: Florian Kummert
Credits
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel, Axel Wostry, Florian Schwarz
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
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Warten ist ein Phänomen, das alle kennen. Wir warten auf eine Antwort auf unsere SMS, oder der Schlange an der Kasse. Und doch ist Warten komplexer, als es auf den ersten Blick scheinen mag - denn es hat immer etwas mit Macht zu tun. Beim Warten geht es nicht nur um Zeit - sondern vor allem um uns selbst. Autorin: Valerie von Kittlitz (BR 2022)
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Hafer ist das neue Superfood. Zumindest dem Anschein nach: Influencer werben dafür, kaum noch ein Café kommt ohne Hafermilch aus, die Supermärkte bieten Kekse, Müslis, Riegel mit Hafer an. Aber was ist dran an der Behauptung, Hafer sei supergesund? Was macht Hafer so besonders? Von Daniela Remus
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Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Mathias Fasshauer, Ernährungswissenschaftler, Universität Gießen
Prof. Hans Hauner, Ernährungswissenschaftler, TU München
Prof. Stefan Lorkowski, Biochemiker + Ernährungswissenschaftler, Universität Jena
Prof. Marie Christine Simon, Ernährungswissenschaftlerin, Universität Bonn
Linktipps:
Homepage von Prof. Mathias Faßhauer, Universität Gießen HIER
Homepage von Prof. Stefan Lorkowski, Universität Jena HIER
Forschung zu Hafer von Stefan Lorkowski et al:
In Frontiers in Nutrition: doi: 10.3389/fnut.2023.1095245
Homepage von Prof. Hans Hauner, TU München HIER
Homepage von Prof. Marie-Christine Simon, Universität Bonn HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Gehackt, gemahlen und gepresst: Getreide ist für uns ein unverzichtbares Lebensmittel. Und das schon seit mehr als 10.000 Jahren. Denn bereits damals haben unsere Vorfahren Getreide vielfältig verarbeitet, um es gut kauen und essen zu können.
Trotzdem kamen in unseren Breiten in den vergangenen Jahrzehnten viele Getreidesorten vor allem als Tierfutter zum Einsatz.
MUSIK 1
"Rattle" - Komponist: Oliver Doerell, Roger Döring & Alex Stolze - Album: Poems From a Rooftop - Musiker: Dictaphone - Länge: 0'50
ERZÄHLERIN
Das hat sich jetzt geändert, vor allem ein Getreide ist wieder da: Hafer! Und zwar in allen Varianten, als Brei, als Müsli, als Riegel, Keks, Kuchen oder als Milchersatzdrink. Denn Hafer werden beeindruckende Eigenschaften zugeschrieben: Das Getreide mache gesund und fit, halte schlank, reduziere das Darmkrebsrisiko, senke den Cholesterinspiegel und das Risiko für einen Diabetes Typ II. In der Werbung klingt das dann so:
Zitator
Die Kraft des Hafers
7 Gründe, warum Hafer für Dich so gesund ist
Hafer, DAS regionale Superfood
Haferflocken wirken wie Medizin
ERZÄHLERIN
Aber stimmt das überhaupt? Und was genau soll an Hafer gesund sein?
TAKE 1 (O-Ton Fasshauer)
Hafer besitzt definitiv gesundheitsfördernde Eigenschaften…
ERZÄHLERIN
Sagt der Ernährungswissenschaftler Prof. Mathias Fasshauer von der Universität Gießen.
TAKE 2 (O-Ton Fasshauer) L: 0, 30
Es hat vor allem erstmal Ballaststoffe, die in ordentlichem Maße vorhanden sind. Wir reden da von 10gr. Ballaststoffen ungefähr auf 100gr Hafer, so dass es als ballaststoffreich gelten kann. Und wir wissen, dass Ballaststoffe ganz allgemein positive Effekte haben, auf die Darmflora z.B. Die senken das Risiko für Darmerkrankungen und die helfen gegen Verstopfung, dafür werden sie auch gerne eingesetzt. Sie haben auch gute Effekte auf das Sättigungsgefühl, d.h. wenn ich Ballaststoffe esse, dann bleibe ich länger satt und es verzögert sich auch die Aufnahme von Zucker in den Blutkreislauf.
ERZÄHLERIN
Betrachten wir also als erstes die Ballaststoffe, die der Hafer enthält: 10 Gramm Ballaststoffe auf 100 Gramm Hafer ist in der Tat ziemlich viel. Zum Vergleich: Ein herkömmliches Weißbrot verfügt gerade einmal über 2,7 Gramm Ballaststoffe auf 100 Gramm., Brokkoli 2,6 g Gramm; Brombeeren 5,3 Gramm. Die deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, pro Tag etwa 30 Gramm Ballaststoffe mit der Nahrung aufzunehmen. Denn Ballaststoffe sind – wir haben es ja gerade gehört - für unsere Gesundheit außerordentlich wichtig. Auch wenn es auf den ersten Blick widersprüchlich scheint, denn Ballaststoffe können vom menschlichen Organismus gar nicht verstoffwechselt werden, erklärt Marie-Christine Simon, Professorin für Ernährungswissenschaften an der Universität Bonn.
TAKE 3 (O-Ton Simon) L: 0, 30
Dafür brauchen wir die im Darm lebenden Bakterien. …Und deswegen ist so ein Nahrungsmittel wie Hafer, das diesen Bakterien im Darm zugute kommt, die die Ballaststoffe aus dem Darm verstoffwechseln können, zu den sogenannten kurzkettigen Fettsäuren …und die helfen dann …den Zellen im Darm, dass die mit ausreichenden Nährstoffen versorgt werden. Und damit dann auch ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen können.
ERZÄHLERIN
Im Darm jedes Menschen leben Tausende von Stämmen unterschiedlichster Bakterien. Sie alle zusammengenommen wiegen ungefähr 1-2 Kilogramm und werden Darmflora oder Mikrobiom genannt. Diese Billionen von Mikroorganismen sind für unseren Darm unverzichtbar. Um unsere Nahrungsmittel zu verstoffwechseln, also so zu verarbeiten, dass sie unseren Organismus mit notwendigen Vitaminen oder Mineralstoffen versorgen. Manche dieser Bakterien können v.a. Zucker und Eiweiße verarbeiten, andere machen aus Lebensmitteln dringend benötigte Vitamine, wie beispielsweise Biotin oder Folsäure.
Diese Kooperation von Bakterien und Darm hat sich im Laufe der Evolution immer weiter optimiert. Aber sie kann durch einseitige Ernährung gestört werden, dann sprechen Medizinerinnen und Mediziner von einem „aus der Balance geratenen” Mikrobiom. Wie genau sich die Bakterien gegenseitig beeinflussen und welche Funktion sie im Einzelnen haben, ist noch nicht vollständig verstanden. Aber eins ist für die Forschenden mittlerweile klar: Je weniger Ballaststoffe ein Mensch zu sich nimmt, desto mehr gerät das Mikrobiom aus der Balance.
TAKE 4 (O-Ton Simon) L: 0, 15
Man stärkt die positiven Bakterien im Darm und deren Stoffwechsel und das ist das dann wieder gut für die …gesunde Symbiose, die wir mit den Bakterien haben im Darm.
ERZÄHLERIN
Forschende vermuten, dass ein gestörtes Mikrobiom für chronisch entzündliche Darmerkrankungen verantwortlich ist, für Diabetes und Adipositas. Auch wenn sie die genauen Mechanismen dafür noch nicht vollständig erklären können: Ob also eine gestörte Darmflora diese Erkrankungen auslöst oder ob sie eine Folge davon ist. Festzustehen aber scheint: Je gesünder das Mikrobiom, also je unterschiedlicher die Bakterien, die im Darm leben, desto gesünder ist auch der menschliche Organismus. Und dazu kann der Hafer beitragen.
TAKE 5 (O-Ton Lorkowski) L: 0, 25
Etwas ganz Besonderes bei Getreide allgemein und besonders bei Hafer: Dass wir Lebensmittel haben, die sehr ballaststoffreich sind. Und Ballaststoffe essen wir bei uns in Deutschland viel zu wenig. Die empfohlene Menge, davon essen wir nur knapp zwei Drittel und letzten Endes hilft eben der Haferverzehr in Form z.B. von Haferflocken zum Frühstück total gut dabei eben diese Ballaststoffzufuhr zu erhöhen.
ERZÄHLERIN
Erklärt der Biochemiker und Ernährungswissenschaftler Prof. Stefan Lorkowski von der Universität Jena.
TAKE 6 (O-Ton Lorkowski) L: 0, 30
Und was wir in zahlreichen epidemiologischen Studien sehen, wir haben weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen die viel Vollkorngetreide verzehren, wir haben weniger Diabetes, wir haben generell eine spätere Sterblichkeit. Das heißt, die Leute werden älter, leben länger gesund und wir haben v.a. weniger Dickdarmkrebs und eine Vielzahl dieser Wirkungen werden den Ballaststoffen im Getreide, respektive dem Hafer zugeordnet.
MUSIK 2
"City" - Musiker: Deaf Center - Album: Neon City - Länge: 1'00
ERZÄHLERIN
Hinzu kommt, dass Ballaststoffe im Darm aufquellen, unabhängig davon, ob sie im Gemüse, Obst oder Getreide enthalten sind. Und das führt dazu, dass sie länger sättigen. Das kennt jede und jeder: Eine Scheibe Vollkornbrot macht länger satt als eine Scheibe Toastbrot. Und das liegt an den Ballaststoffen, für die der Körper, bildlich gesprochen, länger braucht, bis er sie verarbeitet hat. Dieser Effekt kann sich positiv auf das Körpergewicht auswirken: Denn wer satt ist, hat weniger Hunger und isst weniger.
Aber: Hafer ist trotzdem kein Wundermittel, um abzunehmen – auch wenn das zur Zeit von vielen Influencerinnen und selbsternannten Ernährungsberatern im Netz so behauptet wird. Die wissenschaftliche Datenlage dafür ist dünn, erklärt die Ernährungs¬wissenschaftlerin Marie-Christine Simon:
TAKE 7 (O-Ton Simon) L. 0, 30
Es gibt einige Arbeiten, die darauf hindeuten, dass durch den Konsum von Hafer Gewichtsreduktion kommen kann. Es gibt aber auch andere Arbeiten, die sagen, wenn wir das auf einer isokalorischen Ebene machen, also wirklich, dass man nur eine Mahlzeit austauscht, mit einer Nicht-Hafer Mahlzeit, aber sich in der gleichen Kalorienaufnahme befindet, dass das dann zwar zu einer Verbesserung des Stoffwechsels führt, obwohl man gar keine Gewichtsreduktion hat.
ERZÄHLERIN
Wer seine Ernährung also insgesamt nicht umstellt, und zu den üblichen Kalorien noch zusätzlich eine Hafermahlzeit zu sich nimmt, erreicht damit nicht, dass die Kilos schwinden. Selbst wenn nur eine tägliche Mahlzeit durch Hafer ersetzt wird, wird das höchstwahrscheinlich keinen Effekt auf das Gewicht haben. Denn um das zu erreichen, muss die Gesamtmenge an Kalorien reduziert werden – ob mit oder ohne Hafer.
MUSIK 3
"Reveille" - Musiker: Wayne Horvitz Gravitas Quartet - Album: Way out east - Länge: 0'30
ERZÄHLERIN
Ganz anders, nämlich wissenschaftlich eindeutig, sind dagegen die gesundheitlichen Effekte, die die löslichen Ballaststoffe des Hafers verursachen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen konnten in verschiedenen Untersuchungen zeigen, dass sie tatsächlich eine positive gesundheitliche Wirkung haben, sagt Stefan Lorkowski:
TAKE 8 (O-Ton Lorkowski) L: 0, 30
Diese löslichen Ballaststoffe haben einen ganz besonderen Mehrwert. Die können nämlich die Gallensäure im Darm binden und das führt dann dazu, dass Gallensäuren vermehrt ausgeschieden werden und das hat einen ganz positiven Nebeneffekt, dass also der Körper Gallensäuren nachproduzieren muss. Und dafür benötigt er sein im Körper vorhandenes Cholesterin, daraus werden die Gallensäuren hergestellt. Und wenn dann dieses Cholesterin verbraucht wird, dann hat das den Vorteil, dass der Cholesterinspiegel sinkt.
ERZÄHLERIN
Ein erhöhter Cholesterinspiegel, umgangssprachlich Blutfettspiegel genannt, erhöht nämlich das Risiko für Herz-Kreislauf Erkrankungen, also z.B. für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Deshalb achten Medizinerinnen und Mediziner darauf, dass der Cholesterinspiegel im Blut nicht zu hoch ist. Und verordnen Medikamente, die sogenannten Statine, um ihn abzusenken. Aber, wie Stefan Lorkowski in einer Untersuchung an seinem Institut gezeigt hat, kann eine solche Absenkung auch ohne Medikamente, nämlich durch den Konsum von Hafer erreicht werden. Zumindest in einem gewissen Rahmen:
TAKE 9 (O-Ton Lorkowski) L: 0, 35
Wir haben zeigen können bei uns in der Studie, das waren Teilnehmer die eine leichte Hypercholesterinämie hatten, das heißt bei denen war der Cholesterinspiegel erhöht, und da haben wir einen mittleren Effekt von 6,5 Prozent Senkung gesehen. Das hängt aber natürlich auch noch von anderen Faktoren ab, nicht nur von den Getreideflocken. In der Regel gilt, je höher der Cholesterinwert ist, desto höher kann auch der Effekt der Ernährung sein, aber letztendlich können wir mit der Ernährung nur das kompensieren, was wir vorher falsch gemacht haben.
ERZÄHLERIN
Es gibt Menschen, die an einer erblichen Fettstoffwechselstörung leiden, aber in rund zwei Drittel der Fälle ist die Ernährung für einen zu hohen Cholesterinspiegel verantwortlich: Viel Fleisch, wenig Gemüse, Obst, Getreide und Fisch, viel Zucker, dazu gesättigte Fettsäuren wie in Pommes oder Chips. Deshalb kann man auch bei der Ernährung ansetzen, um den Cholesterinspiegel wieder in den Griff zu bekommen.
Medizinerinnen und Mediziner unterscheiden zwei Cholesterinwerte: Das HDL-Cholesterin, umgangssprachlich auch das „gute” Cholesterin genannt und das LDL-Cholesterin, umgangssprachlich das „schlechte” Cholesterin genannt. Das HDL-Cholesterin hat die Funktion, die überschüssigen Blutfette zurück in die Leber zu transportieren. Ganz anders das LDL-Cholesterin: Es lagert sich an den Wänden der Blutgefäße ab, so dass sich diese nach und nach immer weiter verengen. Diese Ablagerung nennen Mediziner und Medizinerinnen „Atherosklerose“. Sie verstärkt das Risiko für einen Herzinfarkt, Schlaganfall oder auch für Durchblutungsstörungen in den Beinen. Dieses schädliche LDL-Cholesterin lässt sich durch Hafer in der Ernährung reduzieren, erklärt Mathias Faßhauer:
TAKE 10 (O-Ton Faßhauer) L: 0, 30
Bei Hafer wird noch ganz spezifisch gelobt, der lösliche Ballaststoff Beta-Glucan. Das sind 5gr auf pro 100gr. Endprodukt drinnen. Und das ist ein wasserlöslicher Ballaststoff, der bindet Cholesterin und verbessert dadurch die Blutfettwerte. Und wenn Menschen über die gesundheitsfördernden Aspekte von Hafer reden, dann reden sie auch ganz oft darüber, dass gerade dieses Beta-Glucan ganz besonders viel im Hafer vorzufinden ist.
MUSIK 4
"Stones Throw" - Album: Language Barrier - Künstler: Lusine Ici - Länge: 0'40
ERZÄHLERIN
Beta-Glucane, diese nützlichen Ballaststoffe mit der Cholesterinbindekompetenz, kommen nicht nur in Getreide sondern auch in Pilzen, Algen, Bakterien und Hefen vor. Und weil sich ihre gesundheitsfördernden Eigenschaften mittlerweile herumgesprochen haben, werden sie sogar als Nahrungsergänzungsmittel angeboten.
Beta-Glucane senken aber offenbar nicht nur den Cholesterinspiegel, sondern auch den Blutzuckerspiegel, wie Ernährungswissenschaftler Mathias Faßhauer von der Universität Gießen ausführt.
TAKE 11 (O-Ton Faßhauer) L: 0, 15
Wenn man über die medikamentöse Wirkung von Hafer spricht, dann würde man immer am ehesten den Diabetes Mellitus Typ 2 nennen. Also ein Diabetes Mellitus, der mit Übergewicht assoziiert ist und dazu führt, dass Menschen insulinresistent werden. D.h. das Insulin, das im Körper zirkuliert kann dann an den Zellen des Menschen nicht mehr richtig wirken und es gibt eine sogenannte Insulinresistenz.
ERZÄHLERIN
Diabetes Mellitus ist umgangssprachlich auch unter dem Namen Zuckerkrankheit bekannt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterscheiden eine erblich bedingte Form, Diabetes Typ 1, bei der die Bauchspeicheldrüse so geschädigt ist, dass sie das Hormon Insulin nicht mehr produzieren kann. Das Insulin aber brauchen wir, um den Zucker im Blut zu den Körperzellen zu transportieren, um sie damit zu versorgen. Wenn der Körper also kein Insulin herstellen kann, muss es als Medikament gespritzt werden, damit der Zuckerspiegel nicht außer Kontrolle gerät und die Menschen daran sterben. Hafer nützt in diesem Fall nichts. Aber bei einem Diabetes Typ 2, der erst im Laufe des Lebens entsteht, durch Ernährung und Lebensweise, sieht das anders aus. Denn dabei verlieren die Körperzellen nach und nach die Fähigkeit, das Insulin aufzunehmen und zu verarbeiten. Das lässt sich manchmal durch die Ernährung wieder rückgängig machen.
TAKE 12 (O-Ton Faßhauer) L: 0, 30
Und da ist vor über 100 Jahren, also das sind die 1890er Jahre gewesen, da hat Carl von Noorden festgestellt, dass, wenn er in einer solchen Situation, wenn ein Diabetes Mellitus Patient mit einer starken Insulinresistenz, wenn der Hafer zu sich nimmt, an sogenannten Hafertagen, dass dann die Insulinempfindlichkeit deutlich besser wird. Was das Gleiche ist wie, dass die Insulinresistenz geringer wird.
ERZÄHLERIN
Hafertage nützlich für Diabetes-Patienten? Diese Beobachtung hat der Diabetologe und Internist Carl von Noorden 1902 erstmalig publiziert. Er konnte zeigen, dass der Blutzuckerspiegel durch diese Maßnahme tatsächlich zurückgegangen ist. Aber wissenschaftlich ist nicht eindeutig, ob der beobachtete Effekt primär auf die Eigenschaften des Hafers zurückzuführen ist. Denn:
TAKE 13 (O-Ton Faßhauer) L: 0, 30
Das ursprüngliche Konzept, was dort gemacht wird, ist, dass man 2-3 Hafertage am Stück macht und jeden Tag würde man an 3 Mahlzeiten 75 Gr. Haferflocken in Wasser oder fettfreier Brühe kochen und das ist dann auch die einzige Mahlzeit. Und wenn man sich das dann genau überlegt, das sind ja 225 gr. Hafer und diese 225 gr Hafer haben deutlich weniger als 1000 kcal Energie. So dass man sagen muss, ein Hafertag in seiner klassischen Form ist ein ganz klassischer Diättag.
ERZÄHLERIN
Und ein solcher Diättag, mit gedrosselter Energie durch die Nahrungsaufnahme, führt eben nicht nur zu einer Gewichtsreduktion, sondern senkt auch den Blutzuckerspiegel. Dadurch erhöht sich bei Diabetes Typ 2 Patienten die Insulinempfindlichkeit. Ob dieser Effekt dem Hafer und vor allem dem Beta-Glucan zuzuschreiben ist, oder ob eher die verminderte Kalorienzufuhr dafür ursächlich ist, darüber herrscht in der Wissenschaft keine Einigkeit:
TAKE 14 (O-Ton Faßhauer) L: 0, 35
Wenn jemand einen Diabetes Mellitus Typ 2 hat oder zumindest eine gestörte Glucosetoleranz, was ja die Vorform dieses Diabetes Mellitus Typ 2 wäre, dann wird so eine Intervention zunehmend sinnvoller. Aber man muss sagen, die Hauptprofiteure der Intervention sind tatsächlich Menschen, die neben dem Diabetes Mellitus Typ 2 noch diese starke Insulinresistenz haben, weil die einfach am deutlichsten profitieren. Das sind Menschen die häufig große Mengen Insulin spritzen und wenn sie dann durch so einen Hafertag das um 30-50% senken können, ihre Insulindosen…dann ist das eine sehr wirksame und gute Therapie.
ERZÄHLERIN
Deshalb werden Hafertage auch heute noch als Therapie eingesetzt bei Menschen, die einen entstehenden oder moderat ausgeprägten Diabetes Typ 2 haben.
MUSIK 5
"Downstream" - Album: The Sails, Pt. 2 - Komponist: Scott Morgan - Ausführende: Loscil - Läbge: 0'30
ERZÄHLERIN
Im Mittelalter und der frühen Neuzeit war Hafer, gegessen als Haferbrei, vor allem eine Speise der Armen. Ganz anders heute: Porridge, Overnight Oats, Bircher Müsli und Co sind ziemlich hip. Ob im angesagten Szene Café in München oder im Supermarkt im Bayerischen Wald.
TAKE 15 (O-Ton Faßhauer) L: 0, 15
Wenn jetzt jemand die Frage stellt, sollte ich jetzt Hafer essen, ist das immer günstig? Dann würde ich persönlich sagen, dass, wenn jemand mir erzählt, dass er viel Hafer isst, ich noch nicht sehr viel weiß darüber, ob er sich gesund ernährt.
ERZÄHLERIN
So Mathias Faßhauer, Ernährungswissenschaftler an der Universität Gießen.
TAKE 16 (O-Ton Faßhauer) L: 0, 25
Ich muss ihm dann ganz konkret die Frage stellen, diesem Menschen, wie isst du deinen Hafer? Wenn ich dann höre, ich esse Haferflocken oder Overnight Oats und ich mach mir da Obst dazu oder Nüsse, dann kann man sagen, nimmt diese Person alle günstigen Eigenschaften des Hafers mit und dann ist das ernährungsphysiologisch als sehr empfehlenswert zu sehen.
ERZÄHLERIN
Aber nicht alle Lebensmittel, die damit werben, dass sie Hafer enthalten, sind gleichermaßen gesund. Denn wer Haferriegel, Kekse oder auch Müslis isst, die mit viel Zucker und Aromen angereichert sind, der macht damit die positiven und gesundheitsförderlichen Aspekte von Hafer wieder zunichte:
TAKE 17 (O-Ton Faßhauer) L: 0, 15
Weil, dann ist aus einem Lebensmittel mit Hafer ein hochverarbeitetes Lebensmittel geworden, da sind Dickmacher-Zutaten drin, von denen wir wissen, dass sie das Über-Essen und das Übergewicht fördern und dann wird dieses Haferprodukt ungesund und sollte vermieden werden.
ERZÄHLERIN
Deshalb sollten Haferprodukte vor dem Kauf genau angeschaut werden. Und das heißt: Die Zutatenliste durchlesen. Wenn beispielsweise dem Müsli Aromen, Süßungsmittel und/oder Zucker zugesetzt sind, dann ist klar, dass der Wert des guten Nahrungsmittels Hafer, geschrumpft ist. Dass die negativen Anteile dieser Ernährung die positiven Eigenschaften des Getreides überwiegen.
TAKE 18 (O-Ton Faßhauer) L: 0. 35
Hochverarbeitete Lebensmittel heißt ja, dass es ein Lebensmittel ist, was sehr sehr weit weg von einem natürlichen Ursprung ist, das heißt, wenn man jetzt beim Thema Haferprodukte bleibt, würde das heißen, dass der Hafer in einen Kontext gebracht wird, also verpackt wird, z.B. mit ganz viel Zucker oder Süßungsmittel und Aromen und dann ein neues Produkt kreiert wird, was so in der Natur nicht vorkommt. Und wir wissen aus sehr gut gemachten Studien, dass der Genuss solcher hochverarbeiteter Lebensmittel mit Übergewicht und Adipositas verbunden ist, aber auch mit einer Vielfalt anderer Erkrankungen.
ERZÄHLERIN
Viele der sogenannten Wohlstandskrankheiten wie Übergewicht, Adipositas, Diabetes Typ 2 oder die Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden ganz entscheidend durch die Ernährung mitverursacht. Und egal, wie wertvoll ein Lebensmittel von Natur aus ist, wenn es hochverarbeitet wird, um schmackhafter zu sein, verliert es einen Großteil des Werts für uns. Das gilt auch für den Milchersatz Haferdrink oder Hafermilch, ohne den heute kaum ein angesagtes Café seinen Kaffee anbietet. Die Vorstellung, mit diesem Milchersatz mehr für die Gesundheit zu tun als mit Kuhmilch, ist wissenschaftlich betrachtet nicht haltbar, sagt Prof. Hans Hauner, Ernährungswissenschaftler an der TU in München:
TAKE 19 (O-Ton Hauner) L: 0, 30
Was bringt dieser Haferdrink? Dieses Getränk ist nicht besonders wertvoll, das ist im wesentlichen Wasser mit ein bisschen was, was übrig bleibt aus diesem Herstellungsverfahren. Dabei geht viel verloren, dabei gehen Ballaststoffe verloren, andere wertvolle Inhaltsstoffe die sonst im Haferkorn enthalten sind, all das geht zum großen Teil mehr oder weniger verloren durch diese aufwendige Verarbeitung der Körner bis dann am Ende so eine Art Getränk entsteht.
ERZÄHLERIN:
In der sogenannten Hafermilch ist kaum Eiweiß, wenig Energie, sind wenige Ballaststoffe, und kaum Nährstoffe. So dass der Ernährungswert nicht besonders hoch ist. Dennoch entsteht durch Werbung und social media posts bei vielen Menschen der Eindruck, sich mit diesem Kuhmilchersatz etwas Gutes zu tun. Für Hans Hauner vor allem ein gutes Geschäft für die Lebensmittelindustrie:
TAKE 20 (O-Ton Hauner) L: 0, 15
Das Interessante für die Industrie ist, dass das relativ einfache Getränke sind, die aber zu wesentlich höheren Preisen abgesetzt werden können als die klassischen Milchgetränke. Also mit anderen Worten: Ein gutes Geschäft für die Hersteller und Anbieter solcher Pflanzendrinks.
Musik 6
"Rattle" - Komponist: Oliver Doerell, Roger Döring & Alex Stolze - Album: Poems From a Rooftop - Musiker: Dictaphone - Länge: 0'52
ERZÄHLERIN:
Was ist also dran am Hafer-Hype? Wie gesund ist das gepriesene Superkorn tatsächlich? Die Antwort ist eindeutig: Hafer an sich ist ein empfehlenswertes, wertvolles Nahrungsmittel, denn er hat viele Eigenschaften, die für den menschlichen Organismus gesundheitsfördernd sind. Aber Hafer ist nicht gleich Hafer. Ob als Drink, Riegel, Keks oder Müsli: Es kommt ganz entscheidend darauf an, wie naturbelassen oder industriell verarbeitet das Getreide ist, wenn wir es zu uns nehmen. Davon hängt ab, ob es tatsächlich gesund ist, oder doch eher eine Mogelpackung.
Die Geschichte der Schule beginnt mit der Erfindung der Schrift. Seitdem spiegelt sie alle gesellschaftlichen Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Bildungsvorstellungen in einer sich schnell verändernden Welt. Von Brigitte Kohn (BR 2019)
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Die "Bravo" galt als "Bibel der Jugend" und klärte ganze Generationen auf: Die verehrten Idole gab es als Starschnitt im Heft, auf heikle Fragen wusste Dr. Sommer eine Antwort, der Bravo- Otto war der Oscar der deutschen Jugend. Im Rentenalter hat das berühmte Heft als "Zentralorgan der Teenager" seine Aura scheinbar eingebüßt. Von Frank Halbach (BR 2021)
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Autor und Regie dieser Folge: Frank Halbach
Es sprachen: Edith Saldanha, Rainer Buck, Stefan Merki
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Zwischen Gartenzwerg und Jägerschnitzel, gehasst und instrumentalisiert. Nur wenige Worte sind in der deutschen Sprache so umkämpft und mit Emotionen aufgeladen wie "Heimat". Die Geschichte eines vieldeutigen Begriffes. Von Michael Zametzer (BR 2020)
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Der Komponist Paul Ben-Haim gilt als Schöpfer des israelischen Nationalstils. In seinen Kompositionen verschmilzt er Musiktraditionen arabischer und europäischer Herkunft. In München geboren, hatte er in Bayern eine glänzende Karriere als Musiker gemacht, bis die Machtergreifung der Nationalsozialisten ihn zur Emigration zwang. Von Julia Devlin (BR 2022)
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Jehoash Hirshberg: Paul Ben-Haim. His Life and Works. Jerusalem 1990
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Auf rund 4000 Alpengipfeln steht heute ein Gipfelkreuz. Oft stecken in den paar Balken aus Holz oder Metall dramatische Geschichten. Obwohl viele dieser Gipfelzeichen für Frieden, Freundschaft und Versöhnung stehen, scheiden sich an ihnen die Geister. Um die Deutungshoheit ist ein harter Kulturkampf entbrannt. Von Rainer Firmbach
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Autor dieser Folge: Rainer Firmbach
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Andreas Neumann
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Karin Becker
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Literaturtipps:
Walter Bonatti: Große Tage am Berg. Zürich, Rüschlikon, 1972.
Hans Joachim Löwer: Gipfelkreuze. Innsbruck, Athesia, 2019.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER:
Wie eine Kathedrale thront das Gaishorn über dem Vilsalpsee. Die mächtige Felspyramide gehört - neben Hochvogel und Trettachspitze -
zu den auffälligsten Berggestalten der Allgäuer Alpen. Auch bietet das Gaishorn dem rüstigen Gipfelstürmer eine phantastische Rundschau, nach allen Himmelsrichtungen.
SPRECHERIN:
Von frühester Jugend an hat Edmund Abel das Gaishorn immer wieder bestiegen. Stundenlang, sagt der Mann aus Legau, kann er dort oben am Gipfel, in 2249 Metern Höhe, nur dasitzen und schauen.
SPRECHER:
Abels Hauptaugenmerk gilt dabei dem imposanten Gipfelkreuz, mit seinem schmiedeeisernen Strahlenkranz. Aus gutem Grund. Zähe Legauer Naturburschen haben dieses neue Kreuz 2011 hier heraufgetragen, Seite an Seite mit Bergwachtlern aus dem Tannheimer Tal, als Ersatz für das alte Legauer Holzkreuz, das ein Wintersturm beschädigt hatte.
Musik weg
SPRECHERIN:
Im Kreuz auf dem Gaishorn-Gipfel sieht Edmund Abel mehr als nur eine Selfie-Kulisse, für das zeittypische Gipfelfoto auf Social Media:
1. O-Ton:
„Aufm Gipfel vom Gaishorn is es e bissle wie hoim komma. Es is a bissle die verlängerte Flur von Legau. Weil ja da dieses Gipfelkreuz von der Kolpingsfamilie und jetzt auch von der Bergrettung Tannheim steht. Und es is e schönes Gefühl, wenn man weiß, dass da schon vor 80 Jahren aus unserem Ort Menschen sich genau für diesen Gipfel begeistert ham. Und es is einfach a tolles Gefühl, wenn man da oben steht, und auch diesen Gedanken mittragen kann.“
SPRECHER:
Die Liebe zu den Bergen, regionale Verbundenheit und Ehrfurcht vor dem tief in christlichen Glaubensvorstellungen verwurzelten Kreuzsymbol verbinden sich zu einem Narrativ, von dem sich auch heute noch eine große Zahl an Menschen angezogen fühlt - aufgeklärte Moderne hin oder her.
SPRECHERIN:
Warum das so ist, erklärt sich Hans-Joachim Löwer, Autor des Buches: „Gipfelkreuze“, so:
2.O-Ton:
„In der Tat, Kirche ist „out“, aber Gipfelkreuze sind „in“, seltsamerweise. Es werden ja immer wieder neue aufgestellt. Sie sind Symbole des Christentums. Die meisten Erbauer, und die meisten Alpinisten, die vor den Kreuzen stehen, empfinden so ein Kreuz aber eher als ein Zeichen, dass diese Stelle etwas Besonderes ist. Wer am Gipfel steht, hat sich über die Niederungen erhoben. Das Kreuz, vor dem du da stehst, führt dir vor Augen: das hier ist ein ungewöhnlicher, herausragender, feierlicher Platz.“
SPRECHER:
(( Löwer hat für seine vielstimmige Sammlung an Gipfelkreuzgeschichten akribisch recherchiert. Und gut 60.000 Höhenmeter zurückgelegt. Zu Fuß, mit Rucksack, Notizblock und Kamera.
3.O-Ton:
„Es hat bei mir ja ein halbes Jahrhundert gedauert, bis ich auf die Idee gekommen bin, über Gipfelkreuze zu schreiben. Vorher, bis dahin, habe ich, wie tausende andere Alpinisten auch, am Gipfelkreuz gesessen, meinen Rucksack ausgepackt, ne Flasche Wasser hergenommen und die Aussicht genossen. Und irgendwann, an einem Tag, das war ein ganz unscheinbarer Gipfel, in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen, gleitet mein Blick über das Gipfelkreuz. Und die Frage schießt mir durch den Kopf: wieso steht das Kreuz eigentlich da? (( Wer hat das denn gebaut? Wer hat das denn erdacht? Wie ham die das denn hier hochgebracht? Und warum? )) Und meine Vermutung war: dass in diesen Kreuzen dramatische Geschichten stecken.“ ))
SPRECHERIN:
Auf rund viertausend Alpengipfeln steht heute ein Gipfelkreuz. Oder auch eine Madonna, wie in Italien und in Frankreich häufiger der Fall.
Musik darüber
SPRECHER:
Viele von diesen Gipfelzeichen stehen für faszinierende, oft jahrhundertealte Geschichten.
SPRECHERIN:
Diese Geschichten erzählen von Päpsten, Bischöfen und Priestern, die gegen den „Ungeist der Welt“ zu Felde zogen, indem sie Bergspitzen mit Kreuzen „besetzen“ ließen. Oder von eigenwilligen Künstlern, die Berggipfel zu einer Spielwiese für ihre extravaganten Ideen machten.
SPRECHER:
Sie handeln von gottesfürchtigen Bergbauern, und ihrem - von alten, heidnischen Vorstellungen mitgeprägten - Volksglauben. Wetterkreuze sollten den „heiligen Berg“ - vormals Sitz der Götter, Geister und Dämonen - besänftigen, sollten Hagel, Blitz und Sturm bannen.
SPRECHERIN:
Nicht zuletzt auch erinnern Gipfelkreuzgeschichten an wagemutige Bergpioniere. Alte Fotos zeigen diese tollkühnen Erstbegeher, mit ihrer vorsintflutlich aussehenden Bergsteigerkluft: Filzhut und Lodenjacke, dazu Holzschaftpickel und genagelte Schuhe. Ihre Triumphe und Tragödien schrieben Alpingeschichte.
Musik weg
SPRECHER:
In der Entwicklungsgeschichte des Gipfelkreuzes markiert das Jahr
1800 eine Art „Quantensprung“. Wird jetzt doch zum ersten Mal auf einem Alpenberg von beträchtlicher Höhe: auf dem 3798 Meter hohen Großglockner, dem höchsten Berg von Österreich, ein mächtiges Gipfelkreuz aufgestellt.
SPRECHERIN:
Treibende Kraft bei diesem kühnen Projekt ist ein Mann im Bischofsgewand: Franz II. Xaver Altgraf von Salm-Reifferscheidt, Oberhirte der Diözese Gurk.
SPRECHER:
Eine Zeitenwende bahnt sich damals an in Europa. Nur sechs Jahre noch, und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wird zusammenbrechen. Auch blühen die Wissenschaften auf: es ist das Zeitalter der „Vermessung der Welt“. Und ein säkularer Geist, geprägt von Aufklärung, Rationalismus und Französischer Revolution, hat damit begonnen, die religiösen Autoritäten zu erschüttern.
SPRECHERIN:
Dieser versinkenden Welt will der couragierte Geistliche eine Art Denkmal setzen. Er finanziert daher die größte Expedition, die es bislang in den Alpen gegeben hat.
Musik darüber
SPRECHER:
Außer ihm nehmen ein Arzt, ein Landvermesser, ein Mineraloge und ein Botaniker an diesem abenteuerlichen Unternehmen Teil. Dazu kommt eine Karawane aus 26 Trägern, nebst Reit- und Packpferden. Auch schleppt man ein ganzes Arsenal von wissenschaftlichen Instrumenten mit.
SPRECHERIN:
Während die Honoratioren im letzten Hochlager, auf 3454 Metern Höhe, zurückbleiben, kämpfen sich im Juli 1800 fünf einheimische Führer, unter Zuhilfenahme von langen Holzstöcken, Schritt für Schritt, den steilen Gipfelaufbau hinauf. Sie hacken Stufen in die abschüssigen Rinnen aus Schnee und Eis. Spannen Sicherungsseile über halsbrecherische Felspassagen. Tatsächlich gelingt ihnen am Ende die Erstbesteigung des Gipfels. Dort verankern sie das fast vier Meter hohe Kreuz.
SPRECHER:
Die Einwohner in dem nahegelegenen Dorf Heiligenblut feiern das spektakuläre Ereignis mit Böllerschüssen. 79 Jahre lang wird dieses Kreuz auf dem Großglockner stehen: als „Wächter einer ewigen Ordnung“, wie die Kirche es sieht. Und zugleich als ein Symbol des menschlichen Forschungs- und Eroberungswillens.
Musik weg
(( 4.O-Ton:
„Neben dem Kreuz wurde ein überdachter Holzkasten aufgestellt, in dem ein Thermometer und ein Barometer eingeschlossen wurden. Den Schlüssel erhielt der Pfarrer des Dorfes Heiligenblut, mit der Maßgabe, ihn nur an Leute herauszugeben, die am Großglockner Messungen machen wollten.“
SPRECHERIN:
Tatsächlich lieferten die Messungen vom Großglocknergipfel vor allem Meteorologen viele wertvolle Erkenntnisse. ))
SPRECHER:
Erst 1880, anlässlich der Silberhochzeit des österreichischen Kaiserpaares, Franz Joseph und Elisabeth, wird das alte Kreuz durch ein neues, das so genannte „Kaiserkreuz“, ersetzt.
SPRECHERIN:
Mit dem Großglocknerkreuz ist das Zeitalter der Gipfelkreuze eingeläutet: abertausende solcher Gipfelzeichen werden jetzt, im Laufe der Zeit, im gesamten Alpenraum aufgestellt.
SPRECHER:
Die unterschiedlichsten Hoffnungen, Ängste und Schicksale ranken sich fortan um die paar Balken aus Metall oder Holz. Und nicht nur das. Mehr und mehr werden Gipfelkreuze auch zum Spielball weltanschaulicher Auseinandersetzungen.
SPRECHERIN:
Geradezu mustergültig zeigt sich das am Beispiel des Zuckerhütl,
dem höchsten Berg der Stubaier Alpen, in Österreich.
SPRECHER:
Dankbare Kriegsheimkehrer hatten auf diesem Berg, im Jahre 1947, ein Kreuz errichtet. In Erinnerung an die Schrecken des 2.Weltkriegs, sollte es eine Art Neuanfang symbolisieren. Wobei es aber, so Hans-Joachim Löwer, nicht blieb.
5.O-Ton:
Da gibt es im Stubaital einen engagierten, umtriebigen Kaplan namens Karl Loven. Der will ein Zeichen setzen, dass die alten, christlichen Tugenden wieder Einzug halten in das Tal, und in die ganze Welt. Er macht das Gipfelkreuz zum Thema eines Films, der ein Jahr später in Innsbruck uraufgeführt wird. Er schreibt ein Buch, in dem das Zuckerhütlkreuz an den heldenhaften Widerstand erinnert, den junge Katholiken gegen den Ungeist der Nazis geleistet haben. Es ist die Zeit, in der die Kirche ihren letzten, großen Kulturkampf um die Köpfe und Herzen der Menschen führt. In Deutschland gehen tausende von Christen gegen den Film die „Sünderin“ auf die Straße, in dem Hildegard Knef sich vor der Kamera nackt auszieht. Viele Gipfelkreuze, die aus dieser Zeit stammen, sind als Demonstration gegen die sich ausbreitende Säkularisierung gedacht.“
SPRECHER:
Auch das Zuckerhütlkreuz wurde in diesem Sinne weltanschaulich vereinnahmt. Karl Loven predigte nämlich seiner Anhängerschaft, über – Zitat – „frivole Filme nicht auf der Straße zu schimpfen“. Vielmehr helfe gegen den um sich greifenden Sittenverfall „nur das Gebet am Gipfelkreuz“.
SPRECHERIN:
Mitunter nimmt der „Kulturkampf“ ums Gipfelkreuz auch aberwitzige Züge an. Wie etwa, im Jahre 1943, in den Freiburger Voralpen, in der Schweiz.
SPRECHER:
Dort sehen wortgewaltige Gottesmänner, vom Kapuzinerorden, im Berggipfel des 1858 Meter hohen Les Millets gar eine, Zitat, „letzte Bastion der Moral“. Durch den Bau eines Gipfelkreuzes will man, dementsprechend, ein Zeichen setzen.
SPRECHERIN:
Sozialismus, Geld- und Machtgier, Sportsgeist, Tourismus oder Modeverrücktheiten - alles das ist in den Augen der Ordensbrüder „heidnischer Kram“.
SPRECHER:
Das Landleben hingegen wird von den Mönchen verklärt. Für die „feinen Städter“ kennt man daher im „Volkskalender“, ihrem offiziellen Presseorgan, nur Hohn und Spott:
Musik darüber (Jodler)
ZITATOR:
„Immer mehr solcher Sommervögel flattern jetzt in unsere Bergdörfer hinauf. Mit Jazz und Swing, all Abend Ball (…).
Aber es ist nicht gut, wenn dem einfachen Bergvolk solche Stinkkäfer und Grillen der Unzufriedenheit im Kopf herumsummen.“
SPRECHER:
An anderer Stelle mokiert man sich auf Schwyzerdütsch.
ZITATOR:
„Lueget auch, wie die Stadtweibervölker daherkommen: Es Müli zündrot verrandet. Die Fingernägel feurig wie Teufelskrallen.“
SPRECHERIN:
33 Jahre wird dieses „moralische Bollwerk wider den Zeitgeist“ auf dem Les Millets stehen, ehe es ein Blitzschlag zerstört.
Musik weg
SPRECHER:
Auf andere Art macht der nur 1205 Meter hohe Heigelkopf „Karriere“. Gehört doch dieser eher unscheinbare Berg, im Bayerischen Voralpenland auf dem Gebiet der Gemeinde Wackersberg gelegen, zum düsteren Erbe der Nazi-Zeit.
Musik darüber („Die Fahne hoch!“)
SPRECHERIN:
1933 - Adolf Hitler ist gerade erst an die Macht gekommen - taufen dort regimetreue Wackersberger Bürger - in vorauseilendem Gehorsam - den Heigelkopf um, in „Hitlerberg“. Und ersetzen das Gipfelkreuz durch ein Hakenkreuz. Mit Fackeln bestückt, leuchtet es bei Nacht ins Land hinaus, als ein „glühendes Bekenntnis zum Führertum“.
SPRECHER:
Der „Führer“ selbst steigt freilich nie auf diesen Berg. Bis heute aber werfen die Gespenster der Vergangenheit auf die Dorfgemeinde lange Schatten.
Musik weg
6.O-Ton:
„Im Frühjahr 1945, als Hitlers Reich in Trümmer sinkt, fürchten die Wackersberger, dass dieses Hakenkreuz ihnen Ärger bringen wird. So schleicht sich, kurz vor Ankunft der amerikanischen Truppen, nachts ein Trupp von Männern mit einem Schweißgerät hoch zum Hitlerberg. Die knicken das Nazi-Symbol, lassen es auf dem Gipfel liegen. Damit man beim Schweißen den verdächtigen Funkenflug nicht sieht, sind die Männer in Wettermäntel eingehüllt. Der Hitlerberg heißt seither natürlich wieder Heigelkopf. Das Internet aber vergisst ja bekanntlich nichts. Wer bei Google Maps oder Google Earth den Namen Hitlerberg eingibt, landet schnurstracks und zielsicher beim Heigelkopf. Jahrelang hat sich die Gemeinde Wackersberg darüber aufgeregt. Wütende Briefe an Google geschrieben, aber vergebens.“
MUSIKAKZENT
SPRECHERIN:
Gipfelkreuze werden von Stürmen gebeutelt, vom Blitz zertrümmert, unter Schneemassen begraben. Oder fallen neuerdings auch dem Klimawandel zum Opfer.
SPRECHER:
So geschehen am Ortler, in Südtirol, im Jahre 2012. Selbst auf dem Fastviertausender war der Permafrostboden aufgetaut, das Gipfelkreuz daher aus seinem Betonsockel gebrochen und mit wildem Getöse den Berg hinab gedonnert.
7.O-Ton:
„Nach dem 2. Weltkrieg haben amerikanische Besatzungssoldaten das Kreuz der Zugspitze zum Ziel von Schießübungen gemacht. Auf der Mondspitze, im Österreichischen Rätikon, lag eines Tages ein Gebiss in dem Kupferkasten am Kreuz, der eigentlich nur für das Gipfelbuch bestimmt war. Und im Gipfeltuch stand etwas von einer “bissigen Tour“. Und auf dem Monte Bregagno, am Comer See, in Italien, habe ich mit eigenen Augen gesehen, dass junge Leute ihre schweißnassen T-Shirts über das Gipfelkreuz hängten, damit die Outdoor-Wäsche in der Sonne trocknen konnte. Mir tat das schon ein bisschen weh. So einen Mangel an Respekt und Sensibilität zu sehen.“
SPRECHER:
Allein, braucht es überhaupt Gipfelkreuze? Diese provokative Frage wird neuerdings immer öfter gestellt. Und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert.
8.O-Ton:
„Gipfelkreuze haben ja nicht nur Freunde, sondern auch Feinde. Und die gehören zu einer Gruppe von Menschen, die der Ansicht sind, dass religiöse Symbole im öffentlichen Raum eigentlich nichts zu suchen haben. Vor allem in der Schweiz hat es spektakuläre Protestaktionen gegen Gipfelkreuze gegeben. Auf dem Berg Freiheit, in den Appenzeller Alpen, stand eines Tages plötzlich ein drei Meter hoher Halbmond, aus weißem Acrylglas. Ein Hubschrauber hatte das islamische Symbol auf den Gipfel geflogen. Sein Schöpfer war der Künstler Christian Meier, ein überzeugter Atheist, dem die vielen Gipfelkreuze auf die Nerven gegangen waren. „Ich mag Dinge, die beim Betrachter anecken“, sagte er, „ich wollte endlich einmal ein Gegengewicht schaffen.“ Er musste sein Objekt natürlich schnell wieder abräumen. Aber der Wirbel, den er entfachen wollte, den hat er gehabt.“
SPRECHERIN:
Selbst Nacht- und Nebel-Aktionen, von sichtlich härterer Gangart, bleiben nicht aus: 9.O-Ton:
„Etwas rabiater ging der Schweizer Bergführer Patrick Bussard vor. Er brachte in den Bergen des Kantons Fribourg gleich drei Gipfelkreuze zu Fall. Einmal löste er die Schrauben, mit denen das Monument befestigt war. Zweimal war er mit einer Säge zugange. Er wurde dafür von einem Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt, stand aber auch nach dem Prozess zu seiner Tat. „Christliche Kreuze sind Symbole des Todes, der Gewalt und der Macht!“ sagte er. „Sie haben in den Bergen nichts zu suchen.“ Seine Kreuzfällerei löste landesweite Empörung aus. Der Schweizer Alpenclub schloss ihn aus seinen Reihen aus. Ein harter Schlag für einen Bergführer.“
SPRECHER:
Als es 2016 vermehrt zu aggressiven Attacken eingefleischter Gipfelkreuz-Gegner kommt, meldet sich Reinhold Messner, Bergsteiger-Ikone aus Südtirol, zu Wort. Er fordert einerseits:
ZITATOR:
„Man sollte die Berge nicht zu religiösen Zwecken „möblieren“. Denn sie gehören der ganzen Menschheit.“
SPRECHER:
Andererseits sollten alle bestehenden Gipfelkreuze, so Messner,
erhalten bleiben. Immerhin seien sie „ein Stück Kulturgeschichte“. Und ihr gewaltsames Entfernen daher ein „Akt von Vandalismus“.
(( SPRECHER:
Vom Kreuz als Verweis auf eine höhere Sphäre hält der berühmte Achttausenderbezwinger hingegen nicht viel. Messners Credo lautet daher:
ZITATOR:
„Die Berge selbst haben etwas Erhabenes - da braucht es kein Zeichen für etwas Übernatürliches.“ ))
Musik darüber
SPRECHERIN:
Fehlt noch ein Blick auf Kreuze, die mit den Schicksalen einzelner Menschen verbunden sind.
SPRECHER:
Das ist das Gedenkkreuz Croce Carrel. Es erinnert an die selbstlose Heldentat von Jean Antoine Carrel, dem Matterhornpionier, aus Cervinia im Aostatal. Obwohl er in einen verheerenden Wettersturz geraten war, brachte Carrel die ihm anvertraute Seilschaft wieder heil zurück ins Tal. Erst dort starb der alte Bergführer dann an Erschöpfung.
SPRECHERIN:
Da ist das Gipfelkreuz auf dem Stecknadelhorn, einem Viertausender im Wallis. Als ein „Glückszeichen“ will es sein Stifter, der Schweizer Bergführer Jan Schnidrig, verstanden wissen. Hat er doch nur um ein Haar ein Lawinenunglück, am Achttausender Gasherbrum II, im Karakorum, überlebt.
SPRECHER:
Da sind die vielen, schlichten Holzkreuze, auf einsamen Inselbergen in Südtirol. Alle im Stil der alten Wetterkreuze: mit drei Querbalken also, konstruiert. Und versehen mit den Initialen: U und K.
Musik weg
SPRECHER:
Diese Initialen stehen für einen bescheidenen, eher wortkargen Einzelgänger, wie Hans-Joachim Löwer herausgefunden hat.
10.O-Ton:
„Ulrich Kössler aus Meran hat als Hobby, all seine Gipfelkreuze selber zu schnitzen. Als ich ihn kennen lernte, hatte er es schon bis zu
28 Stück gebracht. Die sind gerade mal so groß, dass er sie in seinen Rucksack stecken kann. Und er sucht sich bewusst Gipfel aus, die außerhalb des alpinistischen Mainstreams liegen. Und läuft dann im Abstand von ein paar Jahren seinen eigenen Kreuzen noch mal nach. Er schaut im Gipfelbuch nach, wer ist denn zu diesem Kreuz gekommen, wie heißt der Mensch, kenn ich ihn vielleicht, oder war vielleicht überhaupt niemand da.“
Musik darüber
SPRECHERIN:
Bedeutsamer denn je aber sind gerade heute, in einer von Kriegen und Krisen erschütterten Welt, völkerverbindende Gipfelkreuzinitiativen.
SPRECHER:
Wie etwa die auf der Großen Kinigat, in den Karnischen Alpen, in Osttirol. Hier steht, in 2689 Metern Höhe, ein mächtiges Kreuz: als ein Mahnmal für Frieden, Freundschaft und Versöhnung.
SPRECHERIN:
Im Alpenkrieg, von 1915 bis 1918, zwischen Österreich-Ungarn und Italien, war - neben den Dolomiten - die Große Kinigat Schauplatz von besonders blutigen Gefechten. Eingedenk dieser alten Kriegswunden wird hier jedes Jahr, an einem Sonntag im August, eine gemeinsame Bergmesse zelebriert.
SPRECHER:
Eine große Menschenmenge strömt zusammen an diesem Tag: die einen kommen aus Österreich, die anderen aus Italien. Symbolisch reicht man sich unter dem Gipfelkreuz die Hände - zum Friedensgruß.
SPRECHERIN:
Das Kreuz trägt die 12 Sterne der Europa-Flagge. Nicht ohne Grund: die Zahl 12 steht für Vollkommenheit und Einheit.
SPRECHER:
Zusätzlich steht auf einer Gedenktafel zu lesen: „Nie wieder Krieg!“ Die berühmten Worte von Papst Paul dem VI., gesprochen vor der UN-Vollversammlung 1965 in New York.
Musik weg
SPRECHERIN:
Bleibt als Fazit: bei allem Hickhack um die Deutungshoheit in Sachen Gipfelkreuz - die mystische Strahlkraft dieses Symbols, sie scheint ungebrochen.
SPRECHER:
Eindrucksvoll zeigt das ein Blick in das Buch: „Große Tage am Berg“. Geschrieben hat es der berühmte, italienische Extrembergsteiger, Walter Bonatti.
SPRECHERIN:
Rückblickend schildert Bonatti darin seinen aufsehenerregenden Alleingang durch die gefürchtete Matterhorn-Nordwand. Er durchstieg diese eisgepanzerte Wand im Februar 1965, mitten im Winter also.
Musik darüber
SPRECHER:
Nach einem zähen Ringen erreicht Bonatti schließlich den 4478 Meter hohen Gipfel. Er schreibt:
ZITATOR:
„Gegen drei Uhr nachmittags erblicke ich unerwartet das Gipfelkreuz. Die Sonne bestrahlt es von Süden her; es leuchtet, als ob es in Weißglut stände. Ich muss an den Glorienschein eines Heiligen denken. Selbst die Pressefotografen, in ihren Flugzeugen, scheinen die Feierlichkeit dieses Augenblicks zu fühlen. Sie entfernen sich eine Weile und lassen mich die letzten Meter in völliger Stille erklimmen. Mit Tränen in den Augen umfasse ich das eiserne Skelett des Kreuzes und drücke es an meine Brust, allein mit mir und der Unendlichkeit.“
Das Korsett sorgte Jahrhunderte lang dafür, dass der Oberkörper zeitgemäß in Form gebracht wurde: mit Schnürungen, Holz oder Metallstäben wurde der Bauch gedrückt und die Brust angehoben. Das ist lange her - doch trotzdem scheint das Korsett auch heute nicht ganz verschwunden. Wie befreit sind unsere Körper wirklich? Von Caro Matzko
Credits
Autorin dieser Folge: Caro Matzko
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Dorothea Anzinger, Katja Schild, Sven Hussock, Susi Weichselbaumer, Jerzy May
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
MAG. KERSTIN JESSE, LEOPOLDMUSEUM WIEN
DR. MELANIE HALLER, AMD AKADEMIE MODE&DESIGN HAMBURG
Literaturtipps:
Sandra Lembke, „Scheuersand und Schnürkorsett. Wie Frauen lebten und litten: eine kleine Kulturgeschichte über Mode, Kochen, Körperpflege und Haushalt von 1850 – 1918“
Margret Greiner, „Auf Freiheit zugeschnitten. Emilie Flöge: Modeschöpferin und Gefährtin Gustav Klimts“, btb Verlag
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SPRECHERIN 2
„Fester, fester“
ZSP 1 Atmo Korsett binden - darüber
SPRECHERIN
Als Kaiserin Elisabeth von Österreich noch lebte, also Mitte des 19. Jahrhunderts, galt das Wiener Hofzeremoniell, das sich an der gestrengen spanischen Tradition orientierte. Kaiserin Sisi soll es zeitlebens als goldenen Käfig erlebt haben – auch weil sie sich durch ihre rein repräsentative Aufgabe als schillernde Schönheit an der Seite ihres Franz Josef sehr eingeengt gefühlt haben soll.
SPRECHER
Wie sieht sie aus, was hat sie an, mit wem hat sie eine Affäre und ist sie dicker und älter geworden?
SPRECHERIN
So tratschte das Volk und klatschte die Presse. Die Kaiserin hungerte zeitlebens und turnte wie besessen, um ihr Gewicht auf gerade mal 45 Kilo zu halten. Mehr durfte sie nicht wiegen, damit sie sich die Taille jeden Tag von ihren Zofen mit einem Korsett auf 48 cm Umfang schnüren lassen konnte.
SPRECHERIN 2:
Fester! Fester!
SPRECHER
Das Korsett und das Ideal der Wespentaille hat die europäische Modegeschichte Jahrhunderte lang bis zum Beginn des ersten Weltkriegs geprägt, sagt Dr. Melanie Haller, Soziologin und Dozentin an der Akademie für Mode und Design in Hamburg.
MUSIK Animals in nap 0.58 min.
SPRECHER
Und wie das gestrenge Hofzeremoniell beginnt auch die Karriere dieses Kleidungsstückes in Spanien.
ZSP 2 Dr. Melanie Haller - Die ersten Korsette
„Also die ersten Korsette gibt es mit der sogenannten spanischen Mode im 15. Jahrhundert als Kleidungsstück, das den Körper einzwängt. Wobei es die nicht nur für Frauen gab, sondern die gab es auch für Männer. Im 15. Jahrhundert waren es Bleiplatten, die den Busen plattdrücken, weil das Ideal der Zeit eine konische Körperfigur ist. Das heißt auch die Männerbrust wurde niedergedrückt, damit dieser Idealkörpertypus entsteht.“
SPRECHER
Das Korsett markiert die Entdeckung der Dreidimensionalität des Körpers: Waren im Mittelalter die Schnitte der Kleidung noch gar nicht an den Körper angepasst, fand man im Spanien des 15. Jahrhunderts große Freude an der Modellierung des Körpers mit Hilfe der Kleidung.
ZSP 3 Haller - Modellierung des Körpers
„…weil mit der Schnittkonstruktion es plötzlich möglich war den Arm zu isolieren, die Brust hervorzuheben oder zu negieren, wie in der spanischen Mode oder wir im Rokoko die Büste hervorzuheben und die Taille einzudrücken. Das heißt wir haben historisch gesehen unfassbar viele unterschiedliche Formen von Korsetten. Das ist nie das eine gleich oder ganz unterschiedliche Formen.“
MUSIK Animals playing catch 0.57 min.
SPRECHER
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts stützt, formt oder zwängt das Korsett - auch Mieder oder Schnürbrust genannt - den Körper und verleiht ihm Haltung und Würde: mit Walfischbein, indischem Büffelhorn oder Stahlfedern verstärkt war es ein wichtiges Kleidungsstück für Adelige beiderlei Geschlechts. Denn auch Männer trugen im Biedermeier zuweilen ein Korsett - häufig im Militär, damit die Uniform wie angegossen saß und sie so Breitschultrigkeit und Autorität verkörperten. Mit der Industrialisierung wurde das Ideal dann durch den Typus „Geschäftsmann“ – heute würde man Dandy sagen - abgelöst. Mit einem Schnürgürtel banden die Herren ihren Bauch auf Taille und ließen die Schultern schmal hängen.
Dieses neue Körperideal sollte zeigen: Ich bin so erfolgreich, dass ich für mein Geld nicht körperlich arbeiten muss.
SPRECHERIN
Die Modegeschichtsschreibung hat nur leider einen Haken, findet Melanie Haller von der Akademie für Mode und Design Hamburg. Denn alles, was heute im Museum zu bewundern ist, sind hochwertige Stücke, die sich Adelige oder das gut betuchte Bürgertum leisten konnten.
ZSP 4 Haller: Was trug der normale Mensch?
„Was wir hingegen wenig wissen, was hat die breite Bevölkerung getragen. Die breite Bevölkerung hat sich über Second Hand Kleidung bekleidet, über abgetragene Kleidung und da wird es dann schwierig, da wurden natürlich Korsette übernommen, weil sie aussortiert wurden von den oberen Schichten. Da ist die Forschung aber dünner als aber der Oberschichtskleidung, die in modehistorischen Büchern zu sehen ist, wo man sagt: 15 Jh hat man das getragen, im 16. das, im 17. Jahrhundert das… da kann man schon sagen, dass es unterschiedliche Arten und Weisen gab wie der Körper geformt wurde.“
MUSIK Mysterious animal play 1.50 min.
SPRECHERIN
Geschlechterformen wurden so stereotypisiert. Welche Form populär war, das prägten die zur jeweiligen Zeit tonangebenden Königshäuser. Im 15. Jahrhundert war das der spanische Hof mit der konischen Form, im 16. Jahrhundert der französische, der die Sanduhrsilhouette zelebriert, die lange en vogue bleibt - von Barock bis Rokoko.
ZSP 5 Haller - Königshäuser als Stylereferenten
„…wo dann wirklich mit Marie Antoinette und solchen Figuren der Busen und die Taille betont wird in den Korsetten und das endet dann erst Anfang des 19. Jahrhundert mit dem Klassizismus wo dann die Empirelinie kommt, aber auch die hatte Korsette allerdings, die waren nicht ganz so steif, die haben versucht den Busen ein bisschen zu betonen und der Rest ging grade nach unten. Das ändert sich mit dem Entstehen der Haute Couture also mit einer Produktionsweise mit deren Hilfe sich die oberen Schichten ganz klar abgrenzen wollten von der Masse. Man muss sich überlegen, dass im 19. Jahrhundert parallel dazu die Bekleidungsindustrie entstanden ist. Das heißt, es gab die Möglichkeit für viel mehr Menschen sich neue Kleidung zu kaufen.“
SPRECHER
War das Korsett lange Zeit für die breite Bevölkerung noch ein teures Unterwäschestück, das den feinen Damen vorbehalten war, entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa viele Korsett-Webereien, durch die die Schnürmieder erschwinglicher wurden.
MUSIK Der fröhliche Landmann 0.42 min.
SPRECHER
Nun mussten sich alle Mädchen ab dem 7. Lebensjahr unter ihren Kleidchen an eine Schnürung gewöhnen, die die Taille schmal halten sollte. An wildes Spiel oder gar Sport war nicht zu denken, doch Mädchen hatten damals vor allem eine Zierde zu sein, um schließlich gut verheiratet werden zu können.
SPRECHERIN
Eine längere Schulbildung konnten sich nur die höheren Töchter erlauben: Die Backfische lernten Klavier spielen, tanzen und Handarbeiten. Bücher waren nur etwas für Männer, wenn Frau doch zu eigener Lektüre kam, dann um besser parlieren zu können und die Herren in den Salons gut zu unterhalten.
SPRECHERIN
Das Vorbild in der Belle èpoque war die Pariser „sans ventre“ Linie: Sans heißt ohne und Ventre Bauch, der Name war Programm, so Melanie Haller.
ZSP 6 Melanie Haller - sans ventre Korsett
„Das Sans Ventre Korsett wie das der Begriff schon sagt, geht es darum den Bauch wegzudrücken und eine S-Linie herzustellen. Der Busen wird sehr hochgedrückt, die Taille eingeschnürt und hinten kommt ein großer Aufbau aus Stoffmassen drauf, das wurde durch die Tournüre erzeugt, eine Art Teilreifrock, den man sich um die Taille gebunden hat.“
MUSIK Die Kaiserin der Herzen 0.30 min.
SPRECHERIN
Über das Korsett kamen Unterröcke, Polster oder bienenkorbartige Gestelle für Brust und Popo – darüber wölbte sich dann irgendwann das eigentliche Kleid mit Volants und Rüschen. Eine bürgerliche Frau schleppte um 1900 nach zeitgenössischen Berechnungen rund 4,5 Kilogramm an Unterwäsche mit sich herum - die schweren Überkleider kamen dann noch dazu.
MUSIK Kaiserwalzer 0.54 min.
SPRECHER
Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich Widerstand: In Großbritannien und den Vereinigten Staaten demonstrierten die Suffragetten für das Wahlrecht und auch auf dem europäischen Kontinent schieden sich am Korsett plötzlich die Geister. Und für diese neue geistige Beweglichkeit brauchte es auch mehr körperliche Bewegungsfreiheit. Also weg mit der zentnerschweren Stofflast und den engen Korsetts. Großen Anteil daran hatte auch die Entwicklung des Breitensports.
SPRECHERIN
Doch bis sich die Idee durchsetzte, dass Sport auch für den Frauenkörper gesund sein könnte, dauerte es lange. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es Frauen offiziell gestattet, Sport zu treiben. Melanie Haller von der Akademie für Mode und Design Hamburg
ZSP 7 Haller - Sport
„Es gab lange die These, dass Frauen nicht hüpfen sollen, damit ihre Gebärmutter nicht herausfällt. Es gab auch lange die Auffassung, dass der Frauenkörper sich gar nicht halten könnte, ohne Korsett. Darum gab es auch Kinderkorsette – weil es ganz lang die Überzeugung gab, dass die Frauen diese Stütze von außen brauchen. Und daran sieht man, dass Kleidungsgeschichte eben nie nur Modegeschichte, sondern immer auch die Geschichte der Medizin, der Gesundheit, der Überzeugung der Geschlechterbilder. “
SPRECHERIN
Es bildete sich eine Allianz aus drei illustren Lagern: Mediziner, Moralisten und Feministinnen. Sie alle hatten ihre ganz eigene Motivation, warum sie dem Schnürmieder den Kampf ansagten.
SPRECHER
Die Mediziner sorgten sich um die Gesundheit der Frauen und forderten mehr Bewegungsmöglichkeiten für den gesunden Körper.
SPRECHERIN
Den Moralisten war die Überbetonung der Taille mit herausgeputztem Hinterteil zu aufreizend. Einige hielten das Korsett sogar für einen verführerischen Köder der Prostituierten.
SPRECHER
Die Frauenrechtlerinnen wiederum verdammten es, weil es ihrem Ideal der beruflich und politisch aktiven, sportlich-emanzipierten Frau im Wege stand.
MUSIK Animals playing catch 0.45 min.
SPRECHERIN
Zur letzten Gruppe gehörte auch Emilie Flöge aus Wien.
ZSP 8 Jesse über Flöge 1
„Die Emilie Flöge ist eine moderne Frau gewesen aus meiner Sicht, eine selbständige Frau, eine Unternehmerin, eine Modedesignerin und ja eigentlich auch eine Geschäftsführerin.“
SPRECHERIN
Kerstin Jesse ist Expertin für die Wiener Kunstszene des 19. und Anfang 20. Jahrhunderts - zu der auch Emilie Flöge gehörte. Kerstin Jesse hat die Modeschule in Klagenfurt besucht und ist heute Kuratorin am Leopoldmuseum in Wien. Sie bedauert, dass Emilie Flöge häufig nur als „Lebensmensch“ von Gustav Klimt genannt wird, die der Malerfürst kurz vor seinem Tod ans Sterbebett zitierte:
ZITATOR 1 (Klimt, ächzend)
Die Emilie soll kommen.
SPRECHERIN
Emilie war dabei als Klimt die Kunstbewegung Secession mitbegründete und kannte auch die Gründerväter der Wiener Werkstätten, die sich allesamt eine Reform des Kunstverständnisses auf die Fahne geschrieben hatten. Dazu gehörte auch die Mode:
MUSIK Animals in nap 1.42 min.
SPRECHERIN
Die gelernte Schneiderin Emilie wollte Kleider nähen, die der Frau mehr Bewegungsfreiheit schenken sollte und die Trägerinnen nicht nur zur attraktiven Begleiterin, wenn nicht Beutetier für die Herren zusammenschnürte.
SPRECHER
In der Flöge-Biographie „Auf Freiheit zugeschnitten“ bei btb erschienen, beschreibt die Autorin Margret Greiner die Entwürfe Emilies:
ZITATORIN (gern junge Frauenstimme)
„Sie alle waren ja von den Reformideen angesteckt, die im Zuge der Wiener Werkstätten seit einigen Jahren aus England und Belgien nach Wien herübergeschwappt waren, aber niemand war so begeistert auf die neue Welle aufgesprungen wie Emilie. Zumindest was die Mode anging. Emilie war wirklich radikal – zumindest für sich selbst machte sie keine Kompromisse. Nicht nur die Hand, ihr ganzer Körper vibrierte, wenn sie zum Bleistift griff und ein Modell entwarf, das am Hals hochgeschlossen war mit einem Kragen wie ein textiles Kropfband, und vom Hals aus in weitem Fluss wie eine Tunika über den Körper fiel. Auch die Ärmel waren weit, öffneten sich sichelförmig. Nichts engte den Körper mehr ein, nichts stellte Körperteile als Signalmasten aus, nichts korrigierte mehr die Natur. Und wenn Emilie die Schere an den Stoff anlegte, sagte sie: Jetzt schneiden wir mal auf Freiheit zu! (S. 100)))
SPRECHERIN
Und Emilie wollte mehr: Sie wollte frei, kinderlos, unverheiratet und finanziell unabhängig sein und bleiben. Sie wollte einen eigenen Modesalon – für sich und ihre Schwestern. Beinahe undenkbar in der damaligen Zeit!
MUSIK Wild mammoth reduced 1.17 min.
ZSP 9 Jesse über Flöge 2
„Man musste ja damals wenn man verheiratet war, den Mann um Erlaubnis bitten, wenn man arbeiten gehen wollte. Man durfte nicht über das eigene Geld verfügen, den Wohnort bestimmen auch nicht. Also eigentlich war alles von der Einwilligung des Mannes abhängig. Sehr schwierige Zeiten für die Frauen. Und wenn dann eine Frau wie Emilie Flöge ihren eigenen Salon eröffnet, sich auch entscheidet nicht verheiratet zu sein, ihren Zielen und Wünschen nachgeht und sicher auch mit viel Neid und mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hat, trotzdem hier mit Mut und Entschlossenheit vorangegangen ist und ihren Salon erfolgreich geführt hat.“
SPRECHERIN
1904 war es soweit: Der Salon „Schwestern Flöge“ öffnet seine Flügeltüren - eingerichtet in schlichtem schwarz-weiß im strengen Stil der Wiener Werkstätten, mit grauem Teppich über dem Fischgrät, einem langen Tisch mit schmalen Stühlen, auf die man sich mit Korsett und ausgestopftem Entenpopo gar nicht hätte setzen können. Hier sollten die modernen und gut betuchten Damen Wiens Haute Couture gewürzt mit einer Prise Widerstand einkaufen. Wer sich bei Flöges ankleiden ließ, der zeigte sich danach auch gern im Café Casa Piccola, las ein Magazin und rauchte demonstrativ tagsüber und dann auch noch in der Öffentlichkeit. Was damals für Frauen noch skandalös war. Bis zu 80 Näherinnen arbeiten für die Flöge Schwestern – teilweise im Homeoffice, wie man heute sagen würde.
MUSIK Cute rodent 0.54 min.
SPRECHERIN
Und Emilie freut sich, dass sich ihre privaten Französischstunden rentierten: Dank ihnen konnte sie souverän die Pariser Modenschauen besuchen und mit renommierten Stoffhändlern verhandeln.
SPRECHER
Inspiriert war sie natürlich auch von den korsettfreien Entwürfen von Designer Paul Poiret, der zu Beginn des 20. Jahrhundert das Schnürmieder aus der Haute Couture verbannt hatte. Seine Kreationen waren farbenfroh, mit großen Mustern, Pailletten und Federhüten. Poiret, der Party Boy der damaligen Fashionszene, erfand eine neue Silhouette – kleiner Busen, schmale Schultern, wallende Stoffkaskaden und orientalische Haremshosen. Die Hosen kamen bei den Käuferinnen nicht allzu gut an, aber die Silhouette setzte sich durch. Barbara Vinken, Romanistin und Modeexpertin an der LMU weiß aber um die Kehrseite der Medaille.
ZSP 11 Prof. Barbara Vinken, Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin: Paul Poiret (00:25 Sekunden)
„Poiret hat die Korsage abgeschafft, da musste jetzt aber der Körper seine Gestaltbarkeit im Kleid das heißt sein anderes Sein im Raum eigentlich durch Gymnastik kompensieren. Weil dieser Körper musste jetzt geschmeidiger sein, der musste schlanker sein und er konnte sich nicht mehr durch den äußeren Zwang der Korsage verlassen. Er musste im Prinzip, das was sonst am Körper nicht in Muskeln angelagert war, jetzt in Muskeln verändern.“
MUSIK Tanz der Zuckerfee 0.55 min.
SPRECHERIN
Inspiriert vom Balletts Russe (Aussprache: Ballé Rüss) eines der einflussreichsten, exotisch-erotischen Ballettensembles des 20. Jahrhunderts, war Poirets Ideal nun die gertenschlanke Tänzerin, die in leichtfüßigen Arabesken durchs Leben balanciert. Jeder Theaterabend war ein ausverkauftes Ereignis und die Besucherinnen kleideten sich „à l’orientale“, mit Turban, Federn. Auch Emilie Flöges Entwürfe waren in diesem Sinn Französisch, also für Frauen, die so schlank und flachbrüstig waren wie die Tänzerinnen des Balletts Russe - und auch wie sie selbst. Das so genannte Pariser Mode-Diktat erregte jedoch zuhause in Wien die Gemüter - als quecksilbrig und hüftlos wurden die Poiret- und Flöge-Mannequins tituliert. So wetterte der Maler Paul Sieger bei einem Vortrag in Richtung Emilie:
ZITATOR 2 (älter und gern Österreicher)
„Die welsche Mode passt nicht nach Wien. Arbeiten Sie daher mit uns zur Ehre des Vaterlandes, der Kunst und des Gewerbes, damit die Wienerin wieder als das erscheint, was sie ist und war, die Perle der Schöpfung, ein mudelsauberes, molliges und humorvolles Weib.
MUSIK Little Jumpers 1.20 min.
SPRECHERIN
Ob mudelsauber, sprich ordentlich oder nicht, ob vollbusig oder flach, ob Haute Couture oder Massenware – der erste Weltkrieg beendete schließlich viele Modediskussionen: Stoffknappheit, Arbeitskräftemangel sowie die neue Selbständigkeit der Frauen, die ihre Männer in der Fabrik und auf dem Acker ersetzen mussten, lockerten das Korsett des Kaiserreichs zunächst in Form des Reformkleides, um es schließlich hinwegzufegen - ebenso die bodenlangen Röcke, die langen Unterhosen, zahlreichen Unterkleider und Unterröcke und die aufwendigen Frisuren für die frau lange Haare brauchte. Ab dem 20. Jahrhundert nehmen die Unterkleider ab und die moderne Unterwäsche entsteht: Zwischen 1887 und 1914 meldeten allein sieben Tüftler aus fünf verschiedenen Ländern eine Art BH beziehungsweise „Brustverbesserer“ oder „Brustträger“ zum Patent an. Der Korsettfabrikant Sigmund Lindauer aus Stuttgart-Bad Cannstatt war der erste, der das revolutionäre Dessous in großem Stil industriell herstellte und professionell vermarktete.
SPRECHER
Das neue Ideal war die "Garçonne" – ein androgyner Frauentyp, propagiert von Modemacherin Coco Chanel, die die orientalischen Entwürfe ihres Konkurrenten Paul Poiret als „barbarisch“ tituliert hatte. Doch ohne Poirets Verbannung des Korsetts wären Chanels knabenhafte Mode, also schlichte Kostüme, günstige Stoffe und Matrosenhemden nicht möglich gewesen. Chanels Mode spielte mit den Geschlechtern - ihre Frauen wurden männlicher kostümiert, um sich im Business behaupten zu können. Was wiederum der Nährboden für Christian Diors femininen Nachkriegs-New Look war, den Chanel verabscheute und gar die Rückkehr der Korsage witterte.
SPRECHERIN
Und so variiert das Ideal, je nach Zeitgeist, zwischen mütterlich gerundet, androgyn flach oder barock und üppig. Jeder Trend evozierte einen Gegentrend. Die Hippiemädchen rissen sich die Büstenhalter vom Leib und feierten die neue radikale Natürlichkeit. Bis die Industrie dank Push Up-BHs die Rückkehr des virtuosen Dekolletés feierte. Je sichtbarer der Körper wurde, desto mehr stellt sich die Frage: Wie gestalten wir ihn? Melanie Haller von der Akademie für Mode und Design findet: Das Korsett ist in Wahrheit nie wirklich verschwunden.
MUSIK Plan of Animals 0.45 min.
ZSP 13 Haller - heute und Ideal
„Also das berühmte Lycra in den 60er Jahren ist dann ein ganz starkes Phänomen, oder eben das, was wir heutzutage die Shapewear nennen, ein hochelastisches Material oder was ich immer gern sage der Thrombosestrumpf für den Körper. Und eine Bewegung wäre dann in den letzten Jahren die Athleisuremode, dass wir alle Sportkleidung tragen, die sehr genau zeigen, ob ein Körper definiert ist oder nicht. Und diese Art der Ästhetiken reproduzieren sich auf Social Media, wenn es darum geht: ich habe durch die und die Bewegungsart meinen Körper in die und die Form gebracht und das ist ein neues Narrativ und eine neue Norm für Menschen, an denen sie sich immer abarbeiten müssen und sich denken, bei mir ist das wieder nicht optimiert oder jenes nicht. Wir haben einen unglaublich zugespitzten normativen Blick auf unsere eigenen Körper.
SPRECHERIN
Heute wissen wir, dass unsere Körper bewegt werden müssen, um gesund zu sein. Doch diese Erzählung hat sich zugespitzt - und so trainieren viele Frauen von heute wie einst Elisabeth von Österreich, um der schlanken Ästhetik der Jetzt-Zeit zu entsprechen.
ZSP 14 Haller - Schlussworte
Die Gestaltung des Körpers ist immer Kultur. Aber wir sollten schauen, welche Normen wir setzen und welche Einschränkungen, welche Diskurse, Umgangsweisen und Anmaßungen über andere Körper entscheiden zu können, in dieser Kultur immer noch präsent sind.
MUSIK Cute rodent 0.24 min.
ZSP 14 Haller - Schlussworte
Und ich würde sagen: Wir müssen dagegen kämpfen. Gerade für eine junge Generation. Was macht das eigentlich mit Menschen, wenn sie glauben, ihr Körper ist der falsche Körper? Dann ist es sehr schwer durchs Leben zu gehen. Ich fände es gut, wenn wir da ein bisschen offener werden würden.
Troja - kaum ein anderer Ausgrabungsort löst so viele Phantasien aus. Es ist aber auch der reale Ort, den Heinrich Schliemann ausgrub. Hat der Mythos eine reale Grundlage? Von Thomas Morawetz (BR 2022)
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Morawetz
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Susanne Schroeder, Christian Baumann
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Ernst Pernicka, Grabungsleiter Troia 2006-12, Univ. Tübingen
Prof. Dieter Hertel, Klassischer Archäologe, Univ. Köln
Prof. Barbara Patzek, Althistorikerin, Univ. Essen
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
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SPRECHERIN
Oktober 1870. Heinrich Schliemann ist euphorisch. Endlich hat er von den osmanischen Behörden die Grabungserlaubnis bekommen und reist sofort von Konstantinopel an die Dardanellen in die Troas. Der Archäologe und englische Konsul Frank Calvert hatte ihm den Tipp gegeben, wo er nach Troja suchen müsse: auf dem überwachsenen Hügel Hissarlik, einem Geländesporn, der sich in die Ebene des Karamenderes erstreckt. Genauso wie Homer es beschreibt.
Musik 2: „Wrong answer“ – 30 Sek
+ ATMOS Steine klopfen, Bauarbeiten
SPRECHER
Als er jetzt zu graben beginnt, ist sich Schliemann sicher: Der Trojanische Krieg muss buchstäblich unter seinen Füßen stattgefunden haben. Ihn will er aufspüren unter der Oberfläche des Hügels, will Dichtung und Wirklichkeit vereinen. Er will die Stadt Homers finden, den Ort, den Griechen zehn Jahre lang belagert hatten, bis er durch Odysseus´ List mit dem hölzernen Pferd in Feuer und Gewalt unterging.
SPRECHERIN
Was Schliemann damals nicht ahnen kann: Er steht auf einem ganzen Berg von Rätseln. Die nächsten Generationen von Altertumsforschern und -forscherinnen wird dieser Hügel zu Begeisterung und zur Verzweiflung treiben, aber auch zu scharfsinniger Detektivarbeit. Und was Schliemann auch nicht weiß: Wie soll er eigentlich anfangen zu graben? - Damals gibt es noch keine anerkannte Methode, ein so großes Gelände auszugraben. Calvert überzeugt ihn schließlich von einem Vorgehen, das in der Archäologie bis heute ein Standardverfahren ist.
1 Zusp Pernicka
Er hat dort vor der Aufgabe gestanden, einen Siedlungshügel, der über 3000 Jahre gewachsen ist und sozusagen Siedlungsschichten übereinander gelagert hat, sowie eine Torte mit Schichten aufgebaut ist, … er hat also die Aufgabe gehabt, zu untersuchen, welche der Schichten denn nun das homerische Troia sein könnte. Und auch heute würde man das so machen.
SPRECHER
Professor Ernst Pernicka (spricht: Pérnitzka) war von 2006 bis 2012 Grabungsleiter in Troia.
2 Fortsetzung Zusp
Man geht in die Tiefe, man versucht, die Schichten zu identifizieren. Nur heute würde man vielleicht nicht einen zehn Meter breiten Graben schlagen (2:40)
SPRECHER
Der breite Graben, den Schliemann durch den Hügel legte, gilt oft als Fluch für die Forschung. Viel Substanz, die man bei einer modernen Grabung genau untersuchen würde, ist damals zur Seite geräumt worden, um möglichst rasch nach unten zu kommen, bis zum natürlichen Fels. Andererseits weiß man durch Schliemanns rigoroses Vorgehen schnell, wie dieser Hügel aufgebaut ist: aus neun übereinanderliegenden Siedlungsschichten. Die unterste Schicht überliefert die älteste Besiedlung, die oberste die letzte.
SPRECHERIN
Neun Schichten, von der frühen Bronzezeit bis in die römische Zeit der Spätantike. Spätere Grabungen haben dieses Grundmodell noch sehr verfeinert. Dieter Hertel ist Professor für Klassische Archäologie. Er hat selbst an Grabungskampagnen in Troja teilgenommen und mehrere Bücher über Troja geschrieben. Die ersten sechs Schichten führen direkt zum Rätsel Troja: Wo liegt die Stadt, von der Homer gesungen hat?
3 Zusp Hertel
4 [0:05:55] :
Also die älteste Besiedlungsphase von Troja ist dieses Troja I, … das hat etwa so um 3000 vor Christus bis etwa 2500 vor Christus existiert. Dann kommt das berühmte Troja II, wo Schliemann ja auch die meisten Schätze gefunden hat, darunter auch den sogenannten Schatz des Priamos. Dann kommen eben einige Siedlungsphasen III bis V, die relativ unbedeutend waren. Und dann kommt sicherlich die ganz bedeutende bronzezeitliche Siedlungsphase Troja VI, die zwischen etwa 1800 … und 1300 vor Christus existiert hat.
SPRECHER
Troias Anfänge reichen also bis in die frühe Bronzezeit zurück. Welche Bevölkerung damals auf dem natürlich anstehenden Hügel die Siedlung gründete, weiß man nicht. Es gibt keine Möglichkeit, diese frühen Bewohner anderen bekannten Gruppen zuzuordnen.
SPRECHERIN
Dann Troia II: In dieser Schicht fand Schliemann einen spektakulären Goldschatz, der ihn weltberühmt machte. Er war überzeugt, damit das Rätsel Troja gelöst zu haben: Ein solcher Reichtum konnte doch nur dem berühmten König Priamos zugestanden haben, dem Mann, den Homer als den alten König der von den Griechen belagerten Stadt besingt. Schliemann wähnte sich am Ziel, er hatte Homers Troja gefunden!
Musik 3: „Pink“ - 42 Sek
SPRECHER
Doch er wurde noch zu seinen Lebzeiten widerlegt. Denn inzwischen hatte derselbe Schliemann weitere Grabungen in Griechenland durchgeführt, in Mykene, Tiryns, Orchomenos. Und dort ist Keramik ans Licht gekommen, die eindeutig belegt: Die griechische Kultur und die trojanische begegnen sich nicht im goldreichen Troia II, sondern erst ganze 1200 Jahre später, in der Schicht Troja VI. Und noch etwas ist höchst bemerkenswert an Troja VI: Es stand mit einer beeindruckenden Visitenkarte in der Landschaft. Dieter Hertel:
4 Zusp Hertel
14 [0:12:06] :Erstmal sehr mächtige Mauern mit mächtigen Türmen versehen. Und diese Befestigungsanlage, die Troja damals umgab, die umgab eben die späteren Siedlungsphasen auch noch…
SPRECHERIN
… die nächsten Schichten,
5 Zusp Hertel (weiter)
14 [0:12:06] :
… nämlich auch Troja VII a, dann Troja, VII b und auch das griechische Troja, was ja nach unserer Zählung Troja VIII ist.
SPRECHER
Das griechische Troja VIII bewohnen dann bereits die Zeitgenossen Homers. Der Krieg, von dem er als ferne Erinnerung singt, muss dann also schon lange stattgefunden haben. Das bedeutet: Das Troja des Trojanischen Krieges muss in den Schichten VI oder VII liegen.
Musik 4: „Dorian Gray“ - 37 Sek
SPRECHERIN
Die Mauern von Troja VI waren spektakulär. Allein der steinerne Unterbau ist etwa 6 Meter hoch und hat eine Stärke von vier bis fünf Metern. Auch in Homers Ilias werden die gewaltigen Mauern immer wieder erwähnt. Sie machten noch lange nach der Bronzezeit großen Eindruck.
SPRECHER
Die Keramik-Funde, die gewaltige Mauer - da scheint diese Schlussfolgerung nahezuliegen:
6 Zusp. Hertel
15 [0:12:45]:man hat dann Troja VI, als das Troja des Trojanischen Krieges angesehen.
SPRECHERIN
Das war während der Grabungskampagnen, die der US-Amerikaner Carl Blegen in den 1930er-Jahren leitete. Alles schien zu passen. Nur eines ganz und gar nicht:
7 Zusp Hertel
15 [0:12:45] Blegen hat herausgefunden, dass Troja sechs durch ein Erdbeben zerstört wurde, also eben nicht durch Kampf.
SPRECHER
Es fehlen die üblichen Spuren eines Krieges, Speerspitzen oder Pfeilspitzen etwa. Troja VI passt mit dem Untergang Trojas im Mythos also nicht zusammen.
8 Zusp Hertel
Anschluss 15 [0:12:45]
Dann hat Blegen eben Troja VII a, das in einer starken Feuersbrunst zugrunde gegangen ist, zum Kandidaten für einen historischen Kern der Troja-Sage gemacht. Aber auch hier sind kaum Hinweise gefunden worden auf Belagerung, auf Eroberung auf Kämpfe.
SPRECHERIN
Brände allein sind kein Beleg, sie konnten aus den unterschiedlichsten Gründen ausbrechen, nicht nur während eines Kampfes. Aber selbst wenn es so war: Müsste Homers zehn Jahre währender Krieg, der mit der dramatischen Eroberung der Stadt endete, nicht eindeutige Spuren hinterlassen haben? Ernst Pernicka dämpft die Erwartungen.
9 Zusp. Pernicka
nach (27:40)
4 [0:27:11] : Ja. Also zunächst einmal muss man sagen, dass die Archäologie natürlich nicht die Geschichte der Ilias sozusagen bestätigen kann. Wir können nicht feststellen, ob Achilles den Hektor tatsächlich um die Stadt herumgeschleift hat. Aber [0:27:36] wir sehen sozusagen am Ende der späten Bronzezeit einen deutlichen kulturellen Wandel. Und er spielt sich ab nach der siebenten Stadt. Also Troja VII a ist eigentlich noch sozusagen das prunkvolle und das größte, der Stadt größte Ausdehnung, etwa um 1300 vor Christus bis 1200 vor Christus. Und dann gibt es sozusagen einen Abbruch. Das ist Troja VII b.
SPRECHER
Zwischen Troja VII a und VII b muss also etwas Einschneidendes passiert sein. Und zwar in einem ziemlich konkret fassbaren Zeitraum:
10 Zusp. Pernicka
Das käme also in die Gegend um 1200 /1180 vor Christus. …
Musik 5: „Targets“ – 51 Sek
SPRECHER
Und tatsächlich: Um 1200 vor Christus erlebt die gesamte östliche Mittelmeerregion eine Zeitenwende: Die bis dahin blühende Welt der späten Bronzezeit bricht in wenigen Jahrzehnten zusammen.
SPRECHERIN
Damals reiche nahöstliche Stadtstaaten gehen ebenso unter, wie das Hethiterreich in Anatolien – und auch die Herrschaften der Griechen auf dem Festland in der Bronzezeit, die als mykenische Kultur bezeichnet werden. Wer oder was war schuld an diesem allgemeinen Zusammenbruch? In ägyptischen Quellen gibt es Hinweise auf Überfälle von rätselhaften sogenannten Seevölkern in der Region. Doch sie können kaum allein verantwortlich für den kollektiven Untergang sein.
Musik 6: The unified field - 1 Min
SPRECHER
Die Ereignisse sind bis heute nicht umfassend geklärt. Die Kulturen der späten Bronzezeit waren vernetzt, oft sogar abhängig voneinander. Haben kriegerische Auseinandersetzungen, Dürren, Hunger und Wanderungen Dominoeffekte ausgelöst? Das Ende von Troja VII könnte somit im Horizont eines viel breiteren Untergangsszenariums liegen, das die ganze östliche Mittelmeerwelt erschüttert hatte.
SPRECHERIN
Ist Homers Krieg also die ferne Erinnerung an Ereignisse, die in diesen großen Zusammenhang gehören? Haben damals mykenische Griechen Troja angegriffen? Möglich. Das Problem ist nur: Bislang hat sich keine Siedlungsschicht gefunden, die dazu wirklich passt, es wird weiter heftig diskutiert.
SPRECHER
Beispielhaft dafür ist die Diskussion, die der Archäologe Manfred Korfmann ausgelöst hat. Ab 1988 war er der Leiter der Grabungen in Troja. Korfmann hat Indizien dafür vorgestellt, dass Trojas Burg von einer weiten Unterstadt umgeben gewesen sein muss. Durch seine Rekonstruktion wuchs Troja um ein Vielfaches an. Troja hätte demnach etwa 7.000 Einwohner gehabt.
SPRECHERIN
Ernst Pernicka, Experte für Archäometrie und Archäometallurgie, hat die Grabungen für den 2005 verstorbenen Manfred Korfmann weitergeführt und diese Annahmen präzisiert. Wie sah etwa das Verteidigungssystem der Unterstadt aus? Korfmann hatte durch geophysikalische Untersuchungen Strukturen gefunden, die er als Reste einer Umgebungsmauer gedeutet hatte.
11 Zusp. Pernicka
(nach 23:00)
Diese Struktur wurde dann ergraben, und es hat sich dann festgestellt, dass es eine negative Mauer ist. Also ein Graben. Aber trotzdem ein Verteidigungssystem und als Verteidigungssystem schon damals interpretiert. Und da hat es den Einwand gegeben, dass man diese Extrapolation nicht machen dürfe, sondern die Unterstadt, selbst wenn es eine große Fläche umfasst, es könnte ja auch eine Viehweide oder so was gewesen sein.
SPRECHER
Pernicka hat den Graben weiter erforscht und dabei auch Hinweise auf die nötige Biegung gefunden, damit eine solche Anlage die ganze Burg umgeben konnte. Dieter Hertel dagegen hält die Indizien für die Unterstadt für nicht ausreichend.
12 Zusp. Hertel
(nach 28:29)
die Kritiker, zu denen ich ja auch gehöre, (…) wir sind der Meinung, dass es Hinweise auf eine Unterstadt wirklich nicht gegeben hat.
Musik 7: The unified field - 1:10 Min
SPRECHERIN
Der Streit hierüber geht ins Detail, doch er läuft auf eine Kernfrage hinaus: War Troja am Ende der Bronzezeit eher ein kleineres Nest – oder ein großer Player in der Region, eine echte Handelsmacht in direkter Nachbarschaft zum mächtigen Hethiter-Reich? Denn ein bedeutendes Troja könnte natürlich viel leichter Erinnerungen in späteren Epen hinterlassen.
SPRECHER
Ein großes Troja sollte allerdings Spuren in den Quellen der Nachbarmächte hinterlassen haben. Doch auch hier stehen sich Befürworter und Gegner gegenüber. Sind hethitische Ortsangaben wie „Wilusa“ (sprich: Wilúscha) und „Taruisa“ (sprich: Taruíscha) Vorformen der späteren homerischen Namen „Ilios“ für Troja und die Troas? Und stecken nicht hinter den Überfällen sogenannter „Ahhiyawa“ (sprich: Achiáwa) auf Wilusa die Griechen, die Homer Achaíoi nennt? Möglich. Doch auch gegen diese Indizien gibt es Einwände. Die Eindeutigkeit fehlt.
SPRECHERIN
Eine Zwischenbilanz für das Troja-Rätsel sieht also etwa so aus: Auch Troja erlitt wie andere Regionen im großen bronzezeitlichen Finale im östlichen Mittelmeerraum einen Zusammenbruch. Es kann damals eine bedeutende Stadt gewesen sein, und es kann in Konflikten mit Griechen gestanden haben. Doch eine eindeutige Zerstörungsschicht, die auf einen großen Krieg hindeutet, gibt es nicht.
SPRECHER
Bei solchen Schwierigkeiten ist es kein Wunder, dass sich längst noch weitere Fragen etabliert haben: Hat es einen solchen Krieg überhaupt vor Ort gegeben? Und wenn nicht – Wie soll Homer dann zu seinem Epenstoff gekommen sein?
SPRECHERIN
Hinweise gibt Trojas weiteres Schicksal nach dem Zusammenbruch am Ende der Bronzezeit. Hier ist sich die Forschung wieder weitgehend einig: Zwischen den Schichten VII a und VII b gibt es einen Kulturbruch. Eine andere Welt hatte begonnen. Die Stadt lebte auf weit bescheidenerem Niveau weiter. Und es müssen neue Leute hinzugezogen sein, vom Balkan. Das verrät die Keramik, die sie mitgebracht haben. Diese Bevölkerung lässt sich verfolgen bis etwa 1000 vor Christus. Wieder folgt ein großer Brand – und dann? Ernst Pernicka:
13 Zusp Pernicka
3 [0:37:57] :Also (…) wir haben in Troja Anzeichen dafür, dass Troja nie ganz verlassen wurde. (…) Aber wir haben dann tatsächlich keine Bautätigkeit, sagen wir im zehnten und neunten Jahrhundert.
Musik 8: „Arrival“ - 49 Sek
SPRECHER
In diesen Jahrzehnten beginnt in der östlichen Mittelmeerwelt die Eisenzeit. Die Jahrhunderte vom Untergang der Bronzezeit bis zum Beginn der griechischen Polis-Welt werden das „dunkle Zeitalter“ genannt. Neue, kleine politische Einheiten beginnen sich zu entwickeln. Und ab etwa 800 vor Christus gibt es noch eine technologische Revolution: Die Griechen übernehmen von den Phöniziern das Alphabet.
SPRECHERIN
In diesen dunklen Jahrhunderten müssen sich mündlich überlieferte Mythen gebildet haben. Irgendwann umfassen sie weite Erzählbögen, besingen Schicksale von Menschen und Städten mit ihren Verbindungen zu den olympischen Mächten. Viele dieser Mythen führen am Ende durch ein Nadelöhr: den Untergang dieser alten Welt im Trojanischen Krieg.
Musik 9: „Dorian Gray“ – 30 Sek
SPRECHER
Aus diesen mündlich überlieferten Mythen scheint Homer zwei Episoden ausgewählt und tatsächlich zum ersten Mal aufgeschrieben zu haben: die Ilias und wahrscheinlich auch die Odyssee.
SPRECHERIN
Und auch hierüber besteht weitgehend Einigkeit: Als Homer die Ilias verfasst, beschreibt er die örtlichen Gegebenheiten Trojas auf dem Hügel Hissarlik. Die Topografie stimmt, ebenso erwähnte Tiere und Pflanzen. Noch 2007 hat der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott vorgeschlagen, Homers Troja weit weg von den Dardanellen im Südosten Kleinasiens, in Kilikien, zu verorten. Seine These wurde intensiv diskutiert, hat jedoch keine Anhänger gefunden.
SPRECHER
Zunächst bleibt es also dabei: Homer hat Troja gekannt. Doch wie ist er an Troja als Ort seines Krieges gekommen?
SPRECHERIN
Möglichkeit eins ist bereits bekannt: Homer hat eben von dem Ort gesungen, der tatsächlich der originale Erinnerungsort war, die Stadt, die vor Jahrhunderten einen gewaltigen Krieg erlebt hatte.
SPRECHER
Doch es gibt noch eine zweite Möglichkeit: Demnach hätten die Griechen die Ruinen Trojas erst während der dunklen Jahrhunderte kennengelernt, als sie selbst den Ort besiedelt hatten. Denn auch das ist gewiss: Troja VIII ist griechisch. Um 700 vor Christus, also zur Zeit Homers, wohnen Griechen auf der alten Burg mit ihren auffälligen Mauern. Wäre es also denkbar, dass diese Griechen alte Mythen aus Griechenland mitgebracht und erst jetzt mit den Ruinen auf dem Hissarlik verbunden haben? Barbara Patzek ist Professorin für Alte Geschichte und Autorin mehrerer Bücher über Homer.
14 Zusp. Patzek
14 [0:11:59] :Ja, also, das ist eigentlich eine Erklärung, die diskutiert wird, weil das sehr einleuchtend ist, dass also bestimmte alte Mauern also einmal zum Wiederbesiedeln anregen. Und zweitens auch darum, dass man also Legendenbildung um sie herum anlegt …, so dass also Ruinen in der Landschaft immer Fix-Punkte sind, sozusagen mythische Erinnerungsorte, wo nur eben die Erinnerung also keine echte historische Erinnerung ist, sondern den Orten wird eine Erinnerung mitgegeben.
SPRECHERIN
Wieder Trojas Mauern! Sie wären also so eindrucksvoll gewesen, dass man mit ihnen ein gewaltiges Geschehen verbunden hat. Das hätte Homer dann aufgegriffen. Die Vorstellung gewinnt durch weitere Indizien an Wahrscheinlichkeit: Der Dichter hat aus mehreren Quellen geschöpft.
15 Zusp. Patzek
15 [0:12:50]: Man muss einfach vom griechischem Sagengut ausgehen, also von Heldengeschichten. Also ich weiß nicht, wie viele Helden in den homerischen Epen genannt werden. (…) Also zu den Helden gibt es jeweils einzelne Geschichten, die sehr, sehr individuell sind, von denen man sagen kann - also das sind wirklich lokale Geschichten. Die müssen nicht also von außen her hereingebracht worden sein.
SPRECHER
Solche originär griechischen Geschichten hätten also in Troja eine neue Heimat gefunden. Zu ihnen kommen aber auch eindeutig vorderasiatisch-orientalische Einflüsse.
SPRECHERIN
Homer schöpft demnach aus sehr alten Quellen, die bis in die Bronzezeit zurückreichen, aber eben auch aus relativ jungen, für ihn zeitgenössischen Überlieferungen. Seine Ilias wird erst zu seinen eigenen Zeiten rund.
SPRECHER
Und noch etwas hat sich durch den Blick auf orientalische Quellen Homers herausgestellt: Der ganze Troja-Mythos dürfte im Kern auf alte orientalische Traditionen zurückgehen. Denn dem komplexen Geschehen liegt ein befremdender Plan des Zeus zugrunde: Troja muss fallen, damit die Menschen auf der Erde dezimiert werden. Warum?
16 Zusp. Patzek
nach 14 [0:16:32] :Das Konzept ist sehr alt. Das geht auf die Sumerischen Mythen zurück, also auf das Atrachasis-Epos zum Beispiel, in dem eben erzählt wird: die Schöpfung von Anfang an 15 [0:17:09] - Und der Gott hat dann also alles geschaffen. Und er schafft die Menschen, und die Menschen schaffen Städte, und die Städte werden zu laut. Und dann gehen Sie dem Gott auf die Nerven, und der zerstört die Städte. Und dann tut es ihm wieder leid. Er schafft die Menschen neu, und so geht das also - mehrmals wird die Menschheit ausgelöscht, und dann entstehen wieder neue Generation.
Musik 10: „Nocturne“ -1:10 Min
SPRECHERIN
Aus anderen Epenfragmenten wissen wir Näheres: Die Erde habe gestöhnt unter der Last der Menschen und so hat sie Zeus gebeten, die Menschen auszulöschen oder zu dezimieren.
SPRECHER
So stiftet Zeus also Streit unter den Göttinnen Athene, Hera und Aphrodite: Wer ist wohl die Schönste unter ihnen? Ausgerechnet der trojanische Königssohn Paris muss den Streit entscheiden: Es kommt zur berühmten Geschichte mit dem Apfel. Paris wählt Aphrodite zur Schönsten und soll dafür die Liebe der schönsten Frau der Welt bekommen: Helena. Doch die ist verheiratet mit dem griechischen König Menelaos. Also entführt Paris die Schöne. Und die Griechen sammeln ein gewaltiges Heer – und ziehen nach Troja.
SPRECHERIN
Im Mythos endet Troja zehn Jahre später und mit ihm endet auch ein menschliches Zeitalter. Mit Troja geht nicht nur eine Stadt unter, sondern das alte heroische Geschlecht der Menschen.
SPRECHER
Nur wenige überstehen das Desaster. Sie ziehen fort, nach Hause oder gründen neue Siedlungen. Einer der Überlebenden auf trojanischer Seite ist der Königssohn Aeneas. Seine weitere Geschichte wird den Troja-Mythos über die Antike hinaus fortsetzen. Denn nach späteren Vorstellungen gründen seine Nachkommen Rom. Der sehr reale Kaiser Augustus hielt sich für verwandt mit Aeneas und förderte das alte Troja nach Kräften. So wird Homers Troja sogar zur Wiege eines universalen Herrschaftsanspruchs, des Kaisertums. Kein Wunder, dass später auch Franken in Troja ihren Wurzeln sehen wollen, genauso wie Burgunder, Normannen und Briten.
Musik 11: „Data, Data, Data“ - 42 Sek
SPRECHERIN
Und das reale Troja? Noch im Jahr 355 nach Christus wird aus der schon christlichen Stadt von einem alten heidnischen Kult berichtet: Eine Statue Hektors wurde mit Öl gesalbt, heißt es, und Feuer habe auf den Altären gebrannt. Eine der letzten Nachrichten. Noch lange weiß man, wo es liegt, dann gerät das reale Troja in Vergessenheit. … Bis Heinrich Schliemann auf Frank Calvert traf.
Seit 30 Jahren stagnieren die Fänge der Wildfischerei. Schon jetzt stammt jeder zweite weltweit konsumierte Fisch aus Aquakulturen. Angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung gewinnt die Aquakultur als Lebensmittellieferant enorm an Bedeutung. Aber nachhaltig ist nicht alles. Von Jörn Breiholz und Michael Marek
Credits
Autoren dieser Folge: Jörn Breiholz und Michael Marek
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Peter Veit
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Reinhold Hanel, Direktor des Instituts für Fischereiökologie am "Johann Heinrich von Thünen-Institut" für Fischerei in Bremerhaven
Ulfert Focken, Fischerei-Ökologe, "Thünen-Institut"
Jón Kaldal, Journalist, Icelandic Wildlife Fund, NGO Island
Daniel Jakobsson, Geschäftsführer Arctic Fish, Lachszuchtunternehmen
Elvar Friðriksson, Geschäftsführer North Atlantic Salmon Fund, NGO Island
Sigurdur Thorvsalds, Biologe und Naturschützer, Island
Hör-Tipp:
Lost - Björk & Rosalia, 2023 auf YouTube
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
Bremerhaven an der deutschen Nordseeküste: Im beschaulich-historischen Fischereihafen riecht es nach Fish and Chips. Fangschiffe gibt es hier schon lange nicht mehr. Stattdessen: Räuchereien, Restaurants und Souvenirläden. Einen Steinwurf entfernt steht ein neues, modernes Glas-und-Stahl-Gebäude.
O-Ton 1: Ulfert Focken
"Wir sind hier in der Aquakultur Forschungsanlage des Thünen-Instituts für Fischereiökologie in Bremerhaven."
ATMO: Thünen-Institut / Sicherheitsschleuse
Sprecherin:
Sagt Professor Ulfert Focken. Wir stehen mit dem Spezialisten für Aquakultur und Fischernährung hinter der Sicherheitsschleuse im Erdgeschoss.
Ein leicht muffiger Geruch liegt in der Luft – wegen der Feuchtigkeit, erklärt der Wissenschaftler. In gut einem Dutzend Wasserbassins schwimmen verschiedene Fischarten unterschiedlicher Größe:
O-Ton 2: Ulfert Focken
"Hier sind verschiedene Becken von zahlreichen Aquarien mit circa 50 Litern bis hin zu Becken mit zwei Meter 50 Durchmesser, wo wir Tiere des warmen Bereiches halten. Das sind hier bei uns in erster Linie Karpfen und daneben auch tropische Garnelen, die sogenannte Pazifische Weißwein-Garnele. Wir machen hier Forschung in erster Linie zur Haltung und Fütterung dieser Arten."
MUSIK 1 ( SINE - Lost And Never Found 0’37)
Sprecherin:
Seit gut 30 Jahren beschäftigt sich Focken mit Aquakulturen, also der Erzeugung von Organismen, die im Wasser leben. Im Gegensatz zur Fangfischerei werden in der Aquakultur Fische wie zum Beispiel Lachse, Karpfen oder Doraden, aber auch Krebstiere, Muscheln und Algen unter kontrollierten Bedingungen aufgezogen. Aquakultur ist sozusagen Landwirtschaft unter Wasser. Für Focken wie auch für seinen Kollegen Professor Reinhold Hanel sind Aquakulturen für die Welternährung unverzichtbar:
O-Ton 3: Reinhold Hanel
"Wir werden sehr oft gefragt: Aquakultur - ja oder nein? Diese Frage wird immer nur in Deutschland gestellt. Weltweit würde die niemand stellen, weil man müsste, um sozusagen dieselbe Frage auf die Landwirtschaft umzumünzen, zu sagen, Landwirtschaft ja oder nein. Und die Frage würde niemand ernsthaft stellen. Sondern man redet dann über Schweinezucht oder über Geflügel oder irgendwelche Ackerfrüchte. Aber man stellt nicht grundsätzlich die Ernährungsproduktion des Menschen infrage. Und die Aquakultur hat in vielen Kontinenten, gerade in Asien, einen Stellenwert, der dem der Agrikultur, der Landwirtschaft, entspricht."
MUSIK 2 ( SINE - Lost And Never Found 0’36)
Sprecherin:
Reinhold Hanel leitet das Thünen-Instituts für Fischereiökologie; es ist eines von drei Instituten, die im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft die Fischerei erforschen. Er ist Experte für den europäischen Aal, für Biodiversität, Populationsgenetik und Aquakultur:
O-Ton 4: Reinhold Hanel
"Und ohne Aquakultur hätten wir keine Chance, den Menschen zu ernähren. Und eine steigende Weltbevölkerung, also die Zunahme an Nahrungsmitteln, sieht die Welternährungsorganisation fast ausschließlich über eine Zunahme der Aquakultur. Wir müssen also Wasser, Meeresflächen, aber auch Binnengewässer teilweise noch stärker als bisher für die Nahrungsmittelproduktion nutzen, wenn wir eine steigende Weltbevölkerung in ausreichendem Maße mit Nahrung beliefern wollen."
ATMO Thünen Institut / Aquakulturanlage
Sprecherin:
Aber ist die Produktion jeder Fischart sinnvoll und nachhaltig, um alle Menschen satt zu bekommen? Was ist etwa mit dem in Deutschland und vielen anderen Ländern beliebtesten Speisefisch, dem Lachs?
O-Ton 5: Reinhold Hanel
"Der Lachs hat nun mal ein relativ hohes Grundbedürfnis an Nahrungsqualität als Fleischfresser. Aber dasselbe gilt natürlich auch für den Thunfisch - vor allem der aus dem Farming kommt, also der sozusagen gemästet wird. Und dasselbe gilt natürlich auch für die Dorade und für den Wolfsbarsch. Das sind alles Fische, die nicht für die Welternährung gezüchtet werden, sondern um einen Nischenmarkt zu bedienen."
ATMO Thünen Institut / Aquakulturanlage
Sprecherin:
Das Futter ist das mit Abstand wichtigste Instrument, mit dem die Fischfarmen Wachstum und Gesundheit der Tiere steuern können. Auch deswegen erforscht das Thünen-Institut hier in Bremerhaven vor allem das Futter und seine Auswirkungen auf Zuchtfische:
O-Ton 6: Ulfert Focken
"Das Erkenntnisinteresse aktuell liegt nicht in der Züchtung. Das sind zwar die Ursprünge dieser Arbeitsgruppe von Anfang der 1960er-Jahre, wo man versucht hat, den grätenarmen Karpfen zu züchten. Bei uns geht es um die Untersuchung zur Fütterung und zur Umweltwirkung. Denn ein Futter, was schlecht verwertet ist, produziert natürlich mehr Ausscheidungen als ein hochwertiges Futter."
MUSIK 3 ( SINE – Always 0’48)
Sprecherin:
Haben die Fischfarmen die Jungfische erst einmal von der Brutstation zum Mästen in die Käfige im Meer, Fluss oder in den Teich transportiert, können sie die Wassertemperatur nicht mehr regulieren, die Fische nicht mehr impfen – und: auch einzelne Tiere nicht mehr isolieren. In der Mäst-Phase bestimmen vor allem Wassertemperatur und -qualität das Wachstum der Tiere – aber eben auch und vor allem das Futter. Das hat heute eine ganz andere Zusammensetzung als noch vor einigen Jahren, erklärt Ulfert Focken:
O-Ton 7: Ulfert Focken
"In den 1980er-Jahren, als die industrielle Lachszucht in Norwegen begann, bestand das Lachsfutter noch zu circa 50 Prozent aus Fischmehl und 10 bis 15 Prozent Fischöl. Und zu dieser Zeit wurden, um ein Kilogramm Lachs zu produzieren, vier bis fünf Kilogramm Sardinen, Sardellen und ähnliche Fische gebraucht, die dann zu Fischmehl und Fischöl verarbeitet wurden. Inzwischen ist die Lachsproduktion weltweit aber größer als der Fang von Fischen zur Fischmehl-Erzeugung. Und im Laufe der Zeit ist der Fischmehl-Anteil im Futter auf unter zehn Prozent gesunken."
MUSIK 4 ( SINE – Always 0’32)
Sprecherin:
Raubfische wie Thunfisch, Dorade, Wolfsbarsch oder Lachs ernähren sich in ihrem natürlichen Habitat von anderen Fischen und Krebsen. Wenn der Lachs aber in der Aquakultur nicht einmal mehr zehn Prozent Fischanteil im Futter bekommt, woraus bestehen die anderen 90 Prozent seiner Nahrung in der Mästung? Ulfert Focken:
O-Ton 8: Ulfert Focken
"Es sind einerseits in gewissen Mengen Tiermehle, aber der überwiegende Teil sind Pflanzenproteine. Und da in erster Linie eben Soja basierende Proteine. Das ist natürlich keine natürliche Nahrung für den Lachs. Und wenn wir den Lachsen wie auch vielen anderen Fischen einfach rohes Sojamehl geben, dann führt es zu chronischer Darmentzündung."
ATMO Hafen / Möwen
Sprecherin:
Das bedeutet: Das pflanzliche Futter muss industriell aufbereitet werden, um die Proteine zu isolieren – und um das Sojafutter vom anderen Ende der Welt, aus Südamerika, in die Fischzuchtanlagen in Norwegen, Island oder dem Mittelmeer zu transportieren. Zur Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung sind Raubfische daher wenig nachhaltig. Gleichwohl haben die wissenschaftlichen Untersuchungen des Thünen-Instituts die Vorzüge von Fischzucht ganz grundsätzlich nachgewiesen – vor allem, was die Nachhaltigkeit betrifft, sagt Fischerei-Ökologe Hanel. Denn für Aquakulturen …
O-Ton 9: Reinhold Hanel
"… braucht man deutlich weniger Ressourcen als für terrestrische Organismen, also für Rind, Schwein, Huhn. Eine bessere Energiebilanz haben teilweise Insekten als Fisch. Aber Fisch eignet sich sehr gut, um mit relativ wenig Energie-Input relativ viel an Nahrung zu produzieren."
ATMO: Musikakzent
Sprecherin:
Ortswechsel. Die Westfjorde im Nordwesten von Island: eine Halbinsel mit zerklüfteten Küsten, knapp 400 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Reykjavik.
ATMO Meer + Verkehr
Sprecherin:
Jón Kaldal steht am Arnarfjörður Fjord. Der Isländer arbeitet für den Icelandic Wildlife Fund. Die Nicht-Regierungs-Organisation engagiert sich für den Umweltschutz, vor allem für Meer und Fische. Kaldal schaut besorgt auf die Fischfarm: 12 kreisrunde Netze, jedes 200 Meter im Durchmesser, die 400 Meter vom Ufer entfernt im Wasser liegen:
O-Ton 10: Jón Kaldal
"In this small location … whole Iceland wild population."
VO 1.1:
Allein an diesem kleinen Standort gibt es etwa 1,2 Millionen Zuchtlachse. Das ist 20-mal mehr als die gesamte isländische Wildpopulation.
ATMO Fjord + Blubbern
Sprecherin:
Wie auf einer Perlenkette aneinandergereiht, schaukeln die nach oben offenen, kreisrunden Plastikgehege auf den Wellen. Von oben sieht das alles unspektakulär aus, doch das täuscht.
ATMO Collage Musikakzent + Geräusche Fjord
Sprecherin:
Unter der Meeresoberfläche ist es eine unterseeische Industrie-Mastfarm. In jedem einzelnen der zwölf Netze schwimmen 100.000 Lachse. Jón Kaldal zeigt auf einen Ponton inmitten der Anlage.
Darauf befindet sich ein containerartiges Gebäude: ein Futterautomat, der über Plastikrohre industriell produziertes Fischfutter in die riesigen Netze schießt:
O-Ton 11: Jón Kaldal
"They put the juveniles … this fast-growing rate."
VO 1.2:
Sie setzen die Jungtiere ins Netz, wenn sie zwischen 120 und 200 Gramm wiegen. Danach bleiben sie 18 Monate in der Zuchtanlage. Wenn die Lachse zwischen sechs und acht Kilo wiegen, werden sie geschlachtet. Davor werden sie unentwegt gefüttert. Die Zuchtlachse wachsen derart schnell, dass einige von ihnen missgebildet sind. Denn das Skelett kann mit dem schnellen Wachstum nicht mithalten.
ATMO Vögel + Schritte
Sprecherin:
Umweltschützer Kaldal greift in seine Jackentasche und holt sein Smartphone heraus. Er zeigt uns Fotos von Lachsen in einer Fischtreppe, aufgenommen von einer Fotofalle. Auf dem ersten Bild kehrt ein ausgewachsener wilder Lachs aus dem Atlantik zur Paarung zurück – in genau den Fluss, in dem er selbst vor Jahren geboren wurde. Auf dem zweiten Foto schwimmt ein Zuchtlachs. Er ist noch nie über das Plastiknetz im Fjord hinausgekommen – bis er fliehen konnte und die Fotofalle auslöste:
O-Ton 12: Jón Kaldal
"The main thing is… as a healthy one."
VO 1.3:
Was man sofort erkennt: Der Wildlachs ist lang, sieht ein bisschen wie ein Torpedo aus. Am selben Tag wurde der entkommene Zuchtlachs aufgenommen. Und Sie können ganz deutlich sehen, wie er sich unterscheidet: Er ist viel gedrungener. Die Schwanzflosse des Zuchtlachses ist missgebildet und klein; dieses Tier sieht einfach nicht gesund aus.
MUSIK 5 ( Slagr – First Frost 0’50)
Sprecherin:
Der wilde Lachs ist lang und muskulös: ein Raubfisch mit kräftiger, breiter Schwanzflosse, die er auf den vielen tausend Kilometern Reise durch Islands Flüsse und den Atlantik herausgebildet hat. Die braucht er auch, um die isländischen Flüsse hinauf ins Brutgebiet schwimmen zu können. Ganz anders der von Menschenhand gezüchtete Lachs auf dem zweiten Foto: Seine Schwanzflosse ist viel kleiner und nicht sehr ausgeprägt. Er hat sein gesamtes Leben in Gefangenschaft verbracht: erst in der Aufzuchtstation an Land, später in dem Plastiknetz der Zuchtlachsfirma. Gejagt hat dieser Raubfisch nie. Für Jón Kaldal sind Zucht- und Wildlachs zwei komplett verschiedene Fische, die auf keinen Fall Nachfahren zeugen sollten:
ATMO Bach
O-Ton 13: Jón Kaldal
"You have an offspring … of the salmon industry."
VO 1.4:
Du hast dann Nachkommen, die nicht an ein Leben in der Wildnis angepasst sind. Ähnlich wie die Nachkommen eines Pudels und eines Wolfs: Die wären auch nicht in der Lage, in der freien Wildbahn zu leben. Und das würde auch mit den Lachsen passieren: Es handelt sich ja um ein domestiziertes Tier mit domestizierten Genen, das sich trotzdem fortpflanzen und mit dem Wildtier vermischen kann. Das ist die schreckliche Seite der Lachsindustrie.
ATMO Bach
Sprecherin:
Was die Isländerinnen und Isländer vor allem beunruhigt: Dass die aus den Unterwassergehegen entkommenen Zuchtlachse sich in den Flüssen Islands mit dem wilden Lachs paaren – mit der Folge, dass die Zuchtlachse sich in die Population der freilebenden Island-Lachse einkreuzen. Die genetischen Eigenschaften der Zuchtfische sind zwar für die Massenproduktion geeignet, reichen aber nicht für das Überleben in der Natur. Denn es sind unterschiedliche Lachsarten: Der Zuchtfisch stammt aus Norwegen, die Lachsfarmen befruchten und vermehren ihn seit vielen Jahren künstlich - in Brutstationen an Land. Etwa 3.500 geschlechtsreife norwegische Zuchtlachse sollen entkommen sein.
ATMO Auto + Kirchenglocken
Sprecherin:
Ísafjörður, ganz im Norden der Westfjorde: Hier ist das Büro von Arctic Fish. Das Unternehmen gehört mehrheitlich dem norwegischen Mowi-Konzern – es ist der Betrieb, aus dem die Zuchtlachse entkommen sind. Vor 50 Jahren gelang es dem größten Zuchtlachskonzern der Welt, Lachsbrut künstlich zu befruchten und sie in Meeresnetzen aufzuziehen. Seitdem ziehen die Norweger mit ihrem lukrativen Geschäftsmodell durch die Lachsreviere der Welt. Doch wie konnten die Zuchtlachse überhaupt aus den Gehegen entweichen – und wie schädigt das den Wildbestand? Geschäftsführer Daniel Jakobsson antwortet ausweichend:
O-Ton 14: Daníel Jakobsson
"I am not a biologist … sea pens."
VO 2.1:
Ich bin kein Biologe, aber das isländische Meeresforschungsinstitut sagt uns: 3.500 entkommene Zuchtlachse würden dem Wildlachs auf Island nicht schaden. Das heißt aber nicht, dass es in Ordnung ist, wenn unsere Lachse entweichen. Unser Ziel ist es, die Tiere sicher in den Gehegen zu halten. Das tun wir nun schon seit zehn Jahren mit guten Ergebnissen. Natürlich sind wir nicht stolz darauf, dass Lachse entkommen konnten. Es gab Unzulänglichkeiten – und ein Risiko, das mit den Unterwassernetzen aus Plastik verbunden ist.
ATMO Collage Musikakzent "Iceland" + Atmo
Sprecherin:
Arctic Fish habe alles im Griff, das zumindest suggeriert Daníel Jakobsson. Naturschutzorganisationen sehen das anders – und weisen auch auf die Lachslaus hin. Dieser kleine, acht bis 12 Millimeter lange Parasit breitet sich in Norwegens Zuchtlachsgehegen aus, lebt von Schleim, Haut, Muskeln und Blut der Lachse.
ATMO Auto innen
Sprecherin:
Zwei Autostunden von Ísafjörður entfernt: Wir treffen Elvar Friðriksson am Ufer des Langadalsá. Ein paar Meter neben dem Fluss steht eine Anglerhütte mitten in der Wildnis. Vor der Tür zeigt uns Friðriksson ein Dutzend toter Lachse:
O-Ton 15: Elvar Friðriksson
"This is lice … rivers."
VO 3.1:
Das sind Lachsläuse; seht Ihr, wie sie sich bis in den Schädel gefressen haben? Und schaut euch die Flosse an, die ist ganz zerrissen. Das ist ein untrügliches Zeichen für einen Zuchtlachs. Und wenn ihr euch die Flosse genauer anschaut: Bei einem Wildlachs wäre diese erheblich größer und spitzer. Schließlich ist sie für das Schwimmen gegen starke Strömung und in Flüssen gemacht.
ATMO Leute
Sprecherin:
Elvar Friðriksson ist Geschäftsführer des North Atlantic Salmon Fund, einer Nicht-Regierungs-Organisation. Der Naturschützer erklärt uns, was es mit den Tierkadavern auf sich hat: Es handelt sich um die entflohenen Zuchtlachse aus den Netzen von Arctic Fish. Das Unternehmen hat extra norwegische Taucher einfliegen lassen, die diese Zuchtlachse aufspüren und töten sollen. So will man verhindern, dass sich Zucht- und Wildlachs paaren. Sigurdur Thorvsalds steht neben Elvar Friðriksson vor der Anglerhütte. Er betreut Angeltouristen, die viel Geld bezahlen, um wilde Lachse zu fangen. Sigurdur Thorvsalds hat Angst, dass erst der wilde Lachs und dann die Touristen ausbleiben könnten:
O-Ton 16: Sigurdur Thorvsalds
"We took a picture … we have to stop it now."
VO 4.1:
Wir haben ein Foto gemacht. Darauf kann man erkennen, dass ein Wild- und ein Zuchtlachs sich paaren. Das ist schrecklich. Versteht Ihr? So könnte uns der Wildlachs verloren gehen, durch das Meer wandern und vielleicht nie mehr hierherkommen. Das müssen wir jetzt stoppen!
Sprecherin:
Nicht nur Sigurdur Thorvsalds, auch Wissenschaftler und Naturschützer sind überzeugt: Wenn sich der norwegische Zuchtlachs immer weiter mit dem isländischen Wildlachs kreuzt, dann verliert der heimische Lachs Teile seiner Eigenschaften als kräftige, wilde Fischart. Und der Wildlachs würde es dann womöglich irgendwann nicht mehr durch den Atlantik zurück in die isländischen Flüsse schaffen.
ATMO Musikakzent "Permafrost"
Sprecherin
Auch wenn die Lachszucht mit ihren Absatzmärkten in Europa und den USA ein äußerst profitables Geschäft ist: Zur Welternährung trägt sie vergleichsweise wenig bei. Seit Mitte der 1980er-Jahre hat sich der weltweite Fischkonsum mehr als verdoppelt. Das liegt ausschließlich an der Aquakultur: Vor 40 Jahren hatte Aquakultur einen Anteil von nicht einmal zehn Prozent am weltweiten Fischkonsum. 2020 stammte bereits jeder zweite weltweit konsumierte Fisch aus Aquakultur. Vor allem in Asien boomt sie: 2020 produzierte Asien neunzehn Mal mehr Fisch aus Aquakultur als Europa. China züchtete mit etwa 37 Millionen Tonnen mit Abstand den meisten Fisch aus Aquakultur. Und während in Europa die Fischzucht im Meer deutlich größer ist als die inländische Fischproduktion, ist es in Asien genau andersrum: Hier dominiert die inländische Fischzucht, vor allem von Graskarpfen, auch Weißer Amur, Grasfisch oder Chinakrapfen genannt: ein Pflanzenfresser, der in China schon seit dem zehnten Jahrhundert gezüchtet wird.
ATMO Fischerei-Hafen Bremerhaven / Thünen Institut
Sprecherin:
Zurück in Bremerhaven im Thünen-Institut für Fischereiökologie: Wir wollen wissen, was die Forschung darüber weiß, wie sich Lachse in der Aquakultur fühlen. Für die Fischindustrie ist es hoch profitabel, wenn 100.000 Exemplare einer Art monatelang dicht zusammengedrängt in einem kleinen Netz leben und dann geschlachtet werden. Doch wie geht es den Fischen selbst? Institutsleiter Reinhold Hanel:
O-Ton 17: Reinhold Hanel
"Das Thema Tierwohl wird immer bedeutender und ist auch ein Hauptgegenstand unserer Forschung. Das Fühlen ist ein schwieriger Begriff in der biologischen Forschung. Es ging sehr lange darum, ob Fische Schmerz empfinden können, beispielsweise. Auch ein sehr, sehr schwieriger Begriff in der Biologie, weil Schmerz über lange Zeit nur dem Menschen zugestanden wurde. Aber mittlerweile hat sich doch bei vielen Wissenschaftlern zumindest der Gedanke durchgesetzt, dass Tiere sehr wohl zu Schmerzempfinden fähig sind. Und dann ging es darum, ob das auch Fischen zugestanden wird. Und mittlerweile geht die Diskussion doch oder die weitläufige Meinung doch eher dahin, dass auch Fischen ein Schmerzempfinden nachgesagt wird."
MUSIK 6 ( Slagr – Quiet Rain 0’50)
Sprecherin:
Allerdings, schränkt Wissenschaftler Hanel ein, gebe es in der Science-Community Stimmen, die der Meinung sind: Bei Reaktionen, die Fische auf Verletzungen zeigen, handele es sich nicht um Schmerz im menschlichen Sinne, sondern eher um eine Reaktion des Körpers. Und von daher gehe die Diskussion: Schmerz Ja oder Nein eher in die philosophische Richtung. Weil Schmerz oder Stress setze eigentlich Bewusstsein voraus. Und Bewusstsein gestehen manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Tieren nicht zu, so Hanel. Andere sehen das anders und forschen inzwischen sogar zur Individualität unter Fischen und der Frage, ob es in einem Fischschwarm unterschiedliche Charaktere gäbe.
O-Ton 18: Reinhold Hanel
"Aber das andere ist die Konsumentenwahrnehmung. Das hat nicht immer nur etwas mit Rationalität zu tun, sondern auch viel mit Psychologie. Das heißt, es werden dann Dinge, die man von anderen Nutztieren kennt, zum Beispiel aus der Hühnerhaltung, also Haltungsdichte, werden sehr häufig auf Fische projiziert. Da kommen auch sehr häufig falsche Wahrnehmungen dazu - in dem Glauben, dass je weniger dicht zum Beispiel Fische gehalten werden, umso besser geht es ihnen, was nicht immer der Fall ist, sondern das hängt sehr, sehr stark von der Art ab und der speziellen Biologie einer Art. Es geht nicht um das Wohlfühlverhalten von einzelnen Fischen. Wobei das auch vielen Menschen ein Anliegen ist. Sondern es geht auch darum: Die Einhaltung des Tierwohls führt zu einer Verbesserung der Tiergesundheit, unter Umständen zu einer Reduktion von Arzneimitteln und ähnlichem und damit auch direkt in die Produktqualität und damit auch für wirklich etwas Messbares und Verständliches auch für den Konsumenten."
ATMO Collage Atmo Aquakulturanlage + Musikzent
Sprecherin:
Und wenn man das alles bedenkt: Welcher Fisch ist tatsächlich nachhaltig – wenn man als Konsument die Auswirkungen auf Natur und Fische berücksichtigen will?
O-Ton 19: Reinhold Hanel
"Wer ihn unter ökologischen Gesichtspunkten konsumiert, der landet dann beim Karpfen, der auch nicht modrig sein muss. Oder eben auch bei importierten Fischarten wie der Tilapia. Die kann ich genauso gut auf den Grill tun wie eine Dorade. Aber der ökologische Fußabdruck von einer Tilapia, die im Süßwasser, in Teichen produziert worden ist, ist deutlich geringer als von einer Dorade aus der Netz-Käfighaltung im Mittelmeer."
Sprecherin:
Auch Karpfen und Tilapia können in der Massenhaltung Krankheiten bekommen und müssen dann medikamentös oder mit Impfstoffen behandelt werden. Aber generell, sagt Wissenschaftler Reinhold Hanel, essen Verbraucher mit diesen beiden Süßwasserfischen aus der Teichhaltung gesund und schonen obendrein die Umwelt.
Bibliotheken haben bekanntlich keine Füße. Aber - Lion Feuchtwanger, der Meister des historischen Romans, musste schnell sein, auf der Flucht vor den Nazis. So baute er in seinem Leben drei Bibliotheken auf, mit jeweils mehr als 10.000 Büchern: In Berlin, im französischen und amerikanischen Exil. Diese Bibliotheken waren weit mehr als nur Bücher in Regalen - sie waren das immobile alter ego Lion Feuchtwangers. Von Michael Zametzer
Credits
Autor dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Udo Wachtveitl, Christopher Mann
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Julia Schneidawind, Ludwig-Maximilians-Universität München
Dr. Heike Specht, Schriftstellerin, International Feuchtwanger Society
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Zitator (Lion Feuchtwanger):
Wie gefällt Ihnen mein Haus, Herr X? Lebt es sich angenehm darin? hat der silbergraue Teppichbelag der oberen Räume bei der Plünderung durch die SA- Leute sehr gelitten?
Sprecher:
Im Jahr 1933 besetzen und enteignen die Nazis das Haus von Lion Feuchtwanger in Berlin…
Zitator (Lion Feuchtwanger):
Was fangen Sie wohl mit den beiden Räumen an, die meine Bibliothek enthielten? Bücher, habe ich mir sagen lassen, sind nicht sehr beliebt in dem Reich, in dem sie leben, Herr X. Und wer sich damit befasst, gerät leicht in Unannehmlichkeiten.
Sprecher:
Die Bibliothek umfasst über 30.000 Bücher. Erstausgaben, deutsche Klassiker, Jüdische Literatur. Das Arbeitswerkzeug des Schriftstellers, des Bestsellerautors Lion Feuchtwanger…
Zitator (Lion Feuchtwanger)
Kommt es Ihnen nicht doch manchmal merkwürdig vor, dass sie in meinem Haus sitzen? Ihr Führer gilt sonst nicht als Freund der jüdischen Literatur.
Musik 2: The ship – 1:02 Min
Sprecher:
Drei Bibliotheken hat Lion Feuchtwanger in seinem Leben aufgebaut. Die Erste in Berlin. Und noch zwei im Exil. Im französischen Sanary-Sur-Mer, und schließlich in Pacific Palisades, einer Villenkolonie nahe Los Angeles. Er, der Münchner Jude, der Weltschriftsteller, berühmt für seine historischen Romane, für Jud Süß, Erfolg, die Josephus-Trilogie, wird die USA nie mehr verlassen. Er bleibt staatenlos. Und die Bibliotheken erzählen vom Leben des deutschen, des bayerischen, des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger.
1 ZSP Julia Schneidawind
Es sollte auch eine Bibliothek der deutschen Sprache werden…
Sprecher:
Julia Schneidawind hat für die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet und forscht nun am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Für ihre Doktorarbeit hat sie die Schicksale von Privatbibliotheken deutsch-jüdischer Schriftsteller untersucht: Franz Rosenzweig, Jakob Wassermann, Karl Wolfskehl, Stefan Zweig und – Lion Feuchtwanger. Dessen letzte Bibliothek, in Pacific Palisades bei Los Angeles, hat für sie einen besonderen Stellenwert.
2 ZSP Julia Schneidawind
Er hatte ja ganze Abteilungen, die sich wirklich deutschsprachigen Literaten und Schriftstellerinnen gewidmet haben, und es war ihm auch ein Anliegen, das zu zeigen. Und es waren zum einen die Exil-Schriftsteller, -Schriftstellerinnen, aber auch eben jene, die es nicht ins Exil geschafft haben. Und dafür stellt der Ort auf jeden Fall auch einen ja, wie wir heute sagen, eine Memorial Library dar.
Sprecher:
Aber egal, ob in Berlin, im französischen oder amerikanischen Exil - Natürlich war jede dieser drei Bibliotheken Feuchtwangers auch ein repräsentativer Ort. Besucher sollten nicht nur seltene Erstausgaben bewundern, sondern auch das intellektuelle Koordinatensystem erspüren können, in dem sich der Erfolgsschriftsteller bewegte. Die Bibliotheken waren aber noch mehr. Sie waren Feuchtwangers immobiles Alter Ego. Und als ihr Besitzer schnell sein musste, um zu entkommen, blieben Sie am Ort und waren den Nazis ausgeliefert. So erzählen diese Bibliotheken zunehmend auch von einem Menschen in der Fremde, der immer wieder versucht, mit Büchern eine Verbindung zum verlorenen Zuhause herzustellen.
MUSIK 3: Möw‘, Du…“ (Drehorgel) - 30 Sek
Sprecher:
Lion Feuchtwanger kommt aus einem bürgerlichen Münchner Haus. Der Vater, Sigmund Feuchtwanger ist erfolgreicher Margarinefabrikant. Er stammt aus einer alten fränkisch-jüdischen Familie. Lion, ältestes von neun Kindern, wächst im Münchner St. Anna-Viertel auf. Die Familie gehört zum orthodoxen Münchner Judentum, lebt die strengen jüdischen Traditionen, aber…
3 ZSP Heike Specht
Die Feuchtwangers waren eben eine besondere Mischung für die damalige Zeit. Bayerisch-Barock würde ich fast sagen, und jüdisch-orthodox. Das ging ganz gut zusammen.
Sprecher:
Die Schriftstellerin Heike Specht hat sich intensiv mit dem Leben der weitverzweigten Familie Feuchtwanger beschäftigt, mit ihren Traditionen und ihrem jüdischen Selbstverständnis. Ein Selbstbewusstsein, dass sich auch in der stattlichen Bibliothek des Elternhauses widerspiegelt. Julia Schneidawind.
4 ZSP Julia Schneidawind
Das ist, denke ich, charakteristisch für diese Sammlungen um die Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts, dass diese Sammlungen natürlich seit der Jugend meistens wachsen, wenn man aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus kommt. Und natürlich spielen dann auch Antiquariate eine große Rolle. Und so wachsen sozusagen diese Sammlungen über die Generationen und kriegen natürlich immer einen sehr eigenen Zuschnitt über die Interessen, die man eben persönlich dann auch hat.
Sprecher:
Die Bibliothek von Vater Sigmund bietet einen Schatz an jüdischer und weltlicher Literatur und ist bei bibliophilen Menschen über die Grenzen Münchens hinaus bekannt. In den Regalen stehen Bibelinterpretationen ebenso wie die Märchen von Wilhelm Hauff und Werke der Deutschen Klassik, aber auch moderne Literatur von Wedekind bis Hauptmann. Prägender Lesestoff für den jungen Lion.
5 ZSP Julia Schneidawind
Also gerade in den Jugendjahren Feuchtwangers, vermute ich, da hat er auch sehr stark auf die Bibliothek seines Vaters zurückgegriffen. Er hatte eine unglaublich einzigartige Sammlung, die heute komplett in Vergessenheit geraten ist und auch leider verschollen.
MUSIK 4: König Waldemar’s Nigun – 32 Sek
Sprecher:
Seine Schulzeit in München, auf dem konservativen Wilhelmsgymnasium, beschreibt Lion Feuchtwanger nicht gerade überschwänglich positiv. Und zuhause wartet dann noch ein Privatlehrer mit den Studien von Talmud und Bibel. Aber – er beginnt früh zu schreiben, gewinnt schon als Gymnasiast einen Wettbewerb, studiert nach dem Abitur Geschichte, Philosophie und Deutsche Philologie, promoviert brillant über Heinrich Heines „Rabbi von Bacherach“.
(Musik aus)
Eine akademische Laufbahn, eine Professur aber ist ihm – als Juden – de facto verwehrt. Er gründet eine Zeitschrift, schreibt Artikel, Theaterkritiken und lebt das Leben der Schwabinger Bohème. Feuchtwanger macht mit ersten Veröffentlichungen von sich reden, hält sich aber auch als Nachhilfelehrer finanziell über Wasser. Julia Schneidawind.
6 ZSP Julia Schneidewind
Da gibt es Anekdoten darüber, dass er aufgrund seiner, ja, nicht Abneigung zum Glücksspiel häufig seine Bibliothek verspielte und dann die Bücher sozusagen abgeben musste.
Sprecher:
Wobei die ersten Bücherbestände Feuchtwangers wohl schwer den Namen „Bibliothek“ verdienen mögen. Den Luxus einer eigenen, großen, repräsentativen Bibliothek wird er sich erst Jahre später erfüllen können. Noch aber, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, ist das Geld knapp, und die Lust Lions am Leben groß. 1912 heiratet er Martha Löffler, die aus einer wohlsituierten, jüdischen Familie in München stammt. Das Paar schwimmt im Zeitgeist, im Leben der Bohème. Dann
der Schicksalsschlag: Die einzige Tochter, Elisabeth, stirbt schon im Alter von zwei Monaten.
MUSIK 5: Means of escape – siehe vorn – 45 Sek
Sprecher:
Das Paar macht eine ausgedehnte Reise, nach Südfrankreich, nach Italien und Nordafrika. Im August 1914 – sie sind gerade in der französischen Kolonie Tunesien – bricht der Weltkrieg über Europa herein. Feuchtwanger verfällt nicht in patriotisches Hurra-Geschrei wie viele seiner schreibenden Kollegen, entzieht sich aber auch nicht der Einberufung. Seine labile Gesundheit erspart ihm den Fronteinsatz. Die Entfesselung von Hass, Krieg und nationalistischem Rausch in Europa aber werden aus Lion Feuchtwanger einen politischen Schriftsteller machen.
MUSIK 6: Hypnose - 43 Sek
Sprecher:
Die ersten Jahre der Weimarer Republik werden zu den ersten Erfolgsjahren für Feuchtwanger. Nicht mehr nur seine Theaterkritiken, sondern auch seine Bühnenstücke werden gedruckt und – gespielt. Ein Stück aber findet bei den Verlagen gar keinen Anklang: Die Geschichte des Juden Joseph Süß Oppenheimer am Hof des Württembergischen Herzogs. In „Jud Süß“ behandelt Feuchtwanger die zentralen Fragen der Assimilation von Juden in Deutschland. Von Marta kommt der Vorschlag, den Stoff doch als historischen Roman umzusetzen.
7 ZSP Heike Specht
Also sie hat ihn auf diese Spur gesetzt und das hat dann funktioniert und wurde ja dann wirklich schon in den Zwanzigern ein Weltbestseller, was ja überhaupt erst quasi das Fundament gelegt hat, dann auch für seinen Lebensstil in Deutschland noch und dann aber vor allem im Exil.
Musik 7: Hypnose – siehe oben – 33 Sek
Sprecher:
„Jud Süß“ wird ein Welterfolg, der sich schon im ersten Jahr 100.000mal verkauft. In Großbritannien und den USA erscheint der Roman ab 1926 auf Englisch unter dem Titel „Power“, später folgen Übersetzungen in 15 weitere Sprachen. Bittere Ironie der Geschichte: Der Roman liefert später die Vorlage für den wohl schlimmsten antisemitischen Propagandafilm der Nazis.
MUSIK aus
Sprecher:
In den frühen 1920er Jahren wächst auch die Freundschaft zu Bertolt Brecht. Der bedingungslose Erneuerer des Theaters findet in Lion Feuchtwanger, dem Erfinder des dramatischen historischen Romans, einen streitfreudigen Partner.
MUSIK 8: Tresor unser – 43 Sek
Sprecher:
1925 wird den Feuchtwangers dann München zu klein – und das Klima zu nationalistisch. Das heiße Pflaster der Weimarer Jahre liegt ohnehin nicht an der Isar, sondern an der Spree. In Berlin leben auch viele jüdische Intellektuelle, Schriftsteller, Filmemacher, Schauspieler. Wenn München Anfang des 20. Jahrhunderts noch leuchtete, so pulsiert Berlin nun im Takt der modernen Zeit.
MUSIK weg, Atmo tickende Standuhr
Sprecher:
Lebenslanges, intensives Lesen ist zentral für die Arbeit Lion Feuchtwangers. Dementsprechend richtet er ab 1932 im neuen Berliner Domizil, einer Villa am Grunewald, eine umfangreiche Bibliothek ein. In den Regalen seines Arbeitszimmers stehen dann etwa 300 Bücher, die er für das aktuelle Romanprojekt benötigt. Also eine Art Handapparat, das Handwerkszeug des Autors. Insgesamt wird die neue Sammlung über 10.000 Bücher umfassen. Eine Bibliothek zum Arbeiten, mit einigen wertvollen Bänden.
8 ZSP Julia Schneidawind:
Lion Feuchtwanger war jetzt kein klassisch bibliophiler Sammler, aber er hat sich durchaus auch Erstausgaben gegönnt. Also da war er manchmal schon interessiert, gerade dann, wenn diese Werke auch Bezug zu seinen eigenen Arbeiten hatten.
Sprecher:
1930 erscheint der Roman „Erfolg“. Er macht seinem Titel alle Ehre und beschert Feuchtwanger Ruhm und Geld. Der Schlüsselroman zeichnet ein karikaturenhaftes Bild vom gesellschaftspolitischen Klima der zwanziger Jahre in München. Das Personentableau verweist dabei direkt auf die Akteure jener Zeit, die den Nährboden des deutschen Faschismus mit gedüngt haben. Die Schriftstellerin Heike Specht:
9 ZSP Heike Specht:
Genau dieser Blick ins Innere, dieses gnadenlose Wahrnehmen, wie die nichtjüdische Gesellschaft, die Mehrheitsgesellschaft tickt. Das ist tatsächlich prophetisch.
MUSIK 9: Der Drache – 46 Sek
Sprecher:
Von der Machtübernahme der Nazis erfahren die Feuchtwangers in den Vereinigten Staaten, wo sie seit 1932 auf einer langen Vortrags- und Lesereise unterwegs sind. Und – sie stehen ganz oben auf der Feindesliste der Nazis. Am 10. Mai 1933 brennen Feuchtwangers Bücher auf dem Berliner Opernplatz. Sein Name steht auf der ersten Ausbürgerungsliste und – die gleichgeschaltete Universität in München erkennt ihm den Doktortitel ab.
Sprecher:
Und zuhause, in der Berliner Villa, bleibt kein Buch neben dem anderen stehen. Julia Schneidawind:
10 ZSP Julia Schneidawind
Die Bibliothek Lion Feuchtwangers in Berlin wurde tatsächlich schon 1933 von den NS-Behörden geplündert. Und das hängt natürlich auch damit zusammen, dass Lion Feuchtwanger von Beginn ein sehr starker Kritiker des Regimes war und auch das öffentlich gemacht hat. Und das war auch der Grund, warum gerade diese Bibliothek schon 33 eben geplündert wurde in seiner Villa in Berlin. Während andere Bibliotheken erst später dann tatsächlich das Interesse der NS-Behörden auf sich gelenkt hatten, war es eben dieses Beispiel für sehr frühe Plünderung. Und wir wissen heute tatsächlich nicht, was mit den einzelnen Büchern passiert ist. Es gibt auch wieder nur Anekdoten darüber, dass die Bücher verschleudert wurden, also dass die Nazis das irgendwie versucht haben, zu Geld zu machen. Aber Anhaltspunkte dafür haben wir leider nicht.
Sprecher:
Weil sie nicht nach Deutschland zurückkönnen, wählen Lion und Marta ein Exil in Frankreich, den malerischen Küstenort Sanary-sur-Mer an der Cote d’Azur. Dort stranden viele deutsche und österreichische Intellektuelle auf ihrer Flucht vor den Nazis: Hermann Kesten, Bertolt Brecht, die Brüder Mann, Arnold Zweig. Lion Feuchtwanger beginnt sofort mit dem Aufbau einer neuen, der zweiten Bibliothek.
11 ZSP Julia Schneidawind:
Lion Feuchtwanger hat dann sozusagen da auch Sammlungen gekauft, aber natürlich auch auf antiquarische Bestände zurückgegriffen. Es gibt diese eine Aufzeichnung in seinem Tagebuch, da schreibt er von einem Besuch von einem Herrn Spier. Ich konnte leider nicht genau rekonstruieren, um welchen Herrn Spier es sich handelt, der ihm die Bibliothek anbietet, und er notiert in das Tagebuch Bibliothek von Spier gekauft. Das ist ein Beispiel dafür.
Sprecher:
Diese zweite Bibliothek wächst in den folgenden Jahren auf über 20.000 Exemplare an. Sie ist vor allem eine Arbeitsbibliothek.
MUSIK 10: About something – 36 Sek
Sprecher:
Mit der Besetzung Frankreichs 1940 zieht sich auch für die deutsche Exilgemeinde die Schlinge nun zu. Lion Feuchtwanger kommt in das Lager Les Milles und später nach Saint Nicola bei Nimes. Marta, die selbst zeitweilig interniert war, gelingt es, mithilfe eines jungen Diplomaten der amerikanischen Botschaft, ihren Mann aus dem Lager zu holen – mit dem Auto, wie sie in den 1950er Jahren im Interview erzählt. Dabei bedient sie sich einer List:
12 ZSP Archiv: Marta Feuchtwanger
Und dann gab ich ihm einen Zettel mit, da stand nur darauf: frag nicht, sag nix, steig ein. Und daraufhin ist mein Mann in das Auto eingestiegen. Und da gab ihm der Konsul einen Mantel und ein Tuch. Und da, wenn die Wachen in angehalten hatten, bei der Rückfahrt, hat er immer gesagt, das ist meine Schwiegermutter.
Sprecher:
Nach einer abenteuerlichen Flucht über Spanien und Portugal erreichen die Feuchtwangers schließlich die Vereinigten Staaten.
Musik 11: The ship – siehe oben – 34 Sek
Sprecher:
Und die Bibiliothek in Sanary-Sur-Mer? Julia Schneidawind hat den Weg der Bücher rekonstruiert. Lion Feuchtwanger kann seine Mitarbeiterin Lola Sernau noch beauftragen, die Bücher aus der Villa in Frankreich zu holen und zum Verschiffen in Kisten zu verpacken. Allerdings werden die Kisten über Jahre im Hafen von Lissabon feststecken.
13 ZSP Julia Schneidawind
Es gab da Probleme mit dem Zoll und anderer bürokratischer Natur, und natürlich war das mit sehr hohen Kosten verbunden. Und der Zustand war nicht ganz so großartig. Und das ist tatsächlich heute aber auch der einzige Anhaltspunkt. Wir haben keine Listen, wir wissen nicht genau, welche Bücher tatsächlich damals in diese in diesen Kisten waren.
Musik 12: once more unto the breach – 1:11 Min
Sprecher:
Nach wenigen Monaten in New York zieht das Paar 1941 nach Kalifornien und findet schließlich 1943 in Pacific Palisades ein neues Zuhause - ein kleiner Küstenort außerhalb von Los Angeles. Das Anwesen ist eine hochherrschaftliche Villa mit Meerblick, später „Villa Aurora“ genannt. Und – letztendlich kommen auch die Bücher aus Frankreich dort an. Sie werden zur Grundlage einer neuen, der dritten Bibliothek. Hermann Kesten, enger Freund Lion Feuchtwangers, äußert sich bewundernd über Feuchtwangers Lebensstil, der ganz den Geschlechterrollen der Zeit entspricht.
Zitator:
So sollten Schriftsteller wohnen, mit zwanzig Zimmern, mit 11tausend Büchern, einem hügeligen Park mit zwei acres, einer Sekretärin und einer Frau, die kocht, gärtnert, bäckt, chauffiert und dem großen Dichter aufs Ergebenste dient, was für ein Leben.
MUSIK aus
Sprecher:
Das Leben ist für die Exilanten unterschiedlich schwer zu meistern in den Staaten. Marta und Lion aber leben begünstigt. Von den Erlösen des eben erst veröffentlichten Romans „Die Brüder Lautensack“ können sie das Haus finanzieren. Und im Zentrum des Anwesens steht eine neue - die dritte Bibliothek Feuchtwangers. Ein weiterer Neuanfang. Das Projekt Bibliothek hilft ihm über die Frustration von Verlust und Neubeginn hinweg:
14 ZSP Julia Schneidawind
Also wir können bei der Sammlung in Los Angeles tatsächlich auch von einer Rekonstruktion sprechen. Er hat auf die Netzwerke zurückgegriffen, die er früher kannte, also auch sehr viele Antiquare. Jüdische Antiquare, die auch im Exil lebten, konnten ihm dann auch wieder Bücher vermitteln. Und er hat sehr viele hiesige Antiquariate besucht. Aber auch über Kataloge, die er ständig auch aus Europa noch zugeschickt bekam, hat er versucht, diese Sammlung erneut aufzubauen.
Sprecher:
Grundlage für die neue Bibliothek sind aber die Bestände aus Sanary-Sur-Mer, oder wenigstens, die Bücher, die es in die Staaten geschafft haben. Eine Gedulds- und Zerreißprobe für den Schriftsteller, denn erst 1941 soll er – nach vielen Verzögerungen – seinen Schatz zumindest teilweise wieder in die Regale stellen können. Ludwig Marcuse, Freund und Nachbar der Feuchtwangers, schreibt in seinen Memoiren unter dem Titel „Mein zwanzigstes Jahrhundert“:
Zitator (Marcuse):
Abermals Wände aus Büchern, ein drittes Mal in einer Casa auf einem abgelegenen Hügel über der pazifischen Küste. Das war ein gewaltiges Mausoleum aus den Werken der Dichter: Ich ging immer zu ihm, wenn die Bibliothek meiner Universität versagte.
MUSIK 13: A fool’s paradise – 26 Sek
Sprecher:
Martha Feuchtwanger macht derweil Promotion für ihren Mann, fungiert als geschickte Agentin. Als charmante Gastgeberin und legendäre Köchin macht sie das Exil zu einem Anziehungspunkt inmitten dieser Emigrantenkolonie. Und das Zentrum dieses intellektuellen Clubs ist die prächtige Bibliothek.
Musik aus
Sprecher:
Nach dem Krieg löst sich die Exilgemeinde am Pazifik langsam auf. Brecht, Thomas Mann, Döblin und Werfel kehren nach Europa zurück. Lion und Marta Feuchtwanger bleiben. Wegen des angenehmen Klimas, wie der Schriftsteller in einem Interview erzählt. Aber wohl vor allem, weil er stets fürchten muss, als Staatenloser nicht mehr in die USA zurückkehren zu dürfen, sollte er einmal ausreisen.
MUSIK 14: The Ship – siehe vorn – 42 Sek
Sprecher:
Lion Feuchtwanger stirbt am 21. Dezember 1958. Seine Frau Marta überlebt ihn um fast 30 Jahre. Sie überträgt schon ein Jahr nach seinem Tod die Villa samt Bibliothek der University of Southern California, behält aber das Wohnrecht. Sie wird, bis zu ihrem Tod im Jahr 1987, zur Hüterin von Feuchtwangers Vermächtnis.
15 ZSP Marta Feuchtwanger:
Da ich ja auch immer Führungen mache in der Bibliothek. Das sind sehr viele Inkunabeln und auch noch Manuskripte, handgeschriebene, zum Beispiel eine von Papst Innozenz dem Dritten und ganz einzigartige Ausgaben. Nach meinem Tod bleibt es aber genauso, wie es jetzt ist.
Sprecher:
Der Großteil der Bibliothek, etwa 20.000 Bände, befindet sich bis heute in der Villa Aurora, das mondäne Anwesen ist eine Künstlerresidenz für Stipendiaten aus aller Welt. Der Rest der Bücher ist Teil der „Lion Feuchtwanger memorial library“ an der „University of southern California“ im nahen Los Angeles.
MUSIK 15: As ballad – 1:06 Min
Sprecherin:
Eines verbindet die drei Bibliotheken, die Lion Feuchtwanger im Laufe seines Lebens aufgebaut hat: Sie waren nicht nur Werkstätten für den Schriftsteller, sondern auch Ankerplätze eines Menschen im Exil.
16 ZSP Archiv: Lion Feuchtwanger
Im Übrigen bin ich deutscher Schriftsteller und suche mich immer zu umgeben mit deutschen Dingen, mit deutschen Büchern und dergleichen. Wenn ich deutsche Bücher lese, dann habe ich das Gefühl, ich unterhalte mich mit dem Autor.
Kumaris gelten in Nepal als kindliche Göttinnen auf Zeit und sind für eine Vielzahl religiöser Rituale zuständig. Mit dem ersten Tropfen Blut, den sie vergießen, müssen die Mädchen in ihre Familien zurückkehren und versuchen, sich wieder in die Realitäten der nepalesischen Gesellschaft einzufinden. Von Margarete Blümel
Credits
Autorin dieser Folge: Margarete Blümel
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Katja Amberger, Hemma Michel, Peter Weiß
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Scott Berry, Lehrer und Autor einer Kumari-Biografie;
Rashmila Shakya, Ex-Kumari;
Prof. Axel Michaels, Indologe und Religionswissenschaftler;
Prof. Horst Brinkhaus, Indologe
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Literaturtipps:
- Berry, Scott: From Goddess to Mortal: The True Life Story of a Former Kumari. Vajra Publications, Kathmandu 2005. Einfühlsames Porträt der ehemaligen Kumari Rashmila Shakya, die ihre Erfahrungen als Kindgöttin schildert und in den religiösen Kontext ihres Heimatlandes Nepal einordnet.
- A Study of Living Goddess Kumārī: The Source of Cultural Tourism in Nepal by Him Lal Ghimir.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN:
Auf einem mit Brokat überzogenen Stuhl sitzt ein kleines, sehr ernst blickendes Mädchen, das die Aufgabe hat, sein Land zu beschützen. Bei der nun folgenden, Stunden währenden, Tempelzeremonie wird ein Büffel sein Leben lassen, Trommler werden ihre Klangkörper bearbeiten und Gläubige ihre Köpfe bis zum Boden vor der kindlichen Göttin verneigen.
Musik hoch
ERZÄHLERIN:
Das Mädchen ist stark geschminkt und in ein bis zu den Knöcheln reichendes Gewand gehüllt, das von Goldfäden durchwirkt ist. Manchmal ist diese Berufsbekleidung der Kumari, Nepals ”kindlicher Göttin”, auch tiefrot. Und: Die Kumari trägt einen mit Diamanten versehenen, in allen Farben schimmernden Kopfputz dazu.
Eines aber ist immer gleich: Die lebende Göttin hat zwar das Gesicht eines Kindes. Doch ihre Würde und Bestimmtheit, die sie an den Tag legt, lassen sie um Jahre älter erscheinen.
Musik mit Atmo 1 Tempelzeremonie verbinden
O-TON 1: EX-KUMARI RASHMILA SHAKYA
At the age of four, I became a Kumari. At the age of twelve, I retired from the Kumari house.
VO-Sprecherin-weiblich:
Ich war vier, als ich zur Kumari erhoben wurde. Und zwölf, als ich wieder ins weltliche Leben zurückkehrte.
ERZÄHLERIN:
Heute ist Rashmila Shakya 37 Jahre alt. Als sie das Kumari-Amt innehatte, war der König noch das Staatsoberhaupt Nepals. Damals kniete der königliche Regent vor der vierjährigen Rashmila nieder, um aus ihrer Hand den sogenannten ‚Tika‘ zu empfangen.
O-TON 2: RASHMILA SHAKYA
It’s become used to for me, because every time the king came to get the bless ...I know that I used to give the Tika to the king. I feel proud.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Ich hatte mich schnell daran gewöhnt, meinen Aufgaben ruhig und besonnen nachzukommen. Auch dann, wenn ich dem König den Tika, das hinduistische Segenszeichen, auf die Stirn tupfte. Bis heute macht mich das immer noch ein wenig stolz.
ATMO 1 Tempelzeremonie
O-TON 3: PROF. HORST BRINKHAUS
Manchmal werden sie mit sechs Jahren erst geweiht oder eingeführt, manchmal auch schon mit zwei Jahren, das ist sehr unterschiedlich. Es ist ja an eine ganze Reihe von Kriterien geknüpft, wer Kumari sein kann.
ERZÄHLERIN:
… sagt der Indologe Professor Horst Brinkhaus.
O-TON 4: PROF. HORST BRINKHAUS
Da werden Tests gemacht und einiges auf die Beine gestellt, um festzustellen, wen hat sich die Göttin Durga - oder Taleju, wie sie in Nepal genannt wird – ausgesucht als Inkarnation? Das gilt es ja herauszufinden. Man macht ja keine Kumari, das ist nicht Menschenwerk, sondern die Göttin ist sozusagen übergegangen in einen Mädchenkörper.
ERZÄHLERIN:
Es gibt mehrere Kumaris in Nepal. Die bedeutendste unter ihnen ist die in Kathmandu lebende ‚Royal Kumari‘.
O-TON 5: PROF. HORST BRINKHAUS
Es wird selten über die weniger bekannten Kumaris berichtet. Berichtet wird fast immer nur über die Royal Kumari in Kathmandu und es gab auch einige Berichte über eine Bhaktapur-Kumari, die nämlich in Amerika war mit elf Jahren - als Kumari noch, wohlgemerkt, nicht erst danach.
MUSIK m03 (Holiya Mela, Traditional Nepal Folk Tunes, K:= Bharat Nepali, 0:34 Min)
ERZÄHLERIN:
Etwa zehnmal im Jahr verlässt die Royal Kumari den Palast, um religiösen Zeremonien beizuwohnen. Die inzwischen meist als ‚Kathmandu-Kumari‘ bezeichnete lebendige Göttin wird bei diesen Gelegenheiten stets in einer Sänfte befördert, da sie sonst Gefahr liefe, sich zu verunreinigen oder sich zu verletzen, sagt der Indologe und Religionswissenschaftler Professor Axel Michaels:
O-TON 6: PROF. AXEL MICHAELS
Es ist schon etwas schwieriger für die Kathmandu-Kumari, weil die eine so herausragende Stellung hat. Sie gab ja früher dem König den Tika und hat ihn gewissermaßen dadurch legitimiert für ein Jahr. Aber in Bhaktapur etwa ist die Kumari ja ein ganz normales Mädchen, die auch nicht so eine isolierte Stellung hat wie die Kathmandu-Kumari, die ja in einem eigenen Haus wohnt und eigentlich nicht auf die Straße darf. Sie kann nur getragen werden. Die auch nicht mit anderen Kindern einfach so spielen kann. Das gilt aber eigentlich nur für die Kathmandu-Kumari.
ERZÄHLERIN:
Aber selbst hier bestätigen Ausnahmen die Regel, weiß der Lehrer und Autor Scott Berry, der die Biografie der Kathmandu-Kumari Rashmila Shakya geschrieben hat:
O-TON 7: SCOTT BERRY
We had two daughters who were eight and six at the time... And they got to be friends that way.
VO-SPRECHER-männlich:
Unsere Mädchen waren acht und sechs Jahre alt, als wir nur ein paar Straßen weit entfernt vom Tempelpalast wohnten, in dem die Kumari ihre Wohnstatt hatte. Meine Töchter waren fasziniert davon, dass ganz in ihrer Nähe ein Mädchen lebte, das eine Göttin war. Und sie gingen jeden Tag zu ihrem Haus und saßen im Hof. Eines Tages stand sie oben auf der Treppe und rief: „Ich habe einen Ball. Wollt ihr spielen?“- „Ja“, sagten meine Töchter. Aber natürlich durften sie nicht nach oben gehen, schon allein, weil sie keine Hindus sind. Und sie durfte nicht nach unten kommen. Also blieb sie oben auf der Treppe, und meine Töchter standen unten und warfen den Ball hin und her. So wurden sie zu Freundinnen.
MUSIK m04 (Rato Bhale, Traditional Nepal Folk Tunes , K:= Krishna Gurung, 1:15 Min)
ERZÄHLERIN:
Diese Erinnerung hat die ehemalige Kathmandu-Kumari Rashmila Shakya in Scott Berrys „From Goddess to Mortal“ preisgegeben. Ebenso wie die Auswahlkriterien für die Kandidatinnen, die ihr noch heute leicht über die Lippen gehen: ein günstiges Horoskop, die körperliche Unversehrtheit der Kandidatinnen und die richtige Kaste.
O-TON 8: RASHMILA SHAKYA
Shakya caste, sacred Shakya. Yeah. And … are taken out from the Kumari house in the festival in a year.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Wir müssen aus der Shakya-Kaste kommen. Und unser Horoskop muss klar zeigen, dass wir gute Eigenschaften aufweisen und unserem Land nützlich sein können. Wenn Astrologen und Priester das herausgefunden haben, kommt die Frau aus der Familie, die mit der Kumari unter einem Dach lebt und sie betreut. Sie schaut sich den Körper und das Gesicht des Mädchens genau an und untersucht alles nach Wunden oder Kratzern. Wenn auch dieser Test bestanden ist, zieht das Mädchen als lebendige Göttin in den oberen Trakt des Kumari-Hauses ein, den sie nur verlässt, wenn sie zu Zeremonien und religiösen Festen abgeholt wird.
Atmo 2 Tempel Kathmandu
ERZÄHLERIN:
Die Kumaris stammen aus den Reihen der Newars, einer vor allem im Kathmandu–Tal beheimateten Volksgemeinschaft. Die Newars pflegen eine weltweit einzigartige Sonderform des Buddhismus, den nach ihnen benannten ‚Newar-Buddhismus‘. Die lebende Göttin wiederum wird seit Langem als Reinkarnation einer Hindu-Gottheit betrachtet: Durga, die sich in Nepal als ‚Taleju‘ manifestiert hat. Taleju soll vor einigen Jahrhunderten ins Kathmandu-Tal gekommen sein und sogleich zur Schutzgöttin der nepalesischen Königsfamilien und des Landes aufgestiegen sein. Schließlich aber nahm Durga/Taleju die Gestalt eines kleinen Newarmädchens an. So entstand ein göttliches Amt, das seitdem von einer wechselnden Schar auserwählter Kumaris versehen wird.
O-TON 9: PROF. HORST BRINKHAUS
Die Kumari wird von Buddhisten wie auch von Hindus verehrt, übrigens nicht nur von Newars, sondern natürlich auch von den Nepalisprechern.
Sie ist auch ein - wie der König ja auch in der Vergangenheit war - ein Integrationsfaktor. Nepal ist ein Vielvölkerstaat. Es gibt ungeheuer viele Sprachen in Nepal, ethnische Gruppen, von Tal zu Tal sozusagen häufig verschiedene Gruppen. Und irgendwo muss ja eine Klammer sein, die eine gemeinsame Identität begründet.
Atmo 2 Tempel Kathmandu
O-TON 10: SCOTT BERRY
The main thing it does, it symbolizes the unity, or at least...And Kumari comes from a Newar caste.
VO-SPRECHER-männlich:
Das Kumari-System symbolisiert, wenn nicht die Einheit, so zumindest doch die nicht vorhandene Feindschaft zwischen den Buddhisten und Hindus in Nepal. Die Newars sind die ursprünglichen Bewohner von Kathmandu. Sie haben ihre eigene Sprache, ihre eigenen Bräuche. Und die Kumari stammt eben aus einer Newar-Kaste.
ERZÄHLERIN:
… betont Scott Berry. Der Lehrer und Verfasser der Lebensgeschichte Rashmila Shakyas, von „From Goddess to Mortal“, hat mit Frau und Kindern viele Jahre im Nachbarhaus von Rashmilas Eltern gelebt. So konnte Scott Berry nicht nur den Werdegang der Ex-Kumari, sondern auch die Bedeutung der Kumari-Tradition verfolgen.
Atmo 2 Tempel Kathmandu
O-TON 11: SCOTT BERRY
The Newars actually share temples. They're divided between buddhists and hindus... she's a buddhist girl who becomes a hindu goddess.
VO-SPRECHER-männlich:
In der Tat nutzen die Newars Tempel, die von Buddhisten und Hindus gleichermaßen aufgesucht werden. In einer dieser nepalesischen Kultstätten wird zum Beispiel eine Inkarnation Shivas von Hindus verehrt, während Buddhisten am selben Ort Lokeshwar anbeten, einen spirituell sehr fortgeschrittenen Bodhisattva. Und, zurück zur Kumari: Sie stellt ein wichtiges Symbol für all das dar, weil sie ein buddhistisches Mädchen ist, das zu einer hinduistischen Göttin wird.
Atmo 2 Tempel Kathmandu bitte in Kreuzblende mit Atmo 3 Durga Sloka verbinden
ERZÄHLERIN:
Im Vielvölkerstaat Nepal werden Kultur und Politik seit jeher von der
Religion mitbestimmt. Literatur, Kunst, Sitten und Gebräuche, alle Abläufe des täglichen Lebens, sind von den religiösen Überzeugungen der Nepalesen durchdrungen. Und umgekehrt: Die wechselvolle politische Geschichte des Kathmandu-Tals hat entscheidend auch die Religion beeinflusst und so eine ureigene Beziehung zwischen Buddhismus und Hinduismus im Lande bewirkt.
Atmo 3: Durga-Sloka
ERZÄHLERIN:
Im nur in Nepal praktizierten Newar-Buddhismus vereinen sich verschiedene Richtungen des Buddhismus: Die Newar streben zwar nach Erlösung, stellen aber ihre Suche nach dem Ausstieg aus dem Kreislauf der Wiedergeburten hintan, um anderen, bedürftigen Lebewesen zur Seite zu stehen. Zusätzlich betreiben sie magische Rituale, die ihnen auf ihrem spirituellen Weg weiterhelfen sollen.
O-TON 12: PROF. HORST BRINKHAUS
Wenn man sich Nepal mal jetzt als diesen Streifen von Ost nach West vorstellt – der Norden ist sehr stark buddhistisch geprägt, aber nicht newarbuddhistisch, sondern lamaistisch. Der Süden, insbesondere das Terai-Gebiet, der Teil, der zum Gangesflachland gehört, ist sehr stark hinduistisch geprägt. Da gibt es auch Muslime und wirkt ja sowieso ganz indisch, ganz nordindisch.
MUSIK m01 ((Morning Song, Byanchuli, Traditional Music Of Nepal, Interra Records, 1:24 Min)
ERZÄHLERIN:
In diesem Schmelztiegel der Religionen, in einem Land, dessen Könige als Wiedergeburt des Hindu-Gottes Vishnu galten, besteht inzwischen ein Parlamentarisches Mehrparteiensystem.
Doch obwohl die Monarchie seit Mitte des Jahres 2008 der Vergangenheit angehört, und obschon die Maoisten im politischen Gefüge eine große Rolle spielen und Kritik an einigen Traditionen laut wird – religiöse Bräuche wie die der Verehrung der Kumari bestehen fort. Auch die Voraussetzungen für das Ausscheiden der „kommissarischen Göttinnen“ aus ihrem Amt sind nahezu unverändert geblieben. Um ausgeschlossen zu werden, genügen ein paar Tropfen Blut: Sobald die Kumari blutet, sei es im Zuge einer Verletzung oder durch Einsetzen ihrer Periode, muss die Kindgöttin das Zepter an ein anderes Mädchen abgeben.
O-TON 13: PROF. AXEL MICHAELS
Der Jungfrauenkult ist natürlich auch in Indien immer wieder einmal da gewesen - also die Verehrung einer Jungfrau als Göttin.
ERZÄHLERIN:
… sagt der Indologe und Religionswissenschaftler Professor Axel Michaels. Aber ….
O-TON 14: PROF. AXEL MICHAELS
Aber es ist sehr spezifisch im Grunde genommen bei den Newars. Sowohl in Kathmandu wie auch in anderen Orten des Kathmandu Tals. Weil die daraus einen regelrechten Kult gemacht haben, mit eigenen Ritualen, mit eigenen Häusern und der Notwendigkeit, dass die Kumari bestimmte Rituale eröffnen muss oder dabei sein muss oder Leute segnen muss.
Atmo 4 Ritual
ERZÄHLERIN:
Am Durbar Square, im Zentrum Kathmandus, steht ein blutüberströmter Omnibus. Dach, Fenster, Türen und die Front des alten Vehikels, dessen Reifen kurz davor sind, mit den Felgen eins zu werden, sind mit dem Blut einer soeben geschlachteten Ziege beschmiert. Die Sitze des Busses sind aufgerissen, die Fenster sind längst den Weg alles Irdischen gegangen. Im Fahrerraum prangt unter einem Wirrwarr von Girlanden eine Darstellung der Durga. Sie vollführt einen Kriegstanz, schwingt Lanzen und Schwerter in ihren vielen Armen. Ihr Gesicht ist zu einer Grimasse grausamen Triumphs erstarrt. Zu ihren Füßen liegt der Büffel-Dämon Mahisasura, den die große Göttin zertreten hat. Heute nimmt sie in Kathmandu ihr Festmahl.
Atmo 4 Ritual
ERZÄHLERIN:
Einmal im Jahr wird Durga-Puja, das große Opfer- und Erntefest, gefeiert. Busse, Lastwagen und Privatfahrzeuge werden mit frischem Tierblut geweiht, damit die Insassen in Zukunft nicht zu Schaden kommen mögen.
In Innenhöfen, Häusern, Gassen und in großen Festzelten sind für die Göttin Durga Altäre aufgebaut. Die Frauen haben besonderes Essen für den Anlass vorbereitet. Kinder werfen einander Luftballons zu und warten aufgeregt darauf, dass der Prozessionszug mit der Kumari, der lebendigen Vertreterin Durgas, endlich eintrifft. Dass die kindliche Göttin kommt, ihnen ein ernstes Lächeln schenkt und dem einen oder anderen vielleicht auch ein Segenszeichen auf die Stirn malt.
Atmo 4 Ritual
bitte kurz hoch, dann blenden
O-TON 15: PROF. HORST BRINKHAUS
Die Royal Kumari hängt ja stark mit dem Königtum zusammen. Sie wurde ermittelt, unter anderem von dem Astrologen und dem Familienpriester des Königs und anderen hohen Beamten. Die sind natürlich mit der Abschaffung des Königtums nun auch entfallen. Und das heißt, die Kumari muss immer wieder auf neue Grundlagen gestellt werden, wie man sie herausfindet, wer für sie eigentlich sorgt, wer zuständig ist für diese Institution.
ERZÄHLERIN:
Inzwischen gewährt der Staat den kommissarischen Göttinnen zumindest eine kleine Rente – und eine Schulausbildung.
O-TON 16: PROF. HORST BRINKHAUS
In der Vergangenheit war ja ein Problem, dass sie in keine Schule gehen konnte oder durfte, dass sie also nicht ausgebildet wurde. Immerhin ist man Kumari bis zum zwölften, dreizehnten Lebensjahr, je nachdem.
MUSIK m05 ( Yantra, Jens Buchert, 2:21Min)
O-TON 17: RASHMILA SHAKYA
I have to struggle so much in the normal life. Mostly in the study...At the age of twelve I started my school career.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Ich hatte anfangs wirklich schwer zu kämpfen. Vor allem mit dem Lernen, weil es zu meiner Zeit keine formale Bildung für Kumaris gab. Erst im Alter von zwölf Jahren habe ich meine Schullaufbahn begonnen.
ERZÄHLERIN:
Ihr Biograph Scott Berry erinnert sich noch sehr gut an das, was Rashmila damals durchgemacht hat.
O-TON 18: SCOTT BERRY
Well, this is something that's changed considerably since Rashmila’s time...and they're able to go to their proper grade when they stop.
VO-SPRECHER-männlich:
Nun, das ist etwas, das sich seit Rashmilas Zeit stark verändert hat. Sie hatte große Schwierigkeiten, ins normale Leben zurückzukehren. Sie musste in die erste Klasse gehen, obwohl sie schon zwölf Jahre alt war. Einmal hat sie versucht, wegzulaufen und ins Kumari-Haus zurückzukehren, aber da stand sie dann natürlich vor verschlossenen Türen. Doch schließlich hat sie es geschafft. Ihre Familie hat Rashmila bedingungslos unterstützt. Und heute ist es so, dass vor allem ihretwegen Kumaris lernen und studieren. Sie haben Tutoren und werden darauf vorbereitet, die zu ihnen passende Klasse zu besuchen, wenn es soweit ist.
ERZÄHLERIN:
Noch etwas kommt erschwerend hinzu, das über lange Zeit hinweg manchmal wie ein Fluch über den ins irdische Leben zurückkehrenden Mädchen lag: der alte Irrglaube, Kumaris fänden keinen Ehemann.
O-TON 19: RASHMILA SHAKYA
This is only a misconcept about the Kumari. And this misconcept.. Before that the guy had little bit hesitate ad to marry the ex Kumari.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Diesem Aberglauben nach soll ein Mann, der eine ehemalige Kumari zur Frau nimmt, eines unnatürlichen und viel zu frühen Todes sterben. Die jüngere Generation hat sich da inzwischen bewegt und schenkt dem keinen Glauben mehr. Aber ich erinnere mich noch der Zeiten, als Männer einer Verbindung zu einer Ex-Kumari deshalb ziemlich zurückhaltend gegenüberstanden.
O-TON 20: SCOTT BERRY
Traditionally, they're not supposed to get married. The husband's supposed to die... and they seem very happy together.
VO-SPRECHER-männlich:
Traditionell ist es nicht vorgesehen, dass sie heiraten. Und, ja, angeblich soll der Mann sogar innerhalb des ersten Jahres der Ehe sterben. Aber das ist völlig falsch. In der Vergangenheit gab es mehrere Kumaris, die geheiratet haben - und auch Rashmila ist den Bund der Ehe eingegangen. Wir waren sogar auf ihrer Hochzeit. Inzwischen hat sie einen Sohn, und sie scheinen sehr glücklich miteinander zu sein.
ATMO 5 Kumari-Ritual
O-TON 21: RASHMILA SHAKYA
Yeah, I have married before eight years. And I have one son and he is became a five years old.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Seit unserer Hochzeit sind acht Jahre vergangen. Und unser Sohn ist jetzt fünf Jahre alt.
Musik m01 ((Morning Song, Byanchuli, Traditional Music Of Nepal, Interra Records, 1:40 Min)
Erzählerin:
Über dreißig Jahre liegen zwischen den fundamentalen Ereignissen, die das Leben der Ex-Kumari nachhaltig beeinflusst haben. Rashmila Shakya erinnert sich noch sehr genau daran, wie das damals war: Als sie als vierjähriges, sehr ernst dreinschauendes Mädchen auf einen Thron stieg, um als kindliche Göttin ihren König und ihr Land zu beschützen. Und dann, acht Jahre später, als die Zeit gekommen war, das Kumari-Haus zu verlassen ….
O-TON 22: RASHMILA SHAKYA
At the time? I became sad and happy. Also sad because that I have left the Kumari house and happy that I have returned to the own house and lived a normal life.
VO-SPRECHERIN-weiblich
Da war ich froh und bedrückt zugleich. Traurig, weil ich das Kumari-Haus hinter mir lassen musste. Und froh, weil ich nach Hause zurückkehren und ein normales Leben führen konnte.
Erzählerin:
Nichts von alldem möchte Rashmila missen. Wie viele andere Ex-Kumaris auch, mit denen sie gesprochen hat, ist da das nachhaltige Gefühl, ein Privileg genossen zu haben. Einen Lebensweg beschritten zu haben, der schwierig, steinig und ungemein erfüllend gewesen ist.
O-TON 23: RASHMILA SHAKYA
I got two life in one born. One is normal life and one is God. Is life.
VO-SPRECHERIN-weiblich:
Ich habe zwei Leben geführt. Das eine ist das normale, das irdische Leben und das andere ist mein Dasein mit Gott.
Von Freude bis Angst - dass auch Tiere solche Gefühle empfinden können, steht für ihre Besitzer längst außer Frage. Und auch die Forschung belegt die Emotionen von Tieren immer klarer. Doch was bedeutet das für unseren Umgang mit ihnen und was können wir tun, damit sich Tieren wohl fühlen? Von Alexandra Hostert (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Alexandra Hostert
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Andreas Neumann
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Dr. Franziska Kuhne, Verhaltenstierärztin, Universität Gießen;
Prof. Wulf Haubensak, Neurowissenschaftler, Universität Wien;
Prof. Albert Newen, Philosoph, Universität Bochum;
Hundebesitzerin Leonie (möchte ihren Nachnamen nicht nennen);
Dr. Sandra Düpjan, Verhaltensforscherin, Leibniz-Institut für Nutztierbiologie Dummerstorf;
Christian Kucharz, Ziegenhalter
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Redaktion: Susanne Poelchau
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Stadtplaner Robert Moses war in New York als so arroganter wie brillanter, visionärer wie rücksichtsloser "Master Builder" verehrt und gefürchtet. 44 Jahre lang konnte er die Metropole wie kein anderer im Alleingang formen, mit gewaltigen wie umstrittenen Bauprojekten. Von Florian Kummert (BR 2021)
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Ob man von Über-Ich, Gewissen oder Leistungsdenken spricht: Kritische innere Stimmen gehören zur psychischen Ausstattung des Menschen. Ihr Spektrum reicht von fordernd bis fertig machend. Umso wichtiger ist es, den abwertenden innerer Kritiker von anspornenden, motivierenden seelischen Aspekten zu unterscheiden. Von Justina Schreiber
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
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ZUM PODCAST
Linktipps:
Schematherapie von Eckhard Roediger HIER
Dr. Kathryn Eichhorn - Institut für Psychologie (unibw.de) HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
STIMME:
Jetzt musst du dich aber mal richtig anstrengen. Sonst wird das wieder nichts.
SPRECHERIN:
Diese Stimme klingt unangenehm.
STIMME:
Was redest du schon wieder für ein Zeugs!
SPRECHERIN:
Wenn reale Personen so zu einem sprechen, kann man sich wehren und sagen: Lass mich in Ruhe! Wenn die Stänkerei aber im eigenen Kopf abläuft, dann wird es mit der Abwehr schon schwieriger.
STIMME:
Du kriegst eh nichts wirklich gut hin. Das war jetzt sicher falsch! Wie blöd kann man eigentlich sein! So unsensibel und undifferenziert! Warum lässt du es nicht gleich bleiben?
STIMME MIT SPR.‘IN KREUZEN
MUSIK: Hypothesize 0‘30
SPRECHERIN:
Was ist das für eine innere Stimme? Oder sind es nicht sogar mehrere Stimmen, die einem den Tag und manchmal auch das Leben vermiesen können, je nachdem, wie penetrant sie sich zu Wort melden? Es handelt sich nicht wirklich um eine Stimme, sondern eher um folgenschwere Gedanken, auf jeden Fall ist es kein Gefühl, erklärt die Psychoanalytikerin Dr. Kathryn (=Kathrin) Eichhorn.
O-TON 01: (Eichhorn)
„Es ist eine Stimme, die dann Emotionen auslösen kann, die unangenehm sind. Schamgefühle, Schuldgefühle, Ängste.“
STIMME:
Alle anderen sind besser als du.
MUSIK: Hectic hiding 0‘35
SPRECHERIN:
Es ist eine Art innerer Kritiker, der selbstverständlich auch weiblich gedacht werden kann. Er sendet Botschaften, die für eine angespannte Stimmung sorgen. Ein bisschen Ehrgeiz muss schon sein. Wir wollen auch gefordert werden. Aber dieser innere Kritiker erzeugt ganz schnell ein ungutes Fahrwasser. Wenn sich Minderwertigkeitsgefühle festsetzen oder das schlechte Gewissen zum Dauerbegleiter wird, dann kann man nämlich nur noch jammern:
O-TON 02: (Eichhorn)
„Ah, ich bin schuld, ich mache alles falsch. Ich bin eine schlechte Mutter. Ich bin eine schlechte Partnerin. Ich bin eine schlechte Arbeitnehmerin oder oder. Also, das sind auch diese Anteile. Also, es ist nicht nur der Perfektionist oder die Perfektionistin, die sagt: da hättest dir jetzt aber noch mehr Mühe geben können, sondern das ist letztendlich eine Stimme, die uns nicht sehr wohlgesonnen ist.“
SPRECHERIN:
Der innere Kritiker kann also ein massives Problem darstellen, eine Bedrohung für das Selbstbewusstsein. Der Psychiater Dr. Eckhard Roediger definiert ihn deshalb auch:
O-TON 03: (Roediger)
„Als die Summe negativer Bewertungen oder negativer Gedanken über einen selbst oder auch über die Welt.“
MUSIK: Data connected 0‘30
STIMME:
Alle werden erkennen, dass du eigentlich eine Hochstaplerin bist. Deshalb hopp hopp an die Arbeit! Bloß nichts schleifen lassen!
O-TON 04: (Eichhorn)
„Es entspricht natürlich auch der Leistungsgesellschaft, in der wir leben. Das hat schon auch einen sozialen und gesellschaftlichen Aspekt, also dieses Immer-Weiter, Immer-Höher, Immer-Mehr. Wie hat eine Patientin gesagt: ah, die Hustle Culture! Also dieses immer machen, machen, machen. Und es reicht irgendwie nie. Man orientiert sich daran: Wo kann ich möglichst viel Geld verdienen und gar nicht: Wo finde ich eine Sinnhaftigkeit? Das hat schon viel damit zu tun.“
SPRECHERIN:
Man will ja vielleicht Karriere machen, auf jeden Fall muss man Geld verdienen, man möchte kein Außenseiter sein. Was den Umgang mit diesem inneren Kritiker nicht leichter macht: in einer Gesellschaft, die Leistung (immer noch) höher bewertet als Nichtstun…
STIMME:
Sonst geht es ja nur noch bergab!
MUSIK: Contrepunkt 0‘25
SPRECHERIN:
Dort, wo Leistungsdenken zählt, in der Schule, der Uni oder im Job, da bekommt der innere Kritiker durch äußere Stimmen ordentlich Rückenwind. In Stresssituationen, vor Prüfungen zum Beispiel, kann dieser mal antreibende, mal niederknüppelnde psychische Aspekt richtig laut werden. Dann übersieht man schnell, dass es eben nur ein innerer „Anteil“ ist, der sich hier aufplustert, sagt Kathryn Eichhorn.
O-TON 05: (Eichhorn)
„Wenn man sich noch nicht so richtig damit auseinandersetzt: Was ist jetzt eigentlich dieser innere Kritiker? Dann fühlt sich das bei ganz vielen Menschen erst mal so an, dass nur das jetzt „Ich“ bin. Also es gibt jetzt nur das Ganz-Schlechte: „Nie kriege ich was hin. Immer geht alles schief. Niemand mag mich.“ Und wenn man das relativiert, dass man sagt: Ah, da kommt jetzt dieser Anteil, der sieht die Welt so, dann impliziert das ja, dass es auch noch einen anderen Anteil gibt, der dann vielleicht sagt: na ja, also es gibt da schon welche, die dich mögen. Und du kriegst schon auch ganz schön viel hin. Und da gibt es auch noch eine andere Seite. Und damit relativiert sich das erstmal, dass man sagt: Ah, da gibt es verschiedene Facetten. Dann kommt mehr Bewegung in die Psyche mit rein. Und damit kann man dann weiterarbeiten.“
MUSIK: Meandering 0‘30
SPRECHERIN:
Im Coaching und anderen psychosozialen Beratungssituationen ist es heute üblich, Gefühle und Gedanken, überhaupt das innere Erleben, nach Rollen oder Funktionen zu sortieren. So ist auch der Begriff des „inneren Kindes“ fast schon Allgemeingut geworden. Neben dem inneren Kritiker lassen sich also noch weitere Stimmen, Stimmungen oder Zustände identifizieren, in die man ebenfalls „hineinrutschen“ kann.
O-TON 06: (Roediger)
„Zum Beispiel den des verlassenen Kindes oder den des ärgerlichen Kindes oder den des Kämpfers, der sich versucht, in der Welt durchzusetzen oder des Unterordnenden, der versucht, es allen recht zu machen. Oder den distanzierten Beschützer, der sich von allen zurückzieht und Situationen ausweicht und gar nichts mehr fühlen will zum Beispiel. Das sind alles Zustände, in denen wir sein können.“
SPRECHERIN:
Der Psychiater Eckhard Roediger leitet das Frankfurter Institut für Schematherapie. Die Schematherapie, eine Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie, definiert den inneren Kritiker als dysfunktionalen innerpsychischen Zustand. Was die strafenden und abwertenden Gedanken besonders belastend macht: sie laufen absolut automatisch ab.
STIMME:
Kein Wunder, du bist ja auch ein Trampel.
MUSIK: Sweet little birdies (reduziert) 0‘25
SPRECHERIN:
Andere Stimmen hört man vielleicht kaum oder unterdrückt sie regelrecht. In manche flüchtet man sich gern. Man kann das innere Konzert mit einem Familienfest vergleichen. Diesen Onkel mag man mehr, jene Tante weniger, und wie heißt nochmal Typ mit dem vorwurfsvollen Gesichtsausdruck, der sich so in den Vordergrund drängt? So erklärt es die Psychoanalytikerin Kathryn Eichhorn ihren Patientinnen, wenn sie sich dem Thema „innerer Kritiker“ zuwenden.
O-TON 07: (Eichhorn)
„Manchmal finden auch Patienten so eigene Namen dafür. Das finde ich dann fast noch ein bisschen besser. Also, da kommt jetzt das innere kleine Teufelchen wieder oder da kommt dann wieder dieser ganz strenge Anteil in mir, dieser…, also ich hatte mal eine Patientin, die meinte: ja das ist wieder dieser alte, grantige Opa, der dann da zu mir spricht.“
SPRECHERIN:
Durch den sprachlichen Akt des Benennens kann man etwas Abstand zum emotionalen Sumpf oder Chaos gewinnen. Man begrenzt das betreffende Gefühl, macht es handlicher.
O-TON 08: (Eichhorn)
„Es geht ja so, dass Emotionen, egal welche Emotionen, ob es jetzt Selbst-Abwertung ist, ob es Traurigkeit ist, Ängste, dass die deshalb oft so einen hohen Leidensdruck auslösen, weil sie so überflutend wirken. Und dann geht es immer darum: wie kann ich mich distanzieren? Und das ist eine Möglichkeit zu sagen: Ah, ja, da gibt es jetzt diesen Anteil in mir, der meint es gerade gar nicht gut mit mir.“
STIMME:
Aber du bist wirklich eine Versagerin.
MUSIK: Symbiosis 0‘35
SPRECHERIN:
Die Psychoanalytikerin Kathryn Eichhorn berät oft Studierende und jüngere Menschen in Lebenskrisen. Wie soll es weitergehen? Die Bachelorarbeit kann nicht noch weiter aufgeschoben werden, ein Referat muss gehalten werden, aber Stress hält man gar nicht gut aus. Das Gefühl, nichts auf die Reihe zu kriegen, ist auch nicht viel besser. Panikattacken und Erschöpfungszustände können die Folge sein, wenn der innere Kritiker gefühlt ständig Druck macht und nur noch herummäkelt. Ziel einer Therapie ist dann logischerweise:
O-TON 09: (Eichhorn)
„Wenn wir jetzt in dieser Metapher von unserem Familienfest sind, dass er halt nicht die Party dominiert. Dann ist es immer unangenehm.“
STIMME:
Von nichts kommt nichts. Ohne Fleiß kein Preis.
MUSIK: Notorious 0‘25
SPRECHERIN:
Wer an Ängsten, Depressionen oder Zwangsstörungen leidet, beugt sich dem Diktat dieser negativen, abwertenden Stimme. Im Extremfall macht der innere Kritiker tatsächlich krank. Oder andersherum formuliert: zu psychischen Erkrankungen gehört eine rigide innere Stimme, die nie zufrieden ist, sagt der Psychiater Eckhard Roediger.
O-TON 10: (Roediger)
„Eine Essgestörte sieht sich zu dick, und hat den Gedanken: oh Gott, du bist zu dick. Und dann isst sie nicht mehr. Sie kann das nicht mehr relativieren. Und bei ganz vielen psychischen Störungen sind unkontrollierte Gedanken ein ganz wichtiges Element, die die Störung aufrechterhalten.“
STIMME:
Das schaffst du nie. Du bist ganz allein auf der Welt. Das überlebst du nicht.
O-TON 11: (Roediger)
„Das wären in unserem Verständnis alles Kritiker-Gedanken. Aber es sind Gedanken und die müssen wir uns vom Leib halten. Oder wir müssen prüfen, wie lange sie hilfreich sind: Sport zu machen ist eine gute Sache. Aber zu viel Sport zu machen, macht Gelenke kaputt, zum Beispiel. Das müssen Sie ausbalancieren können.“
SPRECHERIN:
Den inneren Antreiber beziehungsweise Runterzieher zu relativieren, ist jedoch leichter gesagt als getan. Deshalb empfiehlt die Psychoanalytikerin Kathryn Eichhorn im ersten Schritt auch einfach nur:
O-TON 12: (Eichhorn)
„Ihn anzuhören, ihn anzuerkennen als das, was er ist: Es ist ein wichtiger Teil von uns.“ (OBEN)
MUSIK: I finally understand 0‘23
SPRECHERIN:
Der innere Kritiker gehört zur psychischen Grundausstattung jedes Menschen. Auch wenn es Menschen geben soll, die keine inneren Monologe führen, also nie vor sich hin brabbeln: „Ja, wo ist denn jetzt der Schlüssel? Ich bin aber auch ein Schussel!“ Der innere Kritiker agiert eh dauernd im Hintergrund.
O-TON 13: (Eichhorn)
„Das ist schon auch ganz gut, wenn man so jemanden hat, der dafür sorgt, dass wir selbstkritisch auch sind, also Selbstreflektion. Das gehört schon auch mit dazu, dass man sagt: okay, was hätte ich da jetzt irgendwie anders machen können? Oder dass wir auch bestimmte Werte oder Normen einhalten. Also was ist jetzt okay gesellschaftlich, wo wir uns als Gesellschaft darauf verständigt haben.“ (OBEN)
SPRECHERIN:
Wir brauchen so etwas wie ein Gewissen, um miteinander leben zu können. Selbst egozentrische Menschen, die sich nicht um die Erwartungen, Wünsche und Ziele ihres sozialen Umfelds zu kümmern scheinen, kommen ohne das psychische Instrument nicht aus. Es zeigt im Grunde, wo es lang geht. Wer allerdings gerade auf Krawall gebürstet ist und keinen Wert auf Harmonie legt, richtet den inneren Kritiker mit Vorliebe nach außen, gegen andere. Im Stil von Vorwürfen zum Beispiel:
O-TON 14: (Roediger)
„Was ist das für ein Idiot? Was ist das für eine blöde Regierung? Was ist das für ein schlechtes Auto? Warum funktioniert das nicht? Wenn man auf die anderen angewiesen ist, dann ist man eher selbstkritisch und benimmt sich ordentlich, damit die einen mögen, weil sonst fliegt man raus. Also die Kritiker gehen ja in beide Richtungen nach innen und nach außen.“
MUSIK: Time flies (reduced) 0‘25
SPRECHERIN:
In dem berühmten Modell des psychischen „Apparats“, das Sigmund Freud 1923 veröffentlichte, taucht der Begriff eines „inneren Kritikers“ nicht auf. Trotzdem lässt sich die Vorstellung von einer fordernden inneren Stimme auf den Begründer der Psychoanalyse zurückführen, sagt Kathryn Eichhorn.
O-TON 15: (Eichhorn)
„Der Ursprung ist schon, dass sich Sigmund Freud auch damit auseinandergesetzt hat, als er sein Instanzen-Modell aufgestellt hat, mit Über-Ich, Ich und Es. Und dieses Über-Ich wäre jetzt das Pendant, so könnte man es jetzt verstehen, als der innere Kritiker. Im Über-Ich sind Werte, Normen der Gesellschaft und auch unserer Eltern verankert.“
SPRECHERIN:
Sigmund Freud maß den angeborenen Trieben, also Aggressionen und Begierden, als „mächtigsten Regungen“ große Bedeutung zu. Nach seiner Theorie trägt deren Abwehr durch Verdrängen, Projizieren oder Sublimieren dazu bei, dass sich die strafende innere Instanz eines Über-Ichs herausbildet. Die österreichisch-britische Psychoanalytikerin Melanie Klein verschob dann als erste den Fokus auf den Einfluss der Eltern, auf die prägende Bedeutung der frühkindlichen Erfahrungen.
O-TON 16: (Eichhorn)
„Da hat man sich jetzt nicht nur so diese intrapsychischen, also die innerpsychischen Vorgänge angeschaut, sondern auch die interpersonellen, also die Beziehungsaspekte, was unsere psychische Struktur mit beeinflusst. Letztendlich ist so ein innerer Kritiker, so könnte man es heute verstehen, eine verinnerlichte, internalisierte Beziehungserfahrung.“
SPRECHERIN:
„Introjekte“ lautet der psychoanalytische Fachausdruck für die oft unbewussten, gefühlsbehafteten Glaubenssätze und Haltungen, die Kinder von ihren Eltern oder anderen engen Bezugspersonen übernehmen. Das innere System von Ge- und Verboten gibt Halt und liefert Orientierung beim Erkunden der Welt.
STIMME:
Wenn du nicht brav bist, gibt es Ärger.
MUSIK: Obscure intrigue 0‘20
SPRECHERIN:
Über-Ich oder auch Ich-Ideal, wie es in der Psychoanalyse heißt, das klingt ziemlich abstrakt. Der Begriff des inneren Kritikers wirkt dagegen auf Anhieb verständlich. Ah ja, das ist der Typ mit dem erhobenen Zeigefinger.
O-TON 17: (Roediger)
„Die Gefahr dabei ist, dass man sich das zu personal vorstellt. Also dass man denkt, da gibt es eine Kritiker-Person in mir, das gibt es ja nicht, sondern das, was wir erleben, prägt sich in das Gehirn ein und taucht dann als Gefühl im Körper wieder auf oder als Gedanke. Und die Gedanken können eben kritisch über einen selbst sein.“
SPRECHERIN:
Der Schematherapeut Eckhard Roediger möchte verhindern, dass Menschen denken, sie müssten ihrem inneren Kritiker ordentlich Kontra zu bieten - wie Pubertierende, die gegen Mutter oder Vater rebellieren. Oder dass man versucht, ihn mit Versprechungen zu besänftigen. Das wäre der falsche Weg.
MUSIK: Well and warm 0‘35
Besser geeignet ist „Mindfulness“, auf Deutsch: Geistesgegenwart oder Achtsamkeit. So lautet auch die Parole der Schematherapie. Patienten und Patientinnen lernen, einen „erwachsenen“ Modus einzunehmen, um das Kommen und Gehen ihrer Gedanken und Gefühle beobachten zu können. Ähnlich wie beim Meditieren.
O-TON 18: (Roediger)
„Modernere Psychotherapien seit 20 Jahren mindestens, viele von denen haben buddhistische Elemente übernommen, weil sie dieses Selbstkonzept (haben), dass ich als Beobachter meiner eigenen Gedanken und meiner eigenen Gefühle im Stande bin, regulierend einzugreifen. Das ist der Kern des Erwachsenen-Modus, ist diese beobachtende und regulierende Instanz.“
SPRECHERIN:
Diese Instanz braucht Raum. Der Druck, den der bohrende innere Kritiker macht, wirkt kontraproduktiv – selbst, wenn er das „Loslassen“ befiehlt. Innerer Freiraum entsteht nur, wenn der Gegenspieler des Erwachsenen-Modus ignoriert werden kann. Wenn der „Elternmodus“, wie die Schematherapie den inneren Kritiker auch nennt, an Macht verliert.
STIMME:
Wir haben es dir ja gleich gesagt.
MUSIK: Intimate play (a) 0‘35
SPRECHERIN:
Seit der Erfindung der Psychoanalyse um 1900 hat sich die psychotherapeutische Methodik immens aufgefächert und weiterentwickelt. So erfand etwa der Arzt Jacob Levy Moreno in den 1930er Jahren das Psychodrama, ein handlungsorientiertes Gruppentherapie-Verfahren, bei dem man nicht auf der Couch liegt, sondern im Rollenspiel verschiedene Ich-Zustände szenisch darstellt. Die Schematherapie griff dieses Konzept auf. Man arbeitet hier mit mehreren Stühlen, um die verschiedenen inneren Aspekte zu symbolisieren. Manchmal sind es auch nur zwei. Auf dem ersten Stuhl sitzend artikuliert der Patient dann zum Beispiel die Ansagen seines inneren Kritikers, also die belastenden Gedanken im Eltern-Modus.
STIMME:
Was ist das schon wieder für ein Unfug? Das glaubt dir doch kein Mensch!
O-TON 19: (Roediger)
„Dann gehen die Patienten rüber auf den Stuhl für das innere Erleben, machen die Augen zu und spüren, was dieser Gedanke heute in ihnen auslöst, nämlich Bedrängung, Bedrückung, Lähmung, Angst.“
MUSIK: Cold thoughts (b) 0‘35
O-TON 20: (Roediger)
„Und dann kann man in diesem Erleben zurücktreiben in die Kindheitssituation und erkennt, das ist das gleiche Gefühl, wenn mein Vater mich damals geschimpft hat. Und dann können wir sagen: okay, da kommt das her. Wenn diese Stimme mich heute bedrückt, dann ist es eigentlich das Erleben des Kindes von damals. Aber ich bin heute ein erwachsener Mensch. Ich kann heute sagen, diese Stimme in meinem Kopf, die ich damals innerlich aufgebaut habe, die ist alt. Ich kann heute neu auf mich schauen und kann sagen: es gibt Menschen, die mich wertschätzen. Ich mache gute Sachen. Und dann kann man den Gedanken loslassen. Und ich sage mir andere Gedanken zum Beispiel selbst: ich gebe mir Mühe, ich tue, was ich kann. Und dann beruhigt sich das innere Gefühl, weil es jetzt eine andere Ansage bekommt.“
MUSIK: Unfolding feelings (a) 0‘15
SPRECHERIN:
Es ist wie bei einem Mobile. Es ist eine Frage der seelischen Balance. Sigmund Freud nannte die vermittelnde, ausgleichende, korrigierende innere Instanz „Ich“. Er sagte aber auch, das Ich sei nicht Herr im eigenen Haus. Was bedeuten würde, dass wir uns allenfalls um Regulation bemühen können, wenn der innere Kritiker mal wieder drängt und zetert, während das innere Kind keine Lust auf gar nichts hat.
STIMME:
Jetzt lass dich doch nicht so gehen!
SPRECHERIN:
Es bleibt gewiss eine Illusion, dass wir absolut frei entscheiden und handeln können. Aber man kann wohl doch einen höheren Grad an Selbstbestimmung erlangen, indem man dem inneren Kritiker oder ähnlich klingenden Stimmen mit kritischem Blick begegnet und sich selbstkritisch befragt:
O-TON 21: (Eichhorn)
„Ist es eine alte Beziehungserfahrung, die ich in Frage stellen kann. Oder geht es darum, dass es eine Stimme ist, die tatsächlich aus mir raus eine Veränderung anstoßen möchte, die ganz sinnvoll ist. Das kann ja auch eine Instanz sein, die sagt: du also, das mit deinem Alkoholkonsum, mit deinem Lebensstil und mit dieser Arbeitssucht, also irgendwie ist das nicht so geil. Und das kann natürlich auch Veränderung anstoßen. Darum geht es, das zu differenzieren.“
MUSIK: Reflections 0‘30
SPRECHERIN:
Vor allem geht es nicht darum, möglichst glatt und selbstoptimiert durch den Alltag zu kommen, sagt die Psychoanalytikerin Kathryn Eichhorn. Wer die ehrliche, oft mühsame Auseinandersetzung mit sich selbst wagt, hat aber gute Chancen, dass das Leben eines Tages tatsächlich runder läuft. Eine Psychotherapie kann dabei helfen, die eigene Richtschnur zu finden.
O-TON 22: (Roediger)
„Die Therapie versucht, Menschen zu unterstützen, im ersten Schritt wahrzunehmen, welche Gefühle in ihnen auftauchen, welche Gedanken auftauchen, im zweiten Schritt zu gucken: wie willst du dein Leben gestalten? Was sind deine Werte? Was sind deine Grundbedürfnisse, die du befriedigt haben möchte? Und dann: was sind die Schritte, die du jetzt gehen kannst, um diesen Bedürfnissen und diesen Werten, wie dein Leben sein soll, zu entsprechen.“
SPRECHERIN:
Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, bedeutet, Entscheidungen zu treffen: Eine Ausbildung zu beginnen, erfordert Einsatz und Durchhaltevermögen. Aus dem Job auszusteigen, birgt Risiken, eröffnet aber neue Wege. Wenn der innere Kritiker nicht mehr nur blockierend wirkt oder automatisiertes Rödeln auslöst, kann man eher selbstgewählten Zwecken und Zielen folgen. Trotzdem gilt es, wachsam zu bleiben. Denn das Spektrum der kritischen inneren Stimmen reicht nun einmal von fordernd bis fertig machend.
O-TON 23: (Eichhorn)
„Es kann auch mal ins Extrem gehen, wenn man es dann wieder zurückschafft, also dieses Oszillieren auf den Polen, also dieses hin und her. Wie eine Patientin letztes Mal zu mir gesagt hat: es geht immer um diesen Sweet Point, dieser süße Punkt, den man finden muss, also die Mitte irgendwo, also wann kippt es in was zu strenges, dass es verfolgend wird, dass es irgendwie dann diese Ängste und Schuldgefühle auslöst und an welcher Stelle führt es zu einer Selbstreflektion, die dazu führt, dass wir uns weiterentwickeln.“
MUSIK: Questions upon questions (b) 0‘20
STIMME:
Na also, geht doch. Jetzt aber ab Marsch in die wohlverdiente Pause!
Mehr als nur Muse großer Männer: Lou Andreas-Salomé war eine eigenständige Philosophin, Literatin und Psychoanalytikerin, die männliche Geistesgrößen ihrer Zeit mit ihren Gedanken wesentlich bereicherte. In der Deutung der modernen Frau nimmt sie eine rätselhafte Position ein, dennoch führte sie ein emanzipiertes Leben. Von Susanne Brandl (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Laura Maire, Stefan Wilkening
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Hans Rüdiger Schwab, Literaturwissenschaftler, Theologe und Mitherausgeber der Werkausgabe Lou Andreas-Salomés;
Ursula Welsch, Herausgeberin der Werkedition Lou Andreas-Salomé
Literaturtipps:
Lou Andreas-Salomé – Eine Bildbiographie, von Ursula Welsch und Dorothee Pfeiffer, Reclam Verlag Leipzig 2006. Ein Band, der aus dem Nachlass schöpft, präsentiert in Bild und Text auf anschauliche Weise Leben, Lieben und Schaffen von Lou Andreas-Salomé.
Lou Andreas-Salomé: Lebensrückblick, Severus Verlag Hamburg 2013, die Autobiographin erinnert sich auf intime und komplexe Weise an ihre Kindheit, Ehe und Affären.
Briefwechsel, Rainer Maria Rilke – Lou Andreas-Salomé, hrsg. von Ernst Pfeiffer, Insel Taschenbuch Verlag 1989. Ein Schriftwechsel, der die tiefe Verbundenheit beider zum Ausdruck bringt, indem Andreas-Salomé Rilke in psychologischen und schöpferischen Fragen berät und betreut.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Entdeckungsreisende brachten die ersten indigenen Menschen nach Europa, so den "edlen Wilden" Ahutoru aus Tahiti. Tätowiert, mit krauser Haarmähne, wurde der Polynesier begafft wie ein außerirdisches "Wundertier". Mit der Zeit entwickelte sich "Exotik als Attraktion" weltweit zu einem inhumanen Menschenausstellungsgeschäft. Autor: Rainer Firmbach (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Rainer Firmbach
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christoph Jablonka, Julia Fischer, Benjamin Stedler
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Literaturtipps:
Hans Henny Jahnn: Perrudja. Frankfurt, Fischer, 1966.
Carl Hagenbeck: Von Tieren und Menschen. Leipzig, List, 1967.
Anne Dreesbach. Gezähmte Wilde. Frankfurt, Campus, 2005.
Pascal Blanchard: Menschenzoos. Hamburg, Crieur Public, 2012.
Dirk Wittenborn: Unter Wilden. Köln, DuMont, 2002.
Linktipps:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Der kleine Himalaya-Staat Bhutan zwischen Indien und Tibet mausert sich in seiner Abgeschiedenheit vom Rest der Welt zu einem Muster-Land in Sachen Ökologie. Mehr als die Hälfte des Königsreichs stehen unter Naturschutz, flächendeckende Elektromobilität sind das Ziel der nächsten Jahre. Von Geseko von Lüpke
Credits
Autor dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Julia Fischer, Stefan Wilkening, Thomas Birnstiel, Jenny Güzel
Technik: Marcus Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Kurt Nübling (Unternehmer und Bhutan-Reisender);
Kinley Dorji (bhutan. Journalist und Herausgeber),
Lama Sonam Bumdhen (buddhistischer Mönch),
Dhan Gurung (Professor für natürliche Ressourcen an der Universität von Bhutan),
Dasho Bharat (Mitglied des Staatsrat von Bhutan),
Ketsang Tshomo (Öko-Beraterin des Landwirtschafts-Ministeriums von Bhutan),
Julia Kim (Programm-Direktorin am staatlichen ‚Glücks-Zentrum‘),
Lyonpo Damcho Dorji (Außenminister Bhutans),
Thsering Tobgay (Premierminister Bhutans)
Naturreligionen. Altes Wissen neu entdeckt. JETZT ENTDECKEN
Das Volk der Kogi in Kolumbien. Die Hüter der Erde. JETZT ENTDECKEN
Afrikas Ubuntu. Die Philosophie der Menschlichkeit. JETZT ENTDECKEN
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Linktipps:
Gelephu Mindfullness City (ökologische Modellstadt nach den Plänen des dänischen Architekten Bjarke Ingels) HIER
Gross National Happiness Center (Bhutan) HIER
Literatur:
Niestroy, Ingeborg, Armando García Schmidt, Andreas Esche: Bhutan: Ein Leitbild der Nachhaltigkeitspolitik. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Erfolgreiche Strategien für eine nachhaltige Zukunft, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2013
Tschewang, Ugyen & Jane Gray Morrison: Bionomics in the Dragon Kingdom: Ecology, Economic and Ethics in Bhutan, Springer-Verlag 2018
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Bhutan! ‚Drug-yul‘ nennt es sich selbst – Land des Donnerdrachens! Das klingt wie ein Märchen-Land hinter den Bergen, zeitlos, weit ab von der geschäftigen Welt. Wie ein verheißungsvolles Geheimnis. Und so spricht man auch von dem Himalaja-Königreich: Glücklich angeblich, irgendwie erleuchtet, gesund, sauber, absolut nachhaltig. Eine moderne grüne Paradies-Version! Als wäre es ‚Shangri-La‘ – das legendäre harmonische Utopia Asiens! Mythos oder Realität?
Musik 2: Dreams of… - 59 Sek
SPRECHER
Bhutan! Ein Zwergenland – nicht größer als die Schweiz – eingezwängt zwischen zwei Riesen – dem von China besetzten Tibet im Norden, und Indien im Süden. Ein paar Hunderttausend Bewohner in einem buddhistischen Königreich zwischen Meeresspiegel und 7.000 Meter hohen Bergen, während sich südlich und nördlich Milliarden Menschen tummeln und um Weltmachtstatus ringen. Bhutan hingegen: Bescheiden, still, ganz anders.
Kurt Nübling aus dem Allgäu macht sich seit 1990 immer wieder auf den Weg nach Bhutan, um Kräuter und biologische Rohstoffe im Himalaja zu kaufen. Und erinnert sich noch deutlich daran, wie er vor 34 Jahren das erste Mal das Grenztor zwischen Indien und Bhutan durchschritt.
01 - ZUSPIELUNG
Plötzlich war eine andere Welt. Wir waren wie verzaubert! Diese Verwurzelung, dass die Natur ein Teil von uns ist, mit dem wir verbunden sind, dass wir ein Teil von dem Ganzen sind. Und das ist in Bhutan noch. Sie sind extrem reich an Natur, an Biodiversität, einem wunderschönen Leben, was einem ins Herz geht, wenn man dort reist.
ZUSPIELUNG Atmo 08 (Natur + Fluss, Elefant)
SPRECHERIN
Auch heute noch ist Bhutan ein Land der Gegensätze und des Staunens. Ein Land der Berge, Wälder und Flüsse. Ein Land, das grenzenlos sauberen Strom verschenkt. Ein wildes Land mit Tigern, Leoparden, Elefanten, Yaks, Wölfen, Pandas, Panzernashörnern, Kobras, Geiern. Einem ‚Hotspot‘ der Biodiversität, der Pflanzenvielfalt und Heilkräuter, weil auf engstem Raum alle Klimazonen der Welt nebeneinander liegen.
Musik 3: Phurba's... aus: Sherpa - 1:13 Min
SPRECHER
Ein Land, in dem die Statistiken Kopf stehen: Während überall der Ausstoß des Klimagases CO2 zunimmt, ist Bhutan völlig klimaneutral, ja nimmt sogar mehr Kohlendioxid auf, als es ausstößt. Ein Land fast ohne Industrie und Umweltzerstörung, das zu einem Drittel aus Naturschutzgebieten besteht, Abholzung per Verfassung verbietet, grünen Strom aus Wasserkraft exportiert. Eigentlich ein Entwicklungsland, moralisch aber eine Großmacht: Während die ganze Welt um Wirtschaftswachstum ringt, winkt Bhutan lässig ab und stellt stattdessen Naturschutz und nicht weniger als das ‚Glück‘ in den Mittelpunkt des staatlichen Tuns. Statt gierig auf das Brutto-Sozial-Produkt zu schielen, spricht man hier gelassen von ‚Gross National Happiness‘ dem, ‚Brutto-National-Glück‘. Kinley Dorji (Kinnläi Dordschi), Begründer und Herausgeber der ersten nationalen Tageszeitung Bhutans erklärt die vier Säulen dieser ungewöhnlichen Politik.
02 - ZUSPIELUNG Wort 2
One of this pillars is 'Good Governance'. ….
VO-männlich
Eine der Säulen ist eine ‘gute Regierungsführung‘. Wir verstehen darunter, dass sie wirklich den Menschen dient, nicht den Herrschenden. Die anderen Prioritäten sind – neben der Erhaltung unserer einzigartigen Kultur – eine gesunde sozio-ökonomische Entwicklung, die absolut nachhaltig sein muss. Und dann besonders der Schutz der Natur. Angesichts des Klimawandels und der globalen Erwärmung dürfen wir nicht länger den Planeten und seine Schätze konsumieren.
Stattdessen müssen wir die gegenseitige Abhängigkeit aller lebendigen Wesen, einschließlich der Pflanzen und Tiere, anerkennen, wenn wir den Planeten erhalten wollen … needs to be understood to preserve the planet.
SPRECHER
Ein politischer Ansatz, der in Zeiten der Klimakrise fast zu schön klingt, um wahr zu sein. Bhutan entwickelt sich damit zu einem ökologischen Modellprojekt. Es ringt zwar mit großen Herausforderungen, zeigt aber auch, dass Entwicklungsländer den reichen Industriestaaten voraus gehen können. Es ist eine Gradwanderung zwischen visionärer Moderne und uralten Traditionen, die hier probiert wird. Und das auf der Basis einer einzigartigen kulturellen Identität.
ZUSPIELUNG Atmo 4 (Langhörner, Tempelfest Paro)
SPRECHERIN
Es ist wie ein Fenster in eine andere Welt, wenn man vor der gewaltigen Klosterburg von Paro im Westen des Landes steht. Der Ritual-Platz ist in Regenbogenfarben getränkt: Tausende von mit Mantras bedruckte Fähnchen in Gelb, Grün, Rot, Weiß, Blau wehen im steten Wind und tragen Gebete hinauf zu den Siebentausendern, die als Heimat der Götter – und Buddhas – gelten. Vor den weiß getünchten Lehmmauern des 400 Jahre alten Klosters mit kunstvoll geschnitzten Fenstern haben sich tausende Frauen, Männer und Kinder in festlicher und grell bunter Tracht zum ausgelassenen Tempelfest, einem ‚Tsetschu’ versammelt.
ZUSPIELUNG Atmo 5 (Pudja in Chimi Lakhang, 20) darüber
SPRECHER
Alle Augen sind auf die maskierten Tänzer gerichtet, die mit Furcht einflößenden Masken und bunten Kostümen über den nackten Boden wirbeln, in gewagten Sprüngen und winzigen pantomimischen Gesten wortlos Geschichten erzählen von Dämonen, Göttern und Göttinnen, vor allem aber die mythische Gestalt des Heiligen Guru Rinpoche feiern, der den Buddhismus nach Bhutan brachte. Es ist diese Mischung aus uralter Naturverehrung, buddhistischer Spiritualität und nüchterner Anerkennung der globalen ökologischen Krise, welche die Grundlage bildet für ein radikales Alternativ-Modell, sagt der Mönch Lama Sonam Bumdhen:
03 - ZUSPIELUNG
The essence of Buddhism is the sacred vision of everything, …
VO-männlich
Der Kern des Buddhismus ist die Heiligkeit von allem, was ist, ob Berge, Bäume oder unser eigener Körper. All das ist Ausdruck des Göttlichen. Für uns wohnen Gottheiten in eigentlich Allem: Sie durchdringen das ganze Universum, alle Planeten. Wir sehen Gottheiten im Wasser, im Feuer, in der Erde, im Raum, in der Luft. Sie sind nichts anderes als Ausdruck der absoluten Weisheit Buddhas. Wenn wir uns aber der Wahrheit stellen, sehen wir zugleich riesige Umweltschäden, die durch keinen anderen ausgelöst wurden als uns selbst. Wenn wir dieses riesige Chaos wirklich anerkennen, müssen wir es stoppen, die Menschen und die ganze Welt erziehen …..,
we need to educate the world.
Musik 4: New old land – 1:31 Min
SPRECHER
Das ist ein großer Anspruch für das kleine Land, das hoch und heilig auf dem Dach der Welt thront. Und tatsächlich hat sich Bhutan in den letzten 20 Jahren zu einem ernstzunehmenden Modell nachhaltiger Entwicklung gemausert. Bis in die 1960er war es ein völlig abgeschirmtes Land, ohne Straßen, Elektrik und Technik, versteckt in den Bergen, um zu überleben. Als es sich in den 80er und 90er Jahren vorsichtig öffnete, hatte es bereits aus den Fehlern zahlreicher anderer Entwicklungsländer gelernt, die in zu schneller Modernisierung ihre Identität verloren hatten, ihre Umwelt gefährdeten, und in Armut und Abhängigkeit geraten waren, während Korruption und Gewalt zugenommen hatten.
SPRECHERIN
Der weitsichtige König hatte daraufhin erkannt, dass die Entwicklung in die Moderne nicht um jeden Preis gesucht werden dürfe. Statt sich nur wirtschaftlich und quantitativ zu modernisieren, wollte er als höheres Ziel eine qualitative Entwicklung von Mensch, Kultur und allen Lebensformen – und führte das Brutto-National-Glück als Maßstab aller Politik ein. Damit sollten Fehlentwicklungen vermieden werden und Bhutan zugleich als einmaliges Modell stark und unverkennbar werden. Die kulturelle Identität wurde zur Garantie des Überlebens, erklärt der Journalist Kinley Dorji …
04 - ZUSPIELUNG Wort 4
We are a small country of half a million people between India and China, …
VO-männlich
Wir sind als kleines Land zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Nationen der Welt sehr verletzbar.
Eine halbe Million Menschen können da schnell geschluckt werden. Ohne jemals eine Militärmacht oder eine Wirtschaftsmacht werden zu können, muss unsere Stärke in unserer Identität liegen. Wir müssen als ‘besonders’ wahrgenommen werden und unsere ganz eigenen Werte haben, um als unverzichtbar von der Welt gesehen werden, was uns hilft zu überleben. … and therefore helps us survive.
ZUSPIELUNG Atmo 2 (Thimpu ) kurz frei & weg
SPRECHER
So wurde das Brutto-National-Glück nach Außen zum Sympathieträger und unverwechselbaren Markenzeichen, zugleich nach Innen zum Kultur- und Naturschützenden Staatziel. Es galt zu bewahren, was da war und ökologisch zu entwickeln, was möglich war.
ZUSPIELUNG Atmo 8 (Natur) unter Sprecherin
SPRECHERIN
Aus einer traditionellen Agrar-Gesellschaft konnte Bhutan fast unmittelbar zum ökologischen Modell werden, mit folgenden Leitgedanken: die natürlichen Reichtümer der riesigen Artenvielfalt wertzuschätzen und unter strengen Schutz zu stellen! Die unbestiegenen Siebentausender für die Bergsteigerei zu sperren und den alten Göttern ihre Ruhe zu lassen! Mehr als ein Viertel der ohnehin kaum besiedelten Landesfläche zu strikten Naturschutzgebieten zu erklären! Jede Brandrodung zu verbieten.
Und per Verfassung festzulegen, dass die Wälder erhalten bleiben, erzählt Dhan Gurung, Professor für natürliche Ressourcen an der Königlichen Universität von Bhutan:
05 - ZUSPIELUNG Wort 5
When it comes to environmental conservation Bhutan will do quite a pretty job ….
VO-männlich
Bei der Erhaltung der Umwelt macht unser Land einen guten Job. Zurzeit sind 72 Prozent des Land bewaldet. Und in unserer Verfassung steht, dass mindestens 60 Prozent der Landesfläche für immer von Wald bedeckt sein müssen. Die Erhaltung der Wälder schützt die enorme Biodiversität – und diese versorgt wiederum die traditionelle Medizin Bhutans mit reichen Ressourcen an Heilkräutern, Mineralien und tierischen Substanzen. Auch die Landwirtschaft ist abhängig von der Biodiversität der Wälder: Wir sammeln die Blätter und benutzen sie als Dünger. Und die Rinder grasen in den Wäldern. Wir sind davon überzeugt, dass wir mit dem Schutz der Wälder für die hohe Qualität des Wassers und seiner Kreisläufe sorgen. Denn das ist unsere ökonomische Basis. Und wir schauen darauf, dass sie nachhaltig ist. It still can be sustainable. That's the area that we are looking at.
USPIELUNG Atmo 9 (Wasserrauschen Bhutan A23/24)
SPRECHER
Tatsächlich lebt Bhutans Wirtschaft primär von der grünen Wasserkraft. Das extreme Gefälle von 7.000 Höhenmetern auf unter 100 Meter von Nord nach Süd, macht die ungezählten Flüsse zu Wasserkraft-Goldgruben.
Bhutan nutzt bislang nur 6,2 Prozent dieses natürlichen Potentials, das auf unglaubliche 26.000 Megawatt jährlich geschätzt wird – so viel wie rund zwanzig Atomkraftwerke der Marke Grundremmingen.
SPRECHERIN
Sauberer Strom ist dann auch das primäre Exportgut Bhutans und versorgt die Industrie Nordindiens mit grüner Energie. Schon träumt man im Himalaja-Land davon, in wenigen Jahren keine Tanklaster mehr aus Indien zu brauchen, die Öl und Benzin über die Pässe bringen, sondern nur E-Autos zu nutzen und die gesamte Infrastruktur zu elektrifizieren, berichtet Dasho Bharat, der lange den Ausbau der Wasserkraft leitete und heute im dreiköpfigen Staatsrat den König berät.
06 - ZUSPIELUNG Wort
We are blessed by nature. We have high altitude mountain areas.
VO-männlich
Wir sind mit Natur und den hohen Bergen gesegnet. Das ist ein Riesenvorteil. Wir können in Zukunft 95 Prozent der Energie exportieren. Bhutans Zukunft ist das Wasser. Es ist das finanzielle Potential für die Entwicklung des Landes. Heute exportieren wir 75 Prozent des Stroms, um Geld zu verdienen und verbrauchen das restliche Viertel selbst. Diese Wasserkraft ist sauber und grün und wir schwimmen auf ihr in eine gute Zukunft, weg von der schmutzigen kohlenstoff-basierten Wirtschaft. Aus diesem Potential wollen wir saubere, grüne und nachhaltige Technologien entwickeln. Vielleicht werden unsere Enkel genießen, was wir da heute machen – ob es dann die saubere Umwelt, die Produktion von ökologischen Nahrungsmitteln oder gesunde Medizin ist. Wir wollen wirklich den grünen Weg gehen. … We would like to go the green way.
Musik 5: Dreams of… - siehe vorn – 32 Sek
SPRECHER
Bhutan könnte sogar bald das erste Land sein, in dem 100 Prozent Bio-Landbau betrieben wird. Gentechnik ist grundsätzlich verboten. Kleine Familienbetriebe bestimmen das grüne Bild der Landschaft, die zu 95 Prozent ökologisch bebaut wird. In Deutschland sind es mit gerade mal 9,5 Prozent, also zehnmal weniger.
ZUSPIELUNG Atmo 10 (Gesamg beim Ernten)
SPRECHERIN
Da wird die scheinbare Rückständigkeit zum Vorteil. Auf den meisten Betrieben ist chemische Düngung nie angekommen und war den Landwirten immer suspekt. Sie waren deshalb nie anders als ökologisch. Was im globalen Norden als ‚Permakultur‘ und Agroforst zunehmend als Zukunftslösung propagiert wird, ist in Bhutan seit langem Standard, berichtet Ketsang Tshomo, Öko-Beraterin des Landwirtschafts-ministeriums:
07 - ZUSPIELUNG Wort 7
Our traditional farming is basically based on permaculture ….
VO-weiblich
Unsere traditionelle Landwirtschaft basiert auf den Prinzipien der Permakultur.
Wenn man sich den Agroforst mit Tierhaltung, die Agrarkultur, den Gartenbau anschaut, dann ist eigentlich jede Farm hierzulande so ein integriertes Ökosystem. Hinzu kommt die tiefe spirituelle Verbundenheit mit dem Land, der Anspruch weder Tier noch Pflanzen irgendwie Schaden zuzufügen. Alles in allem sind das die perfekten Voraussetzungen für eine organische Landwirtschaft, die zum Lebensstil jeden Farmers und Konsumenten werden soll. Deshalb setzen wir, wo immer es möglich ist, auf biologische Landwirtschaft. Was wir allerdings importieren, stammt oft aus konventioneller Landwirtschaft. Aber wir brauchen es, um die Versorgungslücke zu schließen. that needs to be imported to close the gap.
SPRECHER
Auf dem Dach der Welt ist es ein Fluch der Globalisierung, dass schwer beladene 40-Tonner pestizid-belastete gen-manipulierte Nahrungsmittel aus der subventionierten indischen Landwirtschaft über die Himalaja-Pässe bringen und auf den Bauernmärkten Bhutans billig verscherbeln. Wer wenig Geld hat, versorgt sich auch im Land des grünen Glücks mit billigen belasteten Lebensmitteln.
SPRECHERIN
Dem Traum vom grünen Paradies ‚Shangri-La‘ steht also oft noch eine bittere Realität entgegen. Bhutans Idee des Glücks für Mensch und Natur mag ein idealer Maßstab für eine schönere Welt sein, sagt der Journalist und Regierungsberater Kinley Dorji. Solange die Außenwelt nicht mitmacht, bleibt es aber ein Traum:
08 - ZUSPIELUNG Wort 8
Bhutans reputation in the world is larger then life, so to speak ….
VO-männlich
Bhutans Ruf ist besser als die Realität. Aber die Menschen sind romantisch. Sie lieben die Idee einer kleinen, exotischen glücklichen Nation. Und wir müssen uns darüber klar sein: Wir haben all das noch nicht erreicht. Wir sind hier nicht pausenlos glücklich. Wir haben unsere Probleme, wir sind ein Entwicklungsland. Aber es ist wichtig, ein gutes Ziel zu haben! Wir brauchen auch hier eine starke Transformation. Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass der Mensch das wichtigste Lebewesen ist. Im großen Bild ist er vielleicht sogar ziemlich unwichtig. Und wenn man diesen Respekt vor dem Leben hat, dann will man es automatisch erhalten. …. if you have this respect, you naturally preserve.
Musik 6: The inner road – siehe vorn – 30 Sek
SPRECHER
Aber Bhutan kann sich nicht von den Krisen der Welt abschotten. Realität ist: Auch in Bhutan nehmen die Depressionen langsam zu, die Selbstmordraten steigen, Drogenkonsum und Gewalt ebenso. Internet und Fernsehen bringen westliche Konsumideale neuerdings in jedes Dorf und wecken schnell unerfüllbare Bedürfnisse.
SPRECHERIN
Doch die Regierung hält dagegen, setzt trotz Öffnung zur Welt auf den Erhalt der traditionellen Kultur, versucht hartnäckig die Quadratur des Kreises. Alle drei Jahre schwärmen in ihrem Auftrag tausende Studenten aus und stellen der Bevölkerung 208 Fragen nach ihrem subjektiven Glücksgefühl, um daraus die aktuelle Politik zu entwickeln, erzählt Julia Kim, Programm-Direktorin am staatlichen ‚Glücks-Zentrum‘:
09 - ZUSPIELUNG Wort 9
The GNH index measures these things and shapes policy …. Diese
VO-weiblich
Die ganze Welt redet schon lange über die Herausforderungen nachhaltiger Entwicklung, den Klimawandel und die soziale Ungleichheit. Was Bhutan hier ergänzt, ist die Einsicht, dass die Lösungen erst aus einer Balance zwischen äußerem materiellen und innerem spirituellen Wohlergehen entstehen. Zugleich wissen wir, dass wir unsere Kultur nicht so rein erhalten können wie eine Juwelenkette, die wir im Schmuckkästchen verstecken. Kulturen verändern sich ständig, aber Werte können stark bleiben. Wir müssen diese traditionellen Werte, ihren Sinn und ihre Schönheit erhalten und mit einer modernen Technologie so kombinieren, dass die Umwelt so wenig wie möglich geschädigt wird. … that reduces the impact on the environment.
SPRECHERIN
Damit ist Bhutan fraglos zu einem kleinen einzigartigen Modell für den Rest der Welt geworden. Doch darauf kann es sich nicht ausruhen. Das gesegnete Land auf dem Dach der Welt schrammt seit Jahren an einer Identitätskrise entlang.
Während die Landbevölkerung den alten Werten folgt, orientiert sich die städtische Jugend an den Vorgaben aus Hollywood und Bollywood, nutzt Tik-Tok und will ‚hip‘ sein, wie der Rest der Welt.
ZUSPIELUNG Atmo 11b (Fernsehen Bhutan) kurz frei und weg
SPRECHER
Sie tragen Jeans und T-Shirt statt der traditionellen Tracht. Wollen Karriere machen und den Reichtum, den die sozialen Medien, Fernsehen und Internet vorgaukeln. Die Zutaten des inneren Glücks – Bescheidenheit, Genügsamkeit, Dankbarkeit – nehmen ab. Die Jugend wandert ab, nach Indien, Japan, in die USA, wo statt dem ‚grünen Glück‘ Rupien, Yen und Dollars leuchten. Lyonpo Damcho Dorji, der Außenminister Bhutans, beschreibt die riesige Herausforderung für die Zukunft:
10 - ZUSPIELUNG Wort 10
We are aware…
VO-männlich
Wir spüren den Druck der westlichen Welt, des Fernsehens und Internets. Zugleich wollen wir unsere eigene vitale Kultur leben und in der Jugend das Bewusstsein für die Einzigartigkeit Bhutans schärfen. Sodass sie sich in der modernen Technologie engagiert, aber im Hinterkopf präsent hat, dass wir ein souveränes Land sind, was dabei auf seine eigene Kultur und Tradition bauen muss. Wir müssen unsere Kultur so leben, dass sie den Veränderungen standhält. Sonst kann sie einfach ausgelöscht werden. … otherwise it can be simply wiped out.
SPRECHER
Dieser Schritt steht nun bevor. Bhutans Regierung versucht eine Glückspolitik 2.0! Der vierte König der Wangchuk-Dynastie hatte 2008 abgedankt, nachdem er seinem Reich die Verfassung mit dem Brutto-Nationalglück und ein demokratisches Regierungssystem beschert hatte. Sein zum 5. Drachenkönig gekrönter Sohn Jigme Khesar Wangchuk hat nun 2023 eine neue große Vision für das Bhutan der Zukunft vorgestellt, um alt und neu zu vereinen, die Abwanderung junger Menschen zu stoppen und das kleine Himalaja-Land zum internationalen Modell für die Balance zwischen Mensch und Natur zu machen.
Musik 7: Warp seven – 58 sek
SPRECHERIN
Die flachen Ebenen im Süden des Landes an der Grenze zu Assam in Indien waren bislang faszinierende subtropische Naturschutzgebiete, durchzogen von Flüssen, belebt von unzähligen Arten, Korridore für wilde Elefanten, Leoparden und Tiger nach Süden. All das soll bleiben. (hier Musik:) Doch über das geschützte Paradies soll in den nächsten Jahrzehnten auf Brücken und Hügeln auf über 1.000 Quadratkilometern mit internationalen Investitionen eine futuristische Öko-Stadt der Zukunft entstehen. Nicht mit Hochhäusern aus Stahl und Beton, sondern aus Holz, mit nachhaltiger Architektur, autofreier Infrastruktur, grüner Energie. Einem Flughafen auf Stelzen, einem Zentrum digitaler Technik, KI und Programmierung, zugleich aber soll es eine Metropole von Spiritualität, Meditation und nachhaltigem Lebensstil bleiben. Bhutans Premier Thsering Tobgay stellte das Projekt bei einem Besuch in Indien im März 2023 vor:
11 -ZUSPIELUNG Wort 11
How would you immagine a city that is built on gross national happiness …
VO-männlich
Wie könnte eine Stadt des wirklichen Brutto-National-Glücks im 21. Jahrhundert aussehen. Visualisieren Sie diese erste kohlestoff-negative Stadt der Welt, die unser König ‚Galifu – Stadt der Achtsamkeit‘ genannt hat. Eine Stadt, wo Menschen miteinander und mit der Natur leben, wo Innovation und Wissen mit Nachhaltigkeit und Spiritualität harmonieren. Ein Geschenk an Bhutan, ein Geschenk für unsere Zukunft, ein Geschenk an die Welt … and a gift to the world.
Musik 8: Siebenfache Anrufung des Guru Padma-sambhawa - 49 Sek
SPRECHER
Eine sehr große Vision, die Tradition und Zukunft, Natur und Mensch verbinden will. Faszinierend, unglaublich, ermutigend. Oder: Nur eine weitere Utopie vom Dach der Welt?
ZUSPIELUNG Atmo 11 (Tempelhörner, Paro)
SPRECHERIN
Das kleine Land gibt nicht auf, an eine gute Zukunft zu glauben. Mit seiner Politik des Brutto-National-Glücks und als ‚grünes Modell‘ ist es für die Welt längst ein ‚Projekt der Hoffnung‘ geworden. Und nur die Zukunft wird zeigen, ob Bhutan, das Land des Donnerdrachens auf dem Dach der Welt, ein weiteres Mal ganz selbstverständlich und beharrlich ein schönes Märchen einfach wahr macht.
Heute geht es um ein Problem, das fast alle Leute kennen, die längere Texte verfassen müssen oder wollen: die Schreibblockade. Was steckt hinter der Angst vor dem leeren Blatt, dem Bibbern vor dem ersten oder nächsten Satz? Und wie kommen Schriftstellerinnen und Autoren über diese Hürden hinweg? Von Justina Schreiber (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Mehr über die Autorin Lena Gorelik erfahren Sie in dieser Folge von radioWissen:
Erfolgsautorinnen aus dem Osten - Russisch zählen, deutsch schreiben
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Neue Subjektivität - Schreiben als Selbsterfahrung
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Literaturtipps:
Bieker, Nadine/ Schindler, Kirsten (2021): Wenn Autorinnen Kinder bekommen - Mutterschaft als Schreibblockade. In: Gansel, Carsten/ Lehnen, Katrin/ Oswalt, Vadim (Hrsg.): Schreiben, Text und Autorschaft II - Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 259-273.
Alice W. Flaherty: Die Mitternachtskrankheit. Warum Schriftsteller schreiben müssen. Autorenhaus Verlag 2004
Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.): Schreiben, Text, Autorschaft II. Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen. Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 2021
Lena Gorelik: Die weißen Nächte. Schirmer / Graf Verlag, München 2004
Herlinde Koelbl: Schreiben! 30 Autorenporträts, Knesebeck Verlag München 2007
Ilka Piepgras (Hg.): Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben. Kein & Aber Verlag, Zürich – Berlin 2020
Fridolin Schley, Die Verteidigung, Hanser Berlin, Berlin 2021
Thomas von Steinäcker, Ende offen. Das Buch der gescheiterten Kunstwerke. S. Fischer, Frankfurt / Main 2021.
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Der Mensch ist ein Tier unter Tieren, Ergebnis einer Milliarde Jahre dauernden Evolution. Spuren dieser Geschichte des Lebens sind in unserem Körper zu finden: Im Aufbau unseres Skeletts, in der Struktur unserer Organe, im Aufbau unserer Zellen. Evolutionär sind wir eigentlich Fische, die an Land gegangen sind und mit ihren früheren Flossen heute die Welt gestalten. Autor: Geseko von Lüpke
Credits
Autor dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Susanne Schroeder, Johannes Hitzelberger
Technik:
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Thassilo Franke (Biologe an den Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns),
Neil Shubin (Paläontologie-Professor an der University of Chicago),
Joachim Haug (Prof. f. Zoomorphologe am GeoBioCenter der Universität München),
Reiner Schoch (Professor f. Paläontologie an der Universität Hohenheim),
Walter Salzburger (Professor f. Evolutionsbiologe an der Uni Basel),
Axel Meyer (Prof. f. Evolutionsbiologie Universität Konstanz)
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Urvogel Archaeopteryx - Beweisstück der Evolution? JETZT ENTDECKEN Lebende Fossilien - Von der Evolution vergessen JETZT ENTDECKENLiteraturtipps:
Harrison, Keith: Du bist (eigentlich) ein Fisch. Die erstaunliche Abstammungsgeschichte des Menschen, Spektum Akademischer Verlag 2007
Shubin, Neil: Der Fisch in uns. Eine Reise durch die 3,5 Milliarden Jahre alte Geschichte unseres Körpers, Fischer-Verlag 2010
Filmtipps:
‚Your inner fish‘ Website Your Inner Fish | PBS, Watch Your Inner Fish (pbs.org)
‚Der Fisch in uns‘ Der Fisch in uns Dokumentation in 3 Teilen Episodenguide – fernsehserien.de
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Was sehen Sie, wenn sie morgens ins Badezimmer kommen und aus verschlafenen Augen einen ersten Blick in den Spiegel wagen? Ringe unter den halbgeöffneten Augen? Eine zerknautschte Frisur, die wachsenden Geheimratsecken, das leidige Doppelkinn oder – in Ganzkörper-Sicht – zu viel Fett irgendwo?
SPRECHERIN
Thassilo Franke, Münchner Biologe an den Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns, hat morgens einen ganz anderen Blick. Und nicht, weil er gerade mit Taucherbrille und Schnorchel in seiner Badewanne unterwegs war. Sondern weil er evolutions-wissenschaftlich sich selbst in Augenschein nimmt:
1. ZUSPIELUNG Wort 13:49)
Eigentlich, wenn Sie sich in den Spiegel schauen, dann sehen Sie den Fisch überall. Man sieht den Fisch in der Haut, man sieht den Fisch in den Haaren, man sieht den Fisch in den Ohren, in der Nase, in den Augen, in den Zähnen, in den Extremitäten. Überall haben wir Merkmale, wo wir Vorläuferstrukturen auch an unseren schuppigen, kiementragenden Vorfahren im Wasser nachweisen können. (0:56) Wir sind eigentlich Fische, die sich auf ihren Bauchflossen durchs Leben bewegen, die zu Beinen umgewandelt wurden und die mit ihren Brustflossen, die unsere Hände darstellen, die fantastischen Sachen machen können. Ich meine, mit unseren fünf Flossenstrahlen pro Brustflosse können wir Sonaten auf dem Klavier spielen.
ZUSPIELUNG Musik 1 Klaviersonate von J.S. Bach, (schon drunter, kurz frei, unter Text)
SPRECHER
Moment mal! Klavierspielende Fische? Wesen mit Flossen, Kiemen, Gräten, Schuppen? (Musik weg)
SPRECHERIN
Genau diese! Wer mit dem Wissen der Evolutionsforschung und der Paläontologie auf den Menschen schaut, schaut quasi in ihn hinein, sieht Schichten von Geschichte in der Haut und darunter. Kann sehen, wie dieses Wunderwerk Mensch sich über die Jahrmillionen herausformte. Sieht Vorfahren, die zwar noch nicht am Flügel saßen (Musik wieder lauter), aber schon die Gliedmaßen besaßen, die ein paar Millionen Jahre später Bach-Kantaten zum Klingen bringen. Neil Shubin, Paläontologie-Professor an der University of Chicago und Autor des Buches ‚Der Fisch in uns‘ spricht im gleichnamigen Dokumentarfilm ganz ohne mystische Nebel von den ‚Geistern der Vergangenheit‘:
OVERVOICE_SPRECHER:
2. ZUSPIELUNG Wort 1:00:14)
When I look at my fellow humans, I see ghosts of animals past …
Wenn ich auf meine Artgenossen schaue, sehe ich die Geister der vergangenen Tiere. Flüchtige Momente einer epischen Geschichte, die in uns allen verborgen ist (…) Wie unsere Hände zugreifen, mag uns noch an unsere Ahnen unter den Primaten erinnern. Aber schon wie unser Gehör sich formte, datiert zurück auf eine Spitzmaus. Und je weiter wir zurückgehen, desto fremdartiger wird es: (1:1:44) Richtig abenteuerlich wird es, wenn wir nach den längst verschwundenen Verwandten suchen, jenen Fischen, die vor Hunderten von Millionen Jahren aus dem Wasser an Land krochen. Ob es der Nacken oder unsere Lunge ist, unsere Extremitäten oder Hände – wir verdanken diesen mutigen Pionieren eine ganze Menge. Wenn Sie also wirklich verstehen wollen, wieso sie so gebaut sind, wie sie sind, wird es Zeit ihrem inneren Fisch zu begegnen.… time to meet your inner fish.
SPRECHER
Neil Shubin weiß, wovon er spricht. Er wurde weltberühmt, weil er nach 15 Jahren Steineklopfen 2008 ebenjenes Fossil aus dem Gestein der arktischen Küsten Westkanadas herausarbeitete, dass als bislang fehlende Verbindung, als sogenanntes ‚missing link‘ zwischen Wasser- und Landwesen gilt: Tiktaalik, ein Wesen zwischen Fisch und Amphibie, das aber schon Oberarmknochen, Elle, Speiche und Fingerknochen entwickelt hatte, wie sie als Grundmuster in jedem Mensch der Gegenwart zu finden sind.
SPRECHERIN
Und tatsächlich: Wer den Stammbaum aller Wirbeltiere zurückverfolgt, trifft irgendwann vor einer halben Milliarde Jahre auf einen gemeinsamen Vorfahren, aus dem sich Knorpelfische wie der Hai und Knochenfische wie zum Beispiel der Barsch entwickelten. Und letztere – die Knochenfische – wurden zu den Abenteurern der Evolution. Denn aus ihnen wiederum entwickelten sich Fleischflosser, wie die Lungenfische, die sich in den seichten Gewässern der Urmeere tummelten und neue Sinne und Formen entwickelten, erklärt Prof. Joachim Haug, Zoomorphologe am GeoBioCenter der Universität München …
3. ZUSPIELUNG Wort 13:18)
Wir sind hochspezialisierte Fische. Und viele von den Merkmalen, auf die wir als Landwirbeltiere so stolz sind, die können wir relativ weit zurück verfolgen in der Evolution. (13:25) Wir haben eine Lunge, viele Fische haben eine Schwimmblase. (14:11) Das heißt, Lunge geht ganz weit zurück in der Evolution. Zum Beispiel ein Kiefer mit Zähnen ist ein Merkmal, das ja ganz früh eine Rolle spielt. (15:06) Einer unserer wichtigsten Sinnesorgane ist der Tastsinn. Der Tastsinn geht zurück auf die Seitenlinienorgane von vielen Fischen. (15:25) Genauso natürlich Linsenaugen, Wahrnehmung von Licht, das geht auch alles zurück auf diese Tiere, das ist da bereits evolviert mit dem komplexen Nervensystem, das dahinter steht, die Muskulatur, die Augen bewegen können. (15:56) Alles in Bezug auf Fische.
SPRECHER
Es liegt nahe und ist doch so fremd. Wer eine Forelle ausnimmt, findet in ihr Herz, Niere, Leber, Galle, Gehirn, Augen – ein Grundbauplan, der sich historisch in Wirbeltieren aller Art fortsetzte. Doch der ‚innere Fisch‘ findet sich auch im Blutkreislauf, im Salzgehalt unseres Körpers, der dem der Meere entspricht. Und wer im Restaurant mühsam das Fleisch von den Gräten trennt, mag sich angesichts der pieksigen Knöchelchen erinnert fühlen an die Rippen, welche die eigene Lunge schützen.
SPRECHERIN
Doch der detaillierte Blick auf den Fisch im Mensch ist eine Reise in die Tiefen der Zeit, ins ‚Erdaltertum‘ – das Paläozoikum, das Kambrium vor 540 Millionen Jahren. Zurück in eine Zeit, in der sich explosionsartig die Lebensformen fast aller Tierstämme entwickeln sollten. Eben aufgrund von kreativen zufälligen Erfindungen der Evolution, die sich in den Tiefen der Meere in winzigen Schritten Leben für Leben entwickelten. Aber ohne einen Plan, wozu das einmal gut sein sollte: Für Wesen, die aus dem Wasser klettern sollten, Millionen Formen annahmen, Säugetiere wurden, ja, Bewusstsein entwickelten! Neil Shubin beschreibt, wie er auf der Suche nach dem ersten Landgänger, dem Tiktaalik, in der kanadischen Arktis staunend durch die Schichtungen der Zeit reiste.
OVERVOICE-SPRECHER:
4. ZUSPIELUNG Wort (1:23:15)
It’s hard to believe when you look out across this frozen terrain
Wenn man auf diesem kargen gefrorenen Land steht, ist es schwer vorstellbar, dass hier einst eine warm-wässrige Welt war, in der das Leben schwamm. Es ist eine riesiger Spalt zwischen dieser Urvergangenheit und der Gegenwart. Aber die Steine hier berichten uns von einer Zeit vor 375 Millionen Jahren von einer riesigen Auenlandschaft voller Flüsse, die auf- und abschwollen, Sümpfe und Ströme aller Größen formten …. and streams of all different sizes.
SPRECHER
In solcher Ur-Szenerie haben sich wohl urtümliche knochige Lungenfische auf der Flucht vor gefräßigen Raubfischen in die flachen Uferregionen gerettet, wo nach und nach aus Schwimm-Flossen unförmige Gliedmaßen wurden, aus Fischen letztlich Amphibien. Neil Shubins Fund, den er nach der Sprache der Inuits ‚Tiktaalik‘ taufte, konnte sich schon mit seinen Flossen abstützen, den Kopf aus dem Wasser strecken und links und rechts in die Welt seiner Nachfahren schauen.
OVERVOICE-SPRECHER:
5. ZUSPIELUNG Wort (1:50:02)
Here was an animal, Darwin had predicted …. Hier fanden wir das Tier, das Darwin vorausgesagt hatte, ein anatomischer Zwitter. Es hatte mit Schuppen, Flossen und Kiemen Züge eines Fisches, aber auch eine Lunge. Und zu unserem Erstaunen auch einen Nacken, den frühesten, der je gefunden wurde. Der Trumpf aber fand sich in der Flosse: Da war das erste Grundmuster von einem Knochen, zwei Knochen, vielen Knochen, dass wir auch in unseren heutigen Armen finden. Da gab es sogar eine Art Handgelenk, erste Hinweise auf das was mal eine menschliche Hand werden würde. Immer wenn wir eine Hand schütteln oder den Kopf drehen, können wir uns eigentlich bei Tiktaalik und seinen Cousins des Devons bedanken, die sich an das Leben dieser urtümliche Flüsse anpassten …adapting to life in these ancient streams.
SPRECHER
Diese rund einen Meter lange Wesen mit krokodilartigem Schädel sollten dann vor 375 Millionen Jahren zum gemeinsamen Vorfahren aller Landwirbeltiere werden, die man als Vierfüßler in der Biologie ‚Tetrapoden‘ nennt. Sie eroberten ein fast unbegrenztes Habitat, in das ihnen kein Raubfisch folgen konnten und füllten nach und nach alle ökologischen Nischen an Land, wo es bislang nur Algen, Moose, Pilze gab, kleine Wirbellose, winzige Insekten und andere Gliederfüßler.
SPRECHERIN
Doch als der Landgang einmal vollzogen war, bildeten sich aus diesen Pionieren rasant und in Schüben neue Äste am Baum der Evolution: Alle Amphibien, alle Reptilien, alle Vögel, alle Plazenta- und Säugetiere. Millionenfach – von der Schildkröte bis zum Dino, vom Salamander bis zum Adler, von der Spitzmaus bis zum Primaten. Bis zu uns, die wir – wie der Biologe Thassilo Franke – heute staunend vorm Spiegel das Ergebnis dieser Zeitreise in sich selbst sehen können:
6. ZUSPIELUNG Wort 50:00)
Wenn man jetzt vom evolutionsbiologischen Standpunkt das Ganze betrachtet, gibt es ja keinen intelligenten Schöpfer, der hinter all dem steht. Sondern die treibende Kraft war natürliche Selektion, genetische Drift, die eigentlich ungerichtet abläuft. (12:26) Der Weg des geringsten Widerstands in der Evolution besteht eigentlich darin, Strukturen, die bereits vorhanden sind, umzustrukturieren und einer neuen Nutzung zuzuweisen. (52:57) Und wir Menschen sind nicht mehr als einfach die Spitze eines Zweiges unter Tausenden und Millionen und Abermillionen von Zweigen, die an diesem Baum entstanden sind. Nur durch das, was unsere geistigen Fähigkeiten eigentlich uns erlauben zu tun, unterscheiden wir uns im Handeln von den vielen anderen Lebewesen. Aber was unseren Bauplan betrifft, sind wir eigentlich nichts Besonderes.
SPRECHER
Fische halt, ebenso wie jedes Reptil, jeder Vogel, jeder Säuger. Alles besondere, hochspezialisierte Fische. Keine gerade Linie der Entwicklung, eher ein fraktales Baum-Muster mit vielen Möglichkeiten und Richtungen. Ein Mosaik aus Lebenslinien, dass mit erfolgreichen Bausteinen immer wieder neue Körper baut, neue Sinne, neue Fähigkeiten. (Musik wieder rein) Wo nicht nur aus Flossen klavierspielende Finger wurden, sondern aus Kiemen weitere Wunder wuchsen, welche diese Worte sprechen und Ihre Ohren hören lässt, erklärt Reiner Schoch. Professor für Paläontologie an der Universität Hohenheim.
7. ZUSPIELUNG Wort 12:14)
Die Tatsache, dass ich zu Ihnen sprechen kann, hängt damit zusammen, dass mein Vorfahr einen Kiemenkorb hatte und ein Teil dieses Kiemenkorbes wurde, umgebaut zu dem Hyalknorpel, mit dem ich sprechen kann. Und die Tatsache, dass die Zuhörer mich hören können, liegt ebenso an diesem Kiemenkorb, denn ein anderer Teil dieses Kiemenkorbes wurde zu einem Gehörknöchelchen umgebaut. Das ging nicht mit einem Schritt, sondern, wie vorhin bereits erwähnt, über viele kleine Einzelschritte, bei denen jeder so ein bisschen in eine neue Richtung geführt hat. (22:05) Das heißt, wir sind ein Teil der Fische. Zusammen mit den Haien und den Knochenfischen bilden wir eine Teilgruppe der Fische. Und natürlich zusammen mit den Stachelhäutern, also zum Beispiel den Seeigeln oder zusammen mit der Stubenfliege bilden wir die Tiere.
SPRECHER
Die innere Stubenfliege? Auch das! Ihr Körper ist genetisch genau wie unserer in Kopf, Rumpf und Extremitäten gegliedert – uralte ‚Hox-Gene‘ geben diesen Aufbau seit Urzeiten von Wesen zu Wesen weiter. Und der innere Hai?
ZUSPIELUNG Musik 3 (Und der Haifisch, der hat Zähne und die trägt er im Gesicht…)
SPRECHERIN
Bei der Moritat von Mecky Messer aus der Dreigroschenoper aber irrte Texter Bertolt Brecht vor rund 100 Jahren. Zwar können Menschen sich wie Raubfische verhalten! Aber Haie tragen ihre Zähne nicht nur im Gesicht, sondern – das wissen wir heute – als winzige schuppige Hautzähnchen am ganzen Körper: Von wo sie dann auch in den menschlichen Mund gewandert sind. Noch einmal der Evolutionsbiologe und Haiforscher Rainer Schoch
8. ZUSPIELUNG Wort 19:30)
Wir haben Zähne gemeinsam nicht nur mit Knochenfischen, sondern auch mit Haien. Und die heutigen Haie zeigen uns auch, wo die Zähne eigentlich herkommen. Denn der gesamte Körper des Haies ist überzogen mit kleinen Schüppchen, sogenannten Plakoidschuppen. Und die haben einen Aufbau, der völlig gleich ist mit dem der Zähne. Es ist also möglich, dass die Zähne erst entstanden aus solchen vergrößerten Schuppen, die am Mundrand gewachsen waren und die einfach zum Beißen umfunktioniert wurden. (20:45) Was aber auf jeden Fall klar ist, Schuppen und Zähne sind, wie wir sagen, homologe Strukturen. D.h., die sind verwandt miteinander. (21:03) Die Schuppe des Knochenfischs und mein Zahn z.B. haben einen gemeinsamen Vorfahren.
SPRECHERIN
Lächeln Sie sich mal im Spiegel an und ehren die 500 Millionen Jahre alten Haifischzähne im eigenen Gebiss!
SPRECHER
Denn natürlich endet die Verwandtschaft im Baum des Lebens nicht bei den Primaten, den Tetrapoden, den Fischen, sondern geht immer weiter zu den Wurzeln zurück. Bis man irgendwann zu einem hypothetischen Organismus kommt, der den Namen ‚LUCA‘ trägt, die Abkürzung für den ‚Last Universal Common Ancestor‘, dem Vorfahr aller Lebewesen, erklärt Prof. Walter Salzburger, österreichischer Evolutionsbiologe an der Universität Basel.
9. ZUSPIELUNG Wort 21:39)
Genauso wie wir den Fisch in uns tragen, tragen wir auch den Wurm in uns oder den Einzeller in uns. An und für sich tragen wir alles in uns seit dem Ursprung des Lebens. (22:11) Und wenn wir nur weit genug zurückgehen, dann haben Pflanzen, Pilze, Bakterien und wir, als Menschen, Primaten, als Wirbeltiere, gehen wir alle auf diesen Ursprung des Lebens zurück. Und grundlegende Prozesse in unserem Körper, grundlegende zelluläre Prozesse und damit auch die genetischen Bauplan dafür, den teilen wir beispielsweise mit allen Tieren und somit auch mit allen Würmern oder sogar noch weiter zurück, mit allen Vielzellern, also mit den Pflanzen und den Pilzen. (22:54) Wo wir uns in diesem verschachtelten System sehen wollen, das ist eine willkürliche Einteilung, aber widerspiegelt ja eigentlich nur die Evolution des Lebens auf unserem Planeten.
SPRECHER
Und von dort, jenem Urknall des Lebens, führt letztlich die genetische Leiter der DNA aufwärts durch die Zeitalter des Lebens, Abermillionen von Lebensspannen mit unendlich vielen Experimenten und Erfahrungen, die letztlich alle in den Genen kodiert sind – wie eine komplette Aufzeichnung der Evolutionsgeschichte.
SPRECHERIN
Sie findet sich bis heute in jeder Befruchtung aus männlichem Samen und weiblicher Eizelle zu einem neuen Schriftsatz zusammen. Und dann durchläuft der immer wieder einmalige Organismus tatsächlich im Mutterleib im Zeitraffer große Teile der evolutionären Reise noch einmal. Weil sich wie im Baukasten eins aus dem anderen bilden muss, erklärt Evolutionsbiologe Axel Meyer aus Konstanz
10. ZUSPIELUNG Wort 21:40)
Also wenn sich beim menschlichen Embryo eine Hand oder ein Bein entwickelt, dann kommt erst so eine Art Flosse, so eine Art Paddel. (23:10) Zum Beispiel haben auch wir ursprünglich als frühe Embryos Kiemenspalten, die ja auch Fische haben. (24:15) Und das ist ein altes Muster in der Evolution, der Aufbau des Körpers in Segmenten, der eben schon in Fischen und in allen Wirbeltieren ganz früh als Embryo sichtbar ist. Ganz früh in der Embryonalentwicklung sind die Gemeinsamkeiten viel größer. Zu späteren Stadien in der Entwicklung kommen die Unterschiede, die sich dann eben zeigen in einer Entwicklung eines Pferdefußes oder eines Flügels einer Fledermaus im Vergleich zu einer Hand eines Primaten. Man kann diese Schritte nicht auslassen oder überspringen. (((29:00) Das sind hinkende Metaphern des Bauplans, wie die Gene miteinander agieren. Da ist eher die Musik der Veränderung drin. Es geht weniger darum, dass grundsätzlich andere Wege beschritten werden, sondern eher darum, dass sich die Melodie der Musik irgendwo klein wenig ändert - nicht viel mehr.))
SPRECHERIN
Kaum zu glauben: Jeder von uns war in den ersten Tagen seiner Existenz erst eine Art Urzelle, eine Art Kaulquappe, ein Fisch, ein Tetrapode, ein noch undifferenziertes Säugetier, bevor wir zum menschlichen Embryo wurden – eine auf Wochen verdichtete Zeitreise durch eine Milliarde Jahre Evolution.
SPRECHER
Man hat die Evolution einen ‚faulen Kopierer‘ genannt, einen Zufalls-Architekten, aber auch mit einen spielenden Bastler oder alte Rezepte variierenden Koch verglichen, Bäume und Mosaike als Metaphern für die wundersame Entwicklung des Lebens bemüht. Heute zeigt sich die evolutionäre Reise eher als ein fraktales Netzwerk der Anpassung, ohne eindeutige Richtung, ohne Ziel, ohne Hierarchien, sagt Prof. Joachim Haug vom GeoBioCenter der Ludwig-Maximilians-Universität München
11. ZUSPIELUNG Wort 25:00)
Dieses ewige Weiter und Höher, das ist nicht überall der Fall. (((25:50) Wir sehen das gerne so, weil wir aus unserer Perspektive auf die Evolution runtergucken. (25:21) Vor 100 Millionen Jahren hatten wir auch schon Tiere, die so hoch entwickelt waren wie heute. (28:38) Da gibt es nicht ‚Wir sind höher als die!‘, sondern es gibt immer diese Dinge, die nebeneinanderstehen. Es gibt ja keine Überhöhung in irgendeiner Form. )) (48:53) Der Mensch stammt nicht vom Affen ab. Der Mensch ist ein Affe. (49:05) Der Mensch ist ein Fisch. Es gibt keine Möglichkeit, uns da rauszunehmen. (((28:56) Bei strikter Anwendung des philosophischen Hintergrundes gibt es keine Hierarchisierung in dieser Form. Wir sind Teil des Ganzen, wir stehen da nicht raus (49:10))) Das heißt, wir sind plötzlich mit all dem verbunden in unserem körperlichen Sein. Wir sind Teil dieses Ganzen. (49:27) Es entthront einen ein Stück weit. ((Also das ist glaube ich wirklich die Konsequenz, die man ziehen muss.)) Der Mensch als Art ist nicht besonders hervorgehoben in diesem System. ((Wenn wir uns den Impact anschauen würden, könnte man sogar so weit gehen, wenn der Mensch aus dem System rausfallen würde, wäre das für das System wahrscheinlich eher besser, als dass es schädlich wäre. (49:55) Es sieht zumindest so aus, als ob das alles auch ohne uns gut weitergehen könnte.))
SPRECHER
Es geht weiter. Alles ist möglich, sagt die Evolutionsforschung. Und wie es weitergeht, bestimmt der geniale Zufallsgenerator der Evolution. Ob mit oder ohne Menschen, daran sind wir selbst beteiligt.
SPRECHERIN
Und manches spricht dafür, dass der Homo sapiens dafür begreifen müsste, dass er einerseits Teil einer wunderbaren großen ästhetischen Ganzheit ist. Und andererseits nicht mehr als ein einfacher Knochenfisch. Thassilo Franke von den Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns zuckt mit den Schultern, schaut aus dem Fenster - und sagt:
12. ZUSPIELUNG Wort 51:08)
Ich muss zugeben, ich sehe da laufende Fische. Ich finde das aber auch nicht erniedrigend, weil ich finde das eigentlich großartig, dass wir nichts anderes sind als landbewohnende Fleischflosser. Je mehr man eigentlich solche Bilder im Kopf hat, desto ehrfürchtiger wird man eigentlich, weil man sieht, was alles im Laufe der Jahrmillionen sich für unglaublich faszinierende Anpassungsstrategien entwickelt haben. Wie zum Beispiel Fische, die an Land leben, den aufrechten Gang beherrschen, die mit ihren Brustflossen Dinge fabrizieren wie eine Mona Lisa, wie ein Quantencomputer, wie eine fantastische Sonate auf dem Klavier spielen können. Das finde ich einfach faszinierend.
Fische stumm und dumm? Von wegen: Fische denken, fühlen und sind sich ihrer selbst bewusst. Thesen und Erkenntnisse aus dem Bestseller 'What a Fish Knows' von und mit dem Verhaltensbiologen Jonathan Balcombe. Von Marko Pauli (BR 2017)
Credits
Autor dieser Folge: Marko Pauli
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christian Baumann, Berenike Beschle, Johannes Hitzelberger
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
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Es sind hochtechnisierte Fangflotten, die monatelang über die Weltmeere fahren und tonnenweise Speisefische an die Oberfläche ziehen, sie verarbeiten und einfrieren. Was es bedeutet, wenn Speisefische in gigantischen Mengen einfach aus ihrem Ökosystem entnommen werden, wird der Forschung erst langsam klar. Von Yvonne Maier (BR 2022)
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Autorin dieser Folge: Yvonne Maier
Regie: Kirsten Böttcher
Technik: Wolfgang Lösch
Es sprachen: Rahel Comtesse, Hemma Michel und Benedikt Schregle.
Redaktion: Matthias Eggert
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Seit den 1960er Jahren machen Künstler der Performance Art ihren Körper zum zentralen Mittel. Das Zusammentreffen der Performer mit den Zuschauern wird zu einem Ereignis das nichts mehr darstellt, sondern Wirklichkeit schafft. Voller Risiko und mit dem Appell, zu handeln. Von Stephanie Metzger (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Stephanie Metzger
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Jerzy May
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Rosemarie Brucher
Sophie Becker
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Literaturtipps:
Broszat, Tilmann/Hattinger, Gottfried: Theater etcetera. Zum Theaterfestival ´97 in München. München (Spielmotor München e.V.), 1997
Broszat, Tilmann/Hattinger, Gottfried: Theater etcetera. Zum Theaterfestival Spielart München 2001. München (Spielmotor München e.V.), 2001
Fischer-Lichte, Erika/Kreuder, Friedemann/Pflug, Isabel (Hrsg.): Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde. Tübingen/Basel (A. Francke Verlag), 1998.
Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias: Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar (Verlag J.B. Metzler), 2005.
Goldberg, RoseLee: Die Kunst der Performance – vom Futurismus bis heute. Berlin/München (Deutscher Kunstverlag), 2014.
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Credits
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Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Dorothee Wierling, Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg;
Prof. Martin Sabrow, Senior Fellow Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam;
Prof. Bernd Schnettler, Lehrstuhl für Kultur und Religionssoziologie, Uni Bayreuth;
Prof. Anja Ballis, Projekt LediZ – Lernen mit digitalen Zuegnissen, LMU München
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Ceija Stojka, Endrücke von der Ankunft im KZ Auschwitz
„Es ist finster. Man spürt den Gatsch, die Nässe unter den Füßen. Man spürt den Geruch der Verwesung, der im Lager herrscht. Man spürt die Kälte, die Feuchtigkeit. Noch sieht man nichts…. man hört nur die Schritte der Menge, die schleichend dahinschleicht. Und die Hunde. Und das Gejaule….und die SS, die immer brüllt: „Weitergehen, Marsch! Marsch! In Bewegung setzen.“
MUSIK: Dark operation 0‘42
Erzählerin
Eindrücklich erzählt Ceija Stojka in einem Fernsehinterview von ihrer Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz. Die Schilderungen der Romni, die als Kind ins Lager kam, machen das Grauen des KZ für jeden hautnah erlebbar. Abzurufen ist das Interview mit Ceija Stojka über das Zeitzeugenportal im Internet. Es ist eines von zahlreichen Projekten, die die Erinnerungen der letzten Überlebenden des Holocaust für die Nachgeborenen bewahren möchten.
Musiktrenner
Geschichte bekommt dank Zeitzeugen ein Gesicht – und eine Stimme. Der Zeitzeuge nicht nur als Augenzeuge, sondern als Mensch, als personalisierte Geschichte, die berührt. Die unmittelbare Erfahrung von Menschen, die „dabeigewesen sind“ und davon erzählen, machen es leichter, historische Zusammenhänge zu verstehen – und soweit wie möglich nachzuvollziehen. Schilderungen wie die der KZ-Überlebenden Stojka zählen dabei zu den eindrücklichsten. Doch Zeitzeugen decken mittlerweile ein breites Spektrum ab. Wenn ein Fluchthelfer davon berichtet, wie er DDR-Bürger in waghalsigen Manövern über die innerdeutsche Grenze bringt; wenn ein HIV-Infizierter davon erzählt, wie ihn die Aids-Epidemie der 1980er-Jahre nach und nach aller Freunde beraubt hat: Dann sind diese Personen - die über die Zeitgeschichte, also die "Epoche der Mitlebenden“, Auskunft geben - der Definition nach Zeitzeugen.
MUSIK: Nocturnal research 0‘41
Erzählerin
Dass Zeitzeugen in großer Zahl öffentlich auftreten – und damit die Wahrnehmung von Geschichte prägen: Das ist der Berliner Historikerin Dorothee Wierling zufolge ein recht neues Phänomen. Es begann damit, dass die professionelle Geschichtswissenschaft ab den 1930er-Jahren den sogenannten „einfachen Menschen“ breiten Raum einräumte. Mit der oral history - übersetzt, der „mündlichen Geschichte“ -, die solche Zeitzeugen einfach sprechen lässt: möglichst unbeeinflusst vom interviewenden Profi-Historiker.
O-Ton 1 Prof. Dorothee Wierling, Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg
„Wir sitzen mit dem am Küchentisch, und lassen uns die ganze Lebensgeschichte erzählen. (…) Wir als oral historian sitzen gegenüber und nehmen alles mit Interesse und Respekt auf. Das heißt, es entsteht eine Atmosphäre des Vertrauens und der Offenheit, wo wir mehr Zeit haben - und mehr Raum lassen.
Erzählerin
Die oral history will mit Hilfe von Zeitzeugen die „ganze Geschichte“ erzählen. Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten und Milieus sollten ihre Erlebnisse, Sichtweisen und Lebenswelten darstellen können – und taten dies auch. So gaben in den USA der 1930er-Jahre die letzten Zeugen von Sklaverei und Bürgerkrieg ausführlich in Interviews Auskunft; im Ruhrgebiet erzählten Bergleute Forschern im O-Ton ihre Lebens-und Arbeits-Geschichte; und für ein Oral-History-Filmprojekt in der Schweiz schilderten 80 Zeitzeugen ihrer Erfahrungen aus erster Hand in der Entwicklungshilfe. Das Zusammentragen von Zeitzeugen-Berichten sollte der „offiziellen Geschichte“ eine Art „Geschichtsschreibung von unten“ entgegenstellen.
MUSIK: Still waiting 0‘35
Erzählerin
Zeitzeugen, sagt der Potsdamer Historiker Professor Martin Sabrow, brachten so schließlich auch eine andere Perspektive in die damalige Wahrnehmung des Nationalsozialismus in Deutschland - in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Bewältigung der zurückliegenden NS-Zeit vor allem darin bestand, die Deutschen als Opfer von Hitler und seiner Vebrecher-Elite zu sehen: Nicht „die Deutschen als Opfer“, sondern die „Opfer der Deutschen“ rückten fortan in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.
O-Ton 2 Prof. Martin Sabrow, Senior Fellow Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
„Für diese Gegenerzählung war der Zeitzeuge dann die entscheidende Figur: Er berichtete nicht von hohen Haupt- und Staatsaktionen und er berichtete auch nicht aus der Sicht der Mitläufer der Täter, der der deutschen, der dreißiger, vierziger Jahre - sondern ihrer Opfer.“
Erzählerin
In Deutschland lernte so eine breite Öffentlichkeit den „Zeitzeugen“ in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kennen, erklärt die Berliner Geschichtsprofessorin Dorothee Wierling.
O-Ton 3 Wierling
„Als Massenphänomen, denke ich, verdankt sich der Zeitzeuge tatsächlich den schrecklichen Kriegen des Zwanzigsten Jahrhunderts in Europa und hier vor allem auch dem Zweiten Weltkrieg und den Erfahrungen von Tod und Völkermord.“
MUSIK: Secret proofs 0‘51
Erzählerin
Spektakulär in Erscheinung trat dieser spezielle Zeitzeuge erstmals 1961: Beim Prozess gegen einen den Hauptorganisatoren des Holocaust, Adolf Eichmann. Im Jerusalemer Gericht ließ Generalstaatsanwalt Gideon Hausner über einhundert Zeugen auftreten. Die große Zahl der Zeuginnen und Zeugen diente weniger dazu, Eichmann Völkermord-Verbrechen einzeln nachzuweisen – dafür gab es bereits ausreichend stichhaltige Belege. Nein, diese Zeitzeugen dienten vielmehr dazu, das Unfassbare begreifbar zu machen: Gleichsam als Personifizierung des Grauens. Staatsanwalt Hausner sah darin den einzigen Weg, „die Katastrophe überhaupt zu konkretisieren“. Dadurch, so viele überlebende Zeugen aufzurufen, wie es der Gerichts-Prozess überhaupt zuließ - und jeden zu bitten, ein winziges Bruchstück dessen zu erzählen, was er gesehen und erlebt hatte.
O-Ton 4 Sabrow
„So entstand im Jerusalem Gerichtssaal ein dichtes Bild von im Schrecken dieser Vierziger-Jahre der deutschen Konzentrationslager - und damit war Gideon Hausner sozusagen der Erstproduzent dieser Zeitzeugenbewegung, wie wir sie bis heute noch kennen.“
Erzählerin
Die besondere deutsche Geschichte von Nazi-Diktatur, Krieg und Völkermord brachte Martin Sabrow zufolge eine spezielle Form des Zeitzeugens hervor. Er unterscheidet sich demnach vom Tatzeugen, vom Augenzeugen - oder von historischen Fachexperten, die lediglich über Fakten Auskunft geben. Dieser Zeitzeuge ist laut dem Professor Martin Sabrow eine Figur, mit deren Hilfe man der Vergangenheit unmittelbar als Person begegnet. Sabrow erinnert sich an die ersten Gespräche von Schülern mit solchen Zeitzeugen. Damals, Anfang der 1980er-Jahre, war der Geschichtsprofessor noch Studienrat an einer Berliner Schule. Der junge Lehrer Sabrow hatte Isaak Behar, einen Zeitzeugen der Judenverfolgung in Berlin, in sein Klassenzimmer eingeladen.
O-Ton 5 Sabrow
„Es war noch nicht eingeübt, und schon gar keine Routine...Und plötzlich stand ein älterer Mann mit freundlichem Lächeln, aber auch etwas melancholischen Gesichtszügen vor der Klasse, die vielleicht auch erst mal gar nicht wusste: Was will der hier eigentlich? (...) Und dann erzählte Herr Behar, wie er dort von der Schule kam, den Savignyplatz entlang ging und in dann in die Grolmannstraße da einbog. Und er sah schon die Gardinen am Fenster, allerdings brannten sie. Und stürmt in das Haus, das waren nämlich die Gardinen der Wohnung seiner Eltern. Die Eltern waren weg, er hat sie nie wiedergesehen. Sie sind ermordet worden. Und plötzlich waren meine Schülerinnen und Schüler, die zuerst so halb zugehört hatten... plötzlich waren sie in den Bann gezogen. Da sitzt und steht ein Mann vor uns, leibhaftig Fleisch und Blut, und er hat etwas erlebt auf demselben Platz, den wir auch alle kennen, und es ist so radikal anders, wie es kein Buch dastellen kann.“
MUSIK: Thinking of better times 0‘17
Erzählerin
Der Zeitzeuge als personalisierte Geschichte, die berührt – und sich berühren lässt: Auch heute wollten Schüler Überlebende des Holocaust nicht selten anfassen, sagt Dorothee Wierling.
O-Ton 6 Wierling
„Das hat was ganz Körperliches...Das hat irgendwie was...also was Religiöses, fast, ja. Und das Gefühl ist sehr stark. (…) Es geht wirklich dann mehr um die Aura. Und diese Aura des Überlebens ist sehr stark.“
Erzählerin
Solche Zeitzeugen, ergänzt Wierlings Kollege Martin Sabrow, umwehe die Aura der Authentizität. Sie wirkten nicht allein durch den Inhalt dessen, was sie erzählen. Sie seien - im wahrsten Sinne des Wortes - die „Verkörperung“ eines historischen Dramas.
MUSIK: Memory activity 035
Doch so eindrucksvoll, so wertvoll Zeitzeugen in ihrer Wirkung für die Erinnerungs- und Gedenkkultur auch sein mögen: Ihr Auftreten hat aus der nüchternen Perspektive der Wissenschaft betrachtet auch Schattenseiten. Der Bayreuther Soziologe Bernd Schnettler warnt davor, einzelne Aussagen von Zeitzeugen vorschnell für „bare Münze“ zu nehmen. Denn die Aura des Authentischen, des Einzigartigen, die Glaubhaftigkeit: Dies alles entstehe nicht allein in und aus der Persönlichkeit des Zeitzeugen heraus.
O-Ton 7 Prof. Bernd Schnettler, Kultur- und Religionssoziologe, Uni Bayreuth
„Das, was als Authentizität oft bezeichnet wird - also dieser Eindruck, wirklich überzeugt davon zu sein, was mein Gegenüber sagt - das ergibt sich ja eben aus dieser Begegnungssituation…´
„also deswegen ist auch die Glaubhaftigkeit etwas, was natürlich an ihnen liegt, was aber auch daran liegt, ob nun eine ausreichende Zahl von Menschen ihnen weiter folgen wird.“
Erzählerin
Der Zeitzeuge wirkt demnach also durch und mit einem Publikum, das ihm folgen – und das ihm glauben will. Die Historikerin Dorothee Wierling berichtet indes von ihrem Unbehagen bei öffentlichen Auftritten von Zeitzeugen: Denn diese erzählten Geschehnisse nicht nur aus ihrer subjektiven Sichtweise. Manche Zeitzeugin oder mancher Zeitzeuge erinnere sich auch falsch, oder versah seine Erinnerung mit einer fragwürdigen Deutung. So etwa bei einer Veranstaltung mit einer Oppositionellen, die in der DDR wegen ihrer politischen Haltung in Haft saß – und diese vor Publikum unwidersprochen als „Konzentrationslager“ bezeichnete. Auf diesen Fehler hinzuweisen – vor dem unbestreitbaren Leiden der Frau schien dies keinen Sinn zu haben.
O-Ton 8 Wierling
„Jemand, der auf diese radikale Weise Opfer geworden ist, den kann man zum Beispiel nicht unterbrechen. Den kann man auch nicht kritisieren. Also das ist irgendwie gegen unser Gefühl, und es ist auch ungehörig. Es bedeutet aber auch, dass die Geschichte auch in anderer Hinsicht nicht hinterfragt wird – ja, dass man zum Beispiel nicht kritisieren kann, dass jemand einen bestimmten Begriff benutzt. Oder dass man nicht nachfragen kann, ob etwas wirklich so gewesen sei oder so. Das ist alles ungehörig. Und das meine ich jetzt nicht nur ironisch: Das ist wirklich unangemessen, weil die Leute ja mit ihrem Leid irgendwie unangreifbar geworden sind.“
ZSP 2 Enric Marco, Rede vor spanischem Parlament, span.,
dt. OV
Sprecher Voice Over
„Wir mussten uns splitternackt ausziehen, sie haben uns aller Habseligkeiten beraubt. Aber nicht nur aus Habgier, sondern, damit wir völlig nackt und schutzlos dastanden. Wir mussten uns ausziehen – und dann bissen uns ihre Hunde…“
MUSIK: Obscure intrique 0‘35
Erzählerin
Der Katalane Enric Marco berichtete 2005 beim Holocaust-Gedenktag im spanischen Parlament von den Gräueln in einem deutschen KZ. Ein Auftritt, der etliche Abgeordnete zu Tränen rührte. Das Problem: Die Erlebnisse Enric Marcos – sie waren frei erfunden. Der Betrug konnte nur funktionieren, da die Geschichte Marcos allen Erwartungen gerecht wurde
O-Ton 9 Schnettler
„Wir haben ja ein ganzes institutionelles Gefüge, in dem diese Erinnerungen produziert, hergestellt und verbreitet werden.
Erzählerin
...sagt der Soziologe Bernd Schnettler. Die Erinnerungen der Zeitzeugen seien – selbst wenn sie das „Siegel“ der Echtheit tragen – zuweilen weniger individuell, als es auf den ersten Blick scheinen mag, betont der Soziologie-Professor der Uni Bayreuth. Denn seine Wirkung gewinne der Bericht Enric Marcos nicht, weil der Zuschauer oder Zuhörer ihm eine Hundephobie zurechne.
MUSIK: Terrible truth 0‘39
Sie wirke, weil wir, das Publikum des Zeitzeugen, die Hunde als Bestien der SS an der Selektionsrampe im KZ aktiv interpretieren – und damit eine Erinnerung reproduzieren, die schon gesellschaftlich verankert ist. Der Zuhörer setzt die Szene mit dem Hund also in einen historischen Zusammenhang, den er bereits verfügbar hat. Zuweilen, sagt Bernd Schnettler, sei es sogar so...
O-Ton 10 Schnettler
„...dass nämlich diese Erfahrungsberichte komplett sozusagen durch die kulturellen Rahmen erzeugt werden.“
Erzählerin
Es sei auf jeden Fall ein Wechselspiel mit seinem Publikum, sagt der Soziologe, aus dem der Zeitzeuge seine Wirkungsmacht gewinne.Erwartungen, denen mancher Zeitzeuge gern nachkomme.
O-Ton 11 Wierling
„Das ist eben auch für den einzelnen dann oft sehr reizvoll, ja, diese, also diese Zustimmung zu bekommen ...dass dieser öffentliche Zeitzeuge eigentlich so stark eingebunden ist in eine Erzählung, die er kennt und von der weiß, dass er sie liefern soll und das wird ja auch belohnt, ja, wenn er sie so liefert. Und insofern bekommt er immer wieder die Bestätigung, daß das die Geschichte ist, die alle Leute hören wollen. Und das ist ja auch ne Bestätigung, nicht nur, dass er es richtig gemacht hat, sondern es ist ja auch eine Bestätigung, die er als Person bekommt.“
MUSIK: Undercover investigations red. 0‘26
Dass Zeitzeugen auch dazu dienen können, eine vorgefertigte Geschichte zu bestätigen - oder gar nur mehr als Statisten und Stichwortgeber fungieren: Dies beobachtet Dorothee Wierling vor allem bei den allgemein wohl bekanntesten Zeitzeugen: Den Protagonisten des so genannten Geschichtsfernsehens..
O-Ton 13 Wierling
„Hier sind die Zeitzeugen sozusagen öffentlich aufgetreten, und zwar in einer Rolle von hochkontrollierten Sprechern. (...) und dieser Zeitzeuge, das ist wirklich eine Figur, die über das Fernsehen eigentlich erst ihre Rolle gefunden hat, und zwar in den neunzehnhundertachtziger Jahren.“
Erzählerin
Die Zeitzeugen sind mediale Quotenrenner, aber den Erkenntnisgewinn so mancher Aussage hält der Potsdamer Professor Martin Sabrow für zweifelhaft.
O-Ton 14 Sabrow
„Ist es eine verdichtete Erzählung, die womöglich auch so geschnitten ist, daß sie den Erwartungen des Publikums entspricht?
Erzählerin
Die immense öffentliche Aufmerksamkeit stehe hier im Gegensatz zum geringen wissenschaftlichen Erkenntniswert. Zeitzeugen-Aussagen solcher Art müssten dringend von der Geschichtswissenschaft kritisch eingeordnet werden, sagt Professor Martin Sabrow.
MUSIK: Pensive pondering 0‘45
Medial omnipräsente Zeitzeugen, die ihr Publikum vor allem durch Affekt und Emotion „mitnehmen“: Die könnten zwar vielleicht dabei helfen, eine Erinnerungskultur zu etablieren und zu bestärken, sagt die Berliner Historikerin Dorothee Wierling. Für eine Geschichtswissenschaft aber, seien die ungeprüften Aussagen solcher Zeitzeugen weitgehend wertlos. Wie es anders geht: Das will Wierling mit ausführlichen wissenschaftlichen Interviews nach Methode der oral history zeigen.
O-Ton 15 Wierling
„Wir unterbrechen im ersten Durchgang überhaupt nicht und lassen allen Assoziationen freien Lauf. Und insofern sind es ganz andere Texte als die Texte, die wir zum Beispiel aus dem Geschichtsfernsehen kennen - die ja viel kürzer sind und in der Regel auch viel stärker fokussiert sind auf die Bestätigung eines ganz bestimmten Ereignisses. Es kommt eben auch vor bei den Zeitzeugen, dass die sich falsch erinnern - oder dass sie etwas für wahr halten, von dem die Geschichtswissenschaft aber weiß, dass es so nicht passiert ist. Und da kann man dann zum Beispiel, wenn man Tonaufnahmen hat, oder wenn man Videoaufnahmen hat, dann kann man auch erklären, wie es dazu kommt, dass jemand sich falsch erinnert, das ist ja sozusagen keine böse Absicht, das ist ja Teil der Gedächtnisentwicklung, dass Erinnerungen sich verändern, dass sie sich verändern unter dem Einfluss öffentlicher Debatten.... Also das ist dann für uns guter Ansatz für eine komplexe Deutung solcher Geschichtserfahrungen, die da erzählt werden.“
Erzählerin
Die Zeitgeschichts-Professorin Dorothee Wierling setzt sich dafür ein, Lebensgeschichten auf diese Weise festzuhalten, sie zu sammeln - und systematisch auszuwerten. Denn für die Geschichtsschreibung waren und sind die Zeugen der jeweiligen Zeit – so bruchstückhaft und widersprüchlich ihre Erzählungen auch sein mögen - stets unentbehrliche Quellen: Für Forscher – wie auch für Lehrende, die Geschichte dank der Auskünfte von Zeitzeugen anschaulich und konkret vermitteln können.
MUSIK: Bleak and droughty 0‘22
Was aber, wenn die letzten Zeitzeugen einer Epoche sterben?
Musiktrenner, kurz
Damit, wie sich die Erzählungen und Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden bewahren und weitergeben lassen, beschäftigt sich ein Projekt an der LMU München: „LediZ – Lernen mit digitalen Zeitzeugen“.
O-Ton 16 Prof. Anja Ballis, Professorin für Literaturwissenschaft und Ko-Leiterin Projekt „LediZ“, Teil 1
„Uns geht es darum, herauszufinden, inwiefern tatsächlich diese digitalen Zeugnisse helfen, die Geschichten weiter zu erzählen.
Erzählerin
...erklärt die Leiterin des digitalen Zeitzeugen-Projekts, Anja Ballis
O-Ton 16 Ballis Teil 2
Und der erste Teil von LediZ besteht eben in interaktiven digitalen Zeugnissen. Und da haben wir eigentlich relativ einfach nachgebaut, ZeitzeugInnen-Gespräche….dass eben der oder die Zeitzeugin ihre Geschichte erzählt. Und im Anschluss eben einen Frage-und-Antwort-Teil, und das haben wir praktisch ins Digitale verlegt.“
MUSIK: Network access 0‘22
Erzählerin
Die KZ-Überlebende Eva Umlauf beantwortete für LediZ 1000 Fragen zu ihrer Lebensgeschichte, ihre Antworten wurden mit einer Spezialkamera aufgenommen. Stellt nun ein Schüler eine dazu passende Frage, dann antwortet die Zeitzeugin - in Form einer wirklichkeitsnahen Videosequenz.
ZSP Clip LediZ
-„Konnten Sie den Tätern verzeihen?“
-“Das ist auch oft so eine Frage, die ich bekomme: So eine Absolution zu erteilen. Ja, also….ich hab nicht verziehen!“
Erzählerin
In den nächsten Stufen von LediZ sollen die meist jugendlichen Nutzerinnen und Nutzer nicht nur Fragen stellen, sondern mit Computer-Brillen oder als Avatare – also selbst als künstliche Alter Egos - in digitale Welten eintauchen.
O-Ton 17 Ballis
„Und da geht es jetzt eben darum, dass sie mit Hilfe einer VR-Brille in einen Raum eintreten und der Zeitzeugin gegenübertreten können, die ihnen dann ihre Geschichte erzählt. Und diese Räumlichkeiten, die wir hier entwickelt haben, bieten ihnen auch die Möglichkeit, in begrenztem Maße eben zu interagieren: Sich ein Buch näher anzuschauen, Bilder also ein virtuelles Buch anzuschauen, Fotografien anzuschauen und die dort integrierten Medien aufzunehmen.(…)
Erzählerin.
Das interaktive Format ermögliche es Schülern zumindest, ohne Scheu Fragen zu stellen - zu Themen, bei denen sie Berührungspunkte mit den Zeitzeugen vermuteten. Im besten Fall könnten die Jugendlichen dann an die Erfahrungen der Zeitzeugen anknüpfen, eine gemeinsame Ebene entdecken.
Der Blick durch die 3D-Brille, das hat Anja Ballis beobachtet, ermögliche ein Eintauchen in die Lebenswelt der Zeitzeugen, schaffe besondere Momente der Nähe.
Human afflication 0‘33
So könnten Schülerinnen und Schüler Geschichte ganz persönlich - mit allen Emotionen - erleben.
O-Ton 18 Ballis
„Also, es löst viel in ihnen aus…Und wir stellen des öfteren fest, wenn sie die Brillen abnehmen: Es wird geweint, die Kinder, die Jugendlichen werden angerührt in ganz unterschiedlicher Intensität, von der Geschichte. Also wir haben den Eindruck: Es ist sehr intensiv.“
David Bowie war eine überragende Gestalt der modernen Popmusik. Er inszenierte sich als artifizielle Kunstfigur. In seinem Musiktheater war er mal Major Tom, mal Ziggy Stardust oder der "Thin White Duke". Autor: Markus Mayer (BR 2019)
Credits
Autor dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Markus Mayer
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Merki, Frank Manhold, Jennifer Güzel
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Andrian Kreye, Journalist, Feuilleton-Chef Sueddeutsche Zeitung
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Körpergröße ist eines unserer bestimmenden Merkmale. Was wir sehen, sind die Unterschiede: zu uns selbst, aber auch statistisch. Weil etwa größere Menschen erfolgreicher und gesünder sind. Biologisch bestimmen vor allem die Gene unsere Größe. Doch wie beeinflussen sich Größe und Gesellschaft? Von Sebastian Kirschner
Credits
Autor dieser Folge: Sebastian Kirschner
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Friedrich Schloffer
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Eva Rosenstock, Archäologin (Universität Bonn);
Prof. Dr. Michael Hermanussen, Kinder- und Jugendmediziner;
Dr. Christiane Scheffler, Humanbiologin (Universität Potsdam);
Dr. Gert Stulp, Soziologe (Universität Groningen, NL)
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Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literaturtipps:
- Michael Hermanussen/ Christiane Scheffler, „Größenwahn – Zur Evolution biologischer Signale im sozialen Miteinander“ (Springer-Verlag, ab Oktober 2024): zeigt allgemeinverständlich, auf welche Weise sich Körpergröße auf unseren Alltag auswirkt, wie sie unser soziales, politisches und wirtschaftliches Leben beeinflusst; viele weiterführende Literaturhinweise
- Barry Borgin, „Patterns of human growth“ (2020): Welche Faktoren beeinflussen das menschliche Wachstum und wie spielen sie zusammen? Barry Borgin erklärt es.
- Frank Siegmund, „Die Körpergröße der Menschen in der Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas und ein Vergleich ihrer anthropologischen Schätzmethoden“ (2010): eines der Standardwerke, wenn es um Körpergrößen jenseits der Neuzeit geht – und wo die Probleme liegen, sie zuverlässig zu ermitteln
- John Komlos, „Körpergröße und Wohlstand“ in: Spektrum der Wissenschaft (9) 2005: prägnante und verständliche Sicht eines Wirtschaftshistorikers. Komlos gilt als einer DER Vertreter, dass sich an Körpergrößen ablesen lässt, wie gut es einer Gesellschaft geht
- John Tyler-Bonner, „Why size matters“ (2006): Psychologie und Gesellschaft beiseite; wie anders sich die Physik für die Allergrößten (und Allerkleinsten) auswirkt
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Klein und ein Tyrann. Einer, der seine geringe Größe mit Macht kompensieren musste. Der den Spott über seine kurze Statur mit diktatorischer Härte und der Herrschaft über halb Europa ausgeglichen hat. So ist Napoleon Bonaparte zum Teil bis heute noch im kollektiven Gedächtnis verankert. Körpergröße, die eng mit dem Charakter verbunden scheint. Als sogenannter „Napoleon-Komplex“ hat es dafür zeitweise sogar einen psychologischen Fachbegriff gegeben. Wissenschaftlich ist der zwar überholt – aus der breiten Öffentlichkeit aber längst nicht verschwunden. Denn Körperhöhe bewegt uns, sie ist mehr als nur ein biologisches Maß. Jeder misst Größe eine Bedeutung bei:
ZUSP_01
… dass kleine Männer zum Beispiel energiegeladen bis aggressiv durchsetzungsfähig sind, um irgendetwas zu kompensieren. Dass bei gleicher Qualifikation zweier beruflicher Bewerber auf eine Stelle gerne gerade bei Männern der größere genommen wird, weil Körperhöhe offensichtlich doch irgendwie positiv konnotiert ist.
SPRECHER
Dass Körpergröße unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht beeinflusst, scheint außer Frage zu stehen. Doch offenbar funktioniert das Ganze nicht nur in eine Richtung. Psychologen, Wirtschaftswissenschaftler und Archäologen wie Eva Rosenstock spüren längst weiteren Faktoren von Körperhöhe nach und wie sich die auswirken. Könnte unsere Gesellschaft auch die Körpergröße beeinflussen? Und wenn ja:
ZUSP_02
Woran liegt es? Steckt da auch Kultur drin? Und natürlich: Steckt da auch irgendwie Umwelt drin, im Sinne von Ernährungszustand? All diese Dinge sind noch relativ unerforscht.
MUSIK 2
"Minamisoma" - Album: Grüsse Aus Fukushima (Original Score) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'30
SPRECHER
Eines ist offensichtlich: Körpergröße bestimmt unser Leben. Große Menschen sind statistisch gesehen erfolgreicher als kleinere, Frauen sind im Schnitt kleiner als Männer. Und kleine Kinder wollen oft nur eines: endlich groß sein! Körpergröße ist für uns allgegenwärtig. Für den niederländischen Soziologen Gert Stulp ist auch völlig klar, warum das so ist:
ZUSP_03
height is one of the first things that you notice. height is a very a distinguishing feature. and we cannot help not looking at height
VOICEOVER-männlich
Größe fällt uns sehr schnell auf. Sie ist ein wichtiges
Unterscheidungsmerkmal. Wir können gar nicht anders, als darauf zu achten.
SPRECHER
Mit zwei Metern Größe weiß Gert Stulp, wovon er spricht. Egal, was wir tun, wohin wir schauen – wir nehmen unsere Körpergröße wahr, physisch und psychisch: Etwa, wenn wir ins Auto steigen und erstmal den Sitz verstellen müssen. Oder wenn wir im Bus vielleicht kaum an die Haltestangen reichen. Wenn wir Treppen steigen, am Tisch sitzen oder im Bett liegen: Unsere Umgebung haben wir an Durchschnittswerte unserer Größe angepasst. Und mehr noch: Blicken wir auf unsere Mitmenschen, dann registrieren wir – bewusst oder unbewusst – als eines der ersten Dinge deren Statur. Wollen wir jemanden beschreiben, dann wohl kaum ohne dessen Größe. Nicht umsonst steht sie in jedem Pass. Dementsprechend messen wir ihr auch zwischenmenschlich beim ersten Eindruck so viel Bedeutung bei:
ZUSP_04
If you only have three minutes to judge a person, you will judge a person on easy to measure characteristics. So those are height, weight, the face. But that is also because there are no real alternatives.
VOICEOVER-männlich
Wenn Sie nur drei Minuten Zeit haben, eine Person zu beurteilen, werden Sie auf einfache Merkmale schauen: Körpergröße, Gewicht, das Gesicht. Auch deswegen, weil es keine Alternativen gibt.
SPRECHER
Die Auswirkungen davon sind enorm.
Musik 3:
"Minamisoma" - Album: Grüsse Aus Fukushima (Original Score) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'36
Sprecher:
Wer groß ist, hat es tendenziell besser in unserer Gesellschaft. Immer wieder belegen Studien: Größere Menschen haben tendenziell mehr Sex, finden leichter einen Job, sie verdienen im Schnitt mehr Geld. Selbst unsere Sprache transportiert, wie wichtig groß sein ist: Egal ob jemand einen hohen Status hat oder großes erreichen will – Größe zählt. Und nicht zuletzt leiden etliche, weil sie mit ihrer Statur nicht ins gängige Ideal passen, weiß Archäologin Eva Rosenstock:
ZUSP_05
Zum Beispiel sollte der männliche Partner größer sein als die Partnerin, mindestens gleich groß. Wenn kleiner, wird es eher schwierig oder gilt als mutige Verpartnerung, dass man sich über Schönheitsideale und Vorstellungen hinwegsetzt. Also, das ist ein sehr, sehr starkes Attribut, was einem auch Rollen zuweist in unserer Gesellschaft.
SPRECHER
An unserer Körperhöhe führt also kein Weg vorbei. Sie hat erheblichen Einfluss auf unsere Gesellschaft, unser soziales Miteinander. So weit, so gut. Nun zeigen aber neuere Studien, das Ganze funktioniert wohl auch umgekehrt. Sprich: Unsere Kultur bestimmt maßgeblich, wie groß wir überhaupt werden.
Wie kann das sein? Beißt sich die Katze damit nicht in den Schwanz?
An dieser Stelle eine kurze Wiederholung für alle, die ihren Biologieunterricht nicht mehr so präsent haben:
Musik 4
"Forest Of Fairytales" - Komponist und Ausführender: Lauschgold - Länge: 0'38
SPRECHER
Die Natur gibt unserem körperlichen Wachstum bestimmte Grenzen vor. Physikalische, die den Bauplan unseres Körpers betreffen. Und physiologische, die die Funktionen und Abläufe in unserem Organismus anbelangen. Kurz gesagt: Wir können nicht etwa fünf Meter groß werden – unsere Knochen würden dabei brechen. Wir können auch nicht zehn Zentimeter klein werden – darauf sind etwa Atmung und Blutkreislauf nicht ausgelegt. Das alles ist in unserem Erbgut, unseren Genen festgelegt. Sie geben unsere Größe vor. Und trotzdem, so sagt Kinderarzt und Größenforscher Michael Hermanussen:
ZUSP_07
Der Rahmen ist riesig. Wir können in einem Bereich von etwa 30 Zentimetern wanken. Alles, was wir zwischen 1,40 will ich mal sagen und 1,90 für Männer sehen – es ist im Rahmen unserer Genetik. Nur die Feinabstimmung, die erfolgt dann später.
SPRECHER
Soll heißen: Nach der Geburt und unabhängig von unseren Genen stellt sich heraus, wo wir innerhalb dieser Bandbreite als Erwachsene landen. Ausschlaggebend dafür ist – so die gängige Erklärung:
ZUSP_08
If you will have a good environments when you are young, with many resources available, that will impact your growth.
VOICEOVER-männlich
Wenn Sie in jungen Jahren ein gutes Umfeld haben, mit vielen Ressourcen, dann wird das ihr Wachstum beeinflussen.
Musik 5
"Forest Of Fairytales" - Komponist und Ausführender: Lauschgold - Länge: 0'30
SPRECHER
Und irgendwie scheint das auch ganz gut zu passen: Denn die meiste Zeit in den letzten Jahrtausenden hat sich unsere Durchschnitts-Größe nur mäßig verändert. Erst in den vergangenen 150 Jahren sind wir sehr schnell deutlich größer geworden – weltweit im Schnitt um mehr als zehn Zentimeter. Fachleute wie Eva Rosenstock nennen das die ‚säkulare Akzeleration‘:
ZUSP_09
Was hat sich verändert? Da sehen wir eben Fortschritte in ganz verschiedenen Bereichen. Wir sehen in der Landwirtschaft zum einen Kunstdünger mit höheren Erträgen, auch höherem Proteingehalt, den dann die Feldfrüchte haben, insbesondere die Getreide. Wir sehen eine Intensivierung, eine massive der Milchwirtschaft. Das geht wahrscheinlich Hand in Hand mit dem pasteurisieren können. Dann verbesserte Hygiene, weniger Wachstumsverzögerungen, die einfach entstehen, wenn der Mensch ständig gegen Krankheiten ankämpfen muss.
SPRECHER
Körpergröße ist demnach offenbar eng an unsere wirtschaftliche Entwicklung geknüpft. Kurz gesagt:
ZUSP_10
Es ist ein Wohlstands-Indikator.
SPRECHER
Beispiel Niederlande, also dem Land, in dem gegenwärtig die Menschen weltweit am größten sind. Mit Frauen zuletzt 1,70 Metern und Männern 1,84 Metern, im Schnitt wohlgemerkt. Mitte des 19. Jahrhunderts war das noch anders. Damals maßen sie durchschnittlich knapp 20 Zentimeter weniger, sagt der Niederländer Gert Stulp:
ZUSP_11
the first reason is that the Netherlands have a very good health care system and also very equal access to health care. And this is important because lets take as an example America. The top American healthcare system is probably better than what we get in the Netherlands.
VOICEOVER-männlich
Die Niederlande haben ein sehr gutes Gesundheitssystem und haben einen sehr gleichberechtigten Zugang dazu. Und das ist entscheidend. Beispiel USA: Deren bestes System ist wahrscheinlich besser als unseres hier.
SPRECHER
Aber nur wenige Menschen können sie sich leisten. Wirtschaftswissenschaftler argumentieren, dass US-Amerikaner aufgrund dieser Arm-Reich-Schere heute im Schnitt sechs Zentimeter kleiner sind als Niederländer. Dabei waren sie noch im 19. Jahrhundert die weltweit größten.
Musik 6
"Stones Throw" - Album: Language Barrier - Komponist: Lusine Icl - Länge: 0'31
SPRECHER
Doch ist unsere Körperhöhe dann tatsächlich eine Frage der Wirtschaftsleistung? Ein Zeichen also für unseren Fortschritt und stetig wachsenden Wohlstand? Oder ist sie vielleicht eher von der Kultur, der Gesellschaft abhängig? Weil die zum Beispiel darüber bestimmt, wer wie viel Zugang zu Ressourcen bekommt. Das hat sich unter anderem auch Archäologin Eva Rosenstock gefragt:
ZUSP_12
Können wir das quasi als so ein Bruttoinlandsprodukt-Ersatz für die Vorgeschichte verwenden? Das war die ursprüngliche Idee. Und je weiter wir geforscht haben, wurde uns immer klarer, dass so ein eindeutiges Bild, wie das Wirtschaftshistoriker zeichnen können, das hat sich halt für die Vorgeschichte gar nicht so abgezeichnet.
SPRECHER
… sagt die Forscherin von der Universität Bonn – laut Pass übrigens 1,66 Meter groß. Doch zurück zum Thema. Was hat sie mit Kollegen aus Österreich und den USA genau untersucht? Die Genetiker und Altertumswissenschaftler haben Daten von über 1.500 Skeletten ausgewertet, allesamt zwischen 6.000 und 8.000 Jahren alt. Gefunden bei Grabungen in Mitteleuropa, auf dem Balkan und im Mittelmeerraum. Knapp 130 Proben stammen auch aus der Gegend des heutigen Sachsen-Anhalt. Sie gehören zu Menschen aus der Gruppe der sogenannten Linienbandkeramik:
ZUSP_13
Die sind in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrtausends aus Südosteuropa nach Mitteleuropa zu uns gekommen und haben die bäuerliche Lebensweise, also Viehhaltung und Pflanzenbau, zu uns gebracht.
SPRECHER
Das besondere dieser Linienbandkeramiker: Sie besiedelten nahezu ausschließlich Gegenden mit fruchtbarem Lössboden. In dem erhalten sich Knochen meist sehr gut. Deshalb kann man mit ihnen auch gut ermitteln, wie groß die Menschen waren.
ZUSP_14
So durch die Bank rum haben wir, dass Männer irgendwo um die 1,65 bis maximal 1,70 rangieren und Frauen doch deutlich drunter. 1,55, maximal 1,60. Auf jeden Fall deutlich kleiner als das, was wir heute so gewohnt sind.
SPRECHER
Gleichzeitig ergab sich anhand genetischer Proben aber: Die Menschen haben ihr vorgegebenes Wachstumspotenzial damals nicht ausgeschöpft – genetisch hätten sie größer sein können. Warum also waren die Männer und Frauen damals relativ klein? Zum Teil liegt das nach Ansicht der Wissenschaftler an der damaligen Umwelt und Lebensweise: Körperliche Schwerstarbeit beim Ackerbau, aufwendige und in reiner Handarbeit konstruierte Häuser – tagtäglich enorme Belastungen, die sich auch auf die Körpergröße ausgewirkt haben müssen. Allerdings reicht das nicht, um zu erklären, was Eva Rosenstock noch festgestellt hat – beim Vergleich von nördlichem Mitteleuropa und Mittelmeerraum:
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Was auffällig war: dass die mediterranen Männer und Frauen ein- und derselben Kulturzeit weniger starke Unterschiede aufweisen als die Bandkeramiker.
SPRECHER
Soll heißen: In der Gegend des heutigen Sachsen-Anhalt waren die Frauen deutlich kleiner als Männer, im Süden dagegen waren Frauen und Männer annähernd gleich groß. An Ernährung, Krankheiten oder Mangelzuständen kann das aber nicht gelegen haben, sagt die Archäologin. Das lässt sich aus den Analysen von in den Knochen eingelagertem Kohlenstoff und Stickstoff ableiten. Die zeigten keine auffälligen Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
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Sodass wir jetzt einfach den Schluss ziehen müssen: Da muss es irgendetwas geben, was kulturell getrieben auf die Körperhöhe einwirkt und werdende Männer begünstigt und werdende Frauen benachteiligt hat.
SPRECHER
Die plausibelste Erklärung für die Wissenschaftler ist, dass Frauen weiter im Norden offenbar mehr leisten mussten als Männer.
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Was wir wissen, ist, dass die Bandkeramiker ihre Frauen von woanders hergeholt haben. Und da kann man dann so sich Szenarien ausspinnen, wie ist das für so eine junge Frau, die verheiratet wird, den Ort wechselt? Das ist eine emotionale Belastung. Gab es schon so etwas wie Teenager-Schwangerschaften? Also eine Kombi aus früher Schwangerschaft, man wächst selber noch und muss aber auch schon arbeiten.
MUSIK 7
"Stones Throw" - Album: Language Barrier - Komponist: Lusine Icl - Länge: 0'30
SPRECHER
Belegen können die Forschenden um Eva Rosenstock diese Theorie derzeit noch nicht. Es mehren sich aber die Hinweise darauf, dass nicht nur Wohlstand und Umwelt, sondern auch der kulturelle Rahmen eine wichtige Rolle dabei spielt, wie groß wir werden. Und diese Hinweise kommen auch aus anderen Disziplinen.
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Früher fühlte ich mich eigentlich mittel bis eher klein. Und ich erinnere mich noch, als wir in der Schule so aufgereiht wurden im Sportunterricht, dass ich immer am unteren Ende war und wir immer hoffentlich nicht die letzten waren.
SPRECHER
… erzählt Christiane Scheffler. Sie ist Humanbiologin an der Universität Potsdam und Körpergröße ist eines ihrer großen Forschungsgebiete. Zusammen mit Kinder- und Jugendmediziner Michael Hermanussen spürt sie seit Jahrzehnten menschlichem Wachstum nach. Was groß zu sein für Menschen in unserer Gesellschaft bewirkt und bedeutet ist ihr daher vertraut:
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Aber es ist nicht klar gewesen, warum die groß sind. Man ging davon aus, dass sie große Eltern haben, es die Gene sind. Und man ging davon aus, dass die besser ernährt wurden.
SPRECHER
Und dass in der Folge unsere Körpergröße dafür sorgt, wie unsere Gesellschaft reagiert. Ob wir als attraktiv gelten, Erfolg, Ansehen, Einfluss bekommen oder eher nicht. Doch die Forschung von Michael Hermanussen und Christiane Scheffler zeigt: Genetik und Ernährung sind zwar Voraussetzungen, um groß werden zu können – aber sie sind nicht der Auslöser für das Wachstum:
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Was wir meinen ist, dass die Regulation der Körpergröße gesellschaftlich und sozial bedingt ist. Sicherlich haben Sie einen gewissen genetischen Rahmen, wie groß sie werden können. Der ist aber nicht so unterschiedlich in den einzelnen Bevölkerungen, wie wir vermuten könnten. Und wenn sie nicht ihr ganzes Leben lang extrem hungern, ist die Ernährung mehr oder weniger marginal, dass sie einen Einfluss auf die Körperhöhe hat.
SPRECHER
Soziale Interaktion mit unserer gesellschaftlichen Umwelt als Schlüssel zu unserer Körpergröße – dieses anfängliche Gedankenexperiment sorgte in der Fachwelt zuerst für Aufregung. Nach über 20 Jahren Forschung dazu und mit rund 80.000 untersuchten Individuen ist das mittlerweile anders:
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Unsere Idee, die setzt sich so langsam durch. Manche belächeln uns. Es kommt so langsam durch.
SPRECHER
Mit einem Sachbuch wollen sie ihre Erkenntnisse künftig auch einem breiteren Publikum zugänglich machen.
MUSIK 8
"Minamisoma" - Album: Grüsse Aus Fukushima (Original Score) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'33
SPRECHER
Die Kernaussage: Größe ist ein biologisches Signal. Und das müssen wir verstehen, damit wir unser menschliches Miteinander besser verstehen:
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Dass Körperhöhe ein Signal ist, sehen Sie an jeder Frau, die sich Hackenschuhe anzieht. Das sehen Sie an jedem König, der eine Krone aufsetzt. Immer ein Stückchen größer, immer ein Stückchen größer.
SPRECHER
Über dieses Signal kommunizieren wir und formen unsere sozialen Strukturen und Hierarchien.
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Sie können das signalisieren, indem Sie sprechen und sagen: Ich bin der Chef. Aber eine einfache Signalgebung ist die Körperhöhe als ein Signal, ich bin größer. Und weil ich größer bin, habe ich mehr zu sagen.
SPRECHER
Ein Muster, das aus Sicht der Wissenschaftler tief in uns verwurzelt ist. Ein Stück Evolution, das wir mit vielen anderen Tierarten teilen.
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Und dieses Muster ist auch an bestimmte hormonelle Signale gebunden. Wir wissen von Primaten-Untersuchungen, dass die Organismen, die diesen dominanten Status erreichen und auch größer als Signal haben, höhere Insulin like growth Faktoren haben, also IGF-Faktoren haben. Und in dem Moment, wo sie die Position verlassen, schrumpfen sie nicht, aber das IGF-Level geht runter.
SPRECHER
Die Wachstumshormone wirken nicht weiter. Anders ausgedrückt: Es ist die Hoffnung auf Dominanz, die zu größerer Körperhöhe führt. Und das passiert in der Kindheit und vor allem der Jugend, also der Zeit, in der wir noch wachsen.
ZUSP_25
In dieser Zeit nehme ich schon sehr wohl wahr, wo potenziell meine zukünftige Position sein könnte. Wenn Sie in der unteren sozialen Schicht sind und Sie haben keine Chance auf soziale Mobilität, dann nehmen Sie natürlich auch als Jugendlicher wahr, dass Sie keine Chance auf soziale Mobilität haben und nischen sich da ein.
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Und wenn die jungen Leute merken, dass sie eine goldene Zukunft haben, dann wachsen sie besser.
SPRECHER
… sagt Michael Hermanussen. Übertragen auf die Gesellschaft würde das auch erklären, was wir zuvor als säkulare Akzeleration kennengelernt haben. Nur dass die Menschen nicht während einer Glanzzeit wachsen, sondern um und kurz nach einem Tiefpunkt:
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Wir sehen, dass Menschen in einem Land immer dann wachsen, wenn die soziale Ordnung zusammenbricht. Die Deutschen haben einen unglaublichen Wachstumsschub gegen Ende des Ersten Weltkriegs in der Mitte der 20er-Jahre. Dasselbe ist noch mal nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben einen massiven säkularen Trend nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Also zu einer Zeit, als es den Leuten wirklich ganz dreckig ging im Land. Aber die Jugendlichen das Gefühl hatten, jetzt geht's aber los. Jetzt kann man was machen.
SPRECHER
Mit Ökonomie und Ernährung habe das aber nichts zu tun, so Hermanussen. Gleiches zeigen Christiane Scheffler zufolge auch die Daten zu den Niederlanden:
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Die Holländer, wenn man ein bisschen die Geschichte sich anguckt, haben die zwar bis heute noch eine Monarchie. Aber sie haben eine konstitutionelle Monarchie. Dort war eine Demokratisierung, und dann fingen die Leute an zu wachsen.
Musik 9
"Forest Of Fairytales" - Komponist und Ausführender: Lauschgold - Länge: 0'47
SPRECHER
Tatsache ist, dass in Europa inzwischen immer mehr Menschen 1,90 Meter und größer werden. Immer mehr also die Grenze dessen erreichen, was unsere Biologie hergibt und damit gesund möglich ist. Doch das sei eine Ausnahmesituation, so Michael Hermanussen, denn:
Historisch betrachtet war die Aussicht sozial aufzusteigen nie größer. Gleichzeitig hatten wir mit einer derart globalisierten Welt auch noch nie so viele, mit denen wir konkurrieren.
Die spannende Frage ist nun: Was bedeutet das alles? Was sagt uns dann Körpergröße überhaupt? Körpergröße muss differenziert gesehen werden, findet Christiane Scheffler:
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Erstmal würde ich sagen, ist sie mit Sicherheit kein Indikator über den Wohlstand per se einer Gesellschaft. Zweitens ist sie kein Indikator für die individuelle Ernährungssituation.
SPRECHER
Und auch Soziologe Gert Stulp schränkt ein:
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All of that might lead you to conclude that height is very important in contemporary society. And maybe it is. But we also should not overstate this.
VOICEOVER-männlich
Unsere Gesellschaft lässt uns vielleicht glauben, Körpergröße sei sehr wichtig. Aber wir sollten sie auch nicht überbewerten.
SPRECHER
Alle Studien und Statistiken darüber, wie sich unsere Körpergröße gesellschaftlich auswirkt – Erfolg, Ansehen, Sexappeal – haben in seinen Augen einen gravierenden Haken: Sie geben nur Tendenzen wieder. Tendenzen, die sich durch beständiges Wiederholen ihrer Aussage verstärken können, wie selbst erfüllende Prophezeiungen. Tendenzen, über die wir aber im Zweifel erhaben sind, weil wir sie mit unserer freien Entscheidung selbst beeinflussen.
Beispiel Schönheitsideal: Solange wir festhalten an der Idee, dass der Mann größer zu sein hat als seine Partnerin, solange stützen wir auch einen Trend dahin, glaubt Eva Rosenstock.
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Wir könnten uns trennen von dieser Idee, dass der Mann 10 Zentimeter größer sein muss als seine Partnerin. Dass man sich selber auf die Schliche kommt.
SPRECHER
Der mögliche Lösungsansatz klingt bestechend einfach: Sich bewusst zu machen, was es mit unserer Körpergröße auf sich hat oder eben auch nicht – und so aus dem Kreislauf auszubrechen. Diese Vorstellung macht Eva Rosenstock zumindest sehr neugierig:
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Dass jetzt seit etlichen Jahrzehnten Mädchen einen Wertschätzungsboom erleben, die Girls Days und all diese Sachen. Ich wäre echt neugierig zu sehen, ob das auf Gesellschaftsebene gesehen dann auch irgendwann in der Körpergröße Früchte trägt.
Musik 10
"Minamisoma" - Album: Grüsse Aus Fukushima (Original Score) - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'37
SPRECHER
Abgesehen davon bleibt uns wohl auch nicht viel anderes übrig, als kraft unserer Vernunft den Größenwahn zu durchbrechen. So urteilen jedenfalls Michael Hermanussen und Christiane Scheffler. Unsere Körpergröße ist ein Signal, mit dem uns unsere Biologie ausgestattet hat. Ein evolutionäres Überbleibsel, wenn wir so wollen. Groß oder klein zu sein hat demnach an sich keine Bedeutung.
Wer denkt, Eiscreme verführt die Menschen erst seit der Erfindung der Tiefkühltruhe, der irrt. Schon vor 5000 Jahren sollen die alten Chinesen daran genascht haben. Seither erscheint die Eiscreme in stets neuem Gewand und ist weltweit heißgeliebt - ob als Eis am Stiel, Konfekt oder im Becher mit Sahne. Von Susanne Hofmann
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Jerzy May
Technik: Simone Lobenhofer
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
PD Dr. Heiner Stahl, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Siegen
Dr. Fritz Treiber, Molekularbiologe Universität Graz, dort auch Koordinator für Ernährung, Gesundheit und Konsum
Giorgio Ballabeni, Eismacher in München
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
1. ZUSPIELUNG (Eisdiele - Aufnahme 25 Eisdiele)
0:29 Ich hätte gern einmal Mango-Maracuja, einmal Pistazie
0:55 Rote Früchte und Pistazie bitte.
2:01 Ich hätte gerne Schokolade und Rose
Was bekomme ich? Rote Früchte, Schokolade und Pistazien
ERZÄHLERIN
Aus den Edelstahlbehältnissen in der großen Vitrine leuchten sie einem entgegen: zwei Dutzend Eissorten, Sorbet und Milcheis - Pistazie, Schokolade, Vanille, Himbeere, Melone ... Davor hat sich eine Schlange gebildet, bis hinaus auf den Gehweg in der Münchner Maxvorstadt. Und in einem Nebenraum, in der Werkstatt des Eismachers Giorgio Ballabeni [spricht man wie geschrieben], hat sich eine Handvoll Gourmets und Hobbyköche versammelt. Sie wollen das Geheimnis der Eiscreme lüften.
2. ZUSPIELUNG Aufnahme 15 0:30
„Das war immer was Besonderes, also von klein auf. Eine Kugel hat damals 25 Pfennige gekostet. Und dann gab es damals nur fünf Eissorten. Und dann ist man davorgestanden, hat sich die Nase plattgedrückt und hat dann seine Lieblingseissorte dann gern bekommen. Herrlich“
2b) Aufnahme 5 Minidialog
0:12 „Wir haben zuhause eine Eismaschine und machen gerne selber Eis. Und meine Frau mag sehr gerne Schokoladeneis und die meisten Schokoladeneis, die haben jetzt Stückchen drin. Und das verstehen wir nicht. Wir wollen also einen Schokoladeneis ohne Stückchen selber machen. (0:30) Was ich halt so gerne mag, ist Schokoladeneis mit Sahne. Und das ist dann so ein zarter Schmelz im Mund, und wenn ich Stückchen drinnen hab, dann passt das nicht. - Und das mit Stückchen drin, das ist vielleicht eine amerikanische Eigenart, also mit irgendwelchen Keksen oder sowas. Deshalb nix mit einem richtig guten Eis zu tun.“
MUSIK: „Morgenstrahlen“ – (0:15)
ERZÄHLERIN
Richtig gutes Eis – wie man das selbst macht, wollen sie von ihm lernen: dem Eismacher Giorgio Ballabeni, geboren in Padua und mit seiner Eisdiele seit Jahrzehnten eine der ersten Adressen für Eisgenuss in München.
3. ZUSPIELUNG Ballabeni 4) 1.10
„Man braucht 3 Faktoren um eine perfekte Eis – Technologie, Tesoro, den Wert von den Rohstoff und Talent, 3 T.
ERZÄHLERIN
In der Mitte des kleinen hellen Raumes: Eine große Arbeitsfläche, darauf blitzen große Edelstahltöpfe. Griffbereit: Küchenwaage und Mixer. In die Arbeitsfläche eingelassen: mehrere Eis-Behälter. Hier entsteht in den nächsten drei Stunden frisches Schokoladen-, Pistazien-, Cappuccino- und Vanilleeis sowie Himbeer- und Zitronensorbet.
4. ZUSPIELUNG 10) 0.2 Szene: Ballabeni –
„Als erster Schritt ist Wasser, wir wiegen Wasser…“ - Atmo liegenlassen
ERZÄHLERIN
Der Maestro hantiert mit dem Saft von erntefrischen Zitronen aus Sizilien, verschiedenen Arten von Zucker und fügt einige Tropfen ätherisches Zitronenöl hinzu. Alles wird in einem großen Chromtopf aufgekocht und dann mit dem Mixer zu einer homogenen Masse verrührt.
MUSIK: „Morgenstrahlen“ – (0:12)
Auch wenn wir Eis mit Italien assoziieren und die meisten Eisdielen hierzulande traditionell in italienischer Hand sind – erfunden wurde die Eiscreme nicht jenseits der Alpen, sondern
MUSIK: „China“ – (0:15)
ERZÄHLERIN
in China und das wohl schon vor rund 4.000 Jahren. Dass hier die Anfänge der eisgekühlten Süßspeise liegen, sagt auch der Molekularbiologe Fritz Treiber von der Universität Graz. Er führt seine Studentinnen und Studenten regelmäßig durch die Weltgeschichte der Ess- und Tischkultur.
5. ZUSPIELUNG Fritz Treiber 0:50
„Und da ist natürlich Eis auch ein Thema, … 1:56 Das ist immer schwierig, man braucht ja Quellen dazu, wo jemand was notiert hat, was da gegessen wurde, und die noch vorhanden sind, die stammen aus China. Wo eben Eis oder Schnee dann vermischt wurde mit Honig und Früchten. Und das war wirklich nur eine Speise für also für Könige, für Kaiser, beziehungsweise dann für wirklich gehobene Schichten, weil natürlich Eis selten oder weit hertransportiert hat müssen, und ja, das war wirklich eine Speise für Leute, die damals schon viel Geld gehabt haben.“
ERZÄHLERIN
Die Chinesen legten Höhlenkeller zum Konservieren von Lebensmitteln an. Darin bewahrten sie große Eisblöcke auf, die sie im Winter aus zugefrorenen Seen oder Flüssen gehauen hatten. Diese Eishöhlen fungierten als riesige Kühlschränke. Als besondere Köstlichkeit galt in ihnen, einige Jahrhunderte später, eisgekühlter Brei aus zerkochtem Reis, Gewürzen und Milch. Wenig später begannen auch die Menschen weiter westlich, sich für eine frühe Form von Eiscreme zu erwärmen, sagt Fritz Treiber von der Universität Graz:
6. ZUSPIELUNG Fritz Treiber 5.35
„Es ist überliefert, so im fünften vorchristlichen Jahrhundert, dass im Perserreich auch schon Eis gegessen wurde, da waren es dann Kombinationen mit Rosenwasser, mit Safran und Obst. Ja, also sehr, sehr exklusiv auch. Aber natürlich auch wohlschmeckend. Und es ging dann weiter – Alexander der Große soll sich auch am Eis erfreut haben. In Griechenland der Antike wurde Eis gegessen, und auch bei den Römern stand es auf der Speisekarte.“
MUSIK: „Awakening“ – (1:05)
ERZÄHLERIN
Hippokrates, der berühmte Arzt des Altertums und Verfechter der Säftelehre, lobte Gefrorenes als Wohltat für den Körper – es belebe die Säfte, befand er. Gut 500 Jahre später, kurz nach Christi Geburt, herrschte in Rom Kaiser Nero. Er soll sich von Staffelläufern Schnee von den Bergen gebracht haben lassen. Eine Butte mit der eiskalten Fracht wurde immer weitergegeben, so dass Nero im heißen Rom seinen Gästen exklusiv erfrischendes Eis, damals wohl eine Sorbet-artige Speise, servieren lassen konnte. Vermutlich wurde das Eis kleingestoßen und als körnige Masse vermischt mit Früchten und Honig gereicht. Eine Art frühe Granita, wie man sie heute noch in Italien bekommt. Mit dem Ende des Römischen Reichs verlieren sich vorerst die Spuren der Eiskultur im Westen.
7. ZUSPIELUNG Fritz Treiber 8:00
„Und erst viel, viel später ja, da sind wir schon in der Renaissance, ist man dann draufgekommen: Man gibt noch a Milch, Fett, Rahm dazu und dann Früchte und rührt das Ganze auf. Und dann kommt so was, was wir jetzt als Eis kennen, so was Cremeartiges, das man dann löffeln kann. Aber bis dorthin war das ein langwieriger Prozess, weil es auch keinen Kühlschrank gegeben hat, das darf man nicht vergessen, und kein Gefrierfach. Das heißt, da ist man immer angewiesen auf Eisblöcke, die man im Winter gesammelt hat, irgendwo in einen großen Keller gegeben hat und dann von dort des Eis dann verarbeitet hat, und somit war es immer ein rares Gut und natürlich nur einer gewissen Herrschaftsschicht, Adelsschicht oder sehr sehr reichen Bürgertum vorbehalten.“
MUSIK: „Morgenstrahlen“ – (0:25)
ERZÄHLERIN
Ganz anders heute, wo man Eis in jedem Supermarkt und an jeder Straßenecke bekommt. Der Kurs von Giorgio Ballabeni für angehende Eismacherinnen und Eismacher ist allerdings eine durchaus exklusive Veranstaltung. Schließlich teilt der Meister hier seine Rezepte, an denen er Jahrzehnte lang gefeilt hat. Nach einer Stunde bekommen die Teilnehmer eine erste Kostprobe vom frisch zubereiteten Zitronensorbet:
8. ZUSPIELUNG 3.55
„Ausgesprochen lecker, das Zitronensorbet hat genau die richtige Säure, dass es noch nach Zitrone schmeckt, aber eben nicht bitter, sondern total erfrischend, …
ERZÄHLERIN
Weniger freigiebig gingen die Köche im Europa der Renaissance mit den Rezepten ihrer Eiskreationen um. Sie waren ein wohlgehütetes Geheimnis. Eisgenuss blieb der gehobenen Küche vorbehalten. Im 16. Jahrhundert erfuhr die Eiscreme in Italien eine wichtige Weiterentwicklung – erstmals verwendeten die Italiener Milch als Zutat. Und in Rom machte ein Arzt eine bahnbrechende Entdeckung: Blasius Villafranca bemerkte, dass sich Wasser abkühlen ließ, indem man Salpeter oder Salz beimengte. Diesen Effekt nutzte man ab sofort für die Herstellung von Eis. Wie sie funktioniert, erklärt der Historiker Dr. Heiner Stahl vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen. Er forscht zu Sinnes- und Geschmacksgeschichte und zur Geschichte der Eiscreme:
9. ZUSPIELUNG 16:13 Stahl
„Also stellen Sie sich vor, Sie haben einen Holzzuber, einen relativ großen. Und da tun Sie Wasser rein, da tun Sie gehacktstücktes Natureis rein und Salz. Es heißt also es ist eine Salz-Wasser-Eis-Lösung, … und das rühren sie im Kreise, dass das sozusagen in Bewegung ist, … dann stellen Sie in die Mitte einen Messingbüchse, und in diese Messingbüchse haben Sie das hineingetan, was Sie gefrieren lassen wollen. … das haben Sie vorher aufgekocht, und diese noch warme Masse kommt dann in diese Messingbüchse, und dann wird es physikalisch: Nämlich die Hitze wird durch das Metall abgeleitet nach außen, … wird in dieser Salzwasserlauge gespeichert, und an der Innenseite von dieser Büchse gefriert dann diese Masse.“
ERZÄHLERIN
Es findet also ein Wärmeaustausch statt, die Kälte gelangt nach und nach in die Eiscreme. Diese entsteht ganz langsam dadurch, dass das Gefrorene ständig von der Innenwand des Gefäßes abgeschabt und in die weniger kalte Masse untergemischt wird, bis die gesamte Creme allmählich von Kälte durchdrungen ist. Seit Villafrancas Entdeckung ist nun also – auf den ersten Blick paradox – Salz die wichtigste Zutat im Herstellungsprozess der Süßspeise Eis.
Die Kühlmethode mittels Salz ermöglichte es den Florentiner Konditoren, das weltweit erste Speiseeis von fester Konsistenz herzustellen. Bis heute funktionieren Eismaschinen übrigens nach dem gleichen Prinzip mit einem doppelwandigen Gefäß: In das äußere Gefäß kommt Kühlflüssigkeit, im inneren entsteht durch Abkühlung und ständiges Rühren das Speiseeis.
MUSIK: „Nahe Ferne“ – (1:55)
ERZÄHLERIN
Von Italien aus gelangten die Eis-Rezepte nach Frankreich – eine Art Mitgift von Katharina von Medici aus Florenz, die 1533 den späteren König von Frankreich heiratete. Sie wollte, so heißt es, den Franzosen die Überlegenheit der Esskultur ihres Landes vor Augen und Gaumen führen. Französische Konditoren entwickelten daraus die Eisbombe, eine besonders raffinierte Kreation, die aus mehreren Schichten von Eiscreme unterschiedlicher Geschmacksrichtungen bestand. Eines der ersten erhaltenen Rezepte für Eiscreme stammt aus einem französischen Kochbuch aus dem Jahr 1682 – es trägt den poetischen Namen „Schnee von Orangenblüten“:
ZITATOR
„Nimm süße Sahne und gib hinein zwei Handvoll feinen Zucker und nimm die Blütenblätter von Orangenblüten und hacke sie klein und gib sie in die Sahne… und fülle alles in einen Topf und gib den Topf in einen Weinkeller; und du musst Eis klein hacken, es mit Salz vermischen und daraus ein Bett auf dem Boden des Weinkühlers machen, bevor du den Topf hineinstellst. … Und du musst weiterhin eine Lage Eis vermischt mit einer Handvoll Salz hineingeben und dies wiederholen, bis der Weinkühler gefüllt und der Topf bedeckt ist und du musst das Ganze an den kühlsten Ort stellen, den du finden kannst und du musst es ab und an schütteln, damit es nicht zu einem harten Eisblock friert. Es wird etwa zwei Stunden dauern“
ERZÄHLERIN
Dieses Rezept zeigt, warum Eis noch bis ins 18. Jahrhundert eine höchst exklusive Speise war, die selbst an einer fürstlichen Tafel nur selten gereicht wurde. Der Historiker Heiner Stahl von der Universität Siegen:
10. ZUSPIELUNG Stahl 5.00
„Das Besondere am Eis oder Gefrorenen ist meiner Ansicht nach, dass es vor allem so viel Zeit in Anspruch nimmt, das herzustellen. Das heißt also, in einem ganz normalen täglichen Ablauf an so einem Fürstenhof kostet es viel zu viel Zeit, Gefrorenes herzustellen. … Dieser Zeitaufwand ist natürlich viel einfacher auszugleichen, wenn man das von einem Konditor einkauft, der in einer Residenzstadt seine eigene Konditorei betreibt
ERZÄHLERIN
Konditoren oder Zuckerbäcker, aber auch Lebküchner zählten zu den ersten professionellen Eismachern der frühen Neuzeit, so Heiner Stahl:
11. ZUSPIELUNG Stahl 6:21
„Wer mit diesen ganzen Backwaren oder Konditoreiwaren zu tun hat, der sammelt im Laufe des Berufslebens natürlich Kenntnisse und wendet die halt an. Und ob man da jetzt Brezeln macht, irgendwelche Kringel oder Baisé oder halt Gefrorenes, ist alles eine Frage des Wissens, des Übens, des Zeithabens und vor allem auch der Aufträge.“
ERZÄHLERIN
Unter den Konditoren oder Zuckerbäckern im 18. Jahrhundert finden sich laut den Recherchen von Heiner Stahl auch viele Frauen. Seine Erklärung: Der Beruf gehörte keiner Zunft an, bot also eine Nische. Frauen wuchsen oft in das Gewerbe hinein und führten dann auch die Geschäfte. Das zeigen Rechnungen und Schriftverkehr mit Behörden. Es ist anzunehmen, dass die Konditoren in ihren Werkstätten die Kunst des Eismachens immer weiter verfeinerten:
12. ZUSPIELUNG Stahl 10:57
„Die Werkstatt ist dann quasi ein Laboratorium, wo man neue Sachen erfindet oder kombiniert oder wo man ausprobiert, entweder anhand von einem Kochbuch, was jemand anderes geschrieben hat, oder weil man selber vielleicht an einem Fürstenhof oder einem Bürgerhaushalt selber gelernt hat und sein Wissen mitgenommen hat oder in einem Restaurant oder einen Gasthof schon gearbeitet hat.“
MUSIK: „innovative beginning“ – (0:25)
ERZÄHLERIN
Von Italien aus eroberte die Eiscreme ganz Europa, später auch Amerika. Italienische Eisverkäufer gehörten in London genauso wie in Übersee im 18. Jahrhundert zum Stadtbild. Sie boten ihre Eiscreme aus gekühlten Behältern auf der Straße an und machten sie so auch einfachen Leuten zugänglich. In den USA wurde der Eisgenuss also zu einem demokratischen Vergnügen. Lange konnte Eis aber nur in kleinen Mengen und in einem aufwändigen Prozess zubereitet werden.
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Das änderte sich 1843, als Nancy Johnson aus Philadelphia ein Gefriergerät patentieren ließ: Eine Art großer Eimer für die Salzlake, in dem sich ein verschließbarer zylindrischer Behälter für die Eismasse befand. Der Clou: Die Eismasse wurde mechanisch per Handkurbel gerührt. Wenige Jahre später machte eine Weiterentwicklung ihrer Maschine eine effizientere Kühlung möglich – nun konnte man große Mengen Eiscreme mit feiner Konsistenz herstellen. In den USA etablierte sich auch der erste erfolgreiche Großproduzent von Eiscreme: Jacob Fussell [Aussprache englisch], ein Milchhändler aus Baltimore, ließ seinen Sahneüberschuss zu Eiscreme verarbeiten. Er war mit seinem Produkt so erfolgreich, dass er dem Molkerei-Business den Rücken kehrte, um sich ganz auf die Herstellung von Speiseeis zu konzentrieren. Er eröffnete die ersten Eisfabriken unter anderem in Washington, Boston und New York.
Die Industrialisierung der Eisproduktion bewirkte zunächst einmal einen Qualitätssprung: Die Grundmasse konnte schneller und stärker gekühlt werden, und damit erreichte man, dass die Eiskristalle sehr fein blieben. Und durch den Zusatz von Gelatine und Milchpulver erhielt industriell hergestellte Eiscreme eine besonders sämige Konsistenz.
Parallel zur Massenproduktion in den USA gedieh in Deutschland um 1900 die Eismanufaktur in kleinen Werkstätten in der Nähe von zentralen Marktplätzen, sagt der Historiker Heiner Stahl. Eis „to go“ war also damals schon Mode.
14. ZUSPIELUNG Stahl 39:37
„Was die Porzellanschale um 1830 war es dann um 1900 eine Eiswaffel Und dann gibt es kleine Zinnlöffelchen, … Und dann müssen sich das ungefähr so vorstellen: Sie haben eine Straßenecke, wo so eine Person mit einem Eiswagen steht. Da gehen Leute hin, kaufen sich Eis, lassen die Zinnlöffelchen fallen. Die Zinnlöffel kosten relativ viel Geld. Und dann sagen Sie zu den Kids, die rumspringen und rumlungern, wenn ihr mir 30 von diesen Löffelchen bringt, kriegt ihr noch mal eine Extrakugel. Diese 30 Löffel… werden dann ein bisschen ausgewaschen und dann wieder den anderen Leuten angeboten. Es ist also unter hygienischen Aspekten eine riesige Sauerei.“
ERZÄHLERIN
Außerdem ist das Eis, das damals feilgeboten wurde, alles andere als natürlich, so der Eisforscher.
15. ZUSPIELUNG Stahl 37.08
„Um 1900 habe ich Lebensmittelaromen, habe ich Lebensmittelfarbstoffe, da habe ich verschiedene chemische Zusatzstoffe, um das Ganze schneller gefrieren zu lassen und ums länger gefroren zu halten. Diese Eismasse um 1900 ist gestreckt, sie ist chemisch, sie ist übersüßt. Sie hat eigentlich gar nichts mehr mit dem zu tun, wie man um 100 Jahre vorher das Eis gemacht hat.“
ERZÄHLERIN
Der richtige Durchbruch von Eis kam noch später, weit nach dem zweiten Weltkrieg, als sich ein gewisser Wohlstand verbreitete und Kühlschränke in die Haushalte einzogen. Nun konnte man Eis nicht nur in Eisdielen schlecken, sondern auch im Supermarkt einkaufen und dann nach und nach zuhause als Nachspeise verzehren. Beim Eis entstand eine Hierarchie – es gab, in der gehobenen Preisklasse, aus natürlichen Zutaten hergestelltes Eis, und günstigere Sorten von minderer Qualität, die mit Zusatzstoffen und künstlichen Aromen versetzt waren. Alle fanden ihre Abnehmer – denn Eis hat einen ganz eigenen Reiz, erklärt der Molekularbiologe Fritz Treiber von der Universität Graz:
16. ZUSPIELUNG Treiber 9:35
„Beim Eis der eigentliche Effekt ist ja, wir überlisten unser Gehirn beziehungsweise auch unsre Geschmackssensoren. Wenn wir ein normales Creme-Eis nehmen, nehmen wir das in den Mund oder schlecken einmal ein Stück herunter, und … am Anfang schmeckt man ganz kurz noch nichts. Dann, durch die Wärme im Mund, schmilzt das Eis, die Aromen werden auf einen Sitz frei, der Zucker kommt auf die Zunge. Da sind die Geschmackssensoren - süß. Die geben sofort den Reiz weiter, die anderen Aroma-Moleküle gehen dann über das retronasale Riechen, das heißt im Mundraum so hinten, den Rachen rauf zur Nase, dort werden dann die Rezeptoren für die verschiedenen Aromen eben angeregt, und im Gehirn wird dann schnell zusammengebaut… und dann kommt der Geschmack zustande - ... Ja und in der Kombination mit Zucker, das ist ja regt unser Hirn an als Belohnung und natürlich dann das Fett, also zum Beispiel Milch oder mit Sahne, dann haben wir das Fett auch noch dabei, auch das löst Belohnungssignale im Hirn aus. Und das ist dann auch ideal, dass man davon noch einmal mehr isst.“
MUSIK: „Morgenstrahlen“ – (0:25)
ERZÄHLERIN
Diesen Effekt kennen auch die Eisfans im Kurs von Giorgio Ballabeni. Sie sind inzwischen bei ihrer fünften Sorte angekommen, immer streng nach Rezept. Bis aufs Gramm genau wird jede Zutat abgewogen. Das Ergebnis soll schließlich harmonisch, cremig und aromatisch sein. Zucker, erklärt der Eismacher, braucht es nicht nur für die Süße, sondern mindestens genauso:
17. ZUSPIELUNG Aufnahme 11 - 0.10 Italiener über Zucker
„für die Weichheit, also Gefrierschutz-Wirkung. Also jede Zucker hat eine bestimmte Wert in Süße-Intensität und Weichheit-Potenzial. Deswegen muss beide kenne um die perfekte Texture, also wenn perfekt ist die Texture ist cremig und schön, wenn nicht perfekt ist o lala.
ERZÄHLERIN
Nach drei Stunden Intensivkurs inklusive Verkostung lautet die Erkenntnis bei den Eiskurs-Teilnehmerinnen und -teilnehmern: Geschmack, Konsistenz und Temperatur auf den Punkt zu treffen, ist fast schon eine Wissenschaft für sich:
MUSIK: „Morgenstrahlen“ – (1:10)
18 . ZUSPIELUNG Aufnahme 22 2:08
„nicht, wie man sich den Italiener vorstellt, einfach nach Lust und Laune, sondern das ist ganz genau berechnet hier, gewogen und überlegt, dass das dann ja konstant besonderen Geschmack macht.
„Wenn man was Warmes kocht, dann kann man immer wieder dazwischen probieren, ob es passt oder nicht. Aber durch dieses Einfrieren verändert sich der Geschmack, insbesondere die Empfindung für Süße, so stark, dass ich hier nicht vorher schmecken kann … wie es später wird. Darum muss ich hier exakt nach diesem Rezept vorgehen, und dann passt es.“
„Und - je mehr Zeit man sich lässt, je mehr Aufwand man macht, desto besser ist das Ergebnis. Die Hoffnung, dass man jetzt schnell sich ein Eis macht für eine halbe Stunde, und dann hat man ein wunderbares Eis, die ist halt ein bisschen zunichte gemacht. Aber ist eigentlich bei allen Sachen so, das gute Dinge bisschen brauchen.“
Der Staatsstreichversuch vom 20.Juli 1944 gilt heute als Versuch, durch den Tod Hitlers den Zweiten Weltkrieg zu beenden und damit Millionen Zivilisten und Soldaten das Leben zu retten. Doch an dieser Anerkennung hat es lange gefehlt. Die Tat der Verschwörer um Stauffenberg, Tresckow, Beck und andere wurde über Jahrzehnte als Verrat denunziert. Entsprechend schwer hatten es auch Angehörige und Nachkommen, in der deutschen Öffentlichkeit Ansprüche auf Entschädigung geltend zu machen. Von Rainer Volk
Credits
Autor dieser Folge: Rainer Volk
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Jerzy May, Susanne Schroeder
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Thomas Morawetz
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Omas Tasche und das Hitler-Attentat
War Oma am Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt? Der Autor Thies Marsen ist zunächst sehr skeptisch, als ihm seine Großmutter eröffnet: Sie habe die Aktentasche besorgt, in der Graf von Stauffenbergs Bombe platziert war. Dann taucht er in die Familiengeschichte ein. Was er herausfindet, lässt ihn bis heute nicht los. Von Thies Marsen JETZT ENTDECKEN
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O-Ton 1: (Hitler im Radio, 20.7.1944, Länge: 0’50)
„Deutsche Volksgenossen und -genossinnen. Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissensloser und zugleich unvernünftiger, verbrecherisch-dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen…
(blenden ab „…mich zu beseitigen“ – unter Erzähler verlieren)
Musik: Dark operation red 0‘43
Erzähler:
Die Nachwirkungen des 20.Juli 1944 beginnen schon in der Nacht jenes Tages - als Hitler im Radio spricht. Seine Diffamierung der Akteure des Umsturzversuchs wirkt noch über Jahrzehnte. Die brutale Rache der Nazis vor Kriegsende 1945 mit hunderten Hinrichtungen, Sippenhaft und Verschleppungen von Angehörigen ist dabei nur ein Aspekt. Das wahre Gift der Sätze Hitlers zeigt sich erst nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. Axel Smend ist Jahrgang 1944. Sein Vater, der Oberstleutnant Günther Smend, versuchte seinen Vorgesetzten, den Generalstabschef des Heeres, zu bereden, dem Widerstand beizutreten, Sein Sohn Axel erinnert sich:
O-Ton 2: (Smend-Verräter) –
„Meine Mutter war beim Elternsprechtag. Und sie sprachen auch in irgendeiner Weise über meinen Vater. Ich war immer ein schlechter Schüler. Und dann hat der Lehrer in diesem Zusammenhang meiner Mutter gesagt. Na ja, dann ist es ja kein Wunder, dass Ihr Sohn Axel schlecht in der Schule ist - als Sohn eines Verräters.“ Länge: 0‘23
Erzähler:
Smends Erlebnis ist keineswegs ein Einzelfall. Begriffe wie „Vorbilder“ oder „Helden“ für die Männer und Frauen des 20.Juli 1944 blieben lange die Ausnahme. So fand das Allensbacher Institut für Demoskopie 1951 heraus: 30 Prozent der Deutschen verurteilten den versuchten Staatsstreich weiterhin. Noch einmal so viele wussten nichts von den Geschehnissen oder hatten keine Meinung dazu. Irritiert schrieben die Meinungsforscher:
Musik: Dark figures (red.) 0‘16
Zitator:
„Beinahe die Hälfte aller Leute, die über den 20.Juli mitreden können, sagten über die Verschwörer nur Nachteiliges… Weiter wird ihnen Feigheit vorgeworfen, gelegentlich auch Egoismus.“
Erzähler:
Besonders hartnäckig hielten sich die Verleumdungen im militärischen Milieu - in der Bundeswehr. Das Verteidigungsministerium benannte zwar 1961 die erste Kaserne nach einem der Verschwörer – in Sigmaringen, nach Stauffenberg. Doch Jobst Schulze-Büttger, dessen Vater Georg ein Vertrauter von Henning von Tresckow war - neben Stauffenberg der wichtigste Kopf des berühmten „Unternehmen Walküre“ – berichtet von einem Erlebnis als Offizier Anfang der 1980er Jahre:
O-Ton 3: (Schu-Bü. – Verräter) –
„Wir saßen im Kasino zusammen und hatten das Thema Widerstand. Und man landete im Laufe dieses Gesprächs bei dem Thema natürlich auch „20.Juli“. Und da sagte ein Kompaniechef aus meinem Bataillon: „Das waren alles Verräter.“ Länge: 0‘17
Musik: Coming closer red 0‘36
Erzähler:
Kein Wunder, dass Ehefrauen, Mütter, Söhne und Töchter der Offiziere des 20.Juli 1944 sich abkapselten. Die Familien hatten nach dem gescheiterten Staatsstreich Schreckliches erlebt: Etwa 50 Kinder kamen im Herbst 1944 unter falschen Namen in ein Heim bei Bad Sachsa – manche bis zum Kriegsende. Die Gestapo steckte Dutzende Frauen in Sippenhaft, um herauszufinden, was diese über die Umsturzpläne wussten. Die Folge: In vielen Familien wurde wenig erzählt von den Vätern. Jobst Schulte-Büttger:
O-Ton 4: (Schu-Bü – Beschweigen) –
„Ich habe meine Mutter und meinen Bruder nie gefragt. Irgendwie habe ich gespürt, dass da was war. Und ich ihnen im Grunde genommen nicht zumuten wollte, mir auf eine Frage, von der ich das Gefühl hatte, dass es für sie ein Problem ist, zu antworten.
Musik: Strictly confidential 0‘41
Erzähler:
In Gesprächen mit den Kindern der Umstürzler vom 20.Juli 1944 finden sich aber auch Aussagen, die ein anderes Extrem andeuten: Die Verklärung des Vaters. Kurt von Plettenberg war 1944 Generalbevollmächtigter der Hohenzollern-Familie und des Fürstenhauses Schaumburg-Lippe. Er wusste von den Putsch-Plänen und stürzte sich, nachdem er dem Verhör-Beamten der Gestapo einen Boxhieb verpasst hatte, aus dem Fenster des Berliner Gestapo-Gebäudes in den Tod. Seine Tochter Dorothea, Jahrgang 1944 erinnert sich:
O-Ton 5: (Plettenberg – Vater Heiliger) –
„Mein Vater war so der Heilige und wurde ständig überall so gelobt. Das war eine Sache, an die ich gewöhnt war.“ Länge: 0‘14
Erzähler:
Derlei Schilderungen lassen sich nur schwer generalisieren. Felicitas von Aretin, Historikerin und ebenfalls Nachfahrin von Widerstandskämpfern, hat für ihr Buch „Die Enkel des 20.Juli“ Befragungen durchgeführt. Für sie sind die Witwen Dreh- und Angelpunkt in der Familienüberlieferung:
O-Ton 6: (Aretin – Witwen-Rolle) –
Wenn Witwen eben sehr viel über ihre Erlebnisse oder Gefühle sprechen konnten mit ihren Kindern, dann hat sich das meistens auch sehr positiv ausgewirkt, weil eine Verarbeitung stattgefunden hat. Weil hingegen, wenn die Witwen sozusagen gar nichts erzählt haben, dann war das für die Kindergeneration natürlich schon viel schwieriger. Und damit, versetzt, auch für die Enkel-Generation.“ Länge: 0‘25
Musik: Obscure intrigue red. 0‘47
Erzähler:
Teilweise erklärt sich die komplizierte Lage durch die Weltpolitik der Nachkriegszeit. 1947 begann der Kalte Krieg zwischen Amerikanern und Sowjets. Das trieb die deutsche Teilung in West und Ost voran und erschwerte den Alltag der Witwen, Eltern und Kinder weiter. Viele flohen aus der sowjetisch besetzten Zone in den Westen, verloren so ihren Besitz im Osten. Zur Diffamierung kam ein sozialer Abstieg hinzu. Axel Smends Mutter hatten die Nazis noch vor Kriegsende das Wohnrecht in ihrer Offizierswohnung in Lüneburg entzogen. Das provisorische Hausen in zwei oder drei Zimmern sei weniger schlimm gewesen als die finanziellen Schwierigkeiten seiner Mutter, meint Axel Smend im Rückblick.
O-Ton 8: (Smend – Verhältnisse) –
„Es ging eigentlich mehr um Wie kann man sich finanzieren? Sie hat, glaube ich, sehr viele Tauschgeschäfte gemacht. Also: Sachen verkauft, um dafür Geld zu haben – und um dafür dann Lebensmittel zu kaufen.“ Länge: 0‘26
Erzähler:
Unterstützung erhielten Witwen, Mütter, Kinder und Verwandte durch das „Hilfswerk 20.Juli 1944 e.V.“ - das bis heute kaum bekannt ist. Der Freundeskreis gründete sich im Herbst 1945 - vor allem auf Initiative des Juristen Fabian von Schlabrendorff und des Ehepaars Carl-Hans und Renate von Hardenberg. Schlabrendorff und Hardenberg hatten als Offiziere im Umkreis von Henning von Tresckow Attentats-Pläne mit entworfen und nach deren Scheitern diverse Konzentrationslager nur knapp überlebt. Anhand einer Liste der Angehörigen, die Schlabrendorff erstellte, kümmerte sich das Hilfswerk unbürokratisch um die Überlebenden des militärischen Widerstands.
Musik: Ich bin zurückgeblieben 0‘29
Erzähler:
In der Trümmergesellschaft der Halbwaisen, jung Verwitweten und Ausgebombten – hier in einem satirischen Chanson beschrieben – war Unterstützung für die Hinterbliebenen des 20.Juli 1944 besonders dringlich. Die Evangelische Kirche in Deutschland gab mit ihrer Hilfswerks-Organisation, die der Widerständler und spätere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier leitete, was möglich war. Fundamental aber waren bis Anfang der 1950er Jahre ausländische Gönner – vor allem karikative Organisationen in den USA und Großbritannien. Was er an Spenden erhielt, ist Axel Smend und anderen im Gedächtnis geblieben:
O-Ton 10: (Smend – Pakete) –
„Ich erinnere mich sehr gut, als wir Pakete bekamen. Und zwar von privaten Organisationen, weil mein Bruder sich darauf stürzte: Corned Beef, Rosinen, Milchpulver und ein paar Schuhe. Aus Amerika kam sogar das Angebot, mich zu adoptieren.“
Musik: New beginning 0‘32
Erzähler:
Zu den wenigen Sternstunden der Nachkommen des 20.Juli zählten Aufenthalte in die Schweiz, die ein Arzt aus Bern anbot und mit dem Britischen Roten Kreuz organisierte. Bereits im Januar 1947 konnten so 20 Kinder von ermordeten Widerständlern zum Aufpäppeln ins Berner Oberland fahren – weitere Transporte folgten.
Erzähler:
Geprägt wurde die Arbeit des Hilfswerks durch ein hohes Maß an Improvisation und Empathie mit den Betroffenen. Durch hektografierte „Rundbriefe“, die sie per Post verschickte, gelang es Geschäftsführerin Renate von Hardenberg, innere Solidarität aufzubauen und unkonventionell zu helfen. Manche Unterstützung klingt für heutige Ohren hemdsärmelig:
Musik: prayer wheel (red.) 0‘34
Zitatorin/Zitator (gemischt, im ‚Verkündungston‘):
„Ein bekannter Chemiker macht den Vorschlag, eventuell einen jungen Mann aus dem Kreise der Hilfsbedürftigen auf Kosten seiner Firma eine Ausbildung als Chemiker zukommen zu lassen. // Kindern, die keine Gelegenheit haben, von zu Hause aus eine höhere Schule besuchen zu können, kann evtl. durch die Geschäftsstelle zu Vergünstigungen bei bestimmten Internaten geholfen werden.“
Erzähler:
Unter den Schülern, die ein solches Angebot erhielten, war auch Jobst Schulze-Büttger, der mit seiner Mutter und einem älteren Bruder in Hildesheim aufwuchs. Seine Mutter habe zunächst gezögert, erzählt Schulze-Büttger. Doch die Gräfin Hardenberg habe sie überredet und ihm ein Stipendium in einer Schule bei Bad Hersfeld besorgt:
O-Ton 11: (Schu-Bü Internat) –
„Die Hermann-Lietz-Schulen sind solche Landschulheime, von Hermann Lietz gegründet –Und ich wollte endlich mal unter Männer und nicht alleine aufwachsen.“
Erzähler:
Akten aus der frühen Bundesrepublik zeigen, wie nötig derlei Hilfe war. Denn die Bürokratie ging äußerst unsensibel mit den Hinterbliebenen des 20.Juli um. Viele Frauen mussten lange um ihre Witwen-Pensionen kämpfen. So teilte die Oberfinanzdirektion München der Witwe des Widerstandskämpfers Rudolf von Marogna-Redwitz im Juli 1951 mit, man habe den Versorgungs-Bescheid aufgehoben. Zur Begründung führte der Beamte ein Gesetz aus der Nazi-Zeit an, dass zum Tod verurteilte Hoch- und Landesverräter keine Pensionszahlungen erhalten könnten. Zitat:
Musik: Political efforts red. 0‘25
Zitator:
„Aus zwingenden Gründen muss deshalb die Zahlung des Unterhaltsbetrages ab sofort eingestellt werden. Es wird ihnen anheim gestellt, unverzüglich beim Staatsministerium der Justiz Antrag auf Aufhebung des Urteils und dessen Folgen zu stellen. Nach Vollzug würde die Zahlung wieder aufgenommen.“
Erzähler:
Weder in den Ländern noch in der ersten Bundesregierung fanden sich anfangs Mehrheiten, Renten- und Pensions-Ansprüche der Hinterbliebenen des 20.Juli 1944 ähnlich großzügig zu regeln wie bei ehemaligen Polizisten und Soldaten der Wehrmacht. Im Oktober 1951 – über sechs Jahre nach Kriegsende! – erreichte das Hilfswerk schließlich eine „Spendenregelung“. Die Bundesregierung zahlte von nun an pauschal eine Summe, die das Hilfswerk unter seinen Bedürftigen verteilen konnte. Als „Almosen“ bezeichneten viele im Hilfswerk das Ergebnis in Mark und Pfennig. Renate von Hardenberg schrieb zu ihrer Verteidigung in einem Brief:
Zitatorin:
„Als ich merkte, dass die Sache nicht gesetzlich geregelt werden sollte, habe ich mich mit aller Energie eingeschaltet und habe das kümmerliche Resultat erreicht, was sie kennen. Alle Proteste müssen durch die Parteien an den Bundesrat gerichtet werden und an die verantwortlichen Herren der Regierung. Ich bitte, mich nicht dafür verantwortlich zu machen, aber auch keine unnötigen Lorbeeren an mich zu verschwenden.“
Musik: Undercover investigations red. 0‘29
Erzähler:
Das zuständige Bundesinnenministerium überwies - wie die Akten zeigen – nie mehr als 400-tausend D-Mark pro Jahr an das Hilfswerk. Alleinstehende Frauen erhielten pro Monat 200 Mark, Mütter von Kindern ohne Einkommen 300 Mark, Studenten 150 Mark – und so weiter - was die Lebensverhältnisse mehr schlecht als recht absicherte. Dass die Spenden-Symbolik dürftig war, wusste die Bonner Politik nur zu gut. Auch deshalb ergriff sie in der Folge öffentlich stärker Partei für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. 1954 hielt erstmals ein Bundespräsident die Gedenkrede zum Jahrestag. Frisch für eine zweite Amtszeit gewählt, versuchte Theodor Heuss in der Berliner Freien Universität – mit Kanzler Adenauer im Publikum – eine Ehrenrettung der Männer des 20.Juli 1944:
O-Ton 12: (Heuss – 1954) –
„Die Scham, in die Hitler uns Deutsche gezwungen hatte, wurde durch ihr Blut vom besudelten deutschen Namen wieder weggewischt. Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingelöst.“
Erzähler:
Heuss‘ Rede begründete eine Tradition. An den „runden“ Jahrestagen des gescheiterten Putschversuchs von 1944 sprechen seither regelmäßig führende Repräsentanten unserer Demokratie – entweder im Hinrichtungsschuppen des ehemaligen Gefängnisses Plötzensee, oder im so genannten Bendlerblock, wo sich im Allgemeinen Heeresamt der Wehrmacht die historischen Ereignisse zutrugen. Aus der Sicht der Überlebenden und Nachkommen des 20.Juli 1944 eine wichtige Geste, dass die Bonner Demokratie den Putschversuch zunehmend als Teil des politischen Fundaments der Bundesrepublik verstand. Dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus jedoch weiter ein ‚heißes Eisen‘ war, wurde spätestens 1969 klar, als Gustav Heinemann kurz nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten, bei der Feierstunde proklamierte:
O-Ton 13: (Heinemann – 1969) –
„In dieses Gedenken schließen wir alle Widerstandskämpfer ein, die in den Jahren der Diktatur von 1933 bis 1945 in Deutschland und außerhalb Deutschlands, aus welcher Nation und an welchen Orten auch immer das Opfer des Lebens für Recht und Menschenwürde brachten. Wir schließen ebenfalls und ausdrücklich auch alle jene Menschen ein, die im Namen unseres Volkes verfolgt und unter den Taten unseres verführten Volkes gelitten haben.“ Länge: 0‘36
Musik: Secret proofs 0‘42
Erzähler:
Heinemanns versuchter Brückenschlag zu Widerstandsgruppen mit sozialdemokratischem, gewerkschaftlichem oder kommunistischem Hintergrund ging vielen Angehörigen des Hilfswerks jedoch zu weit. Mit den Kindern und Enkeln der Ermordeten führten diejenigen, die den Putschversuch und seine Folgen selbst miterlebt hatten, ab Anfang der 1970er Jahre heftige Debatten zu diesem Thema. Abstand hielt man auch zur DDR, deren stalinistische Ideologen dem 20.Juli 1944 lange nichts abgewinnen konnten – erst 1967 erschien hier eine erste Stauffenberg-Biografie.
Doch für die meisten Nachkommen hat das Datum mit seinen Zeremonien einen ganz anderen Aspekt: Es ist Gelegenheit, den Vätern nahe zu sein. - Axel Smend nahm als 10jähriger erstmals an einer der Veranstaltungen teil. Manche Details der Feier in Plötzensee hat er bis heute vor Augen, vor allem die Predigt von Harald Poelchau, dem ehemaligen Gefängnispfarrer, der viele der Verurteilten in deren letzten Stunden seelsorgerisch betreute:
O-Ton 14: (Smend – Feier 54) –
„Ich hab‘ wahrscheinlich von der Predigt wenig verstanden. Aber ich hab‘ dann doch Poelchau aufgesucht. Und ich habe ihn wahrgenommen als einen ganz bescheidenen, leiste sprechenden Mann. Das Gespräch, das ich mit ihm geführt habe – das hat er mit einem sehr positiven Ausgang abklingen lassen. Das hat mir ungemein gefallen. Länge: 0‘30
Erzähler:
Fester Bestandteil der Gedenkfeiern ist an den „runden“ Jahrestagen auch ein Empfang des Bundespräsidenten in Schloss Bellevue – ein Termin, den nur wenige Angehörige des 20.Juli versäumen. Die Einladung im Jahr 1964 war auch für Jobst Schulze-Büttger, damals junger Offiziersanwärter der Bundeswehr, die erste Gelegenheit, sich für eine Gedenkveranstaltung anzumelden:
O-Ton 15: (Schu-Bü – Bellevue) –
„Und während ich da in der Reihe stand, dreht sich vor mir eine Dame um und sagt: „Ach, Schulze-Büttger - das war die Mutter Meixner. Mein Vater war bei ihm Kompaniechef, bei Meixner in Hameln. Und von da an bin ich dann zu allen 20-ter-Juli-Veranstaltungen gefahren.“
Musik: Absorbed in thought Red. Version 0‘27
Erzähler:
Auch hier: Kein Zufall, sondern ein Muster. Wer einmal in diesem Kreis aufgenommen worden ist, bleibt ihm oft ein Leben lang treu. Dorothea von Plettenberg meint selbstkritisch, ihr Vater habe eigentlich gar nicht zum inneren Kreis der Verschwörer gehört, denn unter deren Anführern waren nicht wenige, die im Herzen der Monarchie nachtrauerten. Trotzdem sagt sie:
O-Ton 16: (Plettenberg – Zusammenhalt und Plötzensee) –
„Wir mögen uns alle, aber die, deren Väter in Plötzensee gehenkt wurden – die sind natürlich für immer verschmolzen als Menschen. Ich kann Plötzensee gar nicht aushalten. Ich war einmal da – ich kann es nicht aushalten – ich – kann – es – nicht.“ Länge: 0‘21
O-Ton 17: (Atmo Bonn) –
Gemurmel/Pause – Königswinterer Tagung Länge: 0‘31
(auf Regiezeichen nach ca. 10 Sekunden langsam blenden, unter Erzähler wegziehen)
Erzähler:
Eine Ahnung von diesem Gemeinschaftsgeist, der an Familientreffen erinnert, spüren Außenstehende alljährlich im Spätwinter. Dann lädt die „Forschungsgemeinschaft 20.Juli 1944“, die Söhne und Töchter in den 1970er Jahren gründeten, zu einer Tagung nach Bonn ein. In den Kaffee-Pausen herrscht ein lautes Hallo wie unter alten Freunden. Längst gehören auch Enkel und Urenkel dazu – eine späte Auswirkung der Ausgrenzung vergangener Jahrzehnte, meint Felicitas von Aretin:
O-Ton 18: (Aretin – Zusammengehörigkeitsgefühl) –
Die Generation der Söhne und Töchter, die hatte ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl und das hat sich in Teilen auf die Enkelgeneration übertragen. Aber ich denke, das ist auch wiederum sehr individuell. Länge: 0‘19
Erzähler:
Die Akten des „Hilfswerks“ zeigen: Der Zusammenhalt der jüngeren Generation wurde von Präsidium und Geschäftsführung aktiv gefördert. Sie organisierten bewusst für die Söhne und Töchter Jugendbegegnungen im In- und Ausland. Sogar nach Israel schaffte es eine Gruppe in den 1960er Jahren. Axel Smend betont als Teilnehmer an einigen dieser Begegnungen:
O-Ton 19: (Smend – Jugendtreffen) –
„Und da war das ein besonderes Erlebnis, zum ersten Mal in Paris zu sein, und auch in Brüssel. Und da lernte ich auch die Älteren unseres Kreises kennen. Und sehe heute noch einige, wie die frisch und frei Französisch und Englisch sprachen – und ich mir damals vorgenommen haben: Toll! Das müsste ich eigentlich auch mal erreichen“ Länge: 0‘27
Musik: Network access 0‘24
Erzähler:
Derlei Erlebnisse haben dafür gesorgt, dass das Hilfswerk als Stiftung unter dem Dach der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin bis heute existiert. Als heilsam erwies sich für die Nachfahren des 20.Juli, dass es 1990 die deutsche Einheit gab. Die Nachfahren der Hardenbergs erhielten so ihr Gut Neuhardenberg östlich von Berlin zurück – es wird heute als Tagungsstätte und Hotel genutzt. Dorothea von Plettenberg konnte damals das Grab ihres Vaters Kurt von Plettenberg in Potsdam würdig gestalten:
O-Ton 20: (Plettenberg – Grab) –
„Und dann durften wir da einen Stein aufbauen. Und zwar direkt an einem Ausgang, der nach Sanssouci führt. Was ich ganz nett finde, weil die Verbindung zu den Hohenzollern ja sehr stark war.
Erzähler:
Dorothea von Plettenberg, Axel Smend und andere aus der Kinder- und Enkelgeneration des 20.Juli 1944 berichten heute in Zeitzeugen-Gesprächen in Schulen und Bildungs-Einrichtungen über ihre Väter und ihr Leben. Ob sie so die Jahrzehnte des Schweigens und der Tabuisierung der Vergangenheit wettmachen wollen? Axel Smend nennt seine Begegnungen „bereichernd“, denn die Jugendlichen seien sehr neugierig. Seine Hoffnung ist, dass das Thema Widerstand gegen den Nationalsozialismus so auf der politischen Tagesordnung bleibt. Zweifel hat er, ob es künftig reicht, dass die wichtigsten Repräsentanten der Politik an runden Jahrestagen Reden halten – und denkt laut nach über mögliche modernere Formen des öffentlichen Gedenkens:
Musik: Precision on demand (red) 0‘43
O-Ton 21: (Smend – Reformen) –
„Es hatte mal jemand vorgeschlagen, am 20.Juli einen Lesetag zu machen. Das heißt, dass in allen Schulen Deutschlands Briefe vorgelesen werden von Personen, die zum Tode verurteilt worden sind wegen ihrer Beteiligung am 20.Juli. Ich habe so etwas mal in Frankreich erlebt - das hat mir sehr gefallen. Und ich kann mir gut vorstellen, wenn so etwas durchsetzbar wäre, dass das ein gutes Instrument werde, um die Sache weiterzutragen.“
Die DDR befindet sich Anfang 1950 in einem katastrophalen Zustand. 25 Prozent aller Wohnungen sind zerstört. Auch nach Kriegsende gibt es vielerorts keinen Strom oder sauberes Wasser. Vier Millionen Flüchtlinge und Vertriebene müssen versorgt werden. Wie sah der Alltag der Menschen in der frühen DDR aus? Was prägte die 50er-Jahre und wie übte die SED ihr Macht aus? Von Bastian Wierzioch
Credits
Autor dieser Folge: Bastian Wierzioch
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprach: Sophie Rogall
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin
7. Oktober 1949. Berlin Wilhelmstraße. Aus der sowjetischen Besatzungszone wird die Deutsche Demokratische Republik. Zum ersten Staatspräsidenten der DDR wird Wilhelm Pieck ernannt.
O-Ton 1
Reporter: Wilhelm Pieck eröffnet die Versammlung. Atmo: Sitzungsglocke Pieck: Bitte Platz zu nehmen! Die konstituierende Sitzung der provisorischen Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik ist eröffnet.
(Bitte runterziehen – nur kurz stehen lassen)
Sprecherin
Es ist ein schwerer Start für die junge DDR: Zu Beginn des Jahres 1950 befindet sich die ehemalige sowjetische Besatzungszone, in der ca. 16 Millionen Menschen leben, in einem katastrophalen Zustand. Städte wie Dresden oder Magdeburg wurden im Krieg großflächig bombardiert. 25 Prozent aller Wohnungen im Land sind zerstört. Vielerorts gibt es keinen Strom oder sauberes Wasser. Vier Millionen Flüchtlinge und Vertriebene müssen versorgt werden. An Russland gehen milliardenschwere Reparationszahlungen. Dafür werden komplette Industrieanlagen und insgesamt mehr als 10.000 Kilometer Eisenbahnschienen abgebaut und in die Sowjetunion gebracht.
O- Ton 2
Das war ein Jahrzehnt, das zum einen geprägt war durch die immensen Kriegszerstörungen und Kriegsverluste. Die Menschen mussten das Land wieder aufbauen. Sie trauerten um die Gefallenen.
Sprecherin
Das sagt Anna Kaminsky, die Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
O- Ton 3
Es war aber auch ein Jahrzehnt, in dem die Menschen erleichtert waren, dass endlich Frieden war. Und man hoffte natürlich auch ungeschoren aus dieser Kriegszeit mit den immensen, unglaublichen Verbrechen der Nazis rauszukommen und ein normales Leben zu führen. Und kaum jemand wollte sich mit dieser Zeit damals beschäftigen.
Musik 2: Fünf … Aus: Fünf Minuten – 81245480108 – 40 Sek
Sprecherin
Hans-Joachim Hein ist im Jahr 1950 elf Jahre alt. Geboren wurde er 1939 in Frankfurt (Oder). Noch vor Kriegsende flieht der 6-Jährige Hans-Joachim mit seiner Mutter und der kleinen Schwester vor der Roten Armee nach Schleswig-Holstein. 1950 ist die kleine Familie wieder zurück in Frankfurt (Oder).
O-Ton 4
Wohnungsmäßig gab`s überall Mängel. […] Ja, für Kinder war es schon sehr interessant wegen der Ruinen. Da gab es immer was Neues zu entdecken. Und ein oder zwei hatten auch schon mal noch Leichen entdeckt also die Reste davon. (Stimme oben)
Musik 3: Ein guter Informant – Z8019960 112– 1:06 Min
Sprecherin
Viele Menschen leben damals in Massenunterkünften und Lagern – eingerichtet in ehemaligen Kasernen, Schulen, Gasthäusern, Hotels, Zwangsarbeiterlagern oder Sporthallen. Ein Großteil der Bevölkerung fühlt sich verunsichert. Wie soll es weitergehen mit Deutschland? Anfangs kursieren Gerüchte: Angeblich wollen die Alliierten alle deutschen Frauen sterilisieren oder alle Männer zur Zwangsarbeit weg bringen oder aus ganz Deutschland einen riesigen Kartoffelacker machen – als Strafe für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Das Leid der Juden, Widerstandskämpfer, Polen oder Russen ist der Öffentlichkeit in der frühen DDR bekannt, auch weil die Gräueltaten in Kino-Filmen und Romanen thematisiert wenden – an den Oberschulen als Pflichtlektüre. Und weil die SED sich darum bemüht, das Ausmaß der Verbrechen umfassend darzustellen.
O-Ton 5
Allerdings wurde das immer verbunden mit der antifaschistischen Propaganda, die zwei kleine Manipulationen vorgenommen hat.
Sprecherin
Erklärt Udo Grashoff, Historiker am Hannah-Arend-Institut, das zur TU Dresden gehört.
O-Ton 6
Die eine Manipulation war, dass behauptet wurde, dass eigentlich der Holocaust – also den Begriff gab es damals noch nicht – aber der Massenmord an den Juden - nur so eine Art Seiteneffekt, Nebeneffekt des Nationalsozialismus gewesen wäre und das eigentliche mörderische Ziel des Nationalsozialismus die Vernichtung des Kommunismus gewesen sei. […] Und die Zweite schließt sich daran an. Dass man das Wesen des Nationalsozialismus nicht verstanden hat als ein rassistisches kolonialistisches Projekt, sondern als ein kapitalistisches, imperialistisches Projekt. […] Und damit konnte man dann auch im Kalten Krieg die gesamte westliche Welt als letztlich Bruder im Geiste des Faschismus darstellen. […] Und damit konnte man sich selbst natürlich auch moralisch als sehr hochstehend darstellen und das hat dazu geführt, dass man viele Menschen, nicht nur einfache Menschen, auch sehr viele Intellektuelle grade hinter die Fahne der SED bekommen hat.
Musik 5: Vier lyrische… aus: Fünf Minuten – 55 Sek
Sprecherin
1952 werden die 5 Bundesländer der DDR in 14 Bezirke aufgeteilt, die bis 1990 als Verwaltungseinheiten bestehen bleiben. Die kleine Familie Hein im Bezirk Frankfurt schlägt sich durch – zu dritt in einer Einzimmerwohnung. Die Toilette: im Treppenhaus. Die Kleidung: selbstgenäht. Die Mutter arbeitet in einer Gaststätte. Die Währung der DDR, die Ost-Mark, war zwar schon 1948 eingeführt worden – einen Monat nach der D-Mark im Westen -, nur zu kaufen gibt es kaum etwas. Die meisten Menschen werden durch Lebensmittelkarten versorgt – ausgegeben vom Staat. Dafür gibt es Rationen an Brot, Zucker, Salz, Tee oder Kaffee-Ersatz. Bei den Heins gibt es meistens Kartoffeln.
O-Ton 7
Das hing von vielen Zufällen ab, ob jemand Beziehungen zum schwarzen Markt hatte oder Beziehungen zu Bäckereien oder, oder. Man hat sich gegenseitig geholfen. […] und hat dann auch dazu beigetragen, dass man naja, praktisch so, einigermaßen überleben konnte. […] Ans Essen selber kann ich mich wenig erinnern. Es gab nicht viel.
O-Ton 8
Anfänglich in der sowjetisch besetzten Zone später der DDR gab es praktisch drei Säulen des Handels.
Sprecherin
Erklärt Historikerin Anna Kaminsky.
O-Ton 9
Das war zum einen der starke private Handel, der zunehmend verstaatlicht und praktisch enteignet wurde. Dann die so genannten Konsum-Läden, das waren die Läden der Konsumgenossenschaften, die es in Deutschland schon seit Ende des 19. Jahrhunderts gab. Und es gab die neu gegründete sozialistische Handelsorganisation, die HO.
Sprecherin
Das staatliche Einzelhandelsunternehmen HO - gegründet 1948 auf Weisung der Sowjets - wächst rasant. Bis 1960 werden 35.000 Geschäfte eröffnet, die knapp 40 % des landesweiten Einzelhandelsumsatzes erwirtschaften - trotz überteuerter und für viele nicht erschwinglicher Preise. Die Läden der HO werden von der Staats-Partei SED bevorzugt mit Waren beliefert.
O-Ton 10
Über die HO-Läden, die sozialistisch deklariert waren, wollte die SED Führung den Menschen im Land zeigen, dass praktisch ihre Herrschaft auch für die Menschen im Alltag sehr viele Vorteile bringen würde und dass die SED-Führung sehr gut für die Bürger im Land sorgen würde und sie auch ein besseres Warenangebot in diesen staatlichen HO-Läden vorfinden.
Musik 5: The Working class – s.o. – 35 Sek
Sprecherin
Doch der Alltag in der DDR bleibt hart. Was produziert wird, reicht nicht für eine flächendeckende Versorgung. So wie unmittelbar nach dem Krieg bauen die Menschen immer noch auf allen verfügbaren Flächen Gemüse an - auf Fensterbänken, in öffentlichen Parks, den Hausdächern. Immer noch werden Kuchen aus Kartoffelschalen und Torten aus Eicheln und Kaffeesatz gebacken. Rübenblätter dienen als Ersatz für Spinat.
O-Ton 11
Dieser Staat der Werktätigen, die Deutsche Demokratische Republik, hat zwei Klassen zur Grundlage: Die Arbeiterklasse und die Klasse der werktätigen Bauernschaft.
Sprecherin
Walter Ulbricht, die mächtigste Person im Arbeiter- und Bauernstaat, von 1950 bis 1971 Erster Sekretär des Zentralkomitees der herrschenden SED. Die Partei war bereits 1946 gegründet worden. Das allerletzte Wort in der DDR hat zwar bis zu ihrem Ende die Sowjetunion. Vor allem innenpolitisch aber liegt die Macht beim Politbüro des Zentralkomitees der SED. Wie die Partei diese Macht konkret ausübt, erklärt Historiker Udo Grashoff.
O-Ton 12 Grashoff3
Die DDR hatte ne Doppelstruktur. Es war so, dass auf alle staatlichen Institutionen, alle Ministerien, alle Verwaltungsgremien hatten eine Parallelstruktur bei der Partei sowohl auf der staatlichen Ebene als auch auf der Ebene der Bezirke, als auch auf der Ebene der Kreise, als auch in den Städten. Überall gab es ne Parteistruktur, die parallel dazu war, und die der übergeordnet war, das heißt, die Anweisungen an die staatlichen Strukturen geben konnte, und die wiederum die Ausführungen dieser Bestimmungen kontrollieren konnte. Also insofern war der Staat eigentlich nur der Erfüllungsgehilfe der Partei.
Musik 6: „Lied der Partei“ – ca. 25 Sek
O-Ton 13
In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft, aus anderen Kreisen der Werktätigen, hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der 2. Parteikonferenz vorzuschlagen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird.
Sprecherin
Im Juli 1952 kündigt der Chef des Politbüros Walter Ulbricht an: von nun an werde die politische und wirtschaftliche Ordnung der DDR auch offiziell nach dem Vorbild der Sowjetunion umgestaltet. Dabei war dies ökonomisch wie politisch größtenteils längst umgesetzt. Die Großgrundbesitzer waren bereits 1945 enteignet worden, Kunst und Kultur längst eingeschworen gegen den Westen, Presse- und Rundfunk gleichgeschaltet, private Handwerkerbetriebe weitgehend verstaatlicht.
O-Ton 14
Und nach dem Grundsatz: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, dachte man, wenn man die ökonomische Basis umgestaltet, wird das andere dann auch schon irgendwie gehen. Das heißt `52 werden auch Weichen gestellt, die eine weitere Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Menschen bedeuten. Die Wirtschaft wird auf eine Stärkung der Schwerindustrie ausgerichtet. […] also das was eigentlich für das Leben der Menschen wichtig ist, wurde in der Produktion zurück gefahren.
Musik 7: Ein guter Informant – siehe oben – ca. 3 Min.
Sprecherin
Welche negativen Konsequenzen diese Politik für die Menschen im Alltag in der DDR hat, bekommt die SED-Führung im Sommer des Jahres 1953 eindrücklich vor Augen geführt.
O-Ton 15
Die meisten Demonstranten haben sich in den Sowjetsektor hinüber gezogen und bilden dort nun eine große Menschenmenge, die eine Hälfte der Leipziger Straße ausfüllt.
Sprecherin
Reporter des westdeutschen Radio-Senders RIAS Berlin berichten vom Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953.
O-Ton 16
Und während hier noch große Transparente zu Boden fallen, beginnt soeben ein heftiger Schusswechsel. Schwere sowjetische Panzer haben soeben die Leipziger Straße besetzt und rollen weiter vor.
Sprecherin
Als am Mittwoch, den 17. Juni 1953 in den Betriebsstätten und Fabriken der DDR die Frühschicht beginnt, streiken die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter. Bereits in den Wochen zuvor war es überall im Land zu Arbeitsniederlegungen und Protesten gekommen. Im Laufe des Vormittags beschließen Tausende Werktätige in die Innenstädte zu ziehen. In 242 Städten kommt es zu Streiks und Demonstrationen. SED-Einrichtungen werden gestürmt so wie Gefängnisse und Kreisdienststellen des Inlandsgeheimdienstes Stasi.
O-Ton 17
Wir müssen ebenfalls zurückgehen und hinter einem Wagen Deckung nehmen. […] und so ist ganz deutlich erkennbar, dass dieser Potsdamer Platz in der nächsten Zeit noch keine Ruhe erfahren wird.
Sprecherin
Die Besatzungsmacht verhängt eine Ausgangssperre. Die sowjetischen Panzer zerstreuen die Menschenmassen. In Berlin wird ein Demonstrant zerquetscht. Mehr als 100 Protestierende sterben an diesem Tag. Der Aufstand ist niedergeschlagen. Stasi und Sowjets starten eine Hetzjagd auf die Streikführer.
Musik aus
O-Ton 18
Der 17. Juni, der Aufstand ist erwachsen einerseits aus den wirtschaftlichen Problemen, also dass die SED-Führung auch immer mehr auch die ökonomischen Daumenschrauben anzog. […] Zum anderen waren die Normen erhöht worden, das heißt, die Menschen sollten für das gleiche Geld viel mehr arbeiten, was im Prinzip eine Lohnkürzung war. Und dazu kam natürlich - und das war der Hauptgrund - eine große politische Unzufriedenheit mit den Verhältnissen. Wenn man sich die Losungen der damaligen Zeit anschaut. Die streikenden Arbeiter, die fordern Demokratie, die fordern freie Wahlen, die fordern auch die Einheit Deutschlands.
Sprecherin
Die Ostdeutschen sind staatlichen Druck und Repressionen gewohnt. Dafür gesorgt hatte seit 1945 vor allem der sowjetische Geheimdienst, der Tausende aus politischen Gründen verhaften lässt. Dasselbe tut die Abteilung K5, der DDR-Kriminalpolizei, aus der 1950 die Stasi hervorgeht. Zu Anfang ist der DDR-Inlandsgeheimdienst noch eine eher kleine Behörde. Auch deswegen sieht er den Aufstand am 17. Juni nicht kommen.
O-Ton 20
Die Staatssicherheit ist nach dem 17. Juni und dann auch in den 70er Jahren nochmal massiv ausgebaut worden. Und ist also ein riesen Ministerium gewesen, ein riesen Kostenfaktor auch im Staatshaushalt. Am Ende waren es, glaube ich, 90.000 Hauptamtliche und bis zu 180.000 Inoffizielle Mitarbeiter. Das ist also eine Riesenmenge an Personal gewesen, die alles vorher, was bekannt war über Inlandsgeheimdienste, was zum Beispiel auch die Gestapo an personellen Mitteln hatte, die das also völlig in den Schatten stellt.
Musik 8: Vier lyrische… - siehe oben – 22 Sek
Sprecherin
Auch deswegen spricht man heute von SED-Diktatur, wenn es um die DDR geht. Der Schüler Hans-Joachim Hein in Frankfurt (Oder) macht traumatisierende Erfahrungen mit der Staatsmacht – vor allem mit Lehrern. Darum hält er sich meist zurück, wenn er unter Leuten ist.
O-Ton 21
Ich kann mich erinnern, als Stalin gestorben ist, mussten wir alle demonstrieren, alle trauern, und jemand hat einen Witz gemacht bei der Demonstration. Und die Lehrer haben, einige haben da mitgegrinst, aber da gab es dann fürchterliches Theater, und um Gottes Willen! Bloß das nicht! Und und, und. Das heißt also, die Erwachsenen waren das schon gewöhnt, das von oben kommt, das muss gemacht werden und fertig.
Sprecherin
Um den sowjetischen Diktator Josef Stalin betreibt die herrschende SED einen regelrechten Personen-Kult, dem sich niemand wiedersetzen kann. Stalins Sowjetunion ist das große Vorbild für den Aufbau der DDR. Das gilt auch für die Landwirtschaft. Bereits im Jahr 1945 waren alle ostdeutschen Bauernhöfe mit mehr als 100 Hektar Grund ohne Entschädigung enteignet worden. 1952 begann die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft, bei der die LPGs, die riesigen landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaften gebildet worden. Zunächst freiwillig später unter Zwang. 1960 gibt es quasi keine Einzelbauern mehr. 19.000 LPGs bewirtschafteten 85 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche.
Musik 9: Grünbaums... aus: Mein Führer - Original Soundtrack - 45 Sek
O-Ton 22
Pionierdelegation! Still gestanden! Regt euch! Augen geradeaus!
Sprecherin
Thälmann-Pioniere und Freie Deutsche Jugend, kurz FDJ. So heißen die beiden großen Jugendorganisationen der DDR. Wer nicht mitmacht, bekommt Ärger, wird von der weiterführenden Schule geworfen oder von der Universität. Vor allem gegen die Christen der Jungen Gemeinde, die sich der Mitgliedschaft verweigern, geht die SED rigoros vor, kriminalisiert und schikaniert die Gläubigen. Zu Beginn der 50er Jahre ist rund die Hälfte der DDR-Jugendlichen Mitglied bei den Pionieren und der FDJ. In den 80er Jahren werden es knapp 90 % sein.
O-Ton 23
Es ging darum die Jugend schon von Anfang an für das sozialistische Projekt zu konditionieren. Die Jugend war die große Hoffnung der SED, weil man glaubte, dass man die Jugend begeistern könnte für den Aufbau einer besseren, humaneren Gesellschaft, einer kommunistischen Gesellschaft.
Sprecherin
1955 findet die erste staatliche Jugendweihe statt. Eine feierliche Zeremonie bei der Schülerinnen und Schüler im Alter von 14 Jahren symbolisch in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden und sich zum sozialistischen Staat bekennen.
O- Ton 24
SED-Funktionär: Seid ihr bereit, für ein glückliches Leben der werktätigen Menschen und für den Fortschritt in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst einzusetzen? Jung-Pioniere: Ja, das geloben wir.
Sprecherin
Ebenfalls im Jahr 1955 überträgt die Sowjetunion der DDR noch mehr staatliche Souveränität, behält die Fäden im Hintergrund aber weiter in der Hand. Ebenfalls im gleichen Jahr tritt die Bundesrepublik der NATO bei -woraufhin die Sowjetunion den Warschauer Pakt gründet, ein Militärbündnis sozialistischer Staaten. Die DDR wird mit ihrer Kasernierten Volkspolizei Gründungsmitglied. Im Jahr darauf wird in der DDR die NVA gegründet, die Nationale Volksarmee - wenige Monate nach der Gründung der Bundeswehr im Westen. Der Ministerpräsident der DDR Otto Grotewohl:
O-Ton 25
Kein verantwortungsbewusster Demokrat und Patriot wird vor der Entwicklung in Westdeutschland die Augen verschließen, sondern daraus muss die Schlussfolgerung gezogen werden in der Deutschen Demokratischen Republik solche Maßnahmen zu treffen, die gewährleisten, dass die Imperialisten und Militaristen gezügelt und all ihre Versuche zum Scheitern gebracht werden.
O-Ton 26
Und das interessante ist, dass für den Aufbau der NVA auch […] hohe Wehrmachts-Generäle und Wehrmachts-Offiziere, die in sowjetischer Kriegs-Gefangenschaft waren, an diesem Aufbau beteiligt waren. […] und die NVA war natürlich auch ein Repressionsmittel für die SED-Herrschaft und natürlich auch der militärische Arm, der die SED-Herrschaft sichern sollte.
ATMO Trabbi + Musik 10: Vier lyrische… - siehe oben – 25 Sek
Sprecherin
1957 rollt in Zwickau der erste Trabant vom Band und Hans-Joachim Hein bekommt erstmals ein eigenes Zimmer - zur Untermiete in Magdeburg. Dort macht er eine Lehre als Elektromonteur und geht parallel auf die Abendoberschule „Otto von Guericke“. Mit dem Sozialismus und der SED-Diktatur versucht er sich zu arrangieren.
O-Ton 27
Ja. Man hat allerdings dann häufig dann Wege gefunden, nach Außen politisch auf Linie zu erscheinen. Ja, okay! Aber intern war das ne andere Sache. Es gibt also dann durchaus zwei Welten.
Musik 11: Entlassung – 1:28 Min
O-Ton 28
Diesen Weg werden wir unbeirrbar weiterverfolgen.
Sprecherin
Wilhelm Pieck, seit 1949 bis zu seinem Tod 1960 erster und einziger Staatspräsident der DDR.
O-Ton Pieck 29
Unterstützt von den Kräften des Friedens und des Sozialismus in der ganzen Welt, die noch niemals so mächtig und geeint waren wie heute.
Sprecherin
10 Jahre nach der Staatsgründung, sieht der Alltag in der DDR weniger strahlend aus, als es die SED-Propaganda den Menschen glauben machen möchte. Mit der Wirtschaft und dem allgemeinen Wohlstand ist es weiter bergab gegangenen. Die SED konnte ihr Versprechen auf ein besseres Leben als im Westen nicht einhalten. Zwischen 1949 und 1961 siedeln insgesamt 2,7 Millionen Ostdeutsche nach Westdeutschland um. Gestoppt wird die große Flucht erst mit dem Bau der Berliner Mauer und der Schließung der deutsch-deutschen Grenze - zu Beginn der 60er Jahre.
Die Volksgruppe der Massai lebt in Ostafrika. Die Nomaden betrachten sich als Schützlinge der Himmelsgottheit Engai, die auf einem Vulkan in Tansania ihre irdische Wohnstatt hat. Engai, so die Überzeugung, soll den Massai die Obhut über alle Rinder dieser Welt übertragen haben. Von Margarete Blümel (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Margarete Blümel
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Stefan Merki, Katja Schild
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Wilkens, Katharina: Holy Water and Evil Spirits. Religious Healing in East Africa, Dissertation, Universität Bayreuth, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Bayreuth 2007
Fischer, Moritz: Maasai gestalten Christsein, Erlanger Verlag für Mission und Ökumene, Erlangen 2001.
Spencer, Paul: Providence and the Cosmology of Misfortune and Loonkidongi Diviners and Prophets, Routledge, London 2003.
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Unmittelbar nach dem Mauerbau im August 1961 errichteten die Westalliierten in der Friedrichstraße eine Grenzübergangsstelle. Der Checkpoint Charlie sollte fast drei Jahrzehnte lang den Ostteil Berlins mit dem Westen verbinden und den Transfer der Alliierten ermöglichen. Er wurde aber auch früh zum Schauplatz einer globalen Systemkonfrontation zwischen Ost und West. Von Thomas Grasberger (BR 2023)
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Das Deutsche Reich wieder eine Großmacht? Den Versailler Vertrag einfach vom Tisch fegen? Solche Visionen teilten führende Militärs mit dem frisch zur Macht gekommenen NS-Regime. Doch Hitlers riskante Expansionsziele stießen auch auf Zweifel in Teilen der Militär-Elite. Als sich später die Niederlage abzeichnete, versuchte die militärische Opposition das NS-Regime zu stürzen. Eine demokratische Zukunft, die am Weimarer Zeiten angeknüpft hätte, war aber nicht geplant. Von Renate Eichmeier
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Peter Veit
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O1 HÜTER:
Eigentlich hat sich die Militärelite in sehr weitgehender Form auf den Nationalsozialismus, auf Hitler, auf die Kriegspolitik, auf die Kriegszielpolitik auch eingelassen und später dann sich auch an dem Vernichtungskrieg beteiligt.
ERZÄHLERIN:
Sagt Professor Dr. Johannes Hürter vom Institut für Zeitgeschichte in München. Als dann mit der verlorenen Schlacht um Stalingrad eine deutsche Kriegsniederlage drohte, beschlossen Angehörige der Wehrmachtsführung, das NS-Regime zu stürzen. Am 20. Juli 1944 detonierte um 12 Uhr 42 eine Sprengladung im Führerhauptquartier Wolfschanze im damaligen Ostpreußen. Die Baracke, in der Adolf Hitler gerade eine Lagebesprechung abhielt, wurde zerstört, einige der Anwesenden wurden getötet. Es sollte der Beginn eines Staatsstreiches sein. Am gleichen Tag meldete der Rundfunk.
MUSIK 2 (Fabian itter: Dark Pulse 0‘20)
ZUSPIELUNG O-Ton Radio
(aus: Autor: Uwe Pagels / Archivnummer: W0550945 101 / 00:46 bis 1:00 / geklärt, rechtefrei)
Auf den Führer wurde heute ein Sprengstoffanschlag verübt. Der Führer selbst hat außer leichten Verbrennungen und Prellungen keine Verletzungen erlitten. Er hat unverzüglich seine Arbeit wieder aufgenommen.
MUSIKENDE
ERZÄHLERIN:
30. Januar 1933. Mit einem nächtlichen Fackelzug durch Berlin feierten die paramilitärischen Schlägertrupps der SA die Ernennung des NSDAP-Vorsitzenden Adolf Hitler zum Reichskanzler. Es war das Ende der Weimarer Republik. Bald waren demokratische Grundsätze und Rechtsstaatlichkeit abgeschafft. Politische Gegner und Menschen, die nicht der rassistischen NS-Ideologie entsprachen, wurden brutal verfolgt.
O2 HÜRTER:
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde von sehr vielen Militärs mit einer gewissen Sorge angesichts der radikalen Tendenzen dieser Partei und dieser Bewegung betrachtet, aber auch mit sehr vielen Hoffnungen. Und unter dem Strich haben die Hoffnungen eigentlich überwogen.
ERZÄHLERIN:
Johannes Hürter war unter anderem an einem Forschungsprojekt zur Wehrmacht in der NS-Diktatur beteiligt.
O3 HÜRTER:
Denn es gab zwischen nationalkonservativen Offizieren auf der einen Seite und Nationalsozialisten auf der anderen Seite sehr viele Schnittmengen in dem, was man vorhatte, was man politisch vorhatte, was man in Hinsicht auf die Aufrüstung vorhatte, was man in Hinsicht auf die Überwindung der Versailler Ordnung vorhatte. Man spricht da auch von großen Teilidentitäten zwischen der nationalkonservativen Militärelite und den Nationalsozialisten.
MUSIK 3 (Johnny Klimek: Plan B 0‘32)
ERZÄHLERIN:
Nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages musste Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg alle Kriegsschiffe, Flugzeuge, Panzer, sogenanntes schweres Kriegsmaterial an die Siegermächte ausliefern und das Heer auf hunderttausend Soldaten reduzieren. Schon in den Jahren der Weimarer Republik gab es seitens der Reichswehr Versuche, diese Bestimmungen zu unterlaufen. Mit Beginn der NS-Diktatur hoffte man nun, dass die Wiederaufrüstung Fahrt aufnahm.
O4 HÜRTER:
Also die Hoffnung war schon sehr groß, dass sich unter dieser neuen nationalen Regierung etwas verändert in Richtung Revision des Versailler-Vertrags und in Richtung Aufrüstung der Wehrmacht, Wieder-Erstarkung Deutschlands.
ERZÄHLERIN:
Deutschland wieder eine Großmacht? Diese Vision teilten führende Militärs mit dem NS-Regime und versprachen sich von einem Wiederaufstieg Deutschlands auch eine Rückgewinnung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung, die sie mit dem Ende des Kaiserreiches 1918 verloren hatten. Die neuen NS-Machthaber kamen diesen Erwartungen entgegen. Adolf Hitler versuchte von Anfang an, die Reichswehr in sein Machtsystem zu integrieren und Vertrauen aufzubauen.
MUSIK 4 (Badonviller Marsch 0‘31)
SPRECHER:
Reichswehrminister Werner von Blomberg zeigte sich von den NS-Machthabern begeistert, interpretierte das neue Kabinett als "Ausdruck breiten nationalen Wollens", äußerte sich bewundernd über den neuen Kanzler Adolf Hitler, der "wie ein ganz großer Arzt" fungiere. Er war bereit, die NSDAP innenpolitisch gewähren zu lassen.
MUSIK 5 (Alan Fillip: Entering Space 0‘33)
SPRECHER:
Auch Blombergs Ministeramtschef im Reichswehrministerium, Generalmajor Walter von Reichenau, äußerte sich begeistert: "Hinein in den neuen Staat, nur so können wir die uns gebührende Position behaupten." Und zu den Gewaltexzessen der neuen Machthaber sagte er: "Morsches muss fallen, das kann mit Terror geschehen."
ERZÄHLERIN:
Die militärische Führungsriege hoffte, in einem autoritären NS-Staatsgefüge in der Hierarchie weit oben ihren Platz zu finden. Beunruhigt waren militärische Führungskreise deshalb nicht durch die Abschaffung demokratischer Grundrechte, sondern durch die paramilitärische Konkurrenz der SA. Ihr Führer Ernst Röhm wollte die SA zu einer Art braunem Massenheer ausbauen, in dem die Reichswehr aufgehen sollte. Als Adolf Hitler im Sommer 1934 Ernst Röhm und andere vermeintliche Gegner durch die SS ermorden ließ, gab es seitens der Reichswehr Unterstützung.
SPRECHER:
"Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid" – so die Soldaten der Reichswehr Anfang August 1934. Sie schworen, dass sie Adolf Hitler, dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, ihrem neuen Oberbefehlshaber, unbedingten Gehorsam leisten und bereit sind, ihr Leben für diesen Eid einzusetzen.
ERZÄHLERIN:
Ursprünglich wurde die Reichswehr auf die Verfassung der Weimarer Republik vereidigt. Als Paul von Hindenburg starb, übernahm Adolf Hitler zusätzlich zu seiner Kanzlerschaft das Amt des Reichspräsidenten und wurde damit Staatsoberhaupt. Noch am gleichen Tag ließ Werner von Blomberg die Soldaten der Reichswehr auf Adolf Hitler persönlich vereidigen.
MUSIK 6 (Johnny Klimek: Plan B 0‘29)
SPRECHER:
Ohne Auftrag Hitlers, wie er behauptete. Auch sonstige Äußerungen zeigen ihn regimekonform. "Das erste Jahr der nationalsozialistischen Staatsführung hat die Grundlagen für den politischen und wirtschaftlichen Neubau der Nation gelegt", ließ er verlauten. Und: "Das zweite Jahr stellt die Notwendigkeit der geistigen Durchdringung der Nation mit den Leitgedanken des nationalsozialistischen Staates in den Vordergrund. "
MUSIK 7 (Cliff Martinez: After The Chase 0‘45)
ERZÄHLERIN:
In militärischen Dienststellen und militärischen Fachschulen wurden weltanschauliche Schulungen eingeführt und nationalsozialistisches Gedankengut vermittelt. So gab es zum Beispiel in den Kriegsschulen für die Offiziersausbildung sogenannten "rassenhygienischen Unterricht". 1935 wurde die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt, damit die Zahl der ausgebildeten Soldaten massiv erhöht, die Reichswehr wurde offiziell in Wehrmacht und der Reichswehrminister in Reichskriegsminister umbenannt. Die militärischen Vorbereitungen für Hitlers Expansionspläne begannen auf Hochtouren zu laufen.
O5 HÜRTER:
Hitler hat die Wehrmachtspitze, sehr früh über seine sehr radikalen außenpolitischen Pläne auch informiert.
ERZÄHLERIN:
So der Historiker Johannes Hürter.
O6 HÜRTER:
Er hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er plant, nach Osten auszugreifen, Lebensraum zu gewinnen. Er hat von Anfang an versucht, die Wehrmachtselite, damals noch die Reichswehrelite, einzubeziehen in sein Programm, in sein außenpolitisches Programm, das letztlich unverkennbar stark auf Krieg ausgerichtet war.
MUSIK 8 (Alan Filip: A Sad One 1’12)
ERZÄHLERIN:
Anfang November 1937 lud Hitler die militärische Führungselite zu einer Besprechung in die Reichskanzlei ein. Anlass waren Streitigkeiten um die Verteilung von Stahlvorräten, die für die Aufrüstung der Streitkräfte gebraucht wurden. Hitler sollte diesbezüglich für eine Klärung sorgen. Neben Reichskriegsminister Blomberg waren unter anderem auch die Oberbefehlshaber von Heer, Luftwaffe und Marine anwesend. In einem mehrstündigen Monolog nutzte Hitler nun die Chance, die versammelte Militärspitze detailliert über seine Expansionspläne zu informieren – und ihre Reaktion zu testen. Er betonte, dass militärische Aktionen bezüglich Österreich und der Tschechei beziehungsweise dem Sudetenland in nächster Zukunft geplant seien. Obwohl es eine prinzipielle Übereinstimmung bezüglich einer deutschen Expansionspolitik gab, äußerten Reichskriegsminister Blomberg und auch der Oberbefehlshaber des Heeres, Werner von Fritsch, starke Bedenken. Sie befürchteten, die Situation könnte eskalieren und zu einem Krieg mit England und Frankreich führen. Johannes Hürter:
O7 HÜRTER:
Es ging der Militärspitze eher um die Zeiträume. Ein Krieg schon Ende der dreißiger Jahre war vielen professionellen Generälen zu riskant, zu gefährlich. Sie haben gedacht, dass die Wehrmacht da noch nicht kriegsfähig ist.
ERZÄHLERIN:
Hitlers Kritiker verschwanden daraufhin Anfang 1938 aus der militärischen Führungsriege. Reichskriegsminister Werner von Blomberg stolperte über seine zweite Heirat mit einer Frau, die in ihrer Jugend wegen Nacktfotos polizeilich aktenkundig geworden war. Und Werner von Fritsch musste gehen, weil Gerüchte über eine angebliche Homosexualität gestreut wurden. Im Laufe der folgenden Monate geriet dann der Generalstabschef des Heeres Ludwig Beck ins Visier Adolf Hitlers, als er versuchte die Generäle des Heeres zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen dessen riskante Kriegsplanungen zu bringen. Auch er musste seinen Posten aufgeben und zog sich ins Privatleben zurück. Er blieb aber nicht untätig, sondern erwies sich als geschickter Netzwerker. Ludwig Beck sammelte gleichgesinnte Militärs um sich und suchte Kontakte zur zivilen Opposition. Dort war sein wichtigster Ansprechpartner der konservative Politiker Carl Friedrich Goerdeler.
MUSIK 9 (Johnny Klimek: Nah 1’01)
Auch Becks Nachfolger als Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, hatte lose Kontakte in oppositionelle Kreise. In – wenn auch – sehr kleinen Teilen der militärischen Führungselite wurden Überlegungen angestellt, wie man sich verhalten solle, wenn Hitler 1938 verfrüht in einen Krieg hineinstolpern würde. Doch ihre Bedenken sollten sich nicht bewahrheiten. Sowohl den deutschen Einmarsch in Österreich als auch die Besetzung des Sudetenlandes konnte die NS-Diktatur als außenpolitischen Erfolg verbuchen. Die Westmächte scheuten eine Konfrontation mit dem Deutschen Reich und billigten mit dem Münchner Abkommen die aggressive Expansionspolitik. Einer möglichen Opposition aus militärischen Kreisen war damit die Grundlage entzogen – so jedenfalls das Narrativ nach dem Zweiten Weltkrieg.
O8 HÜRTER:
Man muss ja auch generell sagen, dass die Militärelite nach 1945 bemüht war, sich nachträglich von Hitler und dem Regime zu distanzieren. Und diese Konstruktion, es habe schon 1938 eine Verschwörung gegeben, einen Widerstand, hat da natürlich gut reingepasst, aber stimmte mit der Realität nicht immer so ganz überein. Da hat man ziemlich an der Wahrheit oder an der Vergangenheit herum manipuliert. Im Grunde war das eine Art Vergangenheitspolitik in eigener Sache, um die Militärelite zu entlasten nachträglich, denn eigentlich hat sich die Militärelite in sehr weitgehender Form auf den Nationalsozialismus, auf Hitler, auf die Kriegspolitik, auf die Kriegszielpolitik auch eingelassen und später dann sich auch an dem Vernichtungskrieg beteiligt.
ATMO Kriegsgeräusche /
MUSIK 10 ( Iva Zabkar: Frühstück / einbruch / mord 1’06)
ERZÄHLERIN:
Als sich mit der verlorenen Schlacht um Stalingrad im Winter 1942/43 eine deutsche Kriegsniederlage abzeichnete, kam Bewegung in das oppositionelle Netzwerk, in dem die zivilen und militärischen Akteure zwar miteinander kommunizierten, aber keine konkreten Umsturzplanungen anstellten. Für letzteres waren ohnehin die Militärs zuständig, während sich die zivile Opposition in erster Linie mit Konzepten für ein zukünftiges Deutschland beschäftigte. Die drohende Kriegsniederlage beunruhigte die Militärs.
MUSIK 11 ( Jens Buchert: Pulse 0‘46)
Was würde aus Deutschland werden im Falle einer bedingungslosen Kapitulation? Wer würde zur Verantwortung gezogen für die Massenmorde, all die Verbrechen, die die deutschen Besatzer in den besetzten Ostgebieten begangen hatten? Der Sturz des NS-Regimes sollte politische Handlungsmöglichkeiten schaffen – vor allem in Hinblick auf Friedensverhandlungen.
Führende Köpfe des militärischen Widerstands waren General Friedrich Olbricht und Generalmajor Henning von Tresckow. Sie bildeten den Kern der späteren Attentatsgruppe. Mit den Widerstandsnetzwerken um Ludwig Beck waren sie bereits seit 1938 in Kontakt. Claus Schenk von Stauffenberg, der das Attentat am 20. Juli 1944 letztendlich ausführte, stieß erst relativ spät zu den Verschwörern.
O9 HÜRTER:
Stauffenberg kommt aus einem rechtsnationalistischen Milieu. Aus dem Grund hat er auch 1933 die Machtübernahme Hitlers und der Nationalsozialisten zunächst durchaus begrüßt, und man findet sogar bis 1942 noch viel Zustimmung. Das bestärkt eigentlich die These, dass er erst ab 1942 und vielleicht sogar auch erst im Laufe des Jahres 1943 auch innerlich zum überzeugten Widerstandskämpfer geworden ist, der dann aber wirklich mit einer unvergleichlichen Konsequenz dieses eine Ziel, nämlich Hitler zu beseitigen, verfolgt hat.
Also da war er die treibende Kraft dann neben sehr vielen anderen militärischen und zivilen Akteuren, die diesen letzten Schritt vielleicht irgendwann gehen wollten, aber mit der Konkretisierung immer Probleme haben, gezaudert haben, den richtigen Augenblick, der vielleicht nie kommen würde, abwarten wollten.
MUSIK 12 ( Iva Zabkar: Fahrt zum Kommissariat 0‘35)
ERZÄHLERIN:
Eine zentrale Rolle bei den militärischen Umsturzplänen spielte das sogenannte Ersatzheer. Das waren Soldaten, teils noch in Ausbildung, teils auch in Reserve, die innerhalb des Deutschen Reiches stationiert waren und es im Krisenfall unter dem Decknamen "Operation Walküre" verteidigen sollten. Als stellvertretender Befehlshaber hatte Friedrich Olbricht Zugriff auf das Ersatzheer. Und Henning von Tresckow hatte die Idee, die Walküre-Planungen für einen Staatsstreich umzuarbeiten.
O10 HÜRTER:
Das war eine fantastische Idee, denn dieser Plan Walküre war von Hitler ja an sich bereits genehmigt und sollte eingesetzt werden gegen mögliche Aufstände, innere Unruhen, Meutereien von Zwangsarbeitern, Kommandounternehmen der Alliierten in Deutschland, also war ein Instrument, ein Planungsinstrument, um Deutschland im Inneren, von inneren und äußeren Angriffen zu verteidigen. Und die geniale Idee Tresckows war, das nun gegen Hitler oder besser gesagt, gegen den Nationalsozialismus zu wenden, und das war eng verknüpft mit dem Plan, Hitler in irgendeiner Form zu beseitigen.
ERZÄHLERIN:
Tresckow, Olbricht und auch Stauffenberg waren maßgeblich an der Umarbeitung des Walküre-Plans beteiligt. Friedrich Olbricht sollte von Berlin aus den Staatsstreich leiten. Nach dem Tod Hitlers sollten die Truppen des Einsatzheeres in Marsch gesetzt, NS-Organisationen ausgeschaltet, deren Führer verhaftet und Dienststellen besetzt werden. Wichtige Rundfunk- und Kommunikations-Einrichtungen wie Fernsprech-, Fernschreib- und Funkverbindungen wollte man übernehmen und in Berlin eine neue Regierung installieren. Soweit in groben Zügen der Plan für den Sturz des NS-Regimes.
O11 HÜRTER:
Es war zunächst nicht geplant, dass Stauffenberg der Attentäter ist. Das hat sich erst so entwickelt. Denn Stauffenberg war ja gleichzeitig auch einer der Hauptorganisatoren des Staatsstreiches und sollte eigentlich ursprünglich gar nicht in diese Gefahr gebracht werden, dass er bei dem Versuch eines Attentats vielleicht dann auch selbst getötet werden könnte. Das hat sich nach und nach entwickelt. Es hat sich vor allem entwickelt, weil Stauffenberg dann in diesen Monaten derjenige war, der am leichtesten Zugang zu Hitler hatte.
ERZÄHLERIN:
Bereits vor dem 20. Juli 1944 nahm Stauffenberg einige Male an Besprechungen bei Adolf Hitler teil, das geplante Sprengstoffattentat konnte jedoch aus verschiedenen Gründen nicht ausgeführt werden. Angesichts der aussichtslosen militärischen Lage kam es auch zu Diskussionen, ob Attentat und Staatsstreich überhaupt noch einen Sinn
SPRECHER :
Das Attentat muss erfolgen, bekräftigte Henning von Tresckow. Denn es komme nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat, alles andere ist daneben gleichgültig.
MUSIK 13 (Anselm Kreuzer: Impacts Getting Closer 1‘36)
ERZÄHLERIN:
Am 20. Juli reiste Stauffenberg mit zwei Paketen Sprengstoff im Gepäck ins Führerhauptquartier Wolfschanze im damaligen Ostpreußen, um an einer Lagebesprechung mit Hitler teilzunehmen. Kurz vor Beginn der Besprechung zog sich Stauffenberg unter einem Vorwand zurück. Er wollte die Zeitzünder an beiden Sprengstoffpaketen aktivieren, schaffte das aber nur an einem der Pakete, versteckte es in einer Aktentasche und platzierte diese dann in der Besprechungsbaracke in der Nähe von Hitler. Danach verließ er abermals unter einem Vorwand den Raum und beobachtete aus einer sicheren Entfernung die Detonation, die an der Baracke schwere Zerstörungen anrichtete.
ATMO Detonation
Er nahm an, dass Hitler tot sei, und machte sich auf den Weg zurück nach Berlin. Dort hatte Friedrich Olbricht bereits die Nachricht erhalten, dass Hitler nur leicht verletzt war. Deshalb zögerte er, die Truppen des Ersatzheeres zu mobilisieren. Erst als Stauffenberg Stunden später in Brandenburg landete und versicherte, dass Hitler tot sei, versuchte Olbricht, das Ersatzheer in Marsch zu setzen. Da war es aber schon zu spät: Die Nachricht, dass Adolf Hitler das Attentat überlebt hatte, war bereits durchgesickert. Im folgenden Machtkampf unterlagen die Verschwörer. Der Staatsstreich war gescheitert. Die Hauptgründe dafür, so der Historiker Johannes Hürter waren zum einen, dass Adolf Hitler bei dem Attentat nicht getötet worden war.
O12 HÜRTER:
Der zweite Grund war, dass die Verschwörer innerhalb der Militärelite letztlich nur eine Minderheit waren, dass es zu viele Zauderer gab, die unentschieden waren, und wahrscheinlich noch mehr Offiziere in wirklich allen Bereichen und an allen Standorten, die diese Verschwörung auch abgelehnt haben, die einen Staatsstreich abgelehnt haben aus verschiedenen Gründen.
ERZÄHLERIN:
Die starke preußisch-deutsche Militärtradition mit Pflicht und Gehorsam mag eine Rolle gespielt haben, der Eid auf Adolf Hitler persönlich, die Verbundenheit mit der NS-Ideologie, die Angst vielleicht auch vor den Konsequenzen, wenn der Umsturz scheiterte … Friedrich Olbricht, Claus von Stauffenberg und andere wurden noch in der gleichen Nacht hingerichtet. Ludwig Beck bekam die Möglichkeit zum Selbstmord, als dieser misslang, wurde er erschossen. Unter Führung der SS wurde eine "Sonderkommission 20. Juli" eingerichtet. Um die 500 Kriminalbeamte ermittelten, schätzungsweise 600 bis 800 Personen wurden in Zusammenhang mit dem Attentat verhaftet, etwa 200 von ihnen vom NS-Regime ermordet. Manche begingen Selbstmord, um ihrer Verhaftung zu entgehen wie Henning von Tresckow. Andere wurden in Schauprozessen vor dem Volksgerichtshof zum Tode verurteilt wie etwa Carl Friedrich Goerdeler.
MUSIK 14 Johnny Klimek: Nah 1’01
Was sie für die Zukunft Deutschlands geplant hatten, wäre der Staatsstreich geglückt? Das war unklar.
O13 HÜRTER:
Was relativ klar ist, ist, dass der Plan nicht war, die parlamentarische Demokratie zu erneuern, also die parlamentarische Demokratie nach dem Vorbild der Weimarer Republik. Das ganz bestimmt nicht. Die meisten Pläne gingen so in die Richtung einer Stände-Republik mit demokratischen Elementen, vielleicht sogar eine Stände-Monarchie mit parlamentarischen und demokratischen Versatzstücken. Also, das war alles ziemlich diffus. Es wäre keine Demokratie geworden, wie wir sie uns heute vorstellen, also keine parlamentarische Demokratie so wie die Bundesrepublik. Also das wäre da auf keinen Fall herausgekommen.
Nur kurz in den Ofen - und fertig ist die Mahlzeit! Gerade für Eilige ist Fertigessen verlockend. Dabei ist es oft ungesund, denn es enthält viel Salz und Zusatzstoffe. Neuartige Produkte, wie Fleischersatz auf Soja- oder Weizenbasis, klingen dagegen erst mal gesund. Aber sind sie das auch? Von Maike Brzoska (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Beate Himmelstoß, Frank Manhold
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Die 1950er sind nicht nur WM-Sieg, Wirtschaftswunder und biedere Heimatfilme. Die Jahre der Besinnung aufs private Familienglück sind gleichzeitig die Zeit, in der größere Demonstrationen stattgefunden haben als 1968. Die grundlegenden Fragen, wie wir zusammen leben wollen, müssen erst verhandelt werden. Und die Jugendliche werden aufmüpfig. Von Johannes Berthoud
Credits
Autor dieser Folge: Johannes Berthoud
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Amberger, Jennifer Güzel
Technik: Andreas Caramelle
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Literaturtipps:
Bodo Mrozek, „Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte“ – beschreibt anschaulich und pointenreich den Aufstieg von Jugendkulturen Mitte des 20. Jahrhunderts, inklusive der Halbstarken in den 1950ern.
Siegfried Gohr, „Ich suche nicht, ich finde“: Pablo Picasso - Leben und Werk“ – erhellende bebilderte Einführung in das Werk von Pablo Picasso – allerdings klammert Gohr das berühmteste Werk „Guernica“ aus.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
An einem Donnerstagabend im Juli 1956 verlassen einige Jugendliche im Berliner Arbeiterviertel Wedding die kleine, enge Wohnung ihrer Eltern.
Sie ziehen ihre Lederjacke an, setzen sich aufs Moped und knattern Richtung Afrikanische Straße, zum Cafe Punkt.
Die Jugendlichen gehören zur „Totenkopfbande“, einer Gruppe, die sich regelmäßig hier trifft, um Musik zu hören, zu tanzen, sich zu unterhalten. Die Anwohner vom Cafe Punkt haben sich schon häufiger über den Lärm der „Halbstarken“, wie sie sie nennen, und der Kleinkrafträder beschwert.
Diesmal, am 12. Juli, rückt die Polizei an und will die Straße räumen. Neugierige kommen dazu. Die Mitglieder der Totenkopfbande denken nicht daran, wegzugehen und bleiben vor dem Lokal stehen. Ein Wasserwerfer von der Polizei biegt um die Ecke. Polizisten zücken ihre Knüppel.
Atmo aufgebrachte Menschenmenge + Polizeisirene
Musik 1 aus.
Musik 2: Capri-Fischer – 14 Sek
SPRECHERIN
Jugendkrawalle passen nicht in das Klischee der 50er: Da kommt der Familienvater mit dem VW Käfer von der Arbeit.
ZSP 02 Millionenste Käfer Nordhoff
Unseren Volkswagen, so wie er heute ist, behalten wir noch sehr lange bei.
SPRECHERIN
Während ihr Ehemann in der Fabrik war, hat die Hausfrau die Wohnung geputzt und das Essen vorbereitet.
Musik 3 Willy Schneider - Grün ist die Heide – 31 Sek)
SPRECHERIN
Am Samstag geht’s ins Kino: Es läuft „Grün ist die Heide“.
ATmo Schallplatte, Musik reißt ab:
SPRECHERIN
All das gehört zwar zum ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik, aber eben nicht nur.
ZSP 05 Biermann Buntheit vielseitiger
im Grundsatz ist diese Demokratie in den 50er-Jahren und auch das Lebensgefühl viel vielseitiger, als uns aus der Rückschau das vor Augen steht.
SPRECHERIN
Der Historiker Harald Biermann - Präsident des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn.
ZSP 06 Biermann Proteste
Nur ein Beispiel: Herr Kraushaar, ein Historiker aus Hamburg hat eine Demonstrations-Chronik der 50er-Jahre herausgegeben, wo alle großen Demonstrationen in Westdeutschland nachgezeichnet werden. Und da stellt sich heraus, dass die großen Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung , für die Demokratisierung, sozusagen der Institutionen, gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen, das, dass größere Demonstrationen waren als 1968.
Musik 4: Der Staat gegen Fritz Bauer (Epilog) - 1:10 Min
SPRECHERIN
Kein Wunder, die Menschen müssen erst verhandeln, wie sie zusammenleben wollen: welche Normen und Regeln sollen für eine Gesellschaft gelten, welchen Stellenwert sollen demokratische Prinzipien haben.
Auf die Frage, wer am meisten für Deutschland geleistet hat, landet Hitler in der frühen Bundesrepublik auf dem zweiten Platz, nach Bismarck.
Die Alliierten stellen in den Jahren nach dem Krieg zwar NS-Verbrecher vor Gericht. Unter Kanzler Konrad Adenauer war dann aber erst mal Schluss mit der Entnazifizierung. Viele große und kleine Nationalsozialisten konnten in der Verwaltung des neuen Staates einfach weitermachen. Ein Beispiel ist Hans Globke. 1935 wurden die „Nürnberger Gesetze" erlassen. Sie begründen die Verfolgung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. An den Gesetzen war auch Globke beteiligt. Er verfasste als Jurist einen wichtigen Kommentar zu den Gesetzen. Unter Konrad Adenauer wird er trotzdem Chef des Bundeskanzleramts.
ZSP 07 Biermann Allensbach Beste Zeit 33-39
Allensbach befragt immer wieder was sind die, was war die beste Zeit bisher im 20.Jahrhundert. Und da sagen ganz ganz viele Menschen und vor allem auch Männer. Ähm, die beste Zeit im zwanzigsten Jahrhundert waren 1933 bis 39, also sozusagen das Dritte Reich im Frieden. Und das ändert sich erst so Ende der 50er-Jahre, diese Einschätzung.
SPRECHERIN
Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten ist selbstverständlich. Der Idealtypus eines Mannes hat eine stramme Haltung und trägt Uniform.
Und dann knattern da plötzlich ein paar Halbstarke in Lederjacke auf ihrem Moped durch die Stadt, hören „Dschungelmusik“, wie es heißt, und hängen auf der Straße herum – wie beim Cafe Punkt im Wedding. Der Kulturschock für viele Ältere muss unvorstellbar gewesen sein.
ZSP 8 Mrozek Flammenwerfer
Und bei allen Verstößen gegen diese auch ästhetischen Normen, die eigentlich noch in der NS-Zeit etabliert waren. Da war der Ruf nach Haare abschneiden, Konzentrationslager oder Flammenwerfer nicht weit.
SPRECHERIN
Bodo Mrozek ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und Autor des Buches „Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte“.
Die Jugendlichen, die so viel Anstoß erregen: sie kommen häufig aus der Arbeiterklasse und fallen auf, weil sie Jeans anhaben, manchmal Lederjacken und weil sie sich in Gruppen auf öffentlichen Plätzen treffen.
Mitte der 1950er kommt es in vielen deutschen Großstädten zu Krawallen.
ZSP 9 Mrozek Hannover
Und es reichte da wenig aus, um zu provozieren. In Hannover gab es einen Fall, wo auf der Straße, äh, Jugendliche überhaupt nur getanzt haben. Ein Vater entdeckt seine Tochter bei diesen obszönen Tänzen und zerrt sie davon, teilte aber vorher auch noch Boxhiebe an die jungen Tänzer aus. Und die reagieren natürlich darauf. Daraus entwickelt sich so ein groß Krawall. Und da sieht man exemplarisch, dass jetzt eigentlich die Gewalt nicht immer von den Jugendlichen ausging, sondern oftmals von der erwachsenen Kommunalgesellschaft, die sich durch ungewohnte Kultur provozieren ließ.
Musik 5: Der Postraub - 39 Sek
SPRECHERIN
Die „Halbstarken“ sind Thema in vielen Tageszeitungen - und im Radio.
ZSP 10 Diskussion mit Halbstarken 1 (frei ab 0:10 bis 0:23min; Archivnummer / Take: DK101130 Z00; Diskussion mit Halbstarken)
Seit Monaten häufen sich in der der Tagespresse fast aller großen Städte der Bundesrepublik die fetten Schlagzeilen über Verbrechen und Ausschreitungen Jugendlicher. Das heißt – Pfui! – Sei stad jetzt, was schreist denn jetzt scho, da hast ja danach nichts mehr drin in der Kehle.
SPRECHERIN
Der Münchner Stadtrat Mühlbauer spricht aber nicht nur über Halbstarke. Auch Jugendliche selbst kommen auf der Veranstaltung zu Wort, die der Bayerische Rundfunk am 21.09.1956 sendet.
ZSP 11 Diskussion mit Halbstarken 2 (ab 0:08min; Archivnummer / Take: DK101130 Z00; Diskussion mit Halbstarken)
Man kann die Vorfälle, die heute ab und zu vorkommen, einfach nicht der gesamten Jugend in die Schuhe schieben!
SPRECHERIN
Die Hysterie, die um die Jugendkriminalität entsteht, sagt vielleicht weniger über die Jugend aus als über die sich empörenden Bürger.
ZSP 12 Mrozek Jugendkriminalität
Man ging also auch in wissenschaftlichen Untersuchungen damals davon aus, wenn jetzt minderschwere Abweichung von der Norm geschehen, dass da eine ganze Generation von Kriminellen heranwächst, die dann auch als Erwachsene das Land dominieren.
SPRECHERIN
Dabei ist die Abweichung von der Norm, zumindest auf der popkulturellen Ebene, genau das, was auch in der großen Politik passiert.
Kanzler Konrad Adenauers Regierung aus Union und FDP setzt die Westbindung durch. 1955 gründet die Bundesrepublik die Bundeswehr und tritt der NATO bei.
ZSP 13 Adenauer NATO (Archivnummer: H0000850020)
Ich sehe in dem Eintritt der Bundesrepublik in den Nordatlantikpakt, einen Ausdruck der Notwendigkeit, den engen Nationalismus zu überwinden, der in den Vergangenen Jahrhunderten vielen Unglücks war.
SPRECHERIN
Die Jugendlichen orientieren sich auch nach Westen und hören amerikanische Rock’n’Roller wie Bill Haley oder Elvis Presley und schauen Filme mit Marlon Brando.
Musik 6: Elvis Presley - Don't be cruel (to a heart that's true) – 37 Sek
SPRECHERIN
Ganz nebenbei entsorgen sie schon mal ein preußisches Männerideal, das viele Deutsche noch länger hochhalten.
Die Stars aus Amerika – und deren deutsche Nachahmer wie der Sänger Peter Kraus – begeistern durch Lässigkeit, nicht durch stramme Haltung. In der ganz frisch gegründeten Jugendzeitschrift Bravo steht neben einem Poster von Marlon Brando.
SPRECHER 2
„Marlon ist ein so salopper Zivilist, daß er sich grundsätzlich in keiner Uniform wohlfühlt.“
Musik 7: Conny – Lippenstift am Jacket – 34 Sek
SPRECHERIN
Die Bravo schreibt natürlich auch über Schlagerstars, die die deutsche Hitparade dominieren. Fred Bertelmann, Peter Alexander, Margot Eskens, Freddy Quinn und Conny…
Musik hoch…
SPRECHERIN
Die neue Lässigkeit und die Abkehr vom Soldatenideal passt auch zu den Protesten gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Viele lehnen Anfang des Jahrzehnts eine neue deutsche Armee ab – aus Kriegsangst, die auch durch die Geschehnisse im Fernen Osten bestärkt wird
1950 greift Nordkorea Südkorea an. Ähnlich wie DDR und BRD sind die beiden Länder aus einer sowjetischen und einer US-amerikanischen Besatzungszone hervorgegangen. Der Historiker Harald Biermann:
ZSP 16 Biermann Kriegsangst
Kriegsangst war eben real, weil sechs Jahre zuvor der größte Waffengang der Weltgeschichte zu Ende gegangen war. Also jeder konnte sich damals vorstellen, was es heißt, in Mitteleuropa einen Krieg zu haben. Und dieses koreanische Muster sozusagen drohte eben auch in Europa umgesetzt zu werden.
SPRECHERIN
Der überstandene Krieg prägt die Zeit – das heißt aber nicht, dass nun in der Bundesrepublik die deutsche Schuld zum öffentlichen Thema wird. Die meisten sehen sich selbst als Opfer des Krieges und als von Hitler und seiner Verbrecherclique Verführte.
ZSP 17 Biermann Beschäftigung NS
Es ist keine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, aber durchaus eine Beschäftigung mit der Vergangenheit, obwohl natürlich gesagt werden muss, dass zum Beispiel die Vernichtung der europäischen Juden im Großen und Ganzen kein gesellschaftliches Thema ist.
Musik 8: Der Staat gegen Fritz Bauer – siehe oben – 53 Sek
SPRECHERIN
Über den Holocaust wird nicht gesprochen.
Die Wehrmacht gilt im Gegensatz zur SS als saubere Armee und wird gerade nach der Wiederbewaffnung 1955 in Kriegsromanreihen gefeiert. „Der Landser“ verkauft sich hunderttausendfach.
Die Kriegsangst tritt da schon in den Hintergrund. 1953 ist der Koreakrieg zu Ende gegangen.
1955 erlangt die Bundesrepublik dann auch die Souveränitätsrechte von den Alliierten zurück. Und eine andere Nachricht rührt das ganze Land: Adenauer reist nach Moskau. In Sachen Wiedervereinigung erreicht er nichts, aber er bringt die Nachricht mit nach Hause, dass die letzten deutschen Kriegsgefangenen von den Sowjets entlassen werden. Die „Heimkehr der Zehntausend“.
TON 18 Biermann Aufbruch
Das war natürlich ein Aufbruch in eine neue Zeit, auch ein nachholen, also einerseits davongekommen, andererseits Aufbruch. Und dann, wenn die 50er-Jahre sich etwas weiterentwickeln, auch zunehmender Wohlstand der aber, und das muss man hier, glaube ich, noch einmal unterstreichen, hart erarbeitet werden musste.
Musik 9: Wirtschaftswunder Archivnummer: ZZ223375220 – 19 Sek
„Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, jetzt kommt das Wirtschaftswunder“…
SPRECHERIN
Das Wirtschaftswachstum liegt im Durchschnitt bei 8 Prozent. Heute unvorstellbar.
ZSP 20 Ludwig Erhard - Wirtschaftskommentar Zukunft
Was hinter uns liegt, die Wiedererstarkung deutschen Lebens aus Trümmern und Verzweiflung mag uns wohl Trost und Hoffnung geben, dass in solchem Sinne Vergangenheit fruchtbar und lebendig bleibt,
SPRECHERIN
Wirtschaftsminister Ludwig Erhard mit seiner Zigarre ist die Ikone dieser Zeit.
ZSP 20 Erhard weiter
aber alles was den Menschen und ein ganzes Volk bewegt, gilt der Zukunft, hofft auf das morgen.
SPRECHERIN
Sechs Tage die Woche, 48 Stunden arbeiten viele Deutsche zu der Zeit.
ZSP 21 Werbung für Coca Cola aus den 50ern: Archivnummer / Take: WR030570 Z00 – 4 Sek – Sendereichte frei
Mach mal Pause, Coca-Cola!
SPRECHERIN
Die deutschen Männer vor allem sind erwerbstätig. Nachdem die Frauen in der Kriegszeit den Laden geschmissen haben, sollen sie sich wieder um den Haushalt und die Familie kümmern. Oder wenn, dann in Bereichen arbeiten, die den Frauen vorbehalten sind.
ZSP 22 Werbung Uhu (WR031670113, Senderechte frei)
Gisela, eine Sekretärin wie tausend andere
-Ich nehme Uhu gegen Laufmaschen. Einfach toll!
-Aah.
Musik 10 – Ein guter Informant – 1:05 Min
SPRECHERIN
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ – so steht es im Grundgesetz von 1949. Und das nur, weil Friederike Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Wessel und Helene Weber dafür gekämpft haben. Neben 61 Männern waren sie die einzigen vier Frauen im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz erarbeitet hat.
Die Adenauer-Regierung tut dann aber wenig dafür, diesen Satz aus der Verfassung mit Leben zu füllen.
ZSP 23 Adenauer Frauen [Archivnummer: DK30105]
Wir Männer merken eigentlich immer erst, was unsere Frauen bedeuten, wenn sie fehlen. Dann fehlt es überall im Haus.
SPRECHERIN
Noch bis 1957 gilt folgender Paragraph im Bürgerlichen Gesetzbuch:
SPRECHERIN 2
"Dem Mann steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu; er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung."
SPRECHERIN
Erst Ende der 50er erhalten Frauen bekommen mehr Rechte und die Arbeiter mehr Freizeit. Erste Branchen führen den freien Samstag ein. Die meisten Vatis werden am langen Wochenende trotzdem nicht die Kinder hüten – oder beim Zubereiten des Sonntagsessens helfen:
ZSP 26 Biermann Schmorrbraten
Lang gebraten, Schmorrbraten mit Leipziger Allerlei und frischen Kartoffeln.
SPRECHERIN
Der Präsident des Hauses der Geschichte Deutschlands Harald Biermann nennt ein typisches Essen für die Zeit.
ZSP 27 Biermann Fresswelle
Natürlich gab es diese Fresswelle, dass man eben nachholte, was in den Vierzigerjahren sagen wir jetzt mal nicht möglich war. Aber wenn man jetzt ökologisch korrekt ernährungstechnisch auf dem neuesten Stand wäre, muss man sagen, dass die Ernährung wahrscheinlich in den 50er Jahren besser war, weil man eben Braten nur sonntags aß also. Sonst gab es in den ganz vielen Fällen kein Fleisch.
SPRECHERIN
Die ersten Urlauber beginnen in den 50ern schon die lange beschwerliche Reise auf der alten Brenner-Passstraße nach Italien. Mitte des Jahrzehnts fährt aber erst ein Viertel aller Deutschen überhaupt auf Urlaubsreise. Das Ziel liegt fast immer in Deutschland. Und viele können von Reisen nur träumen. Gerade weil die Welt für viele noch so weit weg ist, gedeiht das Fernweh.
Musik 11: Komm ein bisschen mit nach Italien – 15 Sek
Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer. Und wir tun als ob das Leben eine schöne Reise wär…
Musik 12: Tipitipitipso Länge: 30 Sek -
SPRECHERIN
Noch weiter weg als Italien – vollkommen unvorstellbar. Aber im Kino oder im Schlager: Da ist alles möglich
Musik 13: Schwarzwaldmädel - 13 Sek
SPRECHERIN
Nicht nur im Schlager ist die Welt in Ordnung – auch im Heimatfilm.
ZSP 32 Biermann Kino
Der Heimatfilm hatte eine Entlastungsstrategie also gerade in den frühen 50er-Jahren. Wenn man, wenn man sagt, rund um mich herum war viel Vernichtung, war auch viel Ärger, war viel Anstrengung, dann entfloh man eben für anderthalb Stunden in ein Kino.
ZSP 33 34 Biermann Grün ist die Heide
also wenn sie an „Grün ist die Heide“ denken dann das war, glaube ich, der erfolgreichste Heimatfilm.
Musik 14: „Geheimnis“ – 50 Sek
SPRECHERIN
In „Grün ist die Heide“ wird ein verbitterter Vertriebener zum Wilderer. Früher hatte Lüder Lüdersen ein herrschaftliches Anwesen und viel Wald. Nach der Flucht aus dem Osten mit seiner Tochter in die Lüneburger Heide muss er als Verwalter arbeiten – und wildert. Als ein Gendarm erschossen wird, fällt der Verdacht auf ihn. Dabei steckt ein wirklich gewissenloser Wilderer und Schurke hinter dem Mord. Auf ihn trifft er in der Heide. Es kommt zum Kampf, Lüdersen wird verwundet. Aber der Förster rettet ihm das Leben - und kommt endgültig mit dessen Tochter zusammen.
ZSP 33 34 Biermann Grün ist die Heide weiter
Da wird schon sehr genau darauf geachtet, das die Vertriebenen, die eben dort auch eine Rolle spielen, sozusagen dann in die Heimat integriert werden. Und das sind schon - also bei aller sage ich mal oberflächlichen Ästhetik, ganz interessante gesellschaftliche Entwicklungen, die dort abgebildet werden.
Musik 15: Das Verhör der Gang – 20 Sek
SPRECHERIN
Aber auch um die jugendlichen Mopedfahrer drehen sich Filme. Einer heißt sogar „Die Halbstarken“. Die Hauptfigur Freddy stiftet seine Bande zum Überfall auf ein Postauto an. Am Ende geht alles furchtbar schief und er wird verhaftet.
1957 zählen die Kinos über 800 Millionen Besucher. Zum Vergleich: 2023 sind es unter 100 Millionen. Die Menschen suchen in den 50ern im Kino nicht nur Ablenkung. Es laufen auch Nachrichten: Die Wochenschauen. Da die Fernseher erst langsam in den Wohnzimmern ankommen, informieren die Menschen sich in den Kinos. Mit der Zeit haben sie immer mehr Geld für Musiktruhen, Schallplatten, Mopeds und Schmorbraten. Der Konsum zeigt vielleicht am besten, dass die 50er wie jedes Jahrzehnt einer willkürlichen Einordnung folgen. Denn die Unterschiede zwischen 1950 und 1959 sind gewaltig. Das Geld, das zum Ausgeben übrigbleibt, verdoppelt sich in dem Zeitraum. Vom Wirtschaftswunder-Chanson kennt jeder den Refrain, aber so fängt er an:
Musik 16 Jetzt kommt das Wirtschaftswunder – 18 Sek
Die Straßen haben Einsamkeitsgefühle und fährt ein Auto ist es sehr antik.
SPRECHERIN
Aber dann kommt das Wirtschaftswunder und 1955 läuft der Millionste Käfer vom Band.
ZSP 36 Biermann Staus
Anfang der 50er Jahre hatte fast niemand ein Auto, und Ende der 50er-Jahre gibt es in allen größeren Städten Staus.
Musik 17: Goofin‘ around – siehe vorn – 17 Sek
SPRECHERIN
So langsam konnten sich die Bürger wieder was leisten. Nach Jahren des Darbens, haben alle freudig mitkonsumiert. Auch die aufmüpfigen Jugendlichen mit ihren Mopeds hätten gewollt. Die „Halbstarken.“ Die amerikanischen Stars machen ihnen ja vor, wie man lässig aussieht.
SPRECHERIN
Der Historiker Bodo Mrozek hat zu Jugendkulturen in der Mitte des 20. Jahrhunderts geforscht.
Der Markt hat im Gegensatz zu den Eltern kein Problem mit den aufmüpfigen Jugendlichen- und bald gibt es alles, was deren Herz begehrt.
ZSP 38 Mrozek Bravo Mode
Diese Wirtschaftsgeschichte ist ja kaum zu verstehen, wenn man nicht die Attraktion popkultureller Images versteht, von der Schallplatte übers Abspielgerät zum übers Kleinkraftrad hin bis zum T-Shirt. Das sind ja eigentlich die Ansätze, die auf kultureller Ebene gesetzt werden und dann in Angebot und Nachfrage zu harter Wirtschaftsgeschichte umgemünzt worden sind.
SPRECHERIN
Am Ende der 50er stellen Meinungsforscher dann fest: Die ganze Aufregung, um eine kriminelle Generation, die da angeblich heranwächst, war umsonst. Die Jugendlichen teilen die Werte der Elterngeneration.
ZSP 39 Mrozek Werte der Elterngeneration
Sie wollten ein Eigenheim, einen sicheren Job und eine Familie gründen.
SPRECHERIN
Und doch haben die so genannten Halbstarken einen Anteil daran, wie wir heute leben. Sie haben damit begonnen, die Kultur in Deutschland umzukrempeln.
ZSP 40 Mrozek Avantgarde
Das war ja eigentlich genau die Westbindung, die die Bundesrepublik auch durch die Kulturpolitik, die starke Orientierung an Amerika allmählich vollzogen hat, um eben auch aus diesem deutschen Nationalismus. Und man muss ja auch sagen, aus dem Nationalsozialismus allmählich heraus zu kommen. Und so gesehen waren die Jugendlichen schon eine Avantgarde, die kulturelle Entwicklung vorweggenommen hat, die die Bundesrepublik später ganz offiziell vollzogen hat, auch wenn es zu keine expliziten politischen Forderungen gehabt, die von dieser Jugend jetzt lautstark erhoben worden wären.
SPRECHERIN
Die 50er Jahre in der Bundesrepublik waren ein Jahrzehnt des Aufbruchs. Viel lebendiger und aufregender als unser kollektives Gedächtnis häufig erinnert. Optimismus und steigender Wohlstand prägen das Lebensgefühl. Demokratische Werte finden immer mehr Resonanz, aber es wird noch dauern, bis es eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der deutschen Schuld gibt. Die Vernichtung der europäischen Juden ist eine dröhnende Leerstelle, über die so gut wie keiner spricht.
Musik 18: Der Staat gegen Fritz Bauer (Epilog) – siehe vorn – 41 Sek
Trotz des Aufbruchs, die biedere und ordnungsliebende Anmutung der Zeit, von der sich die Halbstarken abgewendet haben, ist nicht im Nachhinein erfunden. Das zeigt auch ein letztes Klischee, das hier entlarvt werden soll.
Musik 19 – Immer elegant – 36 Sek
50er Jahre Möbel aus dem 20. Jahrhundert sind im 21. Jahrhundert wieder gefragt. Der Nierentisch mit leicht schräg nach außen stehenden Beinen ist hip.
ZSP 41 Biermann Nierentisch
So sah aber keine Wohnung aus. Die Realität war immer allgemeiner gesprochen. Die Realität war Gelsenkirchener Barock. Also die Menschen vertrauten auf die Möbel, die sie haben retten können, aus den 20er oder 30er Jahren. Also Eiche rustikal Schrankwand und der röhrende Hirsch über dem über dem Sofa.
Auch wenn wir uns heute zunehmend in virtuellen Räumen bewegen - wenn wir einander in der Realität begegnen, spielt unser Körper aus Fleisch und Blut eine große Rolle. Er ist unsere Visitenkarte, aber auch unser Material, das wir nach unseren Vorstellungen und entlang gesellschaftlicher Normen gestalten. Von Susanne Hofmann (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Shenja Lacher, Jerzy May, Katja Schild
Technik: Tim Höfer, Winfried Messmer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky, Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München;
Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Professor für Soziologie und Sportsoziologie, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Julia Fischer, Herbert Schäfer, Johannes Hitzelberger
Technik: Robin Auld
Redaktion: Iska Schreglmann
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Dr. Stefan Löhle, Akademischer Rat am Institut für Raumfahrtsysteme, Uni Stuttgart.
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Es sprachen: Caroline Ebner, Frank Manhold
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Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Klaus Hurrelmann (Dr.; Professor, Sozialwissenschaftler und Jugendforscher);
Pauline Brünger (Fridays for Future-Aktivistin);
Rolf Sistermann (Dr.; Philosophielehrer im Ruhestand);
Janine Engel (Philosophielehrerin);
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Autor dieser Folge: Thies Marsen
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Kein menschliches Leben ohne Gebärmutter. Das muskulöse Hohlorgan lässt den Fötus bis zur Geburt heranreifen. Die Monatsblutung im weiblichen Zyklus besteht vor allem aus sich regelmäßig erneuernder Gebärmutterschleimhaut. Die krankheitsbedingte Gebärmutterentfernung ist die häufigste OP bei Frauen. Von Birgit Magiera (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Birgit Magiera
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Stefan Wilkening, Franziska Ball, Diana Gaul
Technik: Viktor Veress
Redaktion: Matthias Eggert
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Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Der Mensch lebt nicht vom Wort allein. Er braucht Bilder. Bilder schaffen Überblick, machen Unsichtbares sichtbar, speichern Wissen, fördern Erkenntnis, sie formen und spiegeln den menschlichen Geist. Darum haben Bilder die kulturelle Entwicklung nicht nur begleitet, sondern wesentlich vorangetrieben und beschleunigt. Von Simon Demmelhuber (BR 2022)
Credits:
Autor dieser Folge: Simon Demmelhuber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Burchard Dabinnus
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
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Literaturtipps:
Gustav Frank, Barbara Lange, Einführung in die Bildwissenschaft, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010
Klaus Sachs-Hombach, Bildtheorien: anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
Klaus Sachs-Hombach, Bildwissenschaft: Disziplinen, Themen, Methoden, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005
Richard Wollheim, Objekte der Kunst, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1982
Ernst Gombrich, Meditationen über ein Steckenpferd. Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1978
Eigentlich sollte die Liebe ewig halten, und dann platzt der Traum vom gemeinsamen Leben. Trennungen - egal wie einvernehmlich und friedlich sie verlaufen - tun einfach weh. Aus Angst vor diesem Schmerz verharren manche in freudlosen Beziehungen. Dabei können Trennungen auch heilsam sein. Von Karin Lamsfuß
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Berenike Beschle
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Bettina von Kleist, Autorin;
Stephan Potting, Familientherapeut;
Dr. Johanna Müller-Ebert, Dipl. Psychologin;
Torsten Geiling, Coach und Autor
Peter, Verlassender;
Margret und Werner, Verlassene
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literaturtipps:
Torsten Geiling: Ich will mich trennen, Verlag Goldegg, 2024
Bettina von Kleist: Das Jahr danach. Wenn Paare sich trennen. Ch. Links Verlag, Berlin, 2011
Johanna Müller-Ebert: Trennungskompetenz in allen Lebenslagen: Vom Loslassen, Aufhören und neu anfangen, Kösel Verlag, 2007
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Bettina von Kleist:
Ich weiß, wie es ist, wenn die ganze Haut so brennt und man sich selbst auch nicht aushält. So eine Unruhe, weil alles so unklar ist, ich konnte nur Ruhe in der Bewegung finden.
Das war wirklich wie ein Loch! Es ist so ein Aufruhr. Es ist erst mal ein ungeheurer Schmerz, ein Schock, ein Aufschrei. Ich denke, es ist Angst.
Mittags mach ich manchmal so zehn Minuten Schlaf, und das hab ich nicht gemacht, weil wenn ich aufwachte, war so ein ganz großes Erschrecken: Ich bin allein in der Wohnung!
O-Ton 4 Stephan Potting:
Diese traumatischen Trennungen haben auch dramatische Auswirkungen auf das physische und psychische Gleichgewicht, Krankheiten drohen, das Immunsystem wird geschwächt etc. und es sollte wirklich eine Hilfestellung gesucht werden, damit man ein bisschen von dem verarbeiten kann, was da einem widerfahren ist.
Sprecher:
Eine Trennung kann einer Naturkatastrophe gleichen: zerstörerisch wie ein Erdbeben, überflutend wie ein Tsunami, gewaltig wie ein Orkan. So oder so ähnlich beschreiben Paare diesen tiefen Einschnitt in ihrem Leben. Vor allem dann, wenn ihm viele gemeinsame Jahre vorausgegangen sind.
Erzählerin:
Die Ehe der Autorin Bettina von Kleist endete nach 25 gemeinsamen Jahren. Ihr Mann wandte sich plötzlich von ihr ab und verkündete, er wolle nun eigene Wege gehen. Bettina von Kleist zog es den Boden unter den Füßen weg.
O-Ton 5 Bettina von Kleist:
Es reißt alles mit sich. Man überzeichnet den Verlust.
O-Ton 6 Bettina von Kleist:
Und dann hat sich das gelegt, und dann dachte ich: Es ist genug Boden, um einen Schritt zu machen. Und dann plötzlich hab ich gesehen: Es ist genügend Boden um zwei Schritte zu machen.
Sprecher:
Es gibt Trennungen, die sind erlösend. Etwa wenn die Beziehung von körperlicher oder seelischer Gewalt geprägt war.
Doch wenn Partner nach Jahren oder Jahrzehnten guten gemeinsamen Lebens auseinandergehen – aus welchen Gründen auch immer - brauchen sie viel Zeit, um wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Und das, so der systemische Coach Torsten Geiling, gilt für beide Partner:
O-Ton 7 Torsten Geiling:
Beide müssen eben durch den Trauerprozess durch, und das finde ich auch wichtig, dass der, der geht, trauert, und diese Trauerphasen können mehrere Wochen und Monate dauern und sogar mehrere Jahre.
Musik 2
"Twin Decks" - Album: Nordheim Transformed - Komponisten und Ausführende: Deathprod & Biosphere - Länge: 0'27
Erzählerin:
Sie war seine ganz große Liebe. Peter lernte seine Frau mit Ende 20 kennen. Sie heirateten, bekamen zwei Söhne und waren 25 Ehejahre lang glücklich. Dann schlich sich irgendwann ein Gefühl notorischer Unzufriedenheit ein. Irgendetwas hatte sich aus dem Staub gemacht. Fast unmerklich.
O-Ton 8 Peter:
Ich habe einen schweren Beruf gehabt, meine Frau hat diesen Beruf mit mir getragen, meine Frau hat die Familie zu Hause gemacht, und irgendwann sind wir vielleicht müde geworden. Das kann sein. Irgendwann ist es so, dass wir nicht mehr so das Gefühl hatten. Meine damalige Frau hat das Gefühl des Grauens gehabt, und ich hab das Gefühl des Grauens auch gehabt.
Musik 2
"Twin Decks" - Album: Nordheim Transformed - Komponisten und Ausführende: Deathprod & Biosphere - Länge: 0'21
Sprecher:
Laut einer großen Untersuchung aus dem Jahr 2019 sind die häufigsten Trennungsgründe:
Erzählerin:
„Ich war unglücklich in der Beziehung“
Sprecher:
„Ich hatte keine Gefühle mehr für den Partner oder die Partnerin“
Erzählerin:
„Wir haben uns auseinandergelebt“
Sprecher:
„Es gibt eine andere“
O-Ton 9 Peter:
Ich hatte damals das Bild, dass im Vorgarten plötzlich ne Blume wächst. Ne schöne große Blume, die da überhaupt nicht hingehört. Aber die so wunderschön ist, dass man sie auch nicht ausreißen kann. Das heißt: Ich hab mich verliebt! Peng, bum.
Erzählerin:
Die Frau, in die sich Peter verliebt hatte, war 26 Jahre jünger als er. Gegen diese frisch entfachten und überwältigenden Gefühle konnte – und wollte - er sich damals nicht wehren. Trotzdem fiel ihm dieses Geständnis seiner Frau gegenüber ungeheuer schwer. Im gemeinsamen Urlaub fasste er sich ein Herz und legte alle Karten auf den Tisch:
O-Ton 10 Peter:
Wir haben beide geweint. Ich sehe die Szene heute noch wie in einem Kino vor mir. Das war eine Urlaubssituation am Strand einer wunderschönen südfranzösischen Stadt, ich habe den Horizont geguckt, das Meer flimmerte, meine Frau lag neben mir, und dann sind wir anschließend auf die Alpen hochgefahren, und im Nebel an einem Rosenstrauch mit Hagebutten haben wir es noch mal durchgesprochen, es gab viele Tränen, und die mittlerweile schwarz gewordenen Hagebutten von dem Strauch liegen immer noch auf meinem Schreibtisch.
Musik 3
"Lofi Opium" - Album: Apr 70 - Künstler: Dictaphone - Länge: 1'11
Sprecher:
Torsten Geiling hat einen Trennungsratgeber geschrieben. „Ich will mich trennen“, so der Titel. Aus seiner Beratungspraxis weiß er: Obwohl die Scheidungsquote bei knapp 40 Prozent liegt, fällt es Paaren keinesfalls leicht, sich zu trennen. Der Trennung – egal, wer sie initiiert, geht eine lange Phase des Zögerns voraus.
O-Ton 11 Torsten Geiling:
Viele sagen dann „ah, ich kann gerade nicht, wir haben schon den Urlaub gebucht, danach hat die Schwiegermutter Geburtstag, dann hat die Tochter Abschlussprüfung …“ und dann sag ich auch immer: „Ich kann ja auch sagen: Ich krieg’s gerade noch nicht hin zu gehen, also probiere ich noch mal eine Paartherapie“, und wenn ich feststelle: Die allerletzte Chance Paartherapie hat auch nicht funktioniert, dann geh ich halt erst dann.
Sprecher:
Bleiben oder gehen? Das ist immer die zentrale Frage, wenn es kriselt.
Erzählerin:
Peter zögerte: Sollte er wirklich seine Ehefrau, mit der er zwei Söhne hatte, wegen einer Jüngeren verlassen? War es nur die typische Midlife-Crisis? Oder wirklich was Ernstes? Um das zu klären, suchten er und seine Frau einen Paartherapeuten auf:
O-Ton 12 Peter:
Wir wollten einen Weg finden, zusammen zu sein. Zusammen zu bleiben. Wir hatten uns das ja vorgenommen. Und ich erinnere mich noch, wie wir da auf einem Platz einer nordrhein-westfälischen Großstadt waren, und wir warteten auf den Beginn des Termins und guckten uns ein bisschen fragend an, und ich dachte, ich bin in nem schlechten Film, das kann doch nicht sein! Die Bilanz war, dass der Therapeut gesagt hat, er macht das seit einem Viertel Jahrhundert und er sagt uns etwas, was er weniger als fünf Mal in seinem Therapeuten-Dasein gesagt hat, nämlich er meint, wir müssen uns trennen.
Musik 4
"Twin Decks" - Album: Nordheim Transformed - Komponisten und Ausführende: Deathprod & Biosphere - Länge: 0'27
Sprecher:
Paare, da sind sich viele Expertinnen und Experten einig, trennen sich nicht aufgrund ihrer Verschiedenartigkeit, ihrer unterschiedlichen Vorstellungen. Sie trennen sich, weil sie unfähig sind, sich darüber wirklich auszutauschen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, so der Familien- und Paartherapeut Stephan Potting:
O-Ton 13 Stephan Potting:
Es sind eher Geschichten von einer Unfähigkeit, sich auf ein gemeinsames Thema zu einigen, die Unfähigkeit, sich einander geduldig zuzuhören, auch die Sorgen und Nöte anzuhören, man denkt ja immer, einer von den beiden wäre das Opfer und der andere der Täter, aber in Wahrheit ist es für beide ne Katastrophe.
Musik 5
"Twin Decks" - Album: Nordheim Transformed - Komponisten und Ausführende: Deathprod & Biosphere - Länge: 0'26
Sprecher:
Sprachlosigkeit. Fehlende Kommunikation. Gemeinsam einsam. Das sind häufig die Zutaten, aus denen späte Trennungen werden. In der Gewohnheit langer Beziehungen gibt es immer weniger Anstöße zum Austausch. Fast immer fehlt der Mut zur Konfrontation, zur Wahrhaftigkeit, so der Familientherapeut Stephan Potting:
O-Ton 14 Stephan Potting:
Wenn man das dem anderen mitteilt und sagt „Hör mal zu, mein Lieber, es ist mir einfach langweilig mit dir! Und ich hab mir unter Partnerschaft was anderes vorgestellt“, dann wird’s doch erst spannend!
Dann kann man doch erst anfangen, darüber nachzudenken, was der Eine und der Andere sich denn über Partnerschaft ausgedacht hat und davon erwartet und was er sich wünscht. Das sind ja alles Fragen, die man miteinander abstimmen muss!
O-Ton 15 Torsten Geiling:
Wir lernen eigentlich nicht in der Beziehung wirklich offen miteinander zu sprechen. Manche können das ganz gut, die können dann relativ lange zusammenbleiben, bei anderen versiegt dieser Kommunikationsstrom relativ bald und das ist auch ein Ratschlag, den ich meinen Klientinnen und Klienten immer wieder gebe: Je eher wir über unsere Wünsche, Sehnsüchte und Grenzen sprechen, umso erfolgversprechender ist auch die Beziehung, die wir führen können. Das ist manchmal schmerzhaft, aber das ist für mich ein Weg in eine erfolgreiche Beziehung.
Erzählerin:
Peter entschied sich nach Jahren des inneren Kampfes für die junge Frau. Und wurde noch einmal Vater. Für ihn hat ein komplett neues Leben begonnen. Seine erste Frau blieb allein zurück.
Musik 6
"Blurred" - Album: Bill Ryan: Towards Daybreak - Ausführender: Billband - Komponist: Bill Ryan - Länge: 0'47
Erzählerin:
Die Autorin Bettina von Kleist, die nach 25 gemeinsamen Ehejahren von ihrem Mann verlassen wurde, hat den tiefen Schmerz darüber in einem Buch verarbeitet. Sie führte zahlreiche Gespräche mit Verlassenden und Verlassenen. Und fand einige Gemeinsamkeiten:
O-Ton 16 Bettina von Kleist:
Besonders Männer trennen sich selten, ohne jemanden im Hintergrund zu haben. Sei es auch nur ein Übergangsobjekt oder irgendeine Liebschaft. Da sind Frauen mutiger. Die trennen sich auch, wenn keiner da ist.
O-Ton 17 Bettina Von Kleist:
Frauen verlassen oft, weil sie sagen, sie fühlen sich nicht wahrgenommen, (…) viele Frauen (...) verlassen Männer, weil sie das Gefühl hatten, sie konnten sich nicht entwickeln, sie waren nur noch Inventar, also die Frau an seiner Seite.
Erzählerin:
Es ist Dienstagabend. Treffen einer Trennungs-Selbsthilfegruppe. Hier finden sich naturgemäß nicht die Verlassenden wieder, sondern die Verlassenen. Gemeinsam haben sie, dass die Trennung einfach so über sie hereingebrochen ist. Ganz plötzlich. Ohne Ankündigung.
Für Werner war der Tag der Trennung der tiefste Einschnitt in seinem Leben. Der 53jährige kehrte aus einem kurzen Bildungsurlaub zurück, freute sich auf zuhause, wollte Frau und Tochter begrüßen ….
O-Ton 18 Werner
Ich bin nach Hause gekommen und kam in ein leeres Haus, es lag meine Post ungeöffnet da, und obendrauf lag ein Brief „Ich lass mich jetzt scheiden, bitte das und das Geld überweisen, bis dann und dann“ und fertig.
Erzählerin:
Werner war wie vom Schlag getroffen. Davon, dass in seiner Ehe irgendwas schiefgelaufen sei, davon habe er all die Jahre nichts mitbekommen:
O-Ton 19 Werner:
Nein, gar nichts. Gar nichts. Mir ging’s ja gut, Mir ging’s ja gut zu dem Zeitpunkt. Ich hab essen gekriegt, Wäsche war gemacht, arbeiten gewesen, wir hatten ja dementsprechend genug.
Erzählerin:
Nur Gemeinsamkeiten, die gab es nicht, schon lange nicht mehr. Sie machte ihr Ding, er seins, man begegnete sich ab und zu im gemeinsamen Haus. Ansonsten lebten sie auf verschiedenen Etagen. Gespräche gab es so gut wie keine.
O-Ton 20 Torsten Geiling:
Die Frage ist, ob man es sehen möchte und ob man es hören möchte und ob man es fühlen möchte, dass die Beziehung nicht mehr in Ordnung ist. Auch das erlebe ich immer wieder, dass der Partner oder die Partnerin das einfach wegdrückt. Und das Gespräch wird einfach nicht geführt. Weil man die Augen zumacht. Weil man denkt: Der Partner ist da, und alles andere brauch ich nicht. Aber der kann genauso schnell dann weg sein.
O-Ton 21 Werner:
Z.B. Sparbücher, 16.000 Euro - weg. Sie hat die Konten auf null gefahren bis zu dem Zeitpunkt, Feierabend. Geld ist weg!
Erzählerin:
Frau weg, Tochter weg, ein ganzes Leben: weg! Werner blickte auf einen Trümmerhaufen und fiel in ein tiefes Loch. Sein bester Freund war ein Kasten Bier.
O-Ton 22 Werner:
Man ist nicht rausgegangen, man hat sich abgekapselt, man hat zu nichts mehr Bock gehabt. Dann muss man irgendwie sehen, dass man da rauskommt! Und wenn man das nicht schafft, dann muss man sich Hilfe holen.
Sprecher:
Die Folgen nach Trennungen sind oft dramatisch: Isolation, schwere Schlafstörungen, Depressionen, innere Unruhe bis hin zu Alkoholexzessen.
Erzählerin:
Als Werner auch nach Monaten nicht allein aus dem Tief herauskam, fand er Hilfe in einer psychosomatischen Klinik.
Sprecher:
Das zeigt, wie folgenschwer und tiefgehend eine Trennung sein kann.
Erzählerin:
Trotzdem plädiert Coach und Autor Tosten Geiling dafür, nicht allein denjenigen, der geht, zum Sündenbock zu erklären. Denn zum Scheitern einer Beziehung gehören immer zwei:
O-Ton 23 Torsten Geiling
Es wirkt immer so, als wenn derjenige, der geht, der Aktive ist. Das ist er in dem Moment auch. Aber man weiß natürlich nicht im Rückblick, wie sehr derjenige schon in der Beziehung davor gelitten hat und ausgehalten hat. Wenn einer fremdgeht, ist es die Verantwortung von einem, aber wenn eine Beziehung nicht gelingt, da gehören immer zwei dazu, deswegen sollte die, die gehen, im Blick der Öffentlichkeit nicht immer als negativ angesehen werden, da kommt natürlich auch häufig dazu, dass diejenigen, die bleiben, ihre Geschichte erzählen und über den anderen schimpfen und sagen, wie schlecht es ihnen geht, und die, die gehen, ziehen sich meistens zurück und erzählen nicht so viel über das Ganze, und deswegen rutscht dann der Blickwinkel meistens so ein bisschen in den Schatten hinein.
Musik 7
"Spindrift" - Album: Shenzou - Komponist: Ausführender: Biosphere - Länge: 1'23
O-Ton 24 Margret:
Mein Mann hat mir dann auch noch nen Brief geschrieben, einen Liebesbrief, dass er mit mir alt werden möchte und schöne Reisen noch machen möchte und drei Monate später hat er dann gesagt: er trennt sich Weihnachten.
Erzählerin:
Margret heißt eigentlich anders. Auch sie findet in der Selbsthilfegruppe ein bisschen Trost. Ihre Stimme bebt immer noch ein wenig, wenn sie an den Tag denkt, an dem ihr Mann ihr eröffnete, er wolle die Ehe beenden. Nach 45 gemeinsamen Jahren.
O-Ton 25 Margret:
Und da hab ich gesagt warum? Kein Ton. Er hat nichts gesagt. Es war ein Schweigen. Er hat dann nur noch gesagt „such dir ne Wohnung, ich hab schon eine, und die Wohnung wird verkauft“ Geredet? Nein. Nicht geredet.
Erzählerin:
Als Margret ihren Mann heiratete war sie 21. Er war ihre erste große Liebe. Sie bekamen vier Kinder. Er brachte das Geld nach Hause, sie kümmerte sich um Haushalt und Familie. Fünf Jahre noch, dann hätten sie Goldene Hochzeit gefeiert.
O-Ton 26 Margret:
Alles! Alles hat er weggeworfen. Das Verhältnis zu seinen Kindern, und ich war wie geschockt, wie gelähmt. Ich hab alles so hingenommen. Mein Mann hat nicht mehr geredet! Und ich bin allein zwischen Weihnachten und Silvester … ich bin nur durch die Gegend gelaufen, ja, ich war ganz traurig.
O-Ton 27 Bettina von Kleist
Also fast alle Frauen beklagen, dass es kein klärendes Gespräch gab. Sie sagen: Warum gab es keine Ankündigung, warum keine Klärung?
Musik 8
"Twin Decks" - Album: Nordheim Transformed - Komponisten und Ausführende: Deathprod & Biosphere - Länge: 0'20
O-Ton 28 Bettina von Kleist
Das sagten übrigens viele Frauen, das ist ganz erstaunlich: „Es wäre leichter gewesen, wenn er gestorben wäre“, weil sie hätten dann nicht diese Liebe revidieren müssen, es wäre ihnen nicht so viel Scheußliches widerfahren und sie hätten ihr Selbstbild nicht revidieren müssen. Den Satz hab ich von Männern nicht gehört.
Erzählerin:
Es gab Phasen, da fühlte sich Margret unglaublich einsam: Verlassen von ihrem Mann, verlassen von ihrer gesamten Verwandtschaft, verlassen von ehemals gemeinsamen Freunden.
O-Ton 29 Margret:
Ich höre auch nichts. Es ruft auch keiner an „wie geht’s dir?“ und die Bekannten rufen sporadisch mal an. Die haben sich anders orientiert: Nur noch wo Pärchen sind. Also als alleinstehende Frau sind Sie ja nicht mehr willkommen!
Erzählerin:
Dass auch ihre alten Freunde sich aus dem Staub machen, ist eine doppelte Kränkung. Margret musste ihr ganzes Leben nun noch mal komplett neu sortieren. Das funktioniert erst ganz allmählich.
Sprecher:
Es trennen sich oft nicht nur zwei Menschen, sondern auch zwei Leben mit allem, was dazu gehört: Kinder, Freunde, Haus, Kredit. Aber auch Träume und Hoffnungen. Das auseinander zu dividieren, braucht Zeit.
Musik 9
"Lofi Opium" - Album: Apr 70 - Künstler: Dictaphone - Länge: 1'04
Sprecher:
Wenn Trennungen Menschen einerseits so sehr aus der Bahn werfen können, aber andererseits so normal sind und zu jedem Leben dazugehören: Was kann man tun, um besser damit klarzukommen? Gibt es eine Art Prävention gegen den Absturz?
Erzählerin:
In gewissem Maße ja, meint Johanna Müller-Ebert. Die promovierte Diplom-Psychologin sagt: sich trennen kann man lernen. Und zwar in jedem Lebensbereich. Diese Fähigkeit nennt sie „Trennungskompetenz“:
O-Ton 30 Johanna Müller-Ebert:
Mit der Trennungskompetenz, wie ich das nenne, also mit dem Lernen von Trennung in kleinen Schritten, die kleinen Dinge des Loslassens im Alltag: die mit mehr Aufmerksamkeit zu betrachten und dann zu sehen: Genauso wie man mit den kleinen Dingen umgeht auch mit den großen Dingen umgeht.
Erzählerin:
Wer Trennungskompetenz besitzt, ist eher gewappnet, mit dem Auf und Ab, dem Hin und Her und dem ewigen Wechselspiel aus Anfang und Ende umzugehen.
O-Ton 31 Johanna Müller-Ebert:
Wer sich nicht bindet, kann sich nicht trennen. Und wer sich nicht trennt, kann sich nicht wieder neu binden. Und wir kriegen nicht beigebracht, dass trennen genauso wichtig ist.
Sprecher:
Aus Angst vor Trennungen verharren Menschen dort, wo es ihnen schon lange nicht mehr gut geht: in lieblosen und leeren Beziehungen. Einfach weil sie den Absprung nicht schaffen.
Erzählerin:
Beginnen sollte das Trennungs-Training, so die Psychologin, am besten bereits in guten Zeiten. Idealerweise in alltäglichen Lebensbereichen. Also dort, wo das Herz nicht allzu sehr beteiligt ist.
O-Ton 32 Johanna Müller-Ebert:
Viele unserer Verhaltensweisen sind Gewohnheiten. Weil wir nichts Neues kennen. Und wir gewöhnen uns so dran, dass wir uns stumpf machen für Platz. Wenn Sie Zeitungen horten, alte Bücher horten, die Sie nicht lesen, ist Ihr Raum verstaubt und zu. Und in dem Moment, wo man anfängt, das zu entrümpeln, kommt ein unglaublicher Energieschub. (…) Also dieses Raum-Schaffen gilt dann auch für seelische Räume.
Erzählerin:
Das kleine Abschiedstraining sei eine Vorbereitung für die großen Abschiede. Doch Johanna Müller-Ebert gibt zu: Es hilft vor allem dann, wenn man selbstbestimmt entscheiden kann, von wem oder was man sich trennt. Es funktioniert nur bedingt, wenn das Schicksal erbarmungslos zuschlägt.
O-Ton 33 Johanna Müller-Ebert:
Meine Beobachtung ist, dass viele kleine Trennungen die ganz großen Katastrophen mildern. In jedem Trennen ist Trennungsangst enthalten. Entweder Angst, etwas verlassen zu müssen oder verlassen zu werden oder es ist Angst vor dem Neuen. Und möglicherweise auch, was häufig übergangen wird, die Angst vor der Leere.
Musik 10
"Never alone" - Album: Gimme Shelter - Komponist: Ólafur Arnalds - Länge: 0'35
Sprecher:
Bei allem Schmerz auf beiden Seiten: Trennungen können auch ein Segen sein. Sie können ganz neue Türen öffnen, den Partnern noch einmal ganz neue Erlebnisse bescheren – vielleicht solche, die in den verkrusteten Strukturen einer langjährigen Ehe niemals möglich gewesen wären.
Erzählerin:
Peter, der späte Vater, ist heute mit seiner damaligen Geliebten verheiratet. Doch bei allem Glück gibt er offen zu, dass auch seine Ex-Frau einen ganz festen Platz in seinem Herzen hat. In seinem Arbeitszimmer hat er ein "Denkmal" für seine erste Ehe:
O-Ton 34 Peter:
Ich habe in einem kleinen Rahmen eine kleine Skulptur aus Edelmetall, das sieht aus wie ein Burgturm, wo zwei Figuren sind, die nicht zueinander können. Und da drüber ist als Sonne mein alter Ehering. Das ist das Denkmal meiner ersten Ehe.
Sprecher:
Dem Vergangenen einen guten, würdigen Platz im Leben geben. Wenn das gelingt, weicht der einstige Schmerz vielleicht irgendwann der Dankbarkeit.
Erzählerin:
Bis dahin, so Familientherapeut Stephan Potting, ist es oft ein langer Weg.
O-Ton 35 Stephan Potting:
Man hat diesen Menschen sehr geliebt und groß und intensiv geliebt, und jetzt ist die Liebe vorbei und die Traurigkeit nimmt erst mal Platz. Und man muss sich in dieser Traurigkeit erst mal hineinbegeben und sie nicht einfach beiseitelegen. Auch die Wut nimmt Platz, auch die Verzweiflung nimmt Platz. Auch das Akzeptieren kommt irgendwann. Es gibt einfach verschiedene Phasen, die durchlebt werden und die die Möglichkeit bieten, dass man weiterleben kann.
Musik 11
"Spindrift" - Album: Shenzou - Komponist: Ausführender: Biosphere - Länge: 0'41
O-Ton 36 Bettina von Kleist:
Dass man so sagt, man macht Schluss, das stimmt nicht. Ich hab festgestellt, dass man den anderen fast zeitlebens in sich hat. Der ist wie eingeritzt. Eingebrannt in die Seele.
O-Ton 37 Bettina von Kleist:
Bis so ne Liebe aus dem Körper geht und aus der Seele – es dauert endlos lange!
O-Ton 38 Bettina von Kleist
Und es bleibt immer ein Rest. Ich liebe vielleicht meinen geschiedenen Mann nicht mehr, aber da bleibt so etwas Unzerstörbares, darum träum ich auch von ihm – in eigentlich guter Form, ich denke, das, was schön war, ist nicht getrübt durch das, was danach kam.
Katzen tun den Menschen gut, allein ihre Anwesenheit kann beruhigend wirken. Beim Streicheln sinkt der Blutdruck und sie beim Spiel zu beobachten, soll glücklich machen. Doch das beliebteste Haustier Deutschlands ist auch ein äußerst geschickter Jäger, der maßgeblich zum Artensterben bei Vögeln beiträgt. Iska Schreglmann im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke. (BR 2024)
Autorin dieser Folge: Iska Schreglmann
Es sprachen: Iska Schreglmann im Gespräch mit Dr. Thassilo Franke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Thassilo Franke, Biologe am BIOTOPIA Lab in München
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Podcasttipp zu Raubkatzen:
"Tierisch! – Entdeckungsreise in die wilde Welt der Tiere" - Der erste lustig-leichte, zoologischen Plauderpodcast mit bodenlos wissenschaftlicher Tiefe. Moderiert von Lydia Möcklinghoff und Dr. Frauke Fischer, zwei wildnisverrückten Abenteurerinnen und studierten Zoologinnen. Sie berichten in einer Folge auch über ihre Forschungsabenteuer, die sie bei Großkatzenprojekten in Afrika und Brasilien entdeckt haben:
EXTERNER LINK | https://weltwach.de/tierisch/
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Podcast-Ansage:
Katzen gelten als eigenständig, neugierig, verspielt und anschmiegsam. Doch so niedlich und sanftmütig sie auch wirken: Katzen sind geschickte Raubtiere, die in der freien Natur nach Vögeln, Eidechsen und Insekten jagen - und so auch schon zum Aussterben verschiedener Tierarten beigetragen haben. Sollten Katzen also besser im Haus bleiben? Ein kontrovers diskutiertes Thema, über das sich Iska Schreglmann mit dem Biologen Dr. Thassilo Franke von den Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns unterhalten hat:
Dr. Thassilo Franke
Nun, Die Katze ist der Inbegriff eines formvollendeten Raubtiers. Man schätzt, dass es ungefähr 600 Millionen Katzen auf der Welt gibt. Eine Katze namens Tibbles hat eine ganze Vogelart auf ihrem Gewissen.
Sprecherin
Alles Natur!
Dr. Thassilo Franke
Hauskatze mit Nebenwirkungen.
Iska Schreglmann
Der Biologe Thassilo Franke und ich sind heute zum Interview bei mir zu Hause und der Gegenstand unseres Gesprächs läuft hier auf vier Pfoten vor uns herum. Das ist unser Kater Lucky. Ja, jetzt lasse ich sie, Herr Dr. Franke, ihn gleich mal beschreiben – sie als Biologe. Ich meine, ich sehe ihn jeden Tag.
Dr. Thassilo Franke
Jetzt läuft er genau hier unterm Tisch durch, da muss ich mal ein bisschen zurück. Oh, das ist wirklich eine schöne Katze. Also richtig Rabenschwarz. Genau die Katze, die einem eigentlich nicht über den Weg laufen sollte, nach der alten Legende.
Iska Schreglmann
Da glaubt man natürlich längst nicht mehr dran.
Dr. Thassilo Franke
Mit leuchtend gelben Augen, ein wunderschönes, vitales, gesundes Tier.
Iska Schreglmann
Das stimmt. Und Lucky ist jetzt – da muss ich mal kurz rechnen - vier Jahre alt, es sind viereinhalb sogar, und wir haben Lucky vor ein paar Jahren adoptiert. Der hat eine schlimme Geschichte hinter sich, weil er ist nämlich ausgesetzt worden, hieß es, an der Autobahn Raststätte. Irgendwo auf einem Weg in einer verschlossenen Kiste, also ganz schrecklich. Ein kleines Kind ist aufmerksam geworden, weil die Kiste sich bewegt hat und hat zur Mutter offenbar, so wurde es uns erzählt, gesagt, da ist irgendetwas drin. Und dann haben sie ihn gefunden.
Dr. Thassilo Franke
Also sein Leben begann schon mit einem richtigen Trauma eigentlich. Ein Trauma, das man so vom Hörensagen kennt, dass häufig Katzen auf die Art und Weise ausgesetzt werden und wahrscheinlich auch viele eben nicht gefunden werden und dann verenden.
Iska Schreglmann
Vor allen Dingen in Schwarze habe ich gelesen. Das sagen ja auch immer die Tierheime. Das, was sie vorhin schon angedeutet haben, dieser Aberglaube, das schwarze Katzen halt kein Glück bringen und deswegen möchten die Leute sie loswerden offenbar.
Dr. Thassilo Franke
Aber eigentlich ist es ja eine tolle Sache, eine schwarze Katze zu haben. Man nennt so etwas eine melanistische Form, also melanistisch. Melanin ist ja der Farbstoff, der die Haare dunkel macht, auch unsere, wir haben den gleichen Farbstoff, der zum Beispiel auch den berühmten schwarzen Panther schwarz macht. Und vielleicht kann ich mit der Geschichte gleich anfangen, weil ich das unheimlich faszinierend finde. Bei unseren Hauskatzen ist dieses Gen, was dafür verantwortlich ist, rezessiv. Das heißt, alle Nachkommen, die er mit einer gestreiften Katze zeugen würde, deren Eltern beide auch gestreift waren, sind automatisch auch wieder gestreift oder zumindest nicht schwarz. Wenn wir aber zum Beispiel den schwarzen Jaguar anschauen in Südamerika, das ist eine melanistische Form des Jaguars, also eine Großkatze. Da ist es umgekehrt. Da ist das Gen, das für die schwarze Farbe verantwortlich ist, dominant, das heißt ein schwarzer Jaguar-Kater zeugt, auch wenn er sich mit einer gefleckten Jaguar-Dame paart, dann ausschließlich schwarze Jaguar-Kinder.
Iska Schreglmann
So, und das war jetzt ihr Plädoyer für die schwarzen Tiere, weil es etwas Besonderes ist.
Dr. Thassilo Franke
Ja, sie sind etwas Besonderes. Man sollte sie eigentlich bewundern und keine Angst vor ihnen haben.
Iska Schreglmann
Nun weiß ich, dass Sie im Gegensatz zu mir kein Katzenliebhaber per se sind. Zumindest haben sie keine Katze zu Hause. Können Sie die Begeisterung trotzdem nachvollziehen? Weil die Katze ist ja das beliebteste Haustier in Deutschland, über 15 Millionen Tiere.
Dr. Thassilo Franke
Doch, also, ich würde mich eigentlich schon als Katzenliebhaber definieren, also ich mag Katzen. Ich bewunderte Katzen. Ich finde, die Katze ist eigentlich die evolutive Vollendung eines Raubtiers. „The good as it gets“ würde man sagen - es geht eigentlich nicht besser. Und der Bauplan, allein schon die Erfolgsgeschichte… Seit 20 Millionen Jahren ist dieser Bauplan weitgehend unverändert vorhanden, und zwar in allen Größen. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Also in Indien gibt es zum Beispiel die Rostkatze, die so um die zwei Kilo wiegt, eine der kleinsten Wildkatzen überhaupt. Und in Nordostasien, da streift der Sibirische Tiger durch die Wälder, der dann 200 oder noch mehr Kilo auf die Waage bringt. Die Hauskatze liegt natürlich eher Richtung Rostkatze. Aber der Bauplan von den ganz kleinen, den Kleinkatzen, und der der Großkatzen ist eigentlich genau der gleiche. Es gibt nur wenige Ausreißer. Der Gepard passt nicht so in dieses Schema rein. Es gibt zwei Katzenarten, die sich auf Fische spezialisiert haben, als Nahrung. Die haben zum Beispiel auch ein ganz anderes Gebiss. Die fallen ein bisschen aus dem Rahmen und einige baumbewohnende Arten. Aber ansonsten, haben fast alle Katzen, egal, wie groß sie sind, dieses gleiche Erfolgsrezept Katze in ihrem Körper und das ist einfach einzigartig. Und immer, wenn ich so eine Katze sehe, fasziniert mich das auch, muss ich sagen.
Iska Schreglmann
Mich auch. Und wenn Sie jetzt schon von den Großkatzen erzählen, dann möchte ich etwas machen, was für unseren Podcast eigentlich ziemlich ungewöhnlich ist, nämlich erst einmal auf einen anderen, interessanten Podcast hinweisen. Wer sich nämlich von ihnen für die großen Raubkatzen interessiert, sollte sich mal die neue Folge des Podcasts „Tierisch! - Entdeckungsreise in die wilde Welt der Tiere“ anhören. Da erzählen nämlich zwei waschechte Zoologinnen, Lydia Möcklinghoff und Frauke Fischer, erstaunliche Fakten über diese großen, gefleckten oder auch gestreiften Raubkatzen und die beiden nehmen uns sogar mit zu ihren Forschungsabenteuern, die sie bei Großkatzen-Projekten in Afrika und Brasilien erlebt haben. Wir sagen, sehr spannend und absolut hörenswert. „Tierisch! - Entdeckungsreise in die wilde Welt der Tiere“ gibt es überall, wo es Podcasts gibt, genauso wie es von radioWissen „Alles Natur!“ gibt - überall, wo es Podcasts gibt. Jetzt kehren wir aber trotzdem mal wieder zurück, von den Großkatzen zu den Kleinkatzen. Da gehört ja auch die Hauskatze dazu, weil unser Kater Lucky, der streift schon die ganze Zeit um unsere Beine rum. Der hat tierisch Hunger. Jetzt ist einfach Fressenszeit, und ich würde Ihnen mal zeigen, wie wir das hier so zuhause machen. Das ist ja auch immer eine Glaubens-Frage unter Katzenfans. Was wird gefüttert, wie viel und wann. Da könnte man eine eigene Sendung dazu machen.
Dr. Thassilo Franke
Da bin ich mal gespannt.
Iska Schreglmann
Also, hier ist der Schrank, wo er genau weiß, da befindet sich das Katzenfutter drin. Wir haben hier so Breutel zum Beispiel. Ja, komm Lucky, komm. Die liebt er. Ich weiß jetzt allerdings nicht, ob das das beste Futter ist. Weil dazu haben wir noch keine Bewertung gefunden. Bei den anderen haben wir Bewertungen gefunden. Aber wir achten schon darauf, dass nicht so viele Zusatzstoffe da mit drin sind und das hauptsächlich Fleisch enthalten ist.
Dr. Thassilo Franke
Das riecht auch schon schön nach Cornedbeef.
Iska Schreglmann
Also hier steht jetzt mit Huhn. Aber was völlig verrückt ist, wo ich jedesmal schmunzeln muss, hier steht drauf „mit natürlichen Fleischstückchen“. Was soll es denn sonst sein? Fleisch aus dem Labor oder wie? Ich mach da immer so ein bisschen Wasser mit drauf, weil die Tierärztin hat uns gesagt, das ist gut, um Nierenschäden vorzubeugen. Und unser Kater, der trinkt auch nicht so gerne. Wenn ich aber sein Lieblingsessen mit ein bisschen lauwarmem Wasser vermische, dann kriegt er das quasi so als Art Eintopf - nenne ich es mal. Dann kriegt er gleich Wasser mit dazu.
Reichsstadt, Handelsmacht, Weltstadt! Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit war Augsburg ein politisches, wirtschaftliches und geistliches Zentrum des alten Reiches. Wie konnten Macht und Reichtum am Lech so strahlend erblühen - und wieder vergehen? Von Michael Zametzer (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Jerzy May
Technik: Tim Höfer
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Dr. Christof Paulus, Haus der Bayerischen Geschichte
Wenn Sie noch mehr über die berühmte Fuggerei hören wollen, empfehlen wir diese hörenswerte Folge von radioWissen:
Die Fuggerei in Augsburg - Die älteste Sozialsiedlung der Welt
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Literaturtipp:
Christoph Paulus, Bayerns Zeiten. Eine kulturgeschichtliche Ausleuchtung, Pustet Verlag 2021
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Umbruch - Der Tech-Podcast von BR24
"Umbruch" ist ein Blick in die Glaskugel der digitalen Zukunft. Christian Sachsinger und Christian Schiffer erklären hier technologische Entwicklungen mit ihren Chancen und Risiken - und zwar so, dass es wirklich alle verstehen.
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Mineralien und Steine gehören zu den ältesten Rohstoffen, die sich der Mensch nutzbar gemacht hat. Beim Einsatz für kultische Zwecke spielt die Form der Steine ebenso eine Rolle wie ihre Farbe und die Beschaffenheit. Von Carola Zinner (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: RAiner Schaller
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Melanie Kaliwoda, Mineralogische Staatssammlung in München;
Dr. Ingveld Richardson, Historikerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Schon Sigmund Freud soll seine Hündin Jofie zu Therapiestunden mitgenommen haben. Nun zeigen systematische Studien: Tiere können in der Psycho-Therapie eine heilsame Wirkung entfalten. Hunde etwa wirken beruhigend auf aggressive Kinder. Pferde können emotionale Blockaden lösen. Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Laura Maire, Peter Weiß
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Andrea Beetz, Psychotherapeutin und Professorin für Heilpädagogik an der Internationalen Universität IU
Karin Hediger, Professorin für Klinische Psychologie und Tiergestützte Intervention an der Universität Basel
Kathrin Wachholz, Krankenschwester und Fachkraft für Tiergestützte Therapie im Theodor-Wenzel-Werk
Lara Sonnenschein, Krankenschwester im Theodor-Wenzel-Werk
Lisa, Patientin im Theodor-Wenzel-Werk
Julia Wahl, Psychotherapeutin und Reit-Therapeutin Pferdehof Berlin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Literaturtipp:
Tiergestützte Interventionen: Handbuch für die Aus- und Weiterbildung. Ernst Reinhardt Verlag. 2021.
Umfassender und auch für Laien verständlicher Einblick in die Methoden der Tiergestützte Therapie.
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1945 warfen die USA Atombomben über Hiroshima und Nagasaki ab. Die Begründung damals: So wurde Japan zur Kapitulation gezwungen und der Zweite Weltkrieg verkürzt. Heute gibt es Zweifel an diesen Annahmen. Von Linus Lüring (BR 2020)
Credits
Autor dieser Folge: Linus Lüring
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann, Jerzy May
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Gerhard Krebs (Dr.; Historiker und Japanologe)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik 1
"Overtones, Pt. 1" - Komponist: Martin Todsharow Album: Der Hauptmann (Original Motion Picture Soundtrack) Länge: 0'52
Sprecher
Anfang August 1939 - Albert Einstein ist in großer Sorge. Er schreibt einen Brief an den damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt.
Sprecherin
Neue wissenschaftliche Untersuchungen würden darauf hindeuten, schreibt Einstein, dass es schon bald möglich sein könnte, eine nukleare Kettenreaktion in einer großen Masse von Uran auszulösen. Das würde gewaltige Energiemengen freisetzen. Und dann kommt der Schlüsselsatz:
Zitator
„Dieses Phänomen könnte auch zum Bau von Bomben führen.“
Sprecher
Und Einstein warnt, dass jemand bereits dabei sein könnte, diese neue, ungeheuer gefährliche Bombe zu bauen: Die Nationalsozialisten. Er empfiehlt den USA, selbst eine solche Bombe zu bauen – eine Atombombe.
Sprecherin
Die US-Führung ist jetzt alarmiert, erklärt Gerhard Krebs.
Der Historiker hat intensiv zur Endphase des Zweiten Weltkriegs geforscht und unter anderem in Berlin und Tokio gearbeitet.
Zusp 1 Krebs
Man fürchtete, dass die Deutschen den Amerikanern zuvorkommen und die Atombombe zuerst einsetzen. Deswegen brauchte man ein Gegengewicht. Und Abschreckungswaffe. Dass die schließlich gegen Japan eingesetzt wurde, lag daran, dass sie zu spät fertig wurde für Deutschland
Musik 2
"End of War" - Album: The Imitation Game (Original Motion Picture Soundtrack)
K: Alexandre Desplat - Länge: 0'33
Sprecher
Im August 1945, fast auf den Tag genau sechs Jahre nach Einsteins Brief, werden die USA die weltweit erste Atombombe abwerfen - über der japanischen Stadt Hiroshima, drei Tage später eine weitere über Nagasaki. Der Einsatz der Atombomben ist bis heute umstritten. Waren die Bomben und das Leid, das sie verursachten, gerechtfertigt? Wurde der Zweite Weltkrieg damit tatsächlich schneller beendet?
Musik 3
"Tadaima" - K: Ulrike Haage - Grüsse Aus Fukushima (Original Score)
- Länge: 0'40
Sprecherin
Im Sommer 1939 aber herrscht in den USA noch große Einigkeit: Man möchte den Nationalsozialisten unbedingt zuvorkommen und die Atombombe zuerst entwickeln. Die Eile ist verständlich. Dem Deutschen Otto Hahn ist kurz zuvor in Berlin die erste Kernspaltung gelungen. Deutsche Wissenschaftler gelten als führend auf dem Gebiet der Kernphysik.
Sprecher
Präsident Roosevelt befiehlt umgehend den Ausbau der US-amerikanischen Atomforschung.
Musik 4
"These Walls" K: Tyler Bates, Album: The Belko Experiment (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 1'03
Sprecher
1942 startet dann ein gigantisches Forschungsprogramm: Das sogenannte Manhattan-Projekt. In der Wüste New Mexicos entsteht ein streng geheimes Labor: Los Alamos. Hier arbeiten Tausende hochqualifizierte Physiker und Techniker. Albert Einstein gehört übrigens nicht dazu.
Er gilt politisch als nicht zuverlässig genug. Im Wettlauf um die Atombombe mit den Nazis spielt Geld jetzt keine Rolle. Insgesamt werden in das Manhattan-Projekt damals zwei Milliarden Dollar investiert. Umgerechnet auf die heutige Kaufkraft wären das schätzungsweise über 20 Milliarden Dollar.
Sprecherin
Der Zweite Weltkrieg ist voll entbrannt. Die USA unterstützen zwar ihren Hauptverbündeten Großbritannien massiv, bleiben offiziell aber neutral. Das ändert sich im Dezember 1941. Japan greift überraschend Pearl Harbor an, den Hauptstützpunkt der US-Pazifikflotte auf Hawaii. Dutzende Schiffe werden zerstört. Weit über 2000 Menschen sterben. Nur einen Tag später erklären die USA Japan den Krieg.
Sprecher
Die amerikanische Öffentlichkeit war mehrheitlich lange dagegen, dass sich die USA am Zweiten Weltkrieg beteiligen. Pearl Harbor ändert die Stimmung. Viele US-Bürger drängen jetzt immer stärker auf eine harte Bestrafung der Japaner
Sprecherin
Die US-Wissenschaftler machen unterdessen gewaltige Fortschritte. 1942 gelingt die erste von Menschen eingeleitete nukleare Kettenreaktion. Diese könnte riesige Energiemengen produzieren – ein Meilenstein auf dem Weg zur Atombombe.
Sprecher
Von solchen Erfolgen sind die Forscher im Deutschen Reich zur gleichen Zeit weit entfernt. Deshalb werden andere Prioritäten in der Waffenentwicklung gesetzt. Ganz eingestellt wird die Forschung an der Atombombe zwar nie, aber der von den USA angenommene Wettlauf mit dem NS-Regime – er ist schon früh keiner mehr.
Das wird endgültig klar, als Anfang 1945 die größten Teile Deutschlands besetzt sind - die Entwicklung der Atombombe wird in den USA trotzdem mit großem Einsatz fortgesetzt.
Sprecherin
Mitten in der entscheidenden Schlussphase des Kriegs, am 12. April 1945, stirbt völlig unerwartet Präsident Roosevelt. Der Mann, der den Bau der Atombombe befohlen und maßgeblich vorangetrieben hat. Neuer Präsident der Vereinigten Staaten wird Harry S. Truman, der bisherige Vize-Präsident. Und jetzt zeigt sich, wie geheim die Entwicklung der Atombombe tatsächlich ist:
Sprecher
Truman wird erst nach seiner Amtseinführung in das Projekt eingeweiht. Dazu kommt: Truman gilt auf der Bühne der Weltpolitik als völlig unerfahren. Viel Zeit zur Einarbeitung hat er nicht. Jetzt - gegen Ende des Zweiten Weltkriegs muss er täglich wichtige Entscheidungen treffen – darunter auch den weiteren Umgang mit der Atombombe. Zwar kapituliert das Deutsche Reich am 8. Mai und der Krieg in Europa ist beendet. Aber Präsident Truman warnt:
Zusp 2 Truman Rede
Our victory is but half-won. The West is free, but the East is still in bondage to the treacherous tyranny of the Japanese. When the last Japanese division has surrendered unconditionally, then only will our fighting job be done.
Zitator Overvoice Truman
Unser Sieg ist nur halb gewonnen. Der Westen ist frei, aber der Osten ist immer noch der verräterischen Tyrannei der Japaner ausgeliefert. Erst wenn die letzte japanische Einheit bedingungslos kapituliert hat, dann ist unsere kämpferische Aufgabe erledigt.
Sprecherin
Im Frühjahr 1945 haben die USA fast uneingeschränkte Lufthoheit über den japanischen Inseln. Die US-Luftwaffe fliegt jetzt immer verheerendere Bombenangriffe. Aber trotz der immer hoffnungsloseren Lage ist Japan weit davon entfernt sich zu ergeben. Noch immer kontrolliert es unter anderem die koreanische Halbinsel und die Mandschurei, ein großes Gebiet im Nordosten Chinas. Noch immer verkündet die japanische Führung aggressive Durchhalte-Parolen.
Musik 5
"Tadaima" - K: Ulrike Haage - Grüsse Aus Fukushima (Original Score)
- Länge: 1'36
Sprecher
In den USA ist Präsident Truman inzwischen informiert worden, dass die erste Atombombe schon in wenigen Wochen fertig ist. Eine Frage wird jetzt immer drängender: Ob und wie sollte eine Atombombe eingesetzt werden?
Ursprünglich waren ja nur deutsche Städte als Abwurfziele vorgesehen. Jetzt gerät Japan in den Fokus. Wissenschaftler um den Physiker James Franck versuchen in dieser Zeit, Truman davon zu überzeugen, die Bombe nicht gegen Japan einzusetzen. Im sogenannten Franck-Report warnen sie vor einem Wettrüsten und schlagen stattdessen eine Demonstration der Atombombe vor der Weltöffentlichkeit über unbewohntem Gebiet vor.
Sprecherin
Solche Vorschläge werden im sogenannten Interim Committee beraten. Politiker, Militärvertreter und andere Experten besprechen unterschiedliche Strategien zum Umgang mit der Atombombe. Die überraschend eindeutige Empfehlung lautet schließlich: Die Bombe soll so schnell wie möglich und ohne Vorwarnung über japanischen Städten abgeworfen werden.
Sprecher
Der persönliche Berater von Präsident Truman und spätere US-Außenminister, James Byrnes, spielt bei dieser Empfehlung eine entscheidende Rolle. Er hat vor allem die Bevölkerung in den USA im Blick.
Eine Mehrheit fordert nach dem Angriff auf Pearl Harbor maximale Härte gegenüber Japan. Byrnes hat großen Einfluss auf den unerfahrenen Truman, erklärt Gerhard Krebs.
Zusp 3 Krebs
Eigentlich war die Mehrheit der Politiker und Militärs dafür, die Waffe nicht gegen Japan einzusetzen ohne Vorwarnung und möglichst nur gegen militärische Ziele. Der Scharfmacher war dann Byrnes. Mit Byrnes kippte die Stimmung. Weil der das Ohr von Truman erhielt. Wer das Ohr des Präsidenten hat, der entscheidet.
Musik 6
"These Walls" K: Tyler Bates, Album: The Belko Experiment (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'16
Sprecherin
Im Juli 1945 überschlagen sich dann die Ereignisse. In den Laboren von Los Alamos ist es gelungen, die erste Atombombe der Welt fertigzustellen und für eine Testzündung vorzubereiten.
Musik 7
"Head Tag" - K: Tyler Bates, Album: The Belko Experiment (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'41
Sprecherin
Am 16. Juli explodiert sie am frühen Morgen in der Wüste von New Mexico. Auf einen gleißend hellen Blitz folgt ein orange-gelber Feuerball, der in Sekunden in den Himmel steigt. Zum ersten Mal entsteht der typische Atompilz. Noch in über 100 Kilometern Entfernung ist die Druckwelle zu spüren. Die Wissenschaftler sind völlig überrascht. Die Explosion ist dreimal so stark wie berechnet. Es ist tatsächlich die verheerende Bombe eines neuen Typs, die Einstein vorhergesagt hatte.
Sprecher
Währenddessen reist US-Präsident Truman nach Potsdam. Nach dem Ende des Kriegs in Europa wollen die Alliierten hier beraten, wie es weitergehen soll. Auch der britische Premierminister Winston Churchill und Josef Stalin, der sowjetische Regierungschef, kommen zur sogenannten Potsdamer Konferenz.
Als Truman die Nachricht vom erfolgreichen Atombombentest erhält, ist er euphorisiert. Nicht eingeweihte Beobachter in Potsdam registrieren überrascht, wie selbstbewusst Truman plötzlich auftritt. Stalin kann er allerdings kaum beeindrucken. Durch einen Spion in Los Alamos ist er bestens über die Fortschritte der Amerikaner informiert.
Musik 8
"Tadaima" - K: Ulrike Haage - Grüsse Aus Fukushima (Original Score)
- Länge: 0'38
Sprecherin
Der 24. Juli ist dann ein entscheidender Tag: Truman berät sich mit seinen engsten Vertrauten, darunter auch Hardliner James Byrnes. Und dann ordnet er von Potsdam aus an: Über Japan sollen Anfang August Atombomben abgeworfen werden. Im Einsatzbefehl werden auch gleich vier mögliche Ziele genannt. Darunter die Städte Hiroshima und Nagasaki. Beide Städte haben Militärbasen oder Rüstungsindustrie. Vor allem aber wurden sie bislang nur wenig zerstört, ideal, um die Wirkung der neuen Bombe zu testen.
Sprecher
Wenige Tage nach diesem Befehl wird die sogenannte Potsdamer Erklärung veröffentlicht. Unterzeichnet ist sie von den USA, nicht aber von der Sowjetunion. Diese befindet sich offiziell nicht mit Japan im Krieg und gilt als neutral. Die Erklärung soll eine letzte Warnung an Japan sein. Am Ende heißt es:
Zitator
Wir rufen die Regierung Japans auf, nunmehr die bedingungslose Kapitulation aller bewaffneten Kräfte Japans zu erklären und angemessene und adäquate Garantien ihres guten Willens in dieser Aktion zu zeigen. Die Alternative für Japan ist seine prompte und vollständige Zerstörung.
Sprecherin
Dass damit auch der Einsatz von Atomwaffen gemeint ist, erfährt die Öffentlichkeit nicht.
Sprecher
Niemand rechnet damit, dass Japan jetzt kapitulieren würde. Und tatsächlich erklärt der japanische Premierminister in einer Pressekonferenz, dass seine Regierung die Potsdamer Erklärung „ignorieren“ werde. Diese eindeutige Haltung der japanischen Regierung bedeutet in den Augen der USA: Die Atombomben werden abgeworfen. Der erste Atomsprengkörper ist da bereits auf einem Schiff unterwegs zu US-Stützpunkten im Südpazifik.
Sprecherin
Diese öffentlich verkündete Absage Japans passt allerdings nicht zu dem, was hinter den Kulissen in der japanischen Führung diskutiert wird. Hier gibt es sehr wohl kritische Stimmen. Weil die Lage hoffnungslos ist, wollen sie ein schnelles Kriegsende erreichen. Der japanische Botschafter in Moskau sendet seit einiger Zeit vorsichtige Signale an die sowjetische Führung. Die Idee: Die offiziell neutrale Sowjetunion soll zwischen den Kriegsparteien vermitteln. Die japanische Elite hofft dabei noch einen akzeptablen Frieden zu erreichen und die geforderte bedingungslose Kapitulation zu verhindern. Denn eine zentrale Bedingung haben die Japaner, erklärt der Historiker und Japanologe Gerhard Krebs: Sie wollen um jeden Preis das Kaisertum erhalten.
Zusp 4 Krebs
Japan betrachtete sich als einmalige Staatsform in der Welt und der Kaiser war ja immerhin göttlicher Abkunft. Ohne Kaiser konnten sich die Japaner einen Weiterbestand ihrer Nation einfach nicht vorstellen.
Sprecher
Für Kaiser Hirohito sind die Japaner bereit, den schon so gut wie verlorenen Krieg fortzusetzen, auch wenn das den Untergang bedeutet.
Sprecherin
Die Reaktionen aus Moskau auf die japanischen Botschaften waren allerdings sehr verhalten. Die Sowjetunion hatte längst beschlossen, Japan in Kürze selbst den Krieg zu erklären. Die Sowjets wollten sich die von Japan besetzten Gebiete sichern.
Musik 9
"With Suspicion" - Album: Gone Girl (Soundtrack from the Motion Picture) K und Ausführende: Atticus Ross & Trent Reznor Länge: 0'47
Sprecher
Dann kommt der 6. August 1945: Vom US-Luftwaffenstützpunkt Tinian, mitten im Südpazifik, startet um kurz nach Mitternacht ein B29-Bomber: Sein Ziel ist Hiroshima, etwa 2500 Kilometer weit weg. An Bord ist nur eine einzige Bombe. Es ist die Atombombe mit dem Codenamen „Little Boy“, kleiner Junge. Etwa drei Meter lang, vier Tonnen schwer.
Sprecherin
Um 8.15 Uhr kommt Hiroshima in Sicht. In einer Höhe von 10000 Metern klinkt die Besatzung die Bombe aus und dreht ab.
Musik 10
"Head Tag" - K: Tyler Bates, Album: The Belko Experiment (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'18
Sprecherin
Sekunden später explodiert die Atombombe über dem Stadtzentrum. Ein gleißend heller Blitz zuckt durch den Morgenhimmel. Im Kern der Explosion ist es mehrere Millionen Grad heiß. Am Boden herrschen immer noch an die 3000 Grad. Gebäude und Bäume verglühen.
Musik 11
"Morbid Beauty" - K: Martin Todsharow - Album: Der Hauptmann (Original Motion Picture Soundtrack) - 0'53
Sprecher
Die folgende Druck- und Hitzewelle zerstört die Innenstadt Hiroshimas fast komplett. Die Explosionskraft der Bombe entspricht etwa der von 11-13 Tausend Tonnen des herkömmlichen Sprengstoffs TNT. Eine genaue Zählung der Toten ist unmöglich. An die 70-80 Tausend Einwohner Hiroshimas sterben sofort.
Von vielen bleibt nichts zurück. Die Körper verdampfen in der Explosions-Hitze. An den Spätfolgen der radioaktiven Strahlung werden in den Jahren danach noch weitere zehntausende Menschen sterben. Darunter sind zwar auch Soldaten, die übergroße Mehrheit sind Zivilisten.
Sprecherin
Dieses Leid ist für US-Präsident Truman weit weg. In einer Ansprache stellt er das Geschehen anders dar.
Zusp 5 Truman Rede
The world will note that the first atomic bomb was dropped on Hiroshima, a military base. That was because we wished in this first attack to avoid, insofar as possible, the killing of civilians. But that attack is only a warning of things to come
Zitator Overvoice Truman
Die Welt muss zur Kenntnis nehmen, dass die erste Atombombe auf Hiroshima abgeworfen wurde. Eine Militärbasis. Wir haben in diesem ersten Angriff versucht, soweit wie möglich zu vermeiden, dass Zivilisten sterben. Aber dieser Angriff ist nur eine Warnung vor dem was kommen kann
Sprecher
Eine offizielle Reaktion aus Japan auf den ersten Atombombenabwurf gibt es dagegen nicht.
Musik 12
"With Suspicion" - Album: Gone Girl (Soundtrack from the Motion Picture) K und Ausführende: Atticus Ross & Trent Reznor Länge: 0'34
Sprecherin
Schon drei Tage später, am Morgen des 9.8.1945 hebt wieder ein B29-Flugzeug in Richtung Japan ab. An Bord ist eine weitere Atombombe, Deckname „Fat Man“, „Dicker Mann“. Das Ziel ist eigentlich eine Stadt im Norden der japanischen Insel Kyushu. Da sie wegen einer dichten Wolkendecke nicht auszumachen ist, entscheidet sich die Crew das Ersatzziel anzufliegen: Nagasaki.
Musik 13
"Head Tag" - K: Tyler Bates, Album: The Belko Experiment (Original Motion Picture Soundtrack) - Länge: 0'11
Sprecherin
Um 11.02 Uhr explodiert „Fat Man“ über der Stadt.
Sprecher
Die Bombe ist anders gebaut als die Hiroshima-Bombe. Die Explosionskraft von „Fat Man“ ist fast eineinhalbmal so stark.
Musik 14
"Morbid Beauty" - K: Martin Todsharow - Album: Der Hauptmann (Original Motion Picture Soundtrack) - 0'59
Sprecher
Die Ausbreitung der typischen Schockwelle wird allerdings durch Hügel am Stadtrand abgebremst. Dennoch sterben auch in Nagasaki mindestens 20.000 Menschen, nach anderen Schätzungen sogar 70 bis 80.000 Menschen sofort und Tausende in der Zeit danach an den Spätfolgen, etwa durch die radioaktive Strahlung. Auch hier sind die meisten Opfer Zivilisten. Das eigentliche Ziel, eine Rüstungsfabrik, hat die Bombe verfehlt.
Sprecherin
Einen Tag später dann die Wende: Zwar sind immer noch Teile der japanischen Führung vehement dafür, den Krieg fortzusetzen. Aber nach einem Machtwort von Kaiser Hirohito erklärt Japan, dass man nun bereit wäre zu kapitulieren.
Zusp 6 Rede Kaiser
Sprecher
Am 15. August hören viele Japaner zum ersten Mal die Stimme des Kaisers. In einer Radioansprache verkündet er das Ende des Krieges. Der Feind habe begonnen, eine neue, ungeheuer grausame Bombe einzusetzen, deren Zerstörungskraft unermesslich sei und unschuldige Leben fordere, sagt er.
Sprecherin
Der Zweite Weltkrieg ist vorbei und eine kontroverse Debatte beginnt, die bis heute geführt wird. Waren die Abwürfe der Atombomben gerechtfertigt?
Sprecher
Dank der Atombombe kapitulierte Japan und der Zweite Weltkrieg ging deutlich früher zu Ende. So ist es in vielen Lexika bis heute zu lesen. Und davon sind nach wie vor viele Historiker und auch große Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit überzeugt. Die USA hätten keine andere Möglichkeit gehabt, als die beiden zerstörerischen Bomben einzusetzen, um den Krieg zu beenden. Manche gehen noch weiter und erklären, dass die Atombomben auch Leben gerettet hätten: Denn ohne die Bomben wäre eine Invasion auf den japanischen Inseln nötig gewesen und die hätte zehntausende US-Soldaten möglicherweise das Leben gekostet.
Sprecherin
Nicht nur in den USA, auch in Japan haben bis heute manche ein großes Interesse daran, dass diese Version weiterverbreitet wird. Auch der Kaiser hatte ja betont, dass die Bomben der entscheidende Grund für die Aufgabe Japans waren. Die Logik dahinter: Japan hat zwar in Ostasien einen aggressiven Angriffskrieg begonnen – dank der Atombomben konnte man sich jetzt aber auch zum Opfer einer heimtückischen Waffe erklären. Die massiven Kriegsverbrechen, für die Japan verantwortlich ist, versuchen manche dahinter zu verstecken.
Sprecher
Aber waren die Atombomben wirklich kriegsentscheidend?
Sprecherin
Dafür ist die Zeit zwischen den Atombombenabwürfen besonders interessant: Da versucht Japan nochmal in Moskau vorzufühlen. Man hofft immer noch auf eine Vermittlung eines möglichst annehmbaren Friedens durch die Sowjets.
Aber stattdessen erklärt die Sowjetunion am 8. August 1945 Japan den Krieg. Sowjetische Soldaten greifen wenige Stunden später japanische Truppen in China an. Vergleicht man die sowjetische Kriegserklärung mit den Atombombenabwürfen, dann steht für Historiker Gerhard Krebs fest:
Zusp 7 Krebs
Der Kriegseintritt der Sowjetunion war sicher der größere Schock.
Sprecher
Andere Historiker sehen das inzwischen ähnlich. Sie sind überzeugt: Die Atombomben hatten zwar eine bis dahin ungekannte Zerstörungskraft. Gleichzeitig war ihre Wirkung vergleichbar mit dem, was Japan in den Monaten zuvor schon viele Male erlebt hatte, nämlich verheerende amerikanische Flächenbombardements mit tausenden Sprengkörpern. Über die Folgeschäden durch radioaktive Strahlung war damals noch wenig bekannt. Außerdem ging Japan davon aus, dass die USA nur wenige einsatzbereite Atombomben haben würden.
Sprecherin
Der Kriegseintritt der Sowjetunion trifft Japan dagegen doppelt. Zum einen muss Japan nun an einer weiteren Front kämpfen und es befürchtet, dass der Kommunismus sich immer mehr ausbreiten könnte. Zum anderen ist jetzt klar: Alle Hoffnungen der Japaner waren umsonst - die Sowjets würden nicht dabei helfen einen Frieden zu vermitteln. Japan ist endgültig allein.
Sprecher
Auch wegen solcher Erkenntnisse wächst in den Jahren nach 1945 die Kritik an den USA. Hätten die USA die Folgen des sowjetischen Kriegseintritts nicht besser mit einkalkulieren können? Mussten die Bomben fallen, schon allein, um die gewaltigen Milliarden-Investitionen zu rechtfertigen?
Hätten die USA früher kompromissbereiter sein sollen gegenüber Japan? Nach Kriegsende durfte der Kaiser nämlich, wie von Japan gefordert, tatsächlich im Amt bleiben. Eine Hoffnung der USA war, dass die japanische Gesellschaft so kooperativer sein würde in der Nachkriegszeit.
Sprecherin
Dazu kommen Überlegungen, dass die Atombomben möglicherweise auch abgeworfen wurden, weil der Kalte Krieg sich schon ankündigte. Auch das spielte wohl eine Rolle, glaubt Gerhard Krebs:
Zusp 8 Krebs
Sicher wollte Truman auch die Sowjetunion beeindrucken. Er hatte schon Bauchschmerzen, wegen der Ausbreitung der Sowjets in Osteuropa, besonders in Polen. Und es sollte sicher auch als Warnschuss für die Sowjetunion dienen. (Hart ausblenden)
Sprecher
Und für manche Wissenschaftler steht fest – die USA hätten die Friedensinitiative der Japaner über Moskau ernster nehmen sollen. Dann wäre ein Frieden schnell möglich gewesen. Allerdings könnte diese Position etwas zu optimistisch sein. Zu unklar waren die japanischen Positionen, zu laut die offizielle Propaganda, die den Krieg unerbittlich fortsetzen wollte. Mit Blick auf die Atombombe steht für Gerhard Krebs aber insgesamt fest:
Zusp 9 Krebs
Man hätte es anders lösen sollen. Man hätte nicht ohne Vorwarnung die Bomben abwerfen sollen und vor allem nicht die zweite so schnell.
Musik 15:
"End of War" - Album: The Imitation Game (Original Motion Picture Soundtrack)
K: Alexandre Desplat - Länge: 0'39
Sprecherin
Auch viele Beteiligte bereuten später die Art und Weise, wie mit den Atombomben umgegangen wurde. Und Albert Einstein vertraut einige Jahre später einem Bekannten an, wie sehr er es bedauert, dass er einen entscheidenden Anstoß für die Entwicklung der Atombomben gab.
Zitator
„Ich beging einen großen Fehler meines Lebens, als ich den Brief an Präsident Roosevelt unterschrieb, in dem ich die Herstellung der Atombombe empfahl.“
Der Kunstmarkt ist vielen Menschen ein Rätsel: Wer bestimmt den Preis eines Kunstwerks? Wie kommt es zu den regelmäßigen Rekordergebnissen auf Auktionen? Und was macht eigentlich ein Galerist? Julie Metzdorf über die Mechanismen des Kunstmarkts. Von Julie Metzdorf (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Irene Schuck
Es sprach: Andreas Neumann
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Andy Warhol - Pop oder Art
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Was hat die Energiewende mit zuckenden Froschschenkeln zu tun? Und warum sind glänzende Schrauben und Duschköpfe etwas ganz Besonderes? Die Technik, die heute verzinkte Schrauben, vergoldete Stecker und verchromte Duschköpfe ermöglicht, nimmt ihren Anfang vor über 250 Jahren. Von Aeneas Rooch
Credits
Autor dieser Folge: Aeneas Rooch
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Stefan Wilkening, Katja Schild
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Nicole Ruchlack
Im Interview:
Prof. Heinz Schott
Katja Feige, Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA
Prof. Friedrich Steinle, TU Berlin
Dr. Marcel Risch, Helmholtz-Zentrum Berlin
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Schrauben können rosten. Wenn die Korrosion das Metall auffrisst, fällt schlimmstenfalls alles, was miteinander verschraubt wurde, auseinander. Das kann katastrophale Folgen haben. Um Schrauben vor Rost zu schützen, werden sie daher oft einer hauchdünnen Schutzschicht überzogen, sie werden verzinkt.
Musik 2
"Amarilli mia belli" - Album: Harp Music of the Italian Renaissance - Ausführender: Andrew Lawrence-King - Komponist: Giuliano Caccini - Länge: 0'10
Diese Technik wäre vielleicht niemals möglich geworden, hätte nicht im 18. Jahrhundert ein italienischer Arzt mit Fröschen experimentiert…
Musik 3
"Stacking Of Different Natures" - Ausführende: The Information - Album: Biomekano - Länge: 1'23
SPRECHERIN:
Bologna, um 1770. Besagter Arzt seziert gerade Frösche. Als sein Assistent mit einem Skalpell einen Froschschenkel berührt, zuckt der tote Schenkel plötzlich. Woher kommt die unheimliche Bewegung? Hat es mit dem mechanischen Apparat direkt daneben zu tun, mit dem man durch Kurbeln Elektrizität erzeugen kann, eine neue und kaum verstandene Kraft? Der Arzt will es wissen.
ZITATOR GALVANI:
„Daraufhin wurde ich von einem unglaublichen Eifer und Begehren entflammt, dasselbe zu erproben und das, was darunter verborgen wäre, ans Licht zu ziehen.“
SPRECHERIN:
Der Arzt experimentiert systematisch. Er hält Metallkabel an die toten Frösche und lässt seine Assistenten zur gleichen Zeit an der Kurbelmaschine elektrische Ladungen erzeugen.
ZITATOR GALVANI:
Ich berührte […] mit der Messerspitze den einen oder den andern
Schenkelnerv und in dem Momente entlockte einer von den Anwesenden einen Funken. Die Erscheinung blieb stets dieselbe. Unfehlbar traten heftige Contractionen in den einzelnen Muskeln der Gelenke in demselben Momente ein, in dem der Funken übersprang, wie wenn das präparirte Thier vom Tetanus befallen wäre.
SPRECHERIN:
Der Arzt zieht den Schluss: Es ist elektrischer Strom, der die Muskelbewegungen auslöst. Der Arzt heißt: Luigi Galvani. Und die Muskelbewegung, die er bei den toten Fröschen durch Strom hervorgerufen hat, wird nach ihm benannt: Galvanismus.
Luigi Galvani ist damals, im 18. Jahrhundert, keineswegs der erste Arzt, der mit Elektrizität experimentiert. Das berichtet der Medizinhistoriker Prof. Heinz Schott.
O-Ton (Heinz Schott):
Es gibt da Abbildungen, wo jemand mit einem lahmen Arm oder Bein im Bett liegt und nun der Arzt mit seinen Drähten hantiert. Im Hintergrund wird dann die elektrische Maschine gedreht, also es ist eine ganz ausgeklügelte technische Apparatur da, die dann schon eingesetzt wurde, vor Galvani.
SPRECHERIN:
Menschen beginnen gerade erst, Elektrizität künstlich zu erzeugen – und nutzen die neue, mysteriöse Kraft sowohl zur Behandlung von Krankheiten als auch zur Belustigung. Sie lachen über Stromschläge, bewundern „Heiligenscheine“ aus Funken und staunen über geisterhafte Muskelzuckungen.
O-Ton (Heinz Schott):
Das war eine illustre Szene da. Das waren zum Teil auch Schauexperimente, die man gemacht hat in größeren Menschengruppen, wo man also Menschenketten gebildet hat und dann Strom zugeleitet hat und dann plötzlich sind alle umgefallen.
SPRECHERIN:
In dieser Zeit – in den ersten Tagen des elektrischen Zeitalters – entdeckt Luigi Galvani, dass elektrischer Strom tote Froschschenkel zucken lässt. Er glaubt, damit die Antwort auf eine Jahrtausende alte Frage gefunden zu haben.
O-Ton (Heinz Schott):
[…] Was hält den Menschen überhaupt lebendig? Das war so die klassische Frage. Und nun endlich, dachte jetzt Galvani: Das ist es! Wir haben das sozusagen hier experimentell nachgewiesen […]
SPRECHERIN:
Galvani vermutet: In jedem Lebewesen steckt eine spezielle Art von elektrischem Strom: die „animalische Elektrizität“.
O-Ton (Heinz Schott):
[…] unabhängig von Elektrisiermaschinen oder Blitzen gibt es im Organismus selbst eine Elektrizität…
SPRECHERIN:
Sie ist es, glaubt er, die seine Frösche hat zucken lassen, und sie ist es auch, die Mensch und Tier lebendig macht.
Fortsetzung O-Ton (Heinz Schott):
…Und damit hat er im Grunde die Elektrophysiologie des 19. Jahrhunderts vorweggenommen, die ja gezeigt hat, dass die Nervenimpulse und überhaupt unser Nervensystem mit Elektrizität funktioniert, nur durch diese.
Musik 4
"Jam" - Komponist und Ausführender: Tod Dockstader - Aerial 3 -
Länge: 0'42
SPRECHERIN:
Die erstaunliche Kraft der Elektrizität inspiriert Menschen zu weiteren Experimenten – nicht nur mit Fröschen, sondern auch mit Leichen, schildert Medizin-Historiker Heinz Schott.
O-Ton (Heinz Schott):
Diese französische Revolution mit dieser Terrorphase war der Höhepunkt dieser Experimente mit Leichen. […] . Das war also eine sehr enge Kooperation, man könnte vielleicht auch sagen Schulterschluss, zwischen Forschung und dem Henker. Man hat […] elektrische Drähte angebracht und dann Elektrizität zugeführt und dann eben beobachtet: Welche Muskeln zucken wie? Und das war natürlich eine schauerliche Geschichte.
SPRECHERIN:
Nach der Französischen Revolution, um 1800, werden Experimente mit Leichen weitgehend eingestellt – aus ethischen Gründen. Die mysteriösen Muskelbewegungen durch Elektrizität, wie sie Galvani bei seinen Fröschen beobachtet hat, verlieren jedoch nichts von ihrer Faszination. Noch ein halbes Jahrhundert lang bieten Mediziner sogenannte „galvanische Therapien“ an.
O-Ton (Heinz Schott):
Ich kenne eine Abbildung, wo auch in der Augenheilkunde Galvanotherapie eingesetzt wurde. Da hat man dann eine Elektrode, wo man Strom von einer Batterie abzweigte, ans Auge gehalten oder versucht auch Blindheit zu therapieren. Oder auch Taubheit… […] Ich würde sagen, es gab sicher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so die Idee, dass man letztlich alles mithilfe von Galvanotherapie irgendwie angehen konnte…
SPRECHERIN:
Ärzte leiten daher Strom in den Körper der Patienten – über Nadeln, Metallplatten, Wasserbäder.
O-Ton (Heinz Schott):
…Man muss sich klar machen, dass die Medizin, wie wir sie kennen, also […] Biomedizin auf naturwissenschaftlicher Grundlage, ja erst später kam, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und vorher: anything goes.
Musik 5:
"Blackhole Dropout" - Ausführender: Tod Dockstader - Album: Electronic - Länge: 0'30
SPRECHERIN:
Der Galvanismus – Muskeln, die durch Elektrizität zucken – inspiriert die Schriftstellerin Mary Shelley schließlich zu einem der berühmtesten Schauerromane der Welt: Frankenstein.
ZITATORIN MARY SHELLEY:
„Vielleicht würde ein Leichnam wiederbelebt werden; der Galvanismus hatte Anzeichen für solche Dinge gegeben: vielleicht könnten die Bestandteile einer Kreatur hergestellt, zusammengebracht und mit Lebenswärme versehen werden.“
SPRECHERIN:
Lebenskraft durch tierische Elektrizität – mit seiner Idee liegt Galvani falsch. Was seine Frösche hat zucken lassen, findet um 1800 der Physiker Alessandro Volta heraus.
O-Ton (Katja Feige):
Er wiederholte die Versuche systematisch, stellte jedoch fest, dass die Froschschenkel nur zucken, wenn die Muskeln gleichzeitig mit zwei unterschiedlichen Metalldrähten berührt werden…
SPRECHERIN:
Das berichtet Ingenieurin Katja Feige. Sie beschäftigt sich am Stuttgarter Fraunhofer Institut für Produktionstechnik und Automatisierung mit Galvanotechnik. Und ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Galvano- und Oberflächentechnik.
Fortsetzung O-Ton (Katja Feige):
… Die Intensität der Zuckungen hing von der Metallpaarung ab, und er stellte fest, dass die Quelle der Elektrizität mit der Kombination unterschiedlicher Metalle zusammenhängt – und nicht mit der tierischen Elektrizität, so wie es Galvani benannt hat.
SPRECHERIN:
Volta zeigte, dass man auch ohne tierisches Gewebe Elektrizität produzieren kann: indem man verschiedene Metalle über eine Flüssigkeit miteinander verbindet. Diese Flüssigkeit nennt man Elektrolyt.
Musik 5
"Caisson" - Ausführende: Loscil - Album: Loscil (Single) - Länge: 0'39
SPRECHERIN:
Verbindet man verschiedene Metalle über eine Flüssigkeit, fließt elektrischer Strom. Das ist die Grundidee, die heute, über zweihundert Jahre später, für verzinkte Schrauben sorgt.
Damals jedoch erkennt noch niemand, dass man auf diese Weise Beschichtungen erzeugen kann. Erst einmal versuchen Wissenschaftler, genauer zu verstehen, wie dieser mysteriöse Stromfluss durch eine Flüssigkeit zwischen zwei Metallen abläuft.
Bei seinen Untersuchungen dazu gelingt Alessandro Volta um 1800 eine bahnbrechende Erfindung: die Volta’sche Säule.
Musik 6
"Frog March By" - Komponist: Tod Dockstader - Album: Electronic - Länge: 0'26
SPRECHERIN:
Er schichtet in einer Säule Kupferplättchen, in Salzwasser getränkte Pappe und Zinkplättchen übereinander. Die Zinkplättchen lösen sich auf, und ihre frei gesetzten Elektronen wandern durch das Salzwasser – das ist in diesem Fall der Elektrolyt – Richtung Kupfer. Elektrischer Strom fließt!
O-Ton (Friedrich Steinle):
Die Volta-Säule war das erste Instrument, mit dem man elektrischen Strom herstellen konnte…
SPRECHERIN:
Friedrich Steinle ist Professor für Wissenschaftsgeschichte – an der Technischen Universität Berlin.
Fortsetzung O-Ton (Friedrich Steinle):
Vorher konnte man elektrische Schläge herstellen, elektrische Schläge und Überschläge in gigantischen Ausmaßen. Aber einen kontinuierlichen Strom gab es nicht. Den gibt es zum ersten Mal überhaupt mit der Volta-Säule. Die erste Batterie. Was wir heute als Batterie bezeichnen. Ja.
SPRECHERIN:
Die Volta’sche Säule ist die erste Batterie! Und ein Meilenstein auf dem Weg zur verzinkten Schraube. Die aber braucht noch über 100 Jahre weitere Forschung und technologischen Fortschritt.
Musik 7
"Einar returns home" - Album: The Danish Girl (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'21
SPRECHERIN:
Anfang des 19. Jahrhunderts nutzt der britische Chemiker Humphry Davy als einer der ersten Wissenschaftler die brandneue Volta’sche Säule für seine Experimente: Damit erzeugt er einen dauerhaften elektrischen Strom – und leitet ihn über Kontakte in Wasser, in dem er zuvor Salze aufgelöst hat.
Musik 8:
"Finale" - Komponist: Tod Dockstader - Album: Aerial 3 - Länge: 0'24
SPRECHERIN:
Der Strom spaltet die gelösten Salze in ihre Bestandteile auf. Davy beobachtet: Mal blubbern Gase aus dem Wasser, mal lagern sich an den Kontakten Metalle ab. Es sind Metalle, die noch niemand zuvor in purer Form gesehen hat.
O-Ton (Friedrich Steinle):
Davy ist es gelungen, zum ersten Mal diese Salze zu zerlegen und die Metalle in Reinform überhaupt erst mal in der Hand zu haben. Zum Beispiel: Natrium überhaupt mal erstmals als solches in die Hände zu bekommen.
SPRECHERIN:
Und Kalium. Barium. Strontium. Calcium. Magnesium. Durch elektrischen Strom im Wasserbad, durch sogenannte Elektrolyse, spaltet Humphry Davy chemische Verbindungen in ihre Einzelteile auf. Und gelangt so an die reinen Metalle, die sie enthalten, die reinen Elemente. Das begeistert auch seinen Assistenten – einen jungen, unbekannten Buchbinder namens Michael … Michael Faraday!
O-Ton (Friedrich Steinle):
Humphrey Davy, einer der innovativsten Chemiker seiner Zeit. Bei ihm war Faraday als Gläschenputzer angestellt. Faraday hat extrem aufregende Experimente mitbekommen. Faraday hat sich extrem stark selber interessiert, im Selbststudium versucht sich beizubringen, was da eigentlich passieren kann, die ganze Chemie im Selbststudium beizubringen. Und in Humphrey Davy hatte er jemanden, der ihn hat machen lassen, der ihm die Freiheit gewährt hat auch im Labor selber zu arbeiten. Für sich alleine.
SPRECHERIN:
Faraday erforscht rigoros, wie diese elektro-chemische Zersetzung funktioniert, die Elektrolyse.
O-Ton (Friedrich Steinle):
Das ist eine Hausnummer! Mit Grundschulbildung, mehr nicht! Und hat sich zu einem der interessantesten Chemiker der Zeit und nachher auch Physiker entwickelt.
SPRECHERIN:
Rund einhundert Ehrentitel und Auszeichnungen erhält Michael Faraday für seine richtungsweisende und monumentale Arbeit:
Faraday entdeckt – unter anderem! – elektromagnetische Induktion, er prägt bahnbrechende Konzepte wie das des „Magnetfelds“, er erforscht die Eigenschaften von Licht und: Faraday klärt die Grundgesetze der Elektrolyse.
Metallablagerungen im stromdurchflossenen Wasser-Bad – es klingt unspektakulär, worum es in der Galvanotechnik geht. Aber es ist extrem nützlich. An verzinkte Schrauben denkt zu jener Zeit noch niemand. Allerdings können bereits ab 1850 metallische Oberflächen perfekt überzogen werden – mit Gold, Silber, Kupfer oder Nickel. Das erzählt Ingenieurin Katja Feige:
O-Ton (Katja Feige):
Das sind halt Schichtsysteme, die damals vorrangig für dekorative Zwecke eingesetzt wurden.
Musik 9
"Variation in C minor on a Waltz by Diabelli, D. 718" - Ausführende: Charlotte Baumgartner - Komponist: Franz Schubert - Album: - Länge: 0'13
SPRECHERIN:
Das sollte sich aber um 1870 ändern.
Die Dynamomaschine liefert Ende des 19. Jahrhunderts elektrischen Strom – dauerhaft, kostengünstig und praktisch in jeder gewünschten Stärke.
Musik 10
"Transit" - Ausführender und Komponist: Biosphere - Album: Insomnia [Original Soundtrack] - Länge: 0'49
SPRECHERIN:
Industrie und Wissenschaft machen jetzt rapide Fortschritte. Auch die Elektrolyse, die längst nicht mehr nur zu Dekozwecken benutzt wird.
Das Prinzip ist immer noch das alte: Man gibt bestimmte chemische Verbindungen in eine Flüssigkeit, einen sogenannten Elektrolyt, und führt Strom hindurch; dann setzen sich die Bestandteile der Verbindungen als hauchdünne Schichten auf den elektrischen Kontakten ab.
Neu ist jetzt dauerhafter und starker Strom: Mit ihm lassen sich andere Beschichtungen erreichen als nur hübscher Glanz. Dicke und harte Nickelschichten schützen metallische Bauteile vor Verschleiß und Korrosion. Vor allem ab 1900, sagt Ingenieurin Katja Feige.
O-Ton (Katja Feige):
Fahrradlenker oder Fahrräder wurden dann halt vernickelt. Ein Fahrrad wurde damals halt einfach zum Gebrauchsgut und als Fortbewegungsmittel eingesetzt. Und somit hatte die Vernicklung den Vormarsch gemacht aufgrund dieser Fahrrad-Entwicklung.
SPRECHERIN:
Elektrolyse spielt nicht nur bei Beschichtungen eine Rolle, sondern auch in der Energiewende.
Musik 11
"Coyote" - Album: Sketches from New Brighton - Ausführender: Loscil - Komponist: Scott Morgan - Länge: 0'50
SPRECHERIN:
Um den CO2-Ausstoß zu verringern, will man auch Technologien verwenden, die auf Wasserstoff basieren. Doch woher soll der Wasserstoff kommen – das Schlüsselelement für diesen Beitrag zur Energiewende?
O-Ton (Marcel Risch):
Zurzeit wird Wasserstoff leider überwiegend, zu 95 %, aus fossilen Quellen hergestellt. Das heißt, bei der Wasserstofferzeugung entsteht auch CO2…
SPRECHERIN:
Dr. Marcel Risch erforscht Möglichkeiten, Wasserstoff zu gewinnen – am „Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie“. Eine Möglichkeit wäre: Wasser zu zerlegen. Wasser ist eine Verbindung aus Wasserstoff und Sauerstoff. Mit Elektrolyse kann man sie in ihre Bestandteile aufspalten – und den Wasserstoff herausholen!
Fortsetzung O-Ton (Marcel Risch):
…Mittels Elektrolyse kann man Wasserstoff nur aus Wasser herstellen, bei dieser Reaktion würde dann kein CO2 mehr entstehen.
SPRECHERIN:
Wasser aufzuspalten in Wasserstoff und Sauerstoff – das ist Chemikern schon um 1800 im Labor gelungen. Klappt es auch in großem Maßstab?
O-Ton (Marcel Risch):
Großtechnisch gibt es einige Pilotanlagen in Deutschland, zum Beispiel in Berlin, wo eine Windkraftanlage zusammen mit einem großen Elektrolyseur gekoppelt ist, um eben Wasserstoff herzustellen.
SPRECHERIN:
Die Herausforderungen bestehen darin, den Wasserstoff so aus dem Wasser herauszuholen, dass es sich lohnt. Die Wasserspaltung kostet schließlich Energie. Wasser ist in dieser Hinsicht ein ungünstiger Ausgangsstoff, um Wasserstoff zu gewinnen.
Um das zu erklären, betrachtet Marcel Risch Wasser, das durch eine Knallgasreaktion hergestellt wurde.
O-Ton (Marcel Risch):
Wasser ist so etwas wie die Asche der Knallgasreaktion. […] In der Knallgasreaktion nimmt man Wasserstoff-Gas und Sauerstoff-Gas und etwas Hitze. Und dann gibt es einen lauten Knall, und man bekommt Wasser. Wasser ist dann die Asche. Asche heißt hier, dass es ein Stoff mit niedriger Energie ist, und man muss wieder Energie hinzugeben, um ihn dann aufzuspalten in die Gase.
Musik 12
"Coyote" - Album: Sketches from New Brighton - Ausführender: Loscil - Komponist: Scott Morgan - Länge: 0'20
SPRECHERIN:
Aus der Asche eines verbrannten Stücks Papier das Papier wieder herstellen – so kann man sich den Versuch vorstellen, aus Wasser Wasserstoff zurückzugewinnen. Und das ermöglicht: die Elektrolyse.
Musik 13
"Finale" - Komponist: Tod Dockstader - Album: Aerial 3 - Länge: 0'47
SPRECHERIN:
Chemische Verbindungen durch Strom aufspalten – in der Galvanotechnik wird Elektrolyse genutzt, um metallische Oberflächen mit dünnen Schichten zu überziehen.
Verzinkte Schrauben rosten nicht so schnell.
Vergoldete Stecker leiten Strom leichter, Signale können besser übertragen werden.
Verchromte Prägewalzen und Pressformen, Rohre, Kolben, Wellen und Werkzeuge sind hart und widerstandsfähig und verschleißen nicht so schnell.
Und: Perfekte, glänzende Beschichtungen verleihen Gegenständen auch heute noch ein hübsches und hochwertiges Aussehen.
Während metallische Bauteile mit einer dicken, schützenden Chromschicht überzogen sind – bis zu einem halben Millimeter stark –, reichen für glänzende Badezimmer-Armaturen wie Duschkopf und Wasserhahn Schichten von wenigen Tausendstel Millimetern.
Apropos verchromter Duschkopf. Der wirkt unscheinbar. Technisch ist er aber ein kniffliger Sonderfall, erklärt Werkstoffwissenschaftlerin Katja Feige. Der Duschkopf besteht aus Kunststoff und leitet keinen Strom. Wenn man ihn im galvanischen Tauchbad an einen elektrischen Pol anschließt, setzt sich an ihm erst einmal keine schöne Metallschicht ab. Er muss deshalb aufwändig vorbehandelt werden.
O-Ton (Katja Feige):
[…] Vorher wurde das ja gespritzt, da ist die Oberfläche sehr glatt und durch Beizen raut man die Oberfläche letztendlich auf. Dann taucht man diesen Duschkopf in eine sogenannte Aktivierungsbekeimungslösung. Da kann man unter anderem kleine Palladium-Keime auf diese Oberfläche aufbringen und mit diesen Palladiumkeimen ist es dann möglich, dass ich mit so einem sogenannten Chemisch-Nickel-Elektrolyt dann dort eine Abscheidung generieren kann. […] Damit erzeuge ich erst mal eine gleichmäßige Oberfläche, metallische Oberfläche auf meinem Duschkopf. Und wenn ich diese gleichmäßige metallische Oberfläche auf meinem Duschkopf habe, dann ist dieser Kunststoff-Duschkopf elektrisch leitfähig und kann dann entsprechend weiterbeschichtet werden.
SPRECHERIN:
Durch Galvanotechnik kann man Duschköpfe glänzen lassen und Schrauben vor Rost schützen. Dazu nutzt diese Technik Elektrolyse: Aufspalten von chemischen Verbindungen in einem stromdurchflossenen Wasserbad. Sie braucht genau dosierten elektrischen Strom. Und, um alles passend zusammen zu bringen, ein detailliertes Verständnis, nach welchen Regeln Physik und Chemie hier funktionieren, zum Beispiel: Wie stark ist der Strom? Wie lange fließt er? Welche Salze befinden sich im Wasser? Wie werden sie aufgespalten? Wie setzen sich die Bestandteile ab?
Musik 14
"Stacking Of Different Natures" - Ausführende: The Information - Album: Biomekano - Länge: 0'29
SPRECHERIN:
Der verchromte Duschkopf und die verzinkten Schrauben sind, so gesehen, High-Tech-Produkte, möglich gemacht durch über 200 Jahre naturwissenschaftlicher und technologischer Entwicklung: durch Galvanotechnik, ein Verfahren, das um 1770 in Italien mit zuckenden Fröschen begann.
Das mittelalterliche Kaisertum war kein Zuckerschlecken. Ständig galt es für den Herrscher, die Macht zu festigen, und Kriege zu führen. Dafür war der letzte Kaiser aus dem Geschlecht der Ottonen, Heinrich II. (973-1024), mit seinem Hofstaat fast ständig zu Pferd auf schlechten Straßen unterwegs. Von Susanne Roßbach
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Roßbach
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Caroline Ebner, Christian Baumann
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Karin Schneider-Ferber, Historikerin und Buchautorin, Berlin
Dr. Klaus van Eickels, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
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Linktipps:
Das wahre Leben im ach so finsteren Mittelalter: Burgenromantik
Ein Radiofeature von Susanne Roßbach über Mittelaltermythen HIER
Gelebtes Mittelalter
Eine BR Fernsehdoku von Reinhard Kungel über die anhaltende Begeisterung historischer Vereine, die mit Turnieren, Festen und Märkten mittelalterliches Leben nachempfinden wollen. HIER
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Beim Salamander ist die Zunge extra klebrig und kann greifen, die Giraffe kann sie in die Länge ziehen, die Schlange mit ihr in zwei Richtungen riechen - und der Schnecke wachsen auf der Zunge kleine Raspelzähne: ein Meisterwerk der Evolution und Inspirationsquelle für Technik und Robotik. Von Katharina Hübel
Credits
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel-Gohr
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Sebastian Fischer
Technik:
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Kurt Schwenk, Evolutionsbiologe University of Conneticut;
Dr. Wencke Krings, Zentrum für Taxonomie und Morphologie am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels in Hamburg;
Dr. Ian Whishaw, Neurowissenschaftler an der University of Lethbridge
Das wissenschaftliche Paper von Wencke Krings darüber, wie Landschnecken ihre Radula zum Fressen benutzen HIER
Dazu passend ein Video, das Wencke Krings von einer fressenden Schnecke gedreht hat: Youtube
Ein halbstündiges Audio-Interview der Uni Hamburg mit Wencke Krings darüber, wie das Wissen über Schneckenzungen in der Robotik helfen kann HIER
Mehr über Krägtemessung von Schneckenzungen, die Wencke Krings im Labor gemacht hat und Fotoaufnahmen der Radula unterm Rasterelektronenmikroskop: Hier und HIER
Einige Publikationen von Ian Whishaw von der Universität in Lethbridge zu Mäusen und Primaten, die greifen – und was da sonst noch so dran hängt aus neurobiologischer und evolutionärer Sicht:
HIER und HIER und HIER
Den Reptilienzungen hat Kurt Schwenk von der Universität in Conneticut sein Forscherleben verschrieben. Hier sein Buch:
Schwenk, Kurt: Feeding: Form, Function and Evolution in Tetrapod Vertebrates. Academic Press, San Diego. 2000.
Ein Artikel von Kurt Schwenk zum Züngeln der Schlangen (2022): ARTIKEL
Eine Übersicht über seine vielfältige Forschung zu Reptilienzungen inklusive einiger Links und Aufnahmen: HIER
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
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OT 01 Overvoice Ian Whishaw
Eigentlich eine lustige Geschichte. Ich trainierte gerade Mäuse darauf, nach Essen zu greifen. Mäuse sind wirklich gut darin. Dabei habe ich bemerkt, dass die Mäuse jedes Mal, wenn sie mit der Hand gezielt haben, ihre Zunge herausstreckten.
Sprecherin
Ian Whishaw, Forscher an der Universität von Lethbridge, ist Neurowissenschaftler und fragt sich bei seinem Laborversuch: Ist das Verhalten der Mäuse nur Zufall? Oder was ist da im Gehirn los? Braucht die Maus etwa die Zunge, um besser greifen zu können – oder weshalb gehen Zunge und Hand einher? Zeigen auch andere Lebewesen ein solches Verhalten? Er schaut sich Videos von Profisportlern an, die mit der Hand zielen. Wie Basketball-Legende Michael Jordan.
OT 02 Overvoice Ian Whishaw
Ich hab etliche Videoaufnahmen von ihm angeschaut. Immer wenn er auf den Korb zielte, um den Ball zu versenken, genau dann hat er die Zunge herausgestreckt. Und wenn er ihn versenkt hat, war die Zunge wieder zurück im Mund. Das war genau das Gleiche, was die Maus in meinem Experiment gemacht hat.
Sprecherin
Ian Whishaw analysiert professionelle Dartspieler. Auch bei ihnen derselbe Befund.
OT 03 Overvoice Ian Whishaw
Das scheint ein sehr übliches Verhalten zu sein – bei Mäusen und bei Menschen, wenn sie etwas erreichen wollen.
Sprecherin
Mit bildgebenden Verfahren und fluoreszierenden Proteinen kann Ian Whishaw Zellen im Gehirn sehen, wie sie miteinander vernetzt sind, welche aktiv sind, wenn die Maus nach etwas greifen will oder gerade die Zunge herausstreckt. Das, was er dabei sieht, lässt ihn nachdenken. Auch über den Menschen. Es wird ihn dazu bringen zu sagen: Die Zunge ist für den Menschen das Zentrum seines Seins. Eines komplexen Seins. Das allerdings vor vielen hunderten von Millionen Jahren noch nicht annähernd so in der Natur existiert hat. Einst sahen die Lebewesen auf dem Planeten Erde ganz anders aus. Manche Arten haben lange Zeit überdauert. Und ihre Zungen haben sich vielfältig entwickelt.
MUSIK
Sprecherin
Schon seit rund 600 Millionen Jahren existieren Schnecken auf diesem Planeten. Sie haben so einiges an Evolution hinter sich. Schnecken gab es bereits lange, bevor überhaupt die ersten Amphibien an Land gekrochen sind.
OT 05 Wencke Krings
Schnecken haben ja leider wenig Liebhaber, es sei denn, es geht um die Meeresschnecken, die bunt sind und die alle cool finden. Es ist halt so das täglich Brot, dass die meisten Menschen Schnecken gar nicht so wahrnehmen.
Sprecherin
… und ihnen erst recht nicht in den Mund und auf die Zunge schauen. Schneckenforscherin Wencke Krings macht aber genau das. Sie arbeitet in Hamburg am Leibniz-Institut. Auch für Forscher war es lange nicht einfach, Schneckenzungen in Bewegung zu untersuchen. Zu verborgen liegen sie im Schlund. Radula ist der Fachbegriff – auch Raspel- oder Reibezunge genannt. Und auf dieser Zunge – das ist das Besondere: Sind viele kleine Zähnchen.
OT 06 Wencke Krings
Schneckenarten lassen sich in den meisten Fällen wirklich anhand von diesen Zähnen unterscheiden. Man kann eine Schneckenzunge unters Raster-Elektronenmikroskop legen. Man kann dann sich die Formenvielfalt anschauen und damit auch Artenbeschreibungen sehr gut machen, weil die sehr unterschiedlich sein können.
Sprecherin
Die Zunge selbst ist relativ kurz. Die Schnecke drückt sie aus dem Schlund wie eine kleine Vorwölbung. Sie ist genau genommen ein Stütz-Polster.
OT 07 Wencke Krings
Da können Knorpelstrukturen drin sein, um Kräfte abzufedern, um die Bewegung der Radula zu koordinieren. Es kann aber auch einfach Bindegewebe sein, was drunter liegt. Es kann auch eine muskulöse Radula sein, also ganz unterschiedlich.
Sprecherin
Wencke Krings lässt Schnecken auf Glasplatten Substrat ablecken und filmt sie dabei mit einer high-speed-Kamera. So kann sie dann ganz nah ran an den Schneckenschlund und den Tieren in Slowmotion auf die Radula schauen. Sie untersucht auch deren chemische Zusammensetzung. Radula-Zähne sind aus Chitin. Anders als Säugetier-Zähne, die aus Kollagen bestehen. Für Wencke Krings liegt es daher nahe zu vermuten, dass Schnecken ihre Zungen-Zähne auch anders einsetzen.
OT 08 Wencke Krings
Und jetzt wird das Ganze kompliziert, weil wir natürlich nicht durch die Nahrung durch filmen können, das heißt, wir müssen Umwege gehen, wenn wir das erforschen wollen. Das hört sich jetzt ein bisschen brutal an, aber die Tiere spüren davon natürlich nichts, weil in den Zähnen sind ja keine Nerven drin (…). Jetzt kann man die Tiere auf Schleifpapier fressen lassen, dabei werden natürlich die Zähne abgenutzt, danach guckt man an den Zähnen: Wo sind die Verschleißspuren. Welche Zähne haben überhaupt Kontakt mit dem Untergrund?
Sprecherin
Bei dem Versuch hat Wencke Krings festgestellt: Schnecken nutzen die Radula-Zähne tatsächlich nicht, um abzubeißen oder zu kauen. Sondern: Um die Zunge zu biegen.
OT 09 Wencke Krings
Das heißt, die Zähne bilden wie so kleine Gelenke und klappen die Radula auf oder halten sie in einer bestimmten Form aufgespannt.
OT 09.2. Wencke Krings
Da kommt natürlich hinzu, dass die Tiere ja keine Hände haben. Mit dem Fuß können die auch greifen, also im Zusammenspiel zwischen Fuß und Mund. Aber viele können die Radula wirklich falten. Und dann große Algen, Fetzen oder Blätter greifen und dann reinziehen.
Sprecherin
Die Zunge ist für viele Schnecken also ein Greifwerkzeug. Die Zähnchen auf ihr ersetzen die fehlenden Knochen und Gelenke, damit das funktioniert. Eine Inspirationsquelle für Ingenieure, die versuchen, das Prinzip für Roboter nachzubauen. Und auch die Materialwissenschaften interessieren sich für die Schneckenzungen. Denn diese haben weitere bemerkenswerte Eigenschaften. Beispielsweise bei Arten, die in Küstenregionen leben.
OT 10 Wencke Krings
… die grasen halt Algen von Steinen ab, das heißt, die leben halt in der Brandungszone und fressen die Algen direkt vom Stein.
Sprecherin
Dabei könnten die Schnecken ihre Zähne schnell abschaben. Das passiert aber nicht. Mit den abgehobelten Algen gelangen nämlich kleine Steinpartikel und damit auch Eisenoxide in die Schnecke, die sich in den Radula-Zähnen einlagern. Dadurch sind diese extrem hart. ((Wencke Krings hat für ihre Promotion Schnecken aus dem afrikanischen Tanganjikasee untersucht. Ein Mekka für rund 50 verschiedene Napfschnecken-Arten, kleine Küstenmuscheln mit häubchenförmiger Schale, die sich auf Steinen, die von Wasser umspült werden, festsaugen.
OT 12 Wencke Krings
Da haben zum Beispiel die ganzen Schnecken, die da leben, gar keine Eiseneinlagerungen, keine Sillikate. Trotzdem können die auf Steinen sitzen und die Algen abfressen, ohne hohen Verschleiß.
Sprecherin
Wie können diese Zungen den Steinen trotzen?
OT 13 Wencke Krings
Da haben wir kleine Kraftsensoren genommen und haben damit – natürlich bei toten Tieren – diese kleinen Zähne auf der Zunge belastet und geguckt, wie die Kräfte aushalten können. Wann brechen diese Zähne?
Sprecherin
Das Ergebnis: Die Zähne der Napfschnecken aus dem Tanganjikasee halten die gleichen Kräfte aus wie die Zähne der Tiere mit Eiseneinlagerungen.
OT 14 Wencke Krings
Das kann man damit erklären, dass sich diese Zähne von den Tieren im Tanganjikasee gegenseitig abstützen können. Die Zähne, die stehen ja so hintereinander auf der Zunge, wenn die jetzt belastet werden, dann können sie sich so biegen und nehmen Kontakt auf. Und genau deswegen, weil sie halt keine Eisenablagerungen haben, sind sie natürlich sehr flexibel.
Sprecherin
Die rund 50 unterschiedlichen Napfschneckenarten haben eine Vielzahl an Schneckenzungen hervorgebracht. Ein ganzes Bündel an Lösungsansätzen für das Problem: Überleben auf algenbewachsenen Steinen.
OT 15 Wencke Krings
Evolutionsbiologen, die an Schnecken interessiert sind, für die sind halt die Pallodomidae ein bisschen das, was die Darwinfinken für die anderen Evolutionsbiologen sind.))
Sprecherin
Doch es gibt noch völlig andere Schneckenzungen. Für Schnecken, die nicht etwa Algen abweiden, sondern Fleischfresser sind. Sie brauchen eine völlig andere Zunge.
OT 16 Wencke Krings
Ein Extrembeispiel wäre Konus. Kegelschnecken, diese hochgiftigen Raubschnecken, die in den Tropen zu finden sind. Die haben nur einen einzigen Zahn, der aktiv genutzt wird. Der wird mit Gift gefüllt. Und dann wird er ausgeschossen aus der Zunge und trifft auf den Fisch. Da gibt es einen kleinen Rückholfaden, da ist so ein kleiner Zahn, der sieht aus wie eine Harpune und wird dann zurückgezogen. Der Zahn ist mit wirklich Dutzenden Toxinen beladen, die direkt wirken bei Wirbeltieren.
Sprecherin
Kegelschnecken zählen aufgrund dieser Harpunen-Zunge zu den gefährlichsten Tieren der Welt. ((Andere räuberische Schneckenarten wie die Wellhornschnecke, die auch in Deutschland an der Nord- und Ostsee vorkommt, hat besonders kräftige und gut klebende Zungen. Sie spucken ihren Speichel auf Muscheln.
OT 17 Wencke Krings
Und dann löst der Speichel genau die Schale der Muschel in dem Moment auf. Dann gehen sie mit ihrer Zunge in die Schale rein und holen das Fleisch raus.))
Sprecherin
80.000 Schneckenarten gibt es vermutlich weltweit. 80.000 verschiedene Zungen, 80.000 verschiedene Arten, in der Welt zu überleben. Eine funktionierende Zunge zu haben, bedeutet Zugriff zur Welt zu haben. Sie ist eine Brücke zwischen Innen und Außen. Ein sensibler Bereich.
OT 19 Wencke Krings
Das ist für mich gerade sehr, sehr spannend vor dem Hintergrund der Meeresversauerung. Das ist gerade das Herzensthema, an dem ich ganz stark arbeite.
Sprecherin
Je saurer das Meer, desto weicher die Zähne der Meeresschnecken. Irgendwann klappen die bisherigen Ernährungsstrategien der Muscheln nicht mehr. Und dann kippt ein ganzes Ökosystem, denn die Schnecken sind nach den Insekten die zweitgrößte Tiergruppe der Welt. Ihre Zungen könnten sprichwörtlich ein Zünglein an der Waage sein.
MUSIK / TRENNER
OT 20 Overvoice Kurt Schwenk
Ich bin zu dem Forschungsfeld gekommen, weil ich nicht nur wissen wollte, wie das genau funktioniert, dass sich Tiere ernähren können, sondern auch: wie sich die Anatomie dazu und die Strategien der einzelnen Tiere entwickelt haben im Laufe der Evolution. Es ist nicht nur eine Zunge, es ist ein komplexes System, über das wir hier reden. Und wenn man auf Reptilien schaut, insbesondere auf Eidechsen und Schlangen, da kann man einen unfassbaren Variantenreichtum sehen. Ihre Zungen sind einfach total verrückt. Und als ich angefangen habe, sie zu erforschen, da hatte keiner eine Vorstellung davon, wie sie sie wirklich benutzen, geschweige denn, wie sich Reptilienzungen entwickelt haben im Verlauf der Evolution.
Sprecherin
Kurt Schwenk ist Evolutionsbiologe an der Universität von Conneticut. Er wäre eigentlich schon im Rentenalter, ist aber noch lange nicht fertig mit seinem lebenslangen Projekt: Reptilienzungen. Er hat viel zu Schlangen geforscht. Die züngeln. Mit gesplitteter Zunge. Sie brauchen diese aber nicht etwa zum Fressen.
OT 20.2 Overvoice Kurt Schwenk
Schlangen sammeln Duftmoleküle mit ihrer Zunge ein; wenn sie etwas mit der Zungenspitze berühren – aber vermutlich können sie auch Duftmoleküle aus der Luft fischen. Wir können das noch nicht beweisen, haben aber Daten, die das nahelegen.
Sprecherin
Die Schlangenzunge ist vorne aufgespalten. Und so wie Menschen mit zwei Ohren hören, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt, kann die Schlange wahrnehmen, aus welcher Richtung ein Duft kommt. Riechen können die Schlangen mit der Zunge jedoch nicht. Das passiert im Inneren des Mauls.
OT 20.3. Overvoice Kurt Schwenk
Die eingesammelten Duftmoleküle werden im Speichel auf der Zunge gebunden. Wenn die Zunge ins Maul zurückgezogen wird, zieht die Schlange den Speichel durch zwei kleine Löcher, die im Gaumen sind, hoch. Das ist wie eine zweite Nase. Wir verstehen momentan noch nicht, weshalb Schlangen zwei Geruchsorgane haben.
Sprecherin
Ein Forscherleben, ein Menschenleben reicht offensichtlich nicht aus, um Reptilienzungen bis ins letzte Detail zu verstehen. Das Organ ist komplex – und all die Prozesse, die damit verbunden sind. Kurt Schwenk interessiert vor allem eine Frage:
OT 22 Overvoice Kurt Schwenk
Wie konnte eine solche Vielfalt entstehen?
Sprecherin
Der erste Schritt zu einer Antwort ist für den Evolutionsbiologen, sich die Mechanismen bei den einzelnen Tieren genau anzuschauen.
OT 23 Overvoice Kurt Schwenk
Ich wollte mal eine Filmaufnahme von einer Eidechse machen, wie sie ein Insekt fängt mit ihrer Zunge. Da war ich frustriert, weil der kleine Mehlkäfer, mit dem ich die Eidechse füttern wollte, einfach immer aus dem Fokus der Kamera gekrochen ist. Dann habe ich den Mehlwurm mit einem klitzekleinen Tropfen Kleber fixiert, ich dachte, er würde sich schon lösen. Die Eidechse streckte also ihre Zunge Richtung Wurm aus, der Wurm blieb erwartungsgemäß an ihrer Zunge kleben, die Eidechse zog daraufhin die Zunge wieder in den Mund ein. Aber der Wurm blieb am Boden kleben, anders als ich es gedacht hatte. Da die Zunge der Eidechse extrem klebrig ist, hat sich der Wurm aber auch nicht von ihrer Zunge gelöst. Dann hat es die ganze Eidechse zum Wurm hin katapultiert, es hat sie durch die Luft hoch geschleudert. Es sah sehr lustig aus. Das hat mir gezeigt, dass die Zunge so sehr am Wurm geklebt hat, dass sie das Gewicht der Eidechse hochheben konnte – und das ist doch schon sehr erstaunlich. Das ist, wie wenn man seine Zunge zu einer anderen Person hinstreckt und man die dann mit seiner Zunge hochheben kann. Das ist, was die Eidechse im Prinzip macht. Das ist schon verrückt. Das war für mich ein Moment, in dem ich viel gelernt habe.
Sprecherin
Was macht die Zunge von Eidechsen so klebrig? Obwohl sie gleichzeitig nass ist?
OT 24 Overvoice Kurt Schwenk
Grundsätzlich basiert das auf einem physikalischen Prinzip, das heißt viskose Adhäsion, so eine Art Nass-Haftung. Wenn man mit seinem Finger etwas aufsammeln möchte und der Finger trocken ist, bleiben kleine Objekte eher schlecht kleben. Befeuchtet man ihn, dann klappt es. Feuchtigkeit schafft eine klebrige Oberfläche, das hat etwas mit der Oberflächenspannung von Flüssigkeit zu tun.
Sprecherin
Der Speichel von Eidechsen ist je nach chemischer Zusammensetzung zähflüssiger und damit klebriger. Zusätzlich haben Eidechsen auf ihrer Zunge kleine Härchen.
OT 25 Overvoice Kurt Schwenk
Wie kleine Fasern, die abstehen. Und jedes dieser kleinen Härchen hat eine kleine Spitze, die wie viele kleine nasse Finger sind und die Nasshaftung verstärken.
Sprecherin
Aus Eidechsenzungen haben sich im Verlauf der Evolution Chamäleonzungen entwickelt. Der Speichel vom Chamäleon ist ein Superkleber und 400-mal zäher als menschlicher Speichel. Die Zunge ist aus gummiartigen Fasern und ultralang: bis zu zweieinhalb Mal so lang wie sein Körper. Das Chamäleon kann seine Zunge spannen, wie ein Katapult aus dem Maul schießen lassen, sie flexibel an die Oberfläche des Opfers anpassen und blitzartig wieder einziehen.
OT 26 Overvoice Kurt Schwenk
Chamäleons können ihre Zungenspitze zu einer kleinen Tasche falten. Die Beute wird da reingezogen. Es sieht dann aus, als ob ein Criquetschläger aus dem Chamäleonmaul herausschaut.
Sprecherin
Auch das Chamäleon kann also aktiv die Form seiner Zunge verändern und mit ihr greifen.
OT 27 Overvoice Kurt Schwenk
Als Evolutionsbiologe ist es sehr vergnüglich, diese vielen verschiedenen Lösungen für ein und dasselbe Problem zu beobachten. Es ist sehr lehrreich, um zu sehen, wie Evolution funktioniert. (…)
In erster Linie gibt es mir ein tieferes Verständnis davon, wie der Druck, sich an eine Umwelt anzupassen, diese faszinierende Vielfalt an Lebewesen und Strukturen hervorbringt, die so wundervoll und kreativ funktionieren.
Sprecherin
Das Problem, von dem Kurt Schwenk spricht: Vor rund 350 bis 400 Millionen Jahren haben sich die ersten Landwirbeltiere entwickelt. Der Gang an Land bedeutete ein Leben in einem neuen Element. Umgeben von Luft herrschten andere physikalische Gesetze als im Wasser.
OT 28 Overvoice Kurt Schwenk
Unsere Vorfahren waren Fische. Auch unter Fischen gibt es verschiedene Taktiken, um an Nahrung zu kommen. Aber im Prinzip nutzen sie Saugkraft. Sie sperren einfach ihr Maul auf, erweitern ihre Kehlen und stellen einen Sog her. Kleinere Lebewesen werden so in ihr Maul gesaugt. An der Luft funktioniert das nicht. Aber es gibt viele Hinweise darauf, dass Landwirbeltiere im Prinzip die gleichen Bewegungen und Skelettstrukturen mit ihren Zungen nutzen wie Fische, wenn sie einen Sog herstellen. Die Zunge ersetzt an Land die Rolle des Wassers, sie kreiert zum einen Bewegung, zum Beispiel von Nahrung Richtung Maul. Und die Zunge leistet noch etwas: Wenn die Beute im Wasser schwebt, muss der Fisch kein Gewicht stemmen. Aber an Land unterliegt die Beute der Schwerkraft. Wenn Du sie fangen willst, musst Du ihr Gewicht tragen. Sie wird nicht einfach in Dein Maul schweben. Das heißt, die muskuläre Zunge muss relativ früh in der Evolution entstanden sein, bevor sich das Leben an Land wirklich ausbreiten konnte.
Sprecherin
Die Zunge ist am Boden des Munds festgewachsen, verbunden mit einer Skelettstruktur, die noch auf unsere Fisch-Vorfahren hindeutet.
OT 29 Overvoice Kurt Schwenk
Die Muskulatur, die bei den Fischen da war, ist bei den Landlebewesen zu einer Zunge expandiert. Der ursprüngliche Muskelbogen der Fische ist aber noch als Relikt da. Beim Menschen liegt er hinter der Kehle; man kann ihn von außen nicht fühlen. (…) Dieser kleine Knochen aus der Fisch-Kehle hat ursprünglich einmal die Kiemen unterstützt. Und unterstützt jetzt die Zunge.
Sprecherin
Eine Zunge, die beim Menschen nicht einfach nur EIN Muskel ist.
OT 30 Overvoice Kurt Schwenk
Ich habe lange ins Mikroskop geschaut, um annährend zu verstehen, welche Muskelfasern da wie verlaufen.
Sprecherin
Die menschliche Zunge ist ein Zusammenspiel verschiedenartiger Muskelfasern: Innere, äußere, von innen nach außen, von außen nach innen, vertikal, quer, über Kreuz verlaufend, in alternierenden Bögen. Muskelfasern, die sich mischen und miteinander verwachsen sind. Mit dieser komplexen Struktur kann die menschliche Zunge auch komplexe Formen annehmen.
OT 31 Overvoice Kurt Schwenk
Das ist wichtig für die Sprache. Die Zunge nimmt komplizierte Formen an, wenn wir sprechen oder verschiedene Geräusche machen. Das ist eben nicht nur Resultat der Lippen, wie der Mund geformt ist oder was in der Kehle passiert. Auch die Zunge verändert die ganze Zeit ihre Form und bewegt sich dabei.
Sprecherin
Eine der komplexesten Aufgaben, die die Zunge übernehmen kann. Doch nicht nur die Zunge muss dazu in der Lage sein: vor allem auch das Gehirn. Neurowissenschaftler Ian Whishaw aus Lethbridge hat das erforscht. Unter anderem, in dem er zugeschaut hat, wie eine kleine Maus die Zunge rausstreckt, während sie greifen will – wie Michael Jordan beim Anpeilen des Basketballkorbs.
OT 32 Overvoice Ian Whishaw
Als die Tiere sich im Lauf der Evolution entwickelten und an Land kamen, entwickelten sie auch zwei verschiedene Strategien, um an Nahrung zu kommen: Die eine ist, die Zunge herauszustrecken und so Nahrung zu greifen. Die andere, nach der Nahrung mit der Hand zu greifen. Manche Tiere wie die Primaten habe beide Strategien vererbt. Das hat uns erlaubt, immer kompliziertere Bewegungen zu machen: sowohl mit der Hand – als auch mit der Zunge.
OT 33 Overvoice Ian Whishaw
Das gibt uns neue Einblicke, wie das Gehirn komplexe Bewegungen zustande bringt.
Sprecherin
Das Gehirn kombiniert beide Bereiche: Hand und Mund. Die Kombination von Gehirnbereichen macht Sprechen mit komplexen Zungenbewegungen überhaupt erst möglich, vermutet Ian Whishaw.
OT 34 Overvoice Ian Whishaw
Wenn Sie schon mal beobachtet haben, dass Menschen ihre Hände beim Reden benutzen, dann ist das ein Beispiel dafür, dass Zunge und Hände gemeinsam benutzt werden, um hörbare Sprache zu produzieren.
OT 35 Overvoice Ian Whishaw
Es geht um die Evolution von Fähigkeiten. Unser Gehirn ist vor allem dazu designed, etwas zu erreichen. Zunächst wollen wir etwas im Geist, dann haben wir gelernt, es mit unserer Zunge zu erreichen, und schließlich mit der Hand. (…) Das legt für mich nahe, dass die Zunge ein Teil des gedanklichen Prozesses ist. Wenn man durch bildgebende Verfahren in das menschliche Gehirn schaut, dann ist die Region, die die Zunge steuert, auch die, in der die Gedanken von dem Vorhaben ablaufen, das wir fassen, um eine Bewegung auszuführen – und zwar eine solche, die dazu dient, etwas zu erreichen.
Sprecherin
Ein Vorhaben fassen, einen Plan machen, Zungenbewegung und die Motorik der Hand – das passiert alles in ein und demselben Areal im Gehirn beim Menschen. Diese Erkenntnis bedeutet für Ian Whishaw: Die Zunge könnte einen Einfluss auf das Denken haben.
OT 36 Overvoice Ian Whishaw
Die Gehirngegend beim Menschen, die für die Zunge zuständig ist, ist vermutlich der fortgeschrittenste Bereich, wenn es um Vorausdenken, Planen und künftige Vorhaben geht.
OT 37 Overvoice Ian Whishaw
Wenn wir darüber nachdenken, wie wir ein Problem lösen können, zum Beispiel ein Kind bei einer schwierigen Mathe-Aufgabe, dann sieht man nicht nur, wie es mit der Hand auf dem Papier arbeitet, sondern auch allerhand Mundbewegungen. Auch die Zunge wird sich bewegen. Wir planen unsere Zukunft also vermutlich, indem wir unsere Zunge mit einbeziehen.
Sprecherin
Das bringt Ian Whishaw dazu zu sagen: Die Zunge ist für den Menschen das Zentrum seines Seins.
MUSIK
OT 04 Overvoice Ian Whishaw
Es ist ein Zentrum des menschlichen Seins in der Hinsicht: wir tun ja nicht die ganze Zeit Dinge, wir handeln ja nicht immer. Manchmal und erstmal haben wir auch einfach ganz stark eine Absicht – so wie die Maus, die die Nahrung greifen möchte. Wir denken viel darüber nach, Dinge zu tun. Wir schmieden meist Pläne, bevor wir etwas machen.
Sprecherin
Die Zunge, das ist das Ergebnis seiner Forschung, hat damit ganz entschieden etwas zu tun, dass uns das gelingt. Denn komplexes Verhalten wie Denken ist vermutlich aus der Hirnleistung entstanden, die ursprünglich dazu da war, die Zunge zu koordinieren.
Was bekam im Mittelalter der Henker für eine Hinrichtung? Wie viel Steuern zahlten die Huren an die Stadt? Die Augsburger Baumeisterbücher verraten es. Insgesamt 31 Regalmeter umfasst das Verzeichnis der städtischen Ausgaben und Einnahmen zwischen 1320 und 1784. Dieter Voigt hat nach seiner Pensionierung im Rahmen einer Doktorarbeit die ersten 120 Jahre der Bücher erschlossen und in einer Datenbank allen Interessenten online zugänglich gemacht. Von Carola Zinner
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Peter Weiß
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Dieter Voigt, Augsburg
Linktipps:
Die gesamte von Dieter Voigt erstellte Datei der Augsburger Baumeisterbücher steht auf der Website der Augsburger Universitätsbibliothek online: Die Augsburger Baumeisterbücher von 1402 bis 1440. Die Augsburger Baumeisterbücher sind die Rechnungsbücher von Augsburg, die ab 1320 zu einem großen Teil überliefert sind. 1276 hatten sich die Augsburger Bürger aus der Herrschaft des Bischofs gelöst. Damit wurden sie eigenverantwortlich für alle finanziellen Aufwendungen, die das Zusammenleben von Menschen auf einem begrenzten Territorium erfordern
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Mittlerweile ist man übrigens auch andernorts auf die Bücher aufmerksam geworden: Unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft arbeitet auch ein Team der Universität Mainz an einer Online-Präsentation der Augsburger Baumeisterbücher, in diesem Fall von 1320 bis 1466.
HIER gehts zur Website.
Dazu:
Edition der Augsburger Baumeisterbücher. Methoden der Digital Humanities in der Bearbeitung und Erforschung mittelalterlicher Rechnungsbücher – Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel der digitalen Edition der Augsburger Baumeisterbücher.
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Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR
Item 2 Gulden zwain armen Menschen, die ihr Fueß abgefallen hetten und die nichtz zue essen hetten
MUSIK hoch
ZITATOR
Item 2 Guldin Vnd 13 Schilling dem Augustin ainem potten (= Boten) der Uns Brieff pracht der Berihtun (= berichtet) von Costantz.
MUSIK hoch
ZITATOR
An Unser Frauen Tag Natiuitas haben Wir den Zoll empfangen Von dem Torhueter daselbst 29 Pfund.
ERZÄHLERIN
Zolleinnahmen, Botenlohn für Nachrichten vom Konzil in Konstanz, milde Gaben an Bedürftige: alles, was Augsburgs Stadtkasse füllt oder belastet, wird in den „Baumeisterbüchern“ sorgfältig vermerkt.
ZUSPIELUNG 1 (Voigt)
Wir würden heute sagen, das sind städtische Rechnungsbücher, ab 1320 und das geht bis 1784.
ERZÄHLERIN
Auch andere Städte führten „Baumeisterbücher“, wie die Verzeichnisse heißen, weil die Gelder zunächst fast ausschließlich für den Bau und Erhalt der schützenden Mauern und Gräben rund um die Stadt verwendet wurden. Nirgendwo sonst jedoch wurden die Listen über einen derart langen Zeitraum so sorgfältig geführt und aufbewahrt wie in Augsburg.
ZUSPIELUNG 2 (Voigt)
Die ursprünglichen Bücher waren einzelne Papierlagen, die dann zusammengebunden wurden. Also stand ein Wille dahinter, dass man auch wieder darauf zurückgreifen konnte: Was war denn da? Was haben wir ihm damals gegeben? Was geben wir ihm heute? Und das ist für die Zeit eine Besonderheit, denn das meiste ging ansonsten mündlich, bloß wenn die Träger dieser Information gestorben sind, dann war die Erinnerung weg. Hier hat man etwas fixiert und konnte darauf zurückgreifen.
MUSIK: „Tanec“ – (0:25)
ERZÄHLERIN
Heute liegen die insgesamt 379 überlieferten Bücher im Augsburger Stadtarchiv: eine einzigartige Dokumentation städtischer Einkünfte und Ausgaben vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit. Einen Teil davon hat Dr. Dieter Voigt (spr.: Vogt) mittlerweile im Rahmen seiner Dissertation erschlossen.
ZUSPIELUNG 3 (Voigt)
Es sind 31 Regalmeter. Und davon habe ich den ersten Meter erfasst.
Da habe ich dann praktisch alle diese Einträge, die in den Büchern waren, hier so transkribiert, damit die noch lesbar sind, und hier dann die Einnahmen, woher die kommen, Ausgaben und Personalkosten….
ERZÄHLERIN
Im Zuge seiner Arbeit übertrug Dieter Voigt den kompletten Inhalt der Bücher aus der Zeit von 1320 bis 1440 in eine Datenbank. Dort sind jetzt die teils schwer zu entziffernden Einträge auch für Ungeübte problemlos lesbar und können nach Schlagwörtern, Gesamt- oder Teilsummen durchsucht werden.
ZUSPIELUNG 4 (Voigt)
Manche schreiben sehr schön – das können Sie gut lesen – dann haben wir wieder welche, die ne ausgesprochene Klaue haben…
ERZÄHLERIN
Bereits im 12. Jahrhundert rangen die Bewohner Augsburgs, das damals noch komplett dem Bischof unterstellt war, beharrlich um ihre Selbständigkeit. Mit Erfolg, wie das „Stadtrecht“ aus dem Jahr 1276 zeigt, ein vom Kaiser abgesegnetes Rechtsbuch, in dem sie ihre Gesetze und Privilegien schriftlich festhielten, vom Strafrecht über den Kredithandel bis hin zu den diversen Abgaben und Zöllen. Damit würden sich in Zukunft alle Diskussionen wegen rechtlicher Unsicherheiten erübrigen, heißt es sinngemäß im Vorwort, das wie der gesamte Text nicht etwa in Latein verfasst ist, der Sprache der Kirche, sondern auf Deutsch.
MUSIK: „Tanec“ – (0:30)
ZITATOR
Wes man irre wirt daz man daz an disem buche vinden sol, daz daz danne reht ist unde niemen widerreden sol.
ERZÄHLERIN
Im „Buch“, wie die Augsburger es schlicht nannten, fand Dieter Voigt viele Hintergrundinformationen, die auf den ersten Blick eher kryptische Passagen in den Baumeisterbücher verständlich machten. Anfangs sind die Eintragungen dort noch lateinisch -
ZITATOR
De tribus septimanis recepimus de antiquo thelonio - 3 Pfund et 5 Schilling.
ZUSPIELUNG 5 (Voigt)
Das hat er für drei Wochen rückwirkend eingetragen, eingenommen aus dem alten Zoll, antiquo thelonio. Und dann ist hier drei Pfund und fünf Schillinge und der Getreidezoll waren 30 Schillinge.
ERZÄHLERIN
Es wirkt auf den ersten Blick recht karg, was die verschiedenen Schreiber über die Jahre mit Feder und Tinte zu Papier brachten. Doch je genauer man sich damit befasst, umso interessanter – und manchmal auch anrührender – wird es.
MUSIK: „Die Wintersonnwende 2““ – (0:50)
ZITATOR
Item 28 Pfund um ainen Loden armen Leuten an Suntag ante Michahel -
ZITATOR
Item 2 Guldin haben Wir geben Andresen dem Langen do er kranck belaibe tzue Muenchen -
ZITATOR
Item 1 Pfund ainem gemainen Froelin daz gewan ain Kindlein in dem Frauenhause -
ERZÄHLERIN
Warmer Lodenstoff für die Armen, Unterstützung für einen Augsburger, der in München krank oder Geld für das „gemeine Fräulein“, das im städtischen Frauenhaus schwanger wurde und ein Kind bekam: Die Bücher zeugen nicht nur vom alltäglichen Elend in der mittelalterlichen Stadt, sie erzählen auch von den zunehmenden Anstrengungen der Obrigkeit, Hilfestellung zu leisten.
ZITATOR
Item 30 Schilling dem Luitpoltzbader vom Baden die Funtkint
ZUSPIELUNG 6 (Voigt)
1320 bauen die ein Haus für eine Frau, die nennt sich „Sternin", und die betreut Findel- und Waisenkinder. Das war ein großes soziales Problem…. die bekamen Bekleidung, die bekamen Essen, die haben ein Bett, die haben ein Dach über dem Kopf und die wurden regelmäßig gebadet, der Bader rechnete immer mit der Stadt ab, wenn er die Kinder gewaschen hat. Und das war die erste Frau, die dann eine wirklich regelmäßig gleichbleibende, quartalsmäßige Bezahlung von der Stadt bekam. Die bekommt Butterschmalz. Sie bekommt wöchentlich Milch, die bekommt Schweine und eine Kuh, ja, also dass die wirklich ziemlich autark in der Versorgung waren. Und da kommt dann immer wieder eine neue Sternin, später bekommt die einen eigenen Brunnen, der wird mit Tuffstein ausgemauert, die bekommen einmal 1320 Krautköpfe - das zeigt, dass die viele Kinder haben musste. 1417 kauft die Stadt ein zweites Haus dazu und das alte Haus von 1320 wird 1418 abgerissen und neu gebaut. Und dann hat praktisch die Stadt, wenn es damals auch nicht so benannt wurde, zwei Waisenhäuser, was wir später als Waisenhäuser bezeichnen.
ERZÄHLERIN
Gleichzeitig lässt es sich die Stadt auch etwas kosten, hart gegen Verbrecher vorzugehen. Am 9. Mai 1372 etwa erhält der Henker mit 15 Schilling für eine Hinrichtung -
MUSIK: „Tanec“ – (0:20)
ZITATOR
Dem langen Ulrich dem man da kepfft
ERZÄHLERIN
Zum Vergleich: ein Arbeiter bekommt am Tag rund 8 Denare. 12 Denare ergeben einen Schilling – die 15 Schillinge für den Henker sind also mehr als das Zweiundzwanzigfache des Tageslohns eines Arbeiters. Der Rat sorgt auch für Frieden und Sicherheit innerhalb der Mauern, indem er ein Haus am Stadtrand für die „schönen Frauen“ unterhält, an die sich die vielen Männer wenden können, die aufgrund restriktiven Heiratsregeln ledig bleiben müssen.
ZITATOR
Von Fensterbreter umb zwen Laden und Fenster zu der Schönenfrauen Huiser - 26 Schilling.
ERZÄHLERIN
Gut angelegtes Geld, denn das Geschäft wirft für die Stadt einiges ab.
ZITATOR
Von den Frawen Huͤsern 18 Pfund 6 Schilling.
ERZÄHLERIN
Wie kleine Spots erhellen manche der Texte bisher unbekannte Aspekte des mittelalterlichen Lebens. Andere wiederum zeigen gleichsam die finanzielle Seite von wichtigen Ereignissen der Stadtgeschichte wie etwa der Revolte der Augsburger Zünfte gegen den Rat, in dem damals allein die Patrizierfamilien vertreten waren.
ZUSPIELUNG 7 (Voigt)
1368 sind die Handwerker vors Rathaus gezogen und haben die Übergabe der Machtinsignien verlangt. Das war das Stadtrecht, das waren die Bücher, die Schlüssel für die Tore, die Sturmglocke - und nach zwei oder drei Tagen war vollkommen unblutig die Machtübergabe gelungen. Und als das gelungen war, saßen die Bürger auf dem Rathausplatz, und die Stadt spendierte denen Wein -
MUSIK: „Tanec“ – (0:20)
ZITATOR
Item 44 Denare umb Wein die da sazzen und die Eid namen von de frid Und sun die Reich und Arm swuren
ZUSPIELUNG 8 (Voigt)
Und da saßen sie in Frieden, in Sunn und Freundschaft miteinander, und feierten die Machtübergabe.
MUSIK: „Connecting“ – (0:40)
ZITATOR
1402-1440 Ausgaben: Lecharbeiten – 2306.872 Denare / Personal 4.649832 Denare / Botenwesen 4 878 581 Denare / Söldner 10.452.918 Denare / Ärzte 243.408 Denare / soziale Ausgaben… (nach „Botenwesen“ blenden, evtl. unter Erzähler weiterlaufen lassen)
drüber
ERZÄHLERIN
Ob es die Ausgaben für Söldner sind oder Einnahmen aus dem Fischverkauf: Die von Dieter Voigt erstellte Excel-Datei filtert es nach Wunsch heraus. Er habe mit der Arbeit Pionierarbeit geleistet, bescheinigte ihm sein Doktorvater Martin Kaufhold, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Augsburg.
ZITATOR wieder hoch
Einnahmen: Tore – 780771 Denare / Zölle 272.821 Denare / Ungelder 26.055.542 Denare (am Ende ganz kurz blenden)
ERZÄHLERIN
Der frischgebackene Doktor war auch in anderer Hinsicht ein außergewöhnlicher Fall: Voigt, Jahrgang 1939, hatte erst nach dem Ende seines Berufslebens mit dem Studium begonnen. So war der ehemalige Pharmareferent bei seinem Abschluss 2014 der älteste Student, der je an der Augsburger Universität promovierte. Und gleichzeitig ist er wohl auch einer der größten Experten für die städtischen Geldflüsse im Mittelalter.
ZUSPIELUNG 9 (Voigt)
Das war faszinierend für mich. Sowas von ner Geschichte einer Stadt! Ich bin zwar in Leipzig geboren, aber ich bin Augsburger!
ERZÄHLERIN
Was für Augsburg eindeutig ein Gewinn ist. Denn Voigts Arbeit trug maßgeblich dazu bei, dass die Stadt nun auf der Liste des „Unesco-Welterbes“ steht – für sein, wie es auf der Website der Kommission heißt, „weltweit einzigartiges Wassermanagement-System“. Der Historiker konnte anhand der Baumeisterbücher die mittelalterlichen Ursprünge dieses hochkomplexen Systems nachweisen, bei dem bereits zwischen Trink- und Brauchwasser unterschieden wurde.
ZUSPIELUNG 10 (Voigt)
„Item drei Pfund, vier Schilling Knechten, die den Tücheln graben haben zu dem neuen Brunnen die Kirchgasse heruff.“ Das ist die erste Eintragung für die erste Verlegung der Wasserleitung in Augsburg am 25.06.1413. Die haben wahrscheinlich 1412 damit angefangen. Da fehlt uns aber das Buch. Aber 1413 haben die ganz massiv hier angefangen, die ersten Wassertürme zu bauen und die ersten Wasserleitungen zu legen.
ERZÄHLERIN
Um das Trinkwasser des „Brunnenbachs“ bis ins um 13 Meter höher gelegene Stadtzentrum zu leiten, ließen die Augsburger unter anderem ein großes mit, wie es in den Baumeisterbüchern heißt, „Löffeln“ versehenes Rad errichten, das mit Lechwasser betrieben wurde. Löffel für Löffel – heute würde man wohl sagen, Eimer für Eimer - wurde auf diese Weise das kostbare Brunnenbachwasser in einen erhöht errichteten Behälter befördert und floss von dort aus durch ausgehöhlte Fichtenstämme, die „Tücheln“, zum Brunnen in der Stadtmitte.
ZUSPIELUNG 11 (Voigt)
Am 13. Juni sind die ersten Tücheln hier verlegt worden, und da hat man circa 400 Meter in der alten Kirchgasse, das ist mal ´ne genaue Ortsangabe, hat man das dort hochverlegt in den Brunnen. Also der erste Bauabschnitt ist wohl gelungen, dass die Stadt zufrieden war und da hat der Brunnenmeister einen Gulden Trinkgeld bekommen. Aber das Ding hat nicht ganz funktioniert, die haben sich verrechnet. Und drum steht dann in einem anderen Eintrag: „Das Huislin muss erhöhet werden“, und dann hat es funktioniert.
MUSIK: „Moto perpetuo“ – (0:32)
ZITATOR
„Item zwei Pfund um Sieben zu dem neuen Brunnen in das Huslin“
ZUSPIELUNG 12 (Voigt)
Da wurden Siebe eingebaut für das Wasser. Dass da keine gröberen Schmutzpartikel reinkommen.
ZITATOR
„Item 6 Pfund 2 Schilling haben wir geben dem Lechmaister und den Seinen zue dem Neuen Prunnen Werckleuten und Zymmermannen“.
ERZÄHLERIN
Und wie viel Geld ging insgesamt in diesen Jahren in den Brunnenbau?
ZUSPIELUNG 13 (Voigt)
(Klickgeräusch) Hamma da. Also 1413 haben 98.544 Denare ausgegeben für die Hauptarbeiten, weil da noch weitere Wasserleitungen verlegt worden sind, die sind hier 196.868 und dann 224.799.
ERZÄHLERIN
Voigt wüsste gerne mehr zum Thema, doch ach – ausgerechnet!
ZUSPIELUNG 14 (Voigt)
Der Schreiber hier, der war ja, sagen wir mal schreibfaul, oder was auch immer. Der hat einen Standart-Satz gehabt: „dem Lechmeister und den Sinen für sin Arbeit in den Lechen“. Und dann kam die Summe. Woche für Woche der gleiche Satz, nur mit anderen Beträgen. Und deshalb haben wir hier zwar enorme Ausgaben, aber wir wissen nicht, wo die da gearbeitet haben. Das sind so die mittelalterlichen Unschärfen, die wussten damals Bescheid, alles war überschaubar, und wir hätten uns gefreut, wenn er ein bisschen genauer gewesen wäre.
ERZÄHLERIN
Das gilt auch für die verschiedenen Währungen, von denen in den Büchern die Rede ist. Da gibt es Kreuzer und böhmische Groschen, Plapphart, Ratisponen, Haller, Dukaten, Rheinische, Würzburger, Vernoneser, Monacer, Florentin und und und… (Blende?)
ZUSPIELUNG 15 (Voigt)
Wie die damit klarkamen, ist mir ein Rätsel.
ERZÄHLERIN
Voigt, der einstige Wirtschaftsfachmann, hat in seiner Datei alles sorgfältig umgerechnet in die offizielle Augsburger Währung von damals, Denar, Schilling, Pfund und Gulden.
ZUSPIELUNG 16 (Voigt)
Gulden und der Denar, das waren Münzen, die konnten Sie in die Hand nehmen und in die Tasche stecken. Dann haben die aber noch Recheneinheiten gehabt. Ein Pfund und ein Schilling. Ein Pfund entsprach 240 Denaren. Denar war der Pfennig damals. Und ein Schilling waren zwölf Denare. Wenn Sie jetzt auf dem Markt gegangen sind, haben sie ein Huhn gekauft, und der sagt, das kostet einen Schilling, dann mussten Sie 12 Denare auf den Tisch legen.
ERZÄHLERIN
Alles klar? - Dabei war noch gar nicht von den Inflationszeiten die Rede, von Umtauschverlusten oder minderwertigen Münzen…
ZUSPIELUNG 17 (Voigt)
Da steht da 24 Schilling, die verloren wurden an 24 Gulden „ze ring“ - also die waren zu gering, ja. Also, da haben sie die Währungsverluste, das habe ich also auch genau hiermit erfasst.
ERZÄHLERIN
Es war nicht das einzige Minus in der städtischen Kasse: irgendwie scheint immer weniger reingekommen zu sein als ausgegeben wurde. Für die Zeit von 1320 bis 1400 etwa zeigt Voigts Gesamtrechnung rund 30 000 Denare an Einnahmen – aus Zöllen, von Zinsen oder von Stiftungen, wie einige der wichtigen Posten lauten. Gleichzeitig betrugen die Ausgaben aber über 73 000 Denare, also mehr als das doppelte. Wie ging die Stadt damit um? Gab es vielleicht irgendwo geheime Quellen, aus denen man sich bedienen konnte …? Fest steht jedenfalls: Man ließ sich immer mehr einfallen, um an das Geld der Untertanen zu kommen. Das Zauberwort lautete „Ungelder“.
ZUSPIELUNG 18 (Voigt)
Ungelder war damals eine Art und Weise, wie die Stadt Projekte finanziert hatte, wofür kein Geld in der Kasse war, so haben die damals auf die verschiedenen Dinge des täglichen Lebens, unter anderem Wein, Bekleidung, Honig, Wachs - ich habe insgesamt 14 verschiedene Ungelder, die eigentlich gedacht waren nur für die Finanzierung eines bestimmten Projektes, und danach sollten sie wegkommen. Ist nie geschehen, ja? Und das Wein-Ungeld hat teilweise in manchen Jahren bis zu 70 Prozent der Gesamteinnahmen der Stadt ausgemacht. Und wer das einziehen durfte, das war ein „Wein-Ungelder“, so nannten sich die, die sind wohl in die Gaststätten reingegangen oder am Weinstadel und haben dort den Zoll erhoben, das Ungeld.
MUSIK: „Wo die schönen Trompeten blasen“ – (0:25)
ZITATOR
Item an dem nehsten Samstag nach vnseres Herren Auffart tage Habent uns geantWürt Eberhart Langenmantel und der Zottman Ungelder tzü dem Wein in der niedern Stadt 100 Pfund und 14 Schilling.
ERZÄHLERIN
Auf der ständigen Suche nach neuen Finanzquellen landen die Augsburger schließlich sogar beim Bischof, ihrem ewigen Sparringpartner im Ringen um die Macht. Vorangegangen war die vollmundige Ankündigung der Stadt, Kaiser Ludwig den Bayern, ihren großen Beschützer, anlässlich seiner Krönung mit 1000 Pfund zu beschenken. Die sie allerdings offenbar nicht mal ansatzweise besaßen. Also nahmen sie die wohlgefüllte Truhe des Kirchenmannes ins Visier.
ZUSPIELUNG 19 (Voigt)
Da hat man zwei Pfaffen vom Bischof gekidnappt, entführt und vom Bischof 600 Pfund Lösegeld verlangt. Und darüber gibt es eine Urkunde außerhalb der Baumeisterbücher, zwei ungefähr DiN-A 4-Seiten, wo man sich gegenseitig dann wieder verspricht, weiterhin in Frieden und „Froindschaft“ miteinander zu leben, und der Bischof verspricht auch denen, die die an der Entführung dabei waren, nicht zu bestrafen. Diese 600 Pfund sind ordentlich in den Baumeister-Büchern als Einnahmen eingetragen.
ERZÄHLERIN
Es ist ein gigantischer Fundus an Geschichten, die sich hinter den sparsamen Eintragungen verbergen. Voigt ist vielem davon nachgegangen, tauchte immer aufs Neue ein in alte Zeiten.
ZITATOR
Item 6 Pfund Hansen dem Leuffel gen Prag zu unser Botschafft do si mit dem Herzogen von Teck bei dem Kaiser waren - der fand si da nit und loff gen Wien
ZUSPIELUNG 20 (Voigt)
… da ist wohl eine Abordnung der Stadt Augsburg beim Kaiser in Prag gewesen. Und da müssen irgendwelche Papiere nachgeliefert werden. Und da schickte man dann einen Boten dort nach Prag. Und da waren die schon, weil das ja ein Kaisertum im Umherziehen war, nach Wien weitergezogen und „er loff“ nach gen Wien: Laufen Sie mal in Augsburg los nach Prag. Wo laufen sie denn lang? Und im nächsten Dorf fragen Sie: Wo geht es denn nach Prag? - Wie die sich damals orientiert haben! Die hatten noch keine Landkarte, geschweige denn Navi oder sonst irgendetwas. Aber sie haben sich zurechtgefunden. Und wo haben die übernachtet? Da gibt’s tausend interessante Dinge.
MUSIK: „Connecting“ (0:35)
ERZÄHLERIN
Und jede Antwort bringt neue Fragen hervor, eröffnet neue Themenbereiche - die dank der Datei und dem Zusatzmaterial deutlich leichter für zukünftige Forscherinnen und Forscher zugänglich sind. Doch eigentlich würde sich Dieter Voigt am liebsten gleich wieder selbst ans Werk machen.
Tägliches Duschen und Haarewaschen gilt heute als Muss, um sauber zu sein. Aber wieviel Wasser, Shampoo, Seife und Intimwaschlotionen sind gesund? Zerstören wir den Schutzmantel unserer Haut durch zu viel Reinlichkeit oder ist mangelnde Körperhygiene ein Risiko für die Gesundheit? Von Daniela Remus (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Caroline Ebner, Peter Veit
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Prof. Silke Hofmann, Dermatologin, Universitätsklinik Wuppertal
Dr. Teodora Pumnea, Dermatologin, LMU, München
Dr. Ernst Tabori, Hygiene-Facharzt, Deutsches Beratungszentrum für Hygiene, Freiburg
Die Haut - Empfindliche Schutzbarriere
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Sie ist weibliche Symbolgestalt und weltliche Schutzherrin des Freistaats: Die Bavaria. Als Statue, auf Gemälden, in Wappen oder über Hauseingängen begegnet sie uns. Doch ihre berühmteste Darstellung ist die fast 20 Meter hohe Statue, die vor der Ruhmeshalle über die Theresienwiese wacht. Von Frank Halbach
Credits
Autor und Regisseur dieser Folge: Frank Halbach
Es sprachen: Irina Wanka, Thomas Birnstiel, Peter Weiß, Peter Veit
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Andrea Bräu, Karin Becker
Im Interview:
Dr. Thorsten Marr, Bayerische Verwaltung der staatl. Schlösser, Gärten und Seen
Literaturtipps:
Bayerische Schlösserverwaltung: Ruhmeshalle und Bavaria. Bearbeitet von Manfred F. Fischer und Sabine Heym. München 2009. [Amtlicher Führer der Bayerischen Schlösserverwaltung, der einen umfassenden Überblick bietet]
Frank Otten: Die Bavaria. In: Hans-Ernst Mittig, Volker Plagemann: Denkmäler im 19. Jahrhundert. München 1972 [kunsthistorische Einordung in die Geschichte der Denkmäler des 19.Jahrhunderts].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR 1
Ich hab‘ viel des Schönen gesehen - so Schönes noch nie!
SPRECHER
Das hat König Ludwig I. von Bayern über sie gesagt:
SPRECHERIN
Die einst vielleicht mächtigste Frau des Freistaats: imposant, monumental, majestätisch.
SPRECHER
Auf einem steinernen Sockel thront sie. 48 Stufen führen zu ihr empor. Da steht sie - würdevoll: Achtzehneinhalb Meter hoch.
SPRECHERIN (genießerisch)
Von dort blickt sie frei über die Theresienwiese weit hinüber bis zum Wetterturm des Deutschen Museums und zur mächtigen Maximilianskirche im Glockenbachviertel.
SPRECHER
Kolossale 1.560 Zentner ist sie schwer.
SPRECHERIN
Aus dem Erz türkischer Kanonen gegossen.
SPRECHER
Die Bavaria: Weltliche Patronin Bayerns, das Gesicht Münchens und personifizierte Allegorie für den Freistaat.
MUSIK ENDE
O-Ton 1 Marr (33:50)
Im Grunde ist die Bavaria und die Theresienwiese mit dem Oktoberfest die Verkörperung Bayerns.
SPRECHER
Sagt Konservator und Museumsreferent Dr. Thorsten Marr von der Bayerischen Schlösserverwaltung, der uns im Schloss Nymphenburg empfängt.
O-Ton 2 Marr (13:09)
Die Bavaria steht ja als gewaltige Kolossalstatue zwischen den beiden Flügeln der Ruhmeshalle. Und sie ist gewissermaßen der Augenpunkt für Besucher, die auf das Denkmal zu gehen. Und insofern ist auch die Statue ikonografisch auf Fernwirkung ausgerichtet.
MUSIK „Festlicher Marsch“; ZEIT: 00:30
SPRECHERIN
Sie trägt ein Bärenfell über ihrem schlichten Gewand. In ihrer Rechten hält sie etwas Eichenlaub und ein umwickeltes Schwert, das in der Scheide ruht. Mit der Linken hebt sie einen Ruhmeskranz aus Eichenlaub hoch über ihr Haupt. Zu ihrer Rechten sitzt kraftvoll und stark ein Löwe.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Warum steht sie da? Ausgerechnet da? Was soll der Lorbeer… – pardon Eichenkranz? Und wer hat das Standbild dieser bayerischen Amazone dort aufstellen lassen? Und wieso?
ZITATOR 1
Möchten alle Deutschen, welchen Stammes sie auch seien, immer fühlen, dass sie ein gemeinsames Vaterland haben, ein Vaterland auf das sie stolz sein können, und jeder trage bei, soviel er vermag, zu dessen Verherrlichung.
SPRECHERIN
Meinte König Ludwig I. 1842 bei der Einweihung der Walhalla nahe Regensburg. Die Idee für diesen und weitere Gedächtnisorte keimte in Ludwig seit dem als schmachvoll empfundenen Siegeszug der napoleonischen Armeen. Über der Jugendzeit des Königs lagen die Schatten der Machtansprüche Napoleons auf der einen und Österreichs auf der anderen Seite.
SPRECHER
Sein Haus, das der Wittelsbacher, drohte zum Spielball der beiden Großmächte zu werden. Bayern wurde mehrfach Kriegsschauplatz mit allen dazugehörigen fatalen Folgen für das Land.
SPRECHERIN
Erst mit der Niederlage Napoleons bei der Völkerschlacht bei Leipzig im Jahr 1813 begann in Bayern eine Periode des Friedens. Für Ludwig I. Zeit, Zeichen zu setzen: von künstlerischer und zugleich politischer Einheit.
MUSIK Bayernhymne. Bearbeitet für Streicher; ZEIT: 00:25
ZITATOR 1
Ein Baiern aller Stämme, eine größere deutsche Nation.
SPRECHER
Ein Motiv, das Ludwig zu einer ganzen Reihe von Bauprojekten für Nationaldenkmäler inspirierte. Darunter die Bavaria und die Ruhmeshalle, die der König 1834 in Auftrag gab. Thorsten Marr:
MUSIK ENDE
O-Ton 3 Marr (01:19)
Ludwig I. als König, als bayerischer König, hatte den Auftrag gegeben und zunächst einmal einen Wettbewerb ausgelobt. Und Ende des Wettbewerbs bekam dann Leo von Klenze den Auftrag, die Ruhmeshalle mit der Bavaria, und zwar beides zusammen, zu errichten. Die Bavaria war nie als einzelnes Monument gedacht, sondern hat sich aus dem Wettbewerb entwickelt. Und Klenze hatte in seinem Wettbewerb einer Ruhmeshalle zusätzlich die Bavaria als übergeordnete Instanz derer, die in der Halle geehrt werden, gewählt. Und als Ort wurde ja die Theresienwiese ausgedacht oder ausgewählt. Und das hängt zweifellos mit dem patriotischen Hintergrund, sage ich jetzt mal etwas vollmundig, der Theresienwiese zusammen.
SPRECHERIN
Nach der Niederlage der verbündeten französischen und bayerischen Truppen in der Schlacht von Höchstädt im Jahr 1704 hatten die Habsburger das bayerische Oberland und die Residenzstadt München besetzt und außerdem die Steuern drastisch erhöht.
SPRECHER
Es kam bald zu ersten Aufständen, die schließlich 1705 in der Sendlinger Mordweihnacht und einem bayerischen Volksaufstand gipfelten, der gnadenlos niedergeschlagen wurde.
ZITATOR 2
Lieber bayerisch stea'm als kaiserlich verdea'm.
SPRECHERIN
Hundert Jahre später galt der Aufstand als patriotische Tat zum Wohle des Hauses Wittelsbach und zur Wiedereinsetzung des Kurfürsten und zur Rettung der Souveränität des Kurfürstentums.
SPRECHER
Die Sendlinger Anhöhe am Rande der Theresienwiese war somit ein symbolträchtiger und wohl überlegter Ort für ein Nationaldenkmal.
MUSIK Instrumentaleinleitung zu "Bayerischer Schützenmarsch"; ZEIT: 01:00
SPRECHERIN
Und nutzte zudem die Popularität der Festwiese, auf der seit der Hochzeit von Kronprinz Ludwig von Bayern und Prinzessin Therese im Jahr 1810 alljährlich ein Volksfest stattfand.
ZITATOR 2
Der anwesenden Königsfamilie huldigten damals Kinder in bayerischen Volkstrachten mit Gedichten, Blumen und Früchten des Landes.
Zu Ehren der Braut war die Festwiese „Theresens-Wiese“ getauft worden.
SPRECHER
Hier, auf der Sendlinger Anhöhe entstand die U-förmige Säulenhalle, die das Gelände nach hinten abschließt. Und zwischen den beiden Flügeln steht sie: die Bavaria. Wie die Ruhmeshalle blickt sie auf die Theresienwiese, von der eine Treppenanlage hinauf zur Bavaria gebaut wurde, von der aus man wieder über Stufen weiter zur Ruhmeshalle gelangt.
SPRECHERIN
Eine gestalterische Verknüpfung.
MUSIK ENDE
O-Ton 4 Marr (11:44)
Also insofern ist auch ein geschicktes Miteinander und eine geschickte Wechselwirkung zwischen Statue einerseits und Ruhmeshalle geschaffen. Und das immer ausgerichtet auf den Besucher, der von der Theresienwiese aus kommt. Aber es war immer schon ausgerichtet auf die Besucher, die dann bei einem Fest auf der Wiese waren und das heißt mindestens einmal im Jahr mit dem Oktoberfest Blick hatten auf das Ensemble, auf das Denkmal.
SPRECHERIN
Die Bavaria selbst hatte in den ersten Entwürfen eine ganz andere Gestalt.
SPRECHER
König Ludwig I. vergötterte alles Griechische.
ZITATOR 1
Ich will nicht eher ruhen, bis München aussieht wie Athen!
SPRECHERIN
Ein Isar-Athen! Wenig verwunderlich also, dass sich Leo von Klenzes ursprüngliche Bavaria, deren erster Entwurf bereits 1824 erstellt wurde, stark an griechischen Vorbildern ausrichtete.
SPRECHER
Die Bavaria des Erstentwurfes war eine griechische Amazone, im Chiton, - einer Art Tunika, mit Sandalen und einer mit bayerischen Rauten geschmückten Aegis, einem Brustpanzer mit Medusenhaupt. Dazu ein kleiner Löwe, eher ein zahmes Kätzchen zu ihren Füßen. Ungewöhnlich auch die viergesichtige Herme, also ein Pfeiler mit aufgesetztem Kopf, an den sie sich lehnt, und dessen vier Gesichter die Kunst und Wissenschaft, sowie die Staats- und Kriegsführung symbolisieren sollten.
SPRECHERIN
Nach der Beauftragung durch den König geriet die Bavaria in einem weiteren Entwurf gar zur "Athena Promachos" – der Schutzgöttin Athens mit Helm, Schild und Speer: Eine klassisch griechische Bavaria.
SPRECHER
Doch das Neue an Klenzes Entwurf: Indem er Motive verschiedener Herkunft mischt, erschafft er einen neuen Typ der bildlichen Darstellung für die Personifikation Bayerns.
SPRECHERIN
Und die Bavaria entwickelte sich weiter. Thorsten Marr:
O-Ton 5 Marr (16:17)
Und während des Planungs- und Konzeptionszeitraums wurde allmählich aus der griechischen Figur einer Siegesgöttin die germanische Siegesgöttin Bavaria in diesem Fall umgewandelt.
SPRECHER
Ein Wandel, der auf den Einfluss des Bildhauers Ludwig Schwanthaler zurückzuführen ist, den Ludwig I. zusammen mit den Erzgießern Johann Baptist Stiglmaier und Ferdinand von Miller hinzugezogen hatte.
SPRECHERIN
Mit der Antike hatte Schwanthaler nicht so viel am Hut. Er war Anhänger der romantischen Bewegung und gehörte mehreren Münchner Mittelalter-Zirkeln an, die für das „Vaterländische“ brannten. Fremdes, auch aus der Antike, war da wenig gelitten.
Schwanthalers Vision und Klenzes klassizistisches Vorhaben widersprachen sich also.
SPRECHER
Aber ganz offensichtlich war genau das die Strategie des Königs: Ludwig I. ließ konträre Kunstauffassungen in dasselbe patriotische Projekt einfließen.
ZITATOR 1
Ein Denkmal, das die zerstrittenen Lager unter dem Dach einer Nation eint.
SPRECHERIN
Diese Synthese der klassizistischen und der romantisch-gotischen Stilrichtung nennt man heute:
ZITATOR 2
Romantischen Klassizismus
SPRECHER
Oder:
ZITATOR 2
Ludovizianischen Stil.
MUSIK „Bayerische Königs-Hymne“; ZEIT: 00:50
SPRECHERIN
Die Bavaria wird eine Germania. Mit Bärenfell über dem bodenlangen Kleid und Eichenkranz im langen Haar. Und auch die strengen Gesichtszüge werden mädchenhafter.
SPRECHER
Dazu der Löwe als Symbol Bayerns, der zugleich als Zeichen der Kraft und Stärke seit jeher auf Herrscherportraits zu sehen ist.
Das Schwert: ein allgemeines Symbol für Macht und Wehrhaftigkeit.
SPRECHERIN
Am wichtigsten aber: der Eichenkranz, den die Bavaria in der linken Hand hält. Im Verständnis der Zeitgenossen bezog sich der Eichenkranz speziell auf die bürgerlichen Tugenden. Dieser Kranz ist die Ehrengabe für all jene, deren Büsten im Inneren der Ruhmeshalle aufgestellt sind.
MUSIK ENDE
O-Ton 6 Marr (05:04)
Man ehrt mit Büsten in der Ruhmeshalle diejenigen, die sich für Bayern verdient gemacht haben oder aber Bürger Bayerns sind. Also das Kurfürstentum zunächst oder des Königreichs. Und damit die Deutung der Ruhmeshalle mit der Bavaria in keinem Fall falsche Bahn läuft, sondern die Deutungshoheit beim König bleibt, hat der König im Grunde eine Inschrift auch in der Bavaria an der Tür hinterlassen. Und die ist für jeden Eintretenden gut sichtbar und gut lesbar:
MUSIK Bayernhymne. Bearbeitet für Streicher; ZEIT: 00:25
ZITATOR 2
Als Anerkennung Bayerischen Verdienstes und Ruhmes ward diese Halle errichtet von Ludwig I. König von Bayern. Ihr Erfinder und Erbauer war Leo von Klenze. Begonnen den 15. Oktober 1843, vollendet, den 15. Oktober 1853.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Bildliche Darstellungen einer Frau, die Bayern symbolisiert, gibt es freilich schon lange Zeit vor der Entstehung der Ruhmeshalle und der Geburt der kolossalen germanischen Bavaria davor.
MUSIK „Ave Maria“; ZEIT:01:55
SPRECHER
Die Tellus Bavarica. Eine schon seit Jahrhunderten gebräuchliche Allegorie der „bayerischen Erde“.
SPRECHERIN
Der archetypischen Mutter Erde, der griechischen Gaia, entspricht in der römischen Mythologie die Gottheit Tellus. Von ihr leitet sich die Tellus Bavarica, die bayerische Mutter Erde ab.
SPRECHER
Sie ziert Wappen, Gemälde und Reliefs über Hauseingängen. Die Kuppel des zentralen „Dianatempels“ im Münchner Hofgarten zierte ursprünglich eine bronzene Statue der römischen Jagdgöttin Diana. Sie 1623 wurde sie zur Bavaria umgestaltet: Ihr Helm wurde zum Kurfürstenhut und der Ährenkranz in ihrer Hand durch einen Reichsapfel ergänzt.
SPRECHERIN
Im Kloster Fürstenzell bei Passau platzierte der österreichische Freskenmaler Bartolomeo Altomonte eine Bavaria im Zentrum des Deckenfreskos im Fürstensaal: Als Königin, die von einem Engel gekrönt wird, umgeben von Allegorien der Kirche, des Handels, der Landwirtschaft und der Künste.
SPRECHER
Ein Gemälde der Münchner Historienmalerin Marianne Kürzinger zeigt eine zarte mädchenhafte Bavaria in weiß-blauem Gewand, die sich an eine große, wehrhafte Amazonenkriegerin schmiegt: „Gallia schützt Bavaria.“ So der Titel. Das Bild stellt die Allianz von Bayern und Frankreich in jener Zeit dar.
ZITATOR 2
Ich werde Bayern nicht nehmen, ich werde es verschlingen.
SPRECHERIN
Hat der Habsburger Kaiser Franz gedroht. Es gäbe eine Reihe weiterer Beispiele – doch in der öffentlichen Wahrnehmung wird die Bavaria heutzutage fast ausschließlich mit der monumentalen Statue auf der Theresienwiese identifiziert.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Und deren Vollendung war auch nach von Ihrer Majestät abgesegneten Entwürfen eine schwere Geburt.
SPRECHERIN
Eine Bronzefigur mit der enormen Größe von 18,52 Metern bedarf ausgefeilter Technik. Schon die Ausgestaltung der Figur durch Ludwig Schwanthaler dauerte ihre Zeit. Ebenso war der Aufwand in der Königlichen Erzgießerei an der Nymphenburger Straße enorm:
O-Ton 7 Marr (21:42
Also dafür mussten dann zu Beginn der Vierzigerjahre zusätzliche Gebäude errichtet werden. Ein Gußhaus und schließlich sogar eine Holzhütte, in der die Bavaria im Format eins zu eins errichtet wurde. Das heißt, man brauchte keine flache Holzhütte, sondern brauchte einen Holzturm, der mindestens 18 Meter noch was hoch ist und darüber einen Dach noch hat. Und in diesem Holzhaus oder im Holzturm hat dann Schwanthaler 1840 folgende Jahre seine Gipsfigur geschaffen. Die Gipsfigur wurde dann wiederum 1843 in Einzelteile zerlegt, zwölf Einzelteile. Und von diesen Einzelteilen wurden dann Gussmodelle, also Modelle, von denen dann der Guss, der Bronzeguss gemacht werden konnte, gemacht. Und dann ergibt sich dann schon dass 1844 mit dem Gießen begonnen wurde und bis 1850 waren die Einzelteile gegossen und auch die Oberflächen bearbeitet.
SPRECHERIN
An den Ort der Herstellung erinnern heute noch die Münchner Erzgießereistraße sowie die parallele Sandstraße, an der die für den Guss notwendige Sandgrube lag.
SPRECHER
Parallel dazu lief der Bau der Ruhmeshalle.
SPRECHERIN
Wie alle Nationaldenkmäler wurden Bavaria und Ruhmeshalle aus der Privatschatulle des Königs finanziert. Als Ludwig 1848 unter Druck nach der „Affäre Lola Montez“ zu Gunsten seines Sohnes Maximilian abdankte, versprach Maximilian zwar, das Projekt zu vollenden. Er plante dafür aber lediglich ein Budget von 9000 Gulden pro Jahr ein.
SPRECHER
Viel zu wenig. Erst als der abgedankte König die Finanzierung wieder aus seiner Privatschatulle übernahm, konnte die Bavaria fertiggestellt werden.
SPRECHERIN
Zum Oktoberfest des Jahres 1850 – es wäre Ludwigs 25. Regierungsjahr gewesen - wurde die Bavaria am 9. Oktober feierlich enthüllt.
MUSIK „Vorspiel zum 3. Akt aus Lohengrin“; ZEIT: 01:15
ZITATOR 1
Nero und ich sind die einzigen, die so Großes gemacht haben.
SPRECHER
Notierte sich der Monarch im Ruhestand. Das Fest geriet zur Huldigungsfeier für den abgedankten König – und für das, was er aus München gemacht hatte, der Stadt…
ZITATOR 1
…die Teutschland so zur Ehre gereichen soll, dass keiner Teutschland kennt, wenn er nicht München gesehen hat.
SPRECHERIN
Selbstredend würdigten ihn die Künstler, die Ludwig so sehr gefördert und durch seine rege Bautätigkeit mit Aufträgen versorgt hatte, besonders:
ZITATOR 2
Dank und Preis der Gegenwart, der Nachwelt, – Bavarias eh’rne Eichenkrone gebührt vor Allen König Ludwig dem Kunstbeschützer!
SPRECHER
Rief der für die Münchner Künstlerschaft sprechende Festredner Tischlein.
SPRECHERIN
Die Ruhmeshalle freilich war zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggestellt. Darauf musste das Isar-Athen noch drei Jahre warten. Dabei ist sie mit der Bavaria nicht nur baulich, sondern auch gedanklich eng verbunden.
MUSIK ENDE
O-Ton Marr 8 (05:05)
Man ehrt mit Büsten in der Ruhmeshalle diejenigen, die sich für Bayern verdient gemacht haben oder aber Bürger Bayerns sind, also des Kurfürstentums zunächst oder des Königreichs. (…) 06:25 Und sie werden zusammengefasst durch die gewaltige Figur, diese kolossale Statue der Bavaria. Sie ist gewissermaßen die Symbolfigur aller, die hier in der Ruhmeshalle versammelt sind. Insofern ist dann auch die Bedeutung der Bavaria immer auf die Personen bezogen, die in der Ruhmeshalle auch ausgestellt sind oder als Büsten wiedergegeben sind.
SPRECHER
Vorbildliche Bayern – so der Erziehungsgedanke Ludwigs I. -, die anspornen sollen, ihnen nachzueifern. Ein Leistungsprinzip visualisiert im Rahmen eines Denkmals.
SPRECHERIN
Büsten bayerischer, fast ausschließlich männlicher Vorbilder unter Obhut einer überlebensgroßen weiblichen Figur – diese Konstellation hat dazu geführt, dass die Bavaria als Mutterfigur wahrgenommen wurde.
O-Ton 10 Kinseher W0304201 101
Griaß eich, I bin’s eier Mama!
SPRECHERIN
Also solche inkarnierte sich Mama Bavaria im Jahr 2010 in der Kabarettistin Luise Kinseher, die denen, die Bayern als Vorbilder lenken sollten, auf dem Nockherberg gehörig die Leviten las.
O-Ton 11 Kinseher W0304201 101
Ich bin die Bavaria, und da bin i dahoam.
O-Ton 12 Kinseher W0364024 101
Mei, Kinder! Wenn I eich so oschau, frag ich mich: Hob I als Mutter versagt? Ihr seid verwöhnt und verhätschelt, egoistisch und eingebildet.
SPRECHER
Bis 2018 hielt Kinseher als Bavaria, als erste Frau überhaupt, die Salvatorrede.
MUSIK 7 Bayernlied. Bearbeitet für Streichquartett; ZEIT: 00:15
SPRECHERIN
Wann, wo und in wem die Bavaria wohl in Zukunft inkarniert?
MUSIK ENDE
O-Ton 12 Marr (35:42)
Was so ein bisschen in Vergessenheit geraten ist, ist, dass das Denkmal noch ein lebendes Denkmal ist. Es ist kein abgeschlossenes. Es werden noch heute Persönlichkeiten geehrt, die zum Wohle Bayerns gewirkt haben. Und der letzte, der die letzte Büste, die aufgestellt worden ist. Es ist gerade 15 Jahre her, so um den Dreh, das ist der Komponist Carl Orff also. Es ist kein Denkmal, was mit Ludwig I. dann in sich auch inhaltlich abgeschlossen und beendet ist, sondern es werden weit darüber hinaus Büsten aufgenommen, um diesen Gedanken Ruhmeshalle weiter auch mit Leben zu erfüllen. Und da sind eben auch seit den Jahren nach 45 auch Frauen dazugekommen, was in den Jahren davor eben nicht war.
SPRECHERIN
Die Schriftstellerin Lena Christ, die Schauspielerin Clara Ziegler, die Forschungsreisende Therese von Bayern und die Mathematikerin Emmy Noether.
MUSIK 7 Bayernlied. Bearbeitet für Streichquartett; ZEIT: 01:10
Diese vier Frauen haben den Anfang gemacht. Doch wichtige weibliche Persönlichkeiten der bayerischen Geschichte gibt es noch viele mehr, die an die Seite des großen Sinnbilds Bavaria treten könnten, das Ludwig I. aufstellen und feierlich einweihen ließ.
ZITATOR 2
Nachdem sämtliche Festwagen zu beiden Seiten der Tribüne im Halbkreis aufgestellt waren, fiel bei klarstem Herbsthimmel unter den Salven der Landwehr-Artillerie und den betäubenden Zurufen der zahllosen Menge die 70 Fuß hohe Bretterwand krachend nieder, und das erhabenste Bildnis glänzte zum ersten Mal vor den entzückten Blicken im lachendsten Herbstsonnenschein. Nie bisher hatte das Volk in solcher Menge den hohen Wert der Kunstschöpfung des Königs gefühlt oder gar anerkannt. König Ludwig aber sprach, auf's tiefste ergriffen, die denkwürdigen Worte: „Ich bin vierundsechzig Jahre alt, hab' viel des Schönen gesehen, so Schönes noch nie, hab' viel Freuden erlebt, doch solche Freude noch nie!“
"Koscher" und "halal" - viele kennen diese Begriffe, ohne allerdings zu wissen, dass sie weit über "reine" und damit "erlaubte" Lebensmittel hinausgehen. Sie bilden ein zwingendes Ordnungssystem, das sowohl identitätsstiftend ist für die Menschen der eigenen Religion, als auch abgrenzend zu den anderen. Von Johannes Marchl (BR 2022)
Credits:
Autor dieser Folge: Johannes Marchl
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Irina Wanka, Friedrich Schloffer
Technik: Christiane Gerheuser Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Koscher &Co. Über Essen und Religion, Nicolai Verlag im Auftrag des Jüdischen Museums Berlin
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Die meisten deutschen Breitensportler haben vor allem ein Ziel: fit und gesund bleiben. Anders in früheren Zeiten, als Erziehung und Disziplin wichtig waren - und sich nur der Adel sportlich amüsieren durfte. Autor: Erich Wartusch (BR 2020)
Credits
Autor dieser Folge: Erich Wartusch
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Iska Schreglmann
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Man Ray verlieh der Fotografie den Status ernstzunehmender Kunst. Seine Bilder wurden Ikonen der Fotografie: Seien es seine Künstler-Fotoporträts oder seine Aufnahmen ohne Kamera: die Rayografien. Bis heute gibt es wohl keinen Fotografen, der dem Lichtbild so viele Impulse gegeben hat, wie er. Von Frank Halbach (BR 2022)
Credits:
Autor und Regisseur dieser Folge: Frank Halbach
Es sprachen: Irina Wanka, Christian Baumann, Thomas Albus
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Literaturtipps:
Ingried Brugger / Lisa Ortner-Kreil (Hgg.): Man Ray. Kehrer Heidelberg, Berlin 2018.
Arthur Lubow: Man Ray: the artist and his shadows. Yale University Press, New Haven 2021.
Man Ray: Selbstporträt / eine illustrierte Autobiographie. Aus dem Amerikanischen übertragen von Reinhard Kaiser. Schirmer/Mosel, München 1983.
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Freundschaft plus Selbst gleich Selbstfreundschaft? Die Beziehung zwischen beiden gelingt nicht einfach durch Addition. In Freude und Konflikt, in Nähe und Not: gerade mit sich selbst will Freundschaft gelernt und gepflegt werden. Von Frank Schüre (BR 2020)
Credits
Autor dieser Folge: Frank Schüre
Regie: Martin Trauner
Es sprach: Irina Wanka
Technik: Robin Auld
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner dieser Folge:
Wilhelm Schmid, Philosoph, Berlin
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Atmo / spielende Kinder / Kindheit …
01 OT Wilhelm Schmid
Freundschaft gab’s mal zum Nulltarif. Viele Jahrhunderte war das so: Freundschaft war einfach da. Da ist man reingeboren worden. Man blieb ja meistens an dem Ort, an dem man geboren worden war und spielte mit den Kindern von Gegenüber auf der Straße. Und die gingen auch nie weg. Sondern die blieben auch da.
Erzählerin
Die ersten Freunde und Freundinnen wohnen meist nebenan oder gegenüber. Man spielt zusammen auf dem Bürgersteig und dem Spielplatz. Man geht gemeinsam in den Kindergarten und dann in die Grundschule.
02 OT Wilhelm Schmid
Häufig sind die Freundschaften vererbt worden: man hat die Freundschaften des Vaters, der Mutter, mit den Kindern der Freunde selber weiter gepflegt. Und ich glaube, es leben viele heute noch so, als wäre es noch, dass es von selbst geschieht: Freundschaft. Aber diese Zeiten sind vorbei.
Erzählerin
Die nächsten Freunde wohnen dann schon weiter weg als ‚nebenan‘. Wenn die Eltern umziehen, ein eigenes Haus bauen, wenn man die Schule wechselt …, die alte Heimat für eine Ausbildung verlässt, wenn man neue Freunde finden muss …
03 OT Wilhelm Schmid
Freundschaft gibt es nur noch, wenn sie gesucht, gegründet, und gepflegt wird. Und zwar unter verschärften Umständen. Denn mit sehr großer Sicherheit: die Freunde, die ich gewonnen habe in meiner Kindheit, die sind in alle Welt zerstreut. Ich habe nur dann Freundschaft - auch ich nicht mehr mit allen, aber mit einigen - dann und nur dann, wenn ich dahinter her bin - das muss ich nicht vom Freund verlangen, sondern ich bin dahinter her, dass wir uns mal treffen, sehen, sprechen.
Atmo / neue Medien Sound…
04 OT Wilhelm Schmid
Heute kommt uns eigentlich zugute, die modernen sozialen Medien machen es sehr leicht, Freundschaft zu pflegen, um dann allerdings Sorge dafür tragen zu müssen, dass es nicht nur digital bleibt, und nicht nur am Telefon, sondern dass wir uns wirklich wenigstens einmal im Jahr real sehen. Das Reale wird immer noch mehr Bedeutung gewinnen, je mehr das Digitale an Bedeutung gewinnt. Das wäre wichtig zu verstehen: Freundschaft ist möglich, aber nur, wenn ich ihren Wert erkenne und anerkenne, und sie pflege.
Erzählerin:
Doch um wirkliche Freundschaften zu anderen aufbauen zu können, sollte man nach Wilhelm Schmid auch eine ganz besondere Freundschaft pflegen:
05 OT Wilhelm Schmid
Menschen brauchen eine Beziehung zu sich selbst. Wer mit wem? - Bei einer Freundschaft ist das klar: hier bin ich, und dort ist der Freund. Und ich habe mit dem eine Beziehung. Aber wie ist das mit mir (lacht): ich bin ja schon da?
Erzählerin
Ich bin da. Ich fühle mich. Ich spreche mit mir. Ich schimpfe mit mir. Mag ich mich? Sind da zwei ‚Iche’ in mir? Wer ist da bitte noch in mir – außer mir?
Wer bist Du, wer bin Ich?! Manchmal streite ich mit mir.
06 OT Wilhelm Schmid
Das Ich, das denkt, ist nicht immer identisch mit dem Ich, das Hunger hat. Das Ich, das denkt, das zum Beispiel am Computer sitzt, jetzt ‘ne wichtige Arbeit macht, kann sagen: „Schweige Hunger, jetzt bin ich dran.“ Das können wir bis zu ‘nem bestimmten Zeitpunkt so machen - und irgendwann wird der Hunger so übermächtig, dass wir nicht mehr denken können.
Erzählerin
Eigentlich bin ich gerne mit mir zusammen. Das merke ich so richtig, wenn ich allein bin mit mir. Ich rede und langweile mich dann mit mir, ärgere und freue mich über mich. Und am besten geht’s, wenn wir freundlich miteinander sind …
07 OT Wilhelm Schmid
Also kann die Freundschaft mit sich selbst bedeuten: Das Denken befreundet sich mit dem Magen. Und dann geht es wie in jeder guten Freundschaft: ich achte darauf, dass es dem Freund gut geht. Ich versuche ihn nicht überzustrapazieren. Ich darf ihn schon mal fordern, aber nicht so, dass die Freundschaft zerbricht. Das ist kurz und sehr einfach gesagt: ‚Selbstfreundschaft‘.
AKZENT – Trenner
Erzählerin
In Zeiten von ‚So-mobil-wie-möglich, von digitalen Sozialen Netzen und ständig wechselnden Lebenswelten entfernt man sich nicht nur von gewohnten Orten, Plätzen und Straßen, von Nachbarn und Freunden – man entfernt sich auch von sich selbst. Das verunsichert, wie der Philosoph der Selbstfreundschaft betont:
08 OT Wilhelm Schmid
Auch das ist neu: das Selbst versteht sich nicht mehr von selbst. Das war auch lange Jahrhunderte so: das Selbst hat sich lange Jahrhunderte nicht aus sich selbst heraus definiert, oder sogar definieren müssen. Es wurde definiert. Es wurde definiert durch die Eltern, Jungs insbesondere durch den Vater: der Vater war Metzger, dann war es sehr wahrscheinlich, dass der Sohn auch Metzger wird. Der Vater war Bauer, dann hatte der Sohn im Grunde auch Bauer zu sein. Und Mädel hatten sowieso Hausfrau und Mutter zu werden - da gab es gar kein Entweichen.
Erzählerin
Eine Dimension der Freiheit, die das Ich nicht selten vor Probleme stellt: Denn plötzlich ist es für so vieles verantwortlich, was zuvor von anderen geregelt wurde: Beruf, Partnerwahl, Wohnort … Klar ist:
09 OT Wilhelm Schmid
Wir müssen mit uns selbst umgehen. Das ist also eine relativ neue Angelegenheit. Sicherlich, wenn ich Aristoteles zitiere, das ist lange her - aber das waren ja Eliten damals - einige wenige Philosophen und sonst wie denkende Menschen, die ein freieres Selbstverhältnis und Verhältnis zu anderen begründen durften. Mittlerweile sind das aber Massenphänomene: das Nicht-mehr-umgehen oder Noch-nicht-umgehen-können mit sich selbst.
Erzählerin
Ich bin auf mich selbst gestellt. Das ist irgendwie verlockend – und manchmal auch unheimlich. Ich lerne Freundschaft neu, ich frage mich ständig selbst, ob alles klar und richtig und gut so ist. Ich interessiere mich für mich, ich verstehe mich – naja, zumindest oft und dann öfter, ich diskutiere mit mir. Ich merke es vielleicht nicht sofort, ich merke es vielleicht erst viel später, aber Fakt ist: ich lerne mich auf eine neue Weise kennen, ich befreunde mich mit mir, ich werde mein erster und bester Freund in einem ziemlich selbständigen Leben mit mir, das vor allem Fragezeichen bietet.
10 OT Wilhelm Schmid
Wir sind noch in dem historischen Zustand, dass viele die Aufgabe noch nicht recht realisieren. Und wir sind auch erst in dem historischen Stadium, dass wir die Instrumente dafür erst finden. Eins der Instrumente ist Therapie, ohne jede Frage. Und eins der Instrumente ist eben auch der Umgang mit sich selbst, ohne unbedingt therapiebedürftig zu ein. Und dafür wollte ich diesen Vorschlag Selbstfreundschaft unterbreiten, mit den Schritten, die wir real praktisch im Alltag tun können, um dem näher zu kommen.
Erzählerin
Die Beziehung zu sich selbst beeinflusst auch die normalen Beziehungen. Freunde-haben ist zwar gut und normal, aber irgendwann zu wenig. Je besser man mit sich selbst klarkommt, desto mehr erwartet man das auch in der Beziehung mit anderen. Man braucht dann tiefere und erfüllende Freundschaften - wie mit sich selbst! Ganz besonders in Zeiten von Twitter, Instagram und Co.
AKZENT
11 OT Wilhelm Schmid
Alles, was Sie in der Freundschaft mit ‘nem anderen Menschen beobachten können, gilt ziemlich adäquat in der Freundschaft mit sich selbst. Und Freundschaft mit sich selbst ist im Unterschied zur Selbstliebe nicht dazu da, nur für das Selbst zu leben. Selbstliebe, wie die Liebe zu einem anderen Menschen, tendiert dazu, sich abzuschließen gegenüber der Welt, und nur für sich selbst da zu sein. Die Selbstfreundschaft hat das Ziel, für andere da zu sein. Zum Teil weil’s Freude macht, für andere da zu sein, zum anderen, weil das Leben darin reicher wird, für andere da zu sein. Das Leben wird nicht wirklich reich durch das eigene Selbst, sondern durch das Zusammensein mit anderen.
Erzählerin
Dieses Zusammensein mit anderen wird auch dadurch anders, dass ich mit mir selbst anders, bewusster und freundlicher umgehe.
Je besser ich mich kenne, je mehr ich mich mag – und auch nicht mag in manchen Macken – desto genauer schaue ich mir die anderen an. Ich will auch sie besser kennenlernen, ich will auch sie mögen und verstehen, in ihren Stärken und ihren Schwächen. Die ‚Anderen‘ sind dann eben auch nicht einfach da und definiert.
12 OT Wilhelm Schmid
Es ist ein Faktum, dass wir ohne andere nicht leben können. Das kann jeder sich für einen Moment überlegen, für eine gewisse Zeit auch praktizieren: das Haus, in dem ich lebe, habe ich nicht selber gebaut. Die Straßen, die ich benutze, habe nicht ich geteert. Die U-Bahn, die ich benutze, fahre nicht ich - und das sind nur die weiteren anderen. Die näheren anderen - wenn’s irgendwie schwierig wird in meinem Leben, komm ich da selber raus? Ich brauche andere dafür. Wenn ich schöne Dinge im Leben erleben kann - ja, das geht auch mit sich selbst allein - aber wird es nicht viel schöner noch, wenn ich’s mit anderen machen kann? Freunden und geliebten Menschen?
Erzählerin
Ja, es wird schöner! Es kann aber auch langweiliger werden, je besser man sich selbst kennt und versteht. Dann möchte man mit anderen nicht einfach nur Spaß haben und die Zeit totschlagen. Man möchte dann auch reden, fragen und gemeinsam versuchen, zu verstehen wie es einem selbst geht, wie es dem anderen geht, wie es miteinander gut geht und warum manchmal nicht. Je tiefer man in diese oft unbekannte Freundschaft mit sich selbst hineingerät, desto tiefer sollte dann auch die Freundschaft mit anderen gehen.
AKZENT
Erzählerin
In seinem Buch über Selbstfreundschaft erläutert Wilhelm Schmid, wie man aus dem normalerweise flüchtigen Selbstbekannten einen Selbstfreund oder eine Selbstfreundin fürs Leben macht.
Wie aus dem unsteten Gesellen ein treuer Partner wird, sich selber und anderen. Wie man lernt, dem Selbstfreund zu vertrauen.
13 OT Wilhelm Schmid
Das ist eine der ältesten Angelegenheiten der Menschheit. Das Modell geht zurück auf Aristoteles, 400, 300 v. Chr. Der sprach zum ersten Mal auf Griechisch von phil-autia - philia, die Freundschaft, autos, das Selbst, also Selbstfreundschaft. Von da hab ich das wiederaufgenommen, und mir lag an diesem Begriff: Selbstfreundschaft, um ihn zu unterscheiden von der heute übermäßig populär gewordenen Selbstliebe. Die scheint mir langsam aber sicher problematisch zu werden. Denn bei der Liebe sind Menschen versucht, keine Differenz in sich selbst mehr wahrzunehmen. Die aber nötig ist, um sich selbst zu sehen, wie von außen zu sehen, wie ein Freund einen anderen von außen sieht, und auch mal ironische Distanz zu sich selber zu haben. Auch mal über sich selbst lachen zu können.
Erzählerin
Für diese Selbstentfaltung bietet der Experte für Lebenskunst sechs Anregungen. Nummer Eins lautet: Selbstfreundschaft ist nicht Selbstliebe!
14 OT Wilhelm Schmid
In der Liebe neigen Menschen dazu, den anderen zu idealisieren. In der Selbstliebe geschieht dasselbe: das Selbst wird jetzt idealisiert. Und wenn das Selbst dann nicht ideal ist, dann wird die Beziehung sozusagen gekündigt. So wie das auch in der Liebe zu anderen Menschen allzu häufig der Fall ist. Freundschaft heißt, nachsichtig mit sich zu sein. Anzuerkennen, dass das halt kein Idealbild sein kann, weder das Selbst noch der Freund. Anzuerkennen, dass es Konflikte gibt. Die gibt’s in der Freundschaft mit einem anderen Menschen genauso wie in der Freundschaft mit sich selbst.
Erzählerin
Der Selbstfreund ist aufmerksam auf sich, so die zweite Anregung von Wilhelm Schmid. Ein interner Moderator entdeckt, integriert und vernetzt viele Teil-Ichs. Das gelingt, weil der Selbstfreund aufmerksam ist und sich zuwendet und immer einfühlender wird mit sich selbst - und dann auch mit den anderen Menschen. Befreunden geht dann nach innen und außen. Die Selbstfreundin sorgt für sich und für ihre Freunde. Sie entfaltet aus der ängstlichen eine kluge Sorge, und darin eine so notwendige wie erfreuliche Selbstsorge. So die dritte Anregung, aus der sich die vierte ergibt: befreunde dich auch mit deinem Körper, denn sinnliche Fülle geht einher mit sinnvollem Erleben. Ernähre dich gut, beachte Schmerz und Lust, sei freundlich mit deinen körperlichen Zuständen. Aber Vorsicht mit dem Gefühl der Liebe …
15 OT Wilhelm Schmid
Liebe kann so aussehen, dass Sie mit dem anderen eins sein wollen. Und Liebe kann so aussehen, dass Sie mit dem anderen gelegentlich eins sein wollen und
vielleicht auch können, ab er auch Distanz zu ihm haben können. Das sind zwei unterschiedliche Erfahrungen von Liebe. Die romantische Liebe zielt auf Einssein, und akzeptiert zum Beispiel überhaupt nicht den Alltag. Der nicht aus Einssein besteht, sondern aus Zweisein und manchmal (lacht) sehr deutlich Zweisein. Also die Liebe, die zur Distanz in der Lage ist, das auszuhalten, und vielleicht dann auch die Erfahrung zu machen: wow, aus der Distanz heraus können wir wunderbar zusammenkommen und eins sein, dann wird’s erst wieder richtig spannend. Ansonsten wird das Einssein zum Gefängnis, zum goldenen Gefängnis.
Erzählerin
Die Seele – Kraftwerk des Selbst – unentwegt steigen Gefühle darin auf und vergehen. Der Selbstfreund kennt und akzeptiert das. Wilhelm Schmid regt eine „Muschelkompetenz der Seele“ an, die sich öffnen und schließen lernt gemäß innerer Verfassung und äußeren Umständen.
Derart kompetente Selbstfreunde und Moderatoren des eigenen Gefühlsreichtums vermögen aus dem Bauch heraus zu entscheiden. So Anregung Nr. Fünf. Aber, warnt der Experte, gerate bei dem Befreunden mit dir selbst nicht in eine Nabelschau:
16 OT Wilhelm Schmid
Sich selbst kennenzulernen, dient dazu, sich reif zu machen, für andere da zu sein. Das ist bei der Nabelschau immer übersehen worden. Die Menschen sind bei sich stehengeblieben. Und dann wird’s irgendwann unerträglich - für das eigene Selbst - denn Sie können Nabelschau betreiben bis ans Ende der Welt und werden sich nicht genügend erkannt haben. Und es wurde unerfreulich für andere, denn da waren ja nur noch Menschen, die sich mit sich selber beschäftigt haben, und gar kein Interesse mehr hatten, auf andere zuzugehen, sich reif zu machen für andere. Das ist der Unterschied: betreibe ich die Nabelschau nur um meiner selbst willen, oder betreibe ich die Nabelschau, um reif zu werden, auf andere wieder zuzugehen und für andere da zu sein, bis zu dem Punkt, in der Liebe und der Freundschaft, mich selbst auch mal zu vergessen?!
Erzählerin
Die sechste Anregung des Selbst-Freund-Philosophen bringt das Denken ins Spiel. Denn so sehr und oft wir uns wünschen, diesen ständigen Unruhestifter Denken einfach abschalten zu können – der Experte empfiehlt Nachdenken: denn gerade Nicht-Gedachtes oder nur An-Gedachtes stiftet Unruhe. Freundliches Nachdenken führt zu innerer Ausgeglichenheit und erfüllten Beziehungen. Besonders das freundliche Nachdenken über mich selbst.
AKZENT
17 OT Wilhelm Schmid
Es gab in der Geschichte unterschiedliche Umgangsweisen mit dem eigenen Selbst. Der eine hieß Selbstbeherrschung. Selbstbeherrschung ist nicht Selbstfreundschaft. Sondern da übernimmt ein Teil die Herrschaft. Und Herrschaft heißt, ich unterwerfe mir die anderen Teile. Meistens war es die Herrschaft des Geistes über den Körper. Der Körper hatte zu schweigen und zu tun, was der Geist befohlen hat. Das ist ein Modell, mit dem ein Mensch sich selbst ausbeuten kann. Bis er zusammenbricht. Burnout oder Rückenschmerzen sind sehr beliebt. Der Körper meldet sich schon irgendwann zu Wort. Der lässt sich lange unterwerfen, aber nicht dauerhaft.
Erzählerin
Freundschaft – es kann schon ein Weilchen dauern, bis man versteht, wie wichtig sie ist und wie tief sie geht. Und das Selbst – das ist auch ein Brocken. Je weiter und tiefer man sich einlässt auf diese beiden Dimensionen und ihre Verbindung, desto anspruchsvoller wird deren Beziehung. Obwohl der aktuelle Zeitgeist den eigenen Körper immer mehr entdeckt und immer wichtiger nimmt, ist das wirkliche Befreunden mit den körperlichen Bedürfnissen doch leichter gewollt als verwirklicht.
Wilhelm Schmid erinnert an schwierige Zeiten für Selbst- und Körper-Freunde, die weiterhin hineinwirken in den Aufbau einer Freundschaft mit sich selbst:
18 OT Wilhelm Schmid
Das andere Modell, nach dem sehr viele vorgegangen sind, war, sich selbst zu verachten. Keine Beziehung zu sich selbst, die in irgendeiner Weise förderlich ist. Sondern im Grunde sollte es das Selbst gar nicht geben. Zugunsten des Nächsten. Liebe deinen Nächsten - der Halbsatz, der folgte, wurde viele Jahrhunderte in der europäischen, in der abendländischen Geschichte, ausgelöscht. Also nicht wie dich selbst, sondern überhaupt nicht dich selbst. Weder lieben noch sonst irgendwas, nur dem Nächsten zugewandt zu sein.
Erzählerin
Sich selbst beherrschen und verachten – ist das vorbei? Es ist zumindest in Frage gestellt und freundlich angesprochen von einem sensibleren Umgang mit sich und dann auch anderen Menschen.
Die aktuell aufbrausende Wut und Verachtung gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen erwächst wahrscheinlich aus einem mindestens rigiden Verhältnis zu sich selbst. Es fehlt ein erfüllender Körperkontakt, glaubt Klaus Theweleit, Kulturwissenschaftler und Autor der legendären Studie Männer-Phantasien. Wenn wir nicht erfahren und lernen, wirklich freundlich mit uns selbst umzugehen, bilde sich nicht nur in Männern eine gewalttätige und rassistische Haltung aus. Der Experte des Selbstfreundlichen sieht daher im geduldigen und einfühlsamen Bemühen um sich selbst, und dann um andere Menschen, die wichtigste Aufgabe in Beziehungen.
19 OT Wilhelm Schmid
Von beiden Seiten kommen die Probleme des Umgangs mit sich selbst: wenn ich mich selbst komplett ignoriere, meine Bedürfnisse ignoriere, dann kann ich nicht mehr für andere da sein, denn ich habe gar nicht die Kraft dafür. Selbstfreundschaft ist dafür da, die Kraft zu gewinnen, für andere da zu sein. Aber der Anfangspunkt liegt bei mir. Selbstfreundschaft ist der Versuch, nicht sich selbst zu unterwerfen. Sondern mit sich selbst so gedeihlich zu leben, wie das in der Freundschaft üblich
ist, und ja wunderbare Resultate zeitigt. Freunde können sehr viel im Leben gemeinsam bestehen.
Erzählerin
Freundschaft beginnt mit mir. Es ist ein langer Weg bis zu dieser Einsicht. Und dann auch zu dieser hier: Freundschaft ist eine Haltung und eine Praxis. Das kann man lernen und üben: freundlich sein. Das kann ein Durchbruch werden in vielen Beziehungen. Denn je freundlicher man ist, desto offener werden Vorbehalte und Widerstände, desto klarer und zugänglicher werden auch schwierige und getrennte Beziehungen.!
AKZENT
Erzählerin
Die schwierigste Einsicht als Praktizierende des Freundlichen lautet: ich bin unsicher. Die längste Zeit seines Lebens hofft man doch: erwachsen werden, das bedeutet immer größer und stärker und damit total selbstsicher werden. Was für eine Enttäuschung! Der Philosoph des Freundlichen empfiehlt Selbstbewusstsein – aber in seiner guten alten Form:
20 OT Wilhelm Schmid
Selbstbewusstsein hat zweierlei Bedeutung. Die erste Bedeutung ist, sich seiner selbst bewusst zu werden. Also ich nehme wahr, ich habe Augen, ich hab‘ ‘ne Nase, ich hab Gedanken, ich habe Gefühle. Und zwar immer schön in der Polarität, ich hab‘ nicht nur gute Gefühle, ich hab auch schlechte Gedanken, ich hab nicht nur ‘ne schöne Nase, ich hab vielleicht auch ‘ne krumme Nase, usw. – bewusst werden, was ist.
Erzählerin
Unsicher sein dürfen - auch das ist eine schwierige und eine gute Nachricht. Der schwierige Teil erwächst aus einer zwanghaft behaupteten Sicherheit, warnt der Verfechter der Selbstfreundschaft:
21 OT Wilhelm Schmid
Leider hat Selbstbewusstsein in den vergangenen Jahrzehnten ‘ne andere Bedeutung angenommen, nämlich ich trumpfe auf mit meinem Selbstbewusstsein. Eine Selbstfreundin weiß, dass es keinen Grund gibt aufzutrumpfen. Und eine Selbstfreundin weiß: Leben ist so wie es ist, und mit dem wie es ist, müssen wir zurechtkommen. Wir können uns nicht ein Leben stricken, wie wir es haben wollen.
Erzählerin
Unsicher sein – so geht es allen, wenn sie ehrlich sind – so geht das Leben, wenn es lebendig ist. Ja, es ist unheimlich, dieses Unsichere. Aber auch unheimlich belebend. Probieren Sie es aus, am besten freundlich.
Am besten mit Ihrem besten Freund oder Ihrer besten Freundin – sich selbst.
Die Hymne der olympischen Bewegung, Nationalhymnen und kommerzielle Pathos-Songs reihen sich bei Olympia aneinander. Doch was macht eine Hymne eigentlich zur Hymne? Und warum sind sie für die Rituale sportlicher Events inzwischen unerlässlich? Von Martin Schramm (BR 2022)
Autor dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Andreas Neumann, Rahel Comtesse, Andreas Discherl
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Wir empfehlen außerdem:
DIE OLYMPIAPROTOKOLLE (Folge 1-4) auf Alles Geschichte:
Bis heute sind noch viele Fragen zum Olympiaattentat am 5.9.1972 offen. Eva Deinert und Yvonne Maier durchforsten monatelang im Münchner Staatsarchiv zehntausende Akten, Einsatztagebücher, Berichte, Fotos, Briefe, Telegramme. Und stellen fest: Eine Spur haben die Behörden möglicherweise bis heute übersehen.
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 1: Die heiteren Spiele
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 2: Die Geiselnahme
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 3: Der Befreiungsversuch
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 4: Die unbekannte Frau in den Akten
RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Sprint zu den Olympischen Spielen - München wird moderner
JETZT ANHÖREN
Olympische Dörfer in aller Welt - Was wurde aus den Unterkünften?
JETZT ANHÖREN
Auch ein weiterer Podcast von Bayern 2 befasst sich mit dem Attentat von 1972:
In „Himmelfahrtskommando“ erzählt Patricia Schlosser die Geschichte ihres Vaters, der 1972 als Polizist beim Olympia-Attentat eingesetzt war und sich seitdem fragt, ob er Mitschuld am tödlichen Ausgang hat.
BR PODCAST | Himmelfahrtskommando - Mein Vater und das Olympia-Attentat
Kohlenhydrate-, Fett- oder Protein-Typ - welcher Ernährungstyp bin ich? Machen fettarme oder fettreiche, rein pflanzliche oder ausschließlich eiweißhaltige Nahrungsmittel Sinn? Eine verbindliche Aussage versprechen Anbieter von Gentests für personalisierte Ernährung. Doch diese sind höchst umstritten. Autor: Bernd-Uwe Gutknecht
Credits
Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Susanne Schroeder, Thomas Birnstiel, Rahel Comtesse
Technik: Anton Wunder
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Dr. Hans Hauner, Institut für Ernährungsmedizin, TU München
Monika Bischoff, Diplom-Ökotrophologin, Krankenhaus der Barmherzigen Brüder München
Caroline Rauscher, Pharmazeutin und Ernährungsberaterin Kelheim
Einige ältere Damen im „Dorf der Hundertjährigen“ in Japan
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Vegane Wurst und Burger - Wieviel Chemie und Technik braucht es für Fleischersatz?
Fleisch ist für viele ein Grundnahrungsmittel. Doch die Viehzucht schadet Umwelt und Klima. WissenschaftlerInnen suchen deshalb nach umweltschonenden Alternativen zu Steak und Schnitzel. Wie bekommen Hersteller es hin, dass eine Wurst aus Erbsenprotein schmeckt und sich anfühlt wie Fleisch? Das wollen wir in dieser Podcast Folge wissen und außerdem fragen wir: sind diese hochverarbeiteten Lebensmittel dann noch gesund?
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I will survive - Der Kampf gegen die AIDS-Krise
München, 80er, Disco-Ära: Die queere Szene blüht und Weltstars wie Freddie Mercury machen hier Party. Aber plötzlich ist Schluss. Ein mysteriöses Virus erreicht die Stadt. In "I Will Survive" sprechen wir mit den Menschen, die als Erste und vielleicht am härtesten von der AIDS-Krise getroffen wurden. Der Podcast erzählt von ihrer Angst, ihren Verlusten und ihrem Widerstand in einer Zeit, als Bayern als einziges Bundesland auf Ausgrenzung statt auf Aufklärung setzt. Und es geht um die Frage: Welches Vermächtnis haben die Menschen von damals der queeren Community heute hinterlassen? Ein Podcast von Bayern 2
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Erzählerin:
„Stoffwechseltyp bestimmen und passende Gen-Diät finden!“
Erzähler:
„DNA- und Bioage-Test - tiefe Einblicke in deine Genetik für nur 229 Euro!“
Erzählerin:
„Mehr Wohlbefinden mit unseren Stoffwechselanalysen und Bluttests“.
Erzähler:
„All in one DNA-Test für nur 399 Euro!“.
MUSIK 1 hochziehen
Erzählerin:
Wer sich im Internet über gesunde Ernährung informiert, stößt zwangsläufig auf Werbeversprechen bezüglich personalisierter, genbasierter Ernährung. Sie suggerieren, dass mit einer einfachen Speichel- oder Urinprobe die DNA des Kunden ermittelt und daraus der perfekte Ernährungsplan entwickelt werden kann. Das Ziel: Traumkörper, unlimitierte Leistungsfähigkeit, quasi ewige Jugend.
MUSIK 1 hochziehen und aus
Erzähler:
Angeblich sind die DNA-Tests und die daraus abgeleiteten Ernährungstipps von Experten zertifiziert und garantiert.
Erzählerin:
Wissenschaftlich belegt und anerkannt ist die Tatsache, dass die individuelle Genzusammensetzung Einfluss darauf hat, wie der Körper mit verschiedenen Nahrungsmitteln klarkommt. Professor Dr. Hans Hauner leitet das Institut für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München:
Zusp. 1 Gene:
„Die Verdauung und Verwertung von Nahrungsmitteln ist natürlich ein sehr komplexes Geschehen. Der Stoffwechsel, den wir haben, ist Tag und Nacht damit beschäftigt, Energie bereitzustellen und zu funktionieren. Die Organe müssen ja auch optimal funktionieren, dazu sind viele Nährstoffe notwendig. Und das ist natürlich reguliert durch eine Vielzahl von Genen, die daran beteiligt sind.“
Erzähler:
Die Fachbereiche, die sich mit den Zusammenhängen von Genen und Essen beschäftigen, heißen Nutrigenetik und Nutrigenomik. Darauf spezialisierte Wissenschaftler haben etwa herausgefunden, dass gewisse Gen-Variationen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an Adipositas, also Fettleibigkeit oder Diabetes Typ 2 zu erkranken.
Zusp. 2 Bandbreite:
„Was wir wissen – und wir haben das selber in verschiedenen Studien angesehen – ist: wenn wir wirklich die identische Mahlzeit zehn oder 20 Personen geben, und schauen uns dann an, wie verändert sich der Blutzucker, das Insulin, Aminosäuren, was auch immer, sehen wir doch eine große Bandbreite der Antwort von Mensch zu Mensch.“
Erzählerin:
99,7 Prozent der Gene sind bei allen Menschen identisch. Aber die 0,3 Prozent Unterschiede können große Auswirkungen haben. Ein gut untersuchtes Beispiel ist der Melanocortin-4-Rezeptor: Er wird im Normalfall von 333 Aminosäuren gebildet. Bei einem Mangelzustand an diesen Proteinen kann die Signalweiterleitung des Sättigungsgefühls gehemmt sein. Und das kann zu ständigem Appetit und somit zu Übergewicht führen.
Zusp. 3 Zeit:
„Wir kennen die wichtigsten Stoffwechselprozesse und wissen auch, dass die zum Teil durch Genvarianten beeinflusst werden können. Bisher ist es uns noch nicht gelungen, diese Information zu nutzen, um vielleicht eine spezifische, individuelle Ernährung abzuleiten. Dazu stehen wir noch viel zu sehr am Anfang, das wird noch einige Zeit brauchen.“
Erzähler:
Dass eine über Gentests personalisierte Ernährung den Menschen leistungsfähiger oder generell gesünder werden lässt, hält Hauner für eine Marketing-Lüge. Er und sein Team haben in eigenen Studien die Aussagekraft solcher Gentests analysiert:
Zusp. 4 Gentests:
„Diese genbasierten Diäten sind wirklich durch die Bank völlig unseriös. Wir haben uns das auch angeschaut: was weiß man über bestimmte Gene und gibt´s da wirklich einen erkennbaren Zusammenhang zur Verarbeitung von Mahlzeiten oder zur Präferenz bestimmter Nährstoffe? Wir haben da kein konsistentes Muster gesehen. Das, was die Firmen behaupten, ist mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogen oder ohne wirklich wissenschaftliche Substanz. Man kann davon wirklich nur abraten, es ist reine PR, um Produkte zu verkaufen.“
MUSIK: „The vote“ - Länge 0:36
Erzählerin:
Warum fallen aber dennoch viele Menschen auf die Werbung bezüglich Gentests herein? In einer Umfrage der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft gab fast jeder Fünfte an, sich vorstellen zu können, eine kostenpflichtige DNA-basierte Diät auszuprobieren. Fast jeder Zweite glaubt, dass er sich allein aufgrund der Informationen zu diesem Thema gesünder ernähren würde.
Erzähler:
Obwohl wir bei der Herausgabe unserer Geninformationen normalerweise sehr vorsichtig sind, scheint die Hemmschwelle bei der Aussicht auf einen optimierten Ernährungsplan zu sinken. Für medizinische DNA-Tests schreibt das Gendiagnostikgesetz eine ausführliche Aufklärung durch eine Medizinerin oder einen Mediziner zwingend vor.
Erzählerin:
Für die frei verkäuflichen Gentests zur Ernährung gilt das Gesetz nicht, weil diese Speichelproben als Lifestyle-Produkte deklariert werden. Die Gesellschaft für Humangenetik warnt seit Jahren davor, seine DNA von fragwürdigen Labors bestimmen und womöglich speichern zu lassen. Denn diese Genom-Proben unterliegen dann nicht dem Datenschutz und könnten zum Beispiel an werbetreibende Pharma-Unternehmen verkauft werden.
Zusp. 5 Betrug:
„Meine Erklärung ist dabei, dass wir ja das Phänomen haben, Ernährungsberatung für einen Menschen zu bekommen, ist zeitaufwendig, kostet Geld, und da klingt´s natürlich gut, wenn ich sage: ich messe deine Gene und dann kann ich dir sagen, was du brauchst und was für dich gesund ist. Aber schaut man sich diese Empfehlungen an nach den Gentests, so sind die alle eigentlich sehr ähnlich und gehen in die gleiche Richtung, die wir ohnehin empfehlen würden, nämlich eine gesunde, eher pflanzlich basierte Kost. Also das ist wirklich fast Betrug!“
MUSIK: „Straight oddity“ - Länge 0:34
Erzähler:
Von Marketingangeboten unabhängig beraten werden Patienten oder an sinnvoller Ernährung Interessierte zum Beispiel am Zentrum für Ernährungsmedizin und Prävention, das zum Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in München gehört. Personen, die unter Essstörungen oder ernährungsbedingten Krankheiten leiden, werden hier behandelt und versorgt. In Seminaren und Kochkursen können auch andere Gäste viel über eine sinnvolle Auswahl von Nahrungsmitteln und ihre schonende Zubereitung lernen.
Erzählerin:
Die Leiterin des Zentrums, die Diplom-Ernährungswissenschaftlerin Monika Bischoff, hat also regelmäßig Kontakt mit vielen Betroffenen.
Sie betont, dass durchaus Unterschiede bei der Verwertung von Lebensmitteln bestehen. Um mögliche daraus folgende gesundheitliche Probleme herauszufinden, setzt sie auf klassische medizinische Analysen wie etwa ein großes Blutbild und die Bio-Impedanz:
Zusp. 8 Impedanz:
„Es gibt ja schon einige Messverfahren, die man kombinieren kann. Es gibt einmal das klassische klinische Labor. Und es gibt die bioelektrische Impedanzanalyse. Das ist eine Messung, bei der man hauptsächlich den Körperfettgehalt zur Muskelmasse messen kann, aber eben auch durch den Phasenwinkel, das an speziellen Vektorenmessungen auch sehen kann: wie ist denn meine Zelle ernährt? Und im Verlauf, wenn ich diese Messung alle drei Monate mache, dann kann ich mit einer qualifizierten Ernährungs-Fachkraft oder auch mit einem Ernährungsmediziner hier auch schon gute Daten bekommen, wie ich auf Lebensmittel reagiere.“
Erzähler:
Oftmals hilft es schon, wenn Menschen mit Essstörungen, mit Übergewicht oder Magersucht, detailliert über einen längeren Zeitraum aufschreiben, was sie wann essen und wie viel davon. Dabei geht es nicht nur ums Kalorienzählen, sondern auch um die Zusammensetzung des eigenen Speiseplans, also wie viel Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate sowie existentielle Vitalstoffe nimmt man zu sich? Einen Gentest braucht es laut Monika Bischoff dafür nicht:
Zusp. 9 Typen:
„Es ist mit Sicherheit so, dass jeder seinen eigenen Esstypus, Nahrungsmittelaufnahme-Typus hat, würde ich aber auch ohne solche Tests bestimmen können durch reine Beobachtung. Durch ein vernünftiges Ernährungs-Tagebuch können wir ganz genau feststellen, ok, ich bin eher der Kohlenhydrate-Typ oder der Eiweiß-Typ!“
Erzählerin:
Das trifft ebenfalls auf Lebensmittel-Unverträglichkeiten zu. Laktose-, Fruktose-und Histamin-Intoleranzen sind bei uns die häufigsten. Auch hier empfiehlt Monika Bischoff Ernährungs- und Symptom-Tagebücher. So können Betroffene zusammen mit den Medizinern analysieren, welche Bestandteile für sie problematisch sind.
Zusp. 10 unverträglich:
„Bei den Lebensmittel-Unverträglichkeiten – das ist per se erstmal keine Erkrankung, sondern es ist hauptsächlich ein Essfehler – das ist bestimmt auch durch die Enzymaktivität, hat ja auch mit den Genen zu tun, es ist schon festgelegt in uns, aber das kann man auch jetzt schon beeinflussen durch eine gute Ernährungsberatung und zu wissen, was kann ich wie essen? Aber in erster Linie ein Essfehler und das ist jetzt schon ohne personalisierte Ernährung oder Gene sehr gut zu behandeln.“
Erzähler:
Auch das Abnehm-Versprechen der Anbieter von Gentests ist für die Ernährungswissenschaftlerin nur Werbetrick und ohne Evidenz. Von Mode-Diäten aus Lifestylemagazinen hält sie generell nicht viel. Letztlich geht es darum, weniger Kalorien zu sich zu nehmen als man verbrennt. Und sich bewusst zu machen, was man sich in den Mund steckt:
MUSIK: „Blurred vision“ - Länge 0:39
ATMO 1 Chips
Erzählerin:
Eine Tüte Chips beim abendlichen Fernsehschauen...
ATMO 2 Cola
Erzähler:
...und dazu eine Flasche Cola landen natürlich sofort im Fettdepot des eigenen Körpers. Vermutlich kämen die Wenigsten auf die Idee, Chips mit Cola bei einem schön zubereiteten Mittagessen zu genießen. Das heißt: die ungesunden und überflüssigen Dinge konsumieren wir oft eher aus Gewohnheit als wegen des Genusses...
Erzählerin:
...und in geselliger Runde. Da ist die Karotte weniger üblich als die Cola. Gegen solche kulinarischen Ausrutscher ist ab und zu auch nichts einzuwenden, meint Monika Bischoff, aber die Regel sollte es nicht sein.
MUSIK: „Futen god of the wind“ Länge: 0:52
Erzähler:
Ganz ohne DNA-Tests, Kalorienzähler und Lifestyle-Diäten ernähren sich viele Bewohner der japanischen Insel Okinawa auf natürliche, gesunde Art und Weise und schaffen es damit, sehr alt zu werden. Ogimi (sprich: Ogimi, Betonung auf erstem i), eine Ortschaft auf der Insel, hat den Spitznamen „Dorf der Hundertjährigen“, weil hier außergewöhnlich viele Menschen 90 Jahre und älter sind und sich guter Gesundheit erfreuen.
Erzählerin:
Die Dorfstraße ist blitzblank gefegt, die kleinen rot, gelb und weiß getünchten Steinhäuser sind mit Blumenkästen und Pflanzentöpfen liebevoll verziert. In einem blumigen Kleid geht die 94-Jährige Frau Masago (Betonung auf erstem a) Richtung Dorfausgang.
Zusp. 11 Oma
OV-Sprecherin.:
„Da vorne, das ist mein Feld. Da baue ich seitdem ich ein Mädchen bin, Gemüse an. Früher haben wir damit die ganze Familie ernährt, jetzt bin ich ja alleine hier, deshalb baue ich nur noch wenig an. Aber ich bin jeden Tag hier und arbeite.“
Erzähler:
Stolz erzählt Frau Masago, dass sie schon öfters den Dorf-Wettbewerb für die besten Bittergurken gewonnen hat. Für die Bewohner des Dorfes ist das die wichtigste Auszeichnung des Jahres.
Erzählerin:
Wo die Gemüse-Beete der Dorfbewohner aufhören, fangen die Mandarinen-, Bananen- und andere Obstbäume an. Von der naheliegenden felsigen Meeresküste bringen Fischer täglich Meeresfrüchte und Fische in die örtlichen Lebensmittelläden. Eine nahrhafte Kost liegt den Menschen auf Okinawa quasi in den Genen.
Erzähler:
Die Hundertjährigen setzen auf regionale und saisonale Produkte und geben ihr Wissen und ihre Einstellung bzgl. Essen jeweils an die nächste Generation weiter. Das beliebteste Lokal des Ortes heißt „Bei Emi“. Emi ist die Köchin und zählt mit ihren 73 Jahren quasi zum jungen Gemüse:
Zusp. 12 Köchin
OV-Sprecherin.:
„Obst und Gemüse wachsen hier einfach anders. Wir sind zu 360 Grad von Meer umgeben. Dank des tropischen Klimas haben wir das ganze Jahr über frische Früchte. Und wir kochen sehr gesund, nehmen z.B. Zitronensaft statt Essig, keine künstlichen Geschmacksmittel, sondern Kräuter, Algen oder Seetang. Und unser Fleisch kommt von glücklichen Tieren.“
MUSIK: „Doa“ Länge: 0:34
Erzählerin:
Und dann serviert Frau Emi Tapiokabällchen in Sesamsauce, eingelegten Rettich mit Ingwer, Tofu in Algenblättern, Süßholzwurzeltee, alles Vitaminbomben, sagt sie. Und selbst das Dessert, grüne Eiskugeln, sind aus heimischem Gemüse gemacht.
MUSIK: „Futen god of the wind“ Länge: 0:52
Erzähler:
Für Sportlerinnen und Sportler ist eine ausgewogene und leistungsfördernde Ernährung besonders wichtig. Deshalb sind gerade Athleten darauf aus, zu erfahren, welche Nahrungsmittel ihnen Energie bringen und welche ihnen evtl. Energie rauben. Caroline Rauscher aus Kelheim ist Pharmazeutin und Ernährungscoach und betreut viele Profisportler: Triathleten, Biathleten, Radfahrer, Langläufer usw.
Erzählerin:
Eine individualisierte Ernährung hält sie für existenziell, gerade im Spitzensport. Von manchen Mode-Diäten wie etwa Low-Carb, also dem Trend, wenig Kohlenhydrate zu essen, rät sie allerdings ab:
Zusp. 13 Kohlenhydrate:
„Man hat eine Trainingseinheit, die sehr intensiv ist, dann ist es absolut wichtig, dass man als Treibstoff, als Nahrungsreiz die Kohlenhydrate zur Verfügung hat. Und die braucht man dann, um diese Trainingsadaption zu bewirken, aber auch um physiologische Systeme wie Immunsystem, Eisenstoffwechsel, Hormonsysteme etc. zu schützen.“
Erzählerin:
Egal ob jemand ein Kohlenhydrate-, Protein-oder Fett-Typ ist, was seine effektivsten Nahrungsenergiequellen angeht, einen gewissen Mix aus Nährstoffen braucht jeder Körper. Viele Kraftsportlerinnen und Sportler meinen, dass sie für den Aufbau von Muskelkraft fast ausschließlich Eiweiß bräuchten und führen überdosierte Proteinmittel zu:
Zusp. 14 Krafttraining:
„Es ist falsch, beim Krafttraining nur den Fokus auf die Proteine, sprich die Eiweiße zu legen! Weil Krafttraining braucht ja ebenfalls Treibstoff, deswegen ganz wichtig vor dem Krafttraining schauen, dass ausreichend Kohlenhydrate aber auch Eiweiß-Komponenten gegessen werden. Je nach Intensität und Dauer auch darauf achten, auch während dem Training Kohlenhydrate zuzuführen, damit man in der Muskulatur sogenanntes anaboles Milieu schafft, das bedeutet, dass der Trainingsreiz perfekt umgesetzt werden kann und nach dem Training liegt der Fokus auf den Eiweißen.“
Erzähler:
Immer öfters kommen Sportlerinnen und Sportler auf die Ernährungstrainerin zu, die ihren Ernährungsstil auf vegan umstellen wollen. Dagegen spricht für Caroline Rauscher nichts, aber es bedarf einer großen Aufmerksamkeit für den Speiseplan, um keine Mangelzustände zu erzeugen – was natürlich auch für Nicht-Sportler gilt:
Zusp. 15 Leucin:
„Wenn man vegan unterwegs ist, ist es total wichtig, die pflanzlichen Eiweißquellen intelligent miteinander zu kombinieren, damit man die Lücken, die in dem Aminosäuren-Spektrum von den pflanzlichen Eiweißquellen sind, ausgleicht durch Mixturen. Da bietet sich z.B. an, in Richtung Erbseneiweiß zu gehen, weil diese Erbsenproteine einen hohen Anteil an der Aminosäure Leucin haben, die in diesem Kontext eine Trigger-Aminosäure darstellt.“
MUSIK: „Blurred vision“– Länge 0:17
Erzählerin:
Vegan oder vegetarisch? Die Ernährungsberaterin Monika Bischoff tendiert zu einer flexiblen Mischform, dem Flexitarismus:
Zusp. 16 Flexitarier:
„Wenn wir uns vernünftig ausgewogen ernähren, tierisch und pflanzlich, dann ernähren wir uns tatsächlich am besten. Weil Fleisch auch ein sehr wertvoller Energie-und Vitamin-Lieferant ist, das ist Fakt. Nur ist es halt von bestimmten Lebensmitteln zu viel. Die Tendenz einer pflanzenbasierten Ernährung macht für unsere Gesundheit schon auch Sinn und dazu gibt’s auch die besten Daten, was die Gesundheit betrifft. Also Flexitarier würde ich eher unterstreichen und bin ich selbst auch, mein Mann auch, also wir essen wenig Fleisch, aber ich würde nicht gerne auf Fleisch oder tierische Lebensmittel verzichten wollen.“
Erzähler:
Von anderen extremen Ernährungs-Stilen raten die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ab. Von einigen reichweitenstarken Influencern werden diese aber beworben und finden genügend Nachahmer. Zum Beispiel die Paläo-oder Steinzeitdiät, deren Verfechter fast ausschließlich Fleisch, Fisch und rohes Gemüse essen. Auf Getreide- und Milchprodukte verzichten sie komplett.
Zusp. 17 Paläo:
„Das ist natürlich sehr einseitig, das ist eine sehr eiweißbetonte, fettbetonte Ernährung. Man kann damit sicher zunächst mal abnehmen, aber es ist eine sehr restriktive Kost. Man weiß, dass man bei extremer Kost dieser Art sich auch nicht wohlfühlt und die Leute deshalb doch wieder versteckt anfangen, Kohlenhydrate zu essen und das ist gut so! Kohlenhydrate liefern z.B. auch über die Produkte Ballaststoffe, das fehlt etwa bei der Paläo-Kost und der Mensch braucht wirklich Ballaststoffe!“
Erzählerin:
Generell warnt Ernährungsmediziner Hans Hauner davor, Kohlenhydrate zu verteufeln und gänzlich vom Speiseplan zu verbannen. Wie das auch die Anhänger der zurzeit viel diskutierten Keto-Diät tun, bei der die Energie vorwiegend durch Fette aufgenommen wird:
Zusp. 18 Keto:
„Die ketogene Diät ist eigentlich dadurch definiert, dass man die Kohlenhydrat-Zufuhr deutlich senkt, in der Regel auf unter zehn Prozent der Gesamtenergie-Aufnahme. Davon halte ich auch wenig, das mag sinnvoll sein bei bestimmten Krankheiten, wir wissen gut, dass bei nicht behandelbarer Epilepsie bei Kindern, wenn Medikamente nicht mehr wirken, eine solche Diät wirklich hilfreich sein kann. Ansonsten halte ich das für kritisch und gefährlich, weil man damit unter Umständen auch eine Mangelernährung auslösen kann. Der Mensch braucht eine bestimmte Menge an Kohlenhydraten, beispielsweise kann das Gehirn nur Zucker verbrennen, also 30 Prozent der Kalorien, die wir aufnehmen, sollten aus Kohlenhydraten bestehen.“
Erzähler:
Statt Keto-, Paläo-, Low Carb und Co. setzt Hauner auf eine omnivore Ernährung. Omnivor heißt, möglichst vielfältig zu essen, aber von allem etwas weniger, sofern man keinen besonders hohen Kalorienverbrauch hat wie etwa Profisportler oder körperlich schwer arbeitende Menschen:
Zusp. 19 omnivor:
„Der Mensch ist eigentlich ein Allesesser, weil er in seiner Evolutionsgeschichte ja immer darauf angewiesen war, das was für ihn sozusagen in der Umgebung verfügbar war, dann auch für seine Ernährung zu nutzen. Und das waren natürlich tierische Lebensmittel, also er hat Tiere gejagt, und wenn er sie erwischt hat auch maximal verzehrt. Er hat aber natürlich auch pflanzliche Lebensmittel um sich herum gesammelt und genutzt. Das hat wahrscheinlich auch den größeren Anteil gehabt, weil es auch leichter verfügbar war. Das hat ihn aber gezwungen, z.B. den ganzen Tag zu kauen, um aus diesen Graskörnern wirklich das bisschen Stärke, das da drin war, herauszuholen.“
Erzählerin:
Und so hat sich zuletzt eine neue Diät etabliert, bzw. eine Anti-Diät: das intuitive Essen!
Erzähler:
Statt auf Vorgaben aus Lifestyle-Magazinen sollten wir verstärkt auf unser Bauchgefühl hören. Der menschliche Körper weiß eigentlich sehr gut, was er braucht und was ihm nicht gut tut. Nur haben viele von uns verlernt, auf dieses Körpergefühl zu hören.
MUSIK: „Blurred vision“ - Länge 1:16
Erzählerin:
Nur dann essen, wenn man wirklich Hunger hat!
Erzähler:
Nur das essen, worauf man richtig Appetit hat!
Erzählerin:
Nur soviel essen, bis man tatsächlich satt ist!
Erzähler:
Und gelegentlich einfach nach Lust und Laune schlemmen!
Zusp. 20 persönlich:
„Ich bin ja auch in Bayern aufgewachsen, sozialisiert worden mit viel Wurst und Fleisch und allerdings auch Süßspeisen, da gab´s ja früher noch viele und die haben wirklich toll geschmeckt. Wir haben aber die Ernährung die letzten Jahrzehnte schon umgestellt. Wir essen deutlich weniger Fleisch, aber wenn dann gutes Fleisch, und natürlich auch mit Genuss und eher fettarm zubereitet.“
Zusp. 21 Leberkäs:
„Gleiches gilt für die Leberkässemmel, die in Bayern ja so beliebt ist. Die braucht man nicht zu verbieten, aber die Qualität einer Leberkässemmel ist natürlich sehr sehr bescheiden, um das mal freundlich zu formulieren. Das kann man einmal im Monat machen, wenn man gerade wirklich Lust hat, aber das würde ich nicht zur Gewohnheit werden lassen.“
Vor ein paar Jahrzehnten waren Tätowierungen noch verpönt und nur unter Seefahrern oder Häftlingen verbreitet. Inzwischen ist die Jahrtausende alte Körperkunst ein Massenphänomen. Dabei ist die Körperkunst sehr alt: Einer der ältesten Menschen mit Hautkunst, der bisher gefunden wurde, ist die Gletscher-Mumie Ötzi. Von Claudia Steiner (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Matthias Eggert
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Peter Veit
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge finden Sie HIER.
Kunst oder Natur? Die Frage bestimmt das Nachdenken über die Konversation zu allen Zeiten: Ist das private Gespräch eine Kunst wie die öffentliche Rede oder ihr genaues Gegenteil - der offene, unverstellte Austausch? Von Marie Schoeß (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Marie Schoeß
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Laura Maire, Marlene Reichert, Andreas Dirscherl, Johannes Hitzelberger
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Netaya Lotze, Vertretungs-Professur für "Schriftlinguistik" an der Universität Hamburg, Leiterin die Arbeitsgruppe "KI und Sprache" an der Uni Münster
Karl-Heinz Göttert, emeritierter Professor für Germanistik an der Universität zu Köln.
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Placebos sind Scheinbehandlungen und Pillen ohne Wirkstoff. Trotzdem helfen sie in vielen Fällen - sogar dann, wenn Patientinnen und Patienten wissen, dass sie ein Medikament ohne Inhalt schlucken. Forschende rätseln noch, warum wir uns von Placebos überlisten lassen. Von Veronika Bräse
Credits
Autorin dieser Folge: Veronika Bräse
Regie: Martin Trauner
Es sprach: Katja Amberger
Technik:
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Prof. Dr. med. Ulrike Bingel, Professur für Klinische Neurowissenschaften, Leiterin Zentrum für universitäre Schmerzmedizin am Universitätsklinikum Essen
Prof. Dr. med. Dominik Irnich, Leiter der interdisziplinären Schmerzambulanz und Tagesklinik am Campus Innenstadt der LMU München
Dr. Marcel Wilhelm, klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Marburg
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Frag dich fit mit Doc Esser und Anne Schneider - WDR 2
Doc Esser beantwortet jeden Freitag Eure Gesundheitsfragen. Zusammen mit Anneg gibt er Tipps für ein besseres und gesünderes Leben JETZT ENTDECKEN
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Linktipps:
Ulrike Bingel: Erwartungen beeinflussen den Behandlungserfolg HIER
NDR-Info: Die Macht der Erwartung - Placebo- und Nocebo Effekte HIER
WDR: Die Akte Placebo - viel stärker als man denkt? HIER
Wissen Weekly: Placebo-Effekt: Ist er wirklich nur Einbildung? HIER
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Die heilige Klara von Assisi, reiche Bürgerstochter, trifft eine radikale Entscheidung: für ein Leben in einer Frauengemeinschaft in absoluter Armut. Lange galt sie nur als Gefährtin des heiligen Franziskus, heute erfährt die Heilige eine Neubewertung durch die feministische Theologie: Als erste Frau der Kirchengeschichte entwirft sie eine eigenständige Ordensregel. Von Steffi Illinger
Credits
Autorin dieser Folge: Steffi Illinger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Thomas Birnstiel, Peter Veit
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Karin Becker, Andrea Bräu
Im Interview:
Martina Kreidler-Kos, katholische Theologin, Bistum Osnabrück
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Hildegard von Bingen - Kämpferin, Komponistin, Universalgelehrte
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Weird Animals
Die Welt ist im Dauerstress. Das Einzige, was hilft: Raus in die Natur – wo die kuriosesten Tiere wohnen. Bei Weird Animals widmen sich die Hosts Robinga Schnögelrögel und Tereza Hossa den schrägen, spannenden und lustigen Seiten der Tierwelt. Eine Liebeserklärung an Axolotl, Kalikokrebs und viele andere. Vor allem aber ist Weird Animals ein Comedy-Wissenspodcast. Jede Woche stellt ein Host dem anderen ein Tier vor und erklärt, was es weird macht. Dabei nehmen sie auch stets das große Ganze in den Blick – Biodiversität, Artensterben, Klimawandel und die Zukunft von Mensch und Tier. Jeden Dienstag gibt es eine neue Folge. JETZT ENTDECKEN
Literaturtipps:
Martin Kreidler-Kos, Ancilla Röttger, Nikolaus Kuster: Klara von Assisi. Freundin der Stille – Schwester der Stadt. 2015
Martina Kreidler-Kos: Lebensmutig. Klara von Assisi und ihre Gefährtinnen. 2015
Sabine Pemsel-Maier: Genderperspektiven – neue Blicke auf Klara von Assisi. 2018
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Schwarz wie Ebenholz - jedes Kind kann sich die Farbe von Schneewittchens Haaren vorstellen. Aber welcher Erwachsene weiß, wie ein Baum ausschaut, der Ebenholz liefert? Immerhin eines der kostbarsten Edelhölzer der Erde. Von Anja Mösing (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Diana Gaul
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Matthias Eggert
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Literaturtipps:
Dieser Aufsatz bietet eine detailreiche Übersicht zur Verwendung von Ebenholz seit altägyptischer Zeit in mitteleuropäischem Kontext und zahlreiche Beispiele für kunsthandwerkliche Stücke aus sakralem, repräsentativem Bereich, auch zu Musikinstrumenten:
Ebenholz, Bethe-Kränzner, Alice, In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 4, Sp. 639-650, Hrsg: Otto Schmitt, Stuttgart 1958
Ein Informativer Klassiker zur Kulturgeschichte von Wald- und Holznutzung:
Holz – Ein Naturstoff in der Technikgeschichte, Radkau, Joachim und Schäfer, Ingrid, Rowohlt, Reinbeck b. Hamburg 1987
Obwohl es nie einen Putsch gegeben hat, hält sich der Begriff bis heute hartnäckig. In Wirklichkeit war der sogenannte Röhm-Putsch ein Massenmord, dem insgesamt 90 politische Gegner Hitlers zum Opfer gefallen sind. Befohlen hat ihn der Diktator selbst, der damit die Weichen für seine Alleinherrschaft gestellt hat. Von Thomas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Burchard Dabinnus, Irina Wanke, Friedrich Schloffer
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Peter Longerich, Professor, Royal Holloway and Bedford New College Universität London; Direktor Research Centre for the Holocaust and Twentieth-Century History.
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
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Der Hitlerputsch - Anfang vom Ende der Demokratie
Von Astrid Freyeisen
München, 9. November 1923. Vor der Münchner Feldherrnhalle scheitert Adolf Hitlers Putschversuch kläglich. Doch die Folgen sollten sich als drastisch erweisen - für Deutschland und für die Welt.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: Erzähler
29. Juni 1934, Freitagnachmittag. Früher als geplant treffen die schwarzen Mercedes-Benz-Limousinen am Rheinhotel in Bad Godesberg ein. Der Reichskanzler Adolf Hitler hat seine Inspektionsreise durch Westdeutschland vorzeitig abgebrochen, um sich mit ranghohen Parteifunktionären zu treffen. Propagandaminister Goebbels wird per Flugzeug aus Berlin eingeflogen. Ebenso Sepp Dietrich, der Kommandeur der SS-Leibstandarte. Über den Rheinauen steht der Sommer, aber die Idylle ist trügerisch. Denn an jenem Freitag werden auf der Godesberger Hotelterrasse mörderische Pläne geschmiedet.
Musik hoch
Erzählerin
Hitler teilt seinen Vertrauten mit, dass er am Tag darauf gegen seinen alten Mitstreiter, den SA-Chef Ernst Röhm vorgehen wird. Und zwar „mit Blut“. Röhm und „seine Rebellen“ sollen zu spüren bekommen, „dass Auflehnung den Kopf kostet“.
Erzähler
Seit Tagen machen Gerüchte über einen anstehenden Putsch die Runde. Nun scheint sich die Lage zuzuspitzen. Noch in der Nacht, unmittelbar nach der Godesberger Besprechung, fliegt Hitler nach München, um weitere „Maßnahmen“ zu ergreifen.
Erzählerin
„Maßnahmen“, die nichts anderes bedeuten als blutige Schläge gegen politische Gegner. Musik hoch und aus
Von „Staatsnotwehr“ wird später die propagandistische Rede sein. Und von einem „Röhm-Putsch“, gegen den sich der „Führer“ zur Wehr setzen musste. Dieser Putsch-Begriff hält sich seither hartnäckig, sagt der Münchner Zeithistoriker und Geschichtsprofessor Peter Longerich. Seltsamerweise, denn...
ZSP 1 Long Begriff 0,32
Alle sind sich darüber einig, dass es nie einen Röhm-Putsch oder einen Versuch eines Röhm-Putsches gegeben hat. Auch die Nazis haben ja keine Belege dafür vorlegen können und trotzdem hat sich das gehalten, wird dann in Anführungszeichen gesetzt. Oder man spricht dann etwas verschämt von der Röhm-Affäre, was ja auch ein bisschen merkwürdig ist. Es ist einfach doch ein Massenmord gewesen, ein Massenmord, dem insgesamt 90 Personen zum Opfer gefallen sind. Befohlen durch den Diktator, durch den Chef, ausgeführt durch die SS mit Unterstützung der Wehrmacht und der Gestapo natürlich. Und so sollte man die Dinge auch beim Namen nennen.
Erzähler
„Hitler, Röhm und die Morde vom 30. Juni 1934“. So heißt Peter Longerichs 2024 erschienenes Buch, das ein Schlüsselereignis in der Geschichte des Dritten Reiches behandelt. Denn mit dem blutigen Rundumschlag, der einer ganze Reihe von verschiedenen Gegnern galt, hat Hitler die Weichen für seine Alleinherrschaft gestellt.
Musik 2: Biegler auf der Wache – 1:16 Min
Erzählerin
Im Hintergrund des politischen Massenmords steht eine schwere Krise des NS-Regimes. Gerade mal 17 Monate ist die sogenannte Machtergreifung her, in weiten Teilen der Bevölkerung aber herrschen bereits Ernüchterung und Unmut über das Regime. Selbst im nationalsozialistischen Block, der etwa 40 Prozent der Bevölkerung ausmacht, ist die anfängliche Euphorie verflogen. Die wirtschaftlichen Probleme lassen sich auf Dauer nicht hinter Paraden, Heil-Gebrüll und Fähnchen-Schwingerei verstecken.
Erzähler
Zwar sinkt die Arbeitslosigkeit, aber oft nur dank statistischer Tricks, während die Löhne der Arbeiter weiter auf dem Krisenstand von 1932 verharren. Auch der Mittelstand leidet unter der geringen Kaufkraft. Händler, Handwerker und Ladenbesitzer sind von der Hitler-Regierung enttäuscht, viele Bauern sauer über Reglementierungen. In bürgerlichen Kreisen ist man entsetzt über die Abschaffung von Meinungs- und Pressefreiheit. Und auch in den zwei großen christlichen Kirchen macht sich erhebliche Unruhe breit.
Musik 3: Typewriter - 13 Sek
Zitator
„Nicht nur notorische „Meckerer und Miesmacher“, sondern „gerade die treuesten Nationalsozialisten sehen der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung sorgenvoll entgegen“.
Erzählerin
Heißt es zum Beispiel in einem Bericht der Staatspolizei Kassel Anfang Juni 34. Für Hitler ist dieser Vertrauensverlust höchst beunruhigend, sagt Historiker Longerich.
ZSP 2 Long Gefahr 0,18
Und das war natürlich auch einer der Gründe, hier – wie man das so nennt –, ein Exempel zu statuieren, um dafür zu sorgen, dass sich diese Unzufriedenheit nicht irgendwie öffentlich vernehmbar machte. Und dass diese ganze Diktatur sich dann vielleicht innerlich allmählich aufgelöst hätte. Das war wohl die Gefahr, die man an der Spitze gesehen hat.
Erzähler
Denn Mitte 1934 gibt es durchaus noch mehrere Machtzentren. In Hitlers Koalitions-Regierung stellt die NSDAP anfangs nur den Reichskanzler und zwei Minister, gewinnt aber bald weitere Posten hinzu. Als parteiloser Vizekanzler fungiert jedoch der ultrakonservative Katholik Franz von Papen. Diese konservative Rechte hat Hitler 1933 an die Macht verholfen. In der irrigen Annahme, ihn kontrollieren und „in die Ecke drücken zu können.“
Erzählerin
Und auf der eher linken, antikapitalistischen Seite der NSDAP scharrt der revolutionäre Flügel der Partei mit den Stiefeln: die Sturmabteilung, kurz SA.
Musik 4: Erstes Schachspiel auf dem Schiff– 1:20 Min
Ihr prominentester Mann ist der Weltkriegs-Kompaniechef und ehemalige Freikorps-Offizier Ernst Röhm, eine Landsknecht-Natur mit mit einem derben, von Kampf und Krieg vernarbten Gesicht.
Erzähler
Der Münchner Eisenbahner-Sohn Röhm, ein verdienter alter Kämpfer der Partei und eine Schlüsselfigur im Hitler-Ludendorff-Putsch 1923, ist ein Duz-Freund Hitlers, verfolgt aber immer wieder Pläne, die von dessen Konzeption stark abweichen. Röhm will seine mächtige SA der Partei-Kontrolle entziehen. Im Dezember 1933 wird er jedoch von Hitler mit einem Ministerposten ohne Geschäftsbereich abgespeist.
Erzählerin
Röhm will aber mehr und spricht von einer zweiten Revolution. Nicht die Spießbürger, Karrieristen und Parteibürokraten sollen das Sagen haben, sondern seine politischen „Soldaten“. Schließlich findet er, waren es ja doch die paramilitärischen Kräfte der SA, die die Gegner grün und blau und tot schlugen und Hitler an die Macht brachten.
ZSP 3 Long SA 0,33
Also eine äußerst gewalttätige Truppe, die auch nach der sogenannten Machtergreifung 33 die Machtdurchsetzung der NSDAP natürlich besorgt hat mit den wilden Konzentrationslagern. Als Hilfspolizei, als immer bereitstehende, gewalttätige Truppe, die auch auf lokaler Ebene die Ziele der Nationalsozialisten durchsetzt. Und diese SA wollte natürlich belohnt werden, nachdem nun die Machtergreifung gelungen war. Im Wesentlichen ging es eigentlich darum, diese alten SA Haudegen irgendwie unterzubringen auf Versorgungsposten.
Musik 5: Erstes Schachspiel auf dem Schiff – siehe oben – 1:01 Min
Erzähler
Röhms Plan, die SA zum Milizheer umzugestalten und mit der Landesverteidigung zu betrauen, scheitert. Denn Hitler setzt bei der Wiederaufrüstung Deutschlands auf die alte Reichswehr. Die SA benötigt er nicht mehr. Was aber tun mit diesem anschwellenden Heer von Braunhemden?
ZSP 4 Long Riesenhaufen 0,23
Also die SA bestand 1933 hauptsächlich aus arbeitslosen jungen Männern. Sie ist dann ja sehr stark angewachsen, weil nun einmal hat man die Wehrverbände, die übrigen Wehrverbände aufgesogen. Und dann haben sich auch viele Männer der SA angeschlossen, weil sie hofften, damit schneller Arbeit zu bekommen. Also das war ein sehr schnell anwachsender Riesenhaufen von 400 000 Mann etwa 1933 auf schließlich mehr als vier Millionen.
Erzählerin
Röhms Forderung nach mehr Teilhabe der SA an der Macht, lehnt Hitler kategorisch ab. Schon im Juli 1933 hat er die Nationalsozialistische Revolution für beendet erklärt. Eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht. Musik aus
Erzähler
Genau das versuchen nun die nationalkonservativen Kräfte in der Regierungskoalition für sich zu nutzen. Ihre zentrale Figur ist Franz von Papen, ein weit rechts stehender Katholik, der einst der Zentrumspartei angehörte und nun parteiloser Vizekanzler unter Hitler ist.
ZSP 5 Long Papen 0,27
Und in seiner Vizekanzlei fand sich nun eine Gruppe von Rechtsintellektuellen, möchte ich das Mal nennen, zusammen, die die Vormachtstellung der NSDAP wieder zurückfahren wollten und im Grunde genommen darauf zielten, eine Rechtsdiktatur zu etablieren, ohne oder mit wenig Nationalsozialismus. Und der Papen war im Grunde die Galionsfigur. Der Papen hatte nicht vor, einen ernsthaften Konflikt, also einen Machtkampf mit Hitler zu führen, aber er wurde von dieser Gruppe praktisch nach vorne geschoben.
Erzählerin
Als Papen am 17. Juni 1934 eine Rede an der Universität Marburg hält, scheint er das Manuskript vorher nicht richtig gelesen zu haben. Es ist ihm offenbar von seinen Mitarbeitern untergeschoben worden. Autor dieses NS-kritischen Textes ist Papens Mitarbeiter Edgar Jung. Der 40-jährige Publizist wird anschließend sofort verhaftet, die Verbreitung des Textes gestoppt. Aber einige Exemplare der Marburger Rede geraten doch unters Volk und machen vor allem in bürgerlichen Kreisen schnell die Runde, sagt Historiker Longerich.
ZSP 6 Long Marburger Rede 0,24
Das war so eine Art Manifest. Also es war schon eine recht massive Beschwerdeschrift über diese Willkürherrschaft der Nationalsozialisten. Und vor allen Dingen, was natürlich im bürgerlichen Lager störte, war die Zerstörung des Rechtsstaates. Also man war natürlich auch antidemokratisch eingestellt, man wollte eine autoritäre Herrschaftsform, aber es sollten doch die Grundlagen des Rechtsstaates bewahrt werden. Das war immer so die große Sorge im bürgerlichen Lager.
Erzähler
Im Frühsommer 1934 setzen die konservativen Kräfte um Papen ihre Hoffnung auf den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Der schwer kranke 86-jährige hätte Hitler theoretisch wieder absetzen oder zumindest erheblich beschränken können.
ZSP 7 Long Hindenburg 0,21
Es stellte sich später aber heraus, dass Hindenburg überhaupt kein Interesse an solchen Plänen hatte. Er war einfach sehr zufrieden, dass er mit dem Hitler jemanden gefunden hatte, wie er meinte, der nun sozusagen das alles wieder in Ordnung bringen würde, die nationale Krise Deutschlands, die Wirtschaftskrise, die politische Krise.
Musik 6: About something – 59 Sek
Erzählerin
In der zweiten Juni-Hälfte 1934 kursierten Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch der SA. Ob sie von der SS oder der Gestapo geschürt wurden, sei schwer zu sagen, meint Peter Longerich. Überhaupt stellt sich dem Historiker ein Überlieferungsproblem. Denn niemand hat damals Akten angelegt. Was wir wissen, stammt meist aus Nachkriegserzählungen oder Gerichtsprozessen, die in den 1950er Jahren geführt worden sind. Anekdoten, Rechtfertigungen und Lügen erschweren oft die historische Bewertung.
Erzähler
Klar ist allerdings, dass Hitler im Juni 1934 beschließt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu (er)schlagen: die revolutionäre SA von Röhm und die ultrakonservativen Kreise um Papen.
ZSP 8 Long Entscheidung 0,21
Man kann in etwa sagen, dass er so eine Woche etwa vor dem 30. Juni entschlossen war, etwas zu unternehmen, aber es war noch nicht ganz klar, was.
Musik 7: The organ grinder – 55 Sek
Erzählerin
Die Entscheidung, mit Gewalt vorzugehen, trifft Hitler auf seiner Reise durch Westdeutschland. Am 28. Juni nutzt er die Hochzeitsfeier des Gauleiters in Essen, um seine Pläne mit Hermann Göring und dem loyalen SA-Gruppenführer Victor Lutze zu besprechen. An jenem Donnerstag gibt Hitler telefonisch die Anweisung, dass alle wichtigen SA-Leute am Samstag zu einer Führerbesprechung im oberbayerischen Bad Wiessee erscheinen sollen. Dort macht Ernst Röhm gerade Urlaub.
Erzähler
Ob Hitler wirklich an einen bevorstehenden Putsch glaubt? Ob er sich in einen Wutrausch gegen die vermeintlichen Verräter hineinsteigert? Oder ob es eiskaltes Machtkalkül ist, das ihn zuschlagen lässt? Das sei nicht zu beantworten und eigentlich auch zweitrangig, meint der Historiker Peter Longerich.
ATMO Propellerflugzeug / Musik aus
Erzählerin
Fest steht: Nach der Freitags-Besprechung auf der Godesberger Rheinterrasse fliegt Hitler noch in der Nacht zurück nach München. Frühmorgens wird ihm auf dem Flugplatz Oberwiesenfeld mitgeteilt, dass größere SA-Haufen randalierend durch die Stadt gezogen seien. War das der Beginn eines Putsches?
Erzähler
Hitler wartet nicht länger auf Verstärkung. Am 30. Juni 1934 fährt er zusammen mit Goebbels, Viktor Lutze, Otto Dietrich und einem kleinen SS- und Kripo-Kommando ins 60 Kilometer südlich von München gelegene Bad Wiessee. Am Ufer des Tegernsees hat sich Ernst Röhm in der Pension Hanselbauer einquartiert. Auch die anderen SA-Leute nächtigen hier. Als Hitler kurz vor sieben Uhr früh eintrifft, schlafen die Herren noch.
Erzählerin
Was dann geschieht, wird von der Goebbels-Propaganda dramatisch aufgebauscht und später oft unkritisch nacherzählt. Hitler sei mit der Hundepeitsche in der Hand in die Pension gestürmt und habe Röhm förmlich aus seinem Bett herausgerissen.
ZSP 9 Long Hanselbauer 0,33
Es gibt ja nun Zeugenaussagen aus den 50er Jahren, und es scheint so gewesen zu sein, dass das eigentlich sehr viel ruhiger abging. Also der Hitler hat nach einer dieser Aussagen an der Tür geklopft von dem Röhm, hat dann gesagt, er möchte mal rauskommen. Der Röhm hat noch einen Kaffee getrunken in der Pension Hanselbauer. Es scheint eher nicht so dramatisch abgelaufen zu sein. Dann ist da immer diese Geschichte, dass man den Heines dann mit einem jungen Geliebten im Bett vorgefunden hätte. Das sind alles Dinge, die eigentlich erst durch die Nationalsozialisten aufgebauscht worden sind, um eben einen Skandal aus dieser ganzen SA-Führung zu machen.
Erzähler
Dass Röhm und einige SA-Führer wie Edmund Heines homosexuell sind, war längst kein Geheimnis mehr und auch kein Aufreger. Aber jetzt ließ es sich propagandistisch gut ausschlachten. Nach dem Motto: Der Führer höchstpersönlich habe diesen moralischen Sumpf nun trockengelegt!
Musik 8: Search party – 1:26 Min
Erzählerin
Röhm und die anderen SA-Führer werden nach München ins Gefängnis Stadelheim gebracht. Eigenhändig schreibt Hitler eine Liste der Hinzurichtenden. „Sepp“ Dietrich, Chef der SS-Leibstandarte, lässt noch am selben Tag sechs SA-Führer durch seine Truppe erschießen.
Erzähler
Bei seinem alten Duz-Freund Röhm zögert Hitler zunächst. Aber schon am Tag darauf lässt er dem SA-Chef eine Pistole in die Zelle legen. Als Röhm sich weigert, Selbstmord zu begehen, wird er in seiner Zelle am 1. Juli 1934 auf Befehl Hitlers vom Kommandanten des Konzentrationslagers Dachau, dem SS-Obergruppenführer Theodor Eicke erschossen.
Erzählerin
Auch andernorts läuft die Mordmaschinerie an. In Berlin werden ebenfalls am 30. Juni 27 Personen getötet, darunter neun, die nichts mit der SA zu tun haben, aber politisch missliebig sind. Prominentestes Opfer ist Kurt von Schleicher, Hitlers Vorgänger als Reichskanzler. Auch Schleichers Frau und sein engster Vertrauter Generalmajor Ferdinand von Bredow werden erschossen. Ebenso Gregor Strasser, Hitlers früherer Widersacher vom antikapitalistischen Flügel der NSDAP.
Erzähler
Die meisten Morde, sagt Peter Longerich, sind von Anfang an von Hitler selbst gewollt gewesen. Nur einige erst im Nachhinein autorisiert worden. Ausgeführt werden sie von Angehörigen der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes SD. Aber auch die allgemeine SS und die Leibstandarte sind beteiligt.
Erzählerin
Neben München und Berlin ist Schlesien der dritte regionale Schwerpunkt der Mordserie. Mit Breslau im Zentrum gilt es als eine SA-Hochburg, gegen die besonders hart vorgegangen wird. Doch auch anderswo gibt es Tote. Von den reichsweit 90 Opfern sind 50 SA-Führer. Die meisten Namen stehen von Anfang an auf Listen der SS. Es kommt aber auch zu spontanen, improvisierten Tötungen.
ZSP 10 Long Mafiamethoden 0,38
Bei den anderen Morden ist es so, dass die eigentlich so nach Mafia-Art zum großen Teil begangen wurden. Also die Opfer wurden in ihren Wohnungen ermordet oder sie wurden verschleppt, auf der Straße erschossen, die Leichen wurden liegengelassen. Und das begann in Berlin ja schon am 30. Juni. Also, das heißt, das beginnt schon, bevor man eigentlich gegen diese sogenannten SA-Revoluzzer vorgeht.
Erzähler
Während sich das Regime lange in Schweigen hüllt und offiziell nie mehr als ein Dutzend Opfer zugibt, gehen in der Bevölkerung bald Gerüchte um, es könnten Hunderte gewesen sein. In der Neuen Zürcher Zeitung, die auch in Deutschland zu lesen ist, stehen immer wieder Namen von Opfern. Edgar Jung zum Beispiel, der Papen-Mitarbeiter und Verfasser der Marburger Rede, der bereits seit zwei Wochen inhaftiert war. Oder Gustav von Kahr, der ehemalige bayerische Ministerpräsident, von dem sich Hitler beim Putschversuch 1923 verraten fühlte.
ZSP 11 Long Terrorherrschaft 0,25
Das hat natürlich große Unsicherheit und große Unruhe in die Bevölkerung getragen. Es lag sozusagen auch in den ersten Tagen danach so ein lähmender Schrecken über dem Land, und das war natürlich auch durchaus wohl von den Nationalsozialisten beabsichtigt. Das ist eben das, was man als Terrorherrschaft bezeichnet.
Musik 9: The horror of war – 1:23 Min
Erzählerin
Erst am 13. Juli rechtfertigt Hitler in einer Reichstagsrede ausführlich die sogenannte Niederschlagung des angeblichen „Röhm-Putsches“. Es sind wortreiche Lügen von der „Staatsnotwehr“! Dabei war den meisten längst klar: Der blutige Rundumschlag richtete sich gegen verschiedenste Gruppen.
Erzähler
Nicht zuletzt gegen die Rechtskonservativen aus dem Kreis um Papen. Dessen Pressechef Herbert von Bose ist in seinem Büro erschossen worden. Ebenso Erich Klausener, Leiter der katholischen Laienbewegung im Bistum Berlin. Auch der katholische Publizist Fritz Gerlich, einer der schärfsten Kritiker der Nazis, wird am 1. Juli 1934 im KZ Dachau ermordet.
Erzählerin
Franz von Papen zieht daraus übrigens keine Konsequenzen. Obwohl zwei seiner engsten Mitarbeiter ermordet wurden, bricht der Vizekanzler nicht mit Hitler. Papen wird später Gesandter in Wien.
Erzähler
Ein anderer konservativer Katholik, der längst die Seiten gewechselt hat, ist der Staatsrechtler Carl Schmitt. Als „Kronjurist des Dritten Reiches“, wie ihn Gegner spöttisch nennen, rechtfertigt er am 1. August 1934 Hitlers Mordserie in einem Artikel in der Deutschen Juristen-Zeitung:
Musik 10: Typewriter – siehe oben – 13 Sek
Zitator:
„Der Führer schützt das Recht“ vor „dem schlimmsten Missbrauch“, wenn er „im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht“ schaffe.
Musik aus
Erzählerin
Die konservativen Eliten Deutschlands sind Mitte 1934 weder bereit noch in der Lage, sich dem Diktator zu widersetzen. Und auch die SA ist geschwächt. Sie wird entwaffnet und von 4,5 Millionen auf 1,6 Millionen SA-Leute zurechtgestutzt. Erhalten geblieben ist zwar das erhebliche Gewaltpotenzial der SA, das sich insbesondere in „Aktionen“ gegen Juden zeigte. Aber als revolutionärer sogenannter „linker“ Flügel der NSDAP war sie nun endgültig entmachtet, sagt Peter Longerich.
ZSP 12 Long wesentliches Ergebnis 0,30
Wenn man diese Stimmungsberichte aus dem Jahre 34 liest, dann sieht man, dass es im bürgerlichen Lager doch noch ziemliche Befürchtungen gab, dass sich in der NSDAP ein linker Kurs durchsetzen könnte, also ein antikapitalistischer Kurs. Und dass man dort Einbußen erleiden würde, und das ist natürlich jetzt nach dem 30. Juni vorbei. Also man hat zwar jetzt eine terroristische Diktatur, aber man ist sich doch ziemlich sicher, dass sie nicht versuchen wird, sozusagen an die Eigentumsverhältnisse massiv heranzugehen. Ich glaube, das ist ein ganz wesentliches Ergebnis dieses Tages gewesen.
Erzähler
Gestärkt geht die Reichswehr aus den blutigen Ereignissen hervor. Vor allem aber profitiert die andere paramilitärische Nazi-Truppe von den Morden: Heinrich Himmlers Schutzstaffel, kurz SS.
ZSP 13 Long SS 0,18
Der große Gewinner war natürlich die SS, die ja nun auch die Gestapo kontrollierte, aber vor allen Dingen auch die SS als Organisation jetzt aus dem Unterstellungsverhältnis unter den SA-Chef rausgelöst wurde, eigenständig wurde und in verschiedene Richtungen dann expandieren konnte. Also es war der Machtzuwachs Himmlers.
Musik 11: The organ grinder – siehe oben – 1:08 Minuten
Erzählerin
Und natürlich Hitlers. Denn vor allem verändern die Mordaktionen den Charakter seiner Diktatur. Alle Nebenzentren der Macht sind nun beseitigt. Abweichende Meinungen in wichtigen Fragen gibt es keine mehr. Und Terror wird zum festen Bestandteil der Herrschaftspraxis. Hitlers Weg zur Alleinherrschaft ist frei. Er muss ihn nur noch gehen.
Erzähler
Als wenige Wochen später Paul von Hindenburg stirbt, übernimmt der Reichskanzler Hitler auch noch das Amt des Reichpräsidenten und den Oberbefehl über die Reichswehr. In einem nachträglichen Plebiszit spricht sich das Volk im August 1934 mit „überwältigender Mehrheit", wie es hieß, für die unumschränkte Macht des jetzt sogenannten „Führers und Reichskanzlers“ aus.
Große Veränderungen passierten um das Jahr 1000: Die Wikinger kamen in Neufundland an, der Welthandel begann sich vor allem in Asien und Afrika zu entwickeln, in Europa brachten mildes Klima und Erfindungen Agrarüberschuss, die Städte wuchsen. Die Epoche war aber auch von Endzeitstimmung geprägt. Von Brigitte Kramer (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
Das Ziel der Geschichte - Wie sieht's aus im letzten Akt?
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Literaturtipps:
Hansen, Valerie: Das Jahr 1000, als die Globalisierung begann. C.H.Beck Verlag
Ariès, Philippe / Duby, Georges (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, 1.Band: Vom Römischen Imperium zum Byzantinischen Reich. Bechtermünz / Weltbild Verlag (Nur mehr antiquarisch zu bekommen.)
Focillon, Henri: Das Jahr Tausend. Grundzüge der Kulturgeschichte des Mittelalters. WBG, Darmstadt.
Linktipps:
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Dem Brief wird nicht erst seit der Digitalisierung der Tod vorausgesagt: "Seine eigentliche Geschichte liegt hinter uns" schreibt Georg Steinhausen schon 1889. Den Todesrufen zum Trotz empfangen wir bis heute private, berufliche, amtliche Briefe. Eine Suche nach Reiz und Resilienz der Briefform. Von Marie Schoeß (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Marie Schoeß
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Xenia Tiling, Marlen Reichert
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Die Erfindung der Schrift - Vom Bild zum Symbol
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Haustiere können in Partnerschaften durchaus für Reibereien sorgen: Der Hund schläft im Bett, der neue Partner hingegen im Gästezimmer. Die Katze pinkelt auf die Klamotten des "Nebenbuhlers", der in ihr Revier eingedrungen ist. Ohne viel Geduld und Kompromissbereitschaft läuft dann gar nichts. Von Karin Lamsfuß
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Thomas Birnstiel
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Silke Wechsung, Psychologin
Prof. Andrea Beetz, Psychologin
Eric Hegmann, Paartherapeut
Tanja Brandt, Tierfotografin
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ZUM PODCAST
Literaturtipps:
Silke Wechsung: Mensch und Hund: Beziehungsqualität und Beziehungsverhalten (Schriftenreihe Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung) 2008, S. Roderer Verlag
Tanja Brandt: Die Eulenflüsterin. Lübbe Verlag, 2019
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: O-Ton 1 Silke Wechsung (0‘12“)
Man kommt abends vom Arbeiten und der Hund wird fröhlich begrüßt und dann kommt erst mal lange nichts. Und irgendwann dann sagt man dann vielleicht auch mal der Ehefrau oder dem Ehemann „Hallo“.
O-Ton 2 Eric Hegmann (0‘10“):
„Es ist doch ganz normal, dass man sich morgens erst mal küsst und danach den Hund küsst.“ Wer sagt das? Wer sagt, dass das normal ist?
O-Ton 3 Tanja Brandt (0‘05“):
Für mich sind die Tiere komplett selbstverständlich. Ich denk mir jetzt nicht, dass da jemand Probleme mit haben kann.
O-Ton 4 Silke Wechsung (0‘07“)
Unabhängig vom Familienstatus ist der Hund für 35 Prozent aller Hundehalter der wichtigste Partner.
O-Ton 5 Tanja Brandt (0‘05“):
Die Hunde sind schon so ein bisschen Killer. Also ich glaube, die Beziehung wäre harmonischer ohne die Hunde.
Sprecher:
Tiere in der Partnerschaft: Sie können die Zweierbeziehung bereichern, beide Partner gleichermaßen erfreuen. Mit einem Haustier zusammenzuleben, kann herzerwärmend sein, berührend, tröstend, verbindend und manchmal auch einfach unglaublich lustig. Gemeinsam für ein Lebewesen zu sorgen, kann beide Partner zusammenschweißen. Muss es aber nicht.
Musik: Mysterious animal play (reduced) 0‘54
Erzählerin:
Es geschah während der Corona-Pandemie. Lockdown. Das Leben stand mehr oder weniger still. Die Tierfotografin Tanja Brandt dachte sich: Ein neuer Partner wäre vielleicht nicht schlecht. Sie meldete sich bei einer Dating App an – mit bescheidenen Angaben: Alter, Ort und ein Bild von ihr, gemeinsam mit einer ihrer Eulen. Dass sie zudem mit zwei Steinkäuzen, zwei Habichtskäuzen, einem Wüstenbussard und zwei großen Hunden zusammenlebt, war ihr zunächst keine Erwähnung wert. Dass ein Mann damit Probleme haben könnte, kam ihr nicht in den Sinn, so selbstverständlich sind die Tiere für sie. Doch Chris hatte genau damit Probleme.
O-Ton 6 Tanja Brandt (0‘33“):
Irgendwann kam es zu diesem ersten Telefonat, was ja so schrecklich war, wir haben zwei Stunden über Hunde gestritten. Also über Frauen mit Hund. Und da hat er eben gesagt: „Auf gar keinen Fall kommt für ihn ne Frau mit Hund infrage, auf gar keinen Fall mit im Bett, und die Frauen mit Hund, die haben vielleicht psychisch Probleme, und wenn die dann die Hunde auch noch im Bett haben, das sind dann die Hunde, die so gar nicht folgen!“ Und ich hab während dem Telefonat meinen Ingo angeguckt, der so neben mir auf dem Bett lag, gemütlich, und er hat geschlafen, und ich hab gedacht: ‚Was stimmt mit dem Typen nicht?‘
Erzählerin:
Für den Paartherapeuten Eric Hegmann entscheidet sich oft schon in der Kennenlernphase, ob das Modell ‚neue Liebe plus Haustier‘ überhaupt eine Chance haben kann. Für ein Online-Dating-Portal hat er eine Studie zu Tieren und Partnerschaft begleitet:
O-Ton 7 Eric Hegmann (0‘41“)
Dieser urbane Mythos, nach dem männliche Hundebesitzer bei Frauen besonders gut ankommen, das stimmt tatsächlich. Umgekehrt ist es anders: Männer fühlen sich durch Haustiere von Frauen eher bedroht. Und als besonders bedrohliches Tier ist das Pferd. Und meine Vermutung ist: Je zeitintensiver, je pflegeintensiver das Haustier ist, desto eher nimmt es eine Position ein, die mich als neuen Partner vielleicht auf Platz zwei setzt und das buche ich ja nicht, wenn ich eine Beziehung eingehe. Ich möchte ja Prio eins ein.
Musik: Discussion points (reduced 2) 0‘14
dann darüber
Erzählerin:
Tierfotografin Tanja Brand und ihr Internet-Date Chris diskutierten weiter. Nacht für Nacht. Über Frauen und Hunde, und dass das ja gar nicht ginge.
O-Ton 8 Tanja Brandt (0‘24“):
Und dann sagt er plötzlich mitten in der Nacht „Ja, jetzt haben wir wieder ne Stunde gestritten, in der Zeit hättest du eigentlich hierherfahren können und nen Kaffee trinken. Und mich muss was gebissen haben, dass ich jetzt noch ne Stunde auf die Autobahn fahre zu nem Idioten und mit dem dann noch irgendwie in seiner Wohnung weiterstreite, den ich nicht mal kenne, ja, ich bin tatsächlich gefahren, und seither sind wir eigentlich zusammen.
Erzählerin:
Der Mann, der nie eine Frau mit Hund wollte. Und die Frau, deren Tiere ihr Lebensinhalt sind. Das birgt ordentlich Zündstoff.
Musik: Sparkling curiousity 0‘32
Sprecher:
Menschen und ihre Haustiere. Oft eine tiefe Liebesgeschichte. Sie öffnen unsere Herzen und gelangen in Bereiche, in die ein Mensch nie vordringen kann. Sie sind warm und weich und hingebungsvoll. Kein Mensch kann einen so bestechend und herzzerreißend ansehen. 34 Millionen Haustiere leben in deutschen Haushalten.
Erzählerin:
Prof. Andrea Beetz ist Psychologin und erforscht Mensch-Tier-Beziehungen. Sie weiß aus ihren Forschungen: Ein Haustier ist nicht irgendein Wesen, sondern ein wichtiger Sozialpartner.
O-Ton 9 Andrea Beetz (0‘18“):
Das basiert darauf, dass in der Mensch-Heimtier-Beziehung die gleichen Mechanismen greifen, die wir auch in anderen engen Beziehungen nutzen. Nämlich das Bindungssystem und das Fürsorgesystem. Und das ist mit ganz vielen Hormonen verbunden, mit Stressregulation, mit der Regulation von Emotionen, sich wohlfühlen, sich sicher fühlen.
Sprecher:
Das macht klar, warum ein Konflikt um ein Haustier viel tiefer geht als Streit über den Abwasch oder das neue Auto.
O-Ton 10 Andrea Beetz (0‘25“):
Gerade wenn die Tiere als junge Tiere zu uns kommen, dann versorgt man sie, man kümmert sich, und irgendwann werden die erwachsen, und dann ist es auch so, dass man selber sagt: Wenn es mir mal nicht so gut geht, geh ich da hin, hab den Kontakt und fühl mich irgendwie unterstützt und wird ruhiger. Und bin auch nicht allein. Und dadurch, dass das die gleichen Systeme sind, ist es auch nicht verwunderlich, dass viele Beziehungen so eng werden und so emotional wichtig für den Menschen.
Sprecher:
Tiere als Seelentröster, als Sozialpartner, für manche sogar die ganz große Liebe.
Erzählerin:
Wie wichtig Haustiere für viele Menschen sind, das hat die Psychologin Dr. Silke Wechsung in Bezug auf Hunde an der Uni Bonn erforscht:
O-Ton 11 Silke Wechsung (0‘11“):
Wir haben die Frage gestellt: Welchen Stellenwert hat der Hund in Ihrem Leben? Und da haben 35 Prozent der Hundehalter gesagt, dass der Hund für Sie der wichtigste, wichtigste Beziehungspartner ist.
Musik: Sandbath 0‘19
dann darüber:
O-Ton 12 Tanja Brandt (0‘09“):
Ich liebe meine Tiere! Ich würde für meine Tiere wahrscheinlich so ziemlich alles aufgeben! Ich leb mein komplettes Leben lang mit Tieren zusammen. Komplett! Und ich kenn das gar nicht anders.
Sprecher:
Wenn in diese tiefe Liebesbeziehung dann ein neuer Mensch eindringt, kann das eingespielte soziale Gefüge durcheinandergeraten. Denn ob er will oder nicht: Der oder die Neue tritt in Konkurrenz zu einem Lebewesen, das schon lange da ist. Einen festen Platz im Herzen hat und womöglich schon einige Partner kommen und gehen gesehen hat.
Erzählerin:
Im Fall der Tierfotografin Tanja Brandt verlief das nicht unbedingt reibungslos.
O-Ton 13 Tanja Brandt (0‘33“):
Er kam dann irgendwann auch mal zu mir, und da musste ich ihm ja die Tiere direkt vorstellen. Ich hab ihm die ganzen Vögel vorgestellt, die fand er auch spannend, den Hund fand er … mittel. Jetzt muss man dazusagen: Der Ingo ist halt nicht so begeistert, wenn da ein Typ reinschneit. Der passt halt schon auf mich auf! Und wenn da ne Hand in meine Richtung kommt, dann freut er sich da nicht so drüber. Er war auch nicht begeistert, dass er aus dem Bett ausquartiert wurde und dass er viele Sachen nicht mehr so machen durfte …
Erzählerin:
Ingo ist ein Malinois, ein belgischer Schäferhund. Mit stark ausgeprägtem Schutztrieb. Er begleitet Tanja Brandt schon seit 12 Jahren überall hin, posiert auf unzähligen ihrer Fotos.
Musik: Simple but complex behaviour 0‘17
Atmo Hund
Sprecher:
Wenn eine Dreiecksbeziehung zwischen Mensch-Mensch und Tier entsteht, entsteht auch eine neue Ordnung. Oft verbunden mit dem Verlust von Privilegien.
Erzählerin:
Hund Ingo durfte nicht mehr mit im Bett schlafen. Was er keineswegs klaglos hinnahm.
O-Ton 14 Tanja Brandt (0‘31“):
Ich sag mal, so Romantik ist ganz schwierig, da schmeißt sich der Ingo nämlich gegen die Schlafzimmertüre, und wenn ich jetzt fünf Mal sag „Ingo, geh jetzt bitte in dein Körbchen“, dann geht er in sein Körbchen, und dann lässt er das auch, aber ich sag mal, so fünf Minuten später sitzt er dann vor der Schlafzimmertür und macht (ahmt Jaulen nach), das lenkt jetzt irgendwie auch ab, und ja, er kam auch tatsächlich einmal in das Bett gesprungen, mit Karacho, das fand er nicht lustig. Er ist halt so ein Schutzhund so ein bisschen. Beschützer.
O-Ton 15 Silke Wechsung (0‘19“)
Da Hunde eben sehr rang- und statusbewusst sind, werden sie erst mal versuchen, den Rang, den sie sich erarbeitet haben, auch zu erhalten. Das ist ja wie bei uns Menschen. Wenn ich erst mal ein bestimmtes Privileg habe, möchte ich das ja auch nicht ohne Not einfach so schnell wieder abgeben.
Sprecher:
Doch wer denkt, dass nur Hunde ihren Unmut über den menschlichen Eindringling missmutig kundtun, der täuscht sich. Katzen stehen dem in nichts nach …
Musik: Animals playing catch 0‘25
dann darüber:
Erzählerin:
Alex hatte sich gerade frisch verliebt. In eine Frau mit Katze. Die erste gemeinsame Nacht in der Studentenwohnung. Doch die war gleichzeitig Revier des alteingesessenen Katers. Alles endete mit einer Überraschung am nächsten Tag. Beim Aufwachen roch es irgendwie seltsam:
O-Ton 16 Alex (0‘25“)
Am nächsten Morgen wachte ich dann auf und dachte so: Mein schönes himbeerfarbenes, vornehmes Hemd zusammengefaltet? Und dann hab ich das ausgefaltet, und was musste ich darin entdecken? Da hatte der Kater einen Haufen da reingemacht. Offensichtlich um mich zu bestrafen für meine Anwesenheit oder um ein deutliches Zeichen seiner Missbilligung zu setzen, das war irre.
Musik: Animals playing catch 0‘4
Atmo Katze
O-Ton 17 Alex (0‘25“)
Also offenbar hat ihm einfach nicht geschmeckt, dass ich da übernachtet hab, dann hat er sich die Mühe gemacht, da erst mal reinzumachen und das dann auch noch ordentlich zusammenzufalten. Also unglaublich, zu was für Aktionen ein solches Tier dann imstande ist, wir haben natürlich herzlich gelacht, und über die Jahre hinweg hat sich zwischen den Kater und mir dann durchaus eine gute Freundschaft entsponnen – tatsächlich beidseitig.
Musik: Stork’s walk 0‘22
Sprecher:
Das Tier, das eifersüchtig ist auf den Eindringling. Aus tierischer Sicht verständlich: Der neue Partner, die Partnerin sitzt auf dem Lieblingsplatz, bekommt die Aufmerksamkeit, die Zuwendung, die zuvor ausschließlich dem Tier galt. Das, so sagen Tierverhaltenstrainer, löst man am besten mit sehr viel Geduld und vorsichtiger Annäherung. So haben beide die Chance, sich langsam aneinander zu gewöhnen.
Doch Eifersucht gibt es auch auf der anderen Seite: nämlich dann, wenn das Haustier Privilegien genießt, die eigentlich dem Menschen zustünden, so die Psychologin Silke Wechsung.
O-Ton 18 Silke Wechsung (0‘20“):
Wenn man sich immer mal damit beschäftigt, wie viele Stunden am Tag sich eben mit dem Tier beschäftigt wird im Vergleich zu dem, wie viele Stunden am Tag sich mit dem Partner oder den Kindern beschäftigt wird, dann fällt doch auf, dass der Hund einfach unheimlich viel Aufmerksamkeit bekommt.
Erzählerin:
Paartherapeut Eric Hegmann sagt: Unter zahlreichen Konflikten liegen häufig viel tiefere Themen:
O-Ton 19 Eric Hegmann (0‘29“):
Es geht bei dem Konflikt um Haustiere häufig um das eigene Bedürfnis nach Anerkennung, nach Gesehenwerden, dieses Gefühl ‚bist du für mich da? Kann ich mich auf dich verlassen?‘ Und wenn ich immer wieder den Eindruck habe: ‚Für dein Haustier machst du alles! Das Tier hustet einmal, und schon sind wir beim Tierarzt. Und du lässt alles stehen und liegen. Ich liege mit Grippe im Bett, und ich bekomme noch nicht mal ne Suppe!‘
Erzählerin:
In ihrer Forschungsarbeit über die Mensch-Hund-Beziehung ist Silke Wechsung auch auf einige extreme Ausprägungen gestoßen:
O-Ton 20 Silke Wechsung (0‘12“):
Wo der Hund dann vorne im Auto mitfährt, auf dem Beifahrersitz und die Partnerin hinten im Auto sitzt. Oder Menschen, die dann eben mit dem Hund das Schlafzimmer teilen, während der Partner in einem Nebenraum schläft.
O-Ton 21 Eric Hegmann (0‘14“):
Hier würde ich schon fragen „Ist das wirklich eine Rolle, die Sie auf Dauer einnehmen wollen? Kommen Sie damit zurecht? Wie ist das, wenn Sie „Schichtwechsel“ haben: Sie steigen aus dem Bett aus und der Hund kommt da rein. Wie fühlen Sie sich dabei?“
Musik: In this together 0‘17
dann darüber:
Erzählerin:
Es vergeht kaum ein Tag, erzählt Tierfotografin Tanja Brandt, an dem sie nicht mit ihrem Partner Chris über den Hund Ingo streitet.
O-Ton 22 Tanja Brandt (0‘28“):
Der Chris, der ist auch selbstständig und hat hier so Online-Kurse. Und diese Online-Kurse, die kennt der Ingo ganz genau. Und dann setzt der sich natürlich in dem Nachbarraum an die Wand und macht die ganze Zeit ahmt Bellen nach. Drei Stunden lang. Der Chris sagt dann auch „super, ich war den ganzen Tag mit dieser Winsel-Stute hier alleine!“ und da kriegen wir dann auch Krach. Weil er dann echt gereizt ist.
Erzählerin:
Trotz alledem verstehen sich die Tierfotografin und ihr Partner sehr gut, sogar so gut, dass sie sich zusammen ein altes, renovierungsbedürftiges Haus gekauft haben. Dort gibt es klare Regeln. Die wichtigste: Chris hat sein eigenes Zimmer, zu dem Malinois Ingo keinen Zutritt hat. Doch es kam der Tag, an dem der Hund die Tür irgendwie aufbekommen haben muss.
O-Ton 23 Tanja Brandt (0‘22“):
Er hat dahingepullert, an das Sofa. Das würde der nie machen normalerweise. Das ist so Protest bei ihm einfach. Die Aktion die hab ich gar nicht mitbekommen. Weil ich ja geschlafen hab. Die hat mir der Chris ja wutentbrannt am nächsten Morgen erst erzählt. (…) und wenn ich um die Ecke komme, dann liegt der Ingo natürlich irgendwo in seinem Körbchen und guckt ganz unschuldig!
Musik: Cute rodent (reduced) 0‘10
Erzählerin:
Mit den Greifvögeln kommt Chris gut klar. Mit dem zweiten Hund, dem Wolfshund Dio auch. Dio verehrt Chris und folgt ihm überall hin. Wenn da nur nicht seine gefühlt Millionen einzelner Haare wären, die wirklich überall rumfliegen. Das Hundehaar-Drama beginnt bereits morgens im Bett, beim Aufstehen:
O-Ton 24 Tanja Brandt (0‘23“):
Ja, der hat so zarte Füße! Der Chris hat ganz zarte Füße tatsächlich! Und er geht auch so aus diesem Bett raus: Er schwingt die Füße so seitlich und hält die nach oben. Und dann hat er die Socken parat liegen und die Schuhe, und dann schlüpft der da rein in die Socken und in die Schuhe. Und wenn das sein muss, dann wird dann noch abgefusselt. Damit er ja nicht mit den Füßen auf diesen Boden muss, wo vielleicht Hundehaare sind oder so. Also er läuft hier nicht mit Socken rum. Auf gar keinen Fall.
Sprecher:
Zusammenleben mit Haustieren: Das kann ein Traum sein – vor allem, wenn sich beide bestenfalls gemeinsam ein Tier ausgesucht haben. Und es kann zum Albtraum werden. Wenn es ein eingespieltes Mensch-Tier-Team gibt, eine tiefe Bindung, viel Liebe – und oft auch viele Konflikte. Denn die Intensität dieser besonderen Bindung ist nicht zu unterschätzen:
Musik: Sad clown in the rain 0‘48
einbetten:
Sprecher:
Wenn sie krank sind, kommen wir um vor Sorge. Wenn sie ihren letzten Atemzug machen, dann ist es, als ginge die Welt unter. Auch wenn die Trauer anders ist: In der Tiefe ähnelt sie dem Verlust eines geliebten Menschen, so die Psychologin Andrea Beetz:
O-Ton 25 Andrea Beetz (0‘19“):
Vor allem wenn wir ein Tier verlieren, im Sinne von es stirbt, dann merken ganz viele, wie eng und wie wichtig dieses Tier ihnen war, und heute wird das viel mehr zugegeben. Das ist heute viel akzeptierter, wenn Sie sagen „ich trauere“. Das war vor 20, 30 Jahren noch nicht so sehr der Fall. Jede dieser Beziehungen ist einzigartig.
Musik weg
Sprecher:
So einzigartig, dass manch ein Tierhalter behauptet: Tiere seien die besseren Menschen. Ja, eigentlich mehr noch: Die idealen Partner: Sie sind treu, immer da, enttäuschen nie. Das Tier als Partnerersatz anzusehen, so Paartherapeut Eric Hegmann, sei jedoch ein Trugschluss:
O-Ton 26 Eric Hegmann (0‘24“):
Wo gesagt wird „Die bedingungslose Liebe, die ich von meinem Haustier erlebe, die erlebe ich niemals mit einem Menschen. (…) ‚Bedingungslose Liebe‘, das ist ein spannender Gedanke. Der kommt aber auch mit der Frage: Steht vielleicht bedingungslose Liebe für dieses tiefe menschliche Bedürfnis nach Sicherheit in der Liebe? Aber bedingungslose Liebe von Tieren hat in der Realität auch ganz viel mit Abhängigkeit zu tun.
Musik: Healing process 0‘31
Sprecher:
Die fast kindliche Sehnsucht nach der bedingungslosen Liebe, nach der totalen Akzeptanz. In erwachsenen, ebenbürtigen Beziehungen kaum zu finden. All diese Sehnsüchte in das Tier zu projizieren und es zum Partnerersatz zu machen, mag verlockend sein. Doch die Konflikte sind dann vorprogrammiert. Und wie löst man die?
Erzählerin:
Paartherapeut Eric Hegmann sagt: Mit Mut. Und Offenheit. Und der Bereitschaft, über die wirklich relevanten Fragen zu sprechen:
O-Ton 28 Eric Hegmann (0‘37“):
Das Thema Haustier, das steht natürlich noch für ganz andere Sachen: für Selbstwert. Für meine Vorstellung von Beziehungs-Dynamik. Für meinen Wunsch nach Aufmerksamkeit. Für meinen Wert, wie viel gemeinsame Zeit ich mit meiner Partnerin, mit meinem Partner verbringen möchte. Das sind letztlich die Gesprächsangebote, die Partner einander machen können und sollten, wenn es um Konflikte geht. „Erzähl mir mehr, warum dir das so wichtig ist. Ich erleb das anders. Ich erleb das bedrohlich. Ich erlebe da Schmerzen.“
Erzählerin:
Und: Konflikte über Haustiere sind manchmal nur stellvertretend für tieferliegende Partnerschafts-Themen:
O-Ton 29 Eric Hegmann (0‘28“):
Das kommt daher, weil eben das Haustier zum Teil einer Beziehungsdynamik werden kann, wenn beide Partner es lassen. Es ist nicht das Haustier. Das wird schnell zum Gegner. Sondern wie gehen wir damit um, dass ich dieses Bedürfnis, das ich habe: morgens in den Arm genommen zu werden, dass ich das nicht bekomme von dir. Und stattdessen sehe ich: Das bekommt der Hund! Wie gehen wir damit um?
Sprecher:
Sich diesen Konflikten zu stellen, kann bereichernd für die Beziehung sein, so Eric Hegmann.
Musik: Good results 0‘19
darin einbetten
Erzählerin:
Tierfotografin Tanja Brandt, ihr Freund Chris und ihre vielen Tiere haben sich nach all den Jahren irgendwie arrangiert. Eine Art Burgfrieden geschlossen. Weitgehend.
O-Ton 31 Tanja Brandt (0‘14“):
Also sie versuchen sich zu akzeptieren. Der Ingo weniger, aber der Chris versucht ihn zu akzeptieren. Also der Chris weiß halt, dass mein Hund mir wichtig ist. Und der weiß auch, wie viel ich mit ihm erlebt habe. Und klar: Der würde natürlich nie sagen „Dieser Hund muss weg!“
Erzählerin:
Natürlich wäre es perfekt, wenn Chris die Hunde und die Vögel genauso lieben würde, wie Tanja Brandt es tut. Aber was ist schon perfekt?
O-Ton 32 Tanja Brandt (0‘16“):
Wir haben wirklich gemeinsam sehr viel zu lachen, sehr viel Humor, ich mach ihm auch schon viel Geschenke und Überraschungen und koch für ihn, ich mach schon viel für ihn. Ich versuche schon, ihm viel angenehm zu machen. Ich weiß das auch total zu schätzen. Und ich versuche, ihm das schon zurückzugeben!
Musik: Feeling good 0‘23
Sprecher:
Bei allen Eifersüchteleien, Revierkämpfen, Machtspielchen, die in einer Mensch-Tier WG entstehen können, darf eins nicht vergessen werden: Das Zusammenleben mit Tieren kann auch eine ganz große Bereicherung sein und sich positiv auf die Beziehungsqualität auswirken:
O-Ton 33 Silke Wechsung (0‘31“)
Da ist das Tier sogar eher Beziehungskatalysator, weil man ja, wenn beide Beziehungspartner tierlieb sind und da Spaß haben, natürlich auch ein gemeinsames Hobby haben, gemeinsamen Gesprächsstoff haben, letztlich ein Tier haben, für das sie gemeinsam sorgen können, mit dem sich gemeinsam beschäftigen können. Also das heißt, das gibt es sehr, sehr oft, dass Tiere eher beziehungsförderlich sind. Voraussetzung ist aber: Beide haben Spaß daran.
Erzählerin:
Und wer weiß: Vielleicht entdecken Chris und Hund Ingo ja eines Tages ihre Liebe füreinander. Nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen…
Musik: Cute rodent (reduced) 0‘30
O-Ton 34 Eric Hegmann (0‘27“):
Und da habe ich die Erfahrung gemacht: Wenn das Paar eine gute Lösung gefunden hat, mit der beide Partner zufrieden sind, dann geht es auch dem Tier besser, weil es nicht zum Spielball wird zwischen den Partnern. Dann wäre mein Ratschlag: Versuchen Sie, einen guten Weg zu finden, wie Sie beide glücklich werden mit dem Tier, dann wird auch das Tier glücklich sein!
Fahrradfahren macht mobil - und damit frei. Das passte Ende des 19. Jahrhunderts nicht zum Bild der passiven, schwachen Frau. Mediziner diskutierten Folgen für die Gebärfähigkeit, Gesellschaft und Kleiderordnung machten die ersten Touren von Pionierinnen zu Spießroutenfahrten. Von Axinja Weyrauch
Credits
Autorin dieser Folge: Axinja Weyrauch
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Hemma Michel, Peter Weiß, Katja Schild
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Dörte Florack, HistorikerinNoch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
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Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin
Angeline hat nie Fahrradfahren gelernt. Nun sitzt sie auf einem Fahrrad, Trainerin Jess hält sie hinten am Gepäckträger fest.
Zsp A Angeline und Jess
„nach vorne nach vorne“
Sprecherin
Angeline schiebt an, findet die Balance, tritt in die Pedale
Und irgendwann, lässt Trainerin Jess einfach los.
Zsp A Angeline und Jess
„sehr schön, immer nach vorne, und dann Bremsen
„Das hast du alleine gemacht“
– Jubel!“ Freude, Kindergarten here I come“
Musik 1
"Los mundos sutiles (Part II)" - Album: Los mundos sutiles - Komponist und Ausführender: Pascal Gaigne - Zeit: 0'26
Sprecherin
Die junge Frau aus Kenia ist gerade das erste Mal in ihrem Leben Fahrrad gefahren. Sie macht zusammen mit anderen Frauen mit Migrationsgeschichte einen Fahrradkurs auf der Theresienwiese in München. Jess ist die Trainerin der Organisation Juno, die den Kurs anbietet.
OTON B Jess
In Deutschland das Fahrrad spielt eine große Rolle, viele lernen als kleine Kinder. So viele Deutsche fühlen sich wohl beim Fahrradfahren. Aber als Migranten… es gibt verschiedene Mobilitätskulturen in verschiedenen Ländern. Und auch für Frauen insbesondere, in vielen Ländern ist Fahrradfahren nicht selbstverständlich oder es ist tabu oder sogar verboten. Und hier darf man das als Frau, ich glaube, es gibt mentale Barrieren als auch psychische, weil das ist als Erwachsene noch schwieriger.
Sprecherin
Abeer zum Beispiel kommt aus dem Irak.
Zsp C Abeer
Bei unserer Heimat wir haben nicht Fahrradfahren gelernt, weil einfach es ist keine Fahrrad. Oder viele Familien darf nicht die Mädchen Fahrradfahren oder so. Aber meine Kinder und auch mein Mann alles kann fahren. Und ich will auch mitfahren.“
Sprecherin
Das Fahrrad bietet Freizeitwert – ein Erlebnis. Aber auch mehr Möglichkeiten im Alltag.
Zsp D Abeer
Zum Schule abholen, mit Fahrrad ganz schnell. Zu Fuß ich brauche halbe Stunde, 20 Minuten.
Sprecherin
Etwas, was den meisten hierzulande recht banal vorzukommen scheint – mal eben schnell mit dem Radl zum Bäcker oder das Kind abholen – bedeutet für diese Frauen eine ganz neue Freiheit.
Musik 2
"Is she dead?" - Komponist: Alexandre Desplat - Album: Tamara Drewe (Original Soundtrack) - Länge: 0'28
Sprecherin
Diese Freiheit auf zwei Rädern gibt es etwa seit Ende des 19. Jahrhunderts – in dieser Zeit verbreiten sich die ersten Modelle langsam in der Gesellschaft. Wer sich die damalige Gesellschaft anschaut, wundert sich wahrscheinlich nicht, dass die erste Laufmaschine, später das Veloziped, das Hochrad und auch das erste Niederrad – alles Erfindungen auf dem Weg zum heute bekannten Fahrrad – nicht für Frauen gemacht sind.
ZSP OT 01 Florack
Als das Fahrrad auf die Welt kam, war es männlich.
Sprecherin
Die Historikerin Dörte Florack hat ein Buch über die Anfänge des Frauenradfahrens im Deutschen Reich geschrieben. Das war kurz vor der Jahrhundertwende. Alle ersten Modelle …
ZSP OT 02 Florack
sind entwickelt worden für Männer. In ihrem üblichen, wie darf man sich verhalten und wie darf man sich kleiden und wie kann ich so ein Sportgerät oder so ein Fortbewegungsmittel verwenden.
Sprecherin
Und das macht es für Frauen zunächst nicht so einfach. Das liegt zum einen an gesellschaftlichen Erwartungen an die Frau – aber zum anderen auch ganz praktisch: An ihrer Kleidung.
Musik 3
"Demonstration" - Album: Suffragette (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'58
Sprecherin
Mit einem langen Rock auf ein Fahrrad mit hoher Stange zu steigen, ist auch heute nicht besonders praktisch. Damals aber tragen Frauen nicht einfach Röcke, sondern mehrlagige, sehr weite Röcke – an ihnen hingen mehrere Quadratmeter Stoff. Damit auf ein Hochrad zu steigen, dessen Sattel sehr nah am riesigen Vorderrad ist – undenkbar.
Zitatorin Amalie Rother
Auf den Gedanken, die Kleidung der Maschine entsprechend anzupassen, das heißt, in Hosen zu fahren, wären damals selbst die Kühnsten unter uns nicht geraten.
Sprecherin
Schreibt Amalie Rother in einem Aufsatz 1897. Sie hat einen Frauen-Fahrradklub in Berlin gegründet.
Zitatorin Amalie Rother
In Berlin dürften meine Freundin Clara Beyer und ich die ersten Damen gewesen sein, die sich dem entsetzten Volke auf dem Rade zeigten, und zwar auf dem Dreirad. Das war 1890.
Sprecherin
Zwar beschreibt Amalie Rother es an der Stelle nicht eindeutig – vermutlich tragen die beiden aber lange Kleider und sind deswegen aufs Dreirad gestiegen, das funktioniert mit Rock besser. Trotzdem: Bei ihrer ersten Ausfahrt innerhalb Berlins sind sie eine Provokation.
Musik 4 :
"Lost" - Ausführende: Ben Salisbury & Geoff Barrow- Album: Civil War (Original Score) - Länge: 0'41
Zitatorin Amalie Rother
„Sofort sammelten sich hunderte von Menschen, eine Herde von Strassenjungen schickte sich zum Mitrennen an, Bemerkungen liebenswürdigster Art fielen in Haufen, kurz, die Sache war das reinste Spiessrutenlaufen, so dass man sich immer wieder fragte, ob das Radfahren denn wirklich alle die Scheusslichkeiten aufwöge, denen man ausgesetzt war.“
Sprecherin
Und weiter schreibt sie:
Zitatorin Amalie Rother
„Alles Verweisen auf Reiterinnen, Schlittschuhläuferinnen half nichts, Radfahren war und blieb "unweiblich". Einen vernünftigen Grund, warum, konnte natürlich niemand angeben.“
ZSP 3 OT Florack
„Es gab die Vorstellung einer Geschlechterverschiedenheit und einer Geschlechterhierarchie. Und zur Verschiedenheit gehörte, dass Männern und Frauen verschiedene Sphären zugeschrieben waren.“
Sprecherin
Als das Fahrrad sich in bürgerlichen Kreisen verbreitet, herrschen klare Rollenvorstellungen.
Zsp 4 OT Florack
„Dem Mann war die Kultur zugeschrieben, die Erwerbsarbeit, er galt als aktiv, ihm war Kraft zugeschrieben. Während der Frau umgekehrt die Natur, die Hausarbeit, sie galt als passiv und Schwäche zugeschrieben war. Dazu passte es natürlich gar nicht, sich auf ein Fortbewegungsmittel zu setzen, das ja irgendwie auch Sportgerät war.“
Musik 5:
"Demonstration" - Album: Suffragette (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'17
Sprecherin
Das Fahrrad verbreitet sich zunächst nur in den sozial besser gestellten Kreisen. Es ist eine spannende Zeit: Zwar sind die Rollenbilder extrem starr, doch erste Frauenrechtlerinnen hinterfragen das gesellschaftliche Korsett, in dem sie sich bewegen.
MUSIK 6
"Biggest Shagging" - Komponist: Alexandre Desplat - Album: Tamara Drewe (Original Soundtrack) - Länge: 1'09
Sprecherin
Dazu gehört in den USA beispielsweise Caroline, mit Künstlernamen Elsa von Blumen. Sie steigt mit Hosen aufs Hochrad – in einer Zeit, in der Sport für die allermeisten Frauen kein Thema war. Sie beginnt ihre Karriere als Läuferin um ihr Kränkeln zu bekämpfen. Mit dem Hochrad tritt sie zu Wettbewerben an: Zum Jahreswechsel 1885 auf 1886 sind zwei Männer ihre Gegner - die aber als Team fahren und sich so immer abwechseln. Elsa von Blumen fährt 590 Kilometer in 51 Stunden – und gewinnt. Über die Jahre nimmt sie an vielen Wettbewerben teil und stößt auf gemischte Reaktionen. Die Lokalpresse feiert sie oft – aber immer wieder rennen ihr Männer hinterher, sie stürzt mehrere Male. Bei einem Rennen wirft ihr ein Mann einen Stock zwischen die Speichen. Trotzdem wird sie Zweite.
In einem Interview sagt Elsa von Blumen:
Zitatorin Elsa von Blumen
„Indem ich mit meinen Bicycle-Übungen vor Publikum auftrete, biete ich meinem Verständnis nach nicht bloß die aktuell modernste und faszinierendste Unterhaltung, sondern demonstriere auch den großen Bedarf nach Körperkultur und Körpertraining, besonders der jungen amerikanischen Damen.“
Sprecherin
Die meisten bürgerlichen Frauen trauen sich nicht sofort, einfach Hosen zu tragen. Durch das Fahrrad wird eine Entwicklung losgetreten, die den langen Rock zumindest etwas praktischer macht – etwas kürzer, etwas weniger weit geschnitten, manche Frauen nähen sich Ziehbänder in den Rock. Und denken sich ganz neue Modelle aus.
ZSP 5 OT Florack
„Dann gibt es den Rock mit Unterbeinkleidern. Also eine Art Pumphose drunter, das hatte schon die Gefahr, dass sich die Oberschenkel abzeichneten. Dann gab es sowas wie Hosenröcke, sehr weit in den Beinen, da war die Gefahr, dass man den Schritt sehen konnte, sodass mitunter vorne ein Tuch drüber gespannt wurde, damit das eben nicht geschah.“
Sprecherin
In Deutschland gibt es in den 1890er Jahren zwei Fahrradzeitschriften speziell für Frauen. In „Der Radlerin“ und der „Draisena“ werden verschiedene modische Möglichkeiten diskutiert, das Radgewand praktisch zu gestalten, aber trotzdem noch den Konventionen zu entsprechen.
Eine Idee waren „Verwandlungskostüme“. Beispielsweise eine Pumphose, die mit extra Stoff und Knöpfen schnell zu einem Rock umfunktioniert werden kann.
Pumphosen ohne alle Rock-Umbaumöglichkeit sind die gewagteste Form, mit der sich nach und nach Frauen aufs Fahrrad trauen.
Neu erfinden müssen sie sie nicht – etwa vier Jahrzehnte vorher schon sind sie Thema in der US-amerikanischen Frauenbewegung. Dort werden sie Bloomers genannt - der Name geht auf die US-amerikanische Frauenrechtlerin Amelia Jenks Bloomer zurück.
Sie setzt sich dafür ein, den Dresscode für Frauen zu lockern und praktischer zu gestalten. Eine Entwicklung, die auch in den USA nicht jedem gefällt.
Musik 7
"Subliminal" - Album: Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführende: Pascal Gaigne - Länge: 0'35
Sprecherin
Allein die Angst davor, dass Lehrerinnen demnächst den langen Rock gegen Hosen eintauschen könnten, treibt die örtliche Schulbehörde zuständig für Flushing auf Long Island in den USA dazu, drei Lehrerinnen das Fahrradfahren zur Schule zu verbieten. Ein Behördenmitarbeiter sagt laut eines Zeitungsartikels:
Musik 8
"Full Tense" - Album: Requiem for a Dream (Soundtrack from the Motion Picture) - Komponist: Clint Mansell - Länge: 0'44
Zitator Zeitungsartikel Behördenmitarbeiter
„Es ist nicht recht, dass Frauen das Fahrrad fahren. Sie tragen natürlicherweise Röcke, aber wenn wir sie jetzt nicht stoppen, dann wollen sie im Stil der New Yorker Frauen fahren und Bloomers tragen. Wie würden dann unsere Klassenzimmer aussehen, wenn die Lehrerinnen in Bloomers zwischen den Mädchen und Jungen umhergehen. Sie könnten ebenso gut Männerhosen tragen. Ich vermute, dass es so weit noch kommen wird, doch wir sind entschlossen, rechtzeitig unsere Lehrerinnen zu stoppen, bevor sie so weit gehen.“
Sprecherin
Doch einige Frauen gehen tatsächlich so weit, ziehen Bloomers an und trauen sich damit aufs Fahrrad. Aber viele von ihnen ziehen sich nach dem Radeln direkt wieder um. Das heißt, das Fahrrad schafft etwas, was dem Pferd mit seinem Damensattel nicht gelang: Zumindest zeitweise tauschen manche Frauen öffentlich sichtbar Rock gegen Hose – aber die gesellschaftliche Konvention wird – vor allem in Deutschland - durch das Fahrrad nicht sofort gebrochen. Auch Amalie Rother, die Pionier-Radlerin aus Berlin, spricht sich gegen Hosen fernab vom Fahrrad aus.
Die Radlerinnen erkämpfen sich zwar das Fahrradfahren – aber nicht alle von ihnen wollen auch fernab der zwei Räder Konventionen brechen. Manche Frauen wollen wohl einfach die schöne Ausfahrt ins Grüne genießen und nicht gleichzeitig die Gesellschaft revolutionieren.
Die Modefrage ist in Sachen Rock außerdem nicht mehr so wichtig, als sich das Rad mit niedrigem Einstieg verbreitet.
Amalie Rother, die Berliner Fahrradpionierin aus Berlin schreibt darüber:
Zitatorin Amalie Rother
„Ich bin gewiss heute keine Freundin des eben so hässlichen, wie unpraktischen Damenrades, aber das steht fest: Ohne diese Maschine hätte das Damenfahren nie den jetzigen Aufschwung genommen, die besseren Kreise hätten sich viel schwerer zum Fahren entschlossen“.
Sprecherin
Aber es gibt noch ein anderes Kleidungsstück, dem manche Radlerinnen den Kampf ansagen – auch Amalie Rother:
Zitatorin Amalie Rother
„Das erste, was unbedingt in die Rumpelkammer muss, ist das Korsett. Tiefes, lebhaftes Atmen, wie es das Radfahren verlangt, kann nur geschehen bei voller Ausdehnung des Brustkorbes.“
Sprecherin
Im 19. Jahrhundert gilt die Wespentaille als Schönheitsideal. Vor allem wohlhabendere Frauen greifen zu dem Kleidungsstück mit eingenähten Drähten, was so eine aufrechte Haltung erzwingt.
Nicht einfach, damit Fahrrad zu fahren.
Der neue Sport entfacht eine Diskussion über das Korsett, die es teilweise schon gab. Manche Mediziner warnen schon länger vor Konsequenzen für die Organe, die Atmung und die Rippen. Als Alternative wird das Reformkorsett empfohlen, etwas weiter geschnitten und dehnbar, oder Büstenhalter.
Laut Historikerin Dörte Florack wird die Diskussion um das Korsett vor allem von Medizinern geführt. Dabei geht es zum einen um gesundheitliche Aspekte – aber manche Ärzte kommentieren auch die Ästhetik, beispielsweise, dass auch das Reformkorsett selbst „starken Frauen“ eine hübsche Figur verleihen solle.
ZSP 6 OT Florack
„Die Mediziner haben die Priester abgelöst als Hauptkommentatoren gesellschaftlicher Entwicklungen. Somit hatten sie Gewicht.“
Sprecherin
Und als Hauptkommentatoren haben sie noch ganz anderes beizutragen als nur zum Korsett. Zum Beispiel die Frage, ob lange Touren nicht schädlich für das „schwache Geschlecht“ seien.
OT Florack
„Ich hatte vielmals nicht das Gefühl, dass Frauen, dass Radlerinnen überhaupt befragt wurden – sondern es wurde halt über sie geschrieben.“
Sprecherin
Gewarnt wird vor Haltungs- und Organschäden – das gilt auch für Männer. Insgesamt hält man die Frau aber für weniger leistungsfähig. Ein Arzt empfiehlt allgemein für „Vergnügungstouren“ nicht mehr als 50 Kilometer – die gesunde Jugend könne sich aber auch an das Doppelte heranwagen. Für Frauen schränkt er die Richtwerte aber um ein Viertel ein.
Außerdem Gegenstand von Diskussionen – der Unterleib der Frau. Neben der Warnung, das Fahrradfahren könne der Fruchtbarkeit schaden, wird eine These besonders oft zitiert und diskutiert:
1896 schreibt der Arzt Martin Mendelsohn in „Der Einfluß des Radfahrens auf den menschlichen Organismus:
Musik 9/10
"Full Tense" - Album: Requiem for a Dream (Soundtrack from the Motion Picture) - Komponist: Clint Mansell - Länge: 0'41
"Subliminal" - Album: Lasa & Zabala (Original Motion Picture Soundtrack) - Komponist und Ausführende: Pascal Gaigne - Länge: 0'41
Zitator Mendelsohn
„Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass, wenn die betreffenden Individuen es wollen, kaum eine Gelegenheit zu vielfacher und unauffälliger Masturbation so geeignet ist, wie sie beim Radfahren sich darbietet. Wenn man, was vorgekommen ist, ganz absieht von denjenigen Fällen, in denen der Sattel auf ganz besonderer Absicht mit einem nach oben gekrümmten Vordertheile versehen wurde, so bietet auch sonst der Sitz, rittlings mit ausgespreizten Schenkeln, ausreichende Möglichkeit, solchem Hange nachzugeben.“
Sprecherin
Da Mendelssohn hinzufügt, dass auch Männer ihre Fahrt wegen ständiger Erektionen oft unterbrechen müssen, scheint recht offensichtlich, dass er seine Abhandlung nicht empirisch belegen kann.
Zwar will er das Fahrradfahren nicht ganz verbieten, weil er durchaus auch gesundheitlichen Nutzen sieht. Aber seine These wird vor allem von Kritikern des Radfahrens als Argument genutzt. Einer schreibt, dass Frauen und Mädchen das Radfahren zu „verbotenen Zwecken“ nützten und das Frauenradfahren etwas Unsittliches sei.
Wie sich eine Radlerin benehmen soll – und vor allem, in welcher Gesellschaft sie fahren durfte, ist immer wieder Thema in Zeitschriften und Büchern.
Wenn eine Frau mit Männern unterwegs ist, sollte sie zum Beispiel in der Mitte fahren, damit die Herren die Dame „vor Blicken und sonstigen Gefahren“ schützen können. Um mit nur einem Mann zu fahren, muss es schon ein naher Verwandter oder nahestehender Freund zu sein, der laut einem Text in der Draisena als „ihr Beschützer und Wächter“ schräg versetzt knapp hinter der Frau fahren soll.
Ein besonderes Modell stellt besonders herausfordernde Fragen: Das Tandem. Wer sitzt vorne, wer sitzt hinten?
ZSP 7 OT Florack
„Hier widerspricht sich nämlich einerseits, dass natürlich die Frau vorne zu sitzen hat, weil der Mann ihr doch nicht den Rücken zuwenden darf und sie natürlich den Blick auf die Landschaft haben soll. Und auf der anderen Seite natürlich der Mann derjenige sein muss, der steuert.“
MUSIK 11
"Is she dead?" - Komponist: Alexandre Desplat - Album: Tamara Drewe (Original Soundtrack) - Länge: 0'45
Sprecherin
Alle Bedenken von Ärzten, Modevorschriften oder gesellschaftliche Erwartungen können Frauen über kurz oder lang aber nicht aufhalten, auf Fahrräder zu steigen.
Zitatorin Susan B. Anthony
„Ich denke, es hat mehr für die Emanzipation der Frauen getan als irgendetwas anderes auf der Welt.“
Sprecherin
Sagt die amerikanische Frauenrechtlerin Susan B: Anthony schon 1896 in einem Interview
Zitatorin Susan B. Anthony
„Ich freue mich jedes Mal, wenn ich eine Frau auf einem Fahrrad sehe. Es gibt Frauen ein Gefühl von Freiheit und Selbstvertrauen."
ZSP 10 OT Florack
„Es wird individuell sehr zur Emanzipation beigetragen hatte, weil sie auf einmal einen ganz anderen Bewegungsradius hatte. Sie konnten beim Sport ihre Kleidung anders gestalten, sie konnten raus in die Natur, sie konnten sich leichter mit Freundinnen treffen. Es wurde manches aufgebrochen. Und ich glaube schon oder bin überzeugt, dass es für manche Frauen durchaus stärkend war.“
Sprecherin
Allerdings sagt die Historikerin auch, dass nicht jede Fahrradfahrende Frau im Deutschen Kaiserreich ihr Tun gleich als politisches, feministisches Statement versteht.
ZSP 11 OT Florack
„Man darf sich jetzt aber keine kämpferische Klientel vorstellen, jedenfalls nicht so, wie es aus den Quellen nachvollziehbar ist. Es gab extra Frauenradzeitschriften, da wurde manches diskutiert, da wurden die medizinischen Auseinandersetzungen und so weiter reflektiert, es wurde auch mal gesagt – in meinen Worten – das ist ja Quatsch. Aber es wird nicht verbunden mit einem: So jetzt müssen wir heraustreten aus dem, was uns als Zwängen auferlegt ist als bürgerliche Frauen.“
Sprecherin
In Deutschland ist das Fahrrad also nicht Symbol und Mittel einer Frauenrechtsbewegung geworden. Anders ist das in Großbritannien.
Alice Hawkins aus Leicester arbeitet um 1900 herum in einer Fabrik – und setzt sich dafür ein, dass Frauen die gleiche Bezahlung erhalten sollen wie Männer. Und: Das Wahlrecht.
Sie gründet den Ableger der WSPU in Leicester – also der Women’s Social and Political Union – besser bekannt als Suffragetten. Um ihre Ideen auch in umliegenden Ortschaften zu verbreiten und sich mit Gleichgesinnten zu treffen, benutzt sie: das Fahrrad. So legt sie Strecken zurück, die zu Fuß nicht möglich gewesen wären.
1907 gründet Flora Drummond die WSPU Cycling Scouts. Jeden Samstag trifft sich die Gruppe auf einem Platz in London und fährt los, auch aus der Stadt raus, um ihre Ideen zu verbreiten.
Dabei tragen die Frauen lila, weiß und grün – die Farben der Suffragetten und Flaggen der Women’s and Social Political Union flattern am Fahrrad.
Nach teils militanten Aktionen ist das Fahrrad auch oft das Mittel zur Flucht – manche Frauen schaffen es so, dem Gefängnis zu entkommen.
Auf Fotos der britischen Suffragetten sieht man sie oft mit Fahrrädern. Manchmal ist das Fahrrad beiläufig dabei, manchmal posieren die Frauen damit.
Das Rad ist damals das einfachste, schnellste und unabhängigste Fortbewegungsmittel für die Frauen. Arbeiterinnen sind in ihrer knapp bemessenen Freizeit sonst zu Fuß unterwegs, Frauen der oberen Schichten verbringen viel ihrer Zeit in Innenräumen oder werden in Kutschen umhergefahren.
Das Beispiel der Suffragetten zeigt, wie wichtig eine unabhängige, schnellere Mobilität für politische Arbeit ist, um sich überhaupt austauschen und vernetzen zu können.
Musik 12
"Los mundos sutiles (Part II)" - Album: Los mundos sutiles - Komponist und Ausführender: Pascal Gaigne - Zeit: 0'29
Sprecherin
Wie sehr das Fahrradfahren emanzipiert, ist auch schon nach wenigen Tagen beim Kurs für Frauen mit Migrationsgeschichte auf der Theresienwiese spürbar. Mittlerweile drehen fast alle Frauen schon sicher ihre Runden auf der riesigen Fläche.
Abeer aus dem Irak ist nicht mehr zu bremsen.
Zsp E Abeer
„Es ist ein sehr schönes Gefühl, dass ich kann Fahrradfahren. Ich fühle mich wie fliegen, wie Vogel“
Sprecherin
Für Angeline aus Kenia bedeutet es
Zsp F Angeline
„Freedom, you feel the air, coming to your face, it is really nice. I think this week we can go have a look for a bike for me“
Sprecherin OV:
Freiheit, man fühlt die Luft im Gesicht, es ist toll. Ich denke nächste Woche können wir nach einem Fahrrad für mich schauen.
Sprecherin
Was sagen die Frauen hier zu dem Satz der Frauenrechtlerin Susan B. Anthony, das Fahrrad hätte mehr für die Emanzipation der Frau getan als irgendetwas anderes auf der Welt?
Zsp G Angeline:
„Yeah Yeah, true, it really opens up. Because imagine I take my son from school, I need 15 Minutes, so it is 30 minutes… in 30 minutes I
can do a lot oft hings. You get more time to do things that matter.“
Sprecherin OV
Ja, das ist wahr, es gibt mehr Möglichkeiten. Wenn ich meinen Sohn zur Schule bringe, brauche ich 15 Minuten, also 30 insgesamt. In 30 Minuten kann ich so viel tun – man bekommt mehr Zeit um wichtige Dinge zu tun.“
Musik 13
"Los mundos sutiles (Part II)" - Album: Los mundos sutiles - Komponist und Ausführender: Pascal Gaigne - Zeit: 0'30
Zsp H Ayyah:
„Ich dachte, ich könnte nicht Fahrradfahren, weil man das als Kind lernen muss. Aber besonders in Arabische Kultur, ist nicht normal das viele Leute Fahrradfahren. Aber jetzt danach, ich hab das Gefühl, ich könnte alles machen.“
Otl Aicher war einer der wichtigsten deutschen Gestalter des 20. Jahrhunderts. Mit seinen Schriften, Plakaten, Logos und dem visuellen Konzept für die Olympischen Spiele 1972 in München prägte er das Erscheinungsbild der Bundesrepublik. Äußere Form und innere Haltung gehörten dabei immer zusammen. Von Julie Metzdorf (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Beate Himmelstoß
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Wilhelm von Ockham – Scharfsinniger Streiter für die Wahrheit
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Die BR KulturBühne hat einen interessanten Beitrag mit einer faszinierenden Bildergalerie zum Designer:
Otl Aicher - "ES BLEIBT SEINE ENORME LEISTUNG ALS DESIGNER"
ZUM ARTIKEL
Außerdem empfehlen wir folgende Aufsatzsammlung:
Otl Aicher: analog und digital. Verlag Ernst & Sohn, Berlin 1991.
Weiterführende Literatur:
Eva Moser: Otl Aicher: Gestalter. Eine Biografie. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2011
Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker. Prachtband mit 250 Abbildungen, hrsg. von Winfried Nerdinger und Wilhelm Vossenkuhl, Prestel 2022.
Otl Aicher - Die Regenbogenspiele. Das visuelle Erscheinungsbild der XX. Olympischen Spiele München 1972. Katalog zur Ausstellung in Ulm und Isny 2012.
Otl Aicher: Die Küche zum Kochen. Callwey 1982.
Otl Aicher: innenseiten des kriegs. S. Fischer 1985.
Otl Aicher: typographie, Ernst & Sohn 1989.
Otl Aicher: analog und digital. Ernst & Sohn 1991.
Otl Aicher: die welt als entwurf, Ernst & Sohn 1991.
Die Schweizer Autorin Adelheid Duvanel (1936 - 1996) widmet sich in ihren oft bizarren Texten verkrachten oder gefährdeten Existenzen. Sie gibt Trinkern, Drogensüchtigen, behinderten Menschen, einsamen Männern und verprügelten Frauen, kurz: all den Gestalten am Rand einer Gesellschaft ein ganz besonderes Gesicht. Von Justina Schreiber (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprach: Beate Himmelstoß
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Elsbeth Dangel-Pelloquin, Literaturwissenschaftlerin, und Friederike Kretzen, Schriftstellerin
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Ob am Schreibtisch, im Bus, beim Essen oder im Kino: Wir verbringen den größten Teil unserer Tage im Sitzen. Und wie man sitzt, so wird man gesehen! Von Julie Metzdorf (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Sie gehören zu den eindrucksvollsten und gefährlichsten Naturschauspielen - Blitze. Ihre Gesamtzahl nimmt durch die Klimaerwärmung weltweit zu. Warum ist das so und warum blitzt es in manchen Regionen weniger? Von Roana Brogsitter (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Roana Brogsitter
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Katja Amberger, Frank Manhold, Johannes Hitzelberger
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Richard Fellner (CEO nowcast GmbH München);
Robert Holzworth (Professor; Washington Universität Seattle und Direktor World Wide Lightning Location Network);
Colin Price (Professor; Universität Tel Aviv);
Georg Pistotnik (Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik Abteilung für Klimaforschung)
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1971 ist eine Art Gründungsjahr der Umweltpolitik in Deutschland, doch im Osten wird der Elan schnell gebremst. Im Westen treiben Umweltverschmutzung und wissenschaftliche Erkenntnisse die Umweltpolitik voran. Der Klimawandel bringt neue Herausforderungen: Politik für künftige Generationen. Von Renate Ell (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Ell
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Carsten Fabian
Technik: Christine Frey
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Martin Jänicke (Professor em. Dr., Freie Universität Berlin)
Tobias Huff (Dr. an der Universität Mainz (Dissertation zur Umweltpolitik der DDR))
Kai Hünemörder (Dr. ELBCAMPUS (Dissertation zur frühen Umweltpolitik der Bundesrepublik))
Willy Brandt (Kanzlerkandidat 1961)
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Werbung und Produktpräsentation im Supermarkt nutzen den Priming- Effekt schon lange: Durch äußere Reize wird unser Gehirn und daraufhin unser Verhalten beeinflusst. Die Eiswerbung im Kino ist nur ein Beispiel dafür. Wir alle werden viel öfter vor - beeinflusst als wir glauben. Von Daniela Remus
Credits
Autorin und Sprecherin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Christiane Klenz
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Hans-Peter Erb, Sozialpsychologe, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
Prof. Andreas Glöckner, Sozialpsychologe, Universität Köln
Dr. Katrin Rothmaler, Sozialpsychologin, Universität Leipzig
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Kennen Sie das? Sie stehen in einem Mode-Laden und überall hängen rote Preisschilder. Dazu die Plakate: „Nur noch heute, super Rabatt Aktion!” Irgendwie fühle ich mich davon angezogen, fast jedes Mal, ich kann es auch nicht richtig erklären. Ich gehe hinein und gucke durch die Regale und Kleiderständer, ganz unverbindlich, denke ich wenigstens. „Kann das sein, kostet der Pulli jetzt wirklich nur noch die Hälfte? Und diese sommerlich gemusterte Bluse aus Leinen, die ist ja auch noch heruntergesetzt, meine Güte, was für ein Schnäppchen..” Eine Verkäuferin kommt dazu, nickt und sagt, „da haben Sie aber Glück, dass die noch da ist. Eine ganz außerordentliche Qualität und das zu dem Preis. Nur noch heute.” Es ist schon später Nachmittag, ich muss also schnell sein, will ich mir das Schnäppchen sichern. Also kaufe ich!
MUSIK 2 De-Phazz – Nia en bun om 0’33)
ERZÄHLERIN
Zuhause bin ich irgendwie ernüchtert. „Eigentlich trage ich doch keine bunten Blusen, und Pullis habe ich auch schon genug. Ich ärgere mich über mich selbst: Warum falle ich immer wieder auf diese Rabattaktionen herein?” Warum kann ich mich nicht gegen das Gefühl wehren, das sei eine super Gelegenheit?
MUSIKENDE
ERZÄHLERIN
Mir ist schon klar, dass ich nicht die einzige Person bin, der das passiert, aber trotzdem wundert es mich. In anderen Situationen nehme ich mir doch auch die Zeit abzuwägen, sorgfältig zu entscheiden. Was führt zu meinem Verhalten? Lasse ich mich von den Rabatten beeinflussen? Mir fallen Berichte ein, dass Menschen, die im Kino eine Eiswerbung sehen, in der Pause häufiger Eis kaufen als ohne Eiswerbung. In der Psychologie heißt dieser Effekt Priming. Die Eiswerbung weckt bzw. stärkt das Bedürfnis ein Eis zu essen. Wirkt der etwa auch bei mir, der Priming Effekt, wenn ich bei einer Rabatt Aktion zuschlage? Um dieses Phänomen zu verstehen, habe ich recherchiert und mich mit Psychologinnen und Psychologen verabredet. Damit sie mir erklären könne, warum ich mich so verhalte und was das eigentlich ist, Priming.
TAKE 1 (O-Ton Erb) L: 0, 20
Priming ist ein Begriff aus der Gedächtnispsychologie ursprünglich und auf deutsch würde man vielleicht als Bahnung übersetzen. Es gibt alte Publikationen, wo das noch so genannt wird, aber heute haben wir diesen englischsprachigen Begriff.
MUSIK 3 De-Phazz – Mr. Minky 0’26)
ERZÄHLERIN
Erklärt der Sozialpsychologe Hans-Peter Erb, als ich ihn in seinem Büro in der Helmut-Schmidt Universität in Hamburg treffe. Er forscht seit vielen Jahren zu diesem Phänomen, weil es ihn fasziniert, wie das Gehirn äußere Einflüsse aufnimmt, verarbeitet und wie es darauf reagiert. Das klingt sehr theoretisch, ist es aber nicht, wie ich im Gespräch mit ihm erfahre.
TAKE 2 (O-Ton Erb) L: 0, 35
Das kann man sehr leicht demonstrieren. Wenn ich z.B. sage Butter, dann sagen Sie… D.R. Brot. E: Wunderbar es hat geklappt, ich hätte 10 Euro gewettet! Das klappt nicht immer, aber sehr häufig. Wenn man sagt, Werkzeug, dann kriegt man Hammer und wenn man Stuhl sagt kriegt man Tisch usw. Das bedeutet nichts anderes, als dass bestimmte Begriffe im Gedächtnis nah beieinander liegen …und wenn sie nah beieinander liegen, dann sind sie irgendwie verknüpft miteinander. Und wenn das eine aktiviert wird, dann wird das andere gleich mit aktiviert. So ist das bei Butter und Brot, bei Tisch und Stuhl.
MUSIK 4 De-Phazz – Mr. Minky 0’02)
ERZÄHLERIN
Priming ist also, nüchtern ausgedrückt, ein Reiz-Reaktions-Schema. Wir nehmen einen Reiz wahr, wie in meinem Fall eben das Wort Butter, und unser Gehirn hat sofort verwandte Begriffe dafür parat. Bei mir war es Brot, bei anderen Menschen kann es der Butterpreis sein. Mein Gehirn hat also auf den gegebenen Begriff mit einer dazu passenden Assoziation reagiert. Diese Verknüpfung wird aber nicht nur sprachlich durch Wörter oder Begriffe ausgelöst. Auch Geräusche, Gerüche, Bilder oder der Geschmack bestimmter Nahrungsmittel können Erinnerungen, Assoziationen oder Stimmungen auslösen, erklärt der Sozialpsychologe. Am eindrücklichsten beschrieben hat das der französische Schriftsteller Marcel Proust.
MUSIK 5 Snorri Hallgrimsson – Avant-dernières pensées: I. Idylle 0’42)
ERZÄHLERIN
In der weltberühmten Madeleine-Szene. Der Autor des Romans beschreibt, wie er ein Stück Madeleine, das in Tee getunkt ist, in den Mund nimmt und sich durch diesen Geschmack spontan in seine Kindheit zurückversetzt fühlt. Unwillkürlich steigen Erinnerungen in ihm auf und auch das wohlige Gefühl, das er damals in seiner Kindheit empfand, wenn er ein solches Gebäckstück aß.
MUSIKENDE
ERZÄHLERIN
Duft und Geschmack der Madeleine funktionieren in dem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit also als Priming Effekt. Die Madeleine weckt Erinnerungen, die damit verknüpft sind. Welche Assoziationen ein solcher Priming Effekt hervorruft, kann allerdings von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. Sie hängen von den Vorerfahrungen ab. Wenn ich beispielsweise klassische Musik höre, dann denke ich unwillkürlich an die Sonntage meiner Kindheit zurück. An diese ganz besondere Stimmung, wenn meine Eltern entspannt und ruhig im Wohnzimmer saßen, Musik hörten und einen Tee dazu tranken. Andere Menschen, die diese Erfahrung so nicht gemacht haben, denken bei klassischer Musik vielleicht eher an den Musikunterricht in der Schule.
MUSIK 6 John Lennon – Imagine 0’54)
ERZÄHLERIN
Und noch ein Beispiel: Bei Imagine von John Lennon fällt mir sofort die erste Party ein, die ich besuchen durfte. Mit 14, in der Turnhalle der Schule, mit Engtanz und ersten Verliebtheiten.
MUSIKENDE (Imagine)
ERZÄHLERIN
Ob Gerüche, Bilder, Geräusche, einzelne Satzfetzen oder Wörter, alles kann also ein sogenannter Prime sein. Ein Reiz, der mein Denken, meine Erinnerung und manchmal sogar mein Handeln beeinflusst.
TAKE 3 (O-Ton Erb) L: 0, 30
Im Grunde werden ja ständig irgendwelche Konzepte geprimt bei uns. Sie sehen hier ein Buch liegen, dann ruft das bei Ihnen etwas auf, was mit dem Buch verwandt ist, dagegen können Sie gar nichts tun. Jetzt könnte ich natürlich auch gemein sein und Ihnen bestimmte Primes geben, so nennt man diese Stimuli, mit deren Hilfe man andere aufrufen kann, Primes geben und dann erwarten, dass bei ihnen bestimmte Inhalte aufgerufen werden.
MUSIK 7 Henrik Schwarz – Gymnopédie No.3 0‘54)
ERZÄHLERIN
Im Alltag sind wir solchen Reizen durchgehend ausgesetzt, sagt Hans-Peter Erb. Ob wir mit anderen Menschen reden, ob wir Filme anschauen oder Nachrichten hören. Manche dieser Priming Effekte nehmen wir bewußt wahr, die meisten aber wohl nicht. Ein Prime, der mir schon lange bewußt ist: Ein Krankenwagen mit Sirene fährt laut an mir vorbei. Sofort denke ich darüber nach, wie krank oder schwer verletzt derjenige ist, der damit in ein Krankenhaus gebracht wird, ob die Zeit reichen wird, damit dieser Mensch gerettet werden kann. Diese Situation ist bestimmt schon X-Mal passiert, aber in meinem Kopf läuft trotzdem jedes Mal dasselbe Muster ab. All das sind Priming Effekte, sagt Hans-Peter Erb. Und die können sogar unsere Stimmung beeinflussen.
TAKE 4 (O-Ton Erb) L: 0,30
Könnte ihnen z.B. Urlaub sagen, dann denken Sie hoffentlich an einen schönen Urlaub zurück im letzten Sommer oder so. Dann könnte sich etwa Ihre Laune verändern, dass sie gut draufkommen, weil ich Urlaub gesagt haben. Sie können schlecht draufkommen, wenn ich sage, Wurzelbehandlung vielleicht? Da könnte ich damit auch Ihre Stimmung beeinflussen, das funktioniert.
ERZÄHLERIN
Um zu überprüfen, ob das stimmt, empfiehlt er mir, mich selbst zu beobachten und einzelne Situationen bewußt wahrzunehmen. Und so habe ich nach dem Besuch bei Hans-Peter Erb bemerkt, dass nicht nur ein Gespräch über den nächsten Urlaub meine Stimmung hebt, sondern auch das Lob meiner neuen Frisur oder der zufällige Blick auf Spielzeug, das meine Kinder bei ihrem Auszug bei uns gelassen haben. Dass alle Menschen durch Priming beeinflusst werden, konnte auch in psychologischen Testreihen und Untersuchungen festgestellt werden, erklärt Andreas Glöckner, Sozialpsychologe an der Universität Köln.
TAKE 5 (O-Ton Glöckner) L. 0, 25
Der Hintergrund dazu ist die Idee, dass das Gedächtnis nicht so funktioniert wie eine Bibliothek, also dass es so ist, man kann einzelnen Wissensinhalte rausziehen, wie ein Buch, sondern es funktioniert eher wie ein Netzwerk …Sie ziehen also an einem Ende des Netzes und viele Dinge, die damit zusammenhängen, folgen dann mit.
MUSIK 8 Manuel Scuzzo: Fliegen 0’53)
ERZÄHLERIN
Da das Gehirn wie ein Netzwerk funktioniert, kann es gar nicht anders, als bei einem Reiz, an ähnliche Begriffe oder Situationen zu denken. Seit ich mich für diese Sendung mit dem Priming Effekt beschäftige, fällt mir das im Alltag ständig auf: Egal was ich im Laufe eines Tages mache, ob ich dusche, aus dem Fenster gucke, arbeite, Interviews führe oder Fahrrad fahre, permanent werden meine Gedanken angestoßen, umher zu schweifen. Ob ich vom Regen naß werde, mit der Kollegin Mittag esse oder mich auf den Kinobesuch am Abend freue. Aber trotzdem merke ich nicht immer, wie und wovon meine Stimmung oder meine Gedanken angestoßen werden. Viele Impulse sind unterschwellig.
MUSIKENDE
ERZÄHLERIN
So ist es vermutlich auch den Studienteilnehmern gegangen, die an einem der berühmtesten Experimente zum Thema Priming teilgenommen haben. In den 1990er Jahren sollten sie in den USA aus Wörtern wie „Bingo”, „alleine” oder „weise” Sätze bilden. Diese Begriffe waren speziell ausgewählt worden, um Gedanken über das Alter und Altersstereotype anzuregen. Denn die Netzwerkarbeit des Gehirns fördert nicht nur Erinnerungen zutage oder beeinflusst Entscheidungen, sondern prägt auch das soziale Miteinander, zum Beispiel durch das Aufrufen von Stereotypen und Vorurteilen.
MUSIK 9 Manuel Scuzzo: Traum 0’36)
Als die Studienteilnehmer ihre Aufgaben beendet hatten, liefen sie einen langen Flur entlang, um das Labor zu verlassen. Was sie nicht wussten: Dieser Weg gehörte zum Experiment dazu. Dabei wurde nämlich ihre Gehgeschwindigkeit gemessen. Und tatsächlich soll das Tempo von denen die durch die Aufgaben dazu angeregt worden waren, über das Alter nachzudenken, deutlich langsamer gewesen sein, als bei der Kontrollgruppe, die diese Aufgabe nicht erhalten hatte.
MUSIK 10 Gold Panda – New Days 0’20)
ERZÄHLERIN
Seither haben Psychologen und Psychologinnen in verschiedenen Experimenten untersucht, ob es tatsächlich so einfach ist, Menschen in ihrem Verhalten zu beeinflussen. Aber nur die wenigsten der aufsehenerregenden Experimente ließen sich in den folgenden Jahren replizieren.
TAKE 6 (O-Ton Glöckner) L: 0, 25
Das war in der Tat eine große Problematik, in den 2010er Jahren gab es eine große Initiative, an der wir auch mitgewirkt haben, in der eine Vielzahl von Studien noch einmal durchgeführt wurden, um zu überprüfen, ob dasselbe Ergebnis nochmal rauskommt, unter idealen Bedingungen.
ERZÄHLERIN
Aber: Nur ein Drittel der Studienergebnisse ließ sich durch diese Initiative bestätigen, zwei Drittel nicht. Sozialpsychologe Andreas Glöckner erklärt mir das so: Die aktuellen wissenschaftlichen Standards, , sind heute höher als vor 30 oder 20 Jahren. Das erkläre zumindest einen erheblichen Teil dieser Abweichungen. Aber eben nicht alles.
TAKE 7 (O-Ton Rothmaler) L: 0,30
Ich muss zugeben, vor ein paar Jahren hatte ich so einen Moment, wo ich dachte, ach das ergibt doch alles keinen Sinn, wenn sich das alles nicht replizieren lässt, und die eine Studie sagt das, die andere das, was machen wir denn hier eigentlich alle? Dann hatte ich eine ganz tolle Betreuerin, die gesagt hat, du musst dir das große Bild angucken, the big picture. Es ist nicht die eine Studie, sondern es sind viele, viele, viele Studien und wenn man auf alle Studien guckt, …dann ergibt sich schon ein großes Bild davon.
ERZÄHLERIN
Erklärt die Sozialpsychologin Katrin Rothmaler von der Universität Leipzig. Wenn man sich also die Mehrzahl aller Studien anschaue, die zum Thema Priming erstellt worden sind, dann seien die Erkenntnisse eben doch eindeutig: Es gibt Priming Effekte! Auch wenn sie vielleicht nicht immer so spektakulär ausfallen, wie bei der beschriebenen Alters-Studie. Und noch etwas gibt die Psychologin zu bedenken: Menschliche Reaktionen und Verhaltensweisen lassen sich, selbst bei identischer Versuchsanordnung, nicht immer eins zu eins miteinander vergleichen. Denn jeder Mensch reagiert anders. Der kulturelle Hintergrund spielt dabei eine Rolle, Geschlecht und Alter, aber auch Bildung oder Kindheitserfahrungen.
TAKE 8 (O-Ton Erb) L. 0, 35
Das steht fest, dass Leute unterschiedlich beeinflusst werden, das lässt sich pauschal nicht unbedingt sagen, die sind leichter beeinflussbar als die, da würde man darauf gucken, was ist der Einflußeffekt? Und auf manche Effekte sprechen manche Leute besser an als andere. Manchmal gibt es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, wie sie beeinflusst werden können auf welche Art und Weise, z.B. in sozialen Situationen sind Frauen leichter beeinflussbar, weil ihnen das wichtiger ist, die sozialen Beziehungen, so im Durchschnitt gibt es eine Tendenz…
MUSIK 11 Gold Panda – New Days 0’30)
ERZÄHLERIN
Priming Effekten ist also jeder Mensch ausgesetzt, sagt Hans Peter Erb, aber zu welchem Denken, Urteilen oder Verhalten sie führen, das kann stark voneinander abweichen. Was aber sicher ist: Die Gehirne aller Menschen lassen sich durch Priming aktivieren. Und das ist nicht nur negativ, sondern zu einem gewissen Grad sogar hilfreich im Alltag, erklärt Andreas Glöckner.
TAKE 9 (O-Ton Glöckner) L: 0, 35
Das hilft ihnen immens weiter. Sonst müssten sie bewußt alle Informationen extern sammeln. Das heißt, im Internet stundenlang nach Informationen suchen, selber nochmal drüber nachdenken, was sie noch alles darüber wissen, das dann alles vielleicht im Computer mit einem komplizierten Modell zusammenrechnen. Und dann hätten sie für jede Entscheidung vielleicht drei Stunden gebraucht, um die zu fällen. Aber im täglichen Leben treffen sie einfach Tausende von Entscheidungen jeden Tag und das System hilft ihnen, sehr schnell recht gute Entscheidungen zu treffen.
ERZÄHLERIN
Priming Effekte beeinflussen mich also nicht nur, sondern sie helfen mir auch ganz konkret, mich im täglichen Angebot möglicher Entscheidungen und Handlungen schnell zu orientieren. Zum Beispiel wenn ich im Supermarkt vor einem Regal stehe und entscheiden muss, welchen Jogurt ich kaufen möchte, welche Zahnpasta oder wenn ich überlege, welches Shampoo besonders pflegend ist, sagt Hans-Peter Erb:
TAKE 10 (O-Ton Erb) L: 0, 35
In dem Augenblick laufen bestimmte Automatismen ab, was ja auch garnicht schlecht ist. Wenn ich z.B. beeinflusst worden bin, bestimmte Zahnpasta zu kaufen, die 2 Euro kostet, (Lachen)wie hoch hätte die Anstrengung denn sein müssen, damit ich jetzt nicht eine beeinflusste Entscheidung treffe sondern irgendwie eine rationale Entscheidung? Dann steh ich vor dem Regal für eine halbe Stunde und les die Packungsbeilagen, völliger Blödsinn, das hat auch eine gewisse Rationalität, dass wir uns auch davon leiten lassen…
MUSIK 12 Gold Panda – Joni’s Room 0’41)
ERZÄHLERIN
Für unser Gehirn ist der Priming Effekt so etwas wie eine Energiesparlampe. Ich muss nicht bei jeder Entscheidung, gerade wenn sie nicht existentiell ist, grundlegend und neu darüber nachdenken, sondern nehme sozusagen die Abkürzung über den Priming Effekt. Das kann Werbung sein, die ich zur besonderen Pflegekraft dieses Shampoos gesehen habe, aber auch die Meinung einer Freundin, die mich neulich auf eine bestimmte Marke hingewiesen hat.
TAKE 11 (O-Ton Glöckner) L. 0, 35
Dieser Grundaufbau des Gehirns und des Gedächtnisses hat sehr viele Vorteile evolutionärer Art, …die Idee dabei ist, dass Sie durch so eine Vernetzung von Informationen in der Lage sind, sehr, sehr schnell sehr, sehr viele Informationen zu verarbeiten, ihre Erfahrung dabei zu berücksichtigen und auch die einkommende Situation. Das heißt: Wenn irgendwas das Konzept Tiger aktiviert hat oder Löwe, dann haben Sie eine ganze Reihe von Dingen, die damit zusammenhängen, vielleicht auch eine gewissen Fluchtreaktion die damit zusammenhängt und dann vorbereitet wird.
MUSIK 13 Megalomaniac 0’36)
ERZÄHLERIN
Evolutionsbiologisch betrachtet ist dieses schnelle Reiz-Reaktions-Schema des Gehirns vermutlich sehr vorteilhaft gewesen. Wahrscheinlich ein Aspekt, warum unsere Spezies so lange überlebt hat. Und auch heute noch hilft uns der Priming Effekt ganz konkret, das tägliche Leben zu bewältigen. Das leuchtet mir unmittelbar ein. Dennoch beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Wenn es stimmt, dass ich mir der meisten Reize und Einflüsse gar nicht bewußt bin, denen ich ausgesetzt bin, dann frage ich mich doch, inwieweit ich eigentlich die Herrin in meinem Kopf bin. Oder gleiche ich eher einer Flipperkugel, die von Reizen und Anregungen durch den Alltag getrieben wird? Bin ich doch kein autonomes Individuum, frei und selbstbestimmt? Wie unabhängig bin ich in meinen Entscheidungen?
TAKE 12 (O-Ton Glöckner) L. 0, 15
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich gegen solche Beeinflussungen zu wehren. Das fängt damit an, dass man sich solcher Beeinflussungen bewußt ist, der Mechanismen bewußt ist…
ERZÄHLERIN
Sagt Andreas Glöckner von der Universität Köln. Jeder Mensch kann sich diesen Effekten entziehen. Allein schon weil kein Prime langlebig ist. Wir müssen uns Priming wie den Kegel einer eingeschalteten Taschenlampe vorstellen, der nur für eine kurze Zeit ein bestimmtes Thema beleuchtet, erklärt die Psychologin Katrin Rothmaler:
TAKE 13 (O-Ton Rothmaler) L. 0, 30
Es gibt bestimmte Prozesse, da kann sich niemand gegen wehren, wenn auf der Straße jemand sagt, huch und guckt irgendwohin, dann gucken alle dahin. Das kann man fast nicht unterdrücken. Gleichzeitig kann ich mich ja total gut fokussieren auf meine Arbeit, obwohl vielleicht um mich drumrum total viel passiert. Ich denke, in diesem Bereich bewegen wir uns. …welche Reize ich wie weiterverarbeite, was ich damit mache, wie ich drauf reagiere, das habe ich dann trotzdem immer noch in der Hand.
ERZÄHLERIN
Und zwar wie? Ich denke an die Frage, die ich am Anfang gestellt habe: Wie kann ich mich gegen den Reiz wehren, bei roten Preisschildern und vermeintlichem Zeitdruck, Kleidung zu kaufen, die ich nicht brauche und in den meisten Fällen später auch kaum anziehe.
TAKE 14 (O-Ton Rothmaler) L: 0, 25
Dieses Priming findet superschnell statt und auf einer ganz tiefen, basalen Ebene. Die Entscheidung, die ich dann treffe, also die Kaufentscheidung, die liegt ganz hinten, und dazwischen sind ja tausend Prozesse, die ich noch steuern kann und wo ich jederzeit noch eingreifen könnte.
ERZÄHLERIN
Aber genau das ist nicht immer so einfach wie es klingt. Denn um bei mir selbst als Beispiel zu bleiben: klar weiß ich, dass Rabattaktionen genau das bewirken sollen: Menschen wie mich zum Kaufen zu überreden. Durch rote Preisschilder, enorme Preissenkungen. Ich weiß es, kann mich diesen Reizen dennoch nicht immer entziehen. Andreas Glöckner gibt mir ein paar praktische Tipps:
TAKE 15 (O-Ton Glöckner) L: 0, 30
Wenn Sie Verkäufer betrachten, die versuchen, sie unter Zeitdruck zu setzen, genau aus dem Grund, Sei müssen jetzt entscheiden… Eine simple Strategie ist einfach, sich dem Druck nicht auszusetzen, weil der oft den Hintergrund hat bzw. haben kann, dass man genau diese Beeinflussung erreichen möchte. Also Abstand gewinnen, das ist, wenn man den Mechanismus verstanden hat, eine sehr, sehr simple Möglichkeit.
MUSIK 14 De-Phazz – Fellini Score 1’23)
ERZÄHLERIN
Denn: Priming ist ein kurzer Anreiz, keine andauernde Beeinflussung. Es ist also ausgesprochen sinnvoll, den Laden erstmal zu verlassen und sich selbst zu fragen: Brauche ich dieses Teil tatsächlich? Ist der Preis für mich in Ordnung? Schon wenige Minuten später kann der Priming-Effekt verflogen sein und mir ist völlig klar, eine bunte Leinenbluse möchte ich nicht kaufen! Also ganz banal: Sich Zeit nehmen, sich fragen, bin das wirklich Ich, die das will? Mein Eindruck nach meinen Recherchen ist: Schon allein zu wissen, dass es Priming Effekte gibt und wie unser Gehirn auf sie reagiert, verändert etwas. Und schützt öfter mal vor Verhalten und Handlungen, die wir in Ruhe betrachtet, nicht wollen oder richtig finden.
Ich zum Beispiel werde beim nächsten Schlussverkauf auf jeden Fall erstmal den Laden verlassen, wenn ich ein tolles Schnäppchen kaufen möchte. Damit in meinem Kleiderschrank tatsächlich nur noch die Sachen liegen, die ich auch gerne anziehe, in denen ich mich wohl fühle.
Neun Minuten dauert die Jungfernfahrt der Lokomotive "Adler". Sie läutet 1835 auf den frisch verlegten Schienen zwischen Nürnberg und Fürth das Eisenbahnzeitalter ein. Seitdem hat sich viel getan in der Geschichte der Eisenbahn... Von Inga Pflug (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Rainer Mertens (Dr.; DB Museum Nürnberg, Leiter Ausstellungen, stv.Direktor)
Stefan Ebenfeld (DB Museum Nürnberg, Leiter Sammlungen)
Martin Cichon (TH Nürnberg)
Georg Simon Ohm (Leiter Institut für Fahrzeugtechnik)
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Nur drei Tage brauchte der Hubschrauber, um die neue Olpererhütte im Zillertal zu errichten, Muli-Karawanen waren es beim Becherhaus im Stubai. Bis heute ist es eine Herausforderung, ein Schutzhaus unter Extrembedingungen zu errichten und zu bewirtschaften. Felsstürze und Trinkwasserprobleme machen es zusätzlich schwer. Von Georg Bayerle
Credits
Autor dieser Folge: Dr. Georg Bayerle
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Thomas Birnstiel
Technik: Josef Angloher
Redaktion: Iska Schreglmann
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Christine Denk, Hüttenwirtin Augsburger Hütte
Em. Professor Dr. Hermann Kaufmann, Holzbau TU München
Robert Kolbitsch, Ressortleiter Hütten & Wege DAV
Professor Dr. Michael Krautblatter, Hangrutschungen TU München
Peter Mani, Hüttenreferent SAC
Erich Pichler, ehem. Hüttenwirt Becherhaus
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER:
Mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtet Dietmar Berchtold, wie Holzbauteile von Dach und Wänden von den Lastwagen entladen werden. Er koordiniert den Ladeplatz am Schlegeisspeicher im Zillertal. Männer in greller Warnkleidung und Helm wie er, stellen die Bauteile in einer festgelegten Reihenfolge auf.
Atmo Hubschrauber
Dann schwebt der Hubschrauber heran mit langem Steilseil, sekundenschnell befestigen sie ein meter-langes Wandstück, das jetzt schaukelnd in die Luft gehoben und auf den Berg zur Baustelle geflogen wird.
1.Zsp NO 0.14
Na sollten schnell die ganzen Wände hoch, dass wir bis zum Abend fertig werden. Cirka 50 - 60 Flüge haben wir heut und wenn’s Wetter wärmer wird, haben wir ein Problem, weil der Hubschrauber nicht mehr so viel lupfen kann, drum müssen wir am morgen früh gleich ‚wähla‘.
ERZÄHLER:
In pausenlosem Pendelflug geht es jetzt so weiter. 600 Höhenmeter weiter oben beobachtet der Architekt dieser Extrembaustelle, Professor Hermann Kaufmann, wie das am Hubschrauber hängende Bauteil gleich an der richtigen Stelle in das Holzskelett des Hüttenbaus eingesetzt wird.
2.Zsp OH 2.16
Das ist wie ein Puzzlespiel. Das muss genau passen und in einer sehr schnellen Taktfrequenz auch, damit das Ganze muss so vorbereitet werden, dass in der Taktfrequenz wie der Hubschrauber heraufkommt, dass es wirklich passt. Die haben keine Zeit, da lange herumzusägen, herumzubasteln.
Atmo: sägen
ERZÄHLER:
350 Einzelteile sind es, bis zu eineinhalb Tonnen schwer. Sie wurden in der Zimmerei vorgefertigt. Als fliegender Lastesel des 21.Jahrhunderts funktioniert der Hubschrauber dabei gleich als Kran auf der Baustelle in 2400 Meter Höhe. Zimmerleute turnen über die Holzkonstruktion, fangen die schwebenden Holzplatten und passen jedes Teil zentimetergenau ein.
3.Zsp NO 0.42
So etwas habe ich noch nie gemacht. So mit der Dramatik an der Baustelle. Das ist etwas Unbeschreibliches.
Musik: Schnelle Schritte (reduced 1) 0‘40
ERZÄHLER:
Hermann Kaufmann ist damals Professor für Holzbau an der Technischen Universität München. Die neue Olpererhütte im Zillertal entsteht im Juli 2007 in nur drei Tagen an derselben Stelle, wo die marode, 100 Jahre alte Berghütte, vorher abgerissen worden war. Der Neubau ist etwas vollkommen Neuartiges und stellt aus heutiger Sicht einen historischen Meilenstein dar: die neue Hütte soll so effizient wie möglich gebaut wer-den und besteht praktisch zur Gänze aus Naturmaterialien. Das Vorbild hatte der Architekturprofessor in seiner Heimat, dem Bregenzerwald gefunden:
4.Zsp NO 1.54
Man kann’s vergleichen mit einem altem Blockbau, der ja auch als Blockbau damals gebaut wurde, weil Holz ein Dämmmaterial ist und wir erwarten im Prinzip eine ähnliche Atmosphäre wie bei den alten Blockbauten, die ja im Sommer ein ganz angenehmes Klima haben. Solange das Dach ist, wird das Haus nicht verrotten, es hat einen Schindelpanzer an der Außenseite, solange diese Schindeln dicht sind, wird also auch diese ganze Konstruktion ewig überdauern.
ERZÄHLER:
Oder sie könnte, weil auf künstliche Isoliermaßnahmen verzichtet wurde, einfach an Ort und Stelle verrotten. Die über Jahrhunderte praktizierte Holzbauweise der Tradition eignet sich als Vorbild für die Anforderungen des 21.Jahrhunderts. Für Robert Kolbitsch, den Ressortleiter für die Hütten beim Deutschen Alpenverein, hat der Münchner Holzbauprofessor damit den Weg vorgegeben:
5.Zsp 001/3.20
Das hat der Kaufmann damals schon erkannt, dass wir bei reinen Sommerhütten schon Einiges reduzieren können. Dass wir die üblichen Baustandards, die wir vom Tal kennen, reduzieren können.
ERZÄHLER:
Es fängt bei der Hüttenarchitektur und den Baumaterialien an und geht bis in die Details der Installation. Klima, Umwelt und Bewirtschaftungsweise werden hier zusammengedacht.
6.Zsp 001/4.40:
Es geht darum, Energieaufwände zu minimieren. Der größte Energieverbraucher ist die Küche, wir wollen dort auch den Aufwand reduzieren, indem wir sagen, wir müssen nicht mehr so viele Speisen anbieten, ich brauche auch weniger Personal, wir haben weiniger Personalunterkünfte, ich habe auch weniger Kühllagerung und das alles hat Auswirkungen auf den Energiebedarf.
Musik: Hinter dem Nebel (reduced 1) 0‘46
ERZÄHLER:
Das Beispiel zeigt die besondere Komplexität, die in einer Berghütte mit ihrem extremen Umfeld steckt. Wo nichts einfach vorhanden ist, Ver- und Entsorgung mit großem Aufwand verbunden und die Belastungen durch Wind und Wetter extrem sind. In der ersten Blütezeit des Alpinismus, Ende des 19.Jahrhunderts, war den Hüttenbauern kein Hindernis zu hoch, um ihre Schutzhäuser an die aberwitzigsten Stellen zu setzen. Nach einfachsten Anfängen wie der Alten Prager Hütte mit einem Raum und einem Dutzend geschlechtergetrennten Schlafplätzen, wuchsen die architektonischen Träume schnell in die Wolken. Buchstäblich: 3195 Meter hoch steht das Becherhaus als höchste Schutzhütte Südtirols auf einem Berggipfel. Erbaut wurde es vor 130 Jahren von der Alpenvereinssektion Hannover, die Material und Inventar mit Mulis über den sechsstündigen Aufstieg aus dem Tal heraufschaffen ließ. Erich Pichler hat die Hütte so lange wie niemand sonst bewirtschaftet:
7.Zsp BE 0.19 + 1.22
1800 Höhenmeter, das ganze Material hochbringen, hier auf den Gipfel. Erst einmal die Idee zu haben, hier oben eine Hütte hinzustellen. Nicht eine normale Hütte, sondern ein Prestigehaus, weil das sind Mauern mit einem Meter und Korkplatten und Moose und haben es mit roten Samtteppichen ausgelegt.
ERZÄHLER:
Das bürgerliche Milieu des Alpenvereins verpflanzte die städtische Lebenskultur gleich mit ins Hochgebirge. Dazu gehörte damals auch eine eigene Kapelle:
8.Zsp BE 3.10
Wir sind hier ausgerüstet, wir haben da das ganze Messgewand, das wir können anziehen, Altartuch, alles, was man braucht. Weil 30 Bergführer hier stationiert waren und die mussten sonntags in die Kirche gehen und so wurde die ganze Kirche dazugebaut.
Musik: Weiter Blick 0‘39
ERZÄHLER:
Ein Bauwerk wie das Schutzhaus auf dem Becher steht am Höhepunkt der Erschließungsphase der Alpen. Von 8 Hütten zur Zeit der Gründung der Alpenvereine um 1870 wuchs die Zahl auf über 300 im Jahr 1914 vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Großbürgerliche Salonkultur mit Ölbildern und roten Teppichen auf der einen Seite, die Einfachheit des modernen Blockbaus auf der anderen Seite: größer könnten die Gegensätze kaum sein. Und dabei müssen sich die Hütten in den Wetterextremen bewähren, so wie sie die Wirtinnen und Wirte oft im täglichen Wechsel erleben.
Christine Denk bewirtschaftet die Augsburger Hütte, auf 2300 Metern in den Lechtaler Alpen:
9.Zsp AH 0.27
Ich finde es einfach übermächtig; und man merkt, man kann es nicht beeinflussen, also du kannst dir noch 15 Mal den Wetterbericht anschauen, es stimmt oft nicht, man ist immer ausgesetzt und muss es so nehmen wie es ist. Das ist richtig schön da heroben, finde ich.
Musik: Ein neuer Tag (reduced 2) 0‘27
ERZÄHLER:
An diesem Tag ist das Wetter schlecht. Es kommen wenig Gäste. Zeit für die Hütten-Chefin, Dinge zu tun, die sonst liegenbleiben. Auch die Augsburger Hütte ist historisch, sie stammt aus dem Jahr 1885 und wurde mehrmals renoviert und umgebaut. Zuletzt 1992. Aus dieser Zeit stammt auch die Toilettenanlage. Die Behälter, in denen die Fäkalien die ganze Saison über gesammelt werden, müssen regelmäßig ge-tauscht werden.
Christine steigt über eine Außentreppe in einen Kellerraum; beim Öffnen der Tür schlägt ihr eine Gestankswolke entgegen, dann dreht sie den Plastik-Behälter zur nächsten leeren Kammer.
10.Zsp AH 1.10
Ich hab gottseidank eh einen schlechten Geruchssinn; so, das ist jetzt gedreht. Ich werde oben im Anlagenbuch aufschreiben, dass ich auf die Zahl vier gedreht habe. Und nächstes Jahr, wenn ich es ausleere, schau ich, wie voll die waren und ob man noch hätte warten können oder ob’s überfällig ist.
ERZÄHLER:
Aber es gibt keine Abwasserleitung, hier, über 1000 Höhenmeter über dem Tal. Und die Zeiten, in denen alles einfach in die Landschaft gespült wurde, sind lange vorbei; die Exkremente werden also in den Behältern gesammelt.
Musik: Secret proofs 0‘16
Jedes Jahr im Juni, kurz vor dem Saisonstart muss Christine Denk die unangenehmste Arbeit des Jahres verrichten: das, was die rund 2000 Gäste im Vorjahr hinterlassen haben, muss ins Tal:
11.Zsp TR 16.35
Bei uns ist es baulich leider so, dass es große Behälter sind, die ich nicht nach außen fahren kann, sondern wir schaufeln das aus. Mit so einer kleinen Gartenschaufel steht dann einer vor der Luke und der nächste schüttet es in einen Bigpack. wir sind alle in Schutzanzügen und mit Mundschutz, dauert einen halben Tag und dann schaufelst du die Hinterlassenschaften von einer Saison Hütte aus.
ERZÄHLER:
Alltagsdinge, über die sich die meisten wenig Gedanken machen, werden auf 2300 Meter Höhe zur Herausforderung.
Hier oben kommt das Wasser auch nicht einfach so aus dem Hahn.
12.Zsp TR 17.20
Wir sind eine Hütte, die nicht viel Wasser hat. Wir sind abhängig vom Oberflächenwasser, also Schmelzwasser; Gletscher gibt’s fast nicht mehr, also Schneewasser und dann Regenwasser. Erstes Thema ist, überhaupt zu vermeiden, Wasser zu verbrauchen. Das Ziel ist am Ende, eine Hütte bewirtschaften und dem Gast eine gute Zeit zu bringen, in den Bergen Zeit zu verbringen. Und am Ende musst du mit den Strukturen zurechtkommen, die dir das Umfeld dort bietet. Und wenn du nicht viel Wasser hast, ist eine Trocken-WC-Anlage auch eine Konsequenz daraus.
ERZÄHLER:
Über einen Schmelzwasserbach, der von einem Gletscher gespeist wird, 500 Höhenmeter weiter oben, war die Augsburger Hütte jahrzehntelang mit Wasser versorgt. Inzwischen ist der Gletscher durch die Klimaerwärmung praktisch verschwunden, in trockenen Sommern ist der Wasserzufluss in den vergangenen Jahren wochenlang ganz versiegt. In der Hüttenabteilung des DAV laufen die Problemberichte bei Robert Kolbitsch zusammen. Auf vielen Hütten müssen Lösungen für den Wassermangel gefunden werden.
13.Zsp 001/5.20
Das ist ein Thema, das uns immer stärker betrifft. Verursacht durch den Klimawandel im Gebirge, das spüren wir da oben zuallererst. Das heißt wir wer-den dort die jetzigen Spültoiletten auf Trockentoiletten umstellen und werden dadurch den Wasserverbrauch um 70% reduzieren. Weil ohne Wasser kann ich die Hütte nicht betreiben.
Musik: Handicraft work 0‘19
ERZÄHLER:
Die Folgerung liegt auf der Hand; aber gerade das Beispiel Augsburger Hütte zeigt, wie komplex das Thema Trockentoiletten ist. Erst seit kurzem sind Unternehmen richtig aktiv geworden und entwickeln Lösungen für Trockentoiletten auf Berghütten.
16.Zsp 001/6.20
Da tut sich extrem viel. Es gibt in der Schweiz keine neuen Hütten mehr, ohne Trockentoilettensysteme und wir werden die jetzt auf unseren Hütten adaptieren. Es gibt derzeit mehrere Projekte, wo wir Hütten auf Trockensysteme um-stellen. Wir werden die gebauten Beispiele evaluieren, und dann den Sektionen Hilfsmittel zur Verfügung stellen, wie wir künftig die Trockentoilettensysteme auf den Hütten umsetzen können.
Musik: Testing procedure (reduced) 0‘41
ERZÄHLER:
In der Organisationsstruktur des Alpenvereins sind jeweils die Sektionen die Betreiber der Hütten. Aber die Herausforderungen sind inzwischen zu groß für einzelne Alpenvereinssektionen. Denn der Wassermangel ist nur eines der Symptome des Klimawandels, der in den Alpen doppelt so schnell abläuft, wie im Flachland. Hier ist die Durchschnittstemperatur gegenüber 1880 bereits um 2 Grad gestiegen. Nicht nur Gletscher verschwinden rasend schnell wie über der Augsburger Hütte. Auch der Grund, auf dem Hütten stehen, wird instabil, weil der Permafrost im Fels auftaut.
An der TU München erforscht Professor Michael Krautblatter die geologischen Prozesse im Gestein und steigt im Auftrag des Alpenvereins auch auf die Berge. Eines der Sorgenkinder ist die Landshuter Europahütte auf 2700 Meter Höhe über dem Brenner. Mit einem Netzwerk aus Sensoren und elektrischen Leitungen hat Michael Krautblatter durch die Messung der Leitfähigkeit im Untergrund Veränderungen im Permafrost erforscht.
17.Zsp 76/1.55 + 2.50
Bei der Landshuter Europahütte gibt’s sehr massive Setzungen. Und das sind sehr unterschiedliche Setzungsraten innerhalb der Hütte, das heißt, der bisherige Hüttenbau ist nicht zu erhalten. Und wir haben eine neue Fläche vorgeschlagen.
ERZÄHLER:
Während an dieser Stelle die alte Hütte nicht mehr zu retten ist, konnte Michael Krautblatter für die Stüdlhütte am Großglockner eine einfache Lösung finden: es ging darum, dass das Schmelzwasser vom Dach nicht mehr direkt neben der Hütte in den Boden einsickert und dadurch andauernde Frost- und Tau-Prozesse auslöst, die die Felsen aufsprengen.
18.Zsp 76/0.20
Die Stüdlhütte war für uns ein gutes Beispiel, es geht ja bei Alpen-vereinshütten auch darum, mit geringem Aufwand viel bewirken zu können. Und das ist ein Fall, wo wir gesehen haben, das warme Dachwasser, das in die Permafrost-Nordflanke fließt, ist die Hauptursache. Man hat einen begrenzten Eingriff, man führt dieses warme Dachwasser weg, und hat damit gleich eine ziemlich gute Wirkung.
Musik: New discovery 0‘17
ERZÄHLER:
Inzwischen greift der Klimawandel massiv in die Schutzhütten-Infrastruktur der Alpen ein. Der Deutsche Alpenverein steht vor einer gewaltigen Herausforderung, sagt Robert Kolbitsch, der Hüttenchef:
19.Zsp 002/2.45 + 4.09
Wir werden uns die Hüttenstandorte sehr genau anschauen, wir werden Risikobeurteilungen machen: wie schaut die Wasserversorgung der Hütte künftig aus, die Murengefahr auf den Hütten, Muren werden zunehmen. Wir müssen die Standorte sehr genau anschauen, macht der Erhalt des Standorts wirklich Sinn, wir müssen über Alternativen nachdenken und darüber nachdenken, einzelne Standorte schließen.
ERZÄHLER:
Der Schweizer Alpenclub SAC ist in diesem Bereich bereits weiter: durch die größeren Höhen und das extremere Relief treten hier die Klimawandelfolgen noch drastischer zutage. In einer großangelegten Untersuchung wurden gerade alle Hütten auf ihre Klimasensitivität untersucht. Ergebnis: jede dritte Schutzhütte ist vom Klimawandel bedroht, erklärt Peter Mani, Experte des SAC:
20.Zsp 81/1.32 + 2.24
Die Britanniahütte hat Probleme mit dem Zugang, weil der Gletscher dort weggeschmolzen ist. Früher war das ein einfacher Hatsch, heute dis-kutiert man dort, eine große Hängebrücke reinzutun, weil man durch das Gelände nicht mehr kommt. Bei der Oberaletschhütte ist das Problem beim Tourenangebot, die Hochtouren werden dort wesentlich schwieriger und gefährlicher werden.
Musik: Disturbing factors 0‘28
ERZÄHLER:
Andere Berghütten in der Schweiz wurden in den vergangenen Jahren durch Lawinen oder Muren zerstört. Nach 150 Jahren steht die Kultur der Berghütten vor einer historischen Zäsur. Verglichen mit den geologischen Erschütterungen an exponierten Standorten in der Schweiz, machen sich die Klimawandelfolgen auf der Augsburger Hütte in Tirol eher unspektakulär bemerkbar, dafür aber andauernd.
Hier evtl. Archiv-Atmo Küche (nicht in den Zusp. vorhanden)
ERZÄHLER:
Christine Denk steht mit ihren Mitarbeiterinnen am Herd, um das Abendessen zu kochen. Zu diesem Zeitpunkt laufen praktisch nur die Küchengeräte, um das Stromnetz nicht zu überlasten. Da zeigt die Steuerung der Elektronik plötzlich eine Störung an:
21.Zsp AH 7.02
Scheiße; Unable to read Wasserkraftwerk, 18 Uhr 12..
Atmo Kraftwerk
ERZÄHLER:
Während das Abendessen für die Gäste gekocht wird, muss jemand aus dem Hütten-team 250 Höhenmeter im alpinen Gelände absteigen zum Kleinwasserkraftwerk am Bergbach, das die Hütte versorgt. Eine halbe Stunde später wird sich dort herausstellen, dass nur eine Sicherung rausgeflogen ist. In trockenen Sommern aber, wenn der Schmelzwasserabfluss versiegt, gibt es oben auf der Augsburger Hütte auch keinen Strom aus dem Kleinwasserkraftwerk mehr. Die Energieversorgung ist eine weitere große Baustelle im Hüttenteam des DAV bei Robert Kolbitsch:
22.Zsp 002/0.25
Wenn ich zu wenig Wasser habe, habe ich auch Probleme, genügend Energie aus Wasserkraft zu bekommen. Die Sonnenenergie ist unsere wichtigste Energielieferant auf unseren Hütten. Die Photovoltaik wird ausgebaut, das ist jetzt nichts Neues. Aber auch die Speichertechnologie wird immer besser, auch daran arbeiten wir. Beides in Verbindung mit reduziertem Verbrauch, dann schaffen wir es, relativ autark die Hütten betreiben zu können.
Musik: Precision on demand 0‘28
ERZÄHLER:
Die Hütte der Zukunft soll möglichst als in sich geschlossenes System funktionieren, genau abgestimmt auf die natürlichen Ressourcen. Annehmlichkeiten wie warme Duschen, Federbetten oder üppige Speisekarten kann es dann kaum mehr geben. Die Diskussionen um den Komfort auf Hütten sind schon ein Jahrhundert alt und werden jetzt unter den neuen Vorzeichen von Klimaschutz und Umweltverträglichkeit geführt.
23.Zsp TR 02
Duschen ist nicht schlecht, aber mal ein Wochenende geht auch ohne. Brunnen vor der Hütte langt locker. Wolldecken reichen völlig aus
ERZÄHLER:
Bei Christine Denk auf der Augsburger Hütte erledigen sich viele Komfortfragen durch die Umweltbedingungen von selbst:
24.Zsp CD 53.49
Also wir haben nur Wolldecken, weil ich mit den Wasserproblemen gar keine Chance habe, diese Federbetten regelmäßig abzuziehen und zu waschen. Ich glaube, ein Gast will doch nur, dass sauber ist; das ist wichtig.
ERZÄHLER:
So zählt auch die Kommunikation zu den wichtigen Aufgaben der Hüttenwirtin:
25.Zsp CD 54.44
Wir haben dieses Umweltgütesiegel und da ist eine Auflage, dass du die Gäste aufklärst, wie funktioniert deine energetische und wassermäßige Versorgung und das fragt auch jeder Gast. Ich glaube, wenn Leute auf der Hütte waren und die Restpfütze am Ferner sehen, das ist sofort transparent, was der Klimawandel macht.
Musik: Calculations 0‘25
ERZÄHLER:
Im Werkzeugkasten des Berghüttenbetriebs bahnt sich eine tiefgreifende Trendwende an: wenn Hütten umgebaut oder renoviert werden, dann dient es nicht mehr der Komfortsteigerung. Als die Kemptener Hütte im Allgäu vor kurzem renoviert wurde, hat auch die Hüttenwirtin Gabi Braxmaier, die das Schutzhaus auf 1850 Metern seit Jahrzehnten bewirtschaftet, am neuen Konzept mitgewirkt:
26.Zsp TR 1:06:52
Es war Anliegen von uns, dass man die Duschen abschafft, weil einfach das Duschverhalten manchmal ein bisschen krank ist. Wir haben Tagesgäste ghabt, die gekommen sind, geduscht haben. Wir wollten den Gast wieder ein bisserl zurückholen, wir haben keine Duschen mehr, wir haben kein Wlan, kein warmes Wasser. und eigentlich sind wir ganz glücklich damit
Musik: New evidence 0‘48
ERZÄHLER:
Wie in einem Reallabor wird der Ressourcenverbrauch so weit wie möglich heruntergefahren. Die Berghütten sollen in einer der empfindlichsten Naturlandschaften überhaupt zu einem Modell werden für einen klima- und umweltfreundlichen Lebensstil, wie ihn die Gesellschaft insgesamt braucht. In einer neuen „Hütten-Wege-Vision 2030“ skizziert der Deutsche Alpenverein derzeit den Pfad, wie er mit seinen 320 Hütten in den Alpen klimaneutral werden kann. Als Leiter des Hüttenressorts tüftelt Robert Kolbitsch mit seinen Fachleuten gerade an einem Modellprojekt, das 2025 starten soll: Anlass ist der notwendige Umbau der Hochlandhütte über Mittenwald im Karwendel:
28.Zsp 001/1.45 + 0.30
Wie hoch sind meine CO2-Emissionen, was kann ich sparen. Mit diesem Modellprojekt wollen wir Konstruktionen vorgeben, die künftig die Bau-maßnahmen einfacher darstellen. Wir versuchen anhand dieses Beispiels neue Wege zu gehen, was Baukonstruktion, was Materialität betrifft, dass wir zum Beispiel, was den Schallschutz betrifft, was die Statik betrifft, ans Praktikable gehen, um den Materialeinsatz zu reduzieren.
ERZÄHLER:
Die Aufgabe reicht vom Dachaufbau bis zur Trockentoilette und den Küchengeräten. An den Planungen ist die Technische Universität in München beteiligt. Technische Lösungen, Verfahrensweisen, Materiallösungen – die neuen Erkenntnisse sollen dann allen Alpenvereinssektionen als Best-Practice-Beispiele für ihre Hütten weiter-gegeben werden.
Musik: Handicraft work 0‘15
In ihrer 150-jährigen Geschichte stehen die Schutzhütten in den Alpen mitten in einem spannenden Veränderungsprozess.
Schnecken haben sich im Laufe der Evolution fast jeden Raum der Erde erobert. Sie leben im Wasser und an Land. Als Delikatesse sind Schnecken beliebt, bei vielen Gärtnern dagegen verhasst. Autorin: Claudia Steiner
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christoph Jablonka, Jenny Güzel
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Elisabeth Tova Bailey, US-Autorin.
Doris Kampas, Biogarten- und Hochbeet-Expertin.
Prof. Dr. Michael Schrödl, Zoologische Staatssammlung München.
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Literaturtipps:
Michael Schrödl, Schneckenplage muss nicht sein! So vermeiden und bekämpfen Sie rotbraune Nacktschnecken, Books on demand
Michael Schrödl, Unsere Natur stirbt: Warum jährlich bis zu 60.000 Tierarten verschwinden und das verheerende Auswirkungen hat, Komplett Media
Doris Kampas, Biogärten gestalten, Löwenzahn.
Elisabeth Tova Bailey, Das Geräusch einer Schnecke beim Essen, Piper.
Bayerische Akademie für Naturschutz und LandschaftspflegeHIER gehts zur Website
Rote Liste Zentrum
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Nabu
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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Sie können der Schwerkraft trotzen und kopfüber kriechen. Sie bewegen sich langsam wie in Zeitlupe, aber überwinden - wenn Futter in der Nähe ist, zielstrebig fast jedes Hindernis. Schnecken.
O-TON 1
Schnecken (…) leben in einer chemischen Welt, in einer Riech- und Schmeckwelt und die riechen Futterpflanzen von sehr weit weg. Und ja, und da versuchen sie hinzugelangen, egal wie.
SPRECHER
… sagt Professor Michael Schrödl. Der Biologe ist einer der führenden Mollusken-Experten, also Schneckenforscher, in Deutschland und arbeitet an der Zoologischen Staatssammlung in München.
MUSIK
SPRECHER
Mit ihren Tentakeln – manche haben zwei, andere vier – können Schnecken riechen, schmecken und tasten. Zumindest einige Arten haben am Ende ihrer längeren Tentakel einfache Augen sitzen, mit denen sie allerdings nur Hell und Dunkel unterscheiden können. Wenn sie auf ein Hindernis stoßen, ziehen Schnecken ihre Fühler blitzschnell ein. Sie werden eingestülpt wie ein zu enger Handschuh, aus dem man die Finger zieht und der sich mit umdreht. Gehäuseschnecken können ihren ganzen Körper in ihr schützendes Haus zurückziehen.
Musik ENDE
MUSIK privat Take 007 „Silken Shadows“; Album: The Ambient Snail; Label: 2733800 Records DK; Interpret: Thrilling Snail; Komponist: Thrilling Snail; ZEIT: 00:42
SPRECHER
Gehäuse bestimmter Schneckenarten galten lange Zeit als wertvoll und wurden zum Beispiel in Amuletten verarbeitet. Das etwa münzgroße, eiförmige, schimmernde Gehäuse der Kaurischnecke, die in tropischen Meeren heimisch ist, diente gar über Jahrhunderte als Zahlungsmittel. So zahlte man unter anderem in China, Korea, Japan, Thailand, Ost- und Zentralafrika mit Kauris. Nacktschnecken dagegen schienen schon früher nicht sonderlich beliebt gewesen zu sein. In der Bibel, Psalm 58, heißt es über Frevler:
MUSIK ENDE
ZITATORIN
Sie sollen vergehen wie verrinnendes Wasser, wie Gras, das verwelkt auf dem Weg, wie die Schnecke, die sich auflöst in Schleim.
ATMO (Garten)
SPRECHER
Das wünschen sich auch viele Gärtner. Gartenexpertinnen wie Doris Kampas, die in Österreich Pflanzenbau studiert hat, bekommt Jahr für Jahr Anfragen verzweifelter Gärtner. Besonders verhasst ist die sogenannte ‚Gemeine Wegschnecke‘. Früher wurde die rot-braune, manchmal auch orangefarbene Nacktschnecke auch als Spanische Wegschnecke bezeichnet. Tatsächlich aber – so zeigten Gen-Analysen – sind Spanische und Gemeine Wegschnecke verschiedene Schneckenarten und die Spanische Wegschnecke ist nur in einem kleinen Gebiet in Portugal verbreitet. Die bei uns gefürchtete Gemeine Wegschnecke, die eigentlich schon vor der letzten Eiszeit in Mitteleuropa heimisch war, ist weit verbreitet – begünstigt durch Obst- und Gemüsetransporte quer durch Europa. Das Problem: Die Nacktschnecken haben einen riesigen Appetit. Doris Kampas:
O-TON 2
Junge Pflanzen, frisch gesetzte Pflanzen haben die Schnecken besonders gerne und auf das stürzte sie sich regelrecht, dann, wenn wir es nicht bemerken, nämlich am Abend oder sehr zeitig in der Früh und die jungen Salatpflänzchen können dann quasi am Vortag gesetzt worden sein. Am nächsten Morgen sind sie wieder weg, und man sucht sie ganz verzweifelt. Und dann halt alle Arten von jungen Pflanzen wie Kohlrabi, Brokkoli, Rosenkohl, (…) Radieschen, Spinat (…) also, sie mögen sehr viel.
SPRECHER
Da Schnecken ein relativ gut entwickeltes Gehirn haben, merken sie sich Stellen mit gutem Futter und kehren immer wieder an alte Fressplätze zurück. Die Weichtiere haben eine starke, aus Muskeln bestehende Raspelzunge, Radula genannt.
Diese ist mit vielen, kleinen Hornzähnen aus Chitin besetzt und kann selbst hartes Futter zerkleinern, erklärt Michael Schrödl:
O-TON 3
Die Zunge mit den Raspelzähnen drauf wird übrigens auch nicht wie ein Schaufelradbagger zur Schnecke hinbewegt, sondern von der Schnecke weg. Also die Schnecke raspelt vom Tier weg und nimmt dann unter der Oberlippe sozusagen die Nahrung auf.
MUSIK privat Take 003 „Moonlit Antennae“; Album: The Ambient Snail; Label: 2733800 Records DK; Interpret: Thrilling Snail; Komponist: Thrilling Snail; ZEIT: 00:47
SPRECHER
Wenn es ganz still ist, kann man das Abraspeln des Futters sogar hören. Die US-amerikanische Autorin Elisabeth Tova Bailey beobachtete eine Schnecke über eine sehr lange Zeit. Sie war aufgrund einer schweren Erkrankung ans Bett gefesselt. Eine Freundin, die ihr zur Aufmunterung eine Topfpflanze schenkte, brachte ihr mit der Pflanze versehentlich eine etwa fünf Zentimeter lange Gehäuseschnecke ins Haus. Weil die Autorin so geschwächt war, dass sie sonst nichts tun konnte, schaute sie dem Tier einfach zu – monatelang ...
MUSIK ENDE
O-TON 4
Overvoice weiblich
Mir hat es geholfen, dieses Tier zu sehen, das sich ganz anders bewegt, so viel langsamer und auf einer kleineren Fläche. Ich konnte es so eher aushalten, dass mein Leben ebenfalls so langsam geworden war. Ich bin damals irgendwie aus dem normalen Leben gefallen und in einer Schneckenwelt gelandet.
SPRECHER
Später recherchierte sie über die Weichtiere und schrieb einen Bestseller mit dem Titel „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“.
O-TON 5
Overvoice weiblich
Diese spezielle Schneckenart hat 2.640 Zähne und die funktionieren wie eine Küchenreibe, also die Zähne schaben das Futter ab. Wenn das Futter eher trocken ist, dann hört man ein Knuspern, wenn es eher porös ist wie bei Pilzen, dann klingt es weicher.
ATMO (Garten)
SPRECHER
Weil viele Schneckenarten mehrere Hundert Eier legen und sich ein bis zwei Mal pro Jahr paaren können, ist es für Gärtner wichtig, Gelege schnell abzusammeln. Die Eier der Wegschnecke zum Beispiel sehen aus wie kleine, weißliche Perlen und kleben oft in Häufchen zwischen den Wurzeln junger Pflanzen. Doris Kampas.
O-TON 6
Viele kaufen Jungpflanzen jetzt im Frühling, und das setzen sie dann direkt ins Gemüsebeet, ins Hochbeet. Aber was man oft übersieht: Man setzt sich die Schneckeneier mit ein, weil mir ist das selbst schon sehr oft passiert, dass einfach zwischen den Jungpflanzen in diesen Töpfchen, den man da mit kauft, sind schon die Schneckeneier drinnen oder grad frischgeschlüpfte Schnecken. Die hat man sich halt leider mit eingekauft, also immer bitte jede Jungpflanze gut kontrollieren.
SPRECHER
Wenn Salate löchrig oder gar abgefressen sind, greifen viele Gärtner zu Salz. Dabei verenden die nachtaktiven Schnecken qualvoll. Zudem gelangt das Salz in den Boden. Andere verstreuen giftiges Schneckenkorn, das die Tiere zwar in der Regel tötet, aber auch eine Gefahr für andere Lebewesen oder auch Kinder darstellt. Zudem überschreiten viele Hobbygärtner die empfohlene Höchstmenge. Wieder andere rücken mit der Gartenschere an und schneiden die Tiere auseinander – weil Schnecken als wirbellose Tiere nicht unter das Tierschutzgesetz fallen, ist dies nicht verboten. Wer die toten Tiere aber liegen lässt, lockt damit wieder andere Schnecken an, denn viele Arten fressen auch Aas. Andere verzweifelte Gärtner stellen Bierfallen auf. Zwar ertrinken einige Tiere, doch der Hefegeruch des Gerstensaftes lockt sogar noch Tiere aus dem Nachbargarten an. Doris Kampas hat einen anderen Rat:
O-TON 7
Dass man am Abend entweder so zwischen 19 und 21 Uhr, zur Zeit der Dämmerung einen großen Eimer nimmt, ein paar Handschuhe und dann durch den Garten marschiert und absammelt, absammelt, absammelt und vor allem wirklich so unter Holzbretter schauen, unter Kisten schauen, die herumstehen und dort verstecken sich oder verkriechen sich die Schnecken.
SPRECHER
Doch wohin mit dem gefüllten Schneckeneimer? In Biotopen oder Wildblumenwiesen haben die Tiere nichts zu suchen.
Sie würden dort über Pflanzen herfallen und wären Konkurrenten für Würmer und Insekten. Michael Schrödl:
O-TON 8
Man kann Schnecken absammeln und zum Beispiel auf so fette Wiesen in Parks bringen, wo die Hunde immer ihre Häufchen hin machen. Rotbraune Nacktschnecken fressen gerne Kot und fressen gerne Aas, also da sind es dann sogar Nützlinge ja, die kriechen über weite Strecken hin zu einem gut duftenden Hundekothaufen und beseitigen den kostenlos und sauber.
ATMO (Garten)
SPRECHER
Tatsächlich fallen nicht alle Schnecken über frischen Salat her. Viele Arten fressen Pflanzenreste und welke Blätter, vermodertes Gras, Pilzfäden, Eier von Schadschnecken und sogar Aas. Sie bauen organische Stoffe ab und tragen dazu bei, dass Nährstoffe und Mineralien zurück in den Boden gelangen. Der größte Teil der heimischen Schnecken sind also nützliche Tiere. Doch manche Gärtner machen Schadschnecken so sehr zu schaffen, dass sie sich indische Laufenten anschaffen. Die adulten, also erwachsenen Schnecken werden allerdings meist verschmäht, weil sie zu bitter schmecken. Andere Tiere wie Ingel, Amseln, Kröten, Laufkäfer, Spitzmäuse oder Glühwürmchen-Larven fressen zumindest Baby-Schnecken. Doch natürliche Feinde von Schnecken fühlen sich nur in Naturgärten wohl. Doris Kampas:
O-TON 9
Sprich: das ist halt jetzt kein super aufgeräumter Garten, wo alles nur mit dem Rasenroboter abgemäht ist, sozusagen und wo nichts blüht, da kommen keine Glühwürmchen und kein Igel. Aber wenn man halt auch seine wilden Ecken hat und viele verschiedene blühende Pflanzen, dann lockt man einfach automatisch ganz viele Insekten an.
SPRECHER
Andere Gartenbesitzer setzen auf Hochbeete und hoffen, Pflanzen so außerhalb der Reichweite der Weichtiere zu bekommen. Doris Kampas:
O-TON 10
Also ein Hochbeet ist grundsätzlich nicht geschützt vor Schnecken, außer man schützt es quasi gezielt. Und das kann man halt im Hochbeet leichter als in einem großen Gemüsegarten. Zum Beispiel, weil ein Hochbett ja doch ein begrenzter Raum ist. Und am besten man bringt eine Schneckenkante rund ums Hochbeet an. Zum Beispiel, wir haben ein Modell, wo eben quasi ein Handlauf rund ums Hochbett ist. Und darunter befindet sich eine Schneckenkante, das ist eigentlich ein gebogenes Metall und die Schnecken können den Winkel nicht überwinden. Es ist eine rein mechanische Sperre, und da kommen sie dann nicht wirklich drüber.
SPRECHER
Doch die Tiere sind clever – wenn irgendwo ein Zweig oder ein Blatt über die Kante hängt, finden sie diese Brücke und überwinden den Zaun. Wer Schneckenzäune um Beete am Boden anbringt, muss darauf achten, dass der Zaun mehrere Zentimeter im Boden eingelassen ist – Nacktschnecken können sich sonst einen Tunnel graben.
MUSIK privat Take 004 „Gastropod Groove“; Album: The Ambient Snail; Label: 2733800 Records DK; Interpret: Thrilling Snail; Komponist: Thrilling Snail; ZEIT: 00:42
SPRECHER
Auf der Suche nach Futter rutschen Schnecken zielstrebig auf ihrer eigenen, schützenden Schleimspur dahin. So überwinden sie selbst messerscharfe Kanten ohne jede Verletzung. Nacktschnecken – die ohne Haus wendiger und mobiler als Gehäuseschnecken sind - können sich sogar kopfüber hängend an einem Schleimfaden abseilen, um zu duftendem Pflanzen zu gelangen, weiß Michael Schrödl:
MUSIK ENDE
O-TON 11
Also der Schleim, der vorn und über den Fuß produziert wird, der ist dann hinten übrig am Schwanz und da können Sie sich vorn aktiv vom Untergrund lösen und an ihrem eigenen Schleimfaden abseilen. Und wenn man zum Beispiel Pflanzen in Kübeln aufhängt, um sie vor Schnecken zu schützen, so wie ich das auch daheim gemacht habe, dann schaut man ziemlich doof, wenn irgendwann die dicke, fette Nacktschnecke sich vom Terrassendach an einem eigenen Schleimfaden abseilt, genau zu den Blumentöpfen hin, die hängen in der freien Luft.
SPRECHER
Der je nach Art mehr oder weniger klebrige Schleim wird vor allem vom vorderen Teil des Fußes abgesondert. Der Schleim schützt die Tiere vor dem Austrocknen, vor Krankheiten und teilweise auch vor Fressfeinden.
Geräusch Schleim
SPRECHER
Inzwischen hat die Kosmetikindustrie Schneckenschleim entdeckt und produziert Schneckencremes. Die Produkte werden als natürliches Anti-Aging-Mittel angepriesen und sollen unter anderem gegen Akne oder auch trockene Haut helfen. Doch Tierschützer kritisieren dies. Die Schnecken würden meist gezielt unter Stress gesetzt und zum Beispiel mechanisch gereizt, um möglichst viel Schleim abzusondern. Auch die Pharmaindustrie nutzt Medikamente, die Wirkstoffe von Schnecken enthalten. So gibt es ein Medikament gegen Harnblasenkrebs, das aus der Hämolymphe, einer Art Blutersatz, der kalifornischen Schlüssellochschnecke Megathura crenulata produziert wird. Forschungen finden auch mit der Kegelschnecke statt, die mit einer Gift-Harpune Fische oder Muscheln betäubt und frisst. Das von der Schnecke produzierte Nervengift, kann bei Menschen die Weiterleitung von Schmerzreizen unterbinden und kommt deshalb bei Schmerzpatienten zum Einsatz.
MUSIK privat Take 003 „Moonlit Antennae“; Album: The Ambient Snail; Label: 2733800 Records DK; Interpret: Thrilling Snail; Komponist: Thrilling Snail; ZEIT: 00:47
SPRECHER
Der Aktionsradius von Schnecken ist in der Regel klein. Die meisten Schnecken kriechen wortwörtlich im Schneckentempo – je nach Art nur wenige Millimeter, Zentimeter oder Meter pro Stunde. Manche Arten können sich auch anders fortbewegen: Die bis zu 40 Zentimeter großen braun-schwarzen Seehasen haben eine flügelartige Verbreiterung des Fußes und können schwimmen. Die Meeresschnecken leben an der französischen Atlantikküste.
MUSIK ENDE
O-TON 13
Es gibt auch Schnecken, die hüpfen. Gerade im Meer gibt es da ein paar. Zum Beispiel Fechterschnecken können sich mit ihrem Horndeckel vom Meeresboden abstoßen. Viele Schnecken, wenn sie schnell wegwollen und an Klippen wohnen, Unterwasser-Hügeln, die lassen sich einfach runter plumpsen. Es gibt Schnecken, die können sich im Meer schlangenförmig bewegen.
SPRECHER
Weltweit sind etwa 60.000 Schneckenarten bekannt. Doch Experten wie Michael Schrödel gehen von einer mindestens doppelt so hohen Zahl aus.
O-TON 14
Also den Rest hat man einfach noch nicht entdeckt. Und bei uns in Deutschland gibt es ungefähr knapp 300 Schneckenarten. Das ist eine ganze Menge.
SPRECHER
Die kleinsten, bisher bekannten Exemplare haben ein Gehäuse und sind kleiner als ein Sandkorn. Die Art mit dem Namen Angustopila psammion lebt in Vietnam und misst nur etwa einen halben Millimeter. Die größte bekannte Art, die Große Rüsselschnecke, ist im Indischen Ozean heimisch. Sie hat ein spindelförmiges Gehäuse und kann bis zu 90 Zentimeter groß werden. Im Laufe der Evolution haben Schnecken fast jeden Raum der Erde erobert. Sie leben an Land, in Süß- und Salzwasser.
O-TON 15
Der einzige Ort, wo man früher gedacht hat, dass es keine Schnecken gibt an Land, das sind Eisgebiete oder gefrorene Bereiche der Ozeane. Aber selbst da hat man gefunden: Wenn Meereis gefriert, dann bilden sich sogenannte Solekanälchen, da wo konzentriertes Salzwasser dann drin ist, also nur das Süßwasseranteil gefriert, und das Salz konzentriert sich in so Kanälchen. Und da gibt es eine Schneckenart (…) in der Antarktis, die darin sogar sich reproduziert, also die leben in den Solekanälchen so lange, bis das Eis wieder schmilzt und dann kann man wieder im freien Wasser leben.
SPRECHER
Auch wenn manche Schnecken unter extremen Bedingungen wie in der Antarktis überleben können, für viele Arten wird es zunehmend schwieriger. Denn viele Schnecken sind eng an die von ihnen besiedelten Biotope und damit ganz spezifische Bedingungen angewiesen. Doch die Habitate verändern sich – zum Beispiel durch intensive Landnutzung oder auch die Auswirkungen des Klimawandels. So steht zum Beispiel die Weinbergschnecke – die als Delikatesse beliebt ist und extra für den Verzehr gezüchtet wird – in Deutschland unter Naturschutz. In Deutschland gelten inzwischen etwa zwei Drittel der Landschneckenarten als bedroht. Damit gehören Schnecken zu den am meisten bedrohten Organismen. Der Schneckenforscher Michael Schrödl:
O-TON 16
Sie sind Bioindikatoren für uns Menschen, weil Schnecken eben nicht sehr mobil sind in der Regel und spezielle Anforderungen an Nahrungspflanzen an Umweltparameter haben. Wenn es vorher an einer Stelle Schnecken gab und hernach nicht mehr, dann weiß man, hopsa da haben sich vermutlich die Lebensbedingungen geändert. Und andersrum, wo es empfindliche Schnecken oder sehr spezifische Schnecken für bestimmte Habitate gibt und man findet sie noch, dann heißt es okay, das Habitat ist noch ziemlich in Ordnung.
MUSIK privat Take 007 „Silken Shadows“; Album: The Ambient Snail; Label: 2733800 Records DK; Interpret: Thrilling Snail; Komponist: Thrilling Snail; ZEIT: 01:14
Verschiedene SPRECHER/IN
Hain-Bänderschnecke. Tigerschnegel. Braune Wegschnecke. Gefleckte Schnirkelschnecke. Gemeine Bernsteinschnecke. Schlanke Zwerghornschnecke. Schwarzer Schnegel. Genetzte Ackerschnecke. Posthornschnecke ….
SPRECHER
… heißen einige der Schneckenarten bei uns. Oft deutet die deutsche Bezeichnung auf ihre Farbe und Musterung des Körpers oder auch das Aussehen ihres Gehäuses hin. Schneckenhäuser bestehen aus Kalk, also Calciumcarbonat. Diesen Baustoff nehmen die Tiere über die Nahrung auf. Die Behausung ist fest mit dem Körper verbunden. Bei Gefahr, Trockenheit oder im Winter ziehen sich die Tiere in ihr Gehäuse zurück. Einige Arten haben am Ende des hinteren Fußes einen Schalendeckel, mit dem sich die Gehäuseöffnung verschließen lässt. Das Haus wächst im Laufe eines Schneckenlebens mit. Jeder Streifen ist so ein Ausbau. Auf diese Weise bildet sich langsam die spiralförmige Windung des Hauses. Michael Schrödl:
MUSIK ENDE
O-TON 17
Normalerweise sind Weinbergschnecken rechtsdrehend, und ab und zu gibt es auch linksdrehende Exemplare. Man hat früher gesagt unter einer Million gibt es eine linksdrehende, und die hat man Schneckenkönige genannt.
SPRECHER
Wie viele Schneckenkönige es tatsächlich gibt, ist unklar. Andere Quellen nennen ein Verhältnis von 1:10.000. Fest steht nur: sie sind sehr selten, Grund ist übrigens eine Punktmutation auf ihrer DNA, also ihrer Erbinformation. So oder so: Die Schneckenkönige haben ein Problem. Nicht nur ihr Haus windet sich in die andere Richtung, auch ihre Organe und damit auch die Geschlechtsöffnung sind seitenvertauscht. Sie kommen daher nicht mit anderen potenziellen Geschlechtspartnern zusammen. Theoretisch ist bei Weinbergschnecken zwar eine Selbstbefruchtung möglich – sie sind nämlich Zwitter. Doch in der Natur wird - um den besten genetischen Mix zu erhalten - Selbstbefruchtung in der Regel vermieden. Die Tiere finden oft keinen Partner. Auch bei anderen Arten gibt es Besonderheiten bei der Fortpflanzung, sagt der Biologe Michael Schrödl:
O-TON 18
Die allermeisten Schnecken bei uns an Land zumindest sind simultane Zwitter. Das heißt, sie kopulieren gegenseitig und befruchten sich auch gegenseitig. Da gibt es Ausnahmen: Zum Beispiel die Weinbergschnecke ist zwar auch eigentlich ein simultaner Zwitter, aber weil es energetisch günstiger ist, als Männchen aufzutreten und seinen Nachwuchs als Männchen zu zeugen, gibt es bei Schnirkelschnecken, zu der die Weinbergschnecke auch gehört, (…) ein spezielles Fortpflanzungssystem, nämlich den sogenannten Liebespfeil. Das ist ein Kalkstacheln, den der eine Partner bei der Kopulation dem anderen in die Seite rammt. Und an diesem Kalkstachel hängen Pheromone dran, und die unterdrücken anscheinend die männliche Funktion des Geschlechtspartners. Der Partner, der zuerst den Liebespfeil in die Seite des anderen rammt, darf dann als Männchen fungieren.
SPRECHER
Nicht alle Schneckenarten sind Zwitter, viele Pflanzen sich auch als Männchen und Weibchen fort. Nicht nur die Fortpflanzung unterscheidet sich von Art zu Art, auch das Aussehen und die Verhaltensweisen sind sehr verschieden. Michael Schrödl:
O-TON 19
Zum Beispiel haben wir ja gesagt, nicht alle Schnecken haben Schalen. Aber nicht mal alle Schnecken haben einen Fuß. (…) Es gibt Schnecken, die sind überhaupt nicht als Schnecken erkennbar zum Beispiel gibt es Schnecken, die in Sandsystemen leben und die schauen einfach bloß aus wie ein Wurm. Und es gibt parasitische Schnecken, die schauen (…) gar nicht mehr aus wie Schnecken oder Würmer, sondern das sind einfach bloß noch Beutel irgendwo an oder in Seegurken oder Seesternen. Da ist es einfach bloß noch ein Sack.
MUSIK privat Take 007 „Silken Shadows“; Album: The Ambient Snail; Label: 2733800 Records DK; Interpret: Thrilling Snail; Komponist: Thrilling Snail; ZEIT: 01:20
SPRECHER
Auch wenn viele Menschen Schnecken einfach nur eklig finden, so sind die Weichtiere auch faszinierend und werden wie die aus Afrika stammende Achatschnecken gerne auch als Haustier gehalten. Viele Menschen hatten zumindest als Kinder mal eine Schnecke im Einmachglas und beobachteten die Tiere wie die US-Autorin Elisabeth Tova Bailey. Die US-Autorin erklärt sich die Faszination so:
O-TON 2
Overvoice weiblich
Ich denke, wir sind alle fasziniert von der Schnecke, die ja ihr eigenes Haus hat, vor allem Kinder finden das toll. Und wir waren ja alle mal Kinder, selbst wenn man jetzt keine direkten Erfahrungen mit Schnecken hat, erinnert man sich daran, wie das damals war, als wir Kinder waren. Kinder beobachten ja viel mehr als Erwachsene. Und ich denke, es ist einfach ein ungewöhnliches Tier, das mobil ist, das sein eigenes Haus mit sich trägt, das Fühler hat. Man kann erkennen, dass es ein neugieriges Tier ist, es ist neugierig auf die Welt.
Wale bleiben trotz moderner Forschung rätselhaft: Wie tief können sie tauchen, was bedeuten ihre Gesänge, warum kommt es zu Walstrandungen? Dabei faszinieren die geheimnisvollen Wanderer der Ozeane die Menschen mehr als je zuvor. Von Helmut Stapel (BR 2020)
Credits:
Autor dieser Folge: Helmut Stapel
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Rahel Comtesse, Diana Gaul, Frank Manhold
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Linktipp
Weiter spannende Fakten, Bilder und Links zu den bedrohten Meeressäugern finden Sie auf BR Wissen:
BR Wissen | Warnstufe Rot für viele Wale - Die Nomaden der Meere brauchen Schutz
ZUR BEITRAGSSEITE
Dr. Ruth war die erste, die in den USA öffentlich über Sex sprach - und dadurch zum Superstar wurde. Nun ist sie 87 und redet noch immer über Sex. Oft ist das witzig und interessant. Manches wirkt plötzlich erstaunlich altmodisch. Von Nathalie Stüben (BR 2016)
CREDITS
Autorin: Nathalie Stüben
Sprecher: Hemma Michel, Andreas Neumann, Caroline Ebner, Carsten Fabian, Berenike Beschle
Regie: Sabine Kienhöfer
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Nicole Ruchlak
Die Barockmalerin Artemisia Gentileschi ist eine der emanzipiertesten Frauen der europäischen Kunstgeschichte. Als junge Malerin sagt sie gegen ihren Vergewaltiger aus. Was damals einer gesellschaftlichen Selbstvernichtung gleichkommt, hindert sie nicht am Weg nach ganz oben. Als sie stirbt, ist sie ein Star. Von Karin Becker (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Karin Becker
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Literaturtipps:
Neuste Forschungspositionen:
Treves, Letizia: Artemisia. Ausstellungskatalog. National Gallery Company: London 2020;
Über die Selbstproträts:
Oy-Marra, Elisabeth: Maskierung einer Malerin. Die Selbstporträts der Artemisia Gentileschi. In: Maske, Maskerade und die Kunst der Verstellung vom Barock bis zur Moderne, hrsg. von Christiane Kruse [Wolffenbütteler Arbeitskreis für Barockforschung, Bd. 52], Harrassowitz Verlag: Wiesbaden 2014, S. 151-172.
Einzig greifbare deutsche Übersetzung der Briefe und Prozessdokumente im Anhang:
Stolzenwald, Susanna: Artemisia Gentileschi. Bindung und Befreiung in Leben und Werk einer Malerin. Belser: Stuttgart, Zürich 1991;
Ein Kapitel über das Leben und Werk von Artemisia Gentileschi:
Stephan-Chlustin, Anne: Die verschwiegenen Frauen. Desertina: Chur 2013.
Die Diskothek, zunächst nur ein Ort, an dem Schallplatten aufbewahrt wurden, hat sich vor allem in der Nachkriegszeit vom einfachen Tanzlokal zum Tempel der Clubkultur entwickelt. Sie ist sowohl ein Ort des Kommerz, aber auch ein Freiraum der für die Kultur unersetzlich ist. Von Christian Schaaf (BR 2022)
Credits
Autor dieser Folge: Christian Schaaf
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Katja Amberger
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Christina Mohr, Musikjournalistin, Frankfurt.
Hans Nieswandt, DJ, Musikproduzent, Autor und ehemaliger künstlerischer Leiter am Institut für Pop-Musik der Folkwang Universität Bochum.
Kosmos Musik
Fördert Klavierspielen die Intelligenz? Warum ist Singen gut fürs Immunsystem? Und wie klang der Urknall? Auf diese und andere spannende Fragen antwortet der neue Wissens-Podcast "Kosmos Musik" mit der Astrophysikerin und angehenden Astronautin Suzanna Randall:
BR PODCAST I KOSMOS MUSIK - DER WISSENS-PODCAST MIT SUZANNA RANDALL
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Paradeiser, Pomo d´oro, oder einfach nur Tomate: viele Namen gibt es für der Deutschen liebste Frucht, aber noch viel mehr Sorten. 10.000 sollen es sein, mit so herrlichen Namen wie Black Zebra, Schneewittchen oder Schlesische Himbeere. Auf Siegeszug durch die ganze Welt! Von Johannes Marchl
Credits
Autor dieser Folge: Johannes Marchl
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Schild, Stefan Merki
Technik: Stefan oberle
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Yurdagül Zopf, Ernährungsmedizinerin an der Uni Erlangen
Dr. Ulrike Lohwasser, Leibnitz Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung
Irina Zacharias, Tomatenzüchterin
Mario Gamba, Sterne-Koch
Linktipp:
Gemüse und Obst: Woher kommen die beliebtesten Kulturpflanzen? ARDalpha
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Literatur:
Brunhild Bross-Burkhardt, „Tomate Kultur. Mythos. Gesundheit. Rezepte.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
„Du treulose Tomate“
OT 1 Geräusch zerplatzende Tomate
Sprecher:
Hast du denn Tomaten auf den Augen?
OT 2 Hupen und zerplatzte Tomate
Sprecherin:
Ihr seid mir ja so faule Tomaten…
OT 3 zerplatzende Tomate
Sprecher:
Gewiss, sie hat nicht den besten Leumund, die Tomate.
M El sospiro del moro (Länge: 0´42´´) unter:
Und in Spanien gibt es sogar die Stadt Bunol, die das mit der „Tomaten aufs Auge“ recht wörtlich nimmt- und noch ganz andere Körperteile anpeilt: Bei der berühmten Tomatenschlacht La Tomatina bewirft Frau und vor allem Mann sich gegenseitig mit Tausenden Kilo überreifer Tomaten. Bäche aus Tomatensaft fließen durch die Straßen, die roten Früchte klatschen an Körper und Hauswände, kleben an Haut und Haaren. Seit im Jahr 2012 um die 50 Tausend Teilnehmende für ein tomatisiertes Chaos gesorgt hatten, ist die Teilnehmerzahl strikt beschränkt.
Sprecherin:
Doch zurück zu der Tomate, die wir nicht werfen, sondern essen. Und die immerhin der absolute weltweite Spitzenreiter in Sachen Frucht ist. Weltweit werden rund 185 Millionen Tonnen produziert. Und da sind wir in Spanien eigentlich schon am richtigen Ort. Denn es waren die spanischen Eroberer, zunächst wohl schon Christoph Columbus und dann gesichert der Spanier Cortéz, die Tomatenpflanzen mit von ihren Raubzügen brachten.
M Crepusculo costeño (Länge: 0´33´´)
Sprecher:
…Aus Südamerika. Hier gibt es fast überall Tomaten: wilde Tomaten, aber auch Tomaten, die sich die indigenen Bewohner nutzbar gemacht hatten. In Kolumbien und Ecuador, in Peru und Chile, von den Küsten bis in die Anden sind sie gewachsen, sogar auf den Galapagos Inseln gab es Tomaten. Wobei die Ur-Tomate mit dem, was wir heute genießen, wenig zu tun hat:
OT 4 Lohwasser
„Also die ursprünglichen Formen sind natürlich Wildarten, die sehr kleine Früchte haben, die oft auch behaart sind, grün, einen bitteren Geschmack haben, ungenießbar sind.“
Sprecher:
Sehen ungefähr so wie Stachelbeeren aus, erzählt Ulrike Lohwasser vom Leibnitz Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung
OT 5
„Aber es gibt eben auch aromatische Formen. Eine hat auch Alexander von Humboldt in Argentinien beschrieben, eine Wildtomate, die aromatisch ist und sehr gut schmeckt. Und die Ureinwohner Südamerikas haben zu irgendeinem Zeitpunkt, der sich nicht genau definieren lässt, festgestellt, dass man Tomaten essen kann, und haben angefangen, sie in Kultur zu nehmen.“
Sprecherin:
Was ungefähr so vor sich geht: Man entdeckt etwas Interessantes, stellt fest: das kann man essen. Und wenn ich es weiter veredle, dann schmeckt es sogar recht gut. Und wenn es dann noch – wie die Tomate – gut anzubauen ist, kultiviert man weiter: Größere Früchte, gesündere Pflanzen, auf Feldern oder im heimischen Garten.
OT 6
„Man weiß nicht genau, ob es in Peru oder in Mexiko erstmals in Kultur genommen wurde. Es gibt keine archäo-botanischen Funde dazu. Was man weiß, ist, dass die Mayas und später dann auch die Azteken sie in Mexiko angebaut haben. Das könnte bereits tausend vor Christus schon passiert sein, könnte aber auch später passiert sein, das weiß man nicht genau.“
Sprecher:
Die Azteken nennen das von ihnen gezüchtete Gewächs „Xitomatl“ – (Aussprache: „Xi Tomatl“ gesprochen wie geschrieben und betont wie Tomate)
Sprecherin:
übersetzt: „Nabel des dicken Wassers“
Sprecher:
– der Name, den auch die Spanier mit nach Europa bringen.
M ARD-LABELMUSIK Basics (a) (Länge: 0´44´´) unter:
Daher der Ursprung unseres Begriffs „Tomate“, von „Xi-tomatl“, der ja in Varianten in vielen anderen Ländern gebräuchlich ist.
Sprecherin:
Aber da gibt es ja auch noch den Namen „Paradeiser“, wie ihn unsere österreichischen Nachbarn nutzen, und in Italien heißt sie „Pomo d´oro“, Goldapfel. So getauft vom italienischen Botaniker Pietro Andrea Mattioli. Der hält sein anscheinend gelbes Ansichtsexemplar 1544 erstmals in einer schriftlichen Beschreibung fest – und tauft es eben „Pomo d´oro“ – hat ja bis heute in Italien seine Gültigkeit…
M Capponi: 1. Satz: Largo aus: Sonata da camera Nr. 8 (Länge: 0´42´´) unter:
Sprecher:
Dass die Tomate schnell ihren Weg von Spanien nach Italien findet, kommt nicht von ungefähr. Es gibt im 16. Jahrhundert spanische Besitztümer in Italien, wie Neapel oder Sardinien. Und als dann der toskanische Großherzog Cosimo de Medici einen Korb voll von diesen seltsam schönen Früchten erhält, ist es um das Schattendasein der Tomate geschehen. Der Adel hat großes Interesse an diesem exotischen Gewächs aus der neuen Welt, allerdings nicht, um es sich als Speise einzuverleiben, sagt Ulrike Lohwasser vom Leibnitz-Institut
OT 7
„Man hat also sehr schnell festgestellt, dass sie zu den Nachtschattengewächsen gehört, zu denen ja auch Tollkirsche zum Beispiel gehört und andere giftige Pflanzen. Also man wusste, sie ist giftig und hat sie deshalb nur als Zierpflanze kultiviert. Und speziell in Fürstengarten wurde sie als exotische Besonderheit, als exotische Zierpflanze angebaut. Die Früchte gibt es ja nicht nur in Rot und rund, sondern gibt es in Weiß, gibt es in Gelb, in Gestreift, in Paprika, v-förmig und in allen möglichen Farben und Formen. Und das sah ja nett aus, die Früchte, die Pflanzen selbst sind ja nicht so attraktiv.“
Sprecherin:
Noch ein Wort zur Tomate als Nachtschattengewächs: Der springende Punkt ist: Nachtschattengewächse enthalten Solanin. Und Solanin ist giftig. Deshalb: Finger weg von Tollkirschen, aber auch zum Beispiel von Kartoffeln, wenn sie grün gefärbt sind. Bei den Tomaten ist das meiste Solanin in den Blättern und Stängeln. Wenn sie rot und reif sind, sind sie vollkommen ungefährlich.
M Capponi: 1. Satz: Largo aus: Sonata da camera Nr. 8 (Länge: 0´23´´) unter:
Sprecher:
Aber wer will das schon im 16. Jahrhundert ausprobieren?! Und die Folge war, dass sie damals eben zunächst nur in den Gärten der begüterten Oberschicht als Rarität und zum Angeben angebaut werden.
Das Solanin soll übrigens auch dafür verantwortlich sein, dass die Tomate als Aphrodisiakum angesehen wurde:
OT 8 Lohwasser
„Also, man hat geglaubt, dass die Frucht Auslöser von Liebeswahn ist, auch durch das Solanin, was enthalten ist. Deswegen hat man es Liebesapfel genannt, Pomme d´ amour, oder auch Love-Apple im Englischen. Auch das Wort Paradiesapfel geht in diese Richtung, und es gab eine Zeit, in der also Tomaten von jungen Mädchen nicht gegessen werden durften aufgrund dieses Liebeswahns, dieses Auslösers für Liebeswahn. Man hat Angst gehabt, dass die jungen Mädchen davon besessen werden.“
Sprecherin:
Junge Männer durften sich übrigens sehr wohl der Gefahr des Liebeswahns aussetzen, sie durften Tomaten essen. Das Verbot galt nur für die weibliche Hälfte der Jugend…
Sprecher:
Nicht nur in Italien ist man vorsichtig mit den Tomaten. Dies „Kraut“ sei von einem…
Sprecherin:
„stercken stinckenden seer seltsamen stanck“
(Aussprache-Hinweis wird nachgeliefert)
Sprecher:
…notiert der Niederländer Rembert Dodoens um 1560 in seinem Cruyde Boeck. Der Franzose Jacques Daléchamps glaubt 1587, es sei gefährlich, die…
Sprecherin:
… „fremde Pflanze“…
Sprecher:
…zu nutzen. Und besonders in England und Nordeuropa hält sich über Jahrhunderte hartnäckig das Gerücht, dass die gehobene Gesellschaft, vor allem Aristokraten, nach dem Genuss von Tomaten gestorben seien. Schuld habe die giftige Tomate.
Sprecherin:
Ein Erklärungsversucht ist, dass höhere gesellschaftliche Kreise Teller und Schalen aus Hartzinn benutzten, ein sehr bleihaltiges Material. Das soll dann mit der Säure der Tomaten reagiert und die Esser vergiftet haben. Was arme Leute nicht betroffen hat, weil die von Holztellern aßen.
OT 9
„Ob das Gerücht ist oder ob das stimmt, wage ich zu bezweifeln. Weil, da müsste man schon sehr viel essen, dass die Tomaten tatsächlich aus dem Zinn Blei herauslösen, aber vielleicht über die vielen Jahre, wenn man das regelmäßig macht, kann es ein Problem gewesen sein. Aber ob das wirklich stimmt, wage ich zu bezweifeln.“
Sprecherin:
Meint Kulturpflanzenforscherin Ulrike Lohwasser.
M Capponi: 1. Satz: Largo aus: Sonata da camera Nr. 8 (Länge: 0´44´´) unter:
Sprecher:
Fest steht jedenfalls, dass noch während der Renaissance entdeckt wird, dass die Tomate essbar ist. Wie?! Man weiß es nicht, vielleicht haben Gärtner oder Hausangestellte heimlich an den paradiesischen Früchten, die so herrlich rot leuchten und ungewöhnlich riechen, genascht. In einem italienischen Kochbuch von 1658 lässt sich jedenfalls schon ein Rezept mit Tomaten finden, ähnlich einem Ratatouille. Und seitdem ist die Tomate nicht mehr wegzudenken, vor allem nicht aus der italienischen Küche.
Sprecherin:
Und immer noch sind Neapel, ja ganz Italien untrennbar verbunden mit der fundamentalsten aller Pasta- und Pizzasaucen: Der Tomatensauce. Und deren Geheimnis kennt einer wie kein anderer: Mario Gamba, Sternekoch und Italiener.
OT 11 Gamba
„Bei Tomatensauce denke ich an den Sommer, weil Tomate ist par excellence der König des Sommers, ich denke an Sonne, an Wasser, an alle Elemente, die die Tomate braucht, um reif zu werden und süßlich zu werden, um eine Balance zwischen Frucht und Säure zu haben, im August mit der Sonne, um diese angemessene Süße zu erreichen, das ist der Sommer, ja. Tomaten ist eine Erinnerung an die Kindheit, wo ich die Tomate direkt von der Pflanze abgebissen habe, ohne dass mich meine Oma gesehen hat, in dem Moment war auch der Geruch der Blätter ein unglaublicher Reiz.“
Sprecher:
Und jeder und jede in Italien hat natürlich ein eigenes Rezept. Und wirklich schmeckt jede Tomatensauce anders. Die Variante von Sternekoch Mario Gamba?! Der verrät erstmal eine Weisheit, die nicht nur, aber ganz besonders eben für die Tomatensauce gilt:
OT12 Mario Gamba
„Mit einer Tomatensauce darfst du nicht denken, dass du die in fünf Minuten fertig hast.
Sprecherin:
Zeit ist zentral. Und dann verrät der Sternekoch das Rezept, so wie er es von seiner Oma und seiner Mama gelernt hat
M Torna a Sorrento (Länge: 0´46´´)
OT 14
„Meine Mutter und meine Oma, die haben 20, 30, 40 Kilo Sugo aufgekocht und dann das Ragout für den Winter erhalten. Die haben um 9.00 Uhr angefangen und um 11.30 war sie fertig. Mit verschiedenen Kräutern, am meisten Basilikum und Petersilie und dann vorher den Sofrito – Zwiebel Karotten, Sellerie – und es gab einen unglaublichen Geruch im ganzen Haus. Mit ein bisschen Schweinebauch, und alles auf langsamer Flamme. Und wir haben keinen Zucker dazu getan, weil wenn du die Tomaten so lange kochst, dann sind die nicht mehr säuerlich, dann sind die süß. Das war nicht nur „eine“ Tomatensauce, sondern das war „die“ Tomatensauce.“
Sprecherin:
Jetzt aber lassen wir die Tomate erstmal in Deutschland ankommen, hat auch lange genug gedauert. Erst um 1880 bauen die ersten Gärtner Tomaten an, verschiedene Tomaten-Samen können erworben werden. Um 1900 erscheint das „Tomatenbuch“ mit Rezepten, verfasst vom Königlichen Ökonomierat und Chefredakteur des „Praktischen Ratgebers im Obst- und Gemüsebau“, Johannes Böttner. Und dennoch: es geht weiter langsam voran, keiner könnte zu dieser Zeit von einem „Siegeszug der Tomate“ sprechen.
Sprecher:
Im Gegenteil: Bis zum ersten Weltkrieg ist die Tomate eher ein Fremdkörper auf dem Tisch in Deutschland, denn ein gewohntes Bild. 1914 taucht die Tomate erstmals in der deutschen Warenstatistik auf. Wenige tausend Tonnen werden eingeführt, eher Rarität als Massenware. Was sich erst lange nach dem 2. Weltkrieg fundamental ändert. Die Tomate wird zum gängigen Lebensmittel, kein Salat mehr ohne sie, keine Pizza, keine Bolognese ohne Tomate.
Sprecherin:
Was der Qualität der Tomate, ihrem Geschmack, aber nicht unbedingt guttut. Denn die Tomaten, die für den steigenden Bedarf gezüchtet werden, zeichnen sich über Jahrzehnte vor allem durch viel Wasser und wenig Aroma aus. Die Hollandtomate wird zum Synonym für Hochleistungstomaten, mit bis zu 80 Kilo Ertrag pro Pflanze - die zwar gut ausschauen, aber oft bestenfalls nichtssagend schmecken. Eine Tomate gezüchtet für den Supermarkt.
ATMO
Sprecher
Irina Zacharias ist selbst Tomatenzüchterin. Nicht für die Tomaten-Industrie, sondern klein und fein ist ihr Tomatenpflanzen-Hof nahe Maxhütte-Haidhof in der Oberpfalz, auf dem sie jedes Jahr 300 unterschiedliche Sorten anbietet.
Sprecherin
Trotzdem zeigt Züchterin Zacharias Verständnis für die große Tomatenindustrie
OT 15 Irina
„Es ist auch kein Schimpfwort „Industrie“. Denn im großen Bereich würde man so nicht produzieren können. Die Leute mögen alte Sorten und traditionelle Sorten. Aber diese Sorten sind absolut nicht geeignet für lange Lagerfähigkeit, nicht für den Transport in einem Lastwagen, die kann man gerade mal für eine Schicht aufs Papier legen manchmal, weil sie nicht so hart sind, oder weil viele dünne Haut haben.“
Sprecher:
Und dennoch ist Irina Zacharias einen ganz anderen Weg gegangen. Auch wenn immer noch der Preis für die meisten Menschen in Deutschland ausschlaggebend ist beim Tomatenkauf, danach das Aussehen kommt und dann erst – an dritter Stelle – der Geschmack. Auf ihrem Hof in der Oberpfalz zählt die Vielfalt, der Geschmack und nicht der Profit. Der Grund, warum sie angefangen hat zu züchten, ist einfach
OT 16
„Weil hier Tomaten nach nichts schmeckten. Die schmeckten einfach nicht, ich war sehr überrascht. Ich bin hier seit 31 Jahren. Und seit genauso vielen Jahren sind mit mir Tomaten hier. Geschmack macht eine gute Sorte aus. Geschmack muss nicht immer eine Spitze sein. Zum Beispiel sind die besten Tomaten für Suppen und Saucen mehlige Tomaten. Und in frischem Zustand – zum Beispiel San Marzano – schmecken die gar nicht so würzig. Manchen Menschen mögen es, wenn die Tomaten sauer sind, manche wenn sie süß sind, und so weiter.“
M ARD-LABELMUSIK Basics (a) (Länge: 0´45´´) unter:
Sprecherin:
Und so bewahrt sie die Samen von 1500 Tomatensorten. Mit so klangvollen Namen wie „Feuerwerk“
Sprecher
Alte russische Sorte, rot-gelb gestreifte zwiebelförmige würzige Fleischtomate. Oder „Gelbe Johannisbeere“
Sprecherin:
Ertragreiche buschige kleine gelbe Wildtomate. Oder „Blondköpfchen“:
Sprecher:
Alte Deutsche Sorte. „Schneewittchen“
Sprecherin:
Mit rosa Bäckchen. „Sosuletschka“ (Gesprochen wie geschrieben), „Justens Süße“, „Early Wonder“ (Aussprache englisch)
Sprecher:
„Lucky Tiger“, „Purple Dragon“, „Green Zebra“ (Aussprache englisch)
Sprecherin:
„Sweet Cream“ (englisch)
Sprecher:
„Smiley Worms“ (englisch)
Sprecherin:
Oder „Harzfeuer“: normale rote runde Tomate aus der ehemaligen DDR
OT 17
„Wer kauft bei uns Pflanzen? Menschen, denen es das wert ist, sie in den Garten zu setzen. Die gewohnt sind zu verstehen, dass man für manche Sachen warten muss. Zum Beispiel, dass es im Januar keine frischen Tomaten gibt. Und die auf Vielfalt setzen. Dass man immer was hat, das ist, wenn man Vielfalt hat.“
Sprecher:
Tomatenzüchterin Irina Zacharias stammt aus Russland. Dort hat ihr Vater ihr die Essentials mitgegeben, indem er ihr auf der Familien-Datscha bei Moskau alles über „seine“ Tomaten erzählt hat - während sie ihm helfen musste. Und was ist jetzt ihre Lieblingstomate?
Sprecherin:
Typische Journalistenfrage, sagt sie. Denn: Die „richtige“ Tomate gibt es für sie nicht. Weil jeder andere Vorlieben hat. Die Italiener lieben Ochsenherz oder San Marzano, die Deutschen eher süße Kirschtomaten, und Irina Zacharias selber? Sie mag Fleischtomaten! Aber nicht aus dem Supermarkt, von ihr selbst angebaut!
OT 18
„Einmal sitzt bei mir eine Frau bei der Verkostung und weint. Ich frage, was denn los ist?! Sie sagt, sie ist gerade hierher gefahren und habe gesagt: „Hoffentlich keine Fleischtomaten, weil die mag ich nicht.“ Und jetzt geben sie gerade dies große Fleischtomate und die schmeckt so köstlich, ich bin richtig ergriffen.“
M ARD-Labelmusik Automated movement (Länge: 0´47´´)
Sprecher:
Geruch, Aroma, Konsistenz. Wichtig… Aber noch ein Faktor ist in den letzten Jahren immer weiter nach vorne gerückt: Tomaten sind extrem gesund. Schon die ersten Tomatenpflanzen wurden vom spanischen Arzt Nicolás Monardes Alfaro auf ihr medizinisches Potential untersucht. Und eingesetzt, um den Körper zu reinigen und Schwellungen zu lindern, mit ihrem Saft, aber auch mit Tomaten-Umschlägen. Man dachte sogar, man könne Tollwut oder Alpträume mit Tomaten behandeln. Da ist man heute mit der Forschung etwas weiter, bestätigt Ernährungsmedizinerin Professorin Yurdagül Zopf (gesprochen wie geschrieben, eher auf dem „u“ betont) von der Universität Erlangen
OT 19 Zopf
„Tomate ist unwahrscheinlich gesund, und wenn man sie richtig zubereitet, potenziert sich auch die Inhaltsstoffe in ihrer gesundheitlichen Wirkung. Und es ist eine Bombe an Pflanzenstoffen enthalten, die verschiedenen Organe positiv beeinflussen können.“
Sprecherin:
Viele verschiedene Pflanzenstoffe also in der Tomate, auch ganz viel Vitamine, aber ein Stoff sticht besonders heraus: Lykopin. Und der große Gegner des Lykopins sind die sogenannten „Freien Radikalen“, die Entzündungen hervorrufen und damit Gewebe zerstören können – wenn da das Lykopin nicht wäre…
OT 20 Zopf
„Lykopine haben die wunderbare Eigenschaft, freie Radikale abzufangen und die Entzündung zu senken. Das hat einen positiven Effekt auf die Gefäßwände, das hat einen positiven Effekt auf entzündlich veränderte Hautveränderungen, und bedeutet einfach, dass wir keine Kalkablagerung in der Gefäßwand haben und man das Herzinfarktrisiko dadurch senken kann.“
Sprecher:
Lykopin soll aber nicht nur das Infarktrisiko senken, sondern auch das Krebsrisiko, Knochenschwund verringern, Schlaganfälle verhindern. Und je reifer die Tomate, desto mehr Lykopin ist drin. Also am besten regionale, schon ausgereifte Tomaten essen, rät Ernährungsmedizinerin Yurdagül Zopf. Und der Clou ist: Man muss Tomaten nicht mal roh essen, wenn man das nicht mag:
OT 21
„Je kleiner die zerhackten Würfel der Tomaten sind, desto mehr wird aus der Tomate der Zellstoff freigesetzt, durch die Zelle, die aufgebrochen wurde. Und am Allerbesten ist das Erhitzen, das potenziert sich in dem Sinne, dass das lange erhitzt wird, also klassisch: eine halbe bis eine Stunde kochen bedeutet dann auch mehr Lykopin-Freisetzung.“
Sprecher:
Und wenn dann noch ein guter Spritzer Olivenöl mit dabei ist, dann ist die Aufnahmekapazität des Dünndarms in Sachen Lykopin zusätzlich verbessert. Gesünder geht kaum.
OT 22 Zopf
„Und was wir noch gar nicht angesprochen haben: dass eine gewisse Ballaststoffmenge in der Tomate enthalten ist, und dann auch noch die Darmflora durch die Ballaststoffe positiv beeinflusst wird. Also ein wunderbares Lebensmittel. Was ich manchmal höre ist, dass manche die Schale entfernen und nur geschälte Tomate konsumieren, das ist eine kleine Schande für so eine tolle Frucht, also wenn Tomate, dann im Ganzen essen.“
Sprecherin:
Gesundheit und Geschmack in einem. Und das alles haben wir einem Nachtschattengewächs zu verdanken, das das Sonnenlicht liebt. Einer Frucht, die im Gegensatz zur Himbeere oder zur Erdbeere wirklich eine Beere ist. Denn: Himbeeren und Erdbeeren sind eigentlich sogenannte Sammelnussfrüchte, während die Tomate biologisch Mitglied der Beerenfamilie ist. Und eine wirklich wunderbare Wandlung mitgemacht hat:
M Despertando de otro sueno (Länge: 0´45´´) unter:
Von der Zierfrucht in den Renaissance-Gärten der Reichen hin zum Lebensmittel mit globaler Bedeutung – dem Allrounder Tomatensauce plus Ketchup und Pizza-Basis sei Dank. Von der verschrienen Wasserbombe holländischer Art hin zur Sehnsuchtsfrucht auf Balkon und im Schrebergarten. Eine Ikone unseres Wunsches, etwas selbst anzubauen, zu ziehen und zu ernten. Wunderbar rot leuchtend, duftend und gesund. Tomate eben.
Der Zauberer wie man ihn bei Harry Potter, als Gandalf oder Merlin kennt: mit langem Mantel, Zauberstab und vor allem mit hohem, spitzigen Hut. Wie schaffte es dieser charakteristische Hut - der Hut des Zauberers - über Generationen, Epochen und Kulturen hinweg bis ins Heute? Wofür steht er und welches ist sein Ursprung? Von Katharina Hübel (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka
Technik: Robin Auld
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Matthias Wemhoff (Professor; Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin);
Angelika Hofmann (Dr.; Leiterin der Sammlung Archäologie am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg);
Naomi Lubrich (Dr.; Leiterin des Jüdischen Museums der Schweiz);
Christine Fößmeier (Kunsthistorikerin)
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
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Stechmücken sind lästige Plagegeister und zählen, wie die Zecken, zu den Tieren, die gefährliche Krankheiten übertragen können. Aber wie leben sie? Welche Rolle spielen sie im Ökosystem? Darüber spricht die Autorin u.a. mit der Mückenforscherin Dr. Doreen Werner. Von Christiane Seiler
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Burchard Dabinnus, Ruth Geiersberger
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Doreen Werner, Entomologin, Zentrum für Agrarlandforschung;
Dr. Helge Kampen, medizinischer Entomologe, Friedrich Löffler Institut;
Mandy Schäfer, Biologin, Friedrich Löffler Institut;
Nadja Pernat, Biologin, Zentrum für Agrarlandforschung
Linktipp:
Mückenatlas Deutschland: Fangt Mücken für das Bürgerforscher-Projekt! ARDalpha
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
AT1:
Pernat: Jetzt kommt wieder der spannende Moment, (auf dem Friedhof, Klappern und Wassergluckern).
Sprecher (auf AT1)
Ein romantisch verwildertes Familiengrab auf dem Alten Zwölf Apostel Kirchhof mitten in Berlin; im Gebüsch neben dem Einfassungsmäuerchen des Grabes macht sich eine junge Frau mit Pferdeschwanz zu schaffen. Sie hebt einen schwarzen Plastikbecher, gießt den Inhalt in eine durchsichtige Plastikkanne um, untersucht den Inhalt. Ein Friedhofsgärtner kommt näher. Was macht sie da?
OT1 Pernat: Mücken!, ja, ...
Sprecher (auf ATMO IN OT2)
Sie fängt Mücken, sagt die Biologin Nadja Pernat, und erklärt weiter:
OT1 weiter Pernat und Friedhofsgärtner:
Also das hier, das sind die Fallen für die Mücken, da legen die Mücken ihre Larven rein (Gärtner: ja). Und dann nehme ich die mit, ans Leibnitz Zentrum für Agrarlandschaftsforschung und da bestimme ich, was das für Arten sind. Mann: also nur, um praktisch Zuwanderer zu identifizieren, ja? Pernat: unter anderem. Aber auch um zu gucken, welche Arten gibt es eigentlich in Berlin, das hat seit Jahrzehnten keiner mehr gemacht.
Sprecher
Mücken in der Stadt - dass es sie gibt, davon weiß sicher jeder aus eigener leidvoller Erfahrung zu berichten. Was aber gefällt den Blutsaugern ausgerechnet an Friedhöfen? Eine Antwort hat Dr. Helge Kampen, medizinischer Entomologe, also Insektenforscher, am Friedrich Löffler Institut bei Greifswald:
OT2 Kampen
Wenn ich Mücke wäre, ich würde mir immer einen Friedhof aussuchen.
Viele Friedhöfe sind hier sehr pflanzenreich, bebaumt, bebuscht. Da finden die Mücken schattige Plätze, um sich auszuruhen. Dadurch sind auf Friedhöfen auch häufig viele Vögel Eichhörnchen, kleinere Nager etc. Und natürlich die Menschen, die als Blutwirte dienen können und dann haben die Mücken eben durch die Blumenvasen, Vogeltränken etc. jede Menge Brutmöglichkeiten.
Musik: hohe, sirrende Violinklänge oder elektronische Musik
Sprecherin
Die Stechmückenforschung erlebt in Deutschland seit einigen Jahren eine Renaissance, nicht zuletzt durch die invasiven, also zugewanderten Arten, von denen auch der Berliner Friedhofsgärtner bereits gehört hat. 2011 wurden in einer Falle an der A5 bei Weill am Rhein die ersten Weibchen der Asiatischen Buschmücke und der asiatischen Tigermücke gefunden. Die Buschmücke, die aus einer ähnlichen Klimazone stammt, hat sich seitdem bei uns breitflächig etabliert. Aber auch das Wissen über die heimischen Arten ist lückenhaft. Wo welche Arten in Deutschland in welcher Menge leben, welche Krankheiten durch diese Mücken übertragen werden könnten — das sind Fragen, an denen Entomologen forschen. Seit 2012 zählen sie dabei auf eine wachsende Schar von Amateurforschern. Der „Mückenatlas“ des bei Berlin gelegenen Zentrums für Agrarlandschaftsforschung, kurz ZALF genannt, ist eins der großen Citizen Science Projekte Deutschlands und dient der Kartierung der Stechmücken. Citizen Science, das ist Wissenschaft unter Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger, und der Mückenatlas gehört zu den erfolgreichsten dieser Projekte.
Sprecher
Auf der Internetseite www.mueckenatlas.com wird erklärt, in welchem Zustand und mit welchen Angaben zu Fundort und Finder die Mücken eingesendet werden sollen. Jede Einsendung wird beantwortet, bis Mitte 2018 waren es über 20.000.
Welche Mücken sind dabei eigentlich gefragt? Dr. Doreen Werner, Biologin am ZALF und Initiatorin des Mückenatlas, erklärt, dass längst nicht alle Mücken stechen:
OT3 Werner
Wenn jemand mir die Frage stellt, was ist eine Mücke, dann geht natürlich die ganze Bandbreite auf. Wir haben in Deutschland 28 verschiedene Mückenfamilien, …. Die morphologischen Ausprägungen, also wie eine Mücke aussieht, können schon sehr vielgestaltig sein. Es gibt zB viele Menschen, die Trauermücken in ihrem Wohnumfeld haben, das sind die kleinen schwarzen Viecher, die aus den Blumentöpfen beispielsweise rauskommen. Oder jeder kennt vielleicht die Schnaken, die groß und behäbig im Frühjahr über die Wiesen fliegen, auch das sind Mücken. Zum anderen gibt es noch verschiedene andere Mückenfamilien, die zB in Abflussröhren leben oder im Komposthaufen sich entwickeln. Aber alle diese Mücken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Mundwerkzeuge haben, die nicht zur Aufnahme einer Blutmahlzeit befähigen. Und wir haben in Deutschland vier verschiedene Mücken-Familien, die das können, das sind zum einen natürlich die Stechmücken, die jeder kennt, zum anderen sind es aber auch die Kriebelmücken die Gnitzen und dann eine ganz kleine Gruppe innerhalb der Schmetterlingsmücken.
Sprecherin
Kriebelmücken und Gnitzen können ebenfalls sehr lästig sein, sogar gefährlich. Die Blauzungenkrankheit, eine tödliche Tierseuche, wird beispielsweise von bestimmten Gnitzenarten übertragen. Für den Mückenatlas sind aber nur die Stechmücken relevant:
OT4 Werner
Weil wir davon ausgehen, dass die meisten Menschen Stechmücken erkennen können, in ihrem Umfeld mit bloßem Auge erkennen können, und auch in der Lage sind, diese einzufangen. Bei den anderen drei blutsaugenden Familien ist es so, dass die eine sehr kleine Körpergröße haben, die sich so zwischen 2-4 mm bewegt. Und der Laie ist nicht wirklich in der Lage, diese Mückenfamilien von anderen Mückenfamilien oder sogar Fliegenfamilien zu unterscheiden und wir natürlich darauf angewiesen sind, nicht nur Beifang zu bekommen, sondern wirklich auch Material, was wir verwerten können …
AT2:
Schublade wird aufgezogen, Werner: Wir bauen eine deutschlandweite Referenzsammlung auf …
Sprecher
Im Wandschrank der Forschungsgruppe Mückenatlas liegen gut erhaltene Fundstücke nach Art sortiert in Insektensammelkästen, säuberlich genadelt und mit Schildchen zu Fundort und Finder versehen. Nur vollkommen intakte Exemplare finden Eingang in die Sammlung. Unter dem Mikroskop lässt sich erkennen, warum. Mückenflügel zum Beispiel sind mitnichten so glatt, wie es mit bloßem Auge betrachtet scheinen mag:
OT5 Werner
Da sind Härchen und Schuppen drauf, und die sind wichtig für uns. … Deshalb brauchen wir die nicht so totgeschlagen, man macht ja meistens so (klatscht) dann ist die Mücke zerstört, selbst wenn sie noch da ist, für uns ist sie unbrauchbar für die Bestimmung, also für die morphologische Bestimmung.
Sprecher
Deshalb sollte man die Mücken lebendig fangen, im Gefrierfach einfrieren und in einem Schächtelchen nach Müncheberg schicken. Woran erkennt man aber eine Stechmücke?
Sprecherin
Stechmücken haben einen Stechrüssel, mit dem sie die Haut ihres Opfers durchstechen können, um Blut zu saugen.
Daran kann sie auch der Laie gut von ähnlich aussehenden Mückenarten wie etwa den weltweit in Massen vorkommenden Zuckmücken unterscheiden. Diese Zuckmücken haben keinen Stechrüssel und nehmen auch kein Blut zu sich.
Musik: Elektronisches Sirren
Sprecherin
Mücken gehören, wie die Fliegen, in der Klasse der Insekten zur Ordnung der Zweiflügler. Von den knapp eine Million bis heute beschriebenen Insektenarten stellen die Zweiflügler rund 160.000. Ein Flügelpaar ist zu den sogenannten Schwingkölbchen umgebildet, die es der Mücke gestatten, die Flugrichtung zu halten oder sehr schnell zu ändern.
Sprecher
Stechmückenarten gibt es weltweit rund 3.500, in Deutschland kommen über 50 davon vor. Und wo leben diese Stechmücken - außer auf Friedhöfen natürlich?
OT6 Werner
Stechmücken sind typische Lebewesen, die verschiedene Lebensräume besiedeln, das heißt, für ihre Entwicklung brauchen sie den aquatischen Bereich, das Weibchen legt ihre Eier ab, entweder auf der Wasseroberfläche oder in der Nähe einer Wasseroberfläche. Und wenn die Eier mit dem Wasser in Berührung kommen und bei einer bestimmten Temperatur schlüpfen die Erstlarven. Die ernähren sich dann von Algendetritus, verschiedene Bestandteile, die sie eben in ihrem Medium finden, häuten sich drei Mal, das heißt wir durchlaufen vier Larvenstadien. Das sind Fressstadien, weil die Mücke natürlich auch wachsen muss. Sie muss Energie anhäufen, dann geht sie in das Puppenstadium über. In diesem Puppenstadium findet die komplette Metamorphose statt, das heißt, das Insekt wandelt sich um und aus dieser Puppe schlüpft dann letztendlich die flugfähige Mücke, die dann wieder in der Lage ist, sich durch die Kopulation, Befruchtung also fortzupflanzen, weiterzuentwickeln.
AT3: Tür schlägt zu, Schritte im Gang
Sprecher
Das Friedrich Löffler Institut auf der Insel Riems bei Greifswald widmet sich seit 1910 der Erforschung von Tierseuchen und ihren Übertragungswegen. Und seit einigen Jahren auch Krankheiten, die von Mücken auf Menschen übertragen werden. In einem hermetisch von der Außenwelt abgeriegelten Labor werden hier Mücken zu Versuchszwecken gezüchtet:
OT7 Mandy Schäfer
Hier zB culex pipiens molestus, ein Biotyp unserer Hausmücke …
Sprecher
Erklärt Mandy Schäfer, die am FLI an Mückenarten, die als Krankheitsüberträger infrage kommen, forscht. Sie nimmt ein kleines, mit einer ziemlich trüben Brühe gefülltes Aquarium aus dem Regal.
OT8 Schäfer
Hier sieht man ja, es sind große und kleine Larven dabei,
Autorin: Die Larven sind diese zappeligen Tierchen, die sich da an die Oberfläche hängen!?
Schäfer: Genau, die hängen sich wieder an der Oberfläche, mit dem Hinterteil nach oben, da an dem Hinterteil ist ein Atemrohr, das sie an die Oberfläche anhaften und dadurch atmen … die atmen atmosphärischen Sauerstoff.
Sprecher
Leere Puppen schwimmen auf dem Wasser, einige geschlüpfte Mücken sitzen bereits am Beckenrand.
OT9 Schäfer
Man sieht so ein bisschen, die haben so ganz buschige Fühler. Genau, und das sind die Männchen. Die warten auf die Weibchen, um sie zu begatten.
Musik: Elektronisches Sirren
Sprecherin
Betrachtet man eine Mücke unter dem Mikroskop, dann kann man Details genau erkennen: den langen Stechrüssel, der sich lanzettartig ineinanderschieben lässt, und die buschigen Fühler der Männchen. Einen Rüssel haben sowohl Männchen als auch Weibchen, aber nur die Weibchen gebrauchen ihn zum Stechen und Blutsaugen. Die Männchen leben strikt vegetarisch und ernähren sich von zuckerhaltigen Pflanzensäften. Sie leben auch viel kürzer, besteht doch ihr Lebenszweck einzig darin, ein Weibchen zu finden und zu begatten. Dr. Helge Kampen:
OT10 Kampen
Mückenweibchen werden nur einmal im Leben befruchtet, und zwar ziemlich am Anfang ihres Lebens, ziemlich bald nach dem Schlupf aus der Puppenhülle. Und die haben dann, wie übrigens viele Insektenarten, die haben dann Spermataschen, da bewahren sie das Sperma für den Rest ihres Lebens auf und befruchten dann die Eier daraus. Männchen und Weibchen müssen nicht oft aufeinandertreffen.
Sprecher
Warum aber dieser Blutdurst der Stechmückenweibchen? Haben sie einfach einen extravaganten Geschmack, oder gibt es noch einen anderen Grund dafür? Zur eigenen Ernährung brauchen sie das Blut nicht, führt Helge Kampen aus. Sie brauchen Proteine, also Eiweiß, damit sich die Eier entwickeln können.
OT11 Kampen
Die Mücken haben die Möglichkeit, Blut einzudicken, wenn sie saugen. Es gibt Mückenarten, da kann man beobachten, dass sie noch während des Blutsaugens am Hinterende, also an der Analöffnung, so ne Art Serum, eine Flüssigkeit abgeben, die ist viel heller als das Blut. Also das Blut, bzw. die Blutproteine, werden schon während der Blutaufnahme konzentriert in der Mücke und die werden dann in der Mücke umgebaut in die Eiproteine - und der Eiproduktion zugeführt.
Musik: sirrende Elektroklänge
Sprecherin
Stechmücken stechen Tiere und Menschen. Es gibt Arten, die bei ihren Blutwirten nicht sehr wählerisch sind und andere, die nur bei sehr ausgesuchten Opfern Blut saugen. Es ist übrigens ein Irrglaube, dass Mücken besonders süßes Blut oder eine bestimmte Blutgruppe bevorzugen. Sie finden ihre Opfer durch das CO2 in der Atemluft und bestimmte Duftstoffe im Schweiß. Auch durch Licht werden sie nicht angelockt, sind doch die meisten Stechmücken dämmerungs- oder nachtaktiv.
Sprecher
Culex pipiens, die Hausmücke, kommt in zwei Biotypen vor. Der bereits erwähnten Culex pipiens molestus etwa schmeckt besonders das menschliche Blut, die eng verwandte culex pipiens pipiens saugt am liebsten bei Vögeln. Den Namen Hausmücke trägt das Insekt nicht umsonst. Und die Menschen sorgen oft selbst dafür, dass diese Mücken sich besonders gut vermehren können:
OT12 Werner
Das sind also Mücken, die sehr gerne künstliche Bruthabitate aufsuchen. Wie z.B. Regentonnen, Blumentöpfe, Vasen, Gießkannen, irgendwelche anderen Container, die sich vielleicht im Gartenbereich befinden oder … Überall kann sich Regenwasser sammeln, selbst in den kleinsten Coladosen oder in Papierkörben. Das heißt, die Mücken schlüpfen und ihnen wird ein gedeckter Tisch geboten, und der Weg von der Regentonne in den Schlafzimmerbereich oder Wohnbereich ist meistens nicht sehr weit.
Sprecherin
Weibchen dieser Art überwintern in Hauskellern und anderen warmen, unterirdischen Habitaten wie U-Bahn-Tunneln oder der Kanalisation und sie können das ganze Jahr über stechen, egal ob in Innenräumen oder im Freien. In der New Yorker Upper Westside kam es 2011 zu einer regelrechten Invasion dieser Stechmücken, die aus Kellern und der Kanalisation heraus in die Wohnungen fanden. In London ist dieselbe Mücke als U-Bahn Moskito berüchtigt.
Sprecher
Stechmücken sind lästig, ihre Stiche jucken und führen zu Hausschwellungen. Gefährlich werden sie, weil sie mit dem Stich Krankheitserreger übertragen können. Die Mücken fungieren als Vektoren, das heißt, sie beherbergen Erreger, die sie mit dem Blut eines Wirts aufnehmen und sie transportieren diese Erreger mit dem Speichel in den Blutkreislauf ihres Opfers. Speichel fließt reichlich beim Mückenstich: Er verdünnt das Blut und enthält eine leicht narkotisierende Substanz, damit der Blutwirt erst nach dem Stich etwas merkt und erst zuschlägt, wenn die Mücke sich bereits in Sicherheit gebracht hat.
Sprecherin
Krankheitserreger können Parasiten sein, etwa im Fall der Malaria, die durch die Anophelesmücke übertragen wird, aber auch verschiedene Viren, die gefährliche fiebrige Krankheiten auslösen wie das Gelbfieber, das Dengue Fieber oder das West-Nil-Fieber. Letzteres kann auch von der Hausmücke übertragen werden, braucht aber Vögel als Zwischenwirte. In einigen südosteuropäischen Ländern und in den USA kommt es seit den 90er Jahren regelmäßig zu Ausbrüchen des Westnil-Fiebers, das gelegentlich tödlich verläuft. Entscheidend dafür, ob eine Mücke ein Virus übertragen kann, ist die Umgebungstemperatur.
Je wärmer und feuchter es in dem Habitat der Mücke ist, desto schneller vermehrt sich das Virus in der Mücke, ausgehend vom Verdauungstrakt. Erst wenn das Virus in den Speichel der Mücke gelangt ist, kann es auch übertragen werden.
AT4 Riems:
Nerviges Sirren der Tigermücke
Sprecher
Hier im Hochsicherheits-Labor des Friedrich Löffler Instituts auf der Insel Riems sirrt außer der Hausmücke eine weitere Mückenart in ihrem Käfig mit Gaze-Wänden: die Asiatische Tigermücke, aedes albopictus. Im Labor vermehrt sie sich hervorragend. Die Tigermücke breitet sich seit den 90er Jahren vor allem in Südeuropa aus. Dort kommt es seitdem gelegentlich zu Ausbrüchen des Dengue-Fiebers. Das geschieht, wenn ein infizierter Reiserückkehrer von einer Tigermücke gestochen wird, und diese mit einem weiteren Stich durch das im Mückenspeichel enthaltene Virus eine andere Person infiziert. Anders als die Hausmücke ist sie eine sogenannte Überflutungsmücke und stammt ursprünglich, wie der Name schon sagt, aus Asien. Dr. Helge Kampen:
OT13 Kampen
Der internationale Altreifenhandel, der spielt ne große Rolle! Also bei diesen invasiven Stechmückenarten handelt es sich um Arten, die sehr austrocknungsresistente Eier haben und die ihre Eier nicht, wie viele andere Mückenarten, direkt ins Wasser legen, damit die Larven schlüpfen können. Sondern die legen die Eier oberhalb der Wasseroberfläche ab, kleben sie an feuchte Strukturen, Pflanzen oder auch künstliche Untergründe, und die Larven schlüpfen erst dann aus den Eiern, wenn der Wasserspiegel gestiegen ist. Und wenn die Eier, die da irgendwo kleben, in Kontakt mit dem Wasser kommen. Und das kann passieren, wenn die Eier in Gebrauchtreifen kleben, da gibt es in Asien sehr viel Handel mit, internationalen Handel. Die werden üblicherweise erst mal gesammelt da, liegen auf einer Wiese rum, und dann regnet es da rein, da steht ein bisschen Wasser drin, und das ist dann für die Stechmücken interessant. Dann kleben sie ihre Eier da rein, dann werden die irgendwann verschifft nach Europa, Nordamerika, weltweit. Und dann liegen sie da wieder rum, im Freiland, und wenn es dann regnet und der Wasserspiegel steigt, dann schlüpfen die Larven und dann hat man ganz schnell ne Population von 'ner Art, die da nicht hingehört.
Sprecher
Seit einigen Jahren kommt das kleine Insekt zunehmend auch nach Süddeutschland. Aber den weiten Weg werden die Tigermücken ja wohl kaum aus eigener Kraft fliegend überwinden. Wie gelangen sie dann zu uns?
OT14 Kampen
Bei der asiatischen Tigermücke wissen wir, dass die regelmäßig aus Südeuropa eingeschleppt wird und zwar mit dem Fernverkehr, mit Autos, LKW, Zügen. Weil die Mücken, die Weibchen, sehr aggressiv sind, zum Teil auch tagaktiv, und die fliegen den Menschen ins Auto hinterher, weil sie stechen wollen. Und wenn wir Pech haben in Deutschland, dann werden die mit dem Auto über hunderte Kilometern aus Südeuropa nach Deutschland verschleppt und steigen da wieder aus …
Sprecherin
Zum Beispiel auf einem Rastplatz an der Autobahn. Seit dem ersten Tigermückenfund zeigt das Mückenmonitoring, dass die A5 tatsächlich ein Haupteinfallstor für diese invasive Mückenart nach Deutschland ist. In Süddeutschland, in der warmen Rheinaue, findet sie gute Lebensbedingungen vor, denn die Tigermücke ist wärmeliebend und kommt mit Frost im Winter nicht zurecht. Aber auch das kann sich ändern, wenn die Mücke sich an die kälteren Temperaturen anpasst und andererseits die Temperaturen in Deutschland durch den Klimawandel nach oben gehen.
AT4 Riems: Sirrende Tigermücken
Sprecher
Die Zusendungen zum Mückenatlas zeigen, dass die Tigermücke inzwischen an mehreren Stellen in Deutschland stabile Populationen aufgebaut hat, in Jena sogar die nördlichste Population weltweit. Was kann man aber tun, um die Mücken wieder loszuwerden? Zum Beispiel in Jena?
OT15 Kampen
Wir finden immer wieder die Asiatische Tigermücke, aber die ist nicht auf einen Ort beschränkt, da finden wir mal in Nordjena zwei Exemplare, dann wieder in nem anderen Stadtteil eins. Ursprünglich waren sie auch auf dem Friedhof konzentriert, da haben wir einige Maßnahmen eingeleitet. Das Simpelste ist natürlich: Leer stehende Blumenvasen auf den Kopf stellen. Da kann man schon viele Brutmöglichkeiten eliminieren! Ja, aber die Mücken waren 2017 immer noch da, mal gucken, wie es sich weiterentwickelt.
Sprecherin
Leichter ist die Bekämpfung bei einer einheimischen Art, der Überschwemmungsmücke Aedes vexans. Die schon von Goethe gehasste „entsetzliche Rheinschnake“ macht Anwohnern der südlichen Rheinauen seit jeher das Leben schwer. In Mannheim hat sich Anfang des 20. Jahrhunderts eine Aktionsgemeinschaft zur Bekämpfung der Schnakenplage gegründet, die heute noch existiert. Diese Überschwemmungsmücken treten immer dann in Massen auf, wenn bei Wärme der Wasserpegel steigt und tausende Mückenlarven gleichzeitig schlüpfen.
OT16 Kampen
Was man heute macht, man bringt ein Eiweiß aus, das von bestimmten Bakterien produziert wird, das ist das sogenannte bacillus thuringiensis israelensis, das ist ein bakterielles Eiweiß, das die Mückenlarven mit der Nahrung aufnehmen und das deren Darm zerstört. Und dann sterben die Larven. Das kann man auftragen auf Eiskristalle, sodass die Eiskristalle im Wasser schwimmen und die Mückenlarven knabbern an den Eiskristallen an der Wasseroberfläche und nehmen dieses Eiweiß auf. Und deswegen, weil man das so ausbringen kann, kann man das per Hubschrauber großflächig verteilen.
Musik: elektronisches Sirren
Sprecherin
Viele würden den Stechmücken keine Träne nachweinen, wenn es sie eines Tages nicht mehr geben würde. Andererseits beklagt man das Insektensterben und kann sicher keine Welt herbeiwünschen, in der nur uns genehme Insekten ein Recht auf Leben besitzen. Stechmücken erfüllen, wie alle anderen Arten auch, ihre Rolle im Ökosystem, nicht zuletzt als Futter für Schwalben und Frösche.
OT17 Werner
Wir haben aber so viele Tiergruppen, die auch schon räuberisch von Mückenlarven leben, oder auch von den fliegenden Mücken. Die würden auch nicht entsprechend zu Entwicklung kommen und dann würden wir gefühlt natürlich viel mehr Veränderung in der Umwelt wahrnehmen.
Sprecher:
Und wie hält sie es selbst mit dem Mückentöten? Masochistisch sei sie nicht, meint Dr. Doreen Werner vom Zentrum für Agrarlandforschung:
OT18 Werner
Natürlich schlage ich auch zu. Die Hemmschwelle ist natürlich sehr herabgesetzt. Es ist schon ein Unterschied, ob man einen Schmetterling tötet oder eine Stechmücke tötet! Natürlich rufen wir nicht mit Spaß und Freude zum Töten von Stechmücken auf, wenn wir darum bitten, dass man die Mücke, die man sowieso töten würde, eben für Forschungszwecke eingefangen und dann auf eine recht schonende Art und Weise abgetötet wird, die Mücke schläft nämlich mehr oder weniger ein. Das ist der gleiche Prozess, dem sie unterliegt, wenn sie in den Winterschlaf geht, wenn sie ihren Stoffwechsel herabfährt, … nichts anderes passiert im Gefrierfach.
Sprecher
So endet das Leben vieler sirrender Sauger im Schrank der Müncheberger Referenzsammlung. Hier ist noch reichlich Platz für weitere Sammelkästen.
Performances, Chorgesänge, Kameras auf der Bühne: Das Theater der Gegenwart verändert sich ständig. Wie reagieren Schauspielschulen darauf? Was müssen die jungen Talente lernen? Trends von heute können bereits von gestern sein, bis die Studierenden ihren Abschluss haben. Eines hat sich aber nicht geändert: Schauspielschulen verlangen ihren Studierenden vieles ab. Von Anna Küch (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Anna Küch
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Emma Floßmann;
Max Faatz;
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Sebastian Berchtold;
Barbara Gronau;
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Die radikale Aktivistin Emma Goldmann hat für Anarchie, Freiheit und Frauenrechte gekämpft. Sie gilt bis heute als Ikone, deren Konterfei sogar auf T-Shirts gedruckt wird. Von Ulrike Beck (BR 2022)
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Autorin dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Anne-Isabelle Zils, Stefan Merki, Beate Himmelstoß
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Frank Jacob, Historiker und Autor, Professor für Globalgeschichte des 19. und 20.Jahrhunderts an der Nord Universitet, Norwegen
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Standen dem Bergretter vor 100 Jahren lediglich Seil, Pickel und pure Körperkraft zur Verfügung, so kann er sich heute zahlloser technischer Entwicklungen bedienen. Dennoch: Ein alpiner Rettungseinsatz bedarf einer gehörigen Portion Handarbeit und Geschick. Und: Der technische Fortschritt ist nicht immer nur ein Segen! Von Markus Mähner
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Autor dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Caroline Ebner, Jennifer Güzel, Friedrich Schloffer
Technik: Laura Picerno
Redaktion: Hellmuth Nordwig
Im Interview:
Robert Zimmermann, Bergwacht Steingaden-Peiting
Roland Ampenberger, Bergwacht Bayern
Bergwacht Bayern HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN 2
Es ist der 12. November 2023. 16 Uhr. Bei der Leitstelle der Bergwacht Bayern geht ein Hilferuf ein: Vier Bergsteiger sind am ausgesetzten Gjaidsteig im Karwendel in einen Schneesturm geraten und kommen weder vor noch zurück. Bereits eine halbe Stunde später stapfen 7 Bergwachtler den verschneiten Gjaidsteig entlang. Alles Ehrenamtliche.
GERÄUSCH Hallentür öffnen
SPRECHERIN
So wie Robert Zimmermann.
ROBERT 1
Wir sind jetzt hier in der Bergrettungswache Steingaden. Das ist eben unsere Garage, in der wir die Fahrzeuge deponiert haben und unsere Ausrüstung zwischengelagert ist.
SPRECHERIN
Robert Zimmermann ist Mitglied der Bergwacht Steingaden-Peiting. Schon als Jugendlicher gerne in den Ammergauer Bergen unterwegs, stieß er einmal mit einem Freund nach einer Klettertour am Geiselstein - im Bergmassiv zwischen Schloss Linderhof und Schloss Neuschwanstein gelegen - auf ein paar Ehrenamtliche der Bergwacht:
ROBERT 2
Wir waren eben am Geiselstein klettern, sind auf dem Runterweg an der Kenzenhütte vorbeikommen. Die Bergwachtler waren dagesessen und man hat mit denen halt geratscht: Und? Was ist bei euch so alles los? Und dann hat es geheißen: man würde mal wieder Anwärter brauchen. Wie schaut es aus: Du bist doch einer, der geht in´n Berg. Und ja, eigentlich: Warum nicht? Ich war früher mal bei der Feuerwehr - vielleicht ist da auch so ein gewisses Helfersyndrom. Und dann habe ich gesagt: ja ich schaue mir das gerne mal an! Und dann war eben zwei Jahre lang Ausbildung, bei der du ja dann als Anwärter mit dabei bist. Du darfst noch keine Einsätze machen. Dann habe ich natürlich die ganze Ausbildung mitgemacht und dann die Sommer- und die Winterprüfung absolviert.
SPRECHERIN
In dieser Ausbildung lernen die Bergwachtanwärter den Umgang mit den technischen Hilfsmitteln, diverse Abseiltechniken, und sie bekommen eine notfallmedizinische Ausbildung, so wie Rettungssanitäter.
Was Robert neben der Bergbegeisterung mitbringen musste, war natürlich auch dass er sich im schwierigen Gelände sicher bewegen kann und im Bedarfsfall sogar klettern. Und: Ja, auch den Wunsch Menschen helfen zu können. Roland Ampenberger, Sprecher der Bergwacht Bayern:
AMPENBERGER 1
Grundsätzlich: Bergrettung ist Solidarität von Menschen in einer vermeintlich lebensfeindlichen Umgebung, die die Berge ein Stück weit darstellen. Und in sofern glaube ich, gab es das schon immer, dass man sich beisteht in so einer Umgebung.
Musik 2: Zeitloser Duft 37 Sek
SPRECHERIN
Bereits im 12.Jahrhundert gründeten auf dem großen St. Bernhard-Pass auf knapp 2500 Meter Höhe Augustiner-Chorherrn ein Hospiz, das nicht nur Reisenden eine Schutzunterkunft versprach. Die Ordensbrüder kamen auch Jahrhunderte lang Erschöpften, Verletzten und Verirrten zu Hilfe. Ihnen gehörte auch einer der berühmtesten Bergretter der Geschichte an: Der Lawinenhund Barry, ein Bernhardiner, der um das Jahr 1800 im Hospiz seine Ausbildung bekam und über 40 Menschen das Leben rettete.
Musik 3: The Berensen Lectures 1:06 min
Im 19.Jahrhundert ging es dann richtig los mit dem Tourismus im Alpenraum. Das ungebremste Gipfelsammeln der ausschließlich wohlhabenden - und meist britischen - Abenteurer erhielt 1865 einen Dämpfer als während der Erstbesteigung des Matterhorns vier Alpinisten zu Tode stürzten. Woraufhin Queen Victoria verlautbaren ließ: Man solle doch endlich mit dem Wahnsinn in den Bergen aufhören! Sie erwog sogar alpinistische Expeditionen zu verbieten. Dazu kam es zwar nicht, doch die Tragödie am Matterhorn hat den Alpinisten erst klar gemacht, wie gefährlich die Berge sein können. 20 Jahre später, 1885, erließen die Alpenvereine die sogenannte "Hilfsverpflichtung der Bergführer im Alpenraum" - was heute als die Geburtsstunde des organisierten Bergrettungswesens angesehen wird.
AMPENBERGER 2
Die einzige Institutionalisierung waren die Bergführerbüros vor Ort, und die wurden tatsächlich dann eben verpflichtet, wenn sie nicht geführt haben, wenn eine Alarmierung, eine Meldung, eingegangen ist, dass Hilfe notwendig ist, dann auch zu gehen. Die wurden auch dafür bezahlt, muss man sagen. Also da gab es dann aber tatsächlich schon so eine hohe Erwartungshaltung - das lässt sich ein Stück weit nachlesen - dass man erwartet hat: Ok, wenn der mit Gästen am Berg unterwegs ist und er bekommt Kenntnis eines Notfalls, dann muss er seine Gäste ins Tal runter schicken, sobald es möglich ist, und muss dann zur Hilfe eilen am Berg an anderer Stelle.
Musik 4: Signatur Folge 1 23 Sek
SPRECHERIN
Doch wie bekommen die Bergretter überhaupt mit, dass etwas passiert ist? Klar: Heute ist das Handy immer dabei und meistens setzt der Verunglückte einfach selbst einen Notruf ab - sofern er Empfang hat! Das ist in den Alpen aber längst nicht immer der Fall. Als noch die Bergführer für die Rettung zuständig waren sah dies ganz anders aus.
AMPENBERGER 3
((Das war natürlich das Hauptthema. Wie bekommt man überhaupt einen Notruf dorthin abgesetzt, wo er dann auch weiterverarbeitet werden kann? Und)) da waren diese alpinen Meldestellen, das war das zentrale strukturierte Element, das der Alpenverein aufgebaut hat an den Hütten dorten. Sieht man auch heute manchmal noch an verschiedenen Hütten: so kleine Schilde, da steht dann drauf: Alpine Meldestelle. Das waren eben Orte, die dann auch über ein Telefon verfügt haben, um dann auch die Nachricht weiterzugeben an des Bergführerbüro eben oder im Tal an eine Institution zu sagen: Hier ist ein Hilfebedarf und man muss eine Rettungsmannschaft eben aufbieten.
SPRECHERIN
Von den technischen Möglichkeiten, die heute den Bergrettern zur Verfügung stehen, konnte eine Rettungsmannschaft früher nur träumen. Konkret sieht man das in der Bergrettungswache Steingaden. Robert Zimmermann:
ROBERT 3
Der Einsatzleiter, der den Einsatz dann eben übernimmt von der Rettungsleitstelle, der positioniert sich hier: hat dann eben Funkgeräte, die er einschalten kann und dementsprechend auch zum Beispiel mit Weilheim als Rettungsleitstelle Oberland oder mit der Leitstelle Kempten für das Allgäu kommuniziert. Dann haben wir hier zwei Bildschirme, die an einen Rechner angeschlossen sind, der entsprechende Software draufhaut wie Kartenmaterial, Wetterberichte. Dann natürlich auch Ortung mittlerweile über die Handys: Wär so eine Option, dass man Patienten da orten können, wenn er jetzt nicht genau weiß, wo er ist, dass man zumindest dann über Koordinaten rausfinden kann: Also da müsste er eigentlich sein. ((Und ansonsten gibt es halt hier mit der Karte im Hintergrund auch mal abzustecken: Machen wir zum Beispiel so ein Szenario einer Vermisstensuche: dass man halt dann wirklich hergehen und sagen kann: so okay, da in dem Bereich haben wir schon mal gesucht. Da waren jetzt drei, vier Leute unterwegs, dann deckt man mal die drei, vier Wege noch ab. Die Karten sind so ausgestattet, dass man mit dem Filzstift kurz darauf malen kann und einfach mal sich ganz klassisch analog einen Überblick gestaltet. Und das ist natürlich dann immer recht hilfreich, um das zu koordinieren.))
Musik 5: Frozen Landscapes – siehe oben – 50 Sek +
Atmo Sturm
SPRECHERIN 2 (darüber)
Zurück zum Gjaidsteig. Inzwischen ist es 7 Uhr abends und bereits dunkel geworden. Da erkennen die Kräfte der Bergwacht Licht und hören Hilferufe. Sie haben die Eingeschneiten entdeckt! Doch das Gelände und der hohe Schnee lassen kein Durchkommen zu. Lawinenmassen donnern die mächtigen Nordwände der Raffelspitze herab. Ein Weitergehen wäre zu riskant. Um 20:15 kehren die Bergwacht-Helfer um und alarmieren die Kollegen aus Tirol, die es nun, zu zwölft, von der anderen Seite versuchen. Ebenso erfolglos. Die vier Bergsteiger müssen während der Nacht ausharren. Die Bergwacht gibt ihnen über Handy Hilfestellung, wie sie ein Notlager einrichten können.
SPRECHERIN
Zog die Rettungsmannschaft früher noch zu Fuß, lediglich mit Seil und Pickel los, so stehen Robert und seinen Kollegen heute gleich mehrere Fahrzeuge zur Verfügung - vollgepackt mit Equipment.
ROBERT 4
Also zum einen sieht man jetzt hier das Fahrzeug mit einem besonderen Aufbau, dass wir eben auch einen Patienten transportieren können. Wir haben eine Gebirgstrage drin, wir haben entsprechend Bergsäcke drin. Wir haben natürlich das ganze Arztequipment, Notfallausrüstung sozusagen, auch mit dabei. Und ja: Wenn es dann losgeht, geht es halt rein ins Fahrzeug. Wenn man jetzt ins Auto einsteigt, dann schalte ich gleich wieder den Funk mit dazu. Wenn es ganz brisant ist, haben wir auch Blaulicht und Martinshorn, das dann eingeschaltet wird, um dann wirklich möglichst schnell zum Patienten zu gelangen.
Da ist zum Beispiel jetzt wirklich dieser große Rucksack, der ein paar Kilo hat und dem Arzt-Rucksack entspricht. Der ist auch von unseren Gerätewarten so vorbereitet, dass man sofort nachschauen kann, was drin ist. Weil wir so Listen haben, die dann entsprechend mit hinterlegt sind. Wenn man ihn also gebraucht hat, ist immer das Thema: danach wieder so aufzuräumen, wieder aufzufüllen, dass dann alles wieder für den nächsten Einsatz parat wäre.
ATMO Quad
SPRECHERIN
Neben dem Einsatzfahrzeug steht zudem noch ein großes, geländegängiges Quad. Bis zum Beginn der Sommersaison im Mai ist es mit Ketten statt Reifen ausgestattet. Hier können zwar nicht so viele Einsatzkräfte mitfahren, dafür kommen Robert und seine Kollegen damit viel näher an die Verunglückten heran.
ROBERT 5
Wir hatten schon mal eine Patientin, die unterwegs war, zu Fuß im Winter und in einer Schneewächte eingebrochen ist. Aber wir reden jetzt nicht von tausend Höhenmeter irgendwo auf einem Berg, sondern es war ein Wanderweg in der Nähe vom Hohen Peißenberg. Und da hat die aus eigener Kraft sich da aus dieser Schneewehe nicht mehr befreien können. Sie hat dann einen Notruf abgesetzt, und man konnte halt dann mit dem Fahrzeug relativ weit an die Patientin eben auch hinkommen. Das war natürlich schon sehr hilfreich, weil sonst hätten wir uns ja selber durch den Schnee so tief durchwühlen müssen, bis dass wir die dann bergen hätten können.
SPRECHERIN
Das Einsatzgebiet der Bergwacht Steingaden ist hauptsächlich in den Ammergauer Alpen rund um die Kenzenhütte und den beliebten Kletterberg Geiselstein.
ROBERT 6
Aber unsere Statistik zeigt auch, dass wir nicht nur Einsätze in dem Bereich haben, sondern auch in Naherholungsgebieten, wie zum Beispiel um Steingaden rum, es gibt Wanderwege Richtung Wieskirche, es gibt den Auerberg in der Nähe, es gibt dann sogar im Landkreis Weilheim-Schongau den Hohen Peißenberg auch ganz klassisch.
SPRECHERIN
Denn Robert Zimmermann und seine Kollegen sind überall gefragt, wo das Gelände unwegsam ist und ein herkömmlicher Krankenwagen und Sanitäter nicht hinkommt. Und das ist gut so: Denn wenn heute jemand abstürzt, so kann er fast immer gerettet werden. Früher war das nicht so sicher, einfach weil die Einsatzkräfte viel länger brauchten, um zum Verunglückten zu gelangen. Denn sie sind zu Fuß statt mit dem Auto angerückt.
GERÄUSCH AUTO
SPRECHERIN (darüber)
Heute sieht das anders aus. Und selbst wenn die Ehrenamtlichen Bergretter gerade nicht zuhause sind, so sind sie doch immer und überall erreichbar mittels eines kleinen Gerätes, das Textnachrichten schicken kann. Robert Zimmermann:
ROBERT 7 (Auto)
Der Einsatz kommt bei uns über diese Pieps rein, der dann eben zumindest schon mal andeutet, was denn sein kann. Also Trauma, dass jemand abgestürzt ist und verletzt ist. Das sind so Kurzinformationen, die dann da im Prinzip auf dem Pieps drauf sind. Und dann trifft sich die Mannschaft an der Bergrettungswache in Peiting oder eben in Steingaden. Und dann fährt die Einsatzgruppe auf jeden Fall schon mal mit dem Amarok los. Wenn wir jetzt noch mehr Leute brauchen, dann wäre der VW-Bus von Peiting eben noch mit im Einsatz. Und dann können wir also auf einen Schlag gut 14 Leute ins Einsatzgeschehen losschicken.
SPRECHERIN
Doch nicht immer sind alle verfügbar. Robert zum Beispiel ist Lehrer und somit unter der Woche vormittags immer im Unterricht - zudem noch im Kempten, relativ weit von Steingaden entfernt.
ROBERT 8 (Auto)
Das Ganze läuft ehrenamtlich ab natürlich. Wir haben alle unsere Berufe, wir sind alle irgendwo im Arbeitsleben. Entsprechend ist halt dann wieder das Thema: Wann ist der Einsatz? Wenn er unter der Woche in den frühen Morgenstunden oder frühen Nachmittag ist, kann man davon ausgehen, dass die meisten in der Arbeit sind. Und entsprechend gibt es da natürlich schon auch Regelungen, dass man je nachdem, wie der Arbeitgeber das handhabt, dass man jemandem freistellt. ((Also bei der Feuerwehr zum Beispiel ist das ähnlich, dass für bestimmte Einsätze auf jeden Fall die Leute freigestellt werden in dem Moment, dass die zum Einsatz gehen dürfen.))
Musik 6: Kreisen 1 Minute
SPRECHERIN
Zurück ins 19. Jahrhundert, den Anfängen der organisierten Bergrettung: Wenige Jahre nach der Hilfsverpflichtung für Bergführer gründeten die Alpenvereine eigene Bergrettungsdienste. 1896 den "Alpinen Rettungsausschuß Wien", 1898 dann Einrichtungen in Innsbruck und München.
Die Bergwacht Bayern wurde 1920 gegründet - und zwar nicht als Rettungsorganisation, sondern um den in den Jahren nach dem Erstem Weltkrieg stark zunehmenden Massentourismus in geordnete Bahnen zu lenken. Und um der zunehmenden Wilderei und den vermehrten Vieh- und Holzdiebstählen und Hütteneinbrüchen Herr zu werden. Oder, wie es in der Gründungsschrift hieß:
ZITATOR:
"zur Bewahrung der guten Sitten und dem Schutz fremden Eigentums im Kontext des Bergsteigens und des alpinen Skilaufs.“
SPRECHERIN
Roland Ampenberger:
AMPENBERGER 5
Der Fritz Berger war einer der Gründer im Münchner Hofbrauhaus aus der Sektion Bayerland, und darum ging es ihm auch genau: Diese Werte des Bergsteigens am Berg zu schützen, weil eben die Massen ins Gebirge geströmt sind. Also es ging jetzt nicht nur darum, Blumen am Berg zu schützen, sondern es hat angefangen: Wie verhalfen sich die Menschen in den Zügen? Wie verhalten sich die Menschen auf den Hütten bis hin natürlich auch: Wie verhalten Sie sich gegenüber den Tieren, gegenüber den Bergbauern, gegenüber dem Sammeln von Edelweiß?
SPRECHERIN
Deswegen ist heute noch das Zeichen der Bergwacht Bayern ein Edelweiß. Doch schon bald übernahm sie auch Rettungsaufgaben - da ihre "Berg-Wächter" ja ohnehin bereits vor Ort waren. Allerdings noch mit nahezu derselben Ausrüstung wie ihre Kollegen im 19.Jahrhundert. Der große Sprung in der Entwicklung von Rettungsgeräten fand in den 1950er Jahren statt.
AMPENBERGER 6
Und da gibt es so drei Namen im deutschsprachigen Raum: der Wastl Mariner aus Tirol, der Doktor Rudolf Campell von den Schweizern und der Wickerl Gramminger aus Bayern. Und diese drei Personen die stehen ganz stark für diese Rettungsgeräte-Entwicklung: also für Tragehilfen, für Seiltechniken, die optimiert waren auf die Anwendung am Berg. Und wenn man sich zum Beispiel den Akja anschaut - da gibt es unterschiedliche Formen - der Akja, dieser Schneeschlitten, mit dem man verletzte Personen liegend vom Berg bringen kann: Der wurde da in dieser Zeit optimiert, weiterentwickelt und dann tatsächlich auch in Serie gebaut. Und Dann ist natürlich das Thema Luftrettung ein ganz großer Entwicklungsschritt gewesen. Und das hat Ende der 50er-Jahre angefangen, wo Hubschrauber verfügbar geworden sind. In der Schweiz ganz bekannt auch die Rettungsflieger. Also: die mit kleinen Flugzeugen in Österreich und der Schweiz am Berg auch gelandet sind. Also die Luftrettung in der Hilfe am Berg, das ist so ganz großer Epochenschritt.
Und dann die Kommunikation am Berg: einerseits unter den Rettungskräften mit Funkgeräten, das war der erste große Schritt und daran aufbauend das gesamte Alarmierungssystem. Also wenn man heute in den bayerischen Alpen unterwegs ist, dann wird man immer wieder auf Hütten treffen - auf Hütten der Bergwacht. Diese Hütten der Bergwacht haben den Zweck gehabt eben genau diese Alarmierungswege zu verkürzen.
SPRECHERIN
Auch Robert Zimmermann und seine Kollegen haben außer ihrer Rettungsstelle in Steingaden noch eine Berghütte, ganz in der Nähe ihres Einsatzgebietes um die Kenzenhütte zu Fuße der mächtigen Nordwand der Ammergauer Hochplatte.
ROBERT 9 (inkl Geräusche)
So, jetzt sind wir an unserer Diensthütte. Wir haben drüben, da gehen wir jetzt gleich rüber, die Zentrale. Das ist ein älterer Raum. Da war früher mal eine Zollhütte installiert. Weil wir sind ja nicht weit weg von der Grenze. Und hier haben wir unsere Telefon- und Funkzentrale nochmal herin. Und die Räumlichkeit agiert jetzt ungefähr so wie unten die Einsatzzentrale.
SPRECHERIN
In den Sommermonaten sind an jedem Wochenende ein paar von Roberts Kollegen auf der Hütte und verrichten dort ihren Dienst, damit sie schneller vor Ort sein können, falls ein Wanderer oder Kletterer in Not gerät. Deswegen ist die Hütte auch so eingerichtet, dass sie unabhängig vom Tal agieren können.
Musik 7: Signatur Folge 1 – siehe oben – 35 Sekunden
SPRECHERIN
Im Gegensatz zu den Anfängen der Bergrettungsgeschichte können heute fast alle in Not geratenen Bergsteiger gerettet werden - auch dank der zahlreichen technischen Hilfsmittel und der überall präsenten Bergretter. Trotzdem gibt es Jahr für Jahr in den bayerischen Bergen noch bis zu 100 Menschen, die nur noch tot geborgen werden können. Viele davon sind allerdings nicht abgestürzt, sondern erliegen Herzproblemen oder einem Kreislaufversagen. Im Durchschnitt rückt die Bayerische Bergwacht um die 8000 Mal pro Jahr aus.
Und das kostet natürlich auch. Roland Ampenberger:
AMPENBERGER 7
Die gesamte Bergwacht in Bayern hat ungefähr einen Aufwand von 11 Millionen Euro jedes Jahr und - ganz grob, das stimmt jetzt nicht genau - aber ein Drittel kommen aus den Einsätzen, ein Drittel finanziert der Staat und ein Drittel kommen von den Spenden dazu. Und ich denke, das ist schon auch ein großer Wert, der da geschaffen worden ist: Egal, ob wir jetzt am Marienplatz auf der Rolltreppe verunglückten oder auf Autobahnen einen Verkehrsunfall haben oder eben am Berg verunglücken: Egal ob beim Skifahren, beim Klettern oder beim Wandern: dass dann die Krankenkasse eben diesen Einsatz auch übernimmt dazu.
Und jetzt kommt immer gleich die große Frage: ja, aber der war doch selber schuld, oder? Das wäre doch vermeidbar gewesen. Grundsätzlich immer dann, wenn man nicht verletzt ist, also wenn man klassischerweise in Bergnot ist, dann muss man den Einsatz selber bezahlen.
SPRECHERIN
Und das kommt im Zeitalter der Smartphones immer häufiger vor - nicht nur weil immer mehr Menschen auf die Berge stürmen.
AMPENBERGER 8
Aber natürlich, so wie unser gesamtes Sicherheitsgefühl auch im Tal sich verändert hat, wird natürlich heute auch schon bei Unfällen alarmiert, wo man vielleicht 1950 gesagt hat: Na ja, dafür kommt jetzt keine Bergrettung! Und schon gar nicht 1890, sondern da hat man selber geschaut, wie man ins Tal kommt. Das eigenverantwortliche Bergsteigen das gehört ja auch zu der Ehre dazu: Ich versuche so lange wie möglich mir selbst zu helfen, wie es irgendwie geht. Das ist natürlich in der Breite der Masse von Menschen, die heute am Berg unterwegs sind, nicht mehr vorhanden. Das ist auch ganz klar.
SPRECHERIN
Einen Grund dafür sieht Roland Ampenberger, Sprecher der Bayerischen Bergwacht, auch in den sozialen Medien:
AMPENBERGER 9
Berge sind immer und überall verfügbar - sei es in den sozialen Medien: Das schaut immer für jeden zu jeder Zeit machbar und verfügbar aus. Und das beschäftigt uns schon in Einsätzen: jetzt nicht in der Masse, was die Anzahl angeht. Aber wenn immer wieder, gerade an den Hotspots - sei es in den Berchtesgadener Alpen oder im Wettersteingebirge - dass wir auf Menschen treffen, wo die Urteilsfähigkeit oder die Einschätzung einfach auf eine gewisse Unbedarftheit letztendlich schließen lässt.
Musik 8: ARD Labelmusik No trace 28 Sek
SPRECHERIN
Doch auch wenn die Bergretter sehr gut ausgestattet sind und die meisten Bergsteiger ein Handy dabei haben: Nicht überall ist Handyempfang, bei schlechter Sicht oder schlechtem Wetter kann der Hubschrauber nicht fliegen und auch die Bergretter sind, wenn auch Helden, so doch keine Übermenschen.
AMPENBERGER 10
Es geht nicht immer und überall! Also dieser Slogan: zu jeder Zeit in jedem Gelände bei jedem Wetter. Ehrlicherweise muss man dazu sagen: ja, fast immer. Aber es gibt natürlich auch Grenzen dessen.
SPRECHERIN
Und das kann dann auch für die Einsatzkräfte, die ihrer Hilfeleistung wegen Lawinengefahr, Schneemassen, Dunkelheit oder Wetter nicht nachkommen können, belastend sein. In solchen Fällen ist es wichtig, dass der Zusammenhalt unter den Kollegen der Bergwacht gut ist, so Robert Zimmermann:
ROBERT 11
Dieser Einsatz, wenn er jetzt zum Beispiel abgeschlossen ist, dann man kommt da eben auch zusammen, dann ist es halt auch: „Ja wie war´s denn?“ Einfach mal hinhocken, wieder was zusammen trinken. Belastende Einsätze sind natürlich dann auch eine gewisse Notwendigkeit, dass man sich wirklich hinhockt und sagt: „Du, wie geht es denn? Was waren gerade los?“ Ansonsten ist es einfach auch mal wieder: sich bewusst machen, wie schnell einfach was sein kann.
Musik 9: Frozen Landscape – siehe oben – 27 Sek +
GERÄUSCH Hubschrauber
SPRECHERIN 2 (darüber)
Inzwischen ist es der 13.November am Gjaidsteig im Karwendel. In der früh um 8 Uhr lässt das Schneetreiben für kurze Zeit nach. Sofort startet der Rettungshubschrauber "Christoph Murnau" mit einem Mittenwalder Bergwachtler und rettet die stark unterkühlten Bergsteiger. Sie werden in das Klinikum Garmisch-Partenkirchen gebracht. Gerade noch einmal gut gegangen.
Musik aus
Küssen ist wunderbar. Es kann aber auch irgendwie eklig sein - jedenfalls, wenn man daran denkt, dass man dabei Speichel austauscht. Doch Küssen ist sogar gesund. Das sagen zumindest Kussforscher, sogenannte Philematologen. Ein Training für das Immunsystem, die Muskeln und - die Nerven. Von Yvonne Maier (BR 2018)
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Es sprachen: Laura Maire, Shenja Lacher, Christian Baumann, Clemens Nicol, Jerzy May, Peter Weiß
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Regie: Sabine Kienhöfer
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Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Tobias Heidland, Professor für VWL an der Universität Kiel und Leiter des Forschungszentrums „Internationale Entwicklung“ am Institut für Weltwirtschaft
Philipp Degens, Sozialwissenschaftler an der Universität Hamburg.
Stephan Schulmeister, österreichischer Wirtschaftsforscher und Publizist
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Am 6. Juni 1944 landen alliierte Truppen in der Normandie - das Schicksal von Nazi-Deutschland ist besiegelt! Etliche Schriftsteller, darunter Ernest Hemingway, Stefan Heym, Thomas Mann und Jean-Paul Sartre berichten über diesen folgenschweren Tag. Autor: Joachim Scholl
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Autor dieser Folge: Joachim Scholl
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Irina Wanka, Christian Baumann, Caroline Ebner, Stefan Merki
Redaktion: Andra Bräu
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR
Achtung, Achtung, hier ist die BBC London. Wir senden nun Mitteilungen in französischer Sprache: (kurze Pause) – „Les anglots longs de violons de l’automne / Blessent mon coeur d’une langue montone...“ / Atmo stehen lassen, darauf Sprecherin)
SPRECHERIN
„Les anglots longs de violons de l’automne / Blessent mon coeur d’une langue montone...“ – „Das lange Schluchzen herbstlicher Geigen / Die mein Herz mit langweilender Mattigkeit verwunden“ – an einem Dienstag, in der Nacht zum 2. Juni 1944 erklingt im britischen Rundfunk französische Poesie. Nur die ersten beiden Zeilen von „Chanson d’Automne“, aus dem Gedicht „Herbstlied“ von Paul Verlaine. Aber das genügt, die Empfänger reagieren wie elektrisiert. MUSIK ENDE
Es ist eine literarisch verschlüsselte Botschaft an die Résistance, die Widerstands- bewegung im besetzten Frankreich. Jahrelang haben die Untergrundkämpfer auf diese Verse gewartet, die jetzt nur eines bedeuten: Innerhalb der nächsten 48 Stunden beginnt hier, auf dem Kontinent, der große Angriff – die Invasion!
SPRECHER
Noch einmal wird die Geduld der Résistance auf eine harte Probe gestellt. General Dwight D. Eisenhower, der amerikanische Oberbefehlshaber der alliierten Landungstruppen, hat den Invasionstermin auf den 4. Juni gelegt. Drei Millionen Soldaten sind an der südenglischen Küste zusammengezogen. Mehr als 5000 Schiffe drängeln sich in den Häfen am Kanal. 7000 Kampf- und über 2000 Transportflugzeuge stehen bereit. Doch dann schlägt das Wetter um, Sturm kommt auf. Die erste Welle an Schiffen, die bereits unterwegs ist, muss umkehren. Das Warten wird unerträglich.
MUSIK „Verklärte Nacht, op 4.“; ZEIT: 00:47
ZITATOR
In der ganzen Welt fragten sich die Menschen, wann es soweit sein würde, und nicht wenige beteten. Aber nirgends war die Spannung größer als ins London. Hier fühlte man das Drama, auf beinahe schmerzend körperliche Weise. Es war so nah, nur eine Stunde entfernt, bis zur Küste im Süden.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN (auf Musik)
Der kanadische Kriegs-Korrespondent Lionel Shapiro in seinem 1956 veröffentlichen Roman „The 6th of June“, „Der 6. Juni“:
MUSIK „Verklärte Nacht, op 4.“; ZEIT: 00:23
ZITATOR
Die Menschen gingen in die Pubs, um die endlosen Abende zu verkürzen. Hier war es am schlimmsten. Die Lokale waren voll und trotzdem tödlich still. Warum nur? Es ist diese verdammte Warterei, sagten die Leute zu sich, aber es war der Tod an den Stränden, an den sie in Wahrheit dachten.
MUSIK ENDE
O-Ton engl. BBC-Kriegsberichterstatter 0’57 / mit Voice over
„The Canal troops are landing, they are landing all around me, as I speak, red and white parachutes fluttering down, in perfect formation…”
SPRECHERIN
Am 6. Juni ist „D-Day“, Decision Day, der Tag der Entscheidung. Ab 1.00 Uhr nachts landen 18.000 britische und amerikanische Fallschirmjäger im Hinterland der normanischen Küste zwischen Sainte-Mère-Église und Caen. Sie treffen auf einen völlig überraschten Gegner. Niemand bei der deutschen Heeresleitung hat den Angriff zu diesem Zeitpunkt erwartet. Auch nicht der Schriftsteller Ernst Jünger, der als Offizier im Generalstab von Paris stationiert ist. Zwei Tage nach der Landung schreibt er in seinem Tagebuch:
ZITATOR
Am gestrigen Tag bei General Speidel in La Roche-Guyon. Wir fuhren gegen Mitternacht zurück. Auf diese Weise verpassten wir um eine Stunde das Eintreffen der ersten Meldungen über die Landung. Sie wurde am Morgen bekannt und überraschte viele. Die ersten abgesprungenen Kräfte wurden nach Mitternacht festgestellt. Zahlreiche Flotten und mehrere tausend Flugzeuge traten bei den Operationen auf. Es handelt sich ohne Zweifel um den Beginn des großen Angriffs, der diesen Tag historisch machen wird.
SPRECHERIN
Und Adolf Hitler? Der „Führer“ weilt in Berchtesgaden und verschläft den Vormittag. Seit 5 Uhr 30 rollen die Angriffswellen gegen die Strände der Normandie, um 10 Uhr 15 traut man sich endlich, Hitler zu wecken. Im Morgenmantel empfängt er die Nachricht. Dann verstreichen entscheidende Stunden, der selbsternannte Oberbefehlshaber der Wehrmacht zögert, die bereitstehenden Panzer-Divisionen in Marsch zu setzen.
MUSIK privat Take 005 “The Winter Soldier”; Album: Captain America The Winter Soldier (Original Motion Picture Soundtrack); Label: Hollywood Records – D0001911602; Interpret: Gavin Greenaway; Komponist: Henry Jackman; ZEIT: 00:35
Generalfeldmarschall Rommel, der Oberkommandierende der deutschen Truppen in Frankreich, fleht Hitler förmlich an. Am Nachmittag, viel zu spät, gibt er endlich den Befehl. Erst am späten Abend wird die Invasion in Deutschland bekanntgemacht.
MUSIK hoch
SPRECHER
Als Ernst Jünger in der Nacht zum 6. Juni durch Paris fährt, hätte er zwei französischen Schriftstellern begegnen können: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir.
MUSIK ENDE
Sie kommen gerade von einer Party, es wurde getrunken, gesungen, gelacht, Albert Camus hatte wie wild getanzt. In ihrer Autobiographie schreibt Simone de Beauvoir:
ZITATORIN
Wir gingen mit Olga und Bost zur ersten Metro und begleiteten die beiden bis zum Montparnasse. Die Place de Rennes lag verlassen im fahlen Licht der Morgendämmerung. Plakate an der Bahnhofsmauer verkündeten, dass der Zugverkehr eingestellt sei. Was ging vor? Ich schlief fünf oder sechs Stunden. Als ich erwachte, drang die Stimme eines Radios durch mein Fenster. Sie sagte lang erwartete, unglaubliche Dinge, ich sprang aus dem Bett. Die anglo-amerikanischen Truppen hatten in der Normandie Fuß gefasst! Die Tage, die nun kamen, waren ein einziges Fest. Die Leute lachten einander zu, die Sonne strahlte – und wie fröhlich waren die Straßen.
SPRECHER
Jean-Paul Sartre zeigt weniger Enthusiasmus, er fühlt sich unschön abgelenkt. hat nur Sinn für sein neues Theaterstück „Huis Clos - bei Geschlossene Geellschaft“, das in diesen Tagen Premiere feiern soll. – Viele tausend Kilometer entfernt, im kalifornischen Exil, ist ein anderer Dramatiker von Weltgeltung ebenfalls ganz auf seine Arbeit konzentriert. Genau am Invasionstag vollendet Bertolt Brecht den „Kaukasischen Kreidekreis“. Dann geht er ins Kino. In seinem „Journal“ verzeichnet er diesen Eintrag:
ZITATOR
6. Juni 1944. – Ich kam mit Homolka und Karin aus dem Film „Memphis Belle“ – der Flug einer Flying Fortress nach Wilhelmshaven – und saß schon wieder beim Schach, als Hanns Eisler telefonierte, die Invasion in Frankreich habe eingesetzt. Das Radio spie Nachrichten, ein Augenzeuge sprach schon von der Normandie aus. (( Barbara sagt, dass die Lehrerin für Social Science die Invasion nicht mit einem Wort berührt hätte, auch Steff hörte nahezu keine Äußerungen an der Universität. Winge berichtet, ein Mann hätte zu ihm gesagt: „Da regen sich nur die Fremden auf und die, die Verwandte drüben haben bei der Armee.“) )
SPRECHERIN
In Brechts Nachbarschaft wird die Nachricht mit größerem Interesse aufgenommen. Der berühmteste Schriftsteller des deutschen Exils, Thomas Mann, feiert ausgerechnet am D-Day Geburtstag. Am Abend notiert er in sein Tagebuch:
ZITATOR
Pacific Palisades, Dienstag, den 6. Juni. – Mein 69. Geburtstag. Stand halb neun Uhr auf. Während Katja mir ihre Geschenke zeigte, rief Mrs. Meyer aus Washington an, von der ich, bevor ich die Zeitung gesehen, erfuhr, dass die Invasion Frankreichs bei Caen, Calais, Le Havre begonnen hat. Eigentümliches Zusammentreffen. Beim Frühstück die Zeitungsnachrichten. Die Meyer erklärte,
befriedigende direkte Nachrichten aus dem Kriegsministerium zu haben. Spannung auf koordinierte Aktionen der Russen. Telephon mit den Franks. Man erwartet eine weitere Ansprache des Präsidenten.
Regie: O-Ton / Amerik. Nachrichtensprecher (In OF: ab 12‘36)
„Ladies and Gentlemen, the President of the United States…”
SPRECHERIN
Tags zuvor hat Franklin D. Roosevelt im Rundfunk den Einmarsch alliierter Truppen in Rom verkündet. Nun wendet sich der amerikanische Präsidente erneut an sein Volk:
Regie: O-Ton / Roosevelt TC 12:36-13´42
My fellow Americans! Last night when I spoke to you about the fall of Rome I knew at that moment that troops of the United States and our allies were crossing the channel.”
DARÜBER
ZITATOR
Liebe Mitbürger. Gestern Nacht, als ich zu Ihnen sprach, über den Fall von Rom, wusste ich in diesem Moment bereits, dass Truppen der Vereinigten Staaten und unserer Verbündeten den Kanal überquerten. Bis jetzt waren wir erfolgreich. Und so bitte ich Sie, in dieser kritischen Stunde, mit mir zu beten...
SPRECHERIN
Genau zu dieser Zeit arbeitet Thomas Mann an seinem Roman „Doktor Faustus – Die Geschichte des Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“. Serenus Zeitblom heißt der eher furchtsame, brave Chronist, und in die Rekapitulation der tragischen Biographie Leverkühns mischt der Erzähler aktuelle Beobachtungen und Reflexionen. Am 23. Mai 1943 setzt der Roman ein, an diesem Tag beginnt Thomas Mann mit der Niederschrift. Im Juni 1944 befindet er sich im 33. Kapitel. Und die sensationelle Nachricht aus der Wirklichkeit diktiert ihm die Fiktion.
MUSIK „Verklärte Nacht, op 4.“; ZEIT: 00:48
ZITATOR
Die Invasion Frankreichs, als Möglichkeit längst anerkannt, hat sich vollzogen – eine mit vollkommener Umsicht vorbereitete technisch-militärische Leistung ersten oder überhaupt neuen Ranges, und bald waren es der zu Strande gebrachten Truppen, Tanks, Geschütze und jederlei Bedarfe mehr, als wir wirder ins Meer zu werfen vermochten. Cherbourg hat nach heroischen Radiogrammen des Kommandierenden Generals an den Führer kapituliert, und seit Tagen schon tobt eine Schlacht, deren Streitgegenstand die normannische Stadt Caen ist.
MUSIK ENDE
Regie: O-Ton / Dt. Kriegsberichterstatten 0’15 (In OF: 21’08)
„Hier hart an uns vorbei heulen die Granaten der englischen Artillerie, sie beschießt den Dorfrand hinter unserem Rücken, wo man anscheinend Fahrzeug- bewegungen erkannt hat. In der Talsohle vor uns sind die grauen Ruinen und zerfetzten Baumstümpfe eines total, bis auf das letzte Haus heruntergebrannten Dorfes zu sehen. .
MUSIK „Hydra“; ZEIT: 02:03
SPRECHER
Um 3.30 Uhr hat der Feuerschlag begonnen. Tausende von Schiffsgeschützen beschießen die deutschen Befestigungsanlagen. In der Luft ist die gesamte Bomberflotte im Einsatz. Noch warten die über 4000 Landungsboote im sicheren Schutz der Geleitschiffe. Die alliierte Führung hat den 30 Kilometer langen Küstenstreifen in fünf Landezonen eingeteilt. Im Abschnitt „Utah“ und „Omaha“ landen amerikanische Soldaten, und in einem Boot vor „Omaha Beach“ sitzt mitten unter den durchnässten und frierenden G.I.s der weltberühmte Romancier Ernest Hemingway. Als Kriegs-Korrespondent hat er schon zuvor von vielen Fronten berichtet. Die Invasion sollte die Krönung für den Boxer, Stierkampf-Liebhaber und notorischen Macho sein. Seinen Wunsch, gleich in der ersten Angriffs-Welle mitzufahren, lehnt das alliierte Presse-Ministerium entsetzt ab – den ersten Lande-Einheiten werden wenig Überlebens-Chancen eingeräumt. Man rechnet mit 10.000 Toten, eine Zahl, die sich als realistisch erweisen sollte. Hemingway darf in die siebte Welle!
ZITATOR
Wir näherten uns der Küste im Morgengrauen. Das Landungsboot war sechsundreißig Fuß lang und sah aus wie ein Sarg. Er nahm viel Wasser über, das in grünen Schauern auf die Stahlhelme der Soldaten prasselte, die Schulter an Schulter hockten, in der steifen, ungeschickten, ungemütlichen, einsamen Genossenschaft von Männern, die in die Schlacht gehen. Unter der Back des stählernen Boots lagen Kisten voll TNT, mit Gummischwimmwesten umwickelt, um in der Brandung zu schwimmen, und Bazookas in Haufen und Kisten voll Bazooka-Raketen, und alle diese Munitionspacken steckten in wasserdichten Plastikhüllen wie die College-Girls, wenn’s regnet. Voraus war die französische Küste zu sehen.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Der Reporter Hemingway war auf „Omaha Beach“ gelandet; im südlichsten Abschnitt „Utah“ liegt der einfache Gefreite Jerome D.Salinger im Sand. Der spätere Verfasser von „Der Fänger im Roggen“ wird nur ein einziges Mal in seinem Leben von diesem Tag erzählen, leicht angetrunken, auf einem Veteranentreffen, sonst hätte die Welt nie davon erfahren.
SPRECHER
Dort, wo die Einheit von Jerome D.Salinger gelandet ist, trifft sie auf den heftigsten Widerstand der Deutschen. Hier sind die Verteidigungsanlagen am besten ausgebaut. Minenfelder, Sperrhöcker, Stacheldraht und in den Sand getriebene Balken machen die Landung von Panzern und Fahrzeugen schier unmöglich. Diese Balken heißen im Jargon der deutschen Landser „Rommelspargel“. Sie liefern, bald 15 Jahre später, dem Schriftsteller Günter Grass den Anlass für ein satirisches Gedicht in seinem Roman „Die Blechtrommel“. Im Sommer 1944 ist der Held Oskar Matzerath Mitglied in einer Fronttheatertruppe. Man gastiert in Frankreich. Während eines Picknicks auf den Betonbunkern des „Atlantik-Walls“ wird spontan gedichtet. Künstlerin Kitty sagt die Verse auf:
Regie: Blechtrommel-Wirbel
MUSIK „Golden arrow“; ZEIT: 00:53
ZITATORIN
Noch waffenstarrend, mit getarnten Zähnen
Beton einstampfend, Rommelspargel
Schon unterwegs ins Land Pantoffel,
Wo jeden Sonntag Salzkartoffel
Und freitags Fisch, auch Spiegeleier:
Wir nähern uns dem Biedermeier
(Trommelwirbel)
((Noch schlafen wir in Drahtverhauen
Verbuddeln in Latrinen Minen
Und träumen tags darauf von Gartenlauben,
Von Kegelbrüdern, Turteltauben,
Vom Kühlschrank, formschön Wasserspeier:
Wir nähern uns dem Biedermeier!
(Trommelwirbel)
Muss mancher auch ins Gras noch beißen
Muss manch ein Mutterherz noch reißen
Trägt auch der Tod noch Fallschirmseide
Knüpft er doch Rüschlein seinem Kleide
Zupft Federn sich vom Pfau und Reiher
Wir nähern uns dem Biedermeier! ))
Blechtrommel-Wirbel
SPRECHER
Anderntags ist der Spaß vorbei, wird das Künstlervölkchen vom Angriff der Alliierten überrascht, Oskars Freundin Roswitha von einer Granate getötet.
SPRECHERIN
Tausende Kilometer entfernt, tief im Osten, empfängt ein weiterer späterer deutscher Literatur-Nobelpreisträger die Nachrichten aus der Normandie. Seit fünf Jahren, vom ersten Tag des Krieges an, marschiert der Infanterist Heinrich Böll durch den Schrecken. Er wird schwer verwundet und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Die Landung der Alliierten lässt Böll hoffen. Sehnsüchtig schreibt er gleich am 7. Juni aus einem ungarischen Lazarett an seine Frau Annemarie:
ZITATOR
Gestern Abend erfuhren wir alle mit großer Erregung und Erwartung von der Invasion im Westen. Das ist ein unglaublich wichtiges Ereignis, diese Invasion, das kann wirklich zur Entscheidung des Krieges noch in diesem Jahr führen; wäre es nicht toll, wenn uns endlich einmal ein Zeichen vom Beginn des Endes leuchten würde, ach, dieser wahnsinnige, verbrecherische Krieg muss bald zu Ende gehen!
Regie: O-Ton Winston Churchill (In OF: 33’41)
“We tried again and again to prevent this war...
ZITATOR
„Immer wieder haben wir versucht, diesen Krieg zu verhindern“, hat der britische Premierminister Winston Churchill im November 1939 gesagt.
Regie: O-Ton kurz hochziehen
„...which should not have happened…
ZITATOR 1
“Aber jetzt sind wir im Krieg, und wir warden Krieg führen, und wir warden ihn solange führen, bis die andere Seite genug davon hat.
Regie: O-Ton kurz hochziehen
„...until the other side has had enough of it.“
SPRECHERIN
Am 11.Juni vereinigen sich die alliierten Brückenköpfe zu einer geschlossenen Front, die Invasion ist endgültig gelungen – mehr als eine halbe Million Soldaten und 90.000 Fahrzeuge stehen auf französischem Boden. Es wird nur noch zwei Monate dauern, bis die Streitmacht Paris erreicht. Am 25. August wird die Hauptstadt befreit. - Als passionierter und bekannter Schriftsteller wird Winston Churchill ebenfalls über die Invasion und den Siegeszug der Alliierten schreiben, in seinem Buch „Der Zweite Weltkrieg“ – noch vor Abschluss des sechsbändigen Werks erhält er dafür 1953 den Literatur-Nobelpreis.
SPRECHER
Im selben Jahr 1948, als der erste Band von Winston Churchills Kriegs-Memoiren erscheint, kommt in New York der Roman eines deutschen Schriftstellers auf den Markt: „The Crusaders“ – ein weitgespanntes 800-Seiten-Epos, das nach der Landung der Normandie einsetzt, die Befreiung Frankreichs beschreibt, die Schicksale von Amerikanern und Deutschen gleichermaßen schildert und bis zur Eroberung Deutschlands reicht. Der Verfasser heißt Stefan Heym! –
SPRECHERIN
Als Technical Sergeant hat er im Presse-Korps der 12. US-Armee die Invasion aus nächster Nähe erlebt, es ist für ihn auch die Wiederkehr nach Europa! – 1933, mit zwanzig Jahren, war der Sohn einer jüdischen Kaufmanns-Familie nach dem Reichtagsbrand aus Deutschland geflohen. In den USA wurde er zum Amerikaner und erfolgreichen Schriftsteller, 1943 meldete er sich freiwillig zum Militär. Im Einsatz in Frankreich arbeitet er für die Feindaufklärung, verfasst Flugblätter und Ansprachen, die über Lautsprecher die deutschen Soldaten zur Aufgabe bewegen sollen. Im Roman hat Stefan Heym eines dieser von ihm entworfenen Flugblätter eingebaut:
ZITATOR
... wofür kämpft Ihr? Um einen verlorenen Krieg zu verlängern, einen Krieg, der Europa vernichtet, einen Krieg, der euch selbst vernichtet. Fünf Jahre lang habt ihr gekämpft. Milllionnen sind in Russland gefallen, und täglich nähern sich die Russen der deutschen Grenze. Die Front im Westen rollt donnernd vorwärts. Wenn ihr euch noch retten wollt, wenn ihr Deutschland noch retten wollt, gibt es nur einen Ausweg: SCHLUSS MACHEN!
SPRECHERIN
Stefan Heym wird nach dem Krieg zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der jungen DDR. „The Crusaders“ erscheint dort 1950 unter dem deutschen Titel „Kreuzfahrer von heute“, in Westdeutschland wird die Ausgabe später „Der bittere Lorbeer“ heißen. Für seine militärischen Dienste wird Stefan Heym von den USA mit dem Bronze Medal Star ausgezeichnet. – Und in seinem Flugblatt hat er die Wahrheit gesprochen: Am 22. Juni, zwei Wochen nach der Invasion, sind 200 Divisionen der Roten Armee zur Offensive im Osten angetreten, sie sind den Deutschen fünffach überlegen. Überall nun brechen die deutschen Fronten zusammen.
Regie: Musik / unter Text
SPRECHER
Jetzt beginnt das Ende. Auch Serenus Zeitblom hat die Nachrichten gehört. In Kalifornien lässt Thomas Mann seinen ängstlichen Helden um Deutschland zittern:
MUSIK „Verklärte Nacht, op 4.“; ZEIT: 01:12
ZITATOR
Kein Halten mehr! Seele, denk‘ es nicht aus. Wage nicht, zu ermessen, was es heißen würde, wenn in unserem extremen, durchaus einmalig-furchtbar gelagerten Fall die Dämme brächen und es kein Halt mehr gäbe gegen den unermesslichen Hass, den wir unter den Völkern ringsum gegen uns zu entfachen gewusst haben. (...) Das Strafgericht – es komme! Nichts anderes bleibt mehr zu hoffen, zu wollen, zu wünschen. (...) Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei eurer armen Seele gnädig!
Der D-Day, der Decision Day wurde als Tag der Entscheidung von den Alliierten genauso wie von Nazi-Deutschland erwartet, über zwei Jahre hatten sich vor allem Briten und Amerikaner auf eine der größten Militäroperationen der Geschichte intensiv vorbereitet. Als die Alliierten dann am 6.Juni 1944 in der Normandie tatsächlich an Land gingen, geschah dies unter hohen Verlusten. Heute gilt die Invasion nicht mehr als die Entscheidungsschlacht, als die sie die Zeitgenossen sehen wollten, aber als Tag von hoher symbolischer Bedeutung, wenn es um die Nachkriegsordnung in West-Europa ging. Von Steffi Illinger
Credits
Autorin dieser Folge: Steffi Illinger
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Christoph Jablonka, Christian Baumann
Technik: Marcus Huber
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Dr. Peter Lieb, Militärhistoriker, Potsdam
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Es ist eine der wichtigsten Wettervorhersagen der Geschichte: drei Wetterdienste arbeiten an den Prognosen, um eine ideale Wetterkonstellation über dem Nordatlantik und dem Ärmelkanal zu ermitteln: Sonnenaufgang bei Ebbe, der Himmel möglichst nicht wolkenverhangen und nicht zu viel auflandiger Wind. Denn Fallschirmspringer und Bombenflieger brauchen gute Sicht, die Böden müssen trocken sein, damit schweres Kriegsgerät nicht im Matsch versinkt, für die Landungstruppen soll die See ruhig sein und der Wasserstand niedrig, damit die vom Gegner errichteten Strandhindernisse zu sehen sind.
GERÄUSCH – WIND-WELLEN-WASSER, STÜRMISCH
SPRECHER
Doch Anfang Juni 1944 herrscht über dem Nordatlantik ein Tiefdruckgebiet, es ist ungewöhnlich kalt und stürmisch für die Jahreszeit. Ungünstig – denn die Strategen wünschen sich optimale meteorologische Bedingungen für eine der größten Militäraktionen der Menschheitsgeschichte: der Invasion und Befreiung Westeuropas von der Naziherrschaft. An der südenglischen Küste haben die Alliierten ein gigantisches Truppenaufgebot zusammengezogen – sie warteten auf den D-Day – den Decision-Day, den Tag der Entscheidung:
GERÄUSCH – WIND – WELLEN -WASSER-STÜRMISCH
SPRECHER
Der Militärhistoriker Dr. Peter Lieb beschäftigt sich mit der Invasion seit seiner Studienzeit, als er während eines Auslandsemesters den berüchtigten Omaha Beach mit seinen endlosen Reihen von Kriegsgräbern besucht hat.
O-Ton 1: Dr. Peter Lieb 0´45“
1/ [00:02:51] Der Name D-Day bedeutet Decision-Day, also Entscheidungstag.
Und in der Tat ist für die damaligen Beteiligten, sowohl auf alliierter als auch auf deutscher Seite - dieser Tag wird als der Entscheidungstag des Krieges gesehen, ist ein Tag für die Alliierten, der mit großen, sehr, sehr großen militärischen Risiken behaftet zu sein scheint. Und sie glauben, wenn sie jetzt die Landung nicht schaffen sollten, würde es Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis sie wieder erneut versuchen könnten, in Westeuropa zu landen…((Auf der anderen Seite haben die Deutschen, da insbesondere die nationalsozialistischen Machthaber und auch die NS Propaganda, haben diesen D-Day oder diese alliierte Landung in Westeuropa zu einer Entscheidungsschlacht des Krieges hochstilisiert.))
SPRECHER
Eigentlich haben die Deutschen bereits im Mai 44 mit einem Angriff auf die von ihnen besetzte nordfranzösische Küste gerechnet, und auch auf der anderen Seite des Ärmelkanals wurde von den Alliierten die Invasion für Mai angesetzt und wieder verschoben – man war mit den militärischen Vorbereitungen noch nicht weit genug.
Zudem widersprechen sich die Wetterprognosen der amerikanischen und britischen Dienste, die gewünschte Fünftage-Vorhersage grenzt im Hinblick auf die damaligen Möglichkeiten an Kaffeesatzleserei.
MUSIK The revolutionary army (LC 10347) 0’05
O-Ton 2: Dr. Peter Lieb
2 / [00:10:35] …das Wetter spielt in der Tat eine ganz wichtige Rolle an diesem D-Day. Und zwar, weil die Deutschen andere Informationen haben als die Alliierten. Die Alliierten wissen, das sich am 6. Juni so ein kleines Wetterloch auftut. Vorher und nachher ist eine Schlechtwetterfront vorhergesagt und für den 6. Juni gibt es ein kleines Fenster …. Die Deutschen hingegen, ihre Wettervorhersage sagt, 6.Juni schlechtes Wetter. Da werden die Alliierten nicht angreifen, da können sie ihre Luftwaffe nicht einsetzen. Da ist hoher Seegang, da können sie ihre Landungsboote nur mit Schwierigkeiten einsetzen.
Sprecher
Ein fataler Irrtum.
Die Planung und Durchführung der Operation Overlord, also der Landung, liegt bei General Dwight D. Eisenhower, dem Oberbefehlshaber über die alliierten Truppen, über Streitkräfte aus Großbritannien, Amerika, Kanada, und weiteren Staaten sowie von Exil-Armeen aus Frankreich und Polen.
MUSIK The revolutionary army 0’05
Nach einer zweiten durchwachten Nacht und Unmengen von Kaffee und Nikotin ringt sich General Eisenhower schließlich zu einer Entscheidung durch, er befiehlt die Invasion:
Archiv 1:
„Soldiers, Sailors, and Airmen of the Allied Expeditionary Force! You are about to embark upon the Great Crusade, toward which we have striven these many months. The eyes of the world are upon you.
…The tide has turned! The free men of the world are marching together to Victory!
I have full confidence in your courage, devotion to duty and skill in battle. We will accept nothing less than full Victory!“
OVERVOICE-SPRECHER:
Soldaten auf See wie in der Luft, ihr seid dabei, euch für einen großen Kreuzzug einzuschiffen. Die Augen der Welt sind auf euch gerichtet. …Das Blatt hat sich gewendet! Freie Männer von überall auf der Welt marschieren gemeinsam dem Sieg entgegen. Ich habe volles Vertrauen in Euren Mut, euer Pflichtgefühl und eure Kampfesfähigkeit. Wir akzeptieren nur einen vollständigen Sieg.
MUSIK From the Halls of Montezuma 0’20
SPRECHER
Im Morgengrauen des 6.Juni überquert eine gewaltige Armada den Ärmelkanal: 1213 Kriegsschiffe und 4124 Landungsboote stechen in See.
Der „längste“ Tag der Geschichte hat begonnen.
O-Ton 3: Dr. Peter Lieb
1/ [00:01:30] …Also der D-Day hat eine herausgehobene politische Bedeutung, …Was er weniger hat, ist, …dass lange Zeit behauptet wurde, der D-Day, wäre eine Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkrieges gewesen oder wäre ein Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges gewesen. Das kann man also nicht mehr sagen. Das zu diesem Zeitpunkt war eigentlich jetzt in der Rückschau gesehen, der Zweite Weltkrieg für das Deutsche Reich bereits verloren. Für die Zeitgenossen hat sich das durchaus anders dargestellt. Da war nicht so ganz klar, ob die Deutschen vielleicht noch Chancen haben, den Krieg zu gewinnen. Das haben die Deutschen geglaubt, das haben die Alliierten geglaubt. … (02:18)
SPRECHER
…und im Vorfeld lange um die richtige Strategie bei der Befreiung Europas gerungen: Bereits Ende 1941 war die Entscheidung zwischen Briten und Amerikanern gefallen – Germany first! Zuerst sollte das nationalsozialistische Deutschland besiegt werden, bevor sich die Amerikaner den weiteren weltweiten Kriegsschauplätzen zuwenden wollten. Fast zweieinhalb Jahre haben die Vorbereitungen für eine amphibische Landung ungeheuren Ausmaßes gedauert, also einer Landung der Marinetruppen an einer feindlich besetzten Küste, nur von der Seeseite aus und ohne schützende Häfen, von denen sich aus Truppenbewegungen und Kriegsmaterial organisieren lassen.
MUSIK Etoll Horrific (LC-30312) 0’08
Eine militärische Großoperation, bei der sich die westlichen Verbündeten immer wieder zusammenraufen müssen: auf zahlreichen Konferenzen ringen Briten und Amerikaner um die richtige Strategie: die Amerikaner möchten schnell in Westeuropa einmarschieren – doch eine erste Operation, um den Hafen von Dieppe zu besetzen, scheitert 1942 kläglich. Die Briten fühlen sich bestätigt:
O-Ton 4: Dr. Peter Lieb
1 / 06:12 … die Briten sagen Nein, … Die deutsche Wehrmacht ist viel zu stark. Die Deutschen haben noch nach wie vor eine starke Luftwaffe und wir müssen erst mal Zeit gewinnen und versuchen, die Deutschen an der Peripherie zu treffen. Und das wäre das Mittelmeer. Da haben die Briten natürlich auch eigene politische und wirtschaftliche Interessen, Sicherung der Seewege nach Indien. …Und zunächst setzen sich auch die Briten durch, in dieser Diskussion, führen den Amerikanern vor Augen, dass eine Landung 1942 in Europa nicht möglich ist. Und so kommt es zur ersten großen amphibischen Landung des Krieges durch die Alliierten im November 1942 in Nordafrika, in Marokko und in Algerien. Als Folge davon mussten sich die Deutschen dann einige Monate später aus Nordafrika zurückziehen und die Alliierten landen in Süditalien im Juli 1943. …
SPRECHER
Auch auf der anderen Seite des Ärmelkanals wird der Angriff der Alliierten an der französischen Westküste erwartet: Hitler hat bereits im Herbst 1943 eine Weisung herausgegeben, dass sich von nun an alle Verteidigungsbemühungen verstärkt auf den Westen fokussieren sollen.
MUSIK Etoll Horrific (LC-30312) 0’10
ZITAT / Overvoice-Sprecher:
Die Gefahr im Osten ist geblieben, aber eine größere im Westen zeichnet sich ab: die angelsächsische Landung!
O-Ton 5: Dr. Peter Lieb
((Ein erster symbolischer Akt ist, dass der bekannteste deutsche Militär des Zweiten Weltkriegs, der Generalfeldmarschall Rommel, …dass dieser populärste deutsche General im Herbst 1943 in den Westen geschickt wird, um dort die Maßnahmen zu treffen für die Verteidigung. Und damit zeigt das NS-Regime der deutschen Bevölkerung und auch den eigenen Soldaten, schaut her, unser bester Mann ist jetzt im Westen und wird dafür sorgen, dass wir dort erfolgreich die Alliierten abwehren können.)) Jetzt gibt es allerdings ein Problem: Die Deutschen haben bereits seit Ende 1941 begonnen, Befestigungsanlagen entlang der Küste zu errichten, den sogenannten Atlantikwall. Aber dort ist in den ganzen Jahren nicht viel geschehen. Das sind nur vorbereitete Stellungen, aber nur vereinzelte Bunkeranlagen. Und als jetzt Rommel nach Frankreich kommt und oder in den Westen, auch in den Niederlanden und in Belgien, beginnt er massiv diesen Atlantikwall zu verstärken.
MUSIK Neutral undergroove 0’37
SPRECHER
Doch das beste Bunkersystem nützt nichts, wenn es an Nachschub fehlt. Die deutsche Armee ist durch den mehrjährigen Mehrfrontenkrieg aufgebraucht. Nun sollen mangelhaft ausgebildete Soldaten die Küste im Westen verteidigen, Jugendliche in Uniform und zwangsrekrutierte Osteuropäer aus den annektierten Gebieten. Auch fehlt es an Munition – und zahlreiche sich überlagernde Hierarchieebenen in Wehrmacht und Waffen-SS verhindern schnelle Einsätze. Und im entscheidenden Moment schätzen die Deutschen nicht nur die Wetterlage falsch ein:
Archiv 2
„03:24…Der Angriff gegen die Küsten Europas, seit langem der Gegenstand von gespanntesten Hoffnungen und Erwartungen der Völker hat Gestalt begonnen. Die Briten und Amerikaner haben es an Versuchen, auf anderem Wege zu diesem Ziel zu kommen, nicht fehlen lassen…12:27 bisher hat der Feind die Tiefe der Befestigungen an keiner Stelle zu durchstoßen vermocht…13:01…das, was der Gegner zum gegenwärtigen Zeitpunkt braucht, sind geschützte Landeplätze für weitere Anlandungen, deshalb zielt er ja auf die Flussmündungen…“
SPRECHER
So ein militärpolitischer Kommentar vom 30.Mai 1944. Tatsächlich erwartet die deutsche Seite die Invasion viel weiter nördlich, an der engsten Stelle des Ärmelkanals, bei Calais oder der Flussmündung der Seine.
Selbst als das Inferno dann wirklich losbricht, glaubt die deutsche Wehrmacht anfangs noch an ein Täuschungsmanöver.
GERÄUSCH – FLIEGER / ALARM - LUFTKRIEG
SPRECHER
Dabei hatte Operation Overlord schon lange vor dem eigentlichen Tag der Invasion begonnen:
O-Ton 6: Dr. Peter Lieb
1/ 12:40 Die Voraussetzung für das Gelingen einer jeden amphibischen Landung ist die Luftherrschaft und die Alliierten…führen den Luftkrieg in zwei Dimensionen. Erstens den Luftkrieg über dem Deutschen Reich, wo es ihnen gelingt, zur Jahreswende 43/ 44 die Luftherrschaft zu gewinnen und die deutsche Jagdwaffe praktisch auszuschalten.
GERÄUSCH – FLIEGER / ALARM - LUFTKRIEG
SPRECHER
Aber auch Nordfrankreich überziehen die Alliierten mit einem massiven Bombardement – zerstören Seine-Brücken und Eisenbahnknotenpunkte, um die Nachschubwege für die deutsche Wehrmacht auszuschalten.
O-Ton 7: Dr. Peter Lieb
1/ 13:28... Und das Ganze führt zu großen Verlusten unter der französischen Zivilbevölkerung. Und es gibt große Diskussionen auf der alliierten Seite. Inwieweit ist das Ganze militärisch gerechtfertigt, diese Bombardierungen? Man will ja schließlich die Franzosen befreien und gleichzeitig bombardiert man sie. …Man muss sich immer vor Augen halten, dass Frankreich nach Deutschland dasjenige Land im Zweiten Weltkrieg ist,… wo das am meisten bombardiert worden ist. Es sterben 60.000 Franzosen …und die gerade im Frühjahr 1944, als dieser Luftkrieg über Frankreich intensiviert wird, …droht die Stimmung in der französischen Bevölkerung zu kippen, … (16:56 Und noch dazu kommt dann der General de Gaulle, der die französische Gegenregierung in London gebildet hat und die auch sagt Leute, hört auf zu bombardieren. Meine französischen Landsleute stellen sich sonst gegen euch. Und das Ganze wird dann auch im kurz vor dem D-Day ja auch diese Bombardierungen etwas zurückgefahren, so ab April, Mai aber im Zuge des D-Day selbst in den kommenden Wochen in der Normandie selbst erreichen die ja noch mal eine neue Intensität diese Bombardierungen.)
GERÄUSCH – FLIEGER / ALARM - LUFTKRIEG
MUSIK Inpending invasion A 1’05
SPRECHER
Auch der eigentliche D-Day beginnt nicht auf offener See oder an der Küste. 0 Uhr 18, nördlich von Caen: Bereits um kurz nach Mitternacht landen die ersten alliierte Fallschirmspringer im Hinterland, nahe der normannischen Dörfer und Städte. Ihre Mission: Wichtige strategische Punkte unter ihre Kontrolle bringen, Brücken besetzen, die Zugänge zu den Landungsstränden sichern. In mehreren Wellen regnen 18.000 Soldaten vom Himmel herab, doch vielfach misslingen Punkt-Landungen: über Quadratkilometer verstreut irren die Soldaten durchs Gelände. Auch Bombardements misslingen, die tiefliegende Wolkendecke verhindert die Sicht – teils kehren die Bomber voll beladen nach England zurück oder verfehlen ihr Ziel. Wieder trifft es die Zivilbevölkerung. Über den Rundfunk wendet sich General Eisenhower auch an die Franzosen:
Archiv 3
“People of Western Europe! The landing was made this morning on the coast of France by troops of the allied expeditionary force. This landing is part of the concerted united nations plan for the liberation of Europe,… To members of resistance movements, whether led by nationals or by outside leaders, I say: Follow the instructions you have received. To patriots who are not members of organized resistance groups, I say: Continue your passive resistance, but do not needlessly endanger your lives. Wait until I give you the signal to rise and strike the enemy.“
OVERVOICE-SPRECHER:
Die Landung durch die alliierten Expeditionsstreitkräfte an der französischen Küste ist erfolgt. Diese Landung ist Teil eines konzertierten Plans der Vereinten Nationen zur Befreiung Europas. Mitgliedern der Resistance, ob angeführt von Führern in und außerhalb Frankreichs, sage ich: Folgt den Instruktionen, die ihr erhaltet. Patrioten, die nicht Mitglieder organisierter Widerstandsgruppen sind, sage ich, setzen Sie Ihren passiven Widerstand fort, aber gefährden Sie nicht Ihr Leben. Warten Sie, bis ich Ihnen das Signal gebe, sich zu erheben und den Feind anzugreifen.
MUSIK Analog hypno session (LC 51263) 0’45
SPRECHER
Ab dem Morgengrauen, um 5 Uhr 30, nehmen 28 Schlachtschiffe der Alliierten fünf normannische Strände unter Beschuss: Der am härtesten umkämpfte Landeabschnitt ist der Omaha Beach. Ein schmaler, langegezogener Strandstreifen, dahinter eine 30 Meter hohe Steilküste – und auf dieser sitzen etwa 500 Wehrmachtssoldaten, verschanzt in ihren Bunkeranlagen. Am Strand haben sie Hindernisse aufgebaut, die sogenannten Tschechenigel, Panzersperren aus vernieteten Stahlpfosten. Hier sollen die amerikanischen GIs an Land gehen – und von Anfang an ist klar: Viele werden diesen Moment nicht überleben.
O-Ton 8: Dr. Peter Lieb
2 / [00:05:52] …dass dann die Landungsklappen runter gehen von den Booten und dann schießt ein deutsches MG rein und praktisch die ganze Besatzung kann da sofort innerhalb von wenigen Sekunden getötet werden. …Dies, das passiert auch besonders am Omaha Beach, also an einem der fünf alliierten Landungsabschnitten …auch selbst an den anderen Landungsabschnitten, wo es vergleichsweise ruhig rund läuft für die Alliierten. Beispielsweise am Juno Beach, wo die Kanadier landen. Selbst dort, in der ersten Welle, haben die Verluste von über 50 %.
SPRECHER
Auch den alliierten Militärstrategen ist bewusst, dass sie die Soldaten der ersten Welle auf eine Höllenfahrt schicken: sie rechnen mit bis zu 10.000 Toten an diesem Tag. Der Militärhistoriker Dr. Peter Lieb:
O-Ton 9: Dr. Peter Lieb
2 / [00:09:09]…. Aber, und das muss man auch sagen, das zeigt dann doch auch dabei die Alliierten sind Demokratien, wo das Menschenleben doch deutlich mehr zählt als in einer Diktatur. Die Soldaten sollten die bestmögliche Ausbildung kriegen…, für dieses schwierige Unternehmen. …monatelang üben die Alliierten immer wieder diese Landungsabläufe an der südenglischen Küste. Es ist alles ganz minutiös geplant, mit Artilleriebeschuss aus der Luft, von der See her und auch mit Luft Bombardements, …das es aber da zu hohen Verlustraten kommen würde, das war jedem militärischen Planer bewusst, aber anders wäre die Landung da gar nicht möglich gewesen in Westeuropa und damit die Befreiung.
Ev. GERÄUSCH – von Militärflugzeugen und Bombardierungen
SPRECHER
In einem der Landungsboote, die auf den Omaha-Beach zusteuern, sitzt der Kriegsfotograf Robert Capa, um ihn herum sich übergebende Soldaten – sie sind seekrank von der stürmischen Überfahrt. Und haben vermutlich Todesangst. Seine insgesamt 11 erhalten Fotos von der Landung sind ikonisch, sie haben das Bild von der Invasion bis heute geprägt:
Ev. GERÄUSCH – FOTOKLICKEN, MEHRMALS, kombiniert mit Geräuschen von Militärflugzeugen und Bombardierungen
Unscharf - ein Soldat, schwimmend in den Fluten des Atlantiks, die Augen weit aufgerissen
FOTOKLICKEN
Soldaten watend durchs knietiefe Wasser, vorbei an zerstörten Panzern… Auch der Fotograf Robert Capa watet mit. In seinen Erinnerungen schreibt er:
MUSIK Traumatic drone 1’13
ZITAT 1/ Overvoice-Sprecher: Robert Capa
Das Wasser war kalt und der Strand noch mehr als hundert Meter entfernt. Die Kugeln rissen Löcher in das Wasser um mich herum und ich machte mich auf den Weg zum nächsten Stahlhindernis. Zur gleichen Zeit traf dort ein Soldat ein, und für ein paar Minuten teilten wir uns die Deckung.
FOTOKLICKEN
SPRECHER
Blickrichtung Strand: aufsteigender Rauch von Gewehrsalven, zwischen umherirrenden Soldaten unscharf liegende Körper, tot, verwundet …
ZITAT 2/ Overvoice-Sprecher: Robert Capa
Erschöpft vom Wasser und von der Angst lagen wir flach auf einem kleinen Streifen nassen Sandes zwischen Meer und Stacheldraht. Solange wir flach dalagen, bot uns die Neigung des Strandes einen gewissen Schutz vor den Maschinengewehrkugeln, aber die Flut drängte uns gegen den Stacheldraht und die Gewehrsalven.
SPRECHER
Als Robert Capa selbst an Land geht, zittern seine Hände so stark, dass er zunächst kaum den Film in seine Kamera einlegen kann.
ZITAT 3/ Overvoice-Sprecher: Robert Capa
Ich hielt einen Moment inne … und dann wurde mir schlecht. Die leere Kamera zitterte in meinen Händen. Es war eine neue Art von Angst, die meinen Körper von den Zehen bis zu den Haaren erschütterte und mein Gesicht verzerrte.
MUSIK Etoll Horrific 0’07
SPRECHER
Robert Capa überlebt das Gemetzel, weil er sich zu Sanitätern auf ein Boot flüchten kann. Doch die Amerikaner müssen befürchten, dass der Einsatz am Omaha-Beach für sie in einem Debakel endet, sie erwägen sogar einen Abbruch – erst um 15 Uhr 30 haben sie alle deutschen Widerstandsnester erobert. Die Gegenwehr ist gebrochen, Omaha-Beach und die vier weiteren Strände sind unter alliierter Kontrolle – für den Preis von geschätzt 4000 Toten und Verwundeten.
MUSIKAKZENT Metal whooshes 0’04
Am Ende dieses längsten Tages können Amerikaner, Briten, Kanadier rund 154.000 Soldaten an Land bringen, sie haben Brückenköpfe gebildet, bereits einen Tag später legen sie die sogenannten Mullberrys an, zwei künstlich auf hoher See errichtete Häfen, mittels denen der Nachschub gelingt. Doch die Landung ist erst ein Anfang: Es folgen langwieriger Kämpfe, die Wehrmacht leistet verbissen Widerstand. Besonders das unübersichtliche Gelände bereitet den Alliierten Schwierigkeiten – die Bocage, Weideland durchzogen von Hecken und typisch für die Normandie. Eine Zäsur setzt erst die Befreiung von Paris Ende August 1944.
MUSIK Feeling the Heat 0’45
SPRECHER
Heute ist die Invasion in der Normandie allgegenwärtig – auf zahlreichen Soldatenfriedhöfen hinter den Landungsstränden genauso wie in rund 30 Museen. Früher waren es vor allem die Veteranen, die zur Traumabewältigung hierher zurückkamen, heute ist der Gedenktourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Normandie. Zu den Gedenkfeierlichkeiten an runden Jahrestagen reisen führende Politiker aus aller Welt an, 2004 war mit Gerhard Schröder erstmals auch ein deutscher Kanzler dabei:
O-Ton 9: Dr. Peter Lieb
3 / [00:08:08] …Der D-Day ist der Fixpunkt für das alliierte Gedenken,… besonders auch im Kalten Krieg, um einen Gegenpunkt zu setzen gegen die Sowjetunion, die den Großen Vaterländischen Krieg feiert, … und sich die Sowjetunion zum alleinigen Sieger sozusagen über Nazideutschland, über Hitlerdeutschland stilisiert. Und dem wollen die Alliierten etwas entgegensetzen. Zu Recht. Also …Nazideutschland ist nicht allein von der Sowjetunion besiegt worden, die von einer alliierten Koalition besiegt worden aus Sowjetunion, Amerikanern, Briten und vielen anderen Ländern. Und so zu sagen ist …das Gedenken an die Day auch ein Gegenpunkt zur der sowjetischen Gedenkkultur und hat auch wegen in der heutigen Zeit, Ukrainekrieg usw. natürlich wieder eine neue Dimension.
MUSIK Feeling the Heat 0’25
SPRECHER
Ein symbolisch aufgeladener Tag – damals wie heute.
Von den Zeitgenossen erwartet als Tag der Entscheidung – heute Gedenktag für das Ringen der freiheitlich-demokratischen Welt gegen eine mörderische Diktatur.
Heimweh, diese bohrende Sehnsucht nach Wohlvertrautem, die einen in der Fremde packen kann. Viele zwickt es nur ein wenig, andere sind so arg gebeutelt, dass es sie regelrecht krank macht und einschränkt: Kinder kann es genauso treffen, wie Erwachsene oder Alte. Gut zu wissen, wie Heimweh sich lindern lässt. Autorin: Anja Mösing
Credits
Autorin dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Florian Schwarz
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. Gerd Schuster, Psychologe, Pflegewissenschaftler, Nürnberg
Brigitte Reysen-Kostudis, Psychologin und Psychotherapeutin der psychologischen Beratung der Freien Universität Berlin
Josefina, Studentin, Wien
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
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ZITATOR
Fortwährende Traurigkeit, häufige Seufzer, fortwährendes Denken an die Heimat, unruhiger Schlaf, Abnahme der Kräfte, geringerer Appetit, Herzensängste und unregelmäßiger Herzschlag, Fieber, Störung der Verdauung, Abmagerung und Schwächung und schließlich: Tod.
ERZÄHLER
So wurden im 18. Jahrhundert die typischen Symptome von Heimwehkranken beschrieben.
Heimweh - ein Krankheitsbild, das zuerst der junge Elsässer Medizinstudent Johannes Hofer im Jahr 1688 erforscht hat.
MUSIK 2 Kuhreihen für Alphorn solo 0’30
ERZÄHLER
Schweizer Krankheit wurde es auch genannt, nach Schweizer Söldnern, oft arme Bauernsöhne aus den Bergen, die in der Fremde an dieser rätselhaften Todesursache starben.
Traditionelle Hirtenlieder wie den Schweizer Kuhreihen zu singen, wurde angeblich verboten, um Heimweh nicht ausbrechen zu lassen. Als einzige Kur gegen die Krankheit galt damals: die Leidenden umgehend nachhause zu schicken.
ZSP 1 Reysen
Ich würde sagen, 20 bis 30 Prozent der Neuankömmlinge haben doch sehr große Probleme und entwickeln dann eben auch Heimweh.
MUSIK 3 Kings Of Convenience – Homesick 0’21
ERZÄHLER
Für Neuankömmlinge in einer Stadt, Studierende zum Beispiel, ist Heimweh auch heute noch ein großes Thema. Das weiß Brigitte Reysen-Kostudis aus 30 Jahren Erfahrung in der psychologischen Beratung der Freien Universität Berlin. Die Studierenden, die zu ihr in die Beratung kommen, sind zwischen 20 und 27 Jahre alt:
ZSP 2 Reysen
In der Regel kommen die jungen Menschen nicht zu mir und sagen gleich zu Beginn: Ich habe Heimweh. Es fällt gerade den jungen Leuten in dieser Schwellensituation zwischen Kindsein und Erwachsensein oft schwer, das von sich selbst zu sagen. Weil das oft als nicht passend zum Erwachsensein angesehen wird. Aber im Verlauf des Gespräches kommen wir darauf: Warum hast du diese Symptome? Ist es vielleicht tatsächlich deshalb, weil Du ganz oft an Dein altes Zuhause denkst?
MUSIK 4 Kings Of Convenience – Homesick 0’47
ERZÄHLER
Im Englischen sagt man homesickness, im Französischen mal du pays und immer noch mal du Suisse. Das Wort Krankheit steckt in jedem dieser Begriffe. Auch das deutsche Heimweh klingt wie Bauchweh und Zahnweh nach körperlichem Schmerz. Als tödliche Krankheit wird Heimweh aber nicht mehr gefürchtet:
ZSP 3 A Reysen
Weil da ja keine körperliche Erkrankung im Hintergrund ist, die behandelt werden müsste. Es ist schon ein seelisches Leiden und das kann Schmerzen verursachen, das kann Magenprobleme verursachen, Kopfschmerzen verursachen, die dann allerdings psychische Ursachen haben.
ZSP 3 B Josefina
Bei mir hat es immer im Bauch angefangen, wie wenn man so einen Klumpen im Bauch hat. Und dann kommt es oft auf Herzhöhe. Und dann hat man so eine Enge ums Herz. Und man ist ganz-ganz vorsichtig und starr in so einer Habacht-Haltung. Ich bin ganz, ganz still geworden und habe alles beobachtet, als ob jetzt gleich was Schlimmes passieren könnte. Und irgendwann ist es dann so hoch im Kopf gestiegen, dass man gar nicht mehr an anderes denken konnte als: Da kommt jetzt gleich was. Und ich muss Heim! Und ich will in Sicherheit sein! Und Sicherheit war halt daheim sein.
MUSIK 5 Regina Spektor – Open 0‘28
ERZÄHLER
Josefina ist Mitte 20 und unfreiwillig Heimweh-Expertin, sie kennt das Gefühl seit frühester Kindheit. Einen allerersten Auslöser, ein traumatisches Erlebnis, so etwas gab es für ihr Heimweh nicht:
ZSP 4 Josefina
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es irgendwann angefangen hat, sondern es war halt immer schon da.
ERZÄHLER
Zur Zeit des Interviews studiert Josefina im vierten Semester Psychologie in Wien. Aufgewachsen ist sie in München. Ihr letztes großes Heimweh, das hatte sie zu Beginn ihres Studiums:
ZSP 5 Josefina
Da war ich 22 und bin nach Wien gezogen. Das Heimweh war da zum ersten Mal dieses Gefühl: Okay, du kannst traurig sein! Du darfst das vermissen! Du darfst Sehnsucht haben! Und du darfst weinen deshalb, das ist okay, das ist ein Grund! Und vom Gefühl her Heimweh, aber in dem Fall positive Sehnsucht eher.
MUSIK 6 Jonathan Jeremiah – Happiness 0’50
ERZÄHLER
Der Entwicklungsschritt vom Heimweh hin zur bloßen „Sehnsucht nach zuhause“ war für Josefina groß. Denn Heimweh hatte sie oft komplett besetzt. Dass sie jetzt so selbständig und fröhlich in Wien studieren kann, hat sich Josefina hart erarbeitet, sagt sie. Mit zwei Jahren Psychotherapie.
Kandidatinnen oder Kandidaten für starke Heimwehsymptome sind vor allem Menschen, die Angst vor unvorhergesehenen Ereignissen haben, egal ob als Kind oder als Erwachsene. Das erklärt die Psychologin Brigitte Reysen-Kostudis,:
ZSP 6A Reysen
Das gehört schon zusammen: Dieses Bedürfnis nach Kontrolle und die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Und in einer neuen Umgebung habe ich natürlich nicht die Kontrolle über das, was passieren kann. Also alles ist noch neu. Es können Dinge passieren, die ich vorher noch nie erlebt habe. Und das ist für manche eine große Herausforderung. Für andere ist es toll, dass ständig neue Sachen passieren, neue Begegnungen möglich sind. Für andere ist es totaler Stress.
MUSIK 3 Gerd Baumann – Martha 0‘47
ZSP 6 B Josefina
Schullandheim zum Beispiel: Da war nicht unbedingt ein Auslöser. Also, das stapelt sich dann so: Das Essen ist doof. Und dann bin ich mit jemandem im Zimmer, mit der ich mich davor gestritten habe. Oder es ist ein sehr-sehr großes Zimmer, wo viel Trubel ist und ich mich nicht mal eine Minute zurückziehen kann und sagen: Okay, tief durchatmen, das wird wieder. Und das waren dann alles Faktoren, wo ich gesagt habe: ich fühle mich hier ganz-ganz unwohl. Und ich habe keine Kontrolle mehr über diese Situation, von meiner Sicht aus. Und anstatt zu sagen: Ja gut, jetzt ist die Bettdecke ungemütlich, meine Güte! Es gibt nicht mein Lieblingsessen, okay kann man ne Woche mit leben! Das ist dann viel-viel größer geworden als es eigentlich war.
ERZÄHLER
Für Außenstehende wirkt es oft, als wolle ein Kind plötzlich nach Hause, nur weil das Essen nicht schmeckt wie gewohnt. Der Grund fürs Nachhause wollen liegt aber viel tiefer:
ZSP 6 C Reysen
Auf dieser diagnostischen Ebene fällt Heimweh unter eine Anpassungsstörung. Das ist so der medizinische Terminus. Wenn jemand Schwierigkeiten hat, sich an neue Umgebungen und neue Bedingungen anzupassen.
MUSIK 8 Deine Freunde – Heimweh 0’47
ZSP 6 D Josefina
Heimweh war für mich immer ein bisschen wie so eine Überforderung, weil ich mich so unwohl in der Situation gefühlt habe, wo ich quasi dann alleine war und keinen Anker hatte, wo ich wusste, da kann ich einfach ganz entspannt sein. Sondern ich war immer komplett angespannt. Und diese Anspannung war da natürlich irgendwann zu viel.
ERZÄHLER
Heimweh kann so dominierend werden, dass es sich wie ein grauer Schleier auf Dinge legt, auf die man sich eigentlich gefreut hätte: Eine Einladung zum Wochenendausflug, eine Geburtstagsübernachtung oder eine Fackelwanderung im schneeverwehten Wald. Allein schon die Angst davor, Heimweh zu bekommen, schränkt die Betroffenen ein:
ZSP 7 Josefina
Weil dir einfach ganz viele schöne Momente von dem Gefühl kaputt geschossen werden. Weil du dann in deinem kleinen pessimistischen Kokon sitzt und eigentlich hättest du den Spaß des Lebens.
MUSIK 9 Gerd Baumann – Sophies Thema 0‘37
ERZÄHLER
Schon mit sechs Jahren hat Josefina zusammen mit den Eltern Strategien entwickelt, um Heimwehsituationen durchzustehen: Alles, was neu sein könnte, haben sie vorher besprochen. Und Josefina hat immer einen Talisman von daheim mitgenommen, eine Halskette ihrer Mutter. Solche so genannten Übergangsobjekte sind tröstende Klassiker für Heimwehkinder! Auch ein heimliches Not-Handy kann mit, falls die Sehnsucht nach zu Hause zu groß wird.
ZSP 8 Reysen
Was ich eine ganz schöne Strategie finde, ist, wenn so ein kleines Klassenfahrt-Tagebuch geführt wird. Wenn dann die Begleitpersonen sagen: Ach, mal doch mal ein Bild für deine Mutter oder deinen Vater. Und wenn du wiederkommst, kannst du das zeigen, damit sie auch sehen, wie es hier ausgesehen hat. Das ist auch eine Art und Weise dem Kind zu signalisieren: Ja, du wirst wieder zurückkommen! Das gibt Sicherheit. Das kommt bei Kindern oft total gut an, weil die sich dann auch ernst genommen fühlen als Handelnde. Solche Strategien helfen dabei, dass das Kind sich aktiv mit der Situation auseinandersetzen kann.
ERZÄHLER
Aktiv sein, ist wichtig! Wenn Studierende in Berlin zu Brigitte Reysen-Kostudis in die Psychologische Beratung der Universität kommen, haben sie oft schon viel Heimweh und Ängste durchlitten. Die jungen Leute haben sich darauf gefreut, endlich in der großen Stadt zu studieren. Und irgendwann stehen sie vor lauter ungeahnten Problemen:
ZSP 9 Reysen
Entweder: Ich kann die Aufgaben nicht erledigen, die ich eigentlich machen sollte. Ich habe Antriebsstörungen, Schlaflosigkeit, merke, dass ich mich auf bestimmte Dinge gar nicht mehr konzentrieren kann. Ich kann Texte nicht lesen. Ich sitze zu Hause und bin traurig. Oder aber es sind extreme Ängste da. Ich traue mich nicht, mit der U-Bahn zu fahren, mit Straßenbahn zu fahren, das sind mir alles viel zu viele Leute. Und ich habe vielleicht sogar auch schon mal eine Panikattacke gehabt. Und jetzt habe ich so enorme Ängste, dass so etwas wieder passieren könnte.
MUSIK 10 Gerd Baumann – Vom Ende 1‘07
ERZÄHLER
Heimweh kann theoretisch jeden treffen. Aber ängstliche Menschen trifft es häufiger als andere, so die Psychologin:
ZSP 10 A Reysen
Ja, ich denke, dass Angst ein wesentlicher Faktor ist. Heimweh in einem Maße, wo es wirklich beunruhigend ist und stark einschränkend ist, vor allem für Menschen, die eben Probleme haben, auf andere zuzugehen, die in Situationen, die neu sind, sich oft nicht wohlfühlen. Also alles, was in dies Spektrum von ängstlichen Persönlichkeiten hineingehört.
ZSP 10 B Josefina
Ich habe sehr-sehr viel nachgedacht immer über Situationen. War sehr vorsichtig und bin nie einfach ins Wasser gesprungen, sondern habe mir das alles immer erst mal angeschaut. Und habe andere Leute beobachtet, wie die ins Wasser gesprungen sind. Und dann bin ich auch reingesprungen. Und ich glaube, das kann überhandnehmen, dass man sich dann so reinsteigert, dass das einfach der Mechanismus ist, wie man so durch die Welt geht.
ERZÄHLER
Die konträre Haltung wäre: Was soll schon passieren? Mache ich halt einfachmal, das wird dann schon!
ZSP 11 Reysen
Ich finde es immer sehr bewundernswert, wenn Leute zu mir sagen: Ah, ich habe wirklich eine schöne Kindheit gehabt und Jugend und da haben wir das und das gemacht. Und ich fühlte mich wohl. Das ist ein Schatz, den sie bewahren können. Aber es geht weiter. Weil gerade dieses Gefühl verbunden zu sein, auch mit einer Landschaft verbunden zu sein, mit Menschen verbunden zu sein, kann ja auch Kraft geben, noch einmal neu zu starten, für neue Herausforderungen, die ich bestehen muss. Weil ich ja weiß, es gibt Menschen und Orte, die mir vertraut sind. Und warum sollte es mir nicht gelingen, das woanders auch aufzubauen?
ERZÄHLER
Heimweh ist Teil der Suche nach sich selbst, glaubt Reysen-Kostudis. Wer Heimweh hat, ist auf der Suche nach der eigenen Heimat, nach einem Ort, wo man glücklich werden kann. Manchmal hilft es sogar, Verbindung zur alten Heimat aufzunehmen.
ZSP 12 Reysen
Das kann sein, dass ich mein Lieblingsgericht zubereite, was aus einer bestimmten Region kommt. Das kann sein, dass ich sage, ich telefoniere regelmäßig, Skype regelmäßig mit Menschen, die mir wichtig sind. Aber nicht ständig! Dass ich versuche, das ein bisschen zu regeln, dass ich dann bestimme, an welchen Tagen, zu welchen Zeiten ich mich diesem Gefühl auch überantworten kann und das auch genießen kann. Die Verbundenheit mit diesem Ort hört ja nicht auf.
MUSIK 11 Gerd Baumann – Flimmern 1‘10
ERZÄHLER
Um schneller heimisch zu werden hilft vor allem eins: Neu geknüpfte Beziehungen!
ZSP 13 Reysen
Was in allen Forschungen über Glück oder auch Zufriedenheit immer drin ist, ist dieses Eingebundensein. Das kann Eingebundensein in Bezug auf zwischenmenschliche Kontakte, aber auch so eingebunden zu sein in ein Wertesystem. Wenn ich mich zugehörig fühle einer bestimmten Gruppierung, das kann eine religiöse Gemeinschaft sein, das kann eine politische Gemeinschaft sein, dann hilft das auch, um in ungewohnten neuen Situationen auch gleich so andocken zu können, zu einem bestimmten Thema. Wo dann diese direkten menschlichen, persönlichen Kontakte nachträglich kommen können, aber erst einmal auch ein Gefühl von Eingebundensein entstehen kann.
ERZÄHLER
Ob es der Skaterpark ist, wo man Gleichgesinnte findet oder das Studentenradio, der Arbeitskreis für eine vegane Lebensweise oder die Tangogruppe: Heimwehkranke, die freiwillig in eine fremde Umgebung gezogen sind, haben gute Chancen ihr Leiden mit solchen Strategien zu überwinden.
Wie hartnäckig Heimweh in der Fremde auftritt, hängt aber immer auch von den Gründen ab, aus denen das alte Zuhause verlassen wurde:
ZSP 14 Reysen
Ganz extrem bei Geflüchteten, die wir auch in der Studierendenschaft haben, die eben nicht freiwillig ihre Heimat verlassen haben. Sondern gegangen sind, weil Krieg, Notzustände, Verfolgung da war. Weil dann die Gedanken da sind: Was passiert jetzt eigentlich in meiner Heimat? Ich bin jetzt hier. Aber irgendwie komme ich gar nicht an, weil ich in Gedanken immer noch woanders bin.
MUSIK 12 Sting – Shape Of My Heart 0‘23
ERZÄHLER
Wer nicht freiwillig am Ort ist, der die neue Heimat werden soll, braucht besonders gute Strategien, um heimisch zu werden. Das konnte auch der Psychologe und Gerontologe Gerd Schuster feststellen. Für seine Dissertation Heim und Heimweh befragte Schuster alte Menschen nach ihrem Umzug ins Pflegeheim:
ZSP 15 Schuster
Und das sind natürlich besonders krasse Umstände des Umzugs!
ERZÄHLER
So unterschiedlich die Biographien der Hochbetagten waren, so häufig hörte Schuster von den Befragten, dass es besonders die Art des Umzugs war, die Heimweh ausgelöst hatte:
ZSP 16 Schuster
Der Eintritt in ein Pflegeheim war für die allerallermeisten eine sehr traumatische Situation. Vor allen Dingen deshalb, weil sehr viele ältere Menschen nicht aus einer vorbereiteten Situation von daheim ins Pflegeheim übersiedeln, sondern schnell: Nach Schlaganfällen zum Beispiel, nach Aufenthalten im Krankenhaus, wo dann im Krankenhaus festgestellt wird: dieser Mensch kann nicht mehr daheim in die eigene Wohnung. Das heißt, sie können von dieser Wohnung überhaupt kein Abschied mehr nehmen.
ERZÄHLER
Alle Befragten hatten unter Heimweh gelitten. Dabei galt Heimweh bei alten Menschen bisher als wenig verbreitet. Weil es nur bei Kindern und jungen Leuten erforscht wurde, sagt Schuster. Inzwischen ist die Lebenserwartung gestiegen, und viele Menschen müssen nun im letzten Lebensabschnitt noch einmal an einen fremden Ort umziehen:
ZSP 17 Schuster
Beispielsweise ein älterer Mann, der war ein Kunstschreiner gewesen, der sehr schöne Möbel selber hergestellt hat, ein sehr selbstbewusster Mensch. Der fand sich jetzt, nach einer solchen Situation, in einem Pflegeheim. Und am nächsten Tag kam sein Schwiegersohn und brachte ihm - das muss man sich mal geben - in Müllsäcken ein bisschen Kleidung vorbei und ein bisschen Habseligkeiten.
MUSIK 13 Moon Over Bourbon Street 0’27
ERZÄHLER
Sich nach einem langen Leben in einer Wohnung oder sogar im selbstgebauten Haus plötzlich in einem Zimmer von 16 Quadratmetern wieder zu finden, wo gerade noch Platz ist für eine kleine Kommode und einen kleinen Schrank, in denen die Habseligkeiten verstaut werden können, das ist oft schlimm für Neuankömmlinge im Pflegeheim, sagt Schuster:
ZSP 18 A Schuster
Das ist natürlich ein schockhafter Zustand. Und dann spielt sich das ab, was wir so unter Heimweh-Symptomatik verstehen: Appetitlosigkeit, man denkt nur noch an zu Hause, man weint, man kann nicht schlafen. Man kann an nichts anderes denken als an zu Hause. Man verweigert sich sozialen Kontakten, man igelt sich in seinem Zimmer ein. Man will nicht reden, man will niemanden sehen.
ZSP 18 B Reysen
Heimweh ist ja auch so ein Gefühl von Ausgeliefertsein, wie auch bei anderen Schmerzen, die ich habe. Da fühle ich mich immer als jemand, der eine Wunde hat, einen inneren Schmerz hat und darunter leidet. Und je mehr ich erkennen kann: Ich kann was dagegen tun! Es gibt aktive Möglichkeiten, etwas zu verändern! Oder ich kann meine Umgebung verändern, desto weniger tut es auch weh.
ERZÄHLER
Diese Art von Aktivität können Hochbetagte oft nicht mehr leisten. Umso wichtiger, dass Pflegende die alten Menschen in ihrem neuen Zuhause gut empfangen, sagt Gerd Schuster, der inzwischen mehr als 20 Pflegeheime geleitet hat:
ZSP 19 Schuster
Darauf sind die Interviewpartnerinnen immer wieder zurückgekommen: Es hat mir sehr geholfen, dass ich so herzlich begrüßt worden bin vom Pflegepersonal. Dass man mir mein Zimmer gezeigt hat, dass man ein Gespräch mit mir geführt hat, dass man mich willkommen geheißen hat, mich anderen Bewohnerinnen und Bewohnern vorgestellt hat, mir das Haus gezeigt hat, vielleicht sogar manchmal ein bisschen gedrückt, also umarmt, also diese menschlichen Zeichen.
MUSIK 14 Kings Of Convenience – Homesick 0’047
ERZÄHLER
Sich angenommen zu fühlen am neuen Ort und vertraute Dinge um sich zu haben: vielleicht den Lesesessel, das Lieblingsbild für die Wand und ein kleines Schränkchen. All das hilft, heimisch zu werden. Wichtig ist auch, zu spüren, ich bin nicht ausgeliefert, sondern kann noch handeln und selbst entscheiden! Ich wähle zum Beispiel meine Kleidung selbst aus und meine Mahlzeiten.
Die Studentin Josefina empfiehlt noch einen Trick, den sie als Kind in Heimwehsituationen angewendet hat: Rückbesinnung auf schöne Situationen im Leben! Vielleicht unterstützt durch Fotos von geliebten Menschen oder Orten:
ZSP 20 A Josefina
Es funktioniert wahnsinnig gut, wenn man sich denkt: Okay, ich beschwöre mir jetzt eine glückliche Erinnerung rauf und fühl einfach die, anstatt dem Heimweh. Und das funktioniert, glaube ich, auch gegen Angst und gegen alles.
ZSP 20 B Schuster
Aber ich würde davon abraten, die alten Menschen nur noch unter dieser musealen Perspektive wahrzunehmen! Nach der Devise: alles, was möglichst früh gewesen ist, ist gerade richtig und gut als Erinnerungs-Gegenstand mit ins Pflegeheim zu geben. Wir nageln ja dann den älteren Menschen in seiner ganz-ganz frühen Vergangenheit fest und nehmen ihn nur noch unter dieser Perspektive war. Anstatt das wir mal sagen: Mensch, du hast so schöne Augen! Dieser Mensch ist jetzt präsent in dem Pflegeheim!
ERZÄHLER
Wie aber hilft man einem Hochbetagten, wenn er das Heimweh immer wieder überdeutlich äußert mit dem Satz: Ich will nach Hause!
ZSP 21 Schuster
Die Fragestellung, die ist für die Psychologen natürlich sehr interessant, was verbirgt sich denn hinter diesem: Man will nach Hause! Wie es oft von dementen Menschen geäußert wird. Dann ist es gar nicht das Elternhaus. Ich habe ja selber einen Großvater gehabt, der an Demenz erkrankt war, und der redete auch immer davon, er will nach Hause. Und mein Vater ist ganz verrückt gewesen, weil er diesen Wunsch vor allen Dingen nachts geäußert hat, also war sehr anstrengend. Und dann hat mein Vater einfach mal gesagt: So ich setz dich jetzt ins Auto. Ich fahre dich jetzt, dorthin, wo du als Kind aufgewachsen bist. Und dann hat er ihn tatsächlich ein paar Kilometer gefahren, an sein Elternhaus. Das erkannte mein Großvater gar nicht. Also, das zeigt auch, dass in dieser Metapher des nach Hause Wollens anderes steckt als tatsächlich das physische Elternhaus. Sondern es hat sehr viel mit Sehnsüchten zu tun, mit dem Gefühl des sich Wohlbefindens, mit dem Gefühl der Geborgenheit auch.
MUSIK 15 Agnes Obel – Chord Left 1’05
ERZÄHLER
Wer sich ernstgenommen fühlt, wohl und geborgen, der will in der Regel gar nicht heim. Denn Heimweh zeigt immer ein Verlorenheitsgefühl an, ob bei Kindern, jungen oder alten Leuten. Und Hochbetagten steht eine zusätzliche Möglichkeit zur Verfügung, um diese Gefühlslage zu überwinden:
ZSP 22 Schuster
Ja, in der Tat. Es ist ein Verlorenheitsgefühl zunächst! Aber ein Verlorenheitsgefühl, wenn man das ein bisschen blumig ausdrücken mag, das Ausschau hält nach dem Rettenden. Und dieses Rettende findet sich eben oft in der eigenen Biografie, schon allein in der Erkenntnis, dass das ganze Leben irgendwo unbeständig ist.
ERZÄHLER
Gerade weil alte Menschen aus langer Erfahrung wissen, dass das Leben aus Schönem und aus Schwierigem, aus Verlusten und aus Neuanfängen besteht, können sie alle Arten von Erfahrungen in ihr Leben integrieren - auch die, dass es notwendig ist, an einem neuen Ort heimisch zu werden.
Gedenkveranstaltungen zum D-Day gehören für die Bewohner der Landungsstrände in der Normandie zum Jahresablauf. Staatsoberhäupter reisen an, Veteranen werden geehrt. In diesem Jahr zum 80. Mal. Sie feiern die Befreiung Frankreichs von deutschen Besatzern. Bei der Invasion der Alliierten wurden auch viele normannische Orte komplett zerstört. Ein Drittel aller getöteten französischen Zivilisten im 2. Weltkrieg kam während dieser knapp drei monatigen "Operation Overlord" ums Leben. Wie denken Franzosen heute über den D-Day? Ein Besuch im kleinen Ort Courseulle-sur-mer in der Normandie. Von Andrea Burtz
Credits
Autorin dieser Folge: Andrea Burtz
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Katja Bürkle, Ron Schickler, Andreas Neumann, Hemma Michel
Technik: Robin Auld
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Romain LeChartier, Pensionswirt
Samuel LeVasseur, Friedhofsgärtner
Mathieu, Surfer
Corinne Vervaeke, Fremdenführerin
Philippe Vervaeke, Fremdenführer
Eric Tabaud, Karussellbesitzer, Fotosammler
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN (flüsternd) TON 1
Ich habe immer dasselbe Gefühl, wenn ich das Alter dieser Soldaten lese. Ich bin jetzt 30, die meisten sind jünger als ich. Der Älteste, der hier begraben ist, war 34. Ich habe Mitgefühl, wenn ich mich in ihre Lage versetze, mir ihre Lebenswege vorstelle. Was wohl im Moment der Landung in ihren Köpfen vorgegangen ist, und als sie sich entschlossen haben, herzukommen. Sie hatten keine Wahl. Auf Friedhöfen herrscht immer diese Stimmung von Ruhe und Gelassenheit.
Atmo Friedhof
SPRECHERIN
Es ist ein sonniger Morgen in Bény-sur-mer (benie sür mär). Romain (Romˈɛ̃ː) ist der einzige Besucher auf dem kanadischen Soldatenfriedhof. Er stammt aus dem Nachbarort Courseulles (kúrsöll)und betreibt dort eine kleine Pension. Sein Blick schweift über die einheitlichen Grabsteine der 2.049 jungen Kanadier, die in den ersten Wochen der Normandie-Invasion im Juni 1944 gefallen sind. Auf jeder weißen Stele sind unter einem Ahornblatt Name, Rang und Todesdatum eingraviert. Dazwischen blühen Narzissen, Iris und rote Tulpen.
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN, TON 2
Es ist unvorstellbar. Jetzt sogar noch mehr. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass sowas heute nochmal passieren könnte. Dass Menschen sechstausend Kilometer auf einem Schiff oder in einem Flugzeug hinter sich bringen, um ein Land zu retten, das sie gar nicht kennen. Ich glaube, wenn man heute Leute zwischen 20 und 30 fragen würde, ob sie in der Lage wären, das zu tun, würden 99% „nein“ sagen. Es ist unvorstellbar, und das macht das Ganze noch stärker.
ATMO Friedhof
FREISTEHEND, SAMUEL LEVASSEUR, TON 3
Je suis jardinier. Ca fait 30 ans que je fais le travail
pour le cimetière.
SPRECHERIN
Samuel Levasseur (samüäl lövassör) ist seit 30 Jahren der einzige Gärtner des Soldatenfriedhofs. Im Ort heißt es, es sei der schönste der Region. Denn Samuel sorgt dafür, dass er ganzjährig blüht. Im Juni, zum Jahrestag der Landung, setzt er Klatschmohn. Damit schmückten schon die Einheimischen im Frühsommer 1944 die Gräber. Dem Gärtner ist es wichtig, den Gefallenen jeden Tag aufs Neue seine Ehre zu erweisen.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG SAMUEL LEVASSEUR TON 4 (Samuel, ov)
Am Ende bleiben nur ihre Gräber. Ich bepflanze sie, damit sie hübsch aussehen, und um ihnen zu huldigen. Ein wunderschöner Tribut, den ich zollen kann. In diesem Jahr ist es vielleicht das letzte Mal, dass wir den Gedenktag mit Veteranen begehen. Zum Glück konnten wir die Andenken dieser Männer bewahren, ich habe einige gesammelt. Sie sollen nicht vergessen werden.
MUSIK Moonbow 01:00min
SPRECHERIN
Manche Angehörige hinterlassen Hochzeitsfotos, handgeschriebene Nachrichten und sogar Schmuck auf den Gräbern. Nach einer Weile entfernt Samuel Levasseur die verwitterten Gegenstände, damit der Gesamteindruck der Gedenkstätte nicht gestört wird. Aber er hebt all diese Dinge auf und beantwortet Besuchern Fragen. Die 30 Jahre Arbeit zwischen den Grabsteinen junger Soldaten haben ihn geprägt.
SPRECHERIN OV ÜBERSETZUNG CORINNE VERVAEKE; TON 5
Er ist ein Poet! Seine Verse sind sehr bewegend, er schreibt wunderschöne, schlichte Gedichte, besonders über die
Kanadier. Wenn er es mal wagt, seine Gedichte anderen vorzulesen –Samuel ist sehr schüchtern! – dann weinen alle. Sie sind so schön, dass alle in Tränen ausbrechen.
SPRECHERIN
Fremdenführerin Corinne Vervaeke (Corinn Fövaake) hat mit Besuchergruppen schon oft den Soldatenfriedhof Bény und seinen Gärtner besucht. Sie kennt seine Gedichte.
SPRECHERIN OV ÜBERSETZUNG CORINNE VERVAEKE, TON 6
Sie sind sehr kurz, nur wenige Zeilen. Er erzählt zum Beispiel vom Soldaten, der seine Familie in der Ferne zurücklassen muss, der das Meer überquert, auf normannischem Sand fällt und schließlich für immer in der Erde der Normandie schläft, weit entfernt vom gelobten Land.
SPRECHERIN
An manchen Tagen kommen bis zu sechs Touristenbusse zum Soldatenfriedhof Bény,(Bénie) der auf einer Anhöhe liegt. Drei Kilometer Luftlinie vom Küstenabschnitt Juno Beach (engl. Aussprechen, beide Wörter) entfernt, wo die 3. Kanadische Division am 6. Juni 1944 landete. Vom Friedhof kann man in der Ferne das Meer sehen. Die winzigen bunten Punkte am Horizont sind Segel von Surfern wie Mathieu.(Matjö)
Atmo WIND MEER
SPRECHER 1 OV, ÜBERSETZUNG SURFER MATTHIEU TON 6
Je nach Windrichtung ist es ein besonders beliebter Spot für alle Windsurfer. Wenn wir auf dem Wasser sind, sehen wir das große Kreuz dort, das sorgt für eine besondere Atmosphäre. Wir können wirklich relativ weit sehen, vor allem das Lothringerkreuz. Es dient uns als Orientierungspunkt, denn bis dorthin müssen wir kommen… , ah der Wind ist heute stark….))
MUSIK GBE3A2123420 The Tide Of Fear 00:45min
SPRECHERIN
18 Meter ragt das Lothringerkreuz am Strand von Courseulles in den Himmel. Es wurde 1990 zu Ehren des ehemaligen Generals und Staatspräsidenten Charles de Gaulle errichtet. Am 14. Juni 1944, gut eine Woche nach dem D-Day, war de Gaulle am Juno Beach in Courseulles an Land gegangen - vier Jahre nachdem er vor dem Vichy Regime und den nationalsozialistischen deutschen Besatzern nach London ins Exil geflohen war. Das Doppelkreuz erinnert an seine Rückkehr. Die Freien Französischen Streitkräfte hatten das Symbol aus dem Mittelalter übernommen - als Gegenstück zum Hakenkreuz der Nationalsozialisten. Fremdenführerin Corinne Vervaeke packt ihre Tasche für die große Familientour zum D-Day: Original Lebensmittelkarten, Helme und Pullover von US Soldaten, ein Feldtelefon. 60 Kilo Anschauungsmaterial aus der Zeit der Besatzung und Befreiung. Die Kinder dürfen alles anfassen und ausprobieren.
SPRECHERIN OV CORINNE VERVAEKE TON 7
Das kratzt und piekt, das Feldtelefon ist schwer. Die Kinder dürfen es auf dem Rücken tragen… Damals sind die Soldaten mit ihren großen Rucksäcken ins Wasser gesprungen, sie hatten wirklich Gewicht! All das werden die Kinder ihr Leben lang nicht vergessen. Dinge anzufassen, das spricht die Sinne an und bleibt im Gedächtnis.
SPRECHERIN
Corinne Vervaeke hat ihr Haar mit kleinen Kämmchen zurückgesteckt, so wie es in den 1940er Jahren Mode war. Auch ihr Rock, Bluse und Schuhe stammen aus der Zeit. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, hat die Sportlehrerin sich ihren großen Wunsch erfüllt, noch ein Geschichtsstudium anzuhängen. Seither macht sie Führungen in Courseulles. Corinne stammt aus der Region und kennt den Ort. Sie betont, dass es wichtig sei, zu unterscheiden: Zwischen den großen Festlichkeiten zum Jahrestag der Landung als Dank an die Veteranen. Und dem, was französischen Zivilisten damals während der Befreiung widerfahren ist.
SPRECHERIN OV, ÜBERSETZUNG CORINNE TON 9
Das war sehr schwer für die normannische Bevölkerung. Viele Häuser waren zerstört und ein Teil der Zivilisten durch die Bomben der Alliierten ums Leben gekommen. Heute muss man das alles ein bisschen vergessen, ein bisschen glätten und sich daran erinnern, dass wir dadurch heute in Frieden leben können. Passiert ist es der Generation unserer Eltern. Für uns war die Befreiung dann ein großes Glück. Für uns ist eine Erinnerung - keine gelebte Realität!
SPRECHERIN
Corinnes Mann Philippe (Filiep), nach 37 Jahren in der Armee nun im Ruhestand, definiert den D-Day ganz klar:
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG PHILIPPE VERVAEKE TON 10
Für uns ist die Landung tatsächlich der erste Tag eines neuen Europa. Eines friedlichen Europa. Das ist nicht der 8. Mai. Der 8. Mai markiert das Ende des Krieges. Aber der entscheidende Faktor war für uns die Landung. Hier wurde klar, dass wir aufhören müssen, ständig Kriege zu führe, und dass wir Europa schaffen müssen.
MUSIK Moonbow 00:30min
SPRECHERIN
Interesse an der eigenen Geschichte zu wecken und Völkerverständigung zu unterstützen, ist für Philippe Vervaeke unerlässlich. Heute macht sich der Rentner für Städtepartnerschaften stark und unterstützt seine Frau bei ihren Führungen am Juno Beach. Auch er passt seine Kleidung dabei an die 40er Jahre an. Der Hobbysammler kann aus seinem eigenen Fundus schöpfen: Er trägt Uniform und Schiffchen eines Kriegsberichterstatters bei US-Armee.
SPRECHERIN OV CORINNE VERVAEKE TON 11 (Reportagig)
Da ist Philippe. Wir sind am Strandabschnitt der Kanadier, aber Philipp trägt keine kanadische
Uniform…
SPRECHER 2 OV Übersetzung Philippe:
Also Kinder – wie bin ich gekleidet? … Es steht auf der
Tasche wie bei einem Camembert aus der Normandie… Ich bin ein Journalist…))
SPRECHERIN
Familien aus ganz Frankreich sind mit ihren Kindern gekommen, um beim Strandspaziergang zu erfahren, was sich hier im Jahr 1944 zugetragen hat. Wo genau der bekannte Panzer einen Bombenkrater füllte, damit nachkommende Fahrzeuge über ihn hinwegfahren konnten. Warum es wichtig war, all die kleinen Brücken über dem Flüsschen „Seulle“ zu schützen und wie klein die Provianttasche eines US Soldaten war. Nachdem die Kinder noch einen restaurierten Panzer bestaunt haben, geht es direkt aufs Dach eines Bunkers – auf den sogenannten „Atlantikwall“.
SPRECHERIN OV CORINNE VERVAEKE, TON 12
Also – sieht das so aus wie eine Mauer? Stehen wir auf
einer Mauer? – (Kinder im Chor, FREI STEHEN LASSEN) NON!
– Tatsächlich nennt man es Atlantikwall, weil es als Schutz diente. Eigentlich besteht er aber aus vielen einzelnen Bunkern.
13.O-TON: Trompetenstoß, Fliegerlärm
SPRECHERIN
Philippe bläst zum Appell. Zufällig schießt am Himmel ein historischer Flieger über die Köpfe der erstaunten Besuchergruppe hinweg. Am Ende gibt es noch ein Quiz: Philippe zieht Soldatenhelme aus einer Tasche, die Kinder sollen das Land seiner Herkunft erraten.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG PHILIPPE TON 14
Ja, das ist einfach – ein deutscher! Es ist das einzige Objekt meiner Sammlung, das nicht historisch ist. Der deutsche Helm gehört zum Kostüm des Films „Saving Private Ryan“, es ist eine Filmrequisite. Denn heute sind deutsche Sammlerstücke sehr, sehr teuer.
SPRECHERIN
Nach der zweistündigen Tour sind die Kinder beeindruckt. Was ein Soldat beim Sprung ins Meer mit sich führte und wie klein seine Essensration war, werden sie nicht vergessen.
ATMO STRAND/MEER
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG SURFER MATHIEU TON 15
Es gibt hier ja direkt das Museum – aber wir schauen uns das nicht ständig an. Wir leben in Courseulles, einem Ort, der für Wassersport wie geschaffen ist. Unter den heutigen Bedingungen ist es großartig!
SPRECHERIN
Surfer Mathieu rollt das Segel aus, um schnell raus aufs Meer zu kommen. Am Strand kennt man sich hier unter Wassersportlern.
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG SURFER MATHIEU TON 16
Ganz ehrlich? Ich habe keine Zeit, um mir all das anzuschauen, was hier sich hier zugetragen hat. Ich bin zu sehr mit meiner Arbeit beschäftigt. Die Gedenkveranstaltungen sind immer besonders, wir erleben dann die Geschichte ein bisschen noch einmal. Für uns Einheimische ist es gar nicht so leicht, da einen Platz zu bekommen. Aber es zieht Touristen an– das ist gut für die Region!
ATMO Meer
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 17
Hier am Strand gibt es auch eine Surfschule, die Leute haben hier Spaß, und ich gehe dort schwimmen. Ich denke nicht an die Landung, wenn ich meinen Hund ausführe. Manchmal vielleicht, aber nicht täglich.
MUSIK Sad News Story 01:27min
SPRECHERIN
Pensionsbetreiber Romain liebt seine Heimat, die Normandie. Die satten Wiesen, die vielen Pferde, die blühenden Apfelbäume im Frühling und natürlich das Meer. Häufig wird er von seinen amerikanischen Gästen gefragt, ob er an dem Strand wirklich baden geht, an dem so viele Soldaten ihr Leben lassen mussten.
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 18
Dann antworte ich, dass ich nicht daran denke. Das mag manchem verrückt erscheinen. (…) Ich sage den Leuten dann, wenn man an jedem Ort aufhört zu leben, an dem sich etwas Schlimmes ereignet hat, egal ob ein Krieg oder etwas anderes, dann könnte man nicht mehr leben. Besonders in der Normandie. Wir haben viele solcher Orte.
SPRECHERIN
Seit drei Jahren betreibt der 30jährige die kleine Pension in seiner Heimat Courseulles. Ein 4000 Seelen Ort, der im Sommer von Badegästen lebt und im restlichen Jahr von Geschichtstouristen. Das Haus aus dem 18. Jahrhundert hat Romain im Bewusstsein renoviert, künftig Gastgeber für Menschen aus aller Welt zu sein, die an der Normandie vor allem die berühmte Landung interessiert - weniger ihre Landschaft. Kanadier, Engländer, Amerikaner.
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 19
Natürlich kommen auch Franzosen. Für viele ist es so eine Art „Pilgerreise“, als müsse jeder Franzose einmal in seinem Leben die Landungsstrände besucht haben. Viele Eltern waren schon als Kinder hier. Egal, ob es 10, 20, 30, 40 Jahre her ist – sie sagen: „Ja, ich war mit meinen Eltern hier, ich erinnere mich!“ Der Vorteil hier ist, dass sich nicht viel verändert hat. Was vor 40 Jahren hier war, ist es auch heute noch.
SPRECHERIN
Touristen wollen Gräber entfernter Verwandte besuchen oder ganz speziellen Fragen nachgehen. Romain hat durch seine Gäste viel Neues über die Region erfahren, obwohl er hier aufgewachsen ist. Schon als Kind hat er all die Erinnerungsstätten und Museen mit der Familie oder Schulklasse besucht; viele Anekdoten gehört, die hier von Generation zu Generation weitergetragen werden. Die meisten Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben.
MUSIK Hidden Story Pulse 01:11min
SPRECHERIN
Romains Großvater beschrieb oft den unvorstellbaren Lärm der Detonationen in der Nacht des 6. Juni 1944, den er noch in Flers (flär) hören konnte. Einem Ort, der im Landesinneren 70 Kilometer von der Küste entfernt liegt. Oft erinnerte er daran, wie quälend lang die Befreiung war - der D-Day war nur der Anfang.
SPRECHER 1 OV ÜBERSETZUNG ROMAIN TON 20
Caen (kɑ̃) ist im August befreit worden. Die Alliierten sind aber schon Anfang Juni gelandet. Das muss man sich mal vorstellen: Sie haben Monate gebraucht, um diese 20 Kilometer vorzudringen. Es gab unerbittliche Kämpfe, dabei wurde Caen zu 90% zerstört, 3000 Zivilisten kamen ums Leben. Die Großmutter einer Freundin erzählte immer, dass sie während der Befreiung Caens durch die Alliierten fast alle Schulkameraden verloren hatte.
SPRECHERIN
Im Herbst 1944 saßen noch drei Kinder in der Klasse. Ein Bild, das sich bei Romain eingebrannt hat, obwohl er es nie gesehen hat.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC, TON 21
Das Foto da wurde am 14. Juni 1944 aufgenommen, eine Woche nach der Landung. Das ist de Gaulle, dort wo das Rathaus ist …
MUSIK Moonbow 00:52min
SPRECHERIN
Eric Tabaud (Eriq Taboh) ist stolz auf seine Sammlung. Über 10.000 Fotos hat der 63jährige Hobbyhistoriker bereits von Courseulles gesammelt und digitalisiert. Die Interessantesten präsentiert er auf seiner Internetseite. Das Museum, das sich mit der langen Geschichte Courseulles beschäftigt hat, ist seit ein paar Jahren geschlossen. Für Eric Tabaud ein Grund mehr, die Erinnerung an das kleine Industriestädtchen mit seinen Fotos lebendig zu halten. Eric ist im Ort bekannt. Seit über 100 Jahren betreibt seine Familie das historische Kinderkarussell am Strand. Großeltern, die jetzt mit ihren Enkeln kommen, sind früher selbst auf den Pferdchen und Zebras geritten. Eric sitzt oft an der Kasse.
ATMO: kurzes, unübersetztes Gespräch indirekt als Atmo
aufgenommen TON 22
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 23
Es kommen viele Omas aus Courseulles zu meinem Karussell, die mich von klein auf kennen. Ich frage sie, ob sie alte Fotos haben und dann bringen sie welche mit. Sehr alte Fotos und so kann ich Ereignisse rekonstruieren…
Das da sind Deutsche, die man am D-Day schon mittags festgenommen hat…
Als die Deutschen damals Courseulles besetzt haben, haben sie alle Fotoapparate der Leute konfisziert. Sie wollten verhindern, dass sie den Alliierten Fotos der Befestigungsanlage zuspielen. Ein paar wenige haben ihre Apparate aber behalten und bei der Befreiung gleich wieder rausgeholt, um Fotos zu machen…
MUSIK Hidden Story Pulse 00:50min
SPRECHERIN
Fotos von gefangenen deutschen Soldaten, von riesigen Krankenhaus-Schiffen, die Verletzte auf Bahren versorgen. Von Bunkeranlagen.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 24
All die Fotos haben mir Leute vorbeigebracht… Das sind deutsche
Offiziere im Jahr 42, während der Besatzung. Aus der Zeit habe ich nur
wenige Fotos, aber es gibt welche. Da – sie überwachen den Strand…
Und das sind die ersten Gräber, die Kanadier ausgehoben haben.
SPRECHERIN
Wie viele Menschen in Courseulles haben auch Erics Schwiegereltern nach der Invasion in einem der Bunker am Strand gewohnt, weil ihr Haus zerstört war. Familie Tabaud hat den Krieg überlebt. Ihr erstes Karussell jedoch nicht.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 25
Als 1939 der Krieg ausbrach, wurde mein Großvater
einberufen und das Karussell geschlossen. Mein Vater war damals 9, meine Tante 10. Die Familie besaß Land in der Nähe von Caen, züchtete Schafe und verbrachte die Winter auf den Feldern. Die Alten dachten, dieser Krieg würde niemals enden und das Karussell zu nichts mehr nütze sein. Da es kein Holz zum Heizen gab, haben sie begonnen, es zu verheizen. Nach dem Krieg haben wir dann ein neues Fahrgeschäft aus Blech bauen lassen.
SPRECHERIN
Als Eric Tabaud 1996 den Betrieb von seinen Eltern übernommen hat, hat er das Fahrgeschäft nach historischer Vorlage nachbauen lassen. Einhörner, Pferdchen und Boote, die noch heute hier ihre Runden drehen, sind aber nicht mehr als aus Holz, sondern aus Harz. Handgemalte Engelchen strahlen von der Decke. Die musikalische Untermalung erinnert an die Anfangstage des Traditionsbetriebs.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 26
Wir spielen hier Jahrmarktorgelmusik. In Deutschland
und Holland gibt es davon besonders viel. Eines Tages, als ich einen
deutschen Marsch gespielt habe, haben mir das Leute vorgeworfen, weil es doch Deutsche waren, die Krieg gegen uns geführt haben. Da habe ich gesagt: „Wir können doch nicht mit allen Menschen im Krieg bleiben, mit denen wir es irgendwann mal waren! Sonst sprechen wir irgendwann mit niemandem mehr.“ Am 6. Juni hänge ich hier am Karussell alle Flaggen auf, auch die deutsche.
SPRECHERIN
Krieg sei immer schlimm, und man müsse sich stets um Frieden bemühen. Damit die Grauen eines Kriegs niemals vergessen werden, müsse man an sie erinnern.
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 27
Ich organisiere in jedem Jahr einen „Erinnerungsweg“ am Juno Beach. Als die Alliierten am 6. Juni gelandet sind, starben 359 kanadische Soldaten am Strand. Sie wurden schnell in Bény begraben. Mohn war die einzige Blume, die es damals gab. Also schmückte man die Gräber damit.
MUSIK Moonbow 00:50min
SPRECHER 2 OV ÜBERSETZUNG ERIC TON 27
Heute male ich an Strandabschnitten 359
riesige Mohnblumen von vier bis zu zehn Metern in den Sand und lade die Menschen ein, sie zu schmücken. Mit Kieseln, Algen, Blumen - allem, was sie am Strand finden. Ich schreibe zu jeder Blume den Namen des Soldaten, sein Alter und bitte die Leute, ein Foto von ihrer Strandblume zu machen. Dann sollen sie im Internet recherchieren, ob sie noch Verwandte des Toten finden können. Sie sollen ihnen dann ein Foto ihrer Mohnblume schicken um zu zeigen, dass wir die Menschen nicht vergessen, die gekommen sind, um uns zu befreien.
Der Kölner Dom: Über 600 Jahre dauerte es, bis er stand. Als er 1880 vollendet war, war der Dom sogar für kurze Zeit das höchste Gebäude der Welt. - Aber der Kölner Dom fasziniert nicht nur durch seine schiere Größe, sondern als Monument der Kultur- und Kunstgeschichte.
Credits
Autor und Regie dieser Folge: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Bürkle, Peter Veit
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Mathias Deml – Kunsthistoriker am Dombauarchiv in Köln
Weiterführende Links zum Kölner Dom:
Geschichte des Kölner Doms
Hier geht es zur Website
Mathias Deml erklärt den Altar der Stadtpatrone von Stephan Lochner
Hier geht es zu YouTube
Literaturtipps:
Literaturangaben
Arnold Wolff, „Der gotische Dom in Köln“ – da entdeckt man viele Kleinigkeiten aus der Geschichte des Doms. Und vor allem: Schöne Fotografien
Harald Friese, „Der Kölner Dom“ – eine umfassende Darstellung mit vielen Bildern
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN
Da gibt es dieses Bild aus der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs. - Die Stadt Köln liegt in Schutt und Asche. - Die Hohenzollernbrücke, die auf den Dom zuführt, ist von der deutschen Wehrmacht gesprengt worden - die Altstadt: ein Skelett. - Nur der Dom, der Kölner Dom, der hat das alles überstanden…
001 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Und wenn man sich die Stadt zu diesem Zeitpunkt anguckt, ist die Kölner Innenstadt eine einzige Trümmerwüste und zumindest, aus der Ferne heraus betrachtet, wirkt der Dom so, als ob er den Krieg fast unversehrt überstanden hätte.
ERZÄHLERIN
Der Dom zu Köln, entworfen im Mittelalter, gebaut im Stile der Gotik, ein Mythos - ein Monument für die Ewigkeit?
MUSIK: „Sederunt principes“
ZITATOR (Helmcken 1899)
Der Dom zu Köln — welch heiliger, unergründlicher Zauber liegt in diesem Bilde, in diesem Worte verborgen! Der Dom zu Köln ist für die deutsche Kunst und Kultur, was der Rhein ist für die Herrlichkeit der deutschen Nation. Das Symbol des Rheines ist der Dom!
ERZÄHLERIN
Schreibt ein Kirchenführer aus dem Jahr 1899. Also: der Kölner Dom, der scheint unvergänglich. Unbezwingbar. Und da gibt es ja noch dieses Bild aus den Kriegszeiten 1945, vom Dom, der alles unbeschadet überstanden habe…
002 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Weswegen dann auch teilweise das Gerücht entstanden ist, der Dom sei ganz bewusst im Krieg verschont worden. - Das stimmt so nicht ganz.
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Sagt Mathias Deml, Kunsthistoriker am Dombauarchiv in Köln. Denn: nicht nur die Alliierten, selbst die deutsche Wehrmacht hat den Dom beschossen. Aber:
003 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Dass der Dom im Vergleich zu den anderen Bauten in Köln noch so gut aussah, ist letzten Endes seiner Konstruktionsweise zu verdanken. Die meisten der Bomben sind durch die Gewölbe oder auch mal durchs Fenster in den Dominnenraum eingeschlagen, dort detoniert.
Da der Dom aber in erster Linie aus gewaltigen Fensterflächen und relativ schmalen Pfeilern besteht, konnte ein Großteil der Druckenergie, die entstanden ist, durch die Fenster wieder nach außen gelangen.
Das heißt, die Pfeiler wurden durchgeschüttelt. Ein großer Teil der oberen Gewölbe ist eingestürzt. Die Grundsubstanz blieb allerdings stehen.
Atmo Glocke
ERZÄHLERIN
Der Dom hat also den Krieg – obwohl nicht unversehrt - überstanden, und konnte so 1948, drei Jahre nach Kriegsende, ganz besonders gefeiert werden. :
004 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Ja, es gibt tatsächlich 1948 ein großes Jubiläum in Köln. Da feiert man 700 Jahre Grundsteinlegung.
ERZÄHLERIN
Die Dombauhütte in Köln hatte davor viel zu tun… Eine Radioreportage von 1948 berichtet:
005 ZUSPIELUNG (Radioreportage 1948)
Gründonnerstag im Kölner Dom Jahr 1948. Es ist nicht das würdige Bild, das ansonsten an diesem Tag des Kirchenjahres in einer Kathedrale herrscht.
ERZÄHLERIN
Ein knappes halbes Jahr vor dem Jubiläum im Sommer 1948 besucht der Radioreporter Bernhard Ernst den Kölner Dom…
006 ZUSPIELUNG (Radioreportage 1948)
Und der Rundfunksprecher steigt – etwas wider der Würde des Tages, die Feuerwehrleiter, eine 40 Meter hohe hinauf, um auf eines der Gerüste des Kölner Doms zu gelangen, zum Dombaumeister …
ERZÄHLERIN
Zum amtierenden Dombaumeister Willy Weires. Der berichtet ganz nüchtern von den Restaurierungsarbeiten nach den Kriegsschäden…
007 ZUSPIELUNG (Radioreportage 1948)
Das ist ein schweres Laufgerüst, das wir dort angebracht haben, um die Arbeiten schneller voranzutreiben. Denn sie werden sehen, dass uns dieser Termin sehr auf dem Nacken liegt und dass wir uns sehr anstrengen müssen, um den Dom zur angegebenen Zeit wieder zugänglich zu haben…
ERZÄHLERIN
Der Reporter freilich ist gerührt von der Erhabenheit dieses Bauwerkes…
008 ZUSPIELUNG (Radioreportage 1948) und dann Orgelmusik aus dem O-Ton
(Und) ich glaube, wir können am 15. August, wenn wir hier im feierlichen Rahmen stehen, dann von dem Feste der Auferstehung aus den Trümmern sprechen …
MUSIK (Orgel aus dem O-Ton und dann weg)
ERZÄHLERIN
Der 15. August ist das wohl wichtigste Datum in der Geschichte des Kölner Doms. An diesem Tag, im Jahr 1248, soll der Erzbischof Konrad von Hochstaden den Grundstein für die neue Kirche gelegt haben. –
Ganz nah am Rhein. - Aber erstmal: Selbst wenn man sich den Kölner Dom an keinem anderen Platz mehr vorstellen könnte als direkt vor dem Hauptbahnhof, stellt sich trotzdem die Frage: Gibt es einen speziellen Grund, warum genau hier der Grundstein gelegt wurde?
009 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Darüber können wir nur spekulieren. Es gab mal in früheren Zeiten die Theorie, dass an der Stelle ein Tempel gestanden haben könnte. Für den gibt es allerdings keinerlei Hinweise. Wir wissen, dass eine erste große Kirchenanlage an dieser Stelle um das Jahr 500 errichtet worden ist.
ERZÄHLERIN
Und bei Ausgrabungen hat man tatsächlich etwas gefunden.
010 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Aus dieser frühen fränkischen Zeit haben wir unter anderem ein Taufbecken gefunden, das älteste Taufbecken, das im Rheinland erhalten ist. Also nicht so, wie wir heute in Kirchen an Taufbecken kennen, sondern wirklich ein großes Becken für die erwachsenen Taufe, wo man dann zwei Treppenstufen hinab gestiegen ist.
(…) Ein ganz sensationeller Fund.
ERZÄHLERIN
Vermutlich im 9. Jahrhundert errichtet man dann hier eine sehr große karolingische Kirche, den so genannten „Alten Dom“ - Aber warum braucht es dann ein paar hundert Jahre später einen „Neuen Dom“?
011 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Ja, darüber haben wir leider keine Quelle, die uns das ganz genau sagt, aus dem und dem Grund beginnen wir zu bauen. Wir können nur darüber spekulieren und es gibt sicherlich eine Vielzahl von Gründen.
ERZÄHLERIN
So Mathias Deml. – Ein entscheidender Grund dürfte gewesen sein, dass im Jahr 1164 der damalige Kölner Erzbischof Reinhard von Dassel Gebeine aus Mailand nach Köln gebracht hat – die Gebeine der Heiligen Drei Könige.
012 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Die Mailänder haben die natürlich nicht ganz freiwillig hergegeben. Es war sozusagen eine Kriegsbeute. Zwei Jahre vorher hatte Kaiser Friedrich Barbarossa zusammen mit seinem Kölner Erzbischof die Stadt Mailand belagert und erobert und als Dank für die geleisteten Dienste hat Reinhard von Dassel diese Gebeine vom Kaiser geschenkt bekommen.
MUSIK: „Ascolta“
ERZÄHLERIN
Die Heiligen Drei Könige sind jetzt in Köln! - Nun muss man wissen, dass diese drei Könige sehr umstrittene und auch nur „so genannte Heilige“ sind. Förmlich „Heiliggesprochen“ wurden sie bis heute nicht. - Im neuen Testament werden sie nur vom Evangelisten Matthäus mit einem Satz erwähnt. Und der nennt sie die „Magoi apo anatolon“ – Also die „Sternendeuter aus dem Osten“. - Wie viele Magier es waren oder gar, wie sie hießen, darüber schweigt sich Matthäus aus.
MUSIK aus
013 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
In Mailand scheinen diese Reliquien relativ unbekannt gewesen zu sein, aber Reinhard von Dassel war ein sehr gewiefter Politiker auch und er reiste nun mit weiten Umwegen nach Köln, unter anderem durchs Burgund, und machte überall, wo er vorbeikam, kräftig Werbung dafür, dass er nun im Besitz der Gebeine der heiligen drei Könige - nach mittelalterlichen Vorstellungen, die Gebeine der ersten christlichen Könige überhaupt - ist. Und als sie in Köln ankamen, wurde Köln zu einem der wichtigsten Wallfahrtsorte des Christentums …
ERZÄHLERIN
Für die Reliquien der Heiligen Drei Könige baut man gegen Ende des 12. Jahrhunderts einen prunkvollen Schrein, da fehlt also nur noch eine prachtvolle Kirche, um die Gebeine auszustellen, und eine große Kirche auch für die Pilger, die zunehmend in die Stadt kamen. Denn nach Köln zu wallfahren hat sich für viele als doch einfacher erwiesen, als die schwere Reise nach Santiago de Compostela in Spanien anzutreten oder gar das Abenteuer nach Jerusalem zu wagen. Zu den anderen wichtigen Heiligen Stätten der Christenheit.
MUSIK: „Tanec“
ERZÄHLERIN
In Köln beruft man nun einen Dombaumeister. Der erste in einer sehr langen, aber auch einer sehr langen unterbrochenen Tradition. - Heute kennt man von ihm gerade noch seinen Namen: Meister Gerhard.
014 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Wir wissen, dass er wahrscheinlich in den 1260er -Jahren gestorben ist.
Aufgrund der Architektur des Kölner Domes können wir darauf schließen, dass er entweder aus Frankreich kam oder zumindest in Frankreich geschult worden war. Und dort die neuesten großen Kirchenbauunternehmungen sehr gut kannte.
ERZÄHLERIN
Die neuesten „Kirchenbauunternehmungen“ in Frankreich, das sind etwa die Kathedralen von Amiens oder die von Saint-Denis. Und diese Kathedralen sehen so ganz anders aus als die alten romanischen Kirchen. Die es in Köln zuhauf gibt. Diese neuen Gemäuer streben in die Höhe, der Innenraum ist nicht finster, wie bei den alten Kirchen, sondern Licht durchflutet die riesigen Fenster und erhellt den Chorraum. - Heute übrigens nennt man diesen Stil: „Gotik“. Entstanden in Frankreich…
015 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Der Kölner Dom ist tatsächlich ein erstaunlich französischer Bau, was seine Architektur angeht. Der sich in vielen Dingen etwa im Grundriss an der Kathedrale von Amiens orientiert, im Wandaufbau und in Details, aber auch an der modernsten Pariser Architektur des frühen 13. Jahrhunderts, etwa der Saint-Chapelle in Paris. - Und wie unser ehemaliger Dombaumeister Arnold Wolf immer hervorgehoben hat, neigt der Kölner Dom dazu, die dort gefundenen Formen noch mehr weiter zu entwickeln und zu perfektionieren. Das ist natürlich jetzt schwierig, ohne Bilder, im Radiointerview zu beschreiben…
MUSIK: „Eros“
ERZÄHLERIN
Der Schauspieler August Wilhelm Iffland hat es 1790 trotzdem versucht.
ZITATOR (August Wilhelm Iffland - 1790)
Die Pracht des himmelan sich wölbenden Chors hat eine majestätische Einfalt, die alle Vorstellung übertrifft. In ungeheurer Länge stehen die Gruppen schlanker Säulen da, wie die Bäume eines uralten Forstes (…)
ERZÄHLERIN
August Wilhelm Iffland war hingerissen, als er den Dom betrat.
ZITATOR (August Wilhelm Iffland - 1790)
Lässt sich auch schon das Unermessliche des Weltalls nicht im beschränkten Raume versinnbildlichen, so liegt gleichwohl in diesem kühnen Emporstreben der Pfeiler und Mauern das Unaufhaltsame, welches die Einbildungskraft so leicht ins Grenzenlose steigert…
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Aber noch einmal zurück ins Mittelalter, als in Köln das Unternehmen „Dombau“ Fahrt aufnimmt.
016 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Und am Anfang hat man auch relativ schnell gebaut, 1322 war der Domchor als wichtigster und bedeutendster Teil des Kölner Domes in voller Höhe fertig gestellt und konnte feierlich eingeweiht werden.
ERZÄHLERIN
Also schon nach knapp 70 Jahren Bauzeit… Für mittelalterliche Verhältnisse ganz flott… Danach beginnt man mit dem Bau von Langhaus, Querhaus und den Türmen. Zwei sollen es werden. Ein Südturm und ein Nordturm.
MUSIK: „Tanec“
ZITATOR (Francesco Petraraca 1333)
„Vidi templum urbe media pulcherimum quamvis inexpletum“ –
ERZÄHLERIN
Im Jahr 1333 soll der italienische Dichter Francesco Petrarca durch Köln gereist sein.
ZITATOR (Francesco Petraraca 1333)
Ich sah mitten in der Stadt die herrliche Domkirche, die man nicht ohne Grund die allerherrlichste nennt, obwohl …
ERZÄHLERIN
Petrarca schiebt ein „quamvis“, also ein--- „obwohl“ hinterher. Was das wohl bedeutet? - Ihm ist halt nicht verborgen geblieben:
ZITATOR (Francesco Petraraca 1333)
Der Dom ist unvollendet…
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Mathias Deml von der Kölner Dombauhütte ergänzt:
017 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Und da merkt man, dass dann der Bauprozess allmählich ins Stocken geraten ist. Und irgendwann zwischen 1520 und 1530, ganz genau wissen wir es nicht, hat man dann die Bauarbeiten tatsächlich für über 300 Jahre unterbrochen.
ERZÄHLERIN
Warum eigentlich der Dombau zu dieser Zeit eingestellt wurde, weiß man auch nicht genau. Vermutlich war die Zeit der großen Kathedralen nach französischem Vorbild einfach vorbei… Der Dom bleibt also über viele Jahrhunderte ein Fragment. Trotzdem prägt er das Kölner Stadtbild des Mittelalters, und das, obwohl von den Türmen nicht viel zu sehen gewesen ist. Vom Nordturm stehen nur wenige Mauern, gerade mal fünf Meter groß, aber immerhin, zumindest der Südturm ist etwas über 56 Meter hoch, er hat so ungefähr ein Drittel der heutigen Höhe erreicht. Oben auf dem unvollendeten Südturm sieht man eine verwaiste Baustelle…
018 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
(Und) oben auf diesem Turmstumpf stand ein gigantischer hölzerner Baukran, wahrscheinlich eine der größten Baumaschinen des Mittelalters überhaupt, der bis ins 19. Jahrhundert dann das Wahrzeichen von Köln war.
ERZÄHLERIN
In vielen zeitgenössischen Kupferstichen wird der Dom mit dem Kran abgebildet. Und erstaunlich, obwohl der Dombau ruht, den Kran hält man in Stand, nach einem Blitzeinschlag im frühen 17.Jahrhundert wird er sogar repariert. Der Baukran wird für viele Generationen zum Sinnbild dafür, dass der Dom irgendwann fertig gestellt werden wird… So hofft man das zumindest …
019 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Dieser Baukran war wirklich weltberühmt, sogar in „Moby Dick“, einem amerikanischen Roman von Herman Melville, wird er erwähnt als Symbol dafür, dass die wirklich großartigen Werke der Menschheit viele, viele Generationen brauchen, um vollendet zu werden.
MUSIK: „The vikings & Barons“
ERZÄHLERIN
Hermann Melville bemüht sich, in einem Kapitel von Moby Dick über alle Erscheinungsformen von Walen zu schreiben. Also: Welche Arten von Walen gibt es? Wie sehen die aus? - In der Fachsprache nennt man dieses Vorhaben eine „Cetologie“ - Ein schwieriges, sogar unmögliches Unterfangen. -
ZITATOR (Melville – „Mobby Dick“ - Übersetzung 1922)
„Doch nun lasse ich mein cetologisches System im Stich, so unfertig, wie der erhabene Kölner Dom gelassen wurde, mit dem Kran hoch auf der Plattform des unvollendeten Turms. Denn kleine Bauwerke können von dem beendet werden, der sie zuerst geplant hat; die großen, die wahren, sie überlassen es immer der Nachwelt, den Schlussstein einzufügen…
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Über Jahrhunderte ist also nicht viel passiert, an dem Kölner Domrohbau. Der gotische Stil war zunehmend aus der Mode gekommen. Selbst ein Johann Wolfgang von Goethe hält die Gotik lange Zeit für eine Ansammlung von „Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem“. - Doch plötzlich tut sich was in Köln… Denn im späten 18. Jahrhundert findet man die Gotik plötzlich gar nicht mehr ganz so schlecht. Aber nun muss man den Dom erstmal vor einem äuß0eren Feind schützen…
020 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
1794 ist Köln von französischen Revolutionstruppen erobert worden…
MUSIK: „Holcane attack“
ERZÄHLERIN
Die Mitglieder des Domkapitels fliehen mitsamt dem Dreikönigsschein und der Dombibliothek auf die andere Seite des Rheins nach Osten, genauer gesagt weit in den Kölner Osten, ins Sauerländische Arnsberg. - Und die französischen Soldaten besetzen den Dom. Das Gebäude dient jetzt als Magazin und als Kriegsgefangenenlager. Die französischen Soldaten verheizen alles Holz, das greifbar ist. Erstaunlicherweise verschonen sie das mittelalterliche Chorgestühl – Aber: die letzte Messe im Dom scheint gelesen zu sein…
021 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Und genau in dieser Zeit eigentlich der größten Gefährdung für den Dom gab es nun hier in Köln einige Leute, die den Bau wieder entdeckten. An erster Stelle muss hier Sulpiz-Boisserée, ein Kaufmannsohn aus Köln genannt werden, der nun alles dafür tat, bei seinen Zeitgenossen dafür zu werben, diesen gewaltigen Bau, der sehr, sehr stark auch heruntergekommen war, zu restaurieren und vielleicht dann auch, wie es dann tatsächlich passiert ist, zu vollenden.
ERZÄHLERIN
Sulpiz-Boisserée ist gerade mal 24 Jahre alt, als er seine Mission beginnt. Die französischen Truppen besetzen immer noch Köln, aber der junge Kaufmannssohn wirbt und wirbt für sein neues Dombauvorhaben. Er kann sogar einen gewissen Johann Wolfgang von Goethe für sich gewinnen, der sich mittlerweile vom Saulus zum Paulus gewandelt hat. Goethe lehnt die Gotik jetzt nicht nur nicht mehr ab, er hält sie für „d i e“ deutsche Baukunst. Natürlich sei die Gotik erfunden worden von einem Genie, so wie er selbst eines ist …
022 (Teil1) ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Das Ganze hat sich dann noch vermengt mit nationalen Ideen. Nach den gewonnenen Befreiungskriegen gegen Napoleon hat man lange darüber debattiert, wo man ein großes deutsches Nationaldenkmal errichten könnte. - Und da hat bereits 1814 Josef Görres vorgeschlagen, man könne doch den Kölner Dom, alle Deutschen gemeinsam, egal welcher Konfession, fertig bauen. Görres vertrat die Meinung, die viele seiner Zeitgenossen fälschlicherweise vertraten, die Gotik wäre ein typisch deutscher Baustil. Und in die Diskussion hat sich dann am Ende auch noch der Kronprinz von Preußen eingemengt, der ganz begeistert vom Kölner Dom war. Und nun versprochen hat, wenn ich mal König geworden bin, gebe ich viel Geld dafür aus, den Dom fertig zu bauen.
MUSIK: „Sederunt principes“ -
ERZÄHLERIN
Und dann geht es tatsächlich sehr schnell. Also nicht nur nach mittelalterlichen Maßstäben … Schon 1824 ist eine neue Dombauhütte gegründet worden, die zunächst erst einmal die vielen Schäden des bestehenden Baus beseitigen musste. Und der Kronprinz von Preussen?
022 (Teil2) ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Er hat 1842 Wort gehalten und als Friedrich Wilhelm IV. den Grundstein zum Dombau gelegt
ERZÄHLERIN
Dann geht man den Dominnenraum an. Vollendet das Lang- und das Querhaus. - Und in nur 15 Jahren errichtet die Dombauhütte mit Hilfe neuer Techniken, etwa mit Hilfe der Dampfmaschine, die beiden Türme genauso und in der Gestalt, wie sie ursprünglich, 600 Jahre zuvor, geplant worden sind.
023 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Wir haben aber tatsächlich aus dem Mittelalter einen über vier Meter hohen Pergamentplan. Und der zeigt die beiden Türme bis ins Detail so durchgezeichnet, wie sie mit relativ wenigen Abweichungen tatsächlich dann im 19. Jahrhundert fertig gestellt worden sind.
ERZÄHLERIN
Mit 157 Metern Höhe ist der Kölner Dom bei seiner Vollendung im Jahre 1880 für einige Jahre das größte Bauwerk der Welt…
MUSIK ein wenig pathetisch und dann weg
ERZÄHLERIN
Und nun hatte man kurz gedacht, nach über 700 Jahren Bauzeit müsste doch jetzt mal Ruhe sein. – Köln hat endlich seinen Dom. Und endlich zu Ende gebaut, aber…
024 (Teil1) ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Aber natürlich auch nachdem der Kölner Dom fertig war, 1880, waren die Arbeiten nicht ganz abgeschlossen. Es gab noch Arbeiten im Innenraum, an der Ausstattung, Nachbesserungsarbeiten. Das Ganze hat bis ins frühe 20.Jahrhundert gedauert. Und dann hat der damalige Dombaumeister, der auch die Domvollendung im Amt erlebt hatte, Richard Voigtel, zwei Jahre vor seinem Tod (…) gesagt, die nächsten 100 Jahre müssen wir am Dom nichts mehr machen.
ERZÄHLERIN
Das war im Jahre 1900.
024 (Teil2) ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Und nur zwei Jahre nach seinem Tod (…) fiel ausgerechnet auch noch nach einem sonntäglichen Pontifikalamt im Kölner Dom der Flügel einer Engelfigur direkt über dem Hauptportal herunter.
ERZÄHLERIN
Aber es bleibt nicht bei dem einen Flügel. Den ersten Weltkrieg überstand der Dom noch unbeschadet. Doch im zweiten Weltkrieg erlitt der Nordturm einen Treffer, die Orgel ging verloren, das Hochschiffgewölbe des Langshauses stürzte ein. - Aber trotz dieser Kriege ist erstaunlich, dass sich im Kölner Dom etwas erhalten hat, das vielen anderen Kirchen nicht vergönnt war: Glocken aus dem Mittelalter…
025 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Der Kölner Dom hatte das große Glück, dass im Ersten Weltkrieg nur eine seiner Glocken eingeschmolzen wurde und da auch erst ganz am Ende des Krieges, die sicherlich gar nicht mehr für Rüstungszwecke verwendet worden, die so genannte Kaiserglocke. - Und im Zweiten Weltkrieg schaffte das Domkapitel durch geschicktes Taktieren tatsächlich zu verhindern, dass überhaupt eine Glocke des Domes eingeschmolzen worden ist, so dass der Kölner Dom ein relativ besonderes Geläut hat, zudem unter anderem auch noch vier mittelalterliche Glocken heute gehören.
Atmo: Geläut „Kölner Dom“
ERZÄHLERIN
Also, wenn wir heute die Glocken des Doms hören, machen wir vielleicht eine akustische Zeitreise. Denn vor 700 Jahren klang das Geläut, wer weiß es, wohl gar nicht so anders wie heute …
026 ZUSPIELUNG (Mathias Deml)
Das sind einmal zwei kleine Glocken aus dem frühen 14. Jahrhundert, die bereits 1322 wahrscheinlich zur Weile des Domchors zu hören war, und zwei Großglocken des 15. Jahrhunderts, die Pretiosa und die Speciosa.
ERZÄHLERIN
Der Kölner Dom hat über viele Jahrhunderte die deutsche Geschichte überstanden und begleitet Und, na ja, er wird vielleicht wohl auch die Irrungen und Wirrungen der nächsten Jahrhunderte überdauern…
Das Leben eines Schmetterlings beginnt als Ei. Aus dem Ei schlüpft eine Raupe. Manche fliegen bevorzugt bei Tag, andere lieber nachts, einige sind bunt, andere einfarbig - Schmetterlinge gibt es in vielen verschiedenen Farben und Formen. Weltweit gibt es 180.000 Arten - viele sind inzwischen bedroht. Von Claudia Steiner (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprach: Katja Schild
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es weitere spannende Folgen zur Welt der Insekten und Tiere:
Tiere in der Pubertät - Abenteuerlustig, impulsiv, risikofreudig
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Ameisen - Staatenbildende Insekten der Superlative
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Hornissen - Die Falken unter den Wespen
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Für Schmetterlingskundler empfehlen wir außerdem die Plattform Lepiforum e.V.:
EXTERNER LINK | LEPIFORUM e.V.
Unsere Empfehlung für Naturinteressierte:
Wilde Winkel. Bayerns Natur-Podcast
„Wilde Winkel“ nimmt Dich mit auf Entdeckungstour in Bayerns wertvollste Natur. Jeden Monat geht’s in einen anderen wilden Winkel Bayerns zwischen den Alpen und der Rhön, dem Nördlinger Ries und dem Fichtelgebirge.
EXTERNER LINK | SPOTIFY.COM | WILDE WINKEL.
Literatur:
Der Kosmos Schmetterlingsführer: Schmetterlinge, Raupen und Futterpflanzen: Schmetterlinge, Raupen und Nahrungspflanzen, Heiko Bellmann und Rainer Ulrich, 2016
Franz Kafka begann seinen so rätselhaften wie berühmten Roman "Das Schloß" im Januar 1922, gezeichnet von der Tuberkulose, an der er anderthalb Jahre später sterben würde. Ein überwältigendes Fragment, Sternstunde der Weltliteratur. Von Julia Devlin (BR 2017)
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Thomas Loibl, Stefan Merki
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Petra Herrmann
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Der Process - Hörspiel nach Franz Kafka
Einer der berühmtesten Sätze der Literaturgeschichte: "Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Vertreter einer mysteriösen Behörde eröffnen Josef K. an seinem 30. Geburtstag, dass ihm der Prozess gemacht werden solle. "Der Prozess" (mit z) begründete 1925 Kafkas Weltruhm, ein Jahr nach seinem Tod am 3. Juni 1924. Sein Freund Max Brod montierte den Roman aus unvollendeten Textfragmenten, die Kafka in 16 Sammelmappen hinterlassen hatte, ohne dabei eine verbindliche Anordnung festzulegen. Das 16-teilige BR-Hörspiel von Klaus Buhlert, mit prominenten Stimmen u.a. von Rufus Beck, Corinna Harfouch und Milan Peschel, gibt keine Hör-Reihenfolge vor. Es basiert auf der historisch-kritischen Ausgabe "Der Process" (mit c), mit sämtlichen Handschriften und Typoskripten (Verlag Stroemfeld/Roter Stern 1997) und rückt damit noch näher an die tatsächliche Überlieferung des Klassikers der Moderne, der zwischen Komik und Grauen schwankt. Das Hörspiel-Cover ist eine Originalzeichnung von Franz Kafka.
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Das Schloss - Hörspiel nach Franz Kafka
Franz Kafkas atemberaubende Geschichte über Bürokratie, Willkür und Fremdenhass. Der rätselhafte Neuankömmling K. betritt die kleine, kalte Welt des Grafen Westwest mit ihren eigenen und eingefahrenen Gesetzen.
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In Europa bricht die Olivenernte ein. Fehlendes Wasser und hohe Temperaturen setzen den Bäumen in den Anbauregionen rund ums Mittelmeer zu. Während es im Süden zu heiß wird, experimentieren Landwirte im Norden Europas mit dem Anbau von Oliven. Werden Olivenbäume auch bei uns heimisch? Und was für Hindernisse gibt es?Im Süden wird es den Oliven zu heiß, also ab in den Norden mit ihnen. Der Klimawandel macht es möglich, dass Olivenbäume bald bei uns heimisch werden könnten. Unterwegs mit den Agrorebellen, die unsere Landwirtschaft revolutionieren wollen. Von Anna Küch
Credits
Autorin dieser Folge: Anna Küch
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Anna Küch
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Erich Welleschitz Landwirt
Matthias Welleschitz Landwirt
Markus Fink, Agrorebels
Carmen Sánchez, Olivenöl-Expertin
Michael Becker, Gärtner
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-TON 1 Erich Welleschitz
„Da sind sie wieder... sehen Sie die Kaninchen, diese Biester...
Autorin:
Erich Welleschitz ist wütend. Der Biolandwirt steht auf seinem Feld und deutet auf den Abhang. In der Ferne hoppeln drei Kaninchen.
O-TON 2 Erich Welleschitz
„Das größte Problem bei uns hier sind eigentlich die Wildkaninchen. Das muss man sagen. Wildkaninchen, die haben schon 40 Bäume erledigt. das heißt, sie graben gerne, sie graben sich zu den Wurzeln, fressen die Wurzeln ab oder nagen die Rinde ab und somit der Fall erledigt. Und eine Reihe haben sie in einer Nacht geschafft.
Musik 1
"Always turns to spring" - Komponist und Ausführender: Bill Frisell - Album: Ghost Town - Länge: 0'42
Autorin:
Und es ist nicht irgendeine Reihe. Erich Welleschitz hat hier im Marchfeld östlich von Wien einen Olivenhain gepflanzt. 135 junge Bäume, die ihre silbrig-grünen Blätter in die kalte Frühlingsluft recken.
Die Gegend gilt als Korn- und Gemüsekammer Österreichs. Doch der Anbau verändert sich. Neben Zwiebeln, Erbsen, Spargel, Karotten, Getreide werden auch immer mehr Exoten angebaut. Feigenbäume, Granatapfel, Melone und seit neustem Oliven - wie beim Landwirt Welleschitz:
O-TON 3 Erich Welleschitz
„Also ganz ehrlich, war es eine ganz unbedingte Idee meiner Frau. Sie hat gesagt du wir müssen das unbedingt machen. Ja, und sie hat einfach nicht mehr loslassen von dem Gedanken und hat gesagt habt ihr keine geeigneten Flächen, irgendwo muss doch was geben. Da hab ich gesagt oh ja, wir haben schon eine geeignete Fläche. Dann machen wir das. Und der Klimawandel selbstverständlich spielt da auch a Rolle.
Autorin:
Welleschitz zupft ein paar Blätter von den Olivenbäumen. Der Hain macht viel Arbeit. In diesen Wochen müssen die Zweige geschnitten werden. Die ganze Familie hilft mit. Sohn Matthias zeigt, was zu tun ist:
O-TON 4 Matthias Welleschitz:
„Ja, der Ast und der Ast. Grundsätzlich geht es ja beim Schnitt dann darum, dass jedes Blatt möglichst viel Licht bekommt und dass das kein riesenhoher Baum wird, sondern ja, wie man sich einen Olivenbaum halt vorstellt. Dass das eben klar und in die Breite hin ausfallen wird, er klar und in die Breite hin ausfallend wird. Dadurch kriegen die einzelnen Blätter ziemlich viel Licht....“
Autorin:
Die Landwirte in der Gegend bemerken den Klimawandel deutlich:
Die Winter werden immer milder, die Sommer heißer. Vieles, was Erich Welleschitz früher angebaut hat, funktioniert mit den hohen Temperaturen nicht mehr so gut.
O-TON 5 Erich Welleschitz:
40 Grad sind keine Seltenheit. 40 Grad ist schon normal, vor allem starke Südwinde. Und wenn dann so der Südwind geht tagelang, das ist wirklich heiß und unangenehm. Es ist halt so, dass man in der Landwirtschaft ganz anders betroffen ist.
Autorin:
Die Nachbarn von Welleschitz pflanzen jetzt Bananen an. Die wachsen wie Unkraut, sagt der Landwirt. Er selbst probiert es mit Olivenbäumen
Musik 2
"Un Héros Très Discret - Départ en Train" - Album: Jacques Audiard - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'59
Autorin:
Hitze, Trockenheit, karge Böden. So wachsen die Olivenbäume seit Jahrtausenden von Jahren vor allem im Mittelmeerraum. In Spanien, Griechenland, Italien. Portugal. Es gibt über 1.000 verschiedene Arten. Die Stämme sind knorrig, der Busch weit verzweigt. Olivenbäume können uralt werden. Sie zählen zu den ältesten Kultur- und Nutzpflanzen der Menschheit. Und das Olivenöl war immer schon wertvoll. Könnte das grüne Gold auch bald bei uns entstehen?
Markus Fink ist überzeugt davon, dass der Olivenbaum auch hierzulande wachsen kann. Er sieht den Klimawandel als Problem und Chance zugleich. Zusammen mit zwei Mitstreitern hat er den Verein Agrorebells gegründet. Die Agrorebellen erforschen exotische Obstsorten und bringen sie nach Österreich. Über 5.000 Olivenbäume haben sie schon zusammen mit Landwirten aus ganz Österreich gepflanzt:
O-TON 6 Markus Fink:
„Wir sagen halt nicht, was tut der Klimawandel mit uns, sondern was machen wir mit dem Klimawandel. Wir wollen umgehen damit, umkehren können wir ihn nicht. Wir können ihn verlangsamen, so gut es geht, Und wir haben uns zur Aufgabe gemacht, den Bauern / den hiesigen Landwirten zu helfen, sie zu beraten. Was können sie mit ihren Äckern machen, um weiterhin gut bestehen zu können?
Autorin:
Markus Fink ist eigentlich Physiker. Er hat lange Jahre mit der Weltraumbehörde ESA zusammengearbeitet. Früher hat er Pflanzen im Weltall erforscht:
O-TON 7 Markus Fink:
„Wo man geschaut hat, wie sichert man das Überleben für den Astronauten auf der ISS? Wie kann man eine bemannte Mars-Mission durchführen und so weiter? Wie können Pflanzen in unwirtlichen, unter unwirtlichen Bedingungen gedeihen? Diese Fragestellung hat mich auch fasziniert. Irgendwo und so ist dann daraus das Projekt irgendwann Aggro-Rap geworden. Wenn man Tomaten auf der ISS zum Wachsen bringt ... wir versuchen halt die Olive in Mitteleuropa zum Wachsen zu bringen.
Musik 3
"Un Héros Très Discret - Départ en Train" - Album: Jacques Audiard - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'31
Autorin:
Als Markus Fink 2019 damit loslegte, titelte eine Zeitschrift: „Der Astronaut, der die Oliven nach Österreich bringt“. Das war der Beginn des Erfolgs. Viele Landwirte in Österreich lasen den Artikel und waren Feuer und Flamme.
Am Anfang mussten die Agrorebellen viel experimentieren. Sie legten Forschungshaine an, pflanzten verschiedene Olivenbäume. Und hatten auch den Mut zu scheitern:
O-TON 9 Markus Fink:
„Wenn es einen Totalausfall gab, dann war das ein einziges Mal, und zwar in Kärnten in der Testphase. Da hatten wir eine geschlossene Schneedecke von 40 bis 50 Zentimeter über mehrere Wochen. Und das hat kein Olivenbaum überlebt. Da war nicht unbedingt das Temperaturminimum, sondern die geschlossene Schneedecke.“
O-TON 10 Markus Fink
„Hallo? Ja das ist jetzt ganz schlecht.“
Autorin:
Mittlerweile wollen immer mehr Landwirte von Markus Fink und den Agrorebellen beraten werden. Dauernd klingelt sein Telefon. Markus Fink liebt seine Arbeit. Er ist in Größenbrunn östlich von Wien aufgewachsen. Seine Großeltern hatten einen bäuerlichen Betrieb, dazu gehörte ein kleiner Weinberg. Ein Weingarten sagen die Österreicher. Dort kelterten die Landwirte früher den Wein für den Eigenbedarf:
O-TON 11 Markus Fink
„Das wurde dann nicht mehr rentabel, sehr viel Arbeit. Mittlerweile sind die Flächen größtenteils als Brachflächen geblieben. Nur wenige Landwirte bauen hier noch Trauben an, und aus diesen Flächen werden jetzt hoffentlich sukzessive Olivenhaine. Der Boden ist gut. Es sind Südhänge.“
Autorin:
In der Ferne liegt die Slowakei. Weit ist es nicht zur Grenze. Mit dem Auto fahren wir durch die Gegend, die sich nach und nach verändert:
O-TON 12 Markus Fink
„Schauens mal da, da haben wir Palmen, sieht man überall an jeder Ecke. Da Zwergpalmen kleine Olivenbäume. Das wäre in den 1980er Jahren unmöglich gewesen!“
Autorin:
Klimatisch ist der Anbau kein Problem. Fink und seine Kollegen haben mit verschiedenen Sorten experimentiert. Sie sind in den Mittelmeerraum gefahren, nach Italien, Portugal und Spanien, um die richtigen Bäume zu finden. Am Anfang erklärten sie die Landwirte - zum Beispiel in Spanien - für verrückt:
O-TON 13 Markus Fink
„Die spanischen Bauern kennen Österreich als allererstes als Skifahrergebiet, wenn sie es überhaupt kennen. Und die meinen, ich wäre ein bisschen „loco“. „Loco“ bedeutet verrückt oder crazy. Ja, dann erklärt man halt na ja, wie schaut in Zentralspanien das Klima aus zum Beispiel in Madrid? Wie viel Minusgrade bekommts Ihr in Madrid eigentlich? Naja, also vielleicht minus sechs, minus sieben, minus acht der mal. Ja, naja, wir kommen hier dann auf minus neun, minus zehn. Das ist gar nicht so weit weg und wie lange auch nur ein, zwei Tage im Jahr. Und damit sehen dann auch die Landwirte dort, dass es vielleicht gar nicht so crazy ist, im Osten Österreichs sage ich jetzt einmal, im pannonischen Gebiet, Olivenbäume zu pflanzen, zumindest das auszuprobieren, diese zu pflanzen.“
Musik 4
"Always turns to spring" - Komponist und Ausführender: Bill Frisell - Album: Ghost Town - Länge: 0'29
Autorin:
Das pannonische Gebiet ist eine Tiefebene, die sich von Ungarn bis nach Österreich erstreckt. Die Winter sind mild und feucht. Die Sommer heiß mit viel Sonnenschein. Ein submediterranes Klima. Ideal für die Olivenbäume sagt Markus Fink. Er stoppt das Auto, steigt aus und führt auf einen Aussichtspunkt. Dort stehen ein paar dürre Pflanzen vom Wind zerzaust.
O-TON 14 Markus Fink
„Das ist unser zweiter Forschungshain. Der befindet sich auf der Parndorfer Platte. Das ist eine typische sehr windige Gegend, extrem heiß und trocken im Sommer und annähernd kein Schnee im Winter, heute ist ein gefühlter Wintertag, fünf Grad und Regen.“
Autorin:
Markus Fink greift in die Erde und lässt sie durch die Finger rieseln, dann flüchtet er ins Auto. Der Regen ist zu stark.
O-TON 15 Markus Fink
„Wir versuchen, verschiedene Sorten verschiedenen Alters zu vergleichen, verschiedene Substrate zu setzen, mit Hanglage, ohne Hanglage, mit Schotter drunter, lehmig oder nicht lehmig oder was auch immer. Und dann zu vergleichen. Wie entwickeln sich die Bäume?
O-TON 16 Carmen Sánchez
„Schlürfgeräusch ... Hörst Du das? Das ist damit etwas Luft hereinkommt und sich vermischt.“
Autorin:
Olivenölprobe bei Carmen Sanchez in Köln Pulheim. Die Spanierin hat zwei Schälchen mit verschiedenen Oliven-Ölen vorbereitet und lässt mich vergleichen:
O-TON 17 Carmen Sánchez:
„Das schmeckt nach Tomate, hinten raus die Schärfe.
Genau! Und nach dem Runterschlucken hast du vielleicht noch das Gefühl der Bitterkeit und Schärfe.“
Autorin:
Die Schärfe und Bitterkeit sind Merkmale für ein gutes Olivenöl. Und es gibt noch mehr.
O-TON 18 Carmen Sánchez
„Auch ein sehr gutes Zeichen ist: Wenn das ein Olivenöl ist fettig. Aber diese gute Qualität ist er eher seidig. Also die Zunge wird nicht so von eine Schicht aus Fett bedeckt. Diese seidige Flüssigkeit ist total sauber und hinterlässt keine Spuren. Das ist auch ein sehr gutes Zeichen.“
Autorin:
Carmen Sanchez weiß, wovon sie spricht, sie ist diplomierte Oliven-Öl Sommeliere, genauer gesagt sie sich an der Universität von Jaen in Andalusien zur Expertin für natives Olivenöl ausbilden lassen. Ihre Mission: den Menschen beibringen, was wirklich gutes Oliven-Öl ist. Oder besser Oliven-Saft.
O-TON 19 Carmen Sánchez:
„Schau mal, die Olive ist eine Frucht. Alle anderen Öle kommen aus Kernen, und die Olive als da mehr ist eine Frucht. Und wenn ich sie auspresse, dann bekomme ich einen Saft.“
Autorin:
Viel von diesem Saft ist gerade nicht auf dem Markt. Europas Olivenbauern haben schlechte Jahre hinter sich, die Ernten sind eingebrochen, die Preise auch für minderwertiges Öl drastisch gestiegen. Das gab es bislang noch nicht, erzählt Carmen Sanchez:
O-TON 20 Carmen Sánchez
„Spanien ist Hauptproduzent von Oliven-Öl. Und es ist das erste Mal in der Geschichte vom Oliven-Anbau, dass zwei Ernten direkt hintereinander katastrophal sind. Das passiert 2023 und davor 2022. Das hat sicherlich mit dem Klimawandel zu tun.“
MUSIK 5
"Always turns to spring" - Komponist und Ausführender: Bill Frisell - Album: Ghost Town - Länge: 1'03
Autorin:
Dürre und Hitze führten dazu, dass die Blüten an den Olivenbäumen geradezu verbrannt sind und keine Oliven entstehen konnten. Das heißt, die Ernten in Spanien haben sich halbiert. Eine Katastrophe! Spanien vermarktet etwa 50 Prozent des weltweit konsumierten Olivenöls. Auf einmal fehlten riesige Mengen an Öl. Und die Preise für das grüne Gold kletterten in die Höhe.
Auch Italien und Griechenland hatten schlechte Ernten. Hier hatte es vergangenen Mai und Juni zu viel geregnet. Also in der Blütezeit. Dadurch klappte es mit der Bestäubung nicht. Normalerweise weht der Wind den Pollen einer anderen Olivenpflanze heran. Doch durch den Dauerregen war es zu nass, die Blüten konnten sich nicht bestäuben, also gab es keine Frucht. Die Feuchtigkeit lockt auch die Olivenfruchtfliege an, einen gefürchteten Schädling:
O-TON 21 Carmen Sánchez
„Genau bei Feuchtigkeit. Genau dann fühlt sich diese Fliege sehr wohl. Sie bohrt die Frucht an. Und das bedeutet Sauerstoff in Kontakt mit den Fruchtfleisch. Das bedeutet dass die Oxidation, die Fermentationsprobleme bei dem Olivenöl direkt da sind. Egal, wie toll der Bauer ist. Egal, wie toll die Ölmühle ist. Geschmacklich wird das Öl nix mehr werden.“
Autorin:
Der Mittelmeerraum ist das Zentrum der Olivenbäume, doch auch andere Regionen holen auf. In Australien und Kalifornien werden schon lange Oliven angebaut. Sie kamen mit den Missionaren und Reisenden, Entdeckern und Erobern in die Länder.
In Verkostungen probiert Carmen Sanchez jetzt ganz oft Oliven-Öl, das aus anderen Weltregionen stammt. Immer wieder sind sie und ihre Kollegen überrascht, wie gut Oliven-Öl aus Südafrika, Brasilien oder Uruguay ist: Könnte dann nicht auch Deutschland zum Anbaugebiet werden? Jetzt, wo es gefühlt jeden Sommer heißer wird?
O-TON 23 Carmen Sánchez
„Im Prinzip ja. Der Olivenbaum ist sehr bescheiden, das ist ein Kerl, der sehr bescheiden und ist und der kann wachsen, ohne große verwöhnt zu werden. Nur Wasser tut gut und vor allem was er braucht, und was er deutlich vermisst, ist die Sonne.
Er braucht den Sommer. Warum? Weil was eine Blüte schafft ist unglaublich. Also erstmal kommt irgendwann eine kleine Frucht, die wie eine Erbse aussieht. Da gibt es noch nicht einen harten Kern ist nichts und bis Anfang des Sommers. Ich rede jetzt so zum Beispiel von Spanien. Bis Juni hat er es geschafft einen Stein zu bekommen. Dann macht er Urlaub bis September. Und im September fängt die Olive an, die Frucht also, das Öl zu machen.“
Autorin:
Bis das alles passiert, kann es jahrelang dauern. Erst wenn Olivenbäume etwa sechs Jahre sind, werfen sie Ertrag ab.
Musik 6
"Paean (Original Composition For Replica Lyre in the Ancient Greek Dorian Mode)" - Album: The Ancient Greek Lyre - Ausführender: Michael Levy - Länge: 0'42
Autorin:
Viele Geschichten ranken sich um den Baum und seine schmackhaften Früchte. Schon zum Ende der Bronzezeit wurden Ölbäume im östlichen Mittelmeerraum systematisch kultiviert.
Auf Kreta waren Oliven bereits 6.000 vor Christus ein wichtiges Lebensmittel. Die antiken Griechen waren Spitzenreiter im Verbrauch. Ein Kämpfer verbrauchte 30 Liter jährlich zur Körperpflege, 20 weitere Liter für seine Ernährung und einen halben Liter als Medizin. Auch in der Bibel spielt der Olivenzweig eine Rolle als Symbol des Friedens. Carmen Sanchez ist jeden Tag aufs Neue fasziniert:
O-TON 24 Carmen Sánchez:
„Der Olivenbaum ist so unglaublich, weil der Olivenbaum, wenn wir hören, dass er es schafft, so alt zu werden ist, Manchmal erlebt er ganz böse Sachen, und aus dem Nichts treibt wieder Leben. Das hieß ich kriege ein. Es ist unglaublich. (schluckt ...stockt ...)“
Autorin:
Als Carmen Sanchez nach Deutschland kam, traute sie ihren Augen kaum. Direkt im Nachbardorf in Stommeln bei Köln wuchsen: Olivenbäume.
Musik 7
"Un Héros Très Discret - Départ en Train" - Album: Jacques Audiard - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'23
Autorin:
Dicht an dicht stehen die 115 Olivenbäume beim Gartenhof Becker, die langen Zweige mit den grünen Blättern recken sich nach oben. Dem Regen entgegen. Es ist ein kühler Maitag. Inhaber Michael Becker hat seinen Schirm aufgespannt. Trotz der kühlen Temperaturen trägt er kurze Hosen:
O-TON 25 Michael Becker:
„2008/2009 dieser Winter war hier zwei oder drei Tage lang unter 20 Grad. Und da haben wir gemerkt, dass das eine Sorte ist, die auch die Kälte verträgt - das ist die Sorte Leccino aus der südlichen Toskana und die anderen Sorten sind uns fast alle kaputtgegangen.“
Autorin:
„Der Oliven-Hain in der Kölner Bucht ist nach Angaben von Michael Becker, der nördlichste der Welt. Und hat es mittlerweile in der Gegend zu einiger Berühmtheit gebracht. Jedes Jahr veranstaltet der Gärtner ein Oliven-Fest zu dem tausende Besucher pilgern, im Hain sitzen, gute Olivenöle probieren und einiges über den Baum erfahren. Dabei hatte alles 2005 als Experiment begonnen sagt Becker, der zu sich in die Küche eingeladen hat.“
O-TON 26 Michael Becker:
„Im Prinzip hab ich gedacht das muss funktionieren. Die Kölner Bucht ist einer der wärmsten Regionen, die es in Deutschland gibt im Winter. Also im Sommer nicht. Es ging ja eigentlich nur darum, ähm zu gucken, können die die Kälte ab oder können die das nicht? Und ja, ich, mein Vater hat gesagt jetzt bist du ganz bekloppt. Er als alter Obstbauer. Wir hatten immer schon eine Apfelplantage Pflaumen, Birnen und da lag die Olive ja auch irgendwie so dazwischen, das passte schon irgendwie.“
Autorin:
Und es passte wirklich. Nach ein paar Jahren gab es dann die ersten Ernten. 2020 waren es sogar 300 Kilo Oliven. Zusammen mit Freunden und Bekannten spannten sie Netze auf, pflückten die Oliven klassisch per Hand. Und dann? Dann war da der Traum vom eigenen Olivenöl aus Köln:
O-TON 27 Michael Becker
„Also das Problem bei Olivenöl ist, von der Ernte bis zur Presse, soll möglichst 24 Stunden sein. So was. Was machen Sie? 24 Stunden von hier also die nächste Presse wäre dann mehr oder weniger am Gardasee? Ah, das ist kaum zu schaffen. Und so mussten wir halt versuchen, irgendwoher eine Presse zu kriegen. Und dann haben wir dann im Prinzip in Italien eine Presse bestellt, die es halt im Baumarkt gibt, um die anscheinend wohl viele italienische Familien, die zwei, drei Bäume haben. Die machen da ihr eigenes. Aber das hat bei uns dann eben nicht ganz so gut funktioniert.“
Autorin:
Aus hundert Kilo Oliven wurden gerade einmal dreieinhalb Liter Öl:
O-TON 28 Michael Becker
„Das war natürlich ein Witz, Aber es war das erste hergestellte Olivenöl in Deutschland. Ich habe immer gesagt, das muss Olio di Cologne heißen.“
Autorin:
Der Geschmack war fantastisch, ähnlich einem italienischen Öl. Doch der Aufwand ist bislang zu groß. Jetzt experimentiert der Gärtner mit eingelegten Oliven.
O-TON 29 Michael Becker:
Das ist so sehr pikante Einlegemethode. Also natürlich Wasser, Kochsalz, Pökelsalz und Rosmarin, Thymian, Knofi, Lorbeerblätter, schon mal eine Zitrone oder Peperoncino. Das gibt dann so ein eigentlich ein Geschmackserlebnis. Und jeder, der das probiert ist eigentlich begeistert und ich mein, Oliven aus dem Rheinland wäre natürlich auch schon eine schöne Sache.“
Autorin:
Wenn da nicht noch einige Hürden wären:
O-TON 30 Michael Becker:
„Da muss dann auch auf Nährwerte geachtet werden. Also das Gesundheitsamt stand, nachdem wir das erste Öl gemacht haben, standen die am nächsten Tag schon bei uns. Und ja, sie verkaufen doch noch nicht das Öl. Und ich könnte mir aber vorstellen, dass das mit den Oliven eingelegt schon funktionieren würde, da würden wir jetzt mal so eine Testphase machen.“
Autorin:
Seit 19 Jahren stehen die Olivenbäume hier in Köln. Sie haben den Gärtner Michael Becker verändert. Mittlerweile ist er nicht mehr für seine Äpfel, Pflaumen und Rosen bekannt, sondern für den Oliven-Hain. Manchmal geht er abends durch die Reihen spazieren …
O-TON 31 Michael Becker:
„Also, ich muss Ihnen ehrlich sagen im Winter mache ich das sehr oft, weil ich dann auch immer, wenn ich merke, es wird ein bisschen kälter, Schiss kriege. Und in den ersten Jahren war das auch ganz extrem. Also, da bin ich immer, da war ich auch irgendwie total stolz. Ich bin ich auch jetzt noch stolz darauf. Das ist auch heute immer noch für mich irgendwie so ein so ein Highlight. Und wir machen im Olivenhain ja auch Olivenöl-Verkostungen, die auch immer total schön sind. Und ich habe dann vor ein paar Jahren noch mal neu geheiratet. Und dann haben wir tatsächlich auch einen Olivenhain, so halbwegs die Hochzeit gefeiert.“
Autorin:
Michael Becker glaubt fest daran, dass es die Olivenbäume auch in Deutschland schaffen könnten. Noch ist er der Einzige in der Kölner Bucht.
O-TON 32 Michael Becker:
„Aber ich denke einfach, wenn der eine oder andere Pionier da auch noch mal versucht, was zu machen, also hier in der Region, kann das funktionieren.“
Musik 8
"Un Héros Très Discret - Départ en Train" - Album: Jacques Audiard - Komponist: Alexandre Desplat - Länge: 0'28
Autorin:
Noch kann es dauern, bis die Olivenbäume hier heimisch werden. Vor allem bis es das erste Olivenöl gibt. Doch diese Versuche sind vielversprechend.
In Österreich haben die Agrorebellen große Pläne. Sie tüfteln zusammen mit der Uni Wien und dem Institut für Bodenkultur an einer Neuzüchtung. Die erste österreichische Olivensorte, sagt Markus Fink:
O-TON 33 Markus Fink:
„Nämlich aus einer alten italienischen Sorte. Die haben wir gekreuzt mit einer sehr tragefreudigen selbstfruchtenden und spanischen Sorte. Und aus dieser Kreuzung haben wir jetzt erste Pflanzen gewonnen und mal sehen, ob die auch wirklich selbstfruchtend sind und auch wirklich sehr freudig sind und auch wirklich so frostresistent sind wie die alte italienische Sorte. Aber da sind wir auf einem guten Weg.“
Autorin:
Und viele Landwirte sind auch offen dafür. Gerade die neuen Generationen. Im Marchfeld im Osten von Österreich steht der 25jährige Matthias Welleschitz im Olivenhain. Angesichts des Klimawandels muss man umdenken, findet er:
O-TON 34 Matthias Welleschitz:
„Es sind halt andere Herausforderungen als vor 30 Jahren. Und Landwirte sind ja bekannt dafür, dass sie kreativ sind. Und irgendwie wird es zu meistern sein. Ansonsten schauts für alle schlecht aus.“
Autorin:
Matthias Welleschitz hofft jetzt auf seine ersten Olivenernten. Fallen die gut aus, will er zusammen mit seiner Familie weitere Olivenbäume pflanzen. Genug Flächen sind vorhanden
Die Auswirkungen des Klimawandels befördern radikale Umwälzungen in der Architektur. Alle sind sich einig, dass das klimaneutrale Bauen schnell umgesetzt werden muss. Die Bauwirtschaft verbraucht besonders viel Energie. Neben der Effizienz von Bautechniken gewinnt die Zirkularität (Kreislaufwirtschaft) an Bedeutung. Von Moritz Holfelder (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Moritz Holfelder
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Thomas Birnstiel, Beate Himmelstoß
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
radioWissen hat einen weiteren spannenden Beitrag zum Thema:
Regenerative Kulturen – Viel mehr als nachhaltig
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Der Maler, Bildhauer, Schriftsteller und Filmemacher Hubert von Herkomer zählt zu den vielseitigsten Multitalenten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Ein unkonventionelles Genie, das sich in Großbritannien an die Spitze malte. Von Ulrike Beck (BR 2022)
Credits:
Autorin: Ulrike Beck
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christian Baumann und Hemma Michel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Sonia Fischer, Historikerin, Leiterin des Herkomer-Museums in Landsberg am Lech;
Hartfried Neunzert, Kunsthistoriker, ehemaliger Leiter des Herkomer-Museums in Landsberg am Lech;
Robert Fischer, Filmhistoriker, Autor und Regisseur des Dokumentarfilms „Auf eigenen Schwingen: Die Visionen des Sir Hubert von Herkomer“
Einen weiteren hörenswerten Beitrag von radioWissen finden Sie hier:
Vincent van Gogh - Begrüner der modernen Malerei
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Literatur-Tipps:
von Herkomer, Hubert: The Herkomers.
Band1. Macmillan, London 1910; Band2. Macmillan, London 1911;
deutsche Übersetzung: Die Herkomers. Hrsg. von Hartfried Neunzert, Neues Stadtmuseum, Landsberg am Lech 1999
Diese ausführliche Familiengeschichte, die gleichzeitig die Autobiografie Herkomers beinhaltet, bietet eine aufschlussreiche Innenschau in das Leben und die Ansichten des Mannes, der es „auf eigenen Schwingen“ nach oben schaffte.
Neunzert, Hartfried (Hrsg.): Sir Hubert von Herkomer. Sonderband der Reihe „Kunstgeschichtliches aus Landsberg am Lech“, Neues Stadtmuseum, Landsberg am Lech 1988
Eine gute Übersicht über Leben und Werk Hubert von Herkomers - mit Illustrationen seiner wichtigsten Werke und Lebensabschnitte
Für viele Menschen sind Hexen auch heute real. US-Forscher fanden bei einer Befragung in 95 Ländern heraus, dass mehr als 40 Prozent glauben, dass böse Hexen anderen schaden können. Im frühneuzeitlichen Europa fielen Schätzungen zufolge Zehntausende Frauen den Hexenverfolgungen zum Opfer. Autorin: Claudia Steiner
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Gudrun Skupin
Technik: Christine Frey
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Stefan Eisenhofer, Kurator im Museum Fünf Kontinente.
Gertrude Nkrumah, Historikerin und Gender-Forscherin an der University of Education in Winneba in Ghana.
Dr. Sarah Rafajlovic, Ethnologin, Ann-Christine Woehrl, Fotografin.
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Hexer und Heiler - Eine Schattengeschichte der Deutschen
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RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Sie fliegen auf Besen, tanzen um Feuer, haben feuerrote Haare und schwarze Katzen, Kontakt zu Geistern und sogar dem Teufel, dem sie den Hintern küssen, um sich dann mit ihm zu vermählen.
MUSIK kurz hochkommen lassen
Sie praktizieren magische Rituale, murmeln Zaubersprüche und können mit ihren übernatürlichen Kräften anderen schaden: Hexen.
MUSIK hochkommem
SPRECHERIN
Die meisten denken vermutlich sofort an Hexenverbrennungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Doch der Glaube an Hexerei und die Angst davor sind kein Phänomen der Vergangenheit. Für viele Menschen sind Hexen real – auch im 21. Jahrhundert.
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The dark lord 0‘52
SPRECHERIN
Ein Forschungsteam der American University in Washington befragte mehr als 140.000 Menschen in 95 Ländern. Demnach glauben mehr als 40 Prozent, dass Hexen anderen Leid zufügen können. Die Studie ergab, dass der Glaube an die dunkle Macht von Hexen vor allem in Ländern mit schwachen Institutionen, geringem sozialen Vertrauen und geringer Innovationskraft präsent ist. Besonders verbreitet ist der Hexenglaube zum Beispiel in Marokko, Tunesien, Tansania und Kamerun, Mittel- und Südamerika, dem Nahen Osten und Russland. Auch in Teilen Ghanas werden immer wieder Frauen als Hexen diffamiert, verstoßen, bedroht oder sogar getötet. Die Historikerin und Gender-Forscherin Gertrude Nkrumah unterrichtet an der University of Education in Winneba in Ghana (Aussprache bei "Hexen iXm6011_00003 Gertrude Nkrumah Historikerin und Genderforscherin Ghana" in „Wissen und Forschung“ 0.34 Sek).
O-TON 1 (Gertrude, 3, 3.34 The point …. about it, 4.48 Usually … chicken) – Overvoice
Was ich betonen möchte, ist, dass es solche Vorkommnisse nur in bestimmten Regionen Ghanas gibt. Die meisten Menschen in Ghana aber wissen darüber kaum etwas. / Normalerweise ist es so, wenn eine Person beschuldigt wird, über Hexenkräfte zu verfügen, dann wird die Person in ihr Dorf gebracht, wo mit besonderen Ritualen versucht wird herauszufinden, ob die Frau eine Hexe ist oder nicht, zum Beispiel indem man ein Huhn schlachtet.
MUSIK: Secret proofs red 0‘27
SPRECHERIN
Bei dem Ritual wird einem Huhn die Kehle durchschnitten. Die Art, wie der Vogel nach seinem Tod auf der Erde liegt, entscheidet dann darüber, ob es sich bei der beschuldigten Frau um eine Hexe handelt oder nicht. Manchmal findet auch eine Beschau der Eingeweide des Tieres statt. Die deutsch-französische Fotografin Ann-Christine Woehrl porträtierte in der abgeschiedenen Northern Region Frauen, die als Hexen bezichtigt werden. In ihrer Schau mit dem Titel „Witches in Exile“ – also Hexen im Exil – 2023/24 im Museum Fünf Kontinente in München porträtiert sie Frauen, die in sogenannten Witch Camps leben - das sind einfache Dörfer, in denen ausschließlich Frauen leben, die als Hexen stigmatisiert werden. Ann-Christine Woehrl:
O-TON 2 (2 Woehrl, 00.48)
Alle Frauen tragen natürlich das gleiche Schicksal, dass sie meist lebenslänglich aus ihren Dörfern, also Dorfgemeinschaften und Familien, ausgegrenzt wurden und Zuflucht in einem sogenannten Witch Camp gefunden haben. Und insofern ist natürlich das Schicksal, was sie da tragen, die sind da schon auch sehr gezeichnet davon.
SPRECHERIN
Manchmal haben die Frauen noch Kontakt zu ihren Familien, oft aber sind sie ganz auf sich alleine gestellt. Sie bestellen ein kleines Feld oder klauben auf Märkten Körner zusammen, die auf den Boden gefallen sind. Andere Menschen fürchten sich vor ihren vermeintlich bösen Kräften und meiden sie. Die Frauen selbst sehen sich nicht als Hexen, sagt Ann-Christine Woehrl:
O-TON 3 (2, Woehrl, 01:40)
Von den Frauen, die ich dort getroffen hat, hat keine von sich behauptet, dass sie eine Hexe sei, aber grundsätzlich das Phänomen haben sie nicht in Frage gestellt. Ich habe ganz konkret auch die Frage damals gestellt: Siehst du dich als Hexe? Und alle haben gesagt: Nein, ich wurde falsely accused. Aber ich glaube, um die Existenz von Witches, von Hexen, daran wird gar nicht gezweifelt, dass es die gibt, weil eben dieser Glaube so verankert ist.
MUSIK: Nocturnal research red. 0‘25
SPRECHERIN
Es gibt in Ghana auch den Glauben an Hexer, also Männer, denen magische Kräfte nachgesagt werden. Doch für Männer ist dieses Label meist nicht so gefährlich, sagt Gertrude Nkrumah:
O-TON 4 (3, Gertrude, ca 10.48, Mostly … protection) Overvoice
Meistens denken Menschen, dass auch Männer über Hexenkräfte verfügen können, aber sie glauben, sie nutzen es für Gutes, anders als Frauen. Meiner Ansicht nach ist das vor allem deshalb so, weil Frauen in einer verletzlicheren Position sind. Es ist leichter, sie zu beschuldigen, besonders wenn sie keinen Schutz haben.
SPRECHERIN
Oft treffen die Vorwürfe die Schwächsten der Gesellschaft. Je nach Land, Region und gesellschaftlicher Situation werden neben Frauen auch marginalisierte Gruppen wie Waisen, mittellose, junge Männer oder Menschen mit Albinismus an den Pranger gestellt. Doch wie kommt es, dass jemand als Hexer oder Hexe bezichtigt wird? Die Frauen in Ghana erzählen, dass manchmal Neid und Missgunst eine Rolle spielen. Teilweise werden die Frauen auch für Krankheiten, Epidemien, Unfälle, Dürren oder Todesfälle verantwortlich gemacht. Meist sind die Ankläger keine Unbekannten. Die Fotografin Christine Woehrl:
O-TON 5 (2, Woehrl, 5.05)
Oft sind es aber natürlich auch Familienmitglieder, die diese Frauen anklagen. (…) Also es ist ja oft auch ein Thema in der polygamen Gesellschaftsstruktur, dass natürlich eine Frau auch von einer Rivalin verstoßen wird oder sie eine Traumerscheinungen hat.
SPRECHERIN
Eine Frau aus dem Witch Camp erzählte Ann-Christine Woehrl zum Beispiel, dass die Zweitfrau ihres Mannes sie beschuldigt habe, für die Krankheit ihres Sohnes verantwortlich zu sein. Die erste Ehefrau wurde daraufhin als Hexe verstoßen und musste das Dorf verlassen. Die Zweitfrau aber stieg dadurch gesellschaftlich auf und wurde zur Hauptfrau.
MUSIK: Dark figures 0‘47
SPRECHERIN
In der ghanaischen Gesellschaft ist der Glaube an Hexen tief verankert. Die Frauen dienen als Sündenböcke für Probleme. Indem vermeintliche Hexen verstoßen und vertrieben werden, sollen Konflikte zum Beispiel im Dorf gelöst werden. Für die geächteten Außenseiterinnen können die Anschuldigungen fatale Folgen haben: 2020 machte in Ghana die Ermordung von Akua Denteh Schlagzeilen (Aussprache: https://www.youtube.com/watch?v=my8AQYLXyww Aussprache des Namens bei 00.10). Die als Hexe diffamierte 90-Jährige wurde auf der Straße erschlagen – eine Gruppe von Menschen beobachtete die Tat. Videos des Mordes landeten in den sozialen Medien. Dies veranlasste die Regierung dazu, gegen Hexenverfolgung und Hexenanklagen vorzugehen. Die beiden Haupttäterinnen wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Inzwischen gibt es Bestrebungen, die Verfolgung von Hexen als Straftatbestand zu etablieren, sagt Stefan Eisenhofer, Kurator der Ausstellung im Museum Fünf Kontinente. Doch der Weg der ghanaischen Regierung dahin ist nicht einfach:
O-TON 6 (4, Eisenhofer, 6.06)
Wenn die sagen, wir folgen vielen Menschen der eigenen Bevölkerung, für die Hexerei eine soziale Realität ist und die das als integralen Bestandteil auch vom Gerechtigkeitsempfinden und Strafverfolgung sehen, damit kicken sich die afrikanischen Staaten sozusagen aus der Weltengemeinschaft der anderen Staaten aus. Wenn sie dann aber Hexerei für nicht existent betrachten, dann hat man zum Teil aus der eigenen Bevölkerung Gegenwind, weil die sagen: Ja, ihr folgt wieder europäischen, kolonial-zeitlichen Vorgaben und tretet auf afrikanischem Kulturerbe mit Füßen herum.
MUSIK: Deserted and destroyed (reduziert) 0‘38
SPRECHERIN
Es gibt afrikanische Länder, in denen die Kolonialgesetzgebung weiter besteht, die Hexerei schlicht als nicht existent betrachtet. Doch Gesetze helfen wenig, wenn es um Angst geht. Erfolgreicher sind zum Beispiel Ansätze von Pfingstkirchen, in denen der Heilige Geist eine große Rolle spielt. Viele der christlichen Gemeinschaften akzeptieren den Glauben an Hexerei, an die Macht des Bösen und die Kräfte des Teufels. Der Ethnologe Stefan Eisenhofer.
O-TON 7 (Eisenhofer, 4, 16.02)
Und sowohl die Menschen, die sich verhext fühlen, können Zuflucht finden in dieser christlichen Gemeinschaft als auch diejenigen, denen Hexerei vorgeworfen wird, weil dann sozusagen die göttliche Kraft diese Mächte überstrahlt und ja, in den Griff bekommt und aufhebt und ins Positive wenden kann. Also den größten Erfolg haben sozusagen nicht die, die so mit einer europäischen Aufklärungsidee ‚Jetzt müssen die Menschen mal besser gebildet werden, dann erledigt sich das von alleine‘… So einfach ist es offenbar nicht. Oft haben diejenigen größeren Erfolg, die sich so irgendwie in vertrauteren Argumentationsmustern bewegen.
MUSIK: Foreboding fate 0‘45
SPRECHERIN
In einigen Ländern wie zum Beispiel Kamerun gilt Hexerei als Tatbestand im Strafgesetzbuch. Hexen, die von Hexenfindern identifiziert werden, drohen langjährige Gefängnisstrafen. In Ghana versuchen Menschenrechtsorganisationen die Bevölkerung mit drastischen Plakaten wach zu rütteln. Es sind Zeichnungen von Frauen, die verfolgt oder geschlagen werden. Die Botschaft lautet: „Auch Du könntest an der Stelle dieser Frau sein“ oder „Das könnte auch deine Mutter sein.“ Ab und an gelingt es durch Verhandlungen mit Dorfgemeinschaften, dass Frauen aus den Witch Camps wieder zu ihren Familien zurückkehren können. Doch manche müssen erneut in das Witch Camp flüchten, weil sie neuen Anschuldigungen oder Verfolgungen ausgesetzt sind. Stefan Eisenhofer betont, dass der Glaube an Hexen in vielen Regionen unabhängig vom Bildungsniveau verbreitet ist.
O-TON 8 (Eisenhofer, 4, 2.04)
Ein anderer wichtiger Punkt ist für mich: Das ist kein Phänomen irgendwelcher rückständiger Gebiete ist (…), sondern dass Hexenglauben auch für viele großstädtische, gebildete Menschen einfach soziale Realität ist. Und das betrifft auch Diaspora-Kreise. Wenn wir jetzt zum Beispiel diese Bilder hier sehen, dann ist es für uns in Mitteleuropa sozialisierte Menschen, erwirkt das ja eher Mitleid, Sympathie, Empathie. Aber es gibt eben auch Menschen, die den Bildern vielleicht skeptischer gegenüberstehen und denken: Na ja, so ganz von ungefähr werden die schon nicht in diesem Hexenlager sein. Und das ist tatsächlich (…) für mich als Ethnologe immer so eine Gratwanderung, weil ich halt vor allem auch vermeiden will, mit dem mitteleuropäischen, urbanen, deutschen Zeigefinger zu zeigen: Wir haben wieder die Weisheit mit Löffeln gefressen. Und jetzt bringen wir dann mal ein bisschen Bildung und unsere Werte und unsere Weltsicht in andere Weltenteile und dann wird alles gut.
MUSIK: Main title from The name oft he rose 1‘07
SPRECHERIN
In Europa dauerte es lange, bis Hetzjagden auf vermeintliche Hexen ein Ende fanden. In Deutschland zum Beispiel wurde 1775 die letzte angebliche Hexe umgebracht, in der Schweiz 1782. In den Jahrhunderten zuvor wurden infolge der Inquisition – der kirchlichen Verfolgung – aber auch durch Urteile weltlicher Schöffengerichte Zehntausende Menschen – überwiegend Frauen - qualvoll getötet. Sie starben durch Folter, bei Hexenprüfungen oder auf dem Scheiterhaufen.
MUSIK kurz hoch
SPRECHERIN
Die Kirche spielte in dem dunklen Kapitel der europäischen Geschichte eine wichtige Rolle: Der im 13. Jahrhundert lebende Kirchentheoretiker Thomas von Aquin ging davon aus, dass Hexerei wie die Tierverwandlung, Hexenflüge oder Unwetterzauber mit Hilfe des Teufels ausgeführt werden kann. Die römische Kurie ernannte Inquisitoren, die durch Bistümer zogen, um Hexenverfolgungen zu organisieren - so auch der Dominikanermönch Heinrich Kramer. Grundlage vieler Hexenprozesse war sein Werk, ein fast 700 Seiten umfassendes Buch mit dem Namen „Hexenhammer“. Das 1487 erschienene Buch diente als Anleitung zur Überführung und Verurteilung von vermeintlichen Hexen. Die Münchner Ethnologin Sarah Rafajlovic (Aussprache - "Hexen Sarah Rafajlovic iXm6127_00001" bei 0.28 Sek.):
O-TON 10 (Sarah Rafajlovic, 8.03 /11.37)
Der Hexenhammer liefert ein ganzes Spektrum an Dingen, wie man herausfinden kann, ob jemand eine Hexe ist. Da ist auch klar definiert, was Hexe bedeutet und Anweisungen für den Inquisitor sind vorhanden. / Er wurde alleine zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert 16-mal neu aufgelegt. Das ist für eine Zeit, in der der Buchdruck und das Lesen noch gar nicht so verbreitet waren, richtig viel. Und das hat es auch ermöglicht, dass dieser Glaube zum Beispiel nach Nordamerika exportiert wurde und dass dort auch Hexenpogrome stattfinden konnten.
MUSIK: Dark activities 0‘20
Atmo Pesttrommel 0‘15
SPRECHERIN
Die Hexenverfolgung in Europa fiel in die sogenannte „kleine Eiszeit“, eine Kältewelle mit langen Wintern, schlechten Ernten und Hunger. Auch die Pest wütete. Ihren Höhepunkt erreichten die Hexenprozesse während des Dreißigjährigen Kriegs. Die Frauen dienten als Sündenböcke für Missernten, Schäden, Krankheiten und den Tod. Ihnen wurde vorgeworfen, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben und mit ihm zu buhlen. Überführt wurden sie unter anderem mit der sogenannten „peinlichen Befragung“, gemeint ist Folter, unter der die Beschuldigten Schadenzauber oder Tanzorgien mit dem Teufel gestanden und oft auch weitere Menschen als Hexen beschuldigten, die dann ebenfalls ermordet wurden. Manchmal dienten auch Muttermale dazu, um eine angebliche Hexe zu identifizieren – teilweise in Kombination mit der Nadelprobe, bei der in ein Muttermal gestochen wurde. Floss kein Blut, war die Verdächtige als Hexe entlarvt. Teilweise spielte aber auch nur die Form oder die Körperstelle, an der sich ein Muttermal befand, eine Rolle. Sarah Rafajlovic:
O-TON 11 (Sarah Rafajlovic, 10.05)
Das kann alles sein, das kann auch ein Leberfleck irgendwie in einer seltsamen Form am Rücken oder auf dem Hintern sein, was der Inquisitor quasi als solches definiert. Es gibt verschiedene Dinge, die durch den Hexenhammer als Zeichen einer Hexe gesehen wurden.
MUSIK: Howling moon 0‘42
SPRECHERIN
Eine andere Methode, um herauszufinden, ob es sich bei einer Frau um eine Hexe handelte, war die Wasserprobe. Dafür wurden die vermeintlichen Hexen in ein fließendes Gewässer geworfen, teilweise wurden Steine an sie gebunden. Gingen die Frauen unter, war ihre Seele rein, der Vorwurf falsch. Viele Frauen überlebten die Probe aber nicht und ertranken. Wenn die Frauen aber an der Oberfläche trieben, war für die Inquisitoren klar, dass sie mit übernatürlichen Mächten im Bunde standen – diese Frauen landeten auf dem Scheiterhaufen. Sarah Rafajlovic:
O-TON 12 (Sarah Rafajlovic, 8.50)
Man muss sich vorstellen, dass Frauen zu der Zeit mehrere Unterröcke auch anhatten, wo sich Luftpolster bilden konnten, was die logische, rationale Erklärung dafür ist, warum Frauen nicht untergegangen sind. Ich habe in meiner Forschung diese Wasserprobe auch in Südosteuropa gefunden, wo der Magieglaube ambivalent geprägt ist - also weder gut noch böse, sowohl schädlich als auch nützlich. Und da hat man diese Frauen an einem Seil ins Wasser geworfen und hat beide Frauen wieder rausgezogen und beide Frauen haben überlebt - mit dem Unterschied, dass diejenige, der der Hexereivorwurf gemacht wurde, der negativen Magie abschwören musste. Sie durfte aber weiterhin als Heilerin in die Gesellschaft tätig sein.
MUSIK: Healing process 0‘42
SPRECHERIN
Als die Schulmedizin in Serbien noch nicht etabliert war - hatten dort Heilerinnen die Funktion von Ärztinnen. Sie kannten sich mit Kräutern aus, wussten, welche Pflanzen bei verschiedenen Beschwerden helfen. Anders als in vielen europäischen Ländern schaffte es die orthodoxe Kirche nicht, die Heilerinnen als Hexen zu diffamieren, sagt Sarah Rafajlovic, die über Frauen, Magie und das Okkulte im post-sozialistischen Serbien promovierte.
O-TON 13 (1, Rafajlovic, 20.54)
Es gab nie ein so großes Erstarken der eigenen Kirche, dass diese Kirche das Bedürfnis gesehen hätte, das irgendwie (…) zu vertreiben. Im Gegenteil - die Regierung hat im 19. Jahrhundert proklamiert, dass Leute, die andere Leute als Hexen diffamieren, vor Gericht gestellt werden. (…) Und das hat dazu beigetragen, dass die traditionelle Magie immer noch vorhanden ist.
SPRECHERIN
Noch heute gibt es vor allem in ländlichen Regionen sogenannte Babas, denen magische Kräfte nachgesagt werden. Baba bedeutet Großmutter. Hilfesuchende finden die Frauen durch Mund zu Mund-Propaganda. Aufgesucht werden sie bei verschiedensten Problemen und Sorgen, sagt Sarah Rafajlovic:
O-TON 14 (1, Sarah, 21.50)
Auch wenn man glaubt, jemand hätte den bösen Blick über einen gebracht. (…) Der häufigste Grund sind Bettnässen bei Kindern zum Beispiel oder wenn ein Kind viel weint, oder wenn man Eheprobleme hat, dann ist das auch ein Anlaufpunkt oder auch Angst, also grundsätzlich Depressionen und Angstzustände.
SPRECHERIN
In serbischen Städten wiederum gibt es heutzutage Frauen, die sich selbst als Heilerinnen bezeichnen und die auf Basis der traditionellen Magie ein neues Magieverständnis entwickeln, oft angereichert durch esoterische Elemente. Einen ähnlichen Trend gibt es auch in Deutschland. Hier geben selbst ernannte Hexen zum Beispiel auf dem Videoportal TikTok ihr Wissen weiter. Sie posten kurze Clips mit Kerzen, Kristallen und Tarotkarten, erklären Rituale und Sprüche, die gegen Liebeskummer oder auch bei Geldproblemen helfen sollen. Die Frauen sehen sich als gute Hexen, die einen Missstand beheben und ein Problem zum Positiven wenden wollen.
MUSIK: Die kleine Hexe 0‘38
SPRECHERIN
Ende des 19. Jahrhunderts machte „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe die Walpurgisnacht populär. Faust und Mephisto machten sich in dem Werk auf den Weg zum Brocken und trafen unterwegs auf eine Hexe. Die Sagen rund um Hexen nutzt inzwischen der örtliche Tourismusverband. In der Nacht zum 1. Mai strömen viele Menschen – auch wenn sie nicht wirklich an Hexen glauben - auf den „Blocksberg“, den Brocken im Harz, um die Walpurgisnacht zu feiern. Mit Hilfe von gruseligen Masken und Feuern werden böse Geister vertrieben. Benannt ist die Walpurgisnacht übrigens nach der angelsächsischen Benediktinerin Walburga, die im 8. Jahrhundert nach Deutschland kam. Der 1. Mai ist der Tag ihrer Heiligsprechung – mit dem Hexenreigen hat die Ordensfrau nichts zu tun, vielmehr gilt sie als Schutzpatronin gegen schlechte Ernten, Seuchen und böse Geister.
MUSIK: Waldgebirge 0‘46
SPRECHERIN
Das Bild von Hexen war auch lange nach dem Ende der Hexenverfolgung in Europa noch lange negativ geprägt. In vielen Märchen der Gebrüder Grimm, die im 18. Jahrhundert entstanden sind, kommt eine böse Hexe vor. In „Brüderchen und Schwesterchen“ ist zum Beispiel die böse Stiefmutter eine Hexe. Im „Froschkönig“ verwandelt eine Hexe einen Prinzen in einen hässlichen Frosch. Und in „Hänsel und Gretel“ sperrt die Hexe im dunklen Wald Hänsel in einen Käfig ein, weil sie ihn mästen und verspeisen möchte. Sarah Rafajlovic:
O-TON 15 (1, Rafajlovic, 32.44)
Das fußt immer noch auf der inquisitorischen Hexen-Vorstellung. Das habe ich so auch in der Sagen- oder Märchenwelt in Südosteuropa gefunden. Da gibt es eine Hexe, in Russland heißt die Baba Jaga, in Südosteuropa ist es die Baba Roga, die im Wald in einem Haus wohnt, das auf Hühnerbeinen steht, umzäunt von Menschen-Gebeinen und die quasi auch verirrte Wanderer verspeist oder ihr Unwesen im Wald treibt.
MUSIK: Ein neuer Tag 0‘36
SPRECHERIN
Es hat einige Zeit gedauert, bis Hexen in Geschichten auch gut sein konnten. Mit der „Kleinen Hexe“ im Kinderbuch von Otfried Preußler hat der Leser eher Mitleid, denn sie wird mit ihren 127 Jahren von den anderen, viel älteren Hexen nicht für voll genommen und ausgeschlossen. Auch verbreitet sie keine böse, schwarze Magie, sondern hilft armen Frauen, die im Wald Klaubholz sammeln, rettet einen Ochsen vor dem Schlachter und lässt an Fastnacht zur Freude der Kinder Krapfen regnen. Sarah Rafajlovic:
O-TON NEU 16 (1, Sarah, 33.25)
Es hat sich riesig was verändert, wenn wir gerade Harry Potter anschauen und dann die Entwicklung (…) wie 80er und 90er-Jahre, (…) was so für ‚Coming of age‘ steht, (…) Übergang von der Kindheit und Pubertät, der auch so ein bisschen magisch konnotiert ist, (…) wo das Thema ganz gut passt. Aber das ist (…) nur dadurch möglich, dass dieses Bild romantisiert wurde und dann auch in den 70er und 80er-Jahren positiv umgedeutet wurde.
MUSIK: Dark vision 0‘39
SPRECHERIN
Der Glaube an Hexen, Zauberer und Zwischenwesen zieht sich durch alle Kulturkreise und Zeiten. Er prägt Sagen und Erzählungen, oft aber auch den Alltag vieler Menschen, für die Hexen real sind. Der Glaube an Hexen lässt sich nicht einfach verbieten. Denn selbst wenn es entsprechende Gesetze gibt - die Angst von dunklen Mächten ist in vielen Kulturen dennoch tief verwurzelt.
Musik, die Farben hat. Geschmack mit Form. Raue Klänge. All das können synästhetische Wahrnehmungen sein, also verknüpfte Sinneswahrnehmungen. Von Yvonne Maier (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Yvonne Maier
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Rahel Comtesse
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Christian Deutschmann, bildender Künstler, Synästhetiker;
Martin Schmiederer, Philosoph, Deutsche Synästhesie-Gesellschaft, Synästhetiker;
Prof. em. Manfred Bartel, Hochschule Aalen
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Seit Beginn der Seefahrt ist das Meer eine Brücke zwischen Kontinenten - doch ohne festen Boden, ein gefährlicher Ort. Wer einmal den Naturgewalten ausgesetzt war, weiß: Gut, dass es Seenotretter gibt. Von Christiane Neukirch (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann, Benedikt Schregle
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Gero Klemke (Marinezeichner, 1987 - 2002 Seenotretter bei der DGzRS);
Hanno Renner (Vormann auf dem Seenotkreuzer "Anneliese Kramer" Cuxhaven);
Torsten Brumshagen (Rettungsmann auf dem Seenotkreuzer "Anneliese Kramer" Cuxhaven)
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Das ganz normale Leben scheint heute in aller Munde zu sein. Was in anderen Zeiten als langweilig gilt, wirkt plötzlich attraktiv: Gewohnheiten und Alltagsrituale, die vor der Corona-Pandemie selbstverständlich, wenn nicht gar lästig waren. Aber Normalität - was ist das überhaupt? Von Justina Schreiber (BR 2021)
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Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Hemma Michel
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Prof. Dr. Andreas Hamburger, Psychoanalytiker und Dozent an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin
Prof. Dr. Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der LMU München
Prof. Dr. Volker Reinhardt, Historiker an der Universität Fribourg (CH)
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Mangas boomen auf dem deutschen Buchmarkt. Doch hierzulande schauen noch einige etwas irritiert auf die dicken Taschenbücher mit dem markanten Zeichenstil aus Japan. Vor allem wegen des darin vertretenen Schönheitsideal der Frau. Was ist dran an dem Vorwurf? Von Jean-Marie Magro (BR 2022)
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Graphic Novels sind Comic in Romanlänge. Erfolgreiche Autoren erzählen im BR-Podcast Nachtstudio, wie sie Bild und Text miteinander verwoben haben:
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Comic-Übersetzerin Erika Fuchs
Der BR-Podcast Bayerisches Feuilleton hat eine interessante Folge zu Erika Fuchs. Sie erfand Rufe wie "Seufz" und "Ächz" und gab Donald Duck einen eigenen Slang. Fast 40 Jahre übersetzte Erika Fuchs die Sprechblasen von Entenhausen:
Comic-Übersetzerin Erika Fuchs - "Dem Ingeniör ist nichts zu schwör"
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Diese Graphic Novels zeigen München von seiner dunklen Seite
Außenseiter, Verlierer und Spinner bevölkern die Werke der Comiczeichner Frank Schmolke und Uli Oesterle. Ihre Graphic Novels blicken in die Abgründe der Gesellschaft - und Münchens.
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Schattenseiten einer Stadt - München als Comic Noir
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Was ist der Krieg? Und wieso tendiert er in der Moderne oft zur äußersten Gewalt? Antworten darauf gibt es bei einem Klassiker der Militärtheorie: Carl von Clausewitz. Ein Denker, der das Verhältnis von Krieg und Politik auslotet und dessen Theorie heute wieder erschreckend aktuell geworden ist. Von Jerzy Sobotta
Credits
Autor dieser Folge: Jerzy Sobota
Regie: Kirsten Böttcher
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Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Bernhard Kastner
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Prof. Gunnar Hindrichs, Philosoph, Basel
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Literaturtipps:
Carl von Clausewitz, „Vom Kriege“: Das Hauptwerk des Kriegstheoretikers, erstmals 1832 posthum veröffentlicht. Auch als günstige und gekürzte Reclam-Ausgabe erhältlich.
Dietmar Schlösser, „Carl von Clausewitz“: Eine kurze Einführung in sein Denken und Leben. Gibt einen guten Überblick zur Erstbeschäftigung.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Es gibt Stunden, in denen die Geschichte plötzlich über das Leben der Menschen hereinbricht und alles verändert. Einer dieser Momente war die Nacht zum 24. Februar 2022.
ATMO: Luftalarm-Kiew
01 OT: ARD-Nachrichtensprecher: Der russische Präsident Putin hat eine Militäroperation auf ukrainischem Gebiet angekündigt. Er habe die Entscheidung getroffen, sagte er in der Nacht in einer Fernseheransprache.
02 OT: Putin: … (russisch, 6 Sek. – Ohne OV)
Overvoice männlich:
Wir haben eine militärische Spezialoperation eingeleitet
03 OT: Wolodimir Selenskyj: Russland hat unser Land am frühen morgen brutal angegriffen, so wie es Nazi-Deutschland während des zweiten Weltkriegs tat. (OT ist overvoiced)
SPRECHERIN
Für die Ukraine hat Russlands militärischer Großangriff unermessliches menschliches Leid gebracht. Für Europa hat er eine Idee zerstört: Die Idee einer Europäischen Friedensordnung. Der Krieg ist zurück und er scheint die Welt in sich hineinzuziehen …
Musik 2: The war rooms - 29 Sek
SPRECHER
Doch was ist Krieg? Wie bricht er aus? Und wieso führt er immer wieder in die äußerste Gewalt? Das sind Fragen, die sich auch Carl von Clausewitz gestellt hat: Der wohl wichtigste moderne Theoretiker des Krieges. Ein preußischer Offizier, der viele Kriege gesehen und sein ganzes Leben über sie nachgedacht hat.
04 OT Münkler: Intellektueller der das Wesen…
„Also im Prinzip würde ich sagen: Clausewitz ist ein verkleideter Intellektueller, der versucht, ja im buchstäblichen Sinne das Wesen des Krieges – nicht seine Erscheinungen – sondern das Wesen des Krieges gedanklich zu erfassen.“
SPRECHER
Das sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Clausewitz. „Vom Kriege“ heißt das dicke Buch, in dem der Preuße posthum seine Gedanken über den Ursprung und die Natur des Krieges hinterlassen hat. Ein fast 200 Jahre alter Wälzer, den man heute wieder lesen muss, sagt Herfried Münkler.
05 OT Münkler: Clausewitz als politische Erkundungsfahrt
„Ein intellektuelles Abenteuer ist er in Zeiten, in denen allgemein Frieden herrscht. Eine politische Erkundungsfahrt ist es hingegen in Zeiten, in denen wir das Gefühl haben, der Krieg drängt von vielen Seiten auf uns herein. Und wir kommen nicht weiter, wenn wir sagen: Und du bleibst draußen.“
Musik 3: The war rooms – siehe oben – 58 Sek
06 OT Münkler: Gefährliche Welt mit Gedanken durchdringen
„Also Clausewitz gibt uns Kategorien in die Hand, mit denen wir auch in eine bedrohliche und gefährliche Welt hineinschauen können. Und sie überwältigt uns nicht, sondern wir durchdringen sie mit der Kraft des Gedankens.“
ATMO: Luftalarm: Ukraine
07 OT Von der Leyen: It is president Putin who is bringing war back to Europe.
08 OT Baerbock: Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.
09 OT Steinmeier: Ja dies ist eine Zäsur, eine tiefe Zäsur und wir spüren das bis ins Mark. Sie, Ihre Familien und auch ich selbst.
SPRECHERIN
Der Krieg als Zäsur. Er hat in ganz Europa den Glauben erschüttert, dass mit dem Fortschritt der Frieden kommt. Plötzlich ist sie zurück, die Angst vor einem Zustand der nackten Gewalt. Wie umgehen mit ihr? Was offenbart der Krieg über unsere Gesellschaft?
(Musik aus) Um einige Antworten zu bekommen, können wir zurückgehen, zum Ursprung des modernen Krieges: Zurück in die Zeit von Carl von Clausewitz.
MUSIK 4 – Old and new – 59 Sek
SPRECHER
Auch er erlebt eine Welt im Aufruhr: Geboren 1780, zu Beginn der Französischen Revolution ist er 9 Jahre alt. Mit zwölf tritt Clausewitz in die preußische Armee ein, um Offizier zu werden. In diesem Jahr beginnt der Revolutionskrieg Frankreichs gegen die europäischen Königtümer – und mit ihm ein über zwei Jahrzehnte andauernder Europäischer Großkrieg um die Zukunft des Kontinents.
SPRECHERIN
Clausewitz sieht diesen Krieg schon mit Dreizehn in den Schützengräben von Mainz. Er sieht ihn als junger Offizier in der großen Schlacht vor Jena und Auerstedt, als Preußen verheerend geschlagen wird. Und er sieht ihn 1812, als er im Dienste Russlands gegen Napoleon kämpft. Er sieht, wie dessen 600.000 Mann starke Armee im russischen Winter von Hunger, Frost und Kanonen aufgerieben wird.
SPRECHER
Über zwanzig Jahre Krieg und die Umwälzung der politischen Ordnung in ganz Europa. Etwas an diesem Krieg hat sich fundamental verändert: Was genau es ist, darauf sucht Clausewitz sein Leben lang nach einer Antwort. Es hat etwas mit der Natur des Krieges in der Moderne zu tun.
SPRECHERIN
Auf dem Schlachtfeld beobachtet er bei den französischen Soldaten eine noch nie dagewesene Energie und Kampfbereitschaft. Es ist die Hingabe für die Sache der Revolution, die sie von einem Sieg zum nächsten eilen lässt.
Musik 5: Lashed tot he Mast – 13 Sek
ZITATOR CLAUSEWITZ
Der Krieg war urplötzlich wieder eine Sache des Volkes geworden, und zwar eines Volkes von 30 Millionen, die sich alle als Staatsbürger betrachteten.
SPRECHERIN
Im Kampf ums Überleben erlässt die junge Republik 1793 eine Wehrpflicht – die Levée en masse. Es ist die erste Wehrpflicht in Europa, die hunderttausende begeisterte junge Männer zu Soldaten macht. Statt Diplomatie und den Kabinettstischen der Monarchen, ist es nun Propaganda für Millionen, die über Sieg und Niederlage entscheidet: Im entfesselten Krieg der politischen Ideologien kämpfen ganze politische Systeme ums Überleben, um Sein oder Nichtsein.
SPRECHER
Diese Erfahrungen lassen Clausewitz völlig neu über den Krieg nachdenken. Dabei leitet ihn eine wichtige Einsicht, sagt Herfried Münkler:
10 OT Münkler: Nicht Waffen sondern Ideen entscheiden Kriege
Nicht waffentechnische Innovation, nicht technologische Neuerungen sind entscheidend dafür, dass eine Seite überlegen und die andere Seite unterlegen. Sondern der politische Wille: Die Opferbereitschaft und Leidensbereitschaft einer Bevölkerung und letzten Endes die politischen Konstellationen, die Durchhaltefähigkeit, die Opferbereitschaft entscheidet einen Krieg. Das ist schon ein gewichtiger Punkt, den er damals gesehen hat und der im weiteren Sinne bis heute Gültigkeit hat.
Musik 6: Penny taken to the hospital – 1 Min.
11 OT Selenskyj: Mut der Ukrainer
Overvoice männlich
Die Ukrainer und ihr Mut haben die ganze Welt beseelt. Sie haben der Menschheit eine neue Hoffnung gegeben: Dass die Gerechtigkeit unsere zynische Welt nicht endgültig verlassen hat. Dass nicht die Gewalt siegt, sondern die Wahrheit, nicht das Geld, sondern die Werte, nicht Öl, sondern Menschen.
SPRECHER
Den Kampf um die Emotionen seines Volkes und die seiner Verbündeten, hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schon in den ersten Wochen des Krieges gewonnen. Ein wichtiger Sieg. Denn wenn Emotionen und Ideen das ganze Volk ergreifen, dann wirken sie wie „blinder Naturtrieb“ – schreibt Clausewitz. Sie setzen die Energie des Kampfes frei – und die Energie der Gewalt. Für ihn eine durch und durch ambivalente Größe: Unverzichtbar im Krieg aber mitunter auch unkontrollierbar und unsteuerbar, mit einem Hang zum Anarchischen.
MUSIK aus
SPRECHERIN:
Doch es ist nicht nur politische Propaganda, die in der Moderne ganze Nationen in einen Strudel der Gewalt hineinreißt. Es ist die Logik des Krieges selbst. Clausewitz versucht diese Dynamik der Enthemmung bereits in seiner Definition des Krieges zu erfassen. Dafür entwirft er folgendes Bild: Man stelle sich zwei Ringende vor, die sich im Zweikampf befinden.
ZITATOR CLAUSEWITZ
Jeder sucht den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen; sein nächster Zweck ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen. Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.
SPRECHERIN
Diese Definition ist das Herzstück der Theorie des Krieges von Clausewitz: Im Krieg geht es darum, dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen – mit nackter Gewalt. Weiter heißt es:
ZITATOR CLAUSEWITZ
Die physische Gewalt (..), ist also das Mittel, dem Feinde unseren Willen aufzudringen, der Zweck. Um diesen Zweck sicher zu erreichen, müssen wir den Feind wehrlos machen, und dies ist dem Begriff nach das eigentliche Ziel der kriegerischen Handlung.
ATMO: Explosionen von Bomben + Musik 7:
Escape from the train – 48 Sek
SPRECHERIN
Vom Krieg erfasst, kann sich keiner der Gegner mehr aus ihm herausziehen – ohne den anderen zu unterwerfen. Hieraus ergibt sich eine eigentümliche Tendenz zur Eskalation der Gewalt, zur Verlängerung des Blutvergießens.
ATMO: Explosionen, Düsenflieger
ZITATOR CLAUSEWITZ
Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum äußersten führen muss.
ATMO: Bomben
SPRECHERIN
Es ist die berühmte Gewaltspirale: Das Wettrüsten, das schnelle Auflodern von bewaffneten Konflikten. Einmal in Gang gesetzt – ist sie nur noch schwer zu stoppen. (Musik aus) Clausewitz findet drei eskalierende Faktoren, die diese verhängnisvolle Wechselwirkung antreiben:
SPRECHER
Erstens: Wer mehr Gewalt anwendet, der ist im Vorteil – das gilt für beide. Zweitens: Man muss den Gegner wehrlos machen und ihn dauerhaft schwächen. Andernfalls schlägt er zurück. Damit zwingen sich beide gegenseitig aufs Ganze zu gehen. Das Maß der Enthemmung bestimmen nicht sie selbst, sondern jeweils der Gegner. Und Drittens: Die Feinde schätzen die Widerstandskraft des anderen ab. Und jeder will sie übertreffen.
SPRECHERIN
Diese Logik der Gewalteskalation kann bis zur völligen Vernichtung der Gegenseite führen. Clausewitz nennt das den „absoluten Krieg.“
12 OT Münkler: absoluter Krieg
Er führt den Begriff des ‚absoluten Krieges‘ ein, um die zumindest zunächst mal Denkmöglichkeit einer Steigerung bis zum Äußersten einzuführen. Und dann hinzuzufügen: Dass das auch Wirklichkeit wird – oder in die Wirklichkeit hereinspielt, davon müssen wir ausgehen.
SPRECHERIN
Erläutert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Aus Clausewitz Begriff heraus kennt der Krieg also keine Mäßigung. Doch der „absolute Krieg“ beschreibt mehr die logische Tendenz des Krieges – die Richtung, die er seinem Begriff nach nimmt. Tritt der Krieg aber in die Wirklichkeit, so wird er sogleich ausgebremst und abgeschwächt. Denn dort wirken drei moderierende Tendenzen:
SPRECHER
Erstens: Feinde kennen und beobachten sich. Sie wissen um die Schwächen und Ressourcen des Gegners und können abschätzen, wie weit er gehen kann. Das mäßigt auch die Gegenseite.
Zweitens: An die Stelle der Furcht vor einem Totalangriff tritt die Wahrscheinlichkeitsrechnung, was der Gegner wo und wie einsetzen wird. Und Drittens: Eskalationen können unterlassen werden, als politisches Zeichen an die Gegenseite, dass man nicht aufs Äußerste geht.
MUSIK 8: Old and New – siehe oben – 41 Sek
SPRECHER
Trotz aller mäßigenden Tendenzen der Wirklichkeit – der fast zwanzigjährige Krieg Frankreichs gegen den Rest Europas ist für Clausewitz besonders: Hier hat sich der wirkliche Krieg dem absoluten Krieg in beunruhigender Weise angenähert. Es ist ein Krieg aufs Äußerste, in dem sich bereits düster das Millionensterben der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts ankündigt. In ihnen trifft die politische Massenmobilisierung dann auf industrielle Massenproduktion: Hinterlader, Maschinengewehre, Giftgas, Panzer, Bomber … und letztlich die Atombombe.
SPRECHERIN
Clausewitz hat diese verhängnisvolle Dialektik des Fortschritts bereits mitgedacht. Er schreibt:
ZITATOR CLAUSEWITZ
Da der Gebrauch der physischen Gewalt in ihrem ganzen Umfange die Mitwirkung der Intelligenz auf keine Weise ausschließt, so muß der, welcher sich dieser Gewalt rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes bedient, ein Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut.
SPRECHERIN
Der Fortschritt der Intelligenz und der Gebrauch der Gewalt stehen also nicht im Widerspruch zueinander. Das ist auch ein Urteil über die Aufklärung. Für Clausewitz wäre es falsch zu denken, dass der Prozess der Zivilisierung zu einer Abmilderung der Gewalt führt. Das nennt er sogar den „Irrtum der Gutmütigkeit“. Der Fortschritt geht vielmehr mit einer immer raffinierteren Entwicklung der Waffen einher. Damit setzt Clausewitz sich ab vom Philosophen Immanuel Kant, dessen eifriger Leser er ist. Gunnar Hindrichs, Philosophie-Professor an der Universität Basel, erläutert:
13 OT Hindrichs: Kant und der Friede
Die Kantische Geschichtsphilosophie ist unter der Idee des Friedens gefasst. Friede als letzter Gesichtspunkt, unter dem menschliche Geschichte begriffen werden kann - auf den hinzulaufend menschliche Geschichte gedeutet werden muss. Und das bedeutet für Kant die zunehmende Verrechtlichung menschlicher Verhältnisse.
SPRECHERIN
Über das Recht und den Frieden macht Clausewitz sich nur wenig Gedanken. Für den Theoretiker des Krieges wäre Frieden vermutlich nur eine zeitweise und brüchige Abwesenheit von Krieg. Krieg ist für ihn vielmehr ein menschliches Faktum, das es zu verstehen und zu meistern gilt.
14 HINDR Clausewitz kennt keinen Frieden
Und da könnte man sagen, dass Clausewitz diese Art von Versöhnung in der starken Emphase nicht kennt.
SPRECHERIN
Zwar ist Clausewitz ein Zeitgenosse Goethes und Hegels, doch sein Denken ist eigentlich bereits nach-klassisch, sagt Gunnar Hindrichs. Clausewitz ist ein politischer Realist: Die Gewalt des Faktischen hat alle geschichtsphilosophische Spekulation auf einen versöhnten Menschheitszustand verdrängt. Und trotzdem kann man bei Clausewitz erfahren, wie der Krieg eingehegt werden könnte. Der wichtige Begriff dabei ist aber nicht der Friede – sondern die Politik.
MUSIK 9: Old and New – s.o. – 35 Sek
ZITATOR CLAUSEWITZ
„Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln“.
SPRECHER
Das ist der zentrale Satz, der von Clausewitz bis heute in Erinnerung geblieben ist. Mit anderen Worten: Den Krieg versteht man nur, wenn man ihn von der Politik her denkt.
ZITATOR CLAUSEWITZ
Der Krieg (…) ganzer Völker (…) geht immer von einem politischen Zustande aus und wird nur durch ein politisches Motiv hervorgerufen. Er ist also ein politischer Akt.
SPRECHER
Krieg ist also kein ewiger Zustand des Seins, keine Naturgewalt, die plötzlich über den Menschen hereinbricht. Sondern: Er ist eine bewusst herbeigeführte politische Entscheidung. Gunnar Hindrichs greift diesen Gedanken auf. In seinem Buch „Abseits des Krieges“ schaut er aus der Perspektive der Philosophie auf die neue Aktualität des Kriegs in Europa. Und auch der berühmte Clausewitz-Satz taucht darin auf: Dass der Krieg eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei.
15 OT Hindrichs: Clausewitz-Satz erklärt
Das heißt: Fortsetzung heißt nicht „Absage von“, „brechen mit“, sondern heißt: Weiterführen. Und dieses Weiterführen erfolgt natürlich mit anderen Mitteln, das heißt: Es kommt etwas Neues hinzu. Da werden schon andere Mittel eingemischt. Aber gleichzeitig wird eben das Politische fortgesetzt. Das heißt, wir gehen nicht aus dem politischen Raum raus, sondern er bleibt der Horizont, in dem der Krieg zu verstehen ist und von daher begriffen werden muss.
SPRECHER
Die Politik setzt den Zweck des Krieges. Sie durchzieht ihn und übt fortwährend Einfluss auf ihn aus. Und der Krieg selbst ist bloß ein „politisches Instrument“. Für Gunnar Hindrichs steckt hier der Schlüssel für das moderne Verständnis des Militarismus und seiner Gefahren.
16 OT Hindrichs: Zwei Interpretationen
Das ist für mich das Interessante, dass wir tatsächlich die beiden gesellschafts-philosophischen Interpretationen unserer bürgerlichen Welt von diesem Satz her unterschiedlich lesen können. Also lesen wir ihn einmal von rechts nach links oder von links nach rechts.
SPRECHERIN:
Da wäre zum einen das Verständnis, das Liberale und Konservative miteinander teilen: Militarismus entsteht dann, wenn sich das Gewaltmittel des Krieges über das politische Denken ausbreitet und es erdrückt. Wenn Krieg zum Selbstzweck wird. „Totalen Krieg“ nannte das Erich Ludendorff, ein wichtiger General im Ersten Weltkrieg. Und wenige Jahre später Nazi-Propagandist Joseph Goebbels. Alle Teile der Gesellschaft werden hier in den Bann des Krieges hineingezogen: Landwirtschaft, Industrie, Finanzen, Wissenschaft, Kirche – und die Politik.
SPRECHER:
Die Lehre aus der Katastrophe der beiden Weltkriege heißt: Der Krieg ist ein Handwerk; er muss von der Staatskunst eingehegt und eingegrenzt werden. Deswegen hat die Bundesrepublik eine Parlaments-Armee und bezeichnet ihre Soldaten als „Bürger in Uniform“. Das nennt Gunnar Hindrichs die liberal-konservative Militarismus-Kritik. In ihr kommt Staatskunst prinzipiell auch ohne Krieg aus.
17 OT Hindrichs: Linke Militarismus-Kritik
Und die andere Seite würde sagen: Das ist genau die Illusion. Die bürgerliche Gesellschaft ist so verfasst, dass sie gar nicht ohne Krieg auskommen kann. Dass die bürgerliche Staatskunst immer schon an die Durchführung und Aufrechterhaltung jener sozio-ökonomischen Zusammenhänge gebunden ist, die gar nicht ohne Gewalt auskommen. Das heißt, sie birgt selbst bereits Gewalt und damit die Gefahr des Krieges in sich.
SPRECHERIN
Das nennt Hindrichs die „linke“ oder sozialistische Kritik am Militarismus. Diesem Verständnis nach ist Gewalt nicht ein Mittel, das zur Politik äußerlich hinzukommt. Sondern, die ökonomische Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft ist selbst latent gewaltförmig: durch wirtschaftliche Ausbeutung und die Unterdrückung von Klassen und Völkern zur Steigerung des Profits.
SPRECHER
In einer ähnlichen Weise hatte auch der französische Philosoph Michel Foucault den Satz von Clausewitz umgedreht: Die Politik sei die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Demnach ist es die latente Gewalt der Verhältnisse, die im Krieg augenscheinlich wird und den Schein der alltäglichen Zivilität zerreißt.
Musik 10: Lashed to the mast – siehe oben – 33 Sek
SPRECHERIN
Aus dieser Perspektive lässt sich auch die Theorie von Clausewitz verstehen. Sie führt Folgendes vor Augen: Menschliches Handeln, das auf Konflikt und Konfrontation ausgelegt ist, führt in letzter Konsequenz in den Krieg. – Bis zur totalen Unterwerfung und Vernichtung des Gegners. Doch damit birgt die Theorie auch ihr Gegenteil, sagt der Philosoph Gunnar Hindrichs. Die Möglichkeit des Friedens:
18 OT Hindrichs: Über Clausewitz hinaus
Durch die Betonung des Extremal-Prinzips Gegenhandeln ermöglicht Clausewitz uns zu verstehen, was die Überwindung des Krieges und der kriegerischen Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft darstellt. Nämlich: Menschliches Miteinander-Handeln und von diesem Miteinander-Handeln die Gesellschaft zu verstehen. Das steht zwar nicht in Clausewitz drin. Aber das ist dasjenige, was er uns ermöglicht zu begreifen.
SPRECHERIN
Derart gegen den Strich gebürstet, lässt sich also auch in Clausewitz ein utopischer Kern freilegen.
SPRECHER
Allerdings nur, wenn Clausewitz in seinem radikalen Realismus ernst genommen wird. Denn Miteinander-Handeln darf nicht in dem „Irrtum der Gutmütigkeit“ münden, warnt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Mit anderen Worten: Der Verzicht auf Gewalt ist historisch nicht verbürgt:
19 OT Münkler: Einziger genügt
Und selbst wenn alle darauf verzichten, dieses Mittel einzusetzen. Es genügt ein einziger unter ganz vielen, der es gebraucht, um die anderen zu zwingen es auch zu gebrauchen, wenn sie nicht von ihm unterworfen werden wollen.
ATMO: Luftalarm +
Musik 11: Passing the point - 1:35 Min
20 OT Putin Abschreckungswaffen
Overvoice männlich
Ich befehle dem Verteidigungsminister, die Abschreckungskräfte der russischen Armee in einen besonderen Kampfmodus zu versetzen.
SPRECHER
Der Russische Angriff auf die Ukraine hat zwei große Illusionen zerstört, sagt Herfried Münkler: Erstens, dass ein großer Krieg in Europa der Vergangenheit angehört. Dass der historische Fortschritt eine bleibende Friedensordnung auf dem Kontinent errichtet hat und der Krieg dem Handel gewichen ist. Und Zweitens: Dass im Zeitalter der Atombombe ein großer Landkrieg nicht mehr möglich ist. Damit hat dieser Krieg Grundsätzliches in Frage gestellt. Und Clausewitz kann dabei helfen, sich in dieser neuen – eigentlich ganz alten – Realität zu orientieren.
21 OT Münkler: Berlin und Kiew
Wenn die verantwortlichen Politiker in Berlin Clausewitz gelesen hätten. Dann hätten sie nicht so gezögert und herumlaviert, erstens: Der Ukraine Waffen zur Verfügung zu stellen, die sie braucht, um sich zu verteidigen. Und zweitens: Die Rüstungsproduktion hochzufahren. Weil relativ früh klar war, das ist kein Niederwerfungskrieg, das ist ein Abnutzungskrieg.
Als Bayern sich zum Industriestaat entwickelte, wurde sein Hunger nach Energie immer größer. Vor allem auch der Hunger nach elektrischem Strom. Dabei gilt für Bayern, ein Land mit wenig Rohstoffen und ohne Meereszugang, schon lange: Der Zugang zu bezahlbaren Energieträgern ist ein Dauerthema. Von Lorenz Storch
Credits
Autor dieser Folge: Lorenz Storch
Regie: Martin Trauner
Es sprach: Julia Fischer
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. em. Dirk Götschmann (Uni Würzburg)
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Die Welt in unter 30 Minuten besser verstehen? Das geht nicht? Doch, das zeigt der tagesschau Podcast 11KM JETZT ENTDECKEN https://1.ard.de/11km
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
9. September 1957. Bayern an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Euphorie im frisch gebauten „Atomei“ von Garching bei München. Viele Politiker sind da, und alle haben sie ein Strahlen im Gesicht, sie drängen sich um den Ort des Geschehens. Professor Heinz Maier-Leibnitz, Chef des neuen Atomforschungszentrums, geleitet die Ehrengäste zum Höhepunkt.
ZUSP. 1 (vorne Atmo) „Also das ist jetzt ein Original-Element. Vielleicht können wir das Element nochmal hochhalten und das dann als eröffnet betrachten, wenn es Ihnen recht ist. Herr Ministerpräsident, wenn Sie es selber in die Hand nehmen wollen? Das ist unschädlich!“ (hinten Atmo, Gelächter, Ah, Oh)
SPRECHERIN:
Ein Mann im eleganten hellgrauen Anzug reckt mit einer Hand ein Bündel empor, das aussieht wie ein verschnürter Sack voll Zeltstangen.
(ATMO Applaus aus Cartwall)
SPRECHERIN:
Euphorie, Siegerpose. Das Bündel enthält einen von 39 angereicherten Uran-Brennstäben – vor Kurzem eingetroffen aus den USA! Zwei Wochen lang waren sie mangels anderer Möglichkeiten im Tresor der Bayerischen Staatsbank zwischengelagert, aber nun ist das Uran ja angekommen in Garching. Und der dynamische Herr, der das Brennelement per Taschenmesser aus seiner Transportkiste geholt hat (ein Schraubenzieher war grade nicht zur Hand) - das ist der bayerische Ministerpräsident. Wilhelm Högner. Der einzige Sozialdemokrat, der jemals an der Spitze des Freistaats stand, macht Bayern zum Atomstaat.
ZUSP. 2 „Im Namen der Obersten Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren heiße ich Sie im ersten Atommeiler Deutschlands herzlich willkommen.“
SPRECHERIN:
Unter tätiger Mithilfe des Bundesministers für Atomfragen, Franz-Josef Strauß von der CSU. Der Atomminister, knapp über 40 Jahre alt, von Journalisten als „jugendlich-aggressiv“ beschrieben, sieht sich als Zukunftsminister. Auf die Frage, welche Schutzmaßnahmen für die Zivilbevölkerung nötig sein werden, wenn jetzt auch Bayern einen Atomreaktor hat, sagt Strauß:
ZUSP. 3 „Es handelt sich um reine Forschungsreaktoren von geringer Kraft- und Wärmeleistung. Im Falle München von 1000 Kilowatt Leistung. Außerdem sind bereits mehrere Exemplare dieses Typs in den USA und anderen Staaten aufgestellt worden. Dieser Reaktor weist bereits hunderttausende von Betriebsstunden auf, ohne dass der geringste Unfall bisher passiert ist.“
SPRECHERIN:
Die 1950er Jahre waren auch und gerade in Bayern eine Zeit ungeheurer Atomeuphorie. Man erhoffte sich von der Kernkraft billige Energie im Überfluss. Heimischer Kernbrennstoff sollte aus Uranbergwerken im Fichtelgebirge gewonnen werden. Was nie klappte, weil der Abbau dort sich als zu teuer erwies. Das vom Ministerpräsidenten begeistert gefeierte erste Paket mit Brennelementen musste 1958 in die USA zurückgeschickt werden, weil sich Fertigungsmängel zeigten. Und auch sonst kollidierten die hoch gesteckten Erwartungen an die Kernkraft alsbald mit der Realität, erzählt Historiker Dirk Götschmann, der eine Wirtschaftsgeschichte Bayerns geschrieben hat.
ZUSP. 4 „Erwies sich dann natürlich doch alles als schwieriger, als man zunächst erhofft hatte. Das war natürlich langwieriger. Der Unterschied zwischen einem Forschungsreaktor und einem Reaktor zur Gewinnung von Energie. Der ist natürlich schon enorm. Und tatsächlich war es ja so, dass der Atomstrom über Jahrzehnte nicht konkurrenzfähig war. Wenn man also die ganzen Kosten mit einberechnet hat, die also der Bau und der Betrieb eines Atomkraftwerkes erforderte. Trotzdem hat man gemeint, dass das eben die Energiequelle der Zukunft sein wird, und man hat also daran festgehalten und hat das weiterentwickelt.“
SPRECHERIN:
Einen substanziellen Beitrag zur Stromgewinnung in Bayern leistete die Kernkraft erst ab Ende der 1970er Jahre. Auf dem Höhepunkt, ab den 1990er Jahren, lieferte die Kernkraft dann allerdings zwei Drittel des bayerischen Stroms. Mit fünf Reaktoren an den Standorten Grafenrheinfeld bei Schweinfurt, Isar bei Landshut und Gundremmingen im Landkreis Günzburg.
(MUSIK)
SPRECHERIN:
Angefangen hat die Geschichte der Elektrifizierung Bayerns jedoch mit einer anderen Energiequelle. Der Wasserkraft. Das Walchenseekraftwerk war der Ursprung des flächendeckend zusammenhängenden Stromnetzes in Bayern.
ZUSP. 5 (Sprecher Fernsehbeitrag 1960er Jahre) „Oskar von Miller, Bayerns großer Ingenieur. Ihm ist nicht nur das Deutsche Museum zu verdanken. Er wurde 1918 von der Regierung zum ehrenamtlichen Staatskommissar für den Bau des Walchenseewerks und des Bayernwerks ernannt und hat mit seinem Stab tüchtiger Männer diese vielbestaunte Pioniertat vollbracht. Das Wasser des Walchensees wird durch einen Stollen im Berg in ein Becken, das Wasserschloss am jenseitigen Hang, geführt. Durch riesige Druckrohre schießt das Wasser zu Tal. Die Energie des Walchenseewerkes speist über die große Stromschiene der Bayernringleitung das deutsche Verbundnetz. Damals 1918/19/20 war man in Bayern skeptisch. Was wollte Miller mit diesem Überfluss an elektrischer Energie?“
SPRECHERIN:
Das Walchenseekraftwerk liefert seinen Strom bis heute teilweise in das Netz der Deutschen Bahn. Und bereits der Bau des Kraftwerks damals war eng verknüpft mit dem Plan zur Elektrifizierung der Eisenbahn in Bayern. Ähnlich wie in der nahen Schweiz wurde diskutiert, möglichst das gesamte bayerische Schienennetz elektrisch zu betreiben. Allerdings erhoben die bayerischen Generäle Einspruch: Was, wenn im Kriegsfall der Strom ausfällt? Wie sollten dann Truppen transportiert werden? Noch gewichtiger war aber ein zweiter Einwand, so Wirtschaftshistoriker Dirk Götschmann:
ZUSP. 6 „Dass eben die bayerischen Lokomotivhersteller zu diesem Zeitpunkt noch nicht so ganz fit waren, was die Produktion von elektrischen Lokomotiven anbelangte und man eigentlich, wie soll ich sagen, diesen Zukunftsmarkt nicht irgendwelchen auswärtigen preußischen Herstellern überlassen wollte, Und dann hat Krauss-Maffei eben zu diesem Zeitpunkt eine besonders effektive Dampflokomotive entwickelt, die damals wirklich konkurrenzlos gut war, sparsam im Gebrauch und schnell, sodass man also gesagt hat: Wenn wir jetzt eine solche Super-Dampflokomotive haben, wozu brauchen wir dann eine elektrische Bahn: Das geht doch so auch.“
SPRECHERIN:
Und so fehlt dank der damaligen Rücksicht auf die bayerische Dampflokindustrie bis heute an der Hälfte der Bahnstrecken im Freistaat die Oberleitung. Während das Bahnnetz der Schweiz zu 100 Prozent elektrifiziert ist.
(MUSIK)
SPRECHERIN:
Statt mit elektrischem Strom fuhren die meisten Loks in Bayern also weiter mit Kohle. Aber auch in der Stromproduktion kam Bayern – trotz der Wasserkraft – nicht ohne Kohle aus. Schon bei den ersten Anfängen im 19. Jahrhundert, als noch kein Verbundnetz für Strom existierte, lieferten Dampfmaschinen die Elektrizität überall dort, wo Wasserkraft nicht zur Verfügung stand. Später mussten die Kohlekraftwerke vor allem im Winter einspringen, wenn in den Flüssen weniger Wasser fließt. Und auch sonst lieferten die Kohlekraftwerke regelmäßig, vor allem zu Spitzenzeiten des Verbrauchs. Und mit der Zeit immer häufiger, denn der Stromverbrauch in Bayern stieg. Was vor allem mit dem Aufstieg der bayerischen Industrie zu tun hatte.
ZUSP. 7 „Damals war der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung eben alles, was mit Elektroindustrie zu tun hatte. Nicht nur die Elektroindustrie selbst, die Maschinen und derartiges hergestellt hat, sondern auch die Industrie, die also in starkem Umfange Strom benötigt hat, zur Produktion ihrer eigenen Güter, dazu dann elektrische Maschinen und so weiter im Einsatz hat. Und es waren sehr viele Maschinen. Also alle Bohrmaschinen, Drehbänke, Fräsmaschinen und so weiter wurde ja dann schon elektrisch betrieben.“
SPRECHERIN:
Schwerindustrie wie Stahlhütten, die in großem Maße Kohle verbraucht, spielte in Bayern stets eine geringere Rolle. Weil die großen Kohlereviere Westdeutschlands zu weit entfernt waren. Zwar konnte die Kohle von dort mit der Eisenbahn nach Bayern transportiert werden. Was der bayerischen Staatsbahn auch schöne Einnahmen brachte. Aber dadurch wurde der Brennstoff teuer.
Was zu einer Chance für Bayerns heimische Kohle wurde. Die Pechkohle im Alpenvorland war von schlechter Qualität, für Hüttenwerke nicht geeignet. Und kam in dünnen Flözen vor, eher schwierig abzubauen. Trotzdem gab es für einige Jahrzehnte eine Marktlücke für diese oberbayerische Kohle. Für die Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg spielte sie eine große Rolle, auch noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dann ging es aber schnell bergab.
ZUSP. 8 (Sprecher TV-Beitrag) „Die Arbeit des Bergmannes war ein Fundament wirtschaftlicher Macht. Leistung und Tradition schufen den Bergleuten eine Stellung, die erst vor einem Jahrzehnt ins Wanken geriet. Seit 1958 steckt der deutsche Bergbau in einer Krise. Auch der oberbayerische Pechkohlenbergbau war davon betroffen. In den vier Zechen Marienstein, Penzberg, Hausham und Peißenberg waren die Schwierigkeiten noch größer, weil dort ohnehin unter ungünstigeren Verhältnissen abgebaut werden musste, als bei der Konkurrenz an Saar und Ruhr.“
SPRECHERIN:
1971 schloss das letzte bayerische Bergwerk, wo unter Tage Kohle abgebaut wurde, in Peißenberg.
In der Oberpfalz dagegen, wo Braunkohle im Tagebau gefördert werden konnte, war sie konkurrenzfähig. Hier erreicht die Kohleförderung mit großen Schaufelradbaggern erst in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt.
ZUSP. 9 (TV-Sprecher) „Schließlich entfalten die Braunkohlenfelder, die sich vor allem im Schwandorfer Gebiet befinden und rund hundert Millionen Tonnen umfassen, einen wichtigen Rohstoff. Hier hat vor kurzem die BBI, die bayrische Braunkohlenindustrie AG, ein großes neues Abbaugebiet in Rauberweiher erschlossen. Das ist eine zwar nicht sehr leistungsstarke, aber billige Kohle, die das nahegelegene Dampfkraftwerk Dachelhofen bei Schwandorf speist. Dieses Kraftwerk ist für die Stromversorgung Bayerns von großer Bedeutung.“
SPRECHERIN:
1981 ist das Kohlevorkommen bei Schwandorf jedoch erschöpft. Danach werden die Gruben geflutet – sie bilden heute das Oberpfälzer Seenland.
(MUSIK)
SPRECHERIN
Aber die Tage der Kohle als Haupt-Energieträger waren da ohnehin längst vorbei. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach die Zeit des Öls an. Im Autotank, als Treibstoff für die Massen-Motorisierung. Als Heizöl in den Kellern der Häuser. Aber auch zur Herstellung von Strom: Vor den Ölkrisen war Erdöl billig, deshalb wurden damals Heizöl-Kraftwerke gebaut. Unter anderem an der Donau, in Irsching bei Ingolstadt und Pleinting bei Vilshofen. Und weil man diesen neuen Energieträger per Pipeline transportieren konnte, sah Wirtschaftsminister Otto Schedel von der CSU eine neue Chance für das energie-arme Bayern. Eine Pipeline vom Mittelmeerhafen Triest nach Ingolstadt an der Donau!
ZUSP. 10 „Ich wollte die günstige Lage des Landes zu den Ländern, in denen Öl gefördert wird, ausnutzen. Was ich damit meine, zeigt ein Blick auf die Karte, wenn die Pipeline, die in drei Ländern im Bau sich befindet, Ingolstadt-Triest, fertig ist und der Seeweg noch kürzer wird. Wir sparen 4500 Kilometer, haben nur noch die Hälfte der Transportwege. Das bedeutet billiges Öl und billige Energie in Bayern. Das bedeutet Überwindung der Revierferne.“
SPRECHERIN:
Rund um Ingolstadt entstehen durch den Bau der neuen Pipeline fünf Raffinerien. Damit ist Regensburg ausgebootet, das mit seinem Donauhafen bis dahin das Zentrum der bayerischen Ölindustrie gewesen war. Nach den Ölkrisen der 1970er Jahre wird das Erdöl allerdings deutlich teurer. Eine weitere Raffinerie, die Texaco im Raum Ingolstadt plante, wird deshalb nie gebaut. Heute sind von den ursprünglich sechs bayerischen Raffinerien noch vier in Betrieb.
(MUSIK)
SPRECHERIN:
Und auch das Öl bekommt neue Konkurrenz: Durch Erdgas. Erst aus eigener Produktion im bayerischen Alpenvorland. Dann aber folgt schnell importiertes Erdgas. Bayerische Politiker waren führend beteiligt daran, die so genannten Erdgas-Röhren-Geschäfte mit der Sowjetunion anzubahnen. Und 1973 ist es dann so weit.
ZUSP. 11 (TV-Sprecher) „Für die Energieversorgung der Zukunft fressen sich also die kostspieligen Rohrleitungen durch die idyllische Landschaft der Oberpfalz wie hier bei Nabburg. Die Bewältigung der umfangreichen Schweißarbeiten liegt dabei fest in indischer Hand. Die billigeren, angelangten Kräfte aus Fernost mit einem Sonder-Gastarbeiterstatus ersetzen die deutschen Fach-Schweißer, für die Spitzenlöhne bis zu 6000 Mark gezahlt werden müssten. Trotz solcher Sparmaßnahmen belaufen sich die Kosten pro laufendem Meter Erdgasleitung aus druckfestem und gleichzeitig schweißfreundlichem Spezialstahl auf 1500 Mark. Der Kilometer kommt also auf 1,5 Millionen ohne Planungs- und Rechteerwerbskosten für den Grund und Boden.
SPRECHERIN:
Schon damals ist der Bau neuer Energie-Infrastruktur ein Eingriff in die Landschaft. Schon damals auch sehr teuer. Und: Schon damals subventioniert der Staat den Bau der neuen Leitungen für Erdgas. Es gibt Werbekampagnen, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, ihre Heizung und ihre Herde auf Erdgas umzustellen. Mit Erfolg – wie dieses Interview mit einem Vertreter der Münchner Stadtwerke zeigt:
ZUSP. 12 „Herr Stahlknecht, wie notwendig ist für die städtische Energieversorgung die Umstellung von Stadtgas auf Erdgas?“ – „Die Nachfrage nach dem Energieträger Erdgas steigt laufend. Wir haben derzeit in München Steigerungswerte von 20 Prozent. In exakten Zahlen haben wir im Jahr 1972 2,7 Milliarden Kubikmeter Gas abgegeben. Diese riesigen Mengen an Gas können nicht mehr durch Stadtgas, das man früher aus Kohle gewonnen hat, gedeckt werden.“
SPRECHERIN:
Auch in den Städten müssen die Leitungen – und auch die Gas-Herde - umgebaut werden, weil das Erdgas einen anderen Heizwert hat und einen anderen Betriebsdruck als das Stadtgas, das zuvor jeweils vor Ort aus Kohle hergestellt worden war. Teilweise gibt es Zuschüsse, um die Umstellung den Kundinnen und Kunden schmackhaft zu machen.
Über die Abhängigkeit von der Sowjetunion, die Deutschland durch die Erdgasgeschäfte eingeht, wird damals durchaus diskutiert. Aber Wirtschaftsvertreter beschwichtigen. Im BR-Fernsehen 1973 ein Herr Dehner:
ZUSP. 13 „Von dem gesamten Erdgas-Aufkommen der Bundesrepublik wird das sowjetische Erdgas nach gegenwärtigem Sachstand vielleicht 15 Prozent ausmachen. Sie sehen also, dass ein Abschalten des russischen Gases aus politischen Gründen oder auch aus technischen Gründen vielleicht zu örtlichen Störungen führen würde. Einen Zusammenbruch unserer Energieversorgung aber würde es jedenfalls nicht riskieren.“
SPRECHERIN:
2021, vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine, lag der russische Anteil an den deutschen Erdgasimporten dann allerdings bei vollen 65 Prozent.
ZUSP. 14 „Eine sehr viel genutzte Energiequelle. Und die war tatsächlich auch unschlagbar billig. Das muss man eindeutig sagen. Es hat also zu dem industriellen Aufschwung, der sich dann in Bayern fortgesetzt hat, in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, hat diese billige Energie durchaus einen Beitrag geliefert. Das kann man überhaupt nicht abstreiten.“
SPRECHERIN:
Bilanziert Wirtschaftshistoriker Dirk Götschmann.
(MUSIK)
Und die Kernenergie? Ist in Bayern seit April 2023, mit der Abschaltung von Isar 2 bei Landshut, ebenfalls Geschichte. Es gab folgenschwere Unfälle – 1975 sterben im Kernkraftwerk Gundremmingen A zwei Arbeiter durch austretenden radioaktiven Dampf aus dem primären Kühlkreislauf. 1977 dann im gleichen Reaktor: Kurzschluss, Sicherheitsventile reißen ab, radioaktiver Dampf strömt in das Reaktorgebäude – das dadurch überflutet und kontaminiert wird. Der Reaktor geht nie wieder ans Netz. Ein GAU oder Störfall mit Austritt großer Mengen Radioaktivität in die Umwelt ist Bayern aber erspart geblieben. Anders als Japan. Dort passiert 2011 die Reaktorkatastrophe von Fukushima. Danach drängt Markus Söder, damals CSU-Umweltminister, darauf, die bayerischen Kernkraftwerke so schnell wie möglich abzuschalten:
ZUSP. 15 „Unser Ziel ist, einen Ausstieg bis 2020 zu ermöglichen. Spätestens bis 2022, das muss man evaluieren.“
SPRECHERIN:
Ministerpräsident Horst Seehofer verkündet in einer Regierungserklärung im Landtag:
ZUSP. 16 „Die bayerischen Kernkraftwerke, meine Damen und Herren, werden abgeschaltet. 2022 Isar 2. In elf Jahren, meine Damen und Herren, ist also in Bayern kein Kernkraftwerk mehr am Netz, und zwar verlässlich und ohne Hintertürchen.“
SPRECHERIN:
2022 allerdings – unter dem Eindruck der Energiekrise nach Russlands Angriffskrieg – hat die CSU ihre Meinung geändert. Ministerpräsident Söder findet jetzt:
ZUSP. 17 „Kernkraft auszuschalten, macht überhaupt keinen Sinn. Es gibt keine Argumente, außer ideologischen Basta-Argumenten, die Kernkraft nicht zu verlängern.“
SPRECHERIN:
Mit ihrem Versuch eines Ausstiegs aus dem Ausstieg aus der Atomkraft drang die CSU dann jedoch nicht mehr durch. Die Ampel-Bundesregierung gab den letzten Atomkraftwerken noch eine Gnadenfrist von vier Monaten, doch dann war endgültig Schluss.
War die Kernkraft auch eine billige Form der Stromerzeugung? Je nachdem, wie man es betrachtet, sagt Wirtschaftshistoriker Dirk Götschmann:
ZUSP. 18 „Die Risiken musste der Staat übernehmen, um das mal so auszudrücken. Also die ganzen Investitionen in die Grundstruktur, die man überhaupt erst mal schaffen musste, das musste alles der Staat übernehmen. Also die Industrie hat sich da sehr zurückgehalten. Wie dann die Endrechnung tatsächlich ausschaut, wieviel Gewinn hat man jetzt aus dieser Stromerzeugung gezogen? Wo ist der Gewinn hingewandert. Was hat der Staat sozusagen, was für einen Anteil hat der Staat an diesem Gewinn? Hat er die Subventionen dann tatsächlich auch rentabel erscheinen lassen? Also das sind alles so Dinge, die ich glaube bis heute noch keiner beantworten kann.“
SPRECHERIN:
Und die Zukunft? Es ist wieder eine Umstellung im Gang. Windkraft und Photovoltaik sollen künftig die wichtigsten Energieträger sein. Mit Wasserstoff betriebene Gaskraftwerke die Lücken füllen. Bayern wird weiter Energie importieren müssen – wie schon immer in den vergangenen 150 Jahren, seit die Industrialisierung Fahrt aufgenommen hat. Und die Energie wird nicht so billig sein wie an manch anderem Ort auf der Welt. Ebenfalls der historische Normalzustand in diesem Land fernab der Meere und mit wenig eigenen Ressourcen. Erst teure Kohle, dann teures Öl, dann eine Stromversorgung, die schon lange zwar sehr zuverlässig war, aber auch nicht besonders billig – egal ob der Strom mit Kohle, Erdgas oder Kernkraft produziert war. Unterm Strich hat es Bayern nicht geschadet, sagt Götschmann, der eine Wirtschaftsgeschichte Bayerns seit dem 19. Jahrhundert geschrieben hat – und dadurch die langen Linien sieht.
ZUSP. 19 „Also man muss dann sozusagen in Bayern tatsächlich hochwertige Produkte herstellen, bei denen der Energieeinsatz nicht mehr so stark zu Buche schlägt. Und es war eigentlich ein Vorteil, kann man sagen für die Entwicklung der bayerischen Industrie, weil die bayerische Industrie dadurch gewissermaßen gezwungen war, rational zu arbeiten. Also immer fortschrittlich zu sein, möglichst energiesparende Verfahren zu entwickeln und hochwertige Produkte herzustellen. Also billige Energie verleitet natürlich auch dazu, dass man sie gewissermaßen verschwendet. Wenn die Energie teuer ist, dann versucht man, das Beste daraus zu machen. Und das kommt dann letztendlich den Produkten auch zugute.“
SPRECHERIN:
Billige Energie ist schon seit Langem nicht der entscheidende Standortfaktor hier im Land. Und wird es mit einiger Sicherheit so schnell auch nicht werden.
Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zu einem explosionsartigen Anwachsen der Städte. Viele der neu Zugezogenen wohnen zur Untermiete. Dabei haben "Schlafgänger" lediglich Anspruch auf ein Bett, das sie sich häufig sogar noch in einer Art Schichtbetrieb mit einem oder zwei anderen Schicksalsgenossen teilen. Von Carola Zinner
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christoph Jablonka, Stefan Merki, Caroline Ebner
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Dr. Stefan Fisch, emerit. Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte,
insbes. Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte an der Universität Speyer
Sozialer Wohnungsbau - Geschichte eines umstrittenen Konzepts
Der soziale Wohnungsbau war wichtig für den Wiederaufbau in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Wohnungsnot groß war. Eine Erfolgsgeschichte, doch heute ist das Konzept umstritten. (BR 2019) Autor: Georg Gruber
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Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Obwohl zunächst als Provisorium gedacht, wird es schließlich zur gesamtdeutschen Verfassung - und zum Vorbild für viele neue Demokratien. Von Katharina Kühn (BR 2019)
Credits:
Autorin dieser Folge: Katharina Kühn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Rahel Comtesse, Martin Fogt
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
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Die Zahl der Hitzesommer nimmt zu. In Städten sind die Auswirkungen besonders stark, sie entwickeln sich zu Glutöfen. Viele Stadtplaner steuern inzwischen gegen - mit Bächen, Parks und begrünten Fassaden. Von Claudia Steiner (BR 2021)
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Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Katja Amberger, Katja Bürkle, Peter Veit
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Redaktion: Matthias Eggert, Iska Schreglmann
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Im Interview:
Stephan Pauleit (Professor am Lehrstuhl für Strategie und Management der Landschaftsentwicklung der TU München);
Sabrina Erlwein (Doktorandin am Lehrstuhl für Strategie und Management der Landschaftsentwicklung der TU München);
Espeth Oppermann (Vom Rachel Carson Centre der LMU München);
Stefan Petzold (Referent beim Naturschutzbund Deutschland);
Giovanni Betti (Assistenz-Professor für Architekturdesign an der Universität in Berkeley/USA)
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Hintergrundinfos des Naturschutzbundes zum Stadtklima und umweltpolitische Forderungen, um die Städte gegen die Klimakrise zu rüsten:
EXTERNER LINK | https://www.nabu.de/umwelt-und-ressourcen/ressourcenschonung/bauen/stadtklima/index.html
Handlungsempfehlungen für Kommunen aus dem Projekt "Klimaschutz und grüne Infrastruktur in der Stadt" der Technischen Universität München:
EXTERNER LINK | https://www.zsk.tum.de/fileadmin/w00bqp/www/PDFs/Berichte/180207_Leitfaden_ONLINE.pdf
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Mit ihrem Schlangenhaar und ihrem versteinernden Blick ist sie zum Inbegriff des schrecklichen Monsters geworden. Andererseits wurde ihr abgeschlagenes Haupt zum allgegenwärtigen Schutzsymbol. Doch Medusa war nicht von jeher ein Ungeheuer, sondern wurde erst durch männliche Gewalt und weiblichen Neid dazu. Von Frank Halbach
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Autor dieser Folge & Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Bürkle, Stefan Wilkening, Ines Hollinger
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Prof. Dr. Volker Mergenthaler, Literaturwissenschaftler
Giulia Grossi, Althistorikerin
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATORIN (zischend flüsternd)
Fürchterlich bin ich, rund umher mit drohendem Schrecken umkränzt.
(g Schlangenzischen)
SPRECHERIN
Angst ist die älteste und stärkste Emotion des Menschen.
ZITATORIN (wie oben, sich allmählich steigernd)
In Grauen und bleichem Entsetzen lässt mein wutfunkelnder Blick euch erstarren.
SPRECHERIN
Der Mensch ist bedroht - von Anfang an. Um diesem ursprünglichen Gefühl numinoser Angst zu begegnen, begann er zu erzählen.
SPRECHER
„Angst muss immer wieder rationalisiert werden, sowohl in der Geschichte der Menschheit wie in der des Einzelnen. Das geschieht primär nicht durch Erfahrung, sondern durch Kunstgriffe, wie Erklärungen für das Unerklärliche, Benennungen für das Unnennbare. Was durch Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen…“
SPRECHERIN
Schreibt der deutsche Philosoph Hans Blumenberg über den Ursprung mythischer Erzählungen in seinem Literaturklassiker „Arbeit am Mythos“.
SPRECHER
Mit den Mythen betrat der Held die Bühne menschlicher Fiktion.
ZITATORIN (hasserfüllt)
Mit Sichelschwert, Tarnhelm und spiegelndem Schild.
SPRECHERIN
Ihm gegenüber steht: das Monster.
ZITATORIN (trotzig)
Abscheulich, schlangenhaarig, menschenhassgetränkt!
SPRECHER
Was wäre Siegfried ohne Drachen? Beowulf ohne Grendel, Odysseus ohne den Zyklopen, Herkules ohne die Hydra, Ödipus ohne die Sphinx oder Perseus ohne…
SPRECHERIN
Die Medusa: Ihr Gesicht zur Fratze verzerrt, ihr Mund reißzahnbewehrt, statt Haaren züngelnde Schlangen. So grauenhaft sieht sie aus, dass zu Stein erstarrt, wer sie erblickt.
SPRECHER
Seit der Antike dargestellt in Skulpturen, Gemälden, besungen und in sich immer wieder verändernden Mythen erzählt, hat Medusa über Jahrtausende ihren Weg bis in die Popkultur der Gegenwart gefunden: Im Fantasy-Roman, Kinoblockbuster oder PC-Spiel.
MUSIK hoch und ENDE mit g Schwert
SPRECHERIN
Oder besser ihr abgeschlagener Kopf. Medusa und ihre Geschichte sind eines der berühmtesten Motive der griechisch-römischen Mythenwelt.
O-Ton 1 Mergenthaler (04:47)
Was man vielleicht vorweg stellen muss ist, dass man Medusa als mythologische Figur begreifen muss. Das heißt: da gibt es nicht irgendwie eine Quelle, die festlegt, was zu ihr dazugehört, sondern das ist das Ergebnis einer Akkumulation eines kontroversen differenzierten Akkumulationsprozesses, der über zweieinhalbtausend Jahre sich hinstreckt, mehr oder minder, und auch nicht eine Figur irgendwie produziert, sondern eine Reihe von Figuren, die unter dem Namen Medusa Karriere gemacht haben und unterschiedliche
Ausprägungen genommen haben. Je nachdem, welchen Aspekt man verfolgt.
SPRECHER
Sagt der Literaturwissenschaftler Professor Volker Mergenthaler, der sich eingehend mit dem Mythos Medusa beschäftigt hat.
MUSIK privat Take 001 „Prologue“; Album: Dracula Untold; Label: Back Lot Music – BLM0284; Interpret: Gavin Greenaway; Komponist: Ramin Djawadi; ZEIT: 01:04
SPRECHERIN
Wie bei den meisten Mythen liegt der Ursprung der Geschichte der Medusa im Dunklen. Was von Medusa rein mündlich erzählt wurde, vermag niemand zu sagen. Doch schon in einem der ältesten schriftlich fixierten fiktionalen Werke Europas, Homers Ilias, zu datieren auf etwa das 8. Jahrhundert vor Christus, findet die Medusa Erwähnung.
ZITATORIN
Das gorgonische Haupt, des entsetzlichen Ungeheuers,
Schreckenvoll und entsetzlich.
SPRECHER
Als furchterregendes Emblem auf dem Schild der Göttin Athene und des Anführers der Griechen im Trojanischen Krieg: Agamemnon.
ZITATORIN
Die Schreckengestalt der Gorgo drohete schlängelnd,
Mit wutfunkelndem Blick, und umher war Graun und Entsetzen.
SPRECHERIN
Das Schreckliche an Medusa, das Furchtbare, das von ihr ausgeht ist…
ZITATORIN (bitter)
Ihr Antlitz.
MUSIK ENDE
O-Ton 2 Mergenthaler (09:50)
In den Details wird das dann unterschiedlich ausbuchstabiert: Sie hat Schlangenhaar, sie hat einen furchtbaren Blick, das Gesicht ist irgendwie zu einer Fratze geschnitten, mit bleckenden Zähnen und heraushängender Zunge. Also ich würde sagen, wenn man das irgendwie psychologisieren wollte, in unserer moderne Welt, würde ich sagen das ist eine Entstellungserfahrung. Da begegnet uns etwas, das wir als menschlich in seinen Grundzügen erkennen, das aber so verzerrt verrückt entstellt ist, dass es auf mich selbst zurückfällt und mir Angst macht, sozusagen. Ich könnte selbst so aussehen und ich mich versichern möchte, dass ich nicht so aussehe. (…) Was ist das Monster eigentlich? Es ist ein Gegenüber, das aus der Norm fällt und das nicht deswegen verunsichert und dann eben zu Stein oder wie auch immer erstarren lässt.
SPRECHER
Ein Monster verlangt nach einem Helden. Die Medusa nach einem der berühmtesten Heroen in der griechischen Mythologie: Perseus, Sohn des Zeus, der sich in Gestalt eines Goldregens seiner Mutter Danaë genähert hatte.
MUSIK privat Take 012 „Necromancer“; Album: Black Death (Original Motion Picture Soundtrack); Label: MovieScore Media – MMS-10011; Interpret: Nick Ingman; Komponist: Christian Henson; ZEIT: 02:16
SPRECHERIN
Dem König von Argos war geweissagt worden, ein Sohn seiner Tochter Danaë würde ihm einst zum Verhängnis werden. Er setzt daher Danaë und ihren Sohn Perseus auf dem Meer aus. Die Götter aber retten beide, so dass sie auf einer Insel der Kykladen an Land gespült werden. Hier weckt Danaë die Begierde des Königs Polydektes.
SPRECHERIN
Der auch vor Drohungen und Erpressungen nicht zurückschreckt, als er Danaë nachstellt. Perseus und dem Fischer, der Mutter und Sohn bei sich aufgenommen hat, gelingt jedoch immer wieder Danaë zu beschützen.
SPRECHER
Dieser Perseus muss weg. König Polydektes verlangt daher von Perseus, ihm das Haupt der Gorgone Medusa zu bringen, das jeden, der es sieht, zu Stein verwandelt. Die Gorgonen sind gemäß der griechischen Mythologie drei Schwestern, Kinder des Meeresgottes Phorkys und seiner Schwester Keto. Drei geflügelte Schreckensgestalten, welche jeden, der sie erblickt, zu Stein erstarren lassen.
ZITATORIN
Der Gorgonen Geschlecht, jenseits des Okeanos wohnend,
Hart an der Grenze der Nacht, bei den singenden Hesperiden,
Stheino, Eurýale auch, und die jammervolle Medusa.
Sie war sterblich allein, doch Tod so wenig wie Alter
Kannten die zwo.
SPRECHER
Als echter Held macht sich Perseus natürlich sofort auf den Weg.
O-Ton 3 Mergenthaler (12:41)
Allerdings tut er das nicht als Soloplayer, sondern wenn man so will, als Teamplayer mit Backup. Und das Backup ist göttlicher Natur. Das ist Athene, die ihm ein bisschen was mitgebracht hat - wichtige Items: ein Sichelschwert, die „Harpe“, ein Beutelchen, Säckchen wie auch immer die „Kibisis“ und das entscheidende, die „Aigis“, ein Schild. Sie hat einen Schild mitgebracht, der blankpoliert ist, in dem man ein Spiegelbild sehen kann.
ZITATORIN
Perseus trat an die Schlafenden heran, mit abgewandtem Gesicht in seinen ehernen Schild blickend, der ihm das Bild der Gorgo zeigte, und indem ihm Athene die Hand führte, schnitt er ihr das Haupt ab.
g Schwert + MUSIK ENDE
O-Ton 4 Mergenthaler (14:10)
Also das ist die die Erfolgsgeschichte von Perseus. Und da ist eben, dass das Spannende dran, dass damit eigentlich erst mal eine Medientheorie verbunden ist: Also das denkbar Schrecklichste, dem kann ich mich eigentlich nicht aussetzen, ohne zugrunde zu gehen. Ich kann ihm aber begegnen, wenn ich es medialisiere. Das heißt, wenn ich vermittelt draufschaue. Und das kann man bis in unsere Zeit eigentlich übertragen.
SPRECHERIN
Dokumentierte Grausamkeiten aus dem ukrainischen Ort Butscha, verstörende Bilder ungeheurer Zerstörung und Gewalt aus Gaza, unerträgliche Aufnahmen von Morden der Hamas…
O-Ton 5 Mergenthaler (15:03)
Das ist entsetzlich, was wir da zu sehen haben. Wir gucken es aber an, auf dem TV-Bildschirm, auf dem Handy, und halten das irgendwie aus. Und so würde ich sagen das ist das ist das, was uns der der Mythos im Grunde für heute liefern kann: mit dem mit dem Entsetzlichen, mit dem Grauenhaften Können wir irgendwie umgehen, wenn es eingekastelt wird, nicht, wenn es auf einem kleinen Bildschirm ist, der jederzeit signalisiert: das ist nicht in echt, das ist eine Repräsentation des Schrecklichen. Und dann lässt sich das bearbeiten, bewältigen und aushalten in irgendeiner Form. Das ist also das sozusagen das medientheoretisch Interessante am Mythos.
SPRECHER
Mythos bedeutet zu erzählen. Aber warum erzählen wir?
SPRECHERIN
Indem wir erzählen, übernehmen wir die Kontrolle. Der Literaturwissenschaftler Volker Mergenthaler:
O-Ton 6 Mergenthaler (16:12)
Ich kann etwas in eine Ordnung bringen, das Unstrukturierte, das Schreckenerregende dieses Gegenübers, kann ich in eine Ordnung übertragen, indem ich sie auf die auf die Spiegelfläche bringe oder indem ich sie in eine Erzählung überführe. Beides sind Formen der Medialisierung. beides sind Formen der Strukturierung und der Ordnung. Und insofern Mythos das Schreckliche erzählt und weiterträgt und transformiert ist es immer auch eine Form der Kontrolle der Rationalisierung. Von daher ist dieser Medialisierungskniff, den Perseus mit Hilfe der Athene vollzogen hat, eben mythos-theorethisch interessant, aber auch für ganz moderne Medientheorie immer noch ganz brauchbar.
MUSIK privat Take 001 „Mercy In Darkness”; Album: Archangel; Label: Two Steps From Hell – TSFHCD02; Interpret: Aya Peard & Two Steps From Hell; Komponist: Nick Phoenix; ZEIT: 01:52
ZITATORIN
Athene nahm das Haupt der Gorgo in die Mitte ihres Schildes.
SPRECHERIN
Als Unheil abwehrendes magisches Schutz- und Schreckmittel schmückt das sogenannte Gorgoneion fortan Waffen, Wagen, Schiffe, Stadt-mauern, Amulette, Gewänder, Möbel und Sarkophage.
SPRECHER
Der abgeschlagene Kopf ist ein Zeichen, das Macht demonstriert. Das Ungeheuer ist besiegt - doch zugleich gegenwärtig.
((ZITATORIN
Vor dem Anblick jedem stirbt des Lebens Hauch.
SPRECHER
Das Antlitz der Medusa behält seine Wirkung: Zunächst als bluttriefend hervorgezogenes Haupt und später als Abbild auf dem Schild.
SPRECHERIN
Die Enthauptung: blutige Machtdemonstration von Königen, Revolutionären und Terrorristen. ))
SPRECHER
Aber was genau speziell am Haupt der Medusa ist so schrecklich? Und: Wie ist dieses schreckliche Monster entstanden?
ZITATORIN (geflüstert)
accipe quaesiti causam. clarissima forma
multorumque fuit spes invidiosa procorum
illa, nec in tota conspectior ulla capillis
pars fuit: inveni, qui se vidisse referret.
hanc pelagi rector templo vitiasse Minervae
dicitur: aversa est et castos aegide vultus
nata Iovis texit, neve hoc inpune fuisset,
Gorgoneum crinem turpes mutavit in hydros.
nunc quoque, ut attonitos formidine terreat hostes,
pectore in adverso, quos fecit, sustinet angues.
(darüber)
Höre den Grund des, was du erfragst. Obsiegend in Schönheit
War der beneidete Wunsch zahlreicher Bewerber Medusa;
Aber es fiel kein Teil an der ganzen Gestalt in das Auge
Mehr, als das Haar. So hört' ich von manchen, die selbst es gesehen.
Diese entehrt der Fürst des Meers, wie es heißt, in Minervas Tempel.
(wegblenden)
[Von hinnen gewandt hielt Iupiters Tochter die Aigis
Vor ihr keusches Gesicht, und damit nicht fehlte die Strafe,
Ließ sie der Gorgo Haar sich wandeln in scheußliche Hydern.
Jetzt noch immer, mit Angst zu schlagen erbebende Feinde,
Trägt sie vorn auf der Brust von ihr selber geschaffene Schlangen.]
darüber
SPRECHERIN
Im ersten Jahrzehnt nach Christi Geburt erzählt auch der antike römische Dichter Ovid in seinem mythologischen Gedicht „Metamorphosen“ von Perseus und Medusa.
MUSIK ENDE
O-Ton 7 Grossi I (08:23)
Und eine Innovation des Ovid ist, dass er uns jetzt aber noch einen Hintergrund zu dieser Figur erzählt. Und zwar sei diese Gorgone, diese Medusa, nicht einfach immer schon ein Monster gewesen, sondern sie sei ursprünglich mal eine wunderschöne junge Frau gewesen, die sich vor männlichen Verehrern kaum retten konnte und vor menschlicher Aufmerksamkeit.
SPRECHER
Die Althistorikerin Giulia Grossi hat sich dem Medusa-Mythos aus feministischer Perspektive genähert.
O-Ton 8 Grossi (08:48)
Und diese wunderschöne junge Frau war allerdings eine Priesterin der Athene, also der Göttin, die später ganz wesentlich zu ihrem Tod beiträgt. Und ja, diese ungewollte männliche Aufmerksamkeit ist leider ein Leitmotiv ihres Lebens, denn sie zieht eben die Aufmerksamkeit von Poseidon beziehungsweise Neptun, auf sich, dem Meeresgott. Und dem kann sie leider nicht entkommen. Denn der tut ihr sexualisierte Gewalt an, und zwar in dem Tempel der Athene. Und statt also ihrer Schutzbefohlenen zu Hilfe zu kommen, sieht Athene das als ein schweres Vergehen gegen sie selbst, gegen die Integrität dieser Göttin und der Integrität dieses Heiligtums. Und sie bestraft Medusa dafür, indem sie ihr ein furchtbares Aussehen verleiht eben durch beispielsweise das Schlangenhaar, was heute noch ein sehr bekanntes Motiv oder das bekannteste ikonografische Motiv der Medusa ist und sie eben gleichzeitig auf diese Insel verbannt. Und zudem noch diese schreckliche Gabe des ja das versteinernden Blickes, was diese arme Frau, zusätzlich auch noch isoliert, komplett.
MUSIK privat Take 001 „Mercy In Darkness”; Album: Archangel; Label: Two Steps From Hell – TSFHCD02; Interpret: Aya Peard & Two Steps From Hell; Komponist: Nick Phoenix; ZEIT: 00:43
SPRECHERIN
Medusa wird vergewaltigt und dafür auch noch bestraft, von der, die sie eigentlich beschützen sollte, ihrer Priesterin.
SPRECHER
Sie wird also keineswegs nur Opfer männlicher Gewalt, sondern zugleich auch des weiblichen Neids.
ZITATORIN
Meine Locken wanden sich wild in Wut, mein Bewusstsein klammerte sich fest am Hass, der Wunsch nach Rache erfüllte mich und ich begann mich an ihm zu nähren. Mein Haar verwandelte sich in Vergeltung zischende Vipern und meine Augen sahen die Welt in Stein.
MUSIK ENDE
O-Ton 9 Grossi (12:35)
Wir wissen ganz genau, den Kontext, den politischen Kontext, den gesellschaftlichen Kontext, in dem Ovid schreibt. Und zwar ist es in dem ja ziemlich brisanten Zeitalter des Übergangs einer republikanischen Staatsform in eine monarchisch Staatsform der römischen Kaiserzeit, die eigentlich jetzt beginnt, also mitschreibt um die Zeitenwende der Herrschaft des Augustus, mit dem er ein sehr angespanntes Verhältnis hat. Und er macht gar kein Geheimnis daraus, dass Augustus in seinem Epos als quasi-göttliche Figur gleichgestellt wird. Und ein sehr wichtiges Thema, was sich durch die Metamorphose vor allem die ersten Metamorphosen-Bücher durchzieht, wo auch dieser Medusa-Mythos beziehungsweise Perseus-Mythos drin erzählt, ist die Ohnmacht der Menschen vor göttlicher Macht. Also alle Menschen sind dieser göttlichen Macht, der absoluten Willkür dieser olympischen Götter zu allen Zeiten unterworfen. Und was wir in diesem Epos ja auch sehen, ist, dass es keinerlei Konsequenzen für Athene gibt oder für Perseus, der ja der Held dieser Geschichte ist, und die soll es auch nicht geben.
SPRECHERIN
In der patriarchalen Weltordnung hat die Schönheit Medusas eine gewaltige Schattenseite: Sie provoziert männliches Begehren und sexualisierte Gewalt. Erst mit der Verwandlung ins schlangenhaar-bewehrte zornige Ungeheuer gewinnt Medusa Sicherheit. Zudem kann sich die Medusa jetzt mit ihrem versteinernden Blick zur Wehr setzen und wird schließlich auch noch auf eine Insel verbannt, auf der sie nur mit ihren gorgonischen Schwestern lebt. Verwandlung und Verbannung gewährleisten also Schutz vor weiterer männlicher Gewalt. Giulia Grossi:
O-Ton 10 Grossi (33:15)
Die Tatsache, dass Medusa ja Opfer eines sexuellen Übergriffes wurde und das Ganze aber ja keinerlei Konsequenzen für ihren Aggressor einerseits bedeutet hat, andererseits aber auch für diese Gottheit ihre Schutzbefohlene, ihre Patronin, die sie dafür bestraft.
Das ist, glaube ich, ein Motiv, was ganz wichtig wird und ganz emblematisch für diese Auseinandersetzung mit eben der Normalisierung von solcher sexuellen Gewalt. Das ist einfach an der Tagesordnung ist. Und es gibt keine Konsequenzen mehr. Was für Konsequenzen soll es schon geben? Und andererseits eben auch
dieses die Thematik des weiblichen Neides. Dass Frauen gegeneinander ausgespielt werden und wenig Solidarität untereinander zeigen, ist eben auch ein Motiv, was hier ganz gut abgehandelt und diskutiert werden kann.
SPRECHER
In den 1960er und 70er Jahren entdeckt der Feminismus den Medusa-Mythos für sich.
SPRECHERIN
Es geht um weibliche Autonomie, um Selbstbestimmung, die sich eben auch auf sexuelle Selbstbestimmung erstreckt. Um autonome Organisations- und Lebensformen – die drei Gorgonen leben frei und unabhängig - ohne Männer – ihr eigenes Leben. Eine autonome Gemeinschaft, die sich mittels des versteinernden Blicks der Medusa auch verteidigen kann.
MUSIK privat Take 001 „Mercy In Darkness”; Album: Archangel; Label: Two Steps From Hell – TSFHCD02; Interpret: Aya Peard & Two Steps From Hell; Komponist: Nick Phoenix; ZEIT: 00:24
ZITATORIN
Es reicht Medusa ins Gesicht zu schauen, um sie zu sehen: und sie ist nicht tödlich. Sie ist schön und sie lacht.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Schreibt die französische Schriftstellerin Hélène Cixous in ihrem Essay „Das Lachen der Medusa“ aus dem Jahr 1975, der als ein Schlüsseltext der feministischen Theorie gilt.
O-Ton 11 Grossi II (03:21)
Und Hélène Cixous eben dann darauf verweist, eben einerseits diese männliche Angst, die sich in Medusa manifestiert, vor weiblicher Selbstbestimmung und vor weiblicher Macht und andererseits die Tatsache eben, dass Medusa eine schöne Frau gewesen sei und gelacht hat.(…) 04:06 Dass eben diese männliche Angst vor weiblicher M acht, die jahrhundertelang eben zu solcher Unterdrückung geführt hat und eben auch zu einer Selbstunterdrückung von Frauen versucht zu lösen. Und eben die Selbstbestimmung und Freiheit von Medusa unterstreicht und nicht das Gefährliche, das ihre Schönheit hatte, auch aus weiblicher Perspektive die Gefahr eines sexuellen Übergriffs, sondern eben die Freiheit, die solche Schönheit und sexuelle Selbstbestimmtheit mit sich bringen kann.
MUSIK privat Take 001 „Mercy In Darkness”; Album: Archangel; Label: Two Steps From Hell – TSFHCD02; Interpret: Aya Peard & Two Steps From Hell; Komponist: Nick Phoenix; ZEIT: 00:58
ZITATORIN
Als Gefangene meiner selbst sehne ich mich danach, mein zischendes Haar abzuwerfen, meine verhängnisvollen Augen zu schließen, die verdreht sind von einer Wut, die ich nie wollte…
SPRECHERIN
Weit weniger optimistisch nähern sich Dichterinnen wie die amerikanische Lyrikerin Ann Stanford dem Medusa-Mythos. Düster und schonungslos erzählen sie von der Vergewaltigung durch Poseidon aus der Ich-Perspektive. Endlich erhält Medusa selbst eine Stimme. Und es ist keine göttliche Strafe, sondern die Wut über Poseidons Angriff, die Medusa verwandelt.
ZITATORIN
Mein zorngetränkter Blick tötete alles Lebendige. Ich war allein. Ich bin allein.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Medusas entstelltes Antlitz: der Ausdruck weiblicher Wut. Wut, die seit jeher keinen Platz in der patriarchalen Gesellschaft hatte - sanktioniert, pathologisiert, weggeschlossen, wegerzogen.
SPRECHER
Medusa bleibt eine zutiefst ambivalente Figur: furchteinflößend und als Zeichen zugleich schützend.
SPRECHERIN
Opfer männlicher sexueller Gewalt einerseits, Symbolfigur autonomer Weiblichkeit andererseits.
SPRECHER
Der Mythos Medusa wird fortgeschrieben: Die Gorgone tritt in Computerspielen wie „Heroes of Might and Magic“, „God of War“ oder „Assassin’s Creed“ auf. In Kinoblockbustern wie „Kampf der Titanen“ in Jugend-Fantasy wie „Percy Jackson“…
SPRECHERIN
2022 veröffentlicht die britische Schriftstellerin Natalie Haynes ihren Roman „Stone Blind – Der Blick der Medusa“.
SPRECHER
Der Kopf der Gorgone werde hier zum Symbol dafür, wie Geschichten durch die Zeit verzerrt werden können und eine neue und kraftvolle Resonanz erhalten, urteilt „The Guardian.“
SPRECHERIN
2022 hat an den Münchner Kammerspielen „Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)“ der israelischen Autorin Sivan Ben Yishai Premiere. Yishai schildert schonungslos in ihrem klageliedartig komponierten Textgeflecht alle erdenklichen Details sexualisierter Gewalt. Im Mai 2023 führt Sabine Fischmann das Stück „#MeToo Medusa. Ein feministischer Wutausbruch“ im Frankfurter Stalburg Theater auf.
MUSIK privat Take 001 „Mercy In Darkness”; Album: Archangel; Label: Two Steps From Hell – TSFHCD02; Interpret: Aya Peard & Two Steps From Hell; Komponist: Nick Phoenix; ZEIT: 00:58
ZITATORIN
Ich bin die für schuldig befundene Unschuldige. Die man enthauptete, während sie schlief. Deren verstümmelte Überreste ganze Heere in Schrecken versetzen. Ich bin, was nach einer Vergewaltigung von einer Frau bleibt.
SPRECHERIN
Medusa-Varianten, die Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden, ihre eigene Stimme zurückzugeben versuchen. Medusa steht heute mehr denn je für ein sehr intimes und persönliches Thema, das zugleich doch höchst politisch ist.
Frankenkönig Karl der Große klagt 788 den Bayernherzog Tassilo III. wegen angeblichen Treuebruchs an. In einem konstruierten Gerichtsverfahren gelingt es ihm, seinen Cousin und politischen Konkurrenten auszuschalten. Von Thomas Grasberger (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen:Christian Jungwirth, Rahel Comtesse, Peter Lersch
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Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Herwig Wolfram, emeritierter Geschichtsprofessor der Universität Wien
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Es war absehbar: Der englische König Edward der Bekenner würde keinen Nachfolger hinterlassen. Nun, nach seinem Tod im Jahr 1066, begann ein Game of Thrones zwischen Anwärtern aus halb Europa um die Nachfolge des Königs. Die Entscheidung fällt in einer Schlacht, deren Jahreszahl man irgendwann schon einmal gehört hat: 1066 prallen Wilhelm der Eroberer und König Harold bei Hastings aufeinander. Ein Schicksalstag nicht nur in der mittelalterlichen Geschichte. Von Fiona Rachel Fischer
Credits
Autorin dieser Folge: Fiona Rachel Fischer
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Andreas Neumann, Katja Amberger
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Jörg Schwarz, Universität Innsbruck
Linktipps:
TATORT GESCHICHTE - TRUE CRIME MEETS HISTORY
"Gott will es" - Der 1. Kreuzzug und die blutige Eroberung Jerusalems
Vor über 900 Jahren machten sich verschiedene Heere von Kreuzfahrern auf den Weg nach Jerusalem, um die "Heilige Stadt" von den "Ungläubigen" zu befreien. Im Juli 1099 beginnt dann ein brutaler und blutiger Angriff gegen die muslimischen und jüdischen Einwohner. Wir beleuchten zusammen mit Prof. Dr. Georg Strack, wie es zu diesem Gemetzel kommen konnte und was hinter der Anziehungskraft Jerusalems für drei Weltreligionen steckt.
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Dominik Waßenhoven: 1066. Englands Eroberung durch die Normannen. München 2016. (Detaillierte Beschreibung der Geschehnisse von 1066 und deren Hintergründe, mit verständlicher Abwägung der verschiedenen Quellen und ihrer abweichenden Berichte)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLERIN:
London, der 5. Januar 1066. Um das Gemach des englischen Königs sind seine treuesten Anhänger versammelt. In ihrer Mitte liegt Edward, alt, schwach und dem Tode nahe. Es ist der Tag, den viele gefürchtet und viele andere herbeigesehnt haben. Denn mit dem letzten Atemzug des Königs wird der Kampf um den englischen Thron eröffnet sein.
SPRECHER 1:
Die Herrschaft unter Edward the Confessor, Eduard dem Bekenner, war lange und glorreich. Mit seiner Thronbesteigung vor über 20 Jahren hatte er die jahrelange skandinavische Fremdherrschaft über England beendet und sich als großer Förderer der Kirche hervorgetan. Edward wird der letzte des angelsächsischen Hauses von Wessex sein, der die englische Krone trägt.
SPRECHER 2:
Es heißt, Edward hätte eine Josephsehe geführt, also: eine Ehe ohne Sexualakt. Für diese Keuschheit wird er im 12. Jahrhundert heiliggesprochen und erhält den Beinamen „Confessor“ – „Bekenner“
ERZÄHLERIN:
Doch seine Kinderlosigkeit, das Fehlen eines Thronfolgers, ist schon seit Jahren ein immer größer werdendes Problem. Jetzt aber bedarf es ganz dringend einer endgültigen Lösung.
O-TON (ehemals 2):
Das Problem bei Edward dem Bekenner war so ein bisschen, dass er sich wohl im Laufe seiner dann doch relativ langen Regierungszeit - Sie müssen sich vorstellen, er regierte von 1042 bis 1066 -, […] dass er sich wohl immer wieder auch mal umentschieden hat, wer sein potenzieller Nachfolger werden sollte. […] Also er war, im Rückblick betrachtet, sozusagen nicht ganz unschuldig an dem, was dann im Jahr 1066 an Thronwirren, an Unruhen, an kriegerischen Ereignissen in der Geschichte Englands passiert ist.
SPRECHER 2:
Der Historiker Professor Jörg Schwarz. Er hat den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Innsbruck inne. Seit langem schon beschäftigt er sich mit dem berüchtigten Jahr 1066 – (engl. ausgesprochen) dem Jahr 1066.
Musik: The kings arrival 0‘27
ERZÄHLERIN:
Ein Jahr, in dem die Ordnung in Anglia völlig auf den Kopf gestellt werden wird. Denn ohne einen leiblichen Thronerben gieren Machthaber in ganz Europa nach der englischen Krone. Die einzige Chance für die Großen des Landes, ein Machtvakuum zu verhindern, ist ein sofortiger Machtübergang auf einen starken Nachfolger.
ERZÄHLERIN:
Dafür kommen nach den Maßstäben der Zeit mehrere Kandidaten infrage:
SPRECHER 1:
Herzog Wilhelm von der Normandie, William of Normandy, ein enger Verbündeter des Königs.
SPRECHER 2:
Harold Godwinson, der älteste Sohn einer der mächtigsten angelsächsischen Familien und Schwager des Königs.
SPRECHER 1:
Edgar Etheling, der etwa 14-jährige Enkel vom früheren englischen König Edmund Ironside oder Eisenseite.
ERZÄHLERIN:
Auf seinem Sterbebett inmitten seiner Berater wählt König Edward nun kurz vor seinem Tod –
SPRECHER 2 (triumphal):
Harold Godwinson, den Earl von Wessex.
O-TON 3:
Am 5. Januar 1066 wurde er zum neuen König erhoben, und zwar von einem sehr interessanten Gremium, nämlich vom sogenannten Witenagemot, also von einem Rat weiser Männer, einem Kronrat, könnte man sagen. Die großen Magnaten Englands kamen hier zusammen und haben ihn zum neuen König erhoben, um sozusagen sofort Nägel mit Köpfen zu machen, um sofort zu garantieren, dass also die Regierungsgewalt Englands in diesen ersten Tagen nach dem Tod Eduards des Bekenners weitergehen kann, dass die Regierungsfähigkeit Englands gewährleistet werden kann.
ERZÄHLERIN:
König Harold etabliert sich wie erhofft sofort als starker Herrscher und regiert das Land mit fester Hand nach Vorbild Edwards.
Musik: To vaes Dothrah 0’35
SPRECHER 1:
Doch es ist weithin bekannt, dass in ganz Europa Vorbereitungen getroffen werden, andere Ansprüche geltend zu machen. In einem Kampf auf Leben und Tod. Denn der unanfechtbar rechtmäßige Herrscher ist er nicht. Andere Mächtige glauben, einen besseren Anspruch auf den englischen Thron zu haben.
ERZÄHLERIN:
In diesem Frühjahr machen die Bewohner Europas eine beängstigende Beobachtung: Es erscheint am Firmament ein Kommet.
SPRECHER 2:
Ein göttliches Zeichen!
O-TON 4:
Man geht heute davon aus, dass es der Halleysche Komet gewesen ist, also ein Komet, der zyklisch wiederkehrt und der immer wieder auch beobachtet werden kann. Dieser Komet unterstreicht in den Narrativen, in den Erzählungen das Ereignis, also man verbindet ganz gerne in diesen mittelalterlichen Geschichtserzählungen das Auftauchen von Kometen, von bestimmten Sternkonstellationen mit Ereignissen auf der Erde. Und es soll den Menschen zeigen: Jetzt ist Gott zu sehen. Jetzt unterstreicht Gott sozusagen die Dinge, die auf Erden passieren.
Musik: Victory does not make 0‘35
ERZÄHLERIN:
Harold regiert in der ständigen Erwartung, dass seine Herrschaft angefochten wird. Sein wachsamer Blick geht dabei Richtung Frankreich.
SPRECHER 1:
Und in der Tat. In der Normandie laufen die Kriegsvorbereitungen schon auf Hochtouren. Der dortige Herzog Wilhelm, seines Zeichens Normanne, hatte vor Jahren von Edward das Versprechen erhalten, sein Nachfolger zu werden.
O-TON 5:
Die Quellen, die über ihn erzählen, sind doch oftmals sehr, sehr panegyrisch, also sehr, sehr lobpreisend. Und sie schildern uns natürlich in den großartigsten Farben. Aber nach allem, was wir wissen können, muss es eine sehr, sehr starke, eine sehr, sehr durchsetzungsfähige Persönlichkeit gewesen sein, der vor allen Dingen mit einer unendlich großen Entschlusskraft an all die Probleme, die sich ihm stellten, immer wieder herangegangen ist.
Musik: Attacking the slags 0‘45
ERZÄHLERIN:
Hunderte Langschiffe im Stile der Wikinger lässt der Normanne nach Vorbild seiner skandinavischen Ahnen bauen, um sein riesiges Heer transportieren zu können. Es ist eine der größten Flotten der damaligen Zeit. Zeitgleich schmiedet der Herzog ein Bündnissystem, um seinen Herrschaftsanspruch zu bestärken. Denn es gibt noch einen Grund, weshalb angeblich Wilhelm statt Harold auf dem englischen Thron sitzen sollte:
SPRECHER 1:
Harold Godwinson hatte einige Jahre zuvor dem Herzog der Normandie seine Treue geschworen.
SPRECHER 2:
Allerdings: Unter Nötigung!
SPRECHER 1:
Nichtsdestotrotz bedeutet das, dass Harold Wilhelms Herrschaftsanspruch unterstützen muss – oder seinen Eid brechen. Ausgerechnet der gerade frisch gekürte König müsste also seinem Konkurrenten - auf den Thron helfen.
ERZÄHLERIN:
So jedenfalls behauptet es der Teppich von Bayeux, eine bedeutende Quelle für die Zeit. „Teppich“ ist eigentlich nicht richtig, vielmehr handelt es sich dabei um eine 70 Meter lange Stickerei auf Leinen, die vermutlich nur wenige Jahre nach 1066 gefertigt worden ist und die die Geschichte der normannischen Eroberung in Bildern und Textstücken erzählt.
O-TON 6:
Der Teppich hat den Vorzug, dass er im Grunde funktioniert wie ein moderner Comicstrip. […] Wir erfahren ganz viel über die normannische Eroberung über diesen Teppich. Aber wir erfahren neben diesen Dingen zu romantischen Eroberungen auch ganz, ganz viel aus der Geschichte der Alltagskultur, der materiellen Kultur des Mittelalters. Es sind Rüstungen, es sind Kleidungen, es sind Speisen und Getränke, sind Becher, und alles Mögliche ist dort dargestellt. Also es ist eine einzigartige Quelle. Man kommt aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus, wenn man sich mit diesem Teppich beschäftigt.
ERZÄHLERIN:
Wer wann den Teppich zu welchem Zweck in Auftrag gegeben hat, kann man nicht mit Gewissheit sagen. Aber man kann ein Ansinnen erkennen, das hinter dem Stickwerk zu stehen scheint:
O-TON 7:
Der Teppich hat im Grunde ein großes Narrativ, also eine durchgehende Erzählung, und das Narrativ heißt: „Wer ist der legitime Herrscher über England?“ […] Der Teppich hat also ganz bestimmte Dinge, die sich damals in England gezeigt haben, ganz bewusst ausgeblendet und ist insofern natürlich eindeutig ein normannisches Propagandainstrument.
ERZÄHLERIN:
Die Frage nach dem legitimen Herrscher Englands beantwortet der Teppich ganz eindeutig: William ist das.
SPRECHER 1:
Doch noch ist der Herzog nicht ausreichend gerüstet, um seinen Anspruch geltend zu machen.
O-TON (ehemals 1):
Wir verbinden mit diesem Jahr die normannische Eroberung Englands […] Aber in diesem Jahr haben mehrere kriegerische Ereignisse um die Krone Englands, um das Königreich England stattgefunden. Durchaus nicht nur die berühmte Schlacht von Hastings vom 14. Oktober 1066, sondern auch im Vorfeld einige andere bedeutende Schlachten.
Musik: Jaws of the viper 0’27
ERZÄHLERIN:
Denn es gibt durchaus noch andere Machthaber, die den englischen Thron für sich gewinnen wollen und jetzt ihren Anspruch auf Leben und Tod ausfechten. Für eine kurze Zeit machen sich dadurch ganz andere Zukunftsvisionen für Anglia auf: Während nun Harold die Invasion Wilhelms im Süden erwartet, wird er plötzlich im Nordosten Englands angegriffen - gleich von zwei Seiten.
SPRECHER 2:
Einmal von seinem abtrünnigen Bruder, Tostig Godwinson, dem ehemaligen Earl von Northumbria, der wegen seiner autoritären Herrschaft vor kurzem von Harold ins Exil geschickt wurde. Nun, im Mai, kehrt er zurück und beginnt, die englischen Küsten zu überfallen und zu verwüsten.
ERZÄHLERIN:
Der zweite Angreifer ist der König von Norwegen, Harald Hardrada, der „Harte“, der auf den Orkney-Inseln landet. Er möchte das Nordseereich von seinem Vorgänger Knut dem Großen, wieder aufbauen, der über England und große Teile Skandinaviens und Norddeutschlands geherrscht hatte. Daraus zieht Harald Hardrada jetzt seinen Anspruch auf die Krone Englands. In Schottland treffen die beiden Invasoren aufeinander und verbünden ihre Streitkräfte für einen vernichtenden Schlag. König Harold wird benachrichtigt, doch in Northumbria stellen sich die Earls ohne seine Verstärkung den Eindringlingen entgegen: am 20. September, bei der Schlacht von Fulford nahe York.
O-Ton 8:
Fulford Gate war ein großartiger Sieg der Norweger, ein großartiger Sieg der norwegischen Invasoren, die mit einer Flotte von 300 Wikingerschiffen ganz in der Nähe dieses Ortes gelandet sind, an der Küste von Yorkshire dann mit ihren Truppen ins Landesinnere vorgedrungen sind, die sich dort dann einen Kampf geliefert haben mit den Angelsachsen und die diesen Kampf gewonnen haben. Also es schien zunächst einmal alles ganz großartig zu sein für die Norweger.
Musik: Game of thrones 0‘25
SPRECHER 2:
Harold reagiert sofort auf die Niederlage der Earls. Er eilt mit seinen Truppen nach York und überrascht die Invasoren in Stamford Bridge. Am 25. September schlägt er seine Konkurrenten vernichtend.
O-TON 9:
Der Schlachtverlauf dieser ersten beiden großen Schlachten des Jahres 1066, Fulford Gate oder Stamford, ist sehr, sehr schwer zu rekonstruieren. Die Quellen sind oftmals sehr ungenau und sehr, sehr schematisch, geben vielfach nur Gemeinplätze oder Topoi wieder.
SPRECHER 2 (episch):
Ein einzelner Norweger soll bei der Schlacht von Stamford Bridge eine hölzerne Brücker über dem Fluss Derwent verteidigt und dadurch Harolds Armee gestoppt haben – bis ein mutiger Angelsachse unter die Brücke schwamm und den feindlichen Soldaten mit einem Speer tötete.
ERZÄHLERIN:
Derartige Legenden gibt es bei solchen schicksalshaften Schlachten aber wohl immer. Sicher ist aber etwas Entscheidendes: Sowohl Tostig als auch Harald Hardrada haben bei dem Versuch, die englische Krone zu gewinnen, ihr Leben gelassen. Ihre Truppen sind damit besiegt – und Harold konnte die norwegische Invasion Englands vereiteln. Allerdings nur durch eine große Kraftanstrengung seines angelsächsischen Heers.
Musik: Fire and blood 0‘50
SPRECHER 2:
Ist Harolds Thron damit sicherer geworden? – Nein. Erst jetzt naht die die noch weit größere Gefahr für die Herrschaft des angelsächsischen Königs.
SPRECHER 1:
Denn in der Zwischenzeit hat Herzog Wilhelm seine Invasionsvorbereitungen beendet. Er wartet nur noch auf günstigen Wind, um seine Streitkräfte über den Ärmelkanal nach England zu schiffen. Acht Wochen ziehen ins Land. Es ist der 27. September, zwei Tage nach der Schlacht gegen die Norweger, als sich der Wind dreht. Einen Tag später landet er in Pevensey und zieht sofort weiter. Nach Hastings.
SPRECHER 2:
Trotz seiner schweren Verluste eilt König Harold mit seiner Armee in den Süden Englands, um dem normannischen Eindringling entgegenzutreten und sein angelsächsisches Reich zu verteidigen. Die Geschwindigkeit, mit der er die große Distanz einmal quer durch England zurücklegt, ist enorm. Enorm anstrengend.
Musik Finale 0’45
ERZÄHLERIN:
Am 13. Oktober kommt der Angelsachse in Hastings an und überrascht William im Morgengrauen des 14. Oktobers mit einer siebentausend Mann starken Armee, die auf einer Anhöhe Aufstellung nimmt.
SPRECHER 1:
Doch Wilhelm und seine Soldaten sind schon allein waffentechnisch eine Übermacht – und zudem frisch ausgeruht.
ERZÄHLERIN:
Harolds Armee besteht aus gut trainierter Infanterie und eingezogenen Bauern. Reiter hat er keine und Bogenschützen seit der Schlacht von Stamfordbridge nicht mehr.
SPRECHER 2 (stolz):
Als die ersten normannischen Pfeile und Bolzen fliegen, halten die angelsächsischen Krieger den Schildwall gut.
O-TON 10:
Und wir können nach allem, was wir wissen, rekonstruieren, dass die Normannen am Anfang ein bisschen dadurch im Nachteil waren, weil sie offensichtlich ein Gelände heraufreiten mussten, mit ihren Pferden, mit ihrer Armee und die Angelsachsen von einer erhöhten Position sozusagen auf diese angreifenden Normannen einschlagen konnten. Und so hat der Schlachtenverlauf zunächst einmal fast einen unentschiedenen Ausgang genommen. Es blieb also sehr, sehr lange alles in der Schwebe.
Musik: The throne is mine 0‘55
ERZÄHLERIN:
Dann breitet sich Tumult in den Reihen der Normannen aus. Wilhelm, der Anführer, sei gefallen!
SPRECHER 1 (dringlich):
Doch das ist nur ein Gerücht. Angeblich riss sich der Herzog seinen Helm vom Kopf, um zu beweisen, dass er nach wie vor seinen Truppen beisteht. Dass es sich weiter zu kämpfen lohnt.
SPRECHER 2:
Einige angelsächsische Soldaten haben jedoch bereits den Schildwall verlassen, um die Unruhe des Feindes zu nutzen.
SPRECHER 1 (gerissen):
Das bringt Wilhelm auf eine Idee. Er ändert seine Strategie: Er täuscht eine neuerliche Flucht seiner Truppen vor und verleitet die Angelsachen dazu, ihre eigene Formation zu lockern, den fliehenden Normannen hinterher, doch die wenden sich plötzlich gegen die angelsächsischen Normannen und…
ERZÄHLERIN (darüber):
Es ist eine der längsten Ritterschlachten des Mittelalters. Wo bei anderen Kämpfen nach wenigen Stunden unter der schweren Rüstung die Kraft abhandenkommt, dauert die Schlacht von Hastings vom Vormittag bis in die Abendstunden. Bis schließlich –
SPRECHER 2:
Der König ist tot! Der König ist tot!
ERZÄHLERIN:
– Harold Godwison fällt. Die angelsächsischen Truppen geraten in Panik. Zum Schluss sind sie es, die fliehen und von den Normannen aufgerieben werden.
SPRECHER 1:
War es ein Pfeil ins Auge, wie es der Teppich von Bayeux zeigt? War es ein tödlicher Schwerthieb? Bis heute ist dieses Rätsel nicht gelöst. Doch so viel ist klar: damit ist der Weg zum Thron für Wilhelm frei.
SPRECHER 2 (ein wenig pikiert):
Nun, nicht ganz. Erst muss er sich krönen lassen, und dafür muss er erst einmal nach London kommen.
O-TON 11:
Und er musste sozusagen die Londoner auf seine Seite bringen. Ja, und hat es dann auch geschafft, sozusagen nach London einzudringen. Er geht von Hastings die englische Südküste entlang über Dover. Er schafft es relativ schnell, diese wichtige Stadt Dover zu erobern und dort zu residieren, und zieht dann sozusagen wiederum die Richtung ändernd von Dover in Richtung London.
ERZÄHLERIN:
Er verwüstet die Südküste und nimmt die Hauptstadt in Angriff. Dort unterwirft er die wichtigsten Magnaten des alten Anglia und beginnt mit den Vorbereitungen der Krönung.
SPRECHER 1:
Dafür hält er sich genau an die angelsächsische Ordo, das alte Krönungszeremoniell. Er stellt sich damit in die Tradition seiner angelsächsischen Vorgänger.
Musik: First of his name 0‘35
ERZÄHLERIN:
An Weihnachten, dem 25. Dezember 1066, findet die Krönung in der von Edward erbauten Westminster Abbey statt. Dort wird Wilhelm gesalbt und als neuer König ausgerufen. Um beide Völker anzusprechen, findet die sogenannte Akklamation in normannischer und in angelsächsischer Sprache statt. Trotzdem oder gerade deswegen kommt es zum Missverständnis.
O-TON 12:
Das war ein doch recht großer Lärm, den diese Akklamation dann hervorrief. Also es war ein Rufen und ein Schreien und die Leute, die außerhalb der Kirche warteten, bis das ganze Zeremoniell zu Ende war, die missdeuteten diese Rufe und dieses Schreien als einen Tumult, als irgendetwas, was schiefgelaufen ist, und es brach dann draußen vor der Kirche eine Art Panik aus, und ein Chaos brach aus. Und während dieses Chaos, während dieser chaotischen Zustände ist es auch dazu gekommen, oder soll es dazu gekommen sein, dass sogar einige Häuser, die um die Kirche um Westminster Abbey herumstanden, in Brand gesetzt worden sein sollen, weil man sozusagen fürchtete um das Leben des neuen Königs.
Musik: Mereen 0‘45
ERZÄHLERIN:
Und konfliktreich geht es weiter in der Geschichte von Normannen und Angelsachsen. Wilhelm wird König von ganz England, ohne zu diesem Zeitpunkt das gesamte Land erobert zu haben. Noch Jahre später kommt es zu Aufständen der angelsächsischen Einwohner gegen die normannischen Invasoren, ganz besonders im Norden, den William persönlich verwüstet und unterwirft.
SPRECHER 2:
Gibt es noch Auswege, um der normannischen Eroberung zu entkommen? Vielleicht doch Edgar Etheling, der allzu junge angelsächsische Prinz, der sich aber auf das Geblütsrecht berufen kann?
O-TON 13:
Die normannische Eroberung Englands ist mit der Krönung 1066 noch in keinster Weise beendet. Sie wird doch noch über Jahre hinweg als kriegerisches Ereignis weitergehen, und Edgar Etheling schwebte sozusagen durchaus immer noch als Gefahr im Raum, und es war durchaus die Möglichkeit da, wenn es zu Unruhen zu Schwächen, zu Krisen in der Regierung Wilhelms kam, dass dort Edgar öffentlich als Gegenfigur aufgebaut werden konnte.
SPRECHER 1:
Aber Wilhelms Position ist schließlich doch zu stark und die normannische Invasion schlussendlich nicht wieder umkehrbar.
Musik: Love in the eyes 0‘35
SPRECHER 2 (verschwörerisch):
Nur einer hätte da vielleicht noch eine Chance: Harold, der letzte angelsächsische König, eine Symbolfigur für die geschlagenen Angelsachsen. Sein Tod ist schließlich ungeklärt –nicht wahr? In Wirklichkeit, erzählt man, war es nämlich so: Eine mildtätige Frau hat den schwerverwundeten und dem Tode nahen Harold Godwinson vom Schlachtfeld in Hastings gerettet, gesundgepflegt und versteckt gehalten.
ERZÄHLERIN:
Etwa hundertfünfzig Jahre später taucht plötzlich eine Vita zu Harolds angeblichem Leben nach der Schlacht von Hastings auf. (immer verwunderter) Er sei wegen seines gebrochenen Eides gegenüber Wilhelm von Gott bestraft worden, indem er bei Hastings schwer verwundet wurde und die Krone verlor. Doch weil Gott eben doch ein besonderes Interesse an Harold gehabt hat, habe er überlebt. Den Rest seines langen, langen Lebens habe er als gottesfürchtiger Pilger und Eremit verbracht. Sogar bei den Kreuzzügen soll er mitgekämpft haben.
O-TON 14:
Die Vita Haroldi ist eine Quelle, die zunächst einmal völlig verrückt zu klingen scheint. […] Man wollte eben den Tod bestimmter Menschen im Mittelalter nicht glauben und hat dann sozusagen seine eigene Wahrheit sich ersonnen, seine eigene Wirklichkeit sich ausgesponnen. Ich glaube, dass solche Texte in den Kreisen der Opposition, die natürlich die Verlierer waren, nach den Ereignissen von Hastings, dass die durchaus dort eine gewisse Motivationsfunktion gehabt haben und dass sie dazu beigetragen haben könnten, die Angelsachsen also durchaus auch mit einem gewissen Selbstbewusstsein wieder auszustatten.
ERZÄHLERIN:
Denn der Einfluss der Normannen auf England wird immens. Die angelsächsische Elite verliert ihren Einfluss an die normannische Aristokratie. Deren mitgebrachte romanische Sprache vermischt sich mit dem Angelsächsischen und bewirkt die für Englisch bis heute typische Mischung des Wortschatzes. Noch lange Zeit prägen Auseinandersetzungen zwischen Normannen und Angelsachsen die Gesellschaft in Anglia – bis heute ist dieser Widerstandskampf dank der Geschichte vom widerständischen edlen Räuber Robin Hood sagenumwoben. Es ist die Legende eines enteigneten Alt-Adeligen, der nun als Vagabund die angelsächsische Bevölkerung vor den Normannen schützt und ihre Ungerechtigkeiten rächt.
Musik: A bird without feathers 0’50
SPRECHER 2:
Niemand konnte zu Beginn des Jahres 1066 ahnen, welch einschneidende Ereignisse dem Königreich England bevorstehen würden. Sie haben die Geschichte Englands maßgeblich geprägt. Sie haben aus einem Normannischen Herzog eine der bekanntesten Figuren des Mittelalters gemacht – und aus einem angelsächsischen König eine tragische Figur.
SPRECHER 1 (episch):
Bis heute sind die entscheidenden Daten im Gedächtnis geblieben: 1066 (engl. aussprechen), Wilhelm der Eroberer und King Harold, der König, der durch einen Pfeil im Auge getötet wurde… Angeblich.
2018 sorgte ein Team von US-amerikanischen Wissenschaftlern für viel Aufsehen. Die Forschenden hatten ein neues System im Körper entdeckt, manche sprachen sogar von einem neuen Organ: Es geht um das Gewebe, das die Organe umhüllt, wissenschaftlich: Interstitium. Wie ist es damals zu dieser Veröffentlichung gekommen? Und: ist das, was die Forschenden entdeckten, tatsächlich neu? Muss die Anatomie des menschlichen Körpers vielleicht sogar umgeschrieben werden? Von Daniela Remus
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel, Florian Schwarz
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Prof. Erich Brenner, Anatom, Medizinische Universität Innsbruck
Prof. Neil Theise, Pathologe, Grossmann School of Medicine, New York
Prof. Michael Zeisberg, Nephrologe, Universitätsmedizin Göttingen
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SPRECHERIN
Sensationelle Entdeckungen können sich über Jahre ankündigen, weil sie einfach in der Luft liegen. Andere beginnen mit einem Tag wie jedem anderen. Die Entdeckung, die der Pathologe Neil Theise (Aussprache: Thiehs – stimmloses th wie bei Thatcher, langes i, wie peace) gemacht hat, gehört zur zweiten Kategorie – zu den Überraschungen.
TAKE 1 (O-Ton Theise) L: 0, 10
The hospital I worked when we first…
OVERVOICE 1
In dem Krankenhaus, in dem ich damals gearbeitet habe, da war ich bei den Gastroenterologen…
SPRECHERIN
Erzählt Dr. Neil Theise. Er arbeitete damals am Mount Sinai Beth Israel Medical Centre in New York als ihm gemeinsam mit seinen Kollegen die sensationelle Entdeckung gelang.
TAKE 2 (O-Ton Theise) L: 0, 20
There I worked with…
OVERVOICE 2
Und habe mit David Carr Locke and Petros Benias zusammengearbeitet. Und die haben damals mit diesem speziellen Endoskop gearbeitet. Und damit haben sie z.B. Mägen, Darmabschnitte untersucht oder Gallenblasen. Und alles sah damit so aus, wie wir es aus den Büchern kannten.
Musik: Time flies (reduced) 0‘21
SPRECHERIN
Eines Tages aber war alles anders. Seine Kollegen kamen ziemlich aufgeregt in sein Büro. Sie legten ihm Fotos auf den Tisch, die sie mit einer kleinen Kamerasonde im Inneren eines Patienten gemacht hatten und fragten: Was ist das? Kennst du das, als Pathologe?
TAKE 3 (O-Ton Theise) L: 0, 25
They saw these wide spaces…
OVERVOICE 3
Da sah man so breite Zwischenräume, die durch dunkle Streifen voneineinander getrennt waren. Das haben sie mir gezeigt und gefragt, was ist das?
Musik: Z8030896104 Genetics 0‘37
SPRECHERIN
Die Bilder hatten David Carr Locke and Petros Benias mit einem konfokalen Endomikroskop gemacht. Das ist ein Endoskop an dessen Spitze eine kleine Kamerasonde angebracht ist, die das Körperinnere fotografieren kann. Es wird besonders häufig im Magen-Darm-Trakt eingesetzt. Aufnahmen gelingen dort dann sehr gut, wenn die Patienten vorher eine fluoreszierende Flüssigkeit in die Adern gespritzt bekommen. Die beiden Kollegen von Neil Theise nutzten dieses Endoskop routinemäßig für ihre gastroenterologischen Untersuchungen. Jetzt hatten sie offenbar ein Problem, weil sie nicht wussten, was sie fotografiert hatten, und auch Neil Theise war zunächst überrascht, was die Fotos zeigten. Denn dieses Gewebe sah sehr anders aus als das, was er bisher an Gewebestrukturen im Organismus kannte. Selbst nach sorgfältiger Betrachtung zeigte das Bild, auch für ihn, den erfahrenen Pathologen, eine Gewebestruktur, die er nicht kannte.
MUSIK: Progressive movements (reduced) 0‘49
SPRECHERIN
Allerdings lag dieses Gewebe genau dort, wo sich üblicherweise das Interstitium befindet. Das aber konnte es nicht sein, dachte Neil Theise. Denn das netzartige Gewebe zwischen den Organen, das in der Medizin Interstitium genannt wird oder manchmal auch Stroma, hatte nichts mit dem zu tun, was er auf den Bildern seiner Kollegen sah. In allen bekannten Darstellungen war das Interstitium ein dichtes Stützgewebe, in dem Kollagenfasern in mehreren Lagen eng übereinander angeordnet waren. Was also konnte das sein, was auf dem Foto abgebildet war? Mit großen Zwischenräumen, eher luftig angeordnet?
ATMO (Computertippen/Seiten umblättern) darüber
SPRECHERIN
Neil Theise durchforstete alles, was er an Nachschlagewerken kannte, befragte Datenbanken und Kollegen in der Hoffnung, eine Erklärung für dieses merkwürdige Gewebe zu finden.
TAKE 4 (O-Ton Theise) L: 0, 20
So I went through a lot of histology books…
OVERVOICE 4
Und dann habe ich einfach alle Histologie Bücher durchgearbeitet, aber ich habe nichts gefunden, was zu dem passte, was wir gefunden haben. Und dann habe ich auch noch in alte Histologie Bücher reingesehen, weil ich dachte, okay, vielleicht ist das Wissen einfach nur vergessen worden?
SPRECHERIN
Trotzdem fand er zunächst keine Erklärung. Neil Theise und seine Kollegen berieten sich und vermuteten, es könne sich vielleicht doch um eine Erweiterung des Interstitiums handeln, die bisher einfach übersehen worden war? Auch weil bisher im Körperinneren noch keine so hochauflösenden Kameras zum Einsatz gekommen waren?
Musik: Searching secrets (b) 0‘18
Waren sie einer ganz neuen Struktur des menschlichen Körpers auf der Spur? Waren es Bilder vom Interstitium oder etwas völlig Neues, Anderes? Die drei Forscher waren elektrisiert.
TAKE 5 (O-Ton Theise) L: 0, 30
There has been something called the interstitium for years…
OVERVOICE 5
Also es war schon lange klar, dass es das Interstitium gibt. Deshalb haben wir auch in unserem ersten Paper, das wir veröffentlicht haben, geschrieben, wir haben eine „neues” Interstitium gefunden, nicht, dass es das vorher nicht gegeben hätte. Aber wir hatten herausgefunden, dass es eben viel verbreiteter ist, als bis dahin angenommen und auch anders strukturiert ist, als es bis dahin verstanden gewesen ist.
Musik: Delicate information (reduziert) 0‘38
SPRECHERIN
Diese Entdeckung hat nach der Veröffentlichung im Jahr 2018 für ziemlich viel Wirbel gesorgt. In der Öffentlichkeit und auch in der wissenschaftlichen Community. Denn in der Tat waren die Einblicke, die die drei Mediziner durch die Bilder von der Struktur des Interstitiums bekamen, ungewöhnlich und neu. Aber bevor wir über diese Entdeckungsgeschichte weiter berichten, erstmal einen Schritt zurück: Was ist das eigentlich, das Interstitium?
TAKE 6 (O-Ton Brenner) L. 0, 30
Das, was dazwischen steht. Interstare heißt das auf Latein, und was damit gemeint ist, ist das, was zwischen den Zellen in einem Gewebe vorhanden ist. Dieses Interstitium besteht zum einen aus Fasern, da kennt man am besten die collagenen Fasern oder die elastischen Fasern und dann gibt es, wie man das früher bezeichnet hat, die sogenannte amorphe Grundsubstanz oder Kittsubstanz, die das ganze zusammenhält, verkleistert.
SPRECHERIN
Erklärt der Professor für Anatomie Erich Brenner von der Universität Innsbruck. Dass es ein solches Zwischenraum-Bindegewebe überhaupt gibt, ist nicht neu, es war bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt. 1862 wurde es erstmalig in einem medizinischen Lehrbuch beschrieben und zwar von dem deutschen Pathologen Friedrich Daniel von Recklinghausen. Auch für den New Yorker Pathologen Neil Theise war das Interstitium deshalb nichts Unbekanntes.
TAKE 7 (O-Ton Theise) L: 0,15
What I learned at medical school…
OVERVOICE 7
Was ich an der Uni gelernt habe und was wir seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit über hundert Jahren wissen, ist, dass bisher zwei Arten von Interstitium beschrieben worden sind.
Musik: Eco statistics red 0‘26
SPRECHERIN
Das eine füllt die Zwischenräume zwischen einzelnen Zellen aus. Und zwar zwischen den Zelltypen, die weit auseinander liegen. Dazu gehören Hautzellen, Muskelzellen oder auch Fettzellen. Die liegen so weit auseinander, dass dazwischen Platz ist, für interzelluläres Gewebe, das man Interstitium nennt.
TAKE 8 (O-Ton Theise) L. 0, 10
The second interstitium is larger…
OVERVOICE 8
Das zweite Interstitium ist größer als das erste und ist sehr intensiv untersucht worden in den letzten Jahren. Und das ist wirklich sehr wichtig.
SPRECHERIN
Denn dieses Interstitium ist eine Art Stützgewebe, das die verschiedenen Organe und Gefäße umhüllt und damit eine entscheidende Rolle spielt, bei der Versorgung der Zellen und Organe.
TAKE 9 (O-Ton Theise) L: 0, 30
Blood comes through and the nutrians brought in…
OVERVOICE 9
Das Blut fließt durch die kleinen Kanäle, Nährstoffe fließen dadurch, die Wände der Kapillargefäße sind so dünn, dass die da durchfließen können. Das ist wie ein Netzwerk: Nährstoffe kommen rein, durchs Gewebe, durch die Kapillare, aber auch Abbaustoffe aus dem Gewebe werden dadurch transportiert und abgebaut.
Musik: Undercover investigations red. 0‘19
SPRECHERIN
Soweit so bekannt für Medizinerinnen und Mediziner. Neil Theise interessierte sich während seines Berufslebens nicht weiter für das Interstitium. Zumal er sich als Pathologe vor allem auf die Leber spezialisiert hat. Wenn bei einer Biopsie, Magenspiegelung oder Operation, Gewebe aus einem Organ entnommen wird, um zu erfahren, ob eine und welche Krankheit vorliegt, dann ist es die Aufgabe der Pathologen, dieses Gewebe in einem mikroskopischen Schnellverfahren zu untersuchen, um Krankheitsursachen zu identifizieren. Und das war und ist es, was Neil Theise als Arzt interessiert. Aber nachdem seine Kollegen diese merkwürdige Struktur entdeckt hatten, wollten die drei unbedingt herausfinden, ob sie eine unbekannte Seite des Interstitiums gefunden hatten.
ATMO (Geräusche aus OP) hinterlegen bis Overvoice
SPRECHERIN
Um diese Hypothese zu überprüfen, setzten die drei Ärzte das Endoskop bei einer Operation ein, ein Schritt, der eigentlich nicht üblich ist: Bei einem Patienten, dem die Bauchspeicheldrüse entfernt werden musste, machten sie mit dem Endoskop Bilder von der Bauchspeicheldrüse und dem sie umgebenden Gewebe, das eigentlich zum Interstitium gehören müsste…
TAKE 10 (O-Ton Theise) L. 0, 50
Then we took out the endoscope and …
OVERVOICE 10
Dann hatten wir also die Aufnahmen gemacht und das Endoskop entfernt. Das OP-Team hat operiert, hat die Bauchspeicheldrüse und das sie umgebenden Gewebe herausgenommen. Und das haben wir dann bekommen. Damit sind wir dann runter in das Labor der Pathologie gegangen und haben das Gewebe wieder mit dem Endoskop untersucht. Und tatsächlich war es identisch mit dem Bild, was wir vorher bekommen hatten. Es hatte also noch immer dieselbe Struktur, wie im Körper…
MUSIK: Curious question (reduced) 0‘28
OVERVOICE 10
…dann habe ich einen Teil davon genommen, um ihn so zu untersuchen. Ich habe das Gewebe kryokonserviert also schockgefrostet. Denn nur dann können wir damit diese dünnen histologischen Schnitte machen, die wir brauchen, um das Gewebe unter dem Mikroskop untersuchen zu können. Und ich sah dieselbe Struktur. Aber jetzt war sie umgekehrt: Die breiten Zwischenräume waren jetzt dunkel und die vorher dunklen Trennlinien waren jetzt hell. Wir hatten also dieselbe Struktur, aber mit entgegengesetzten Farben.
SPRECHERIN
Daraufhin überlegten die Wissenschaftler, ob die Ursache für das veränderte Aussehen des Gewebes, vielleicht schlicht darin begründet liegt, wie das Gewebe üblicherweise behandelt wird, um es untersuchen zu können.
Musik: Inbiased opinion (reduced) 1‘10
ATMO (Arbeitsgeräusche im Labor)
SPRECHERIN
Um das zu überprüfen, legte Neil Theise die Gewebeprobe in Formalin ein, so wie es in der Pathologie üblich ist. Formalin ist eine wässrige Lösung von Formaldehyd. Die nutzen Pathologen, um Gewebe so zu fixieren, dass es dauerhaft erhalten bleibt. Das Formalin entzieht dem Gewebe die Flüssigkeit und verhindert damit Verwesungsprozesse. In einem zweiten Schritt wird das Gewebe dann in Paraffin eingelegt. Durch diese Konservierung verliert es seine ursprüngliche Farbe und auch seine Beweglichkeit. Es wird starr. Und genau das ist auch das Ziel, denn dadurch kann es in hauchdünne Scheiben geschnitten, und unter dem Mikroskop untersucht werden. Einen Gewebeschnitt herstellen, so heißt das in der Medizin. Als Neil Theise nach dieser Prozedur den Gewebeschnitt der Bauchspeicheldrüse und des Umgebungsgewebes unter das Mikroskop legte, sah es völlig anders aus als vorher:
TAKE 11 (O-Ton Theise) L: 0, 30
And we could see…
OVERVOICE 11
Und da haben wir gesehen und verstanden, wenn man das Gewebe schockfrostet, dann behält es diese Struktur. Aber wenn wir es so behandeln, wie wir es immer tun, um es histologisch bearbeiten zu können, dann werden diese Strukturen zerstört. Und dann haben wir auch verstanden, dass das, was wir sonst immer als kleine Risse gesehen haben bei unseren histologischen Untersuchungen, das sind die Überbleibsel dieser Zwischenräume.
SPRECHERIN
Denn auf den Gewebeschnitten, die der Pathologe jetzt hatte, sah das Interstitium so aus, wie er es aus Büchern und von anderen Gewebeschnitten kannte: flach und dicht. Ohne flüssigkeitsgefüllte Zwischenräume oder Kanäle.
MUSIK: New evidence 0’14
TAKE 12 (O-Ton Theise) L: 0, 35
I got a mastectomie…
OVERVOICE 12
Dann musste ich das Gewebe einer Frau untersuchen, der wegen eines Tumors die Brust entfernt wurde. Und an dem Gewebe war auch Haut. Und da, zwischen den verschiedenen Hautschichten, da sah ich schon wieder diese kleinen Risse. Und dann bin ich zu David und Petros gegangen, hab ihnen das erzählt und gefragt, wie sieht es denn eigentlich aus, wenn ihr mit euerem Endoskop die Haut untersucht? Was sieht man da? Und die beiden haben gesagt: Wir untersuchen damit keine Haut! Das ist ja ein Endoskop, das ist für das Körperinnere…
MUSIK: New evidence 0’38
TAKE 13 (O-Ton Theise)
And I said well… so we hooked me up with some fluorscene…
OVERVOICE 13
Und dann habe ich gesagt, okay, lasst uns das untersuchen. Spritzt mir diese fluoriszierende Flüssigkeit und macht mit euerem Endoskop Fotos von meiner Haut. Und das haben wir dann gemacht. Und wir haben tatsächlich exakt dieselbe Struktur gesehen wie bei dem Gewebe, das um die Bauchspeicheldrüse herum liegt. (Hier bitte akkustisch den „Heureka-Moment“ sichtbar machen) Und dann haben wir verstanden, alles Gewebe im Körper, in den Zwischenräumen, um die Organe drumherum, alles muss miteinander verbunden sein, zusammengehören, irgendwie eins sein, weil alles gleich aussieht.
SPRECHERIN
Und nicht nur das Aussehen spricht für diese Hypothese. Die flüssigkeitsgefüllten Kanäle, die von elastischen Kollagenfasern gestützt werden, ziehen sich, so die Erkenntnis von Neil Theise und seinem Team, durch das gesamte Interstitium, also durch den ganzen Körper.
TAKE 14 (O-Ton Theise) L. 0, 30
And what we know…
OVERVOICE 14
Was wir jetzt wissen, und was auch kaum jemand in Frage stellt, ist, dass das Interstitium ein durchgängiges Gewebe ist, das es eine Art körperweites Netzwerk ist, dass Moleküle durchgehen, elektrische Signale durchgehen, Zellen durchgehen, gesunde Zellen aber auch Krebszellen aber auch Krankheitserreger wie Bakterien z.B. und es ist eben bisher nicht gut beschrieben worden, in seiner ganzen Komplexität.
SPRECHERIN
Und zwar unabhängig davon, wo genau es im Körper verortet ist. Auch das, so die Forschenden, spricht für ein zusammengehörendes System.
TAKE 15 (O-Ton Theise) L: 0, 25
And this has tremendous implications…
OVERVOICE 15
Das hat enorme Bedeutung für alles, z.B. für das Verständnis von Krankheiten. Die Flüssigkeiten, die sich im Interstitium befinden, machen rund 25% der gesamten Körperflüssigkeit aus und ungefähr die Hälfte aller Flüssigkeiten, die außerhalb der Zellen sind. Also das ist ein riesiger Raum, von dem wir den Aufbau und die Struktur bisher nie wirklich verstanden haben.
Musik: Undercover investigations red. 0‘19
SPRECHERIN
Über diese interstitielle Flüssigkeit, die in der Medizin auch Interzellularflüssigkeit genannt wird, können sich nach Einschätzung von Neil Theise Entzündungen im Körper ausbreiten. Und auch Krebszellen könnten das Interstitium als Transportweg nutzen.
TAKE 16 (O-Ton Theise) L: 0, 25
We have known that tumorcells…
OVERVOICE 16
Wir wissen, dass Tumorzellen durch den Blutkreislauf wandern, dass sie durch Nerven, durch Knochenmarkzellen durchgehen und auch einfach von Gewebe zu Gewebe. Aber um dorthin zu kommen, müssen sie erstmal durch das Interstitium durch, sie durchqueren es also offenbar.
SPRECHERIN
Im März 2018 veröffentlichten die drei Forscher ihre Erkenntnis im Fachblatt Scientific Reports mit dem Titel: Structure and Distribution of an unrecognized Interstitium in Human Tissue, auf deutsch etwa: Struktur und Verteilung des bisher/verkannten Interstitiums in menschlichem Gewebe.
MUSIK: Hot news (red) 0‘31
Die Aufregung war ziemlich groß. Viele Medien, auch das Deutsche Ärzteblatt, berichteten geradezu überschwänglich von dieser Entdeckung:
SPRECHER (Versch.)
Neue anatomische Struktur im Körper entdeckt
Interstitium: Unser neues Organ?
Wir haben vielleicht ein Organ mehr als wir dachten
Neu entdecktes Organ?
MUSIK (Ende)
SPRECHERIN
Das Interstitium ein neues, ein zusätzliches Organ? Neil Theise formuliert seine Entdeckung etwas bescheidener:
TAKE 17 (O-Ton Theise) L: 0, 35
The idea that this was an organ…
OVERVOICE 17
Die Idee, dass es sich dabei um ein eigenständiges Organ handeln könnte, kam eigentlich vor allem durch die Pressemeldung der Uni in die Welt. Aber ich finde, das ist durchaus eine plausible Hypothese, dass das Interstitium als Organ angesehen werden kann. Im Moment bin ich Teil einer Arbeitsgruppe, und wir suchen nach einer angemessenen modernen Bezeichnung für das, was das Interstitium kann. Und ich denke, es ist treffend zu sagen, es ist ein System, ein Netzwerk, so wie z.B. auch das kardiovaskuläre System ein System ist.
SPRECHERIN
Auch die wissenschaftliche Community ist in ihrem Urteil deutlich zurückhaltender als die Medien. Das liege an der traditionellen Definition von Organen, erklärt Erich Brenner, Professor für Anatomie an der Universität in Innsbruck:
TAKE 18 (O-Ton Brenner) L: 0, 30
Ein Organ ist ein sehr genau umschriebenes, eingehülltes von der Umgebung abgegrenztes Objekt im Körper. Z.B. ein Knochen, ein Muskel, da gibt es Hüllen, die die einhüllen, …oder aber die Leber, die hat ganz feste Bindegewebskapsel, das Herz ist genau abgegrenzt durch den Herzbeutel…das würde das Konzept eines Organs genau auf den Kopf stellen, ja, das ist da – aber kein Organ.
Musik: A beginning 0‘21
SPRECHERIN
Manche Forschende sind weniger strikt in ihrem Urteil. Sie könnten sich durchaus vorstellen, die Organ-Definition in absehbarer Zeit so zu erweitern, dass auch systemische Prozesse im Körper mit dieser Definition besser beschrieben werden können.
TAKE 19 (O-Ton Zeisberg) L: 0, 30
Wenn man diese Definition weiterfasst, und man damit zufrieden ist, dass ein Organ ein in sich definierter Teil des Körpers ist, der eine definierte Aufgabe hat, dann wird es ja ein bisschen weiter. Und dann können wir natürlich auch das Gefäßsystem oder auch das Interstitium als ein Teil sehen, den wir sonst den einzelnen Organen zugeordnet hätten.
SPRECHERIN
Erklärt Prof. Michael Zeisberg, der die Klinik für Nephrologie und Rheumatologie an der Uniklinik in Göttingen leitet. Michael Zeisberg hat die Veröffentlichungen von Neil Theise rund um das Interstitium mit großem Interesse verfolgt und tut das auch heute noch.
TAKE 21 (O-Ton Zeisberg) L: 0, 10
Ich war damals, muss ich ihnen ehrlich sagen, 2018 aufgeregter als ich es jetzt bin…
SPRECHERIN
Dass das Interstitium für die Versorgung der Organe und damit im Umkehrschluss auch für die Ausbreitung von Krankheiten eine weitaus bedeutsamere Rolle spielen könnte, als bisher angenommen, leuchtete dem Nephrologen unmittelbar ein.
TAKE 22 (O-Ton Zeisberg) L: 0, 20
Es hat sich ja praktisch das Potential ergeben okay, jetzt gibt es einen neuen Weg, Botenstoffe zu senden, es gibt aber auch einen neuen Weg, wie Krebszellen sich im Körper verteilen können, oder Infektionen sich verteilen können.
SPRECHERIN
Aber die nachfolgenden Studien von Neil Theise konnten bisher nicht zeigen, dass das Interstitium tatsächlich das Zeug dazu hat, die Diagnostik und Therapie von Krankheiten zu revolutionieren:
TAKE 23 (O-Ton Zeisberg) L: 0,20
Da hat er einige Jahre gewartet, bis er nachgeliefert hatte und hat dann gesehen, dass in 50 Tagen Farbpartikel sich 10cm weiter bewegt haben. Also was immer da passiert, ist offensichtlich nicht so effizient wie ein Lymphgefäß oder ein Blutgefäß.
SPRECHERIN
Für Michael Zeisberg und andere Forschende klingt es plausibel, dass das Interstitium das Potential dazu hat, Botenstoffe, Krebszellen und Infektionen auf neuen und bisher unbekannten Wegen durch den gesamten Körper zu schicken. Und damit eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Krankheiten zu spielen. Aber wie genau das geschehen könnte, wie effizient dieser Prozess wäre und wie man ihn sich für Diagnostik oder Therapie zunutze machen könnte, das ist bisher trotz der Arbeiten von Neil Theise und seinen Kollegen noch nicht klar.
Musik: Working brain red 0‘39
Und es sieht auch nicht so aus, als würden diese Wissenschaftler mit Hochdruck daran arbeiten, ihre Hypothese von der zentralen Bedeutung des Interstitiums zu belegen. Wie so oft in der Medizin haben Zufall und technologische Weiterentwicklung zwar neues Wissen und Verständnis hervorgebracht, noch aber bedeutet das nicht, dass die Entstehung von chronischen Krankheiten wie Fibrose oder die Ausbreitung von Krebszellen dadurch verhindert werden könnte.
Wie viel verdiente Joseph Haydn und war Johann Sebastian Bach mit seinem Einkommen zufrieden? Wie haben früher die großen Komponisten ihren Lebensunterhalt bestritten? Von Markus Vanhoefer (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Markus Vanhoefer
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Amberger, Florian Schwarz, Katja Schild
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher:
There is no business like show business. Musik ist nicht nur Kunst und Kulturgut, Musik ist auch ein Geschäft, das nach wirtschaftlichen Spielregeln funktioniert.
Sprecherin:
Mit Musik wird Geld verdient, Musik ernährt Menschen, Musik ist eine Ware, mit der Handel betrieben wird. Das trifft nicht nur für unsere mediale Konsumgesellschaft zu, sondern auch für die Klänge der Vergangenheit.
Sprecher:
Nehmen wir zum Beispiel den Berufsstand des Komponisten: Ob Spätbarock, Hochromantik oder Impressionismus, wie ein Komponist komponiert, was er komponiert, wie er seinen Arbeitsalltag organisiert, all das hat immer auch einen ökonomischen Aspekt.
Sprecher:
Sobald wir unsere Musikgeschichte mit materialistischer Brille betrachten, fällt ein Phänomen auf, das als Mozart-Paradox bezeichnet werden kann.
Es beruht auf zwei widersprüchlichen Erscheinungen. Erstens: Auf der ökonomischen Realität der historischen Person Mozart. Und zweitens: Dem Wirtschaftsfaktor Mozart im 21sten Jahrhundert.
Sprecherin:
Das Mozart-Paradox: Als der Rokoko-Komponist 1791 im Alter von 35 Jahren stirbt, wird sein Nachlass auf 592 Gulden geschätzt. Das entspricht etwa der Jahresmiete einer repräsentativen Wiener Wohnung.
Sprecher:
Dem stehen Verbindlichkeiten in Höhe von 918 Gulden gegenüber, das ergibt ein Minus von 326 Gulden, so dass sich Mozarts Witwe Konstanze in einer prekären Situation wiederfindet. In einem Brief an Kaiser Leopold II schreibt sie:
Zitatorin:
Eure Majestät! Unterzeichnete hatte das Unglück, den unersetzlichen Verlust ihres Gatten erleben zu müssen, und von demselben mit zwey unmündigen Söhnen in Umständen zurückgelassen zu werden, die sehr nahe an Dürftigkeit und Mangel gränzen (!).
Sprecher:
Der Mythos Mozart ist der Mythos vom gemobbten Genie, das im Armengrab verscharrt worden ist.
Sprecherin:
Dieses populäre Bild vermittelt einen falschen Eindruck: Zwar konnte Mozart nicht mit Geld umgehen und hatte mit Intrigen zu kämpfen, dennoch war er einer der erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit und damit auch ein Besserverdiener.
Sprecher:
So kalkuliert Mozart-Biograph Maynard Solomon Mozarts Einnahmen für dessen Todesjahr auf zwischen 3600 und 5600 Gulden. Nach heutigem Geldwert entsprechen 5600 Gulden etwa 200.000 Euro. Das ist ein Jahreseinkommen, das im Wien nur einer kleinen, wohlhabenden Bevölkerungsschicht zu Verfügung stand.
Sprecherin:
Wie ist Mozarts Verdienst in Relation zu seinen Komponisten-Kollegen zu bewerten? Ziehen wir zum Vergleich Joseph Haydn heran:
Sprecher:
1791 fährt Haydn zum ersten Mal nach London. Der Österreicher ist eine internationale Berühmtheit und die Wirtschaftsmetropole London die Stadt, in der man mit Musik so viel Geld machen kann, wie sonst nirgendwo.
Sprecherin:
Haydn verbringt vier erfolgreiche Konzertsaisons in England. Pro Saison erhält er Beträge zwischen rund 1800 und 2400 Pfund Sterling. Das entspricht etwa dem dreifachen Jahresverdienst Mozarts. Zurück in Wien kauft sich Haydn ein ansehnliches Haus.
Sprecher:
Haydn und Mozart ging es also nicht schlecht: Heute würde es ihnen jedoch unvergleichlich besser gehen.
Sprecherin:
Warum? Haydn und Mozart hatten einfach das Pech der frühen Geburt. Heutige Verwertungsgesellschaften wie die deutsche GEMA existierten Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht.
Sprecher:
Das Bewusstsein für den materiellen Wert von geistigem Eigentum ist eine moderne Idee. Ein gültiges Urheberrecht, die Möglichkeit, dass ein Komponist für die Aufführung seiner Werke eine Vergütung erhält, das sind Errungenschaften, von denen Komponisten – je nach Land- erst seit Ende des 19ten, Anfang des 20sten Jahrhunderts profitieren.
Sprecherin:
Verwertungsgesellschaften und Urhebererrecht haben die wirtschaftliche Situation von Komponisten grundlegend verändert. Und damit zum Mozart-Paradox, Teil Zwei: Mozart als Wirtschaftsfaktor des 21sten Jahrhunderts.
Sprecher:
Wolfgang Amadeus ist heute wirklich ein „Wirtschaftsfaktor“, denn er ist einer der umsatzstärksten Künstler unseres Musikmarkts. Ein Beispiel: Die Datenbank „Operabase“ verzeichnet für die Spielzeit 2018/ 2019 unter den „Top-15“ der weltweit meistgespielten Opern vier Mozart-Opern.
Sprecherin:
Was die Gesamtzahl aller Aufführungen betrifft, ist Mozart neunmal häufiger in einem Theater zu sehen, als der Musical-Krösus Andrew Llyod-Webber.
Sprecher:
Mozart ist tot und hat nichts von seinem Erfolg. Was aber wäre, würde er heute noch leben? Dann wäre er, wie bei Komponisten üblich, Mitglied einer Verwertungsgesellschaft.
Sprecherin:
Verwertungsgesellschaften kümmern sich u.a. um konzertmäßige Aufführungsrechte, Bühnenrechte, Sende- und mechanische Vervielfältigungsrechte. Im Fall Mozart hieße das: Wird ein Mozart-Tonträger verkauft, wandern Mozart-Noten über den Ladentisch, erklingt ein Mozart-Stück in einem Konzert, wird es im Radio gespielt, im Internet angeklickt oder als Filmmusik verwendet, kassieren Verwertungsgesellschaften Gelder, die sie an Mozart nach Abzügen als Tantiemen weiterreichen würden.
Sprecher:
Im Dezember 2020 ging die Meldung durch die Presse, der US-amerikanische Songwriter Bob Dylan habe die Verlagsrechte seiner Lieder an einen Unterhaltungskonzern verkauft. Für 300 Millionen Dollar. Wolfgang Amadeus Mozarts Werkkatalog wäre ein Vielfaches wert.
Sprecher:
Musik ist ein Geschäft. Wie sah das Berufsbild des Komponisten aus, als Begriffe wie Tantiemen oder Urheberrecht noch Zukunftsmusik waren? Unsere Rückschau beginnt um das Jahr 1600 und damit auf der Schwelle von der Renaissance zum Barock. Claudio Monteverdi ist der führende Komponist dieser Epoche.
Sprecherin:
1590 engagieren ihn die Herzöge von Mantua als „Violaspieler“. Monteverdi steigt auf zum Hofkapellmeister und schreibt mit seinem „Orpheo“ die erste „richtige“ Oper der Musikgeschichte.1613 geht er nach Venedig, dort übernimmt er das Amt des Domkapellmeisters von San Marco.
Sprecher:
Claudio Monteverdis Erwerbsbiographie ist prototypisch für den damaligen Komponistenberuf und wird über viele Generationen hinweg der ökonomische Normalzustand sein.
Sprecherin:
Das heißt: Vor dem bürgerlichen Zeitalter sind Komponisten Diener absolutistischer Herren oder autoritärer Obrigkeiten. Denn ihre einzig mögliche Existenzgrundlage ist eine Festanstellung - bei einem Adelshof, bei der Kirche oder bei einer städtischen Institution. Den „Freiberufler“ im heutigen Sinn gibt es nicht.
Sprecher:
Nehmen wir Johann Sebastian Bach, Jahrgang 1685. Gut 100 Jahre nach Monteverdi verdient Bach seinen Lebensunterhalt zunächst als Hofkapellmeister in Köthen, dann als Thomaskantor, sprich fest besoldeter Kirchenmusiker, in Leipzig.
Sprecherin:
Selbst der um zwei Generationen jüngere Joseph Haydn steht aus wirtschaftlicher Vernunft jahrzehntelang bei den Fürsten Esterhazy in Lohn und Brot. Trotz lukrativer Nebenverdienste.
Und auch Leopold Mozart hätte es gerne gesehen, dass seinem Sohn Wolfgang Amadeus eine glänzende Komponisten-Karriere an einer der mächtigen europäischen Residenzen gelingt.
Sprecher:
Komponisten wie Haydn oder Bach waren Stars ihrer Zeit. Hat sich das für sie finanziell gerechnet? Nur bedingt.
Zitator:
Ich habe nämlich noch niemals das genannte Geld vom herzoglichen Schatzamt bekommen, dessen Aufgabe es ist, mir das auszuhändigen,...
Sprecher:
... Monteverdi beispielsweise musste ständig in unterwürfigster Demutshaltung um ausstehende Gehaltszahlungen betteln.
Sprecherin:
Und auch Johann Sebastian Bach war mit seiner Einkommenssituation in Leipzig unzufrieden:
Zitator:
Da aber nun finde, dass dieser Dienst bey weitem nicht so erklecklich als man mir beschrieben, accidentia dieser station entgangen, als werde genöthiget werden, mit des Höchsten Beystand meine Fortune anderweitig zu suchen.
Sprecher:
Anders ausgedrückt, Bach, der Leipzig 1730 verlassen möchte, hat ein Problem: und zwar zu wenig Gelegenheiten, sein Gehalt mit Accidentien, Nebeneinkünften, aufzubessern.
Sprecherin:
Bach ist frustriert: Als Thomaskantor komponiert er viel und verdient mäßig, denn die Werke, die er für den Gottesdienst in Leipzigs Kirchen schreibt, sind Teil seiner Dienstpflichten. Niemand wäre auf die Ideen gekommen, Bachs Weihnachtsoratorium extra zu honorieren.
Sprecher:
Wie jeder Beruf ändert sich der des Komponisten mit Innovationen und gesellschaftlichem Wandeln. Dabei sind es zwei Neuerungen, die die flüchtige Kunst der Musik langfristig zur Handelsware machen.
Sprecherin:
Die erste ist der Notendruck, bzw. Notenstich, der ab Ende des 17. Jahrhunderts für Komponisten relevant wird. Notenausgaben sind Luxusartikel für wenige reiche Liebhaber. Finanziell bringen sie dem Komponisten zunächst wenig. Dennoch sind sie wichtig, denn sie mehren den Ruhm eines Musikers und stärken seine Position bei Vertragsverhandlungen mit potentiellen Arbeitgebern.
Sprecher:
Die zweite Innovation:1637 entsteht in Venedig das erste öffentliche Opernhaus. Bis dahin war die Oper ein Privileg von Adelshöfen. Jetzt kann jeder, der sich eine Eintrittskarte kauft, eine Opernaufführung besuchen.
Sprecherin:
Das bedeutete: Je publikumswirksamer eine Komposition ist, desto mehr Geld lässt sich damit verdienen. Musik wird zum Gebiet von Angebot und Nachfrage, von Gewinnen und Verlusten. Ein entscheidender Schritt in Richtung Musikmarkt ist getan.
Sprecher:
Die Ära komponierender Hofkapellmeister endet im Verlauf des 18. Jahrhunderts, der Angestellte wird immer mehr zum freien Unternehmer. Die trifft vor allem für diejenigen Komponisten zu, denen es gelingt, berühmt zu werden, und die es sich daraufhin leisten können, die Fesseln dienstlicher Verpflichtungen anzustreifen. Vorreiter dieser Entwicklung ist Bachs Zeitgenosse Georg Friedrich Händel.
Sprecherin:
Der gebürtige Hallenser macht Mitte des 18. Jahrhunderts in London Karriere. Das frühindustrielle England bietet marktwirtschaftliche Möglichkeiten, die das feudale europäische Festland noch nicht kennt. Händel managt Opern- und Konzert- Produktionen, natürlich mit eigenen Werken, und stirbt als wohlhabender Mann.
Sprecher:
Ein anderer berühmter, jedoch unglücklich agierender Freiberufler ist Wolfgang Amadeus Mozart. Anhand von Dokumenten können wir nachvollziehen, wie sich Mozarts Einkommen, und damit das typische Einkommen eines Komponisten bis zum Ende der Wiener Klassik, zusammengesetzt hat. So finden wir für das Jahr 1791 folgende Einträge:
Zitator:
„La Clemenza di Tito“, 900 Gulden. „Die Zauberflöte“, 900 Gulden.
precher:
Die Oper „La Clemenza di Tito“ ist ein Auftragswerk für die Kaiserkrönung in Prag, die „Zauberflöte“ hat Mozart für Emanuel Schikaneders unternehmerisch geführtes „Theater auf der Wieden“ geschrieben.
Sprecherin:
Die 900 Gulden sind jeweils Pauschalvergütungen. „Die Zauberflöte“ entpuppt sich als großer Publikumserfolg mit vielen Aufführungen. Und dennoch: In Mozarts Portemonnaie schlägt sich das nicht nieder.
Sprecher:
Der nächste Eintrag:
Zitator:
Publikationen: 550 Gulden.
Sprecher:
Mit Publikationen, sprich gedruckten Noten, erzielt Mozart etwa ein Zehntel seines Jahreseinkommens. Dabei verkauft er meistens fertige Manuskripte für einen Festpreis an Verlage. Umsatzbeteiligt am Verkaufserlös seiner gedruckten Werke ist er nicht. Und dann lesen wir:
Zitator:
Stundengeben.
Sprecher:
Wie andere Komponisten unterrichtet auch Mozart. Beethoven ist einer seiner Schüler.
Zitator:
Mein Preis für 12 lectiones ist 6 ducaten, und da gieb (!) ich ihnen noch zu erkennen, daß ich es aus Gefälligkeit tue.
Sprecher:
Das Einkommen eines Komponisten wie Mozart speist sich also aus unterschiedlichen Quellen. Einen Punkt dürfen wir dabei nicht vergessen: Mäzenatentum.
Sprecherin:
Immer wieder sind es Mäzene, die Komponisten finanzielle Sicherheit und Möglichkeit zur schöpferischen Entfaltung geben. Beethoven zum Beispiel erhält von drei Adeligen eine lebenslange Leibrente, und was wäre aus Richard Wagner geworden ohne den bayerischen Märchenkönig Ludwig II?
Sprecher:
Im Jahr 1793 steigt der französische König Ludwig XVI aufs Schafott. Die Dampfmaschine bestimmt den Takt und das Tempo der industriellen Revolution. Europa wandelt sich radikal, und damit auch die Musik.
Sprecherin:
Aus einer feudalen wird eine bürgerliche Kunst. Bürger kaufen Noten, Bürger stellen sich das Statussymbol Klavier in die gute Stube und besuchen eifrig Konzerte. Das professionelle Symphonieorchester ist beispielsweise eine bürgerliche Errungenschaft.
Sprecher:
Diese Neuorientierung der Tonkunst findet ihren ökonomischen Widerklang in Firmen, die Musik als Massenprodukt begreifen. Dabei erweisen sich Komponisten als fähige Gründer. Einer ist der Haydnschüler Ignaz Pleyel, der einen besonderen Spürsinn fürs Musikgeschäft hat.
Sprecherin:
Pleyel hat nicht nur die Taschenpartitur erfunden, als Klavierfabrikant steigt er auf zum europäischen Marktführer.
Sprecher:
Ein anderer dieser Unternehmer-Komponisten ist Franz Anton Hoffmeister.1800 gründet er ein so genanntes „Bureau de musique“, das bis heute als Verlag C. F. Peters fortbesteht.
Sprecherin:
Neue Verlage wie C. F: Peters unterscheiden sich wesentlich von ihren Vorgängern. Sie sind keine kleinen Druckereien, sondern über Ländergrenzen aufgestellte Unternehmen. Sie bauen Künstler auf, nehmen Einfluss aufs Konzertleben. Vergleichbar mit unserer Phono-Industrie agieren sie als einflussreiche Akteure in einem umsatzstarken Musikgeschäft.
Sprecher:
Verlage verdienen viel Geld, denn Noten sind „big business“ Warum? Wer vor 150 Jahren Beethovens Mondschein-Sonate hören will, kann keine CD in den Player schieben, er muss sich selbst ans Klavier setzen, mit Noten, die er zuvor erworben hat.
Sprecherin:
Vergleichbares gilt für beliebte Opernarien oder Ouvertüren, für die es zahlreiche Bearbeitungen zum heimischen Selbst-Musizieren gibt.
Sprecher:
Wie wirkt sich das Verlagswesen des 19. Jahrhunderts auf das Bankkonto eines Komponisten aus? Verlage stehen in Konkurrenz und ein Künstler mit kommerziellem Potential ist ein begehrtes Gut. Das schafft Möglichkeiten. Beethoven beispielsweise spielt Verlage geschickt gegeneinander aus:
Zitator:
Meine Kompositionen tragen mir viel ein. Man akkordiert nicht mehr mit mir. Ich fordere und man zahlt.
Sprecherin:
Und auch ein Richard Strauss erweist sich als besonders versierter Verhandler. 1904 erhält er für seine „Sinfonia Domestica“ 36.000 Mark. Etwas später, nach dem Welterfolg seiner Skandaloper „Salome“, kann er für die Druck- und Aufführungsrechte der „Alpensinfonie“ die damals astronomische Summe von 100.000 Mark verlangen.
Sprecher:
Armer Komponist- reicher Komponist, wer mit seiner Musik viel Geld verdient und wer nicht, lässt sich von außen nur schwer beurteilen. Sicher ist, derjenige, der als Interpret in eigener Sache auftritt, hat gute Karten, finanziell zu reüssieren.
Sprecherin:
Das beste Beispiel ist der Walzer- und Gagenkönig Johann Strauss/ Sohn, der mit seinem Orchester die ganze Welt beglückt.
Sprecher:
Ob gefeiert oder nicht, generell haben die Komponisten der Vergangenheit mit zwei Problemen zu kämpfen. Erstens: Sobald sie ein Manuskript aus den Händen geben, verlieren sie in Ermangelung eines Urheberrechts die Kontrolle über ihr Werk.
Sprecherin:
Und zweitens: Ein Tantiemensystem, also eine Vergütungsregelung für die Aufführung eines Werks, ist noch nicht eingeführt. Dass dieser Missstand beseitigt worden ist, hat die Komponistenzunft drei Franzosen zu verdanken.
Sprecher:
Im März 1847 besuchen Ernest Bourget, Paul Henrion und Victor Parizot ein Pariser Concert-Café, also ein Restaurant mit Live- Musik. Während sie es sich bei Speis und Trank gut gehen lassen, spielt ein kleines Orchester zufälligerweise einige ihrer Melodien. In diesem Moment kommt den drei Herren eine Idee. Warum sollen sie für ihr Essen bezahlen, während sie für die Aufführung ihrer Kompositionen keine Centime erhalten? Das Trio weigert sich die Restaurant-Rechung zu begleichen und provoziert damit, dass der Vorfall vor Gericht kommt.
Sprecherin:
Der Prozess ist ein erster Schritt in Richtung Verwertungsgesellschaften. Bis eine einheitliche, gesetzlich festgelegte und international greifende Tantiemenregelung entsteht, wird es jedoch noch Jahrzehnte dauern. Hier in Deutschland nimmt die „Genossenschaft Deutscher Tonsetzer“, die Vorgängerorganisation unserer heutigen GEMA, erst 1903 ihre Arbeit auf.
Sprecher:
Übrigens: Einer ihrer Gründer ist ein berühmter Komponist: Richard Strauss.
Ludwig Thoma, bayerischer Volksdichter und Komödienschreiber wird am Ende seines Lebens zum wüsten Agitator und Autor antisemitischer Hetzartikel. In Miesbacher Anzeiger veröffentlicht er nach dem ersten Weltkrieg Pamphlete, die bis heute sein Ansehen als großen Naturalisten bayerischer Sprache überschatten. Von Steffi Illinger (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Steffi Illinger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christian Baumann, Alexander Duda, Frank Manhold
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Prof. Dr. Gertrud Maria Rösch / Biografie: Ludwig Thoma, der zornige Literat
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Migration ist allgegenwärtig: Jedes Jahr verlassen Millionen von Menschen den Ort, das Land ihrer Herkunft, freiwillig, unfreiwillig oder irgendwo dazwischen. Sie fliehen vor Kriegen, vor Naturkatastrophen, vor Verfolgung, sie suchen nach einem besseren Leben für sich und ihre Kinder. Um Migration noch besser zu verstehen, ist die Literatur ein guter Wegweiser. Von Julia Devlin (BR 2021)
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Herbert Schäfer, Julia Fischer, Christian Schuler, Julia Cortis
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Andrea Bräu
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Fremde Heimat - Philosophische Gedanken zur Migration
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Sinti und Roma - Literatur in Deutschland
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Dr. Michael Ewert, Institut für Deutsch als Fremdsprache, Ludwig-Maximilians-Universität München
Literatur zur Folge:
Monika L. Behravesh: Migration und Erinnerung in der deutschsprachigen interkulturellen Literatur. Bielefeld 2017.
Fabio Geda: Im Meer schwimmen Krokodile. München, 19. Aufl. 2012.
Eva Hoffman: Lost in Translation. Ankommen in der Fremde. Frankfurt am Main 2002.
Dmitrij Kapitelman: Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters. München, 3. Aufl. 2018.
Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew. Berlin 2021.
Ronya Othmann: Die Sommer. München, 6. Aufl. 2021.
Anna Warakomska/Mehmet Öztürk (Hrsg.): Man hat Arbeitskräfte gerufen, ...es kamen Schriftsteller. Migranten und ihre Literaturen. Frankfurt am Main 2015.
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. Hamburg, 5. Aufl. 2017.
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Die meisten Menschen mit Nahtoderfahrungen sind dem Tod knapp entronnen. Während des Sterbemoments haben sie etwas erlebt, das sie oft als die schönste Erfahrung auf Erden beschreiben. Worum handelt es sich? Die Wissenschaft verlässt sich auf Studien und Experimente. Die sind zwar aufschlussreich, aber stoßen an ihre Grenzen. Von Susanne Brandl
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Autorin dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Bürkle, Clemens Nicol
Technik: Lorenz Kersten
Redaktion: Frank Halbach
Im Interview:
Prof. Dr. Godehardt Brüntrup, Professor für Metaphysik. Philosophy of Mind und Philosophy of Language an der Philosophischen Hochschule München
Dr. phil. Ina Schmied-Knittel, Soziologin, Institut für Grenzgebiete der Psychologie Freiburg
PD Dr. Christian Hoppe, klinischer Neuropsychologe, Universitätsklinikum Bonn
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SPRECHERIN
Eins ist sicher: Er ist todsicher, der Tod. Eine Gewissheit, über die wir allerdings nicht viel wissen. Wir wissen nicht, wie er ist, was er ist, wann er kommt, wie lang er dauert, wohin er uns führt. Im Prinzip lässt er sich nicht einmal in Worte zu fassen. Seine Qualität entzieht sich der Forschung. Gäbe es da nicht eine Erfahrung, die uns möglicherweise eine Brücke baut. Hinüber ins Jenseits: Die Nahtoderfahrung.
MUSIK ENDE
O-TON 1 GODEHARD BRÜNTRUP
„Dazu gehört die Erfahrung zu sterben mit der entsprechenden Panik, dazu gehört ein Lebensrückblick - dass man sein ganzes vergangenes Leben detailliert bis in die früheste Kindheit noch mal erlebt unter der Rücksicht, wo habe ich geliebt, wo habe ich verletzt und sehr empathisch die Verletzung, die man bei anderen angerichtet hat, selber empfindet. Dazu gehört eine außerkörperliche Erfahrung. Und dann gibt es ein Element des Übergangs – das wird oft die Tunnel Erfahrung genannt. Und man merkt, dass man irgendwie von einer Dimension in eine andere hinübergleitet und dann das Eintauchen in diese andere Dimension, dass die irgendwie energetisch lichtvoll ist. Und man merkt, dass man nicht allein ist, dass da andere sind. Und schließlich das Eintauchen in eine überwältigende Liebe, die alle Erfahrungen sprengt, die man bisher in seinem Leben - auch die allerschönsten - gemacht hat.“
SPRECHERIN
Godehard Brüntrup, Professor für Philosophie an der Philosophischen Hochschule in München. Im Alter von 30 Jahren macht er eine Nahtoderfahrung. Nach einem Herzstillstand widerfahren ihm mehr oder weniger ausgeprägt alle typischen Merkmale eines Nahtoderlebnisses. Auf der sogenannten Greyson Skala, eine Skala, mit der man international die Intensität von Nahtodmomenten misst, gilt seine Erfahrung als tiefgreifend. Warum dieses erschütternde Ereignis manchen widerfährt und anderen wiederum nicht, warum die einen sich nach einem Herzstillstand oder ähnlichen existentiellen Erfahrungen an solche Augenblicke erinnern und andere nicht, das weiß die Forschung bislang nicht. Was sie aber kann: Raster erstellen, die das Phänomen umschreiben. Die Soziologin Ina Schmied-Knittel achtet dabei mehr auf strukturelle als auf inhaltliche Kriterien:
O-TON 2 INA SCHMIED-KNITTEL
„also zum Beispiel, dass eine lebensbedrohliche Situation in der Regel der Auslöser dieser Erfahrung ist. Und dass die Leute dann das Gefühl haben, auch wirklich ihr eigenes Sterben zu erleben. Und davon sind Sie ganz extrem überzeugt. Obwohl man in der lebensbedrohlichen Situation ist, berichten viele dieser Leute, dass sie dabei sehr angenehme und positive Veränderungen haben, aber eben nicht alle. Wir haben auch solche Nahtodberichte, bei denen die Leute angstbesetzte Erfahrungen schildern.“
SPRECHERIN
Letzteres sei untypisch, so Godehard Brüntrup. Er ist inzwischen Experte auf dem Gebiet der Nahtoderfahrung, hat recherchiert, Interviews geführt, Aufsätze und Bücher geschrieben, Vorträge gehalten. Er erklärt sich negative Erfahrungen folgendermaßen:
O-TON 3 GODEHARD BRÜNTRUP
„Die Nahtoderfahrung fängt ja an mit einem starken Angstgefühl, weil man merkt, dass man stirbt. Man merkt, dass die Beine kalt werden, die Hände und die Arme kalt werden, dass das Leben sich von außen nach innen zurückzieht. Das löst eine Ur-Panik aus. Und wenn man zum Beispiel in dieser Situation zurückgeholt wird, dann ist man auch gar nicht tiefer in die Erfahrung eingedrungen. Dann erinnert man sich nur an Panik.
MUSIK privat Take 006 „Stop My Heart“; Album: Flatliners; Label: Sony Classical; Interpret: Nathan Barr; Komponist: Nathan Barr; ZEIT: 00:21
SPRECHERIN
Nur etwa 20 Prozent derjenigen, die sich in einer lebensbedrohlichen Situation befinden und überleben, machen eine Nahtoderfahrung. Mit oft massiven Konsequenzen.
MUSIK ENDE
O-TON 4 GODEHARD BRÜNTRUP
Es ist auch durch langfristige Studien mehrfach wiederholt erwiesen, dass sich Menschen, die eine Nahtoderfahrung gemacht haben in ihrer Persönlichkeit tiefgreifend und dauerhaft verändern. Und zwar auch so, dass sie das mehr tun als eine Kontrollgruppe, die nur einen „Herzinfarkt“ oder einen „Herzstillstand“ hatte. Und das betrifft viele Bereiche. Am grundlegendsten in der Werteordnung. Die meisten Nahtoderfahrenen sagen, dass nach der Nahtoderfahrung tiefe zwischenmenschliche Beziehungen, ganz im Zentrum des Lebens stehen. Nicht mehr der berufliche Erfolg, nicht mehr das Geld, nicht mehr der Ruhm. Und das Zweite: Die Erlangung von Weisheit. Und Weisheit ist was anderes als wissen. Und je nachdem, wie sie vorher gelebt haben müssen sie ihr Leben radikal ändern, um diesen beiden Maximen - mehr Liebe, mehr Weisheit - gerecht zu werden.
SPRECHERIN
Ina Schmied-Knittel vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie erforscht den Umgang mit außergewöhnlichen Erfahrungen. Sie führt an, dass das individuelle Empfinden mit der gesellschaftlichen Reaktion in Konflikt geraten kann, was manche Nahtoderfahrene psychisch enorm herausfordert.
O-TON 5 INA SCHMIED-KNITTEL
„Nämlich dann, wenn einem nicht geglaubt wird von der Umwelt, beispielsweise, wenn andere Leute diese Erfahrung nicht teilen, ungläubig damit umgehen. Das könnte dann auch zu Problemen im Umfeld führen oder zur kritischen Hinterfragung bisheriger Glaubenssätze, die sich dann plötzlich umkehren und man in eine religiöse oder spirituelle Krise geraten kann.“
SPRECHERIN
Der klinische Neuropsychologe Christian Hoppe von der Universität Bonn war ursprünglich katholischer Theologe und hat sich von der christlichen Religion abgewendet.
Allerdings nicht durch ein Nahtoderlebnis, sondern durch seine Beschäftigung mit der Hirnforschung. Seitdem beobachtet der Neurowissenschaftler unter anderem das Nahtod-Phänomen, wobei er findet, dass Nahtod im Grunde nicht der richtige Begriff ist für eine derartige Erfahrung. Inhaltlich sehr ähnliche Erlebnisse könnten in gänzlich andersartigen Zusammenhängen und fern jeder Todesbedrohung auftreten, z.B. unter Ketamin-Einnahme:
O-TON 6 CHRISTIAN HOPPE
„Wenn sie die subjektiven Berichte lesen und die Vergleiche mit den subjektiven Berichten nach spontanen Nahtoderfahrungen, dann sind diese Berichte sich außerordentlich ähnlich, sie können die eigentlich nicht zuverlässig voneinander trennen, das haben Studien ergeben, und die wurden auch repliziert und bei LSD sind es ähnliche Erfahrungen.
SPRECHERIN:
Eine Hypothese, die Godehardt Brüntrup vertraut ist. Er hat sich mit mehreren Drogen befasst, die in der Lage sind, dem Konsumenten außerkörperliche Erfahrungen vermitteln, die radikal lebensverändernd sein können.
O-TON 7 GODEHARD BRÜNTRUP
Die sind meistens so: man liegt im Bett und schaut auf sich, dann dreht man so die Achse so und sieht sich selbst vom Fußende her, mit einem ganz langen Bein. Also das Gehirn dreht sozusagen die Bilder bisschen im Raum herum. Es sind offensichtliche optische Täuschungen, Illusionen. Aber dass jemand völlig unverzerrt, ganz glasklar sieht, was in dem Raum passiert, aus einer Perspektive, die er mit seinen Sinnesorganen gar nicht einnehmen könnte. Das ist schon anders als bei der außerkörperlichen LSD-Erfahrung.
MUSIK privat Take 006 „Stop My Heart“; Album: Flatliners; Label: Sony Classical; Interpret: Nathan Barr; Komponist: Nathan Barr; ZEIT: 00:22
SPRECHERIN:
Brüntrup schaute in seinem Nahtod-Moment aus einer erhöhten Position auf seinen Körper. Von da aus sah er einen Mann mit einer orangefarbenen Jacke neben seinem Bett stehen.
MUSIK ENDE
O-TON 8 GODEHARD BRÜNTRUP
„Ich erinnere mich, dass ich mich gefragt habe, warum neben den weiß und grün gekleideten dieser orangefarbene sei. Später habe ich dann nachgefragt und erfahren, dass der von einem Notarztwagen kam und deswegen die orangefarbene Jacke trug. Ich konnte ihn sicherlich nicht sehen aus der Richtung, aus der ich ihn gesehen habe. Es gibt keine exakten wissenschaftlichen Daten, ob ich zu dem Zeitpunkt vollkommen bewusstlos war.
SPRECHERIN:
Damit ist Brüntrup nicht der Einzige. Viele Nahtoderfahrene erzählen, sie hätten Dinge gesehen, die aus der Position, in der sie sich befunden haben, gar nicht wahrnehmbar gewesen wären. Für Christian Hoppe noch lange kein Beweis für die Loslösung des Bewusstseins vom Körper.
O-TON 9 CHRISTIAN HOPPE
„Das wäre möglich, dass es kurze Inseln gab, in denen hinreichend Bewusstsein da war. Es kann sein, dass auch mal kurz die Augen geöffnet wurden, um den Pupillenreflex zu prüfen oder was auch immer Manches wird gehört, manche Dinge stellt man sich eben vor, zum Beispiel einen Notarzt, stellen Sie sich wahrscheinlich nicht in einer hellgrauen Steppjacke vor, sondern wahrscheinlich in so einer signalfarbenen Jacke, wenn sie einfach wissen, hier ist gerade ein Notarzt, der irgendwas bei mir macht.
SPRECHERIN:
Außerkörperliche Erfahrung sei außerdem im Hirn induzierbar, so Hoppe. Im Rahmen der Epilepsie Diagnostik stimulierte man die Hirnrinde von Epileptikern in den Bereichen des Gehirns, die für Sehen und räumliches Denken verantwortlich sind.
O-TON 10 CHRISTIAN HOPPE
„Da hatte man eine Patientin, wo man in diesem Bereich Elektroden liegen hatte und testen wollte, ob von dort Epilepsie ausgeht und die Stimulation dieser Elektroden hat dann unmittelbar ein außerkörperliches Erlebnis ausgelöst. Die Patientin hat sich dann teilweise von oben selbst im Bett liegen gesehen und mit dem Abschalten des Stroms war die Erfahrung schon wieder zu Ende und das konnte dann mehrfach repliziert werden durch An- und Abschalten.“
SPRECHERIN:
Im Fall eines Nahtodes heißt das: Wenn durch einen Herzstillstand der Gehirnbereich, der das Sehen veranlasst, unterversorgt ist, dann kann eine außerkörperliche Erfahrung eintreten.
O-TON 11 CHRISTIAN HOPPE
„Dann scheint das visuelle System umzuschalten auf eine objektive Beobachterposition. Statt die perspektivische Mitte im Körper zu verankern, was jetzt nicht mehr möglich ist, wird die perspektivische Mitte nach außerhalb gelegt, wie bei einem objektiven Beobachter, der die Szene von draußen sieht.“
SPRECHERIN
In der sogenannten Awarenessstudie haben Ärzte auf Intensivstationen in 15 Kliniken das visuelle Bewusstsein von Patienten getestet, indem sie an der Decke Displays angebracht hatten, die zufallsgenerierte Bilder und Symbole erzeugt haben. Sie waren nur aus erhöhter Position zu sehen. Hätte jemand tatsächlich seinen Körper verlassen und von oben nach unten gesehen, wären ihm die Tablets aufgefallen. Leider aber konnte keine der wiederbelebten Versuchspersonen mit Außerkörperlichkeitserfahrung über entsprechende Bilder berichten. Denn die einen interessierten sich außerhalb ihres Körpers nicht für den Deckenbereich. Andere hatten ihre Nahtoderfahrung nicht in dem OP-Saal, wo die Displays installiert waren.
MUSIK privat Take 009 „Unethered“; Album: Flatliners; Label: Sony Classical; Interpret: Nathan Barr; Komponist: Nathan Barr; ZEIT: 00:45
SPRECHERIN
Die Erfahrung, aus dem eigenen Körper schlüpfen zu können, ist eines der umstrittensten Phänomene in der Nahtodforschung. Zumal da auch blinde Personen beschreiben, dass sie im außerkörperlichen Nahtod plötzlich sehen konnten. Das allerdings hält die Hirnforschung für ungewöhnlich, wenn nicht gar unmöglich. Vor allem, wenn das Betroffene berichten, die blind auf die Welt gekommen sind.
Nahtodberichte gibt es, seit es Menschen gibt. Die Bibel birgt eine Fülle von Erzählungen über wundersame Ereignisse, die Nahtodmomenten ähneln. Der Versuch aber, Nahtoderfahrungen als solche zu klassifizieren und zu erforschen, ist noch nicht alt.
MUSIK ENDE
Ina Schmid-Knittel:
O-TON 13 INA SCHMIED-KNITTEL
„Eine der ersten Untersuchungen ist von Achtzehnhundertzweiundneunzig von Albert Heim im Jahrbuch des Schweizer Alpenvereins. (…). Das ist mal nun nicht das womit man rechnet. Und Albert Heim war jetzt auch kein Mediziner, sondern Geologe, aber er war passionierter Bergsteiger und der ist am Berg abgestürzt und hat es überlebt und hat eben währenddessen eine, ich sag jetzt mal klassische Nahtoderfahrung gehabt: ein sehr angstfreies, positives Empfinden, dass er, trotzdem er weiß, er stirbt, sehr schöne Bilder hat. (…) und dann hat er das seinen Bergsteigerkollegen erzählt und stieß dann eben auf Personen, die identische Erfahrung hatten wie er. Und das hat er gesammelt und hat Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauskristallisiert und hat das veröffentlicht.“
MUSIK privat Take 002 „Main Title“; Album: Flatliners; Label: Sony Classical; Interpret: Nathan Barr; Komponist: Nathan Barr; ZEIT: 00:45
ZITATOR ALBERT HEIM
„Angesichts des Todes durch plötzlichen Unglücksfall tritt bei fast allen der gleiche geistige Zustand ein.
Er lässt sich kurz wie folgt charakterisieren: Es wird kein Schmerz empfunden, ebenso wenig lähmender Schreck (…) Keine Angst, keine Spur von Verzweiflung, vielmehr ruhiger Ernst, beherrschende geistige Sicherheit und Raschheit. Die Gedankentätigkeit ist enorm, wohl auf hundertfache Geschwindigkeit oder Intensität gesteigert, die Verhältnisse werden weit hinaus objektiv überblickt. Die Zeit erscheint verlängert. In zahlreichen Fällen folgt ein plötzlicher Rückblick in die ganze eigene Vergangenheit.“
MUSIK ENDE
SPRECHERIN:
Die moderne Nahtodforschung begann erst in den 60er und 70er Jahren. Es gab damals einen immensen Fortschritt in der Reanimationstechnik, wodurch immer mehr Leute erfolgreich wiederbelebt werden konnten. In diesem Zusammenhang stieg auch die Zahl der sich ähnelnden Nahtoderfahrungsberichte.
O-TON 14 INA SCHMIED-KNITTEL
„Mediziner und Medizinerinnen sammelten und publizierten das und diese Bücher wurden sehr, sehr populär. Und ich glaube, das hängt auch damit zusammen, weil es in den 60er und 70er Jahren einen immensen Aufschwung von New Age und esoterischen Themen gab, wo auch die subjektive Einsicht in bestimmte, religiöse oder transzendente Fragen ne sehr, sehr große Rolle spielte.
SPRECHERIN:
Bis heute halten sich die kulturellen Deutungsmuster der damaligen Zeit, was oft den Blick verengt. In den öffentlichen Diskurs schaffen es vor allem die Bilder vom Tunnel, vom Licht und von Erfüllung. Schmied- Knittel hat in der 90er Jahren mit Kollegen eine Studie durchgeführt, in der sie Nahtodberichte von Ost- und Westdeutschen verglichen hat.
O-TON 15 INA SCHMIED-KNITTEL
„Es war so, dass in Westdeutschland mehrere oder die meisten der Erfahrungen eben diesem klassischen Muster entsprach: angenehme Erfahrungen, Tunnel, Licht, paradiesische Landschaft. Man traf auf Verstorbene und das Ganze war eben auch schmerzfrei, wunderbar und bedeutsam. Und in Ostdeutschland war es so, dass viele der aus der Literatur bekannten Motive gar nicht auftauchten, sondern zum Teil auch sehr abstrakte, sehr bizarren Landschaften oder unklare, gar nicht identifizierbare Landschaften und Personen oder Wesenheiten und häufiger auch ein angstbesetzter, emotionaler Zustand bei den Ostdeutschen.“
MUSIK privat Take 006 „Stop My Heart“; Album: Flatliners; Label: Sony Classical; Interpret: Nathan Barr; Komponist: Nathan Barr; ZEIT: 00:36
SPRECHERIN:
Je nachdem, worauf man sich fokussiert, treten Unterschiede, Schwankungen oder eben Gemeinsamkeiten auf. Schmid-Knittel vertritt eine Soziologie, die vor allem auf die Unterschiede schaut. Godehardt Brüntrup hingegen verweist darauf, dass Nahtoderfahrungsinhalte interkulturell oft überraschend homogen sind, was die Sache nicht einfacher macht. Klar ist, je mehr sich Nahtoderfahrungen über kulturelle Unterschiede hinweg ähneln, desto besser lassen sie sich als allumfassende, überirdische Gottesnähe deuten. Da wiederum stellt sich die Neurologie quer.
MUSIK ENDE
O-Ton 16 Christian Hoppe
„Man muss wirklich in die Details gehen. Wir Neurowissenschaftler, die meisten jedenfalls von uns vermutlich, würden weiterhin behaupten, ja auch die Nahtoderfahrung beruhen auf veränderten Hirnprozessen, aber eben auf Hirnprozessen. Und ohne diese Hirnprozesse vermuten wir, finden gar keine Erfahrungen statt.“
SPRECHERIN
Brüntrup, der seine Nahtoderfahrung als mystisches Erlebnis interpretiert, hegt da Zweifel.
O-TON 17 GODEHARDT BRÜNTRUP
„Also die Wissenschaft hat natürlich zunächst ein Interesse, ihr bestehendes Erklärungsmodell nicht umwerfen zu müssen und das bestehende Erklärungsmodell ist, dass unser bewusstes Leben, das, was wir wahrnehmen, fühlen, empfinden und denken, von unserem Gehirn erzeugt wird. Und die Nahtoderfahrung stellt diese wissenschaftliche Hypothese zumindest teilweise in Frage.
MUSIK privat Take 018 „Tessa Visits“; Album: Flatliners; Label: Sony Classical; Interpret: Nathan Barr; Komponist: Nathan Barr; ZEIT: 00:26
SPRECHERIN:
Gibt es also eine spezielle Form von Bewusstsein kurz bevor wir sterben? Und falls ja, wann und wo ist noch Bewusstsein, wann passiert die Nahtoderfahrung und wann sind wir tot? In der Forschung steht man vor dem Problem, dass man dieses letzte Aufbäumen der Neuronen nicht mit der Nahtoderfahrung synchronisieren kann. Denn der Patient ist in dem Moment nicht ansprechbar.
MUSIK ENDE
O-TON 19 CHRISTIAN HOPPE
„Die interessante Frage ist wirklich, zu welchem Zeitpunkt genau findet die Nahtoderfahrung statt? Beim Tunnel-Licht-Erlebnis, bei der Wiederbegegnung mit Verstorbenen und so weiter lässt sich der Zeitpunkt in unserer Welt gar nicht festlegen. Beim Außerkörperlichen Erlebnis ist es manchmal so, dass wir ne klare zeitliche Zuordnung haben, die man auch im Nachhinein noch zeitlich zuordnen kann und dann ist wirklich die interessante Frage, ob zu diesem Zeitpunkt eigentlich totale Bewusstlosigkeit bestand oder ob das Gehirn in einem Zustand war, wo man sagt, das ist ausgeschlossen, dass das Gehirn noch irgendein Bewusstsein erzeugt oder so. Und die Theorie der Neurowissenschaftler wäre eben, dass diese Erfahrungen auftreten im Übergang zum Verlust des Bewusstseins oder in der Wiederkehr des Bewusstseins nach einer Bewusstlosigkeit.
SPRECHERIN:
Der Nahtoderfahrene Godehardt Brüntrup betont, dass Sinn, Gehalt und Bedeutung der Erfahrung nicht reduzierbar sind auf neuronale Prozesse.
Die Neurowissenschaften konzentrieren sich sehr auf die funktionalen Aspekte und fragen, wie so eine Erfahrung zustandekommt, welche Rolle das Gehirn spielt. Die Inhalte, die für Nahtod-Betroffene im Vordergrund stehen, sind aus neurowissenschaftlicher Sicht gar nicht der Punkt. Das ist frustrierend für Nahtoderfahrene, die durch und durch erschüttert sind von einer tiefen Grenzerfahrung. Oft fühlen sich die Betroffenen unverstanden und schweigen, selbst fassungslos über den überwältigenden Moment, den sie durchlebt haben.
O-TON 22 CHRISTIAN HOPPE:
„Wir haben damals, als wir gesammelt haben und solche Berichte zusammengestellt haben, haben wir von einer Person einen Bericht zugeschickt bekommen, die uns dann erzählte, dass sie seit über 40 Jahren jeden Tag an dieses Nahtoderlebnis zurückdenkt, aber noch nie mit der eigenen Ehefrau darüber gesprochen hat. Aus Sorge, dass das nicht ernst genommen wird. Oder dass es irgendwie zerredet wird oder wie auch immer.“
SPRECHERIN:
Die Angst, als verrückter Esoteriker abgestempelt zu werden ist groß. Zumal da es unzählige esoterische Schriften gibt, die den Nahtod als willkommenen Beweis für übersinnliche Welten propagieren. Betroffene können auf der Suche nach Antworten in obskure Kreise geraten.
O-TON 23 GODEHARDT BRÜNTRUP:
„Das sind die Interpretationsversuche der Leute, die geprägt sind durch ihren Bildungsstand. Durch das, was Ihnen gerade zur Verfügung steht. Und das ist nicht immer perfekt gelungen. Aber wenn man dann mit ihnen spricht und sagt, jetzt lass mal deine angelesene Deutung weg und erzähl mal über deine Erfahrung selbst. Dann kommt eine sehr authentische und tiefgreifende, die Persönlichkeit erschütternde Erfahrung raus in praktisch allen Fällen. Also von daher wäre das Wichtigste weniger auf die Interpretationen zu achten, sondern die Erfahrung selbst sprechen zu lassen.
SPRECHERIN:
Die Nahtoderfahrung findet wahrscheinlich innerhalb der ersten zwei bis drei Minuten nach dem Herzstillstand statt. Nach fünf bis zehn Minuten ohne Sauerstoffzufuhr treten irreversible Schäden ein, was nicht heißt, dass das Hirn tot ist. Eine neue, breit angelegte Studie aus den USA, weist darauf hin, dass das Sterben des Gehirns wohl länger dauert als gedacht.
O-Ton 24 Godehard Brüntrup:
„Dass man nicht so klar angeben kann - nach dem Hirntodkriterium - hier jetzt genau in der Sekunde ist der Mensch tot, sondern das ist ein Prozess, der sich sehr lange hinzieht. Und das hat diese Studie gezeigt, dass auch von Menschen, die äußerlich tot zu sein scheinen, wo auch die mangelnde Gehirnaktivität in diese Richtung deutet, trotzdem noch Empfindungen haben und geistig aktiv sind.
MUSIK privat Take 006 „Stop My Heart“; Album: Flatliners; Label: Sony Classical; Interpret: Nathan Barr; Komponist: Nathan Barr; ZEIT: 00:35
SPRECHERIN:
Was passiert also, wenn wir sterben? Vieles bleibt vage, einiges könnte, dürfte, oder wird wohl so sein. Feststeht: Die meisten Nahtoderfahrenen haben keine Angst mehr vor dem Sterben. Naturwissenschaftler entgegnen, die Betroffenen seien dem Tod nie wirklich nahe gewesen, denn sie seien ja nie gestorben. Wann und wo Leben und Tod anfangen und aufhören, darüber lässt sich offensichtlich diskutieren.
O-Ton 25 Ina Schmied-Knittel:
„Vielleicht ist das auch ein Punkt, wo die Nahtoderfahrungen in den öffentlichen Diskurs hineinsteigt und eben ein Beispiel bringt, dass es eben manchmal nicht so einfach ist wie angenommen und dass bestimmte Kriterien oder Methoden eben auch nicht immer angemessen sind und man ne gewisse Offenheit auch vielleicht zugestehen muss.“
MUSIK privat Take 006 „Stop My Heart“; Album: Flatliners; Label: Sony Classical; Interpret: Nathan Barr; Komponist: Nathan Barr; ZEIT: 00:37
SPRECHERIN
Die Forschung ist noch lange nicht abgeschlossen. Und wird es vielleicht auch nie sein. Nahtoderfahrungen zeigen auf, wie es sich anfühlen könnte, das Diesseits zu verlassen. Sie können nicht erklären, was im Sterben tatsächlich passiert. Aber sie erweitern unseren Horizont, indem sie uns ein Beispiel geben, zu welch existentieller Entgrenzung wir fähig sind. Und so laden sie uns ein, dem Unvorhersehbaren zu vertrauen. Im Tod genauso wie im Leben.
Bernhard Wicki (1919 - 2000), war in der damals noch jungen Bundesrepublik Deutschland weltweit berühmt geworden durch seinen Antikriegsfilm "Die Brücke" von 1959. Er gilt als einer der großen deutschen Regisseure. Autorin: Renate Kiesewetter (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Kiesewetter
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beischle, Friedrich Schloffer
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Elisabeth Wicki-Endriss, Schauspielerin, München
Robert Fischer, Filmhistoriker, Dokumentarfilmemacher, Landsberg am Lech
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Die "Herrschaft des Volkes" - Demokratie. Handelt es sich dabei um eine Regierungsform neben anderen, oder um ein Ideal, dessen genaue Ausgestaltung stets umstritten ist? Welche Demokratiemodelle stehen einander gegenüber? Welche Auffassungen prallen aufeinander, wenn es darum geht, was wirklich "demokratisch" ist? Autor: Valentin Badura (BR 2023)
Credits
Autor/in dieser Folge: Valentin Badura
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Caroline Ebner, Werner Härtl
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. Martin Saar, Professor für Sozialphilosophie, Goethe Universität Frankfurt am Main;
Prof. Dr. Birgit Sauer, Professorin für Politikwissenschaft, Universität Wien
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ZUM PODCAST
Literaturtipps:
Cheneval, Francis (2015). Demokratietheorien zur Einführung. Hamburg: Junius.
Saage, Richard (2005): Demokratietheorien. Historischer Prozess - Theoretische Entwicklung - Soziotechnische Bedingungen. Eine Einführung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Taylor, Astra (2020): Democracy may not exist, but we’ll miss it when it’s gone. London: Verso Books.
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Es ist die Nacht vor dem Kirchweihfest 1633. In der Dunkelheit schleicht sich der Oberammergauer Kaspar Schisler von Eschenlohe aus in sein Heimatdorf. Bringt er damit die Pest in den Ort? - Das Unglück vor nahezu 400 Jahren hat die weltberühmten Passionsspiele hinterlassen und eine Menge fromme und skurrile Geschichten. Von Markus Mähner
Credits
Autor dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Franziska Ball, Benedikt Schregle, Frank Manhold
Technik: Adele Meßmer, Lorenz Kersten
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Viola Schenz, Journalistin und Autorin des Buches "Ein Dorf begeistert die Welt: Die Geschichte der Oberammergauer Passionsspiele"
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Die Pest im Mittelalter - Europas demographische Katastrophe. Von Ulrike Rückert / Artikel Dorit Kreissl (2010 / 2015)
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SPRECHERIN
Es ist der 11. September 1880. Ein Pferdefuhrwerk quält sich den steilen Ettaler Sattel aus dem Loisachtal kommend empor. Auf seinem Bock: Der lutherische Theologe Alexander von Oettingen von der Universität Dorpat im deutschsprachigen Estland. Neben ihm: Der äußerst gesprächige Murnauer Kutscher, der weiß auf was es bei der Oberammergauer Passion ankommt:
ZITATOR 1
Die Hauptsache bei die Gschicht sei, daß viele Wagen voll Bierfässern dort versoffen würden. Ja, die verstehn´s dort halt.
SPRECHERIN
So Alexander von Oettingen in seinen "Erinnerungen eines Pilgers nach Oberammergau" von 1880. Und tatsächlich:
M ARD-LAbelmusik Tradition (Länge: 1´15´´) unter:
Die Reise zu den inzwischen weltberühmten Oberammergauer Passionsspielen ähnelt eher einer Pilgerreise als eines Kulturausflugs. Denn links und rechts ist die Straße gesäumt von schier zahllosen Fußgängern, die sich keine Kutsche leisten können. Alle wollen sie nach Oberammergau, dem verschlafenen bayerischen Dorf, wie es in Disneyland nicht schöner stehen könnte: Umrahmt von kecken Berggipfeln und sprudelnden Ammerquellen, präsentiert es sich mit Lüftlmalereien und Herrgottsschnitzern an jeder Ecke, "abgeschieden und weltoffen", vor allem dank seiner Passionsspiele, von denen der offizielle Passionsführer von 1880 schreibt:
ZITATOR 3 (od 2)
Am Mississippi wie an der Spree, an der Donau wie an der Themse, an der Seine wie am Rhein lautet das Losungswort: Nach Oberammergau! Tausende eilen auf Bahnen und Dampfern nach dem sonst so stillen Gebirgsdorfe und scheuen selbst die Beschwerden und Mühseligkeiten und Gefahren einer mehrwöchigen Seereise nicht, um dem alten Mysterium beizuwohnen.
SPRECHERIN
Doch woher stammt es, das "alte Mysterium"? Der Gründungsmythos der Oberammergauer Passionsspiele ist so bewegt, wie seine nun bald 400jährige Geschichte.
M Dakryon (Länge: 1´00´´)
SPRECHERIN
Es ist das Jahr 1633. In Bayern sieht es düster aus: Vor einem Jahr überquerte der Schwedenkönig Gustav Adolf mit seinen Truppen den Lech und brachte damit den Dreissigjährigen Krieg auch nach Bayern. Das tägliche Leben ist geprägt von Missernten und Hungersnöten, von Inflation und Hexenverfolgung. Galileo Galilei schwört in diesem Jahr in Rom vor der Heiligen Inquisition von seinem besseren Wissen ab. Das Klostergericht Ettal, zu dem Oberammergau gehört, lässt keine Hexenverbrennungen zu. Aber es fallen immer wieder "feindliche Räuber" - wie es in der Dorfchronik heißt - in Ettal und Oberammergau ein und zerschlagen dort den Kirchenschrein. Zu allem Übel grassiert auch noch der Schwarze Tod: Die Pest - im Ammergau glücklicherweise nicht so schlimm wie im Flachland.
Musik Bitter intrigues (reduziert) (Länge: 0´53´´)
SPRECHERIN
Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, als der Oberammergauer Tagelöhner Kaspar Schisler Sehnsucht nach seiner Frau und seinen Kindern bekommt. Es ist der Abend vor Kirchweich 1633. "Der Schisler" hat sich von Eschenlohe im Loisachtal, wo er sich als Knecht verdingt, auf den Weg über einen Bergsattel ins heimatliche Oberammergau gemacht. Überall sieht er Pestwachen. Niemand darf ins Dorf, denn bis jetzt verlief die Pest hier harmlos. Schisler aber stiehlt sich in der Nacht an den Wachen vorbei und bringt das Unglück mit: Innerhalb kurzer Zeit sterben...
ZITATOR 2
...binnen eines Jahres dahier 84 Personen, darunter zwei Pfarrer bald nacheinander. In dem großen Leidwesen traten die Vorgesetzten der Gemeinde zusammen und machten das Verlöbniß, die Passionstragödie alle zehn Jahre zu halten, und von dieser Zeit an ist kein einziger Mensch mehr gestorben, obgleich noch etliche die Pestzeichen an sich hatten.
SPRECHERIN
So die gut 200 Jahre später verfasste Dorfchronik. Ein Wunder?
Schenz 1a
Man mag jetzt an ein Wunder glauben, man mag es aber auch nicht.
SPRECHERIN
Viola Schenz, Journalistin und Autorin des Buches "Ein Dorf begeistert die Welt: Die Geschichte der Oberammergauer Passionsspiele"
Schenz 1b
Wahrscheinlich ist eben einfach, dass zu dieser Zeit, als dieses Gelübde ausgerufen wurde: die die an der Pest erkrankt waren, einfach schon gestorben waren und die diese überlebt hatten, eben resistent waren, sodass eben weil auch niemand mehr in den Ort gelassen wurde, sodass es einfach keine weiteren Pestfälle mehr gab. Das hat einfach eine rein medizinische, virologische Erklärung.
SPRECHERIN
Doch war es wirklich der Schisler, der die Pest brachte? Immer wieder tauchten Zweifel auf. Manche meinen, es sei eine Dienstmagd mit dem Namen Agata Lindenauer gewesen, die die Pest mit aus dem benachbarten Kohlgrub brachte. Natürlich können es auch Schwedische Soldaten gewesen sein, wie in vielen anderen Gebieten Bayerns. Fakt ist: der Name Schisler ist im Oberammergauer Pfarrmatrikel aus diesen Jahren nicht unter den Verstorbenen verzeichnet.
Schenz 2
Aber es wurde eben diesem Schisler zugeschrieben. Und dass er eben nicht mehr in diesen Todeslisten verzeichnet ist, das kann ein Zufall sein oder ein Versehen oder auch ein bewusster Akt. Das weiß man heute nicht mehr. Aber klar ist: jemand hat die Pest gebracht. Es gab viele Tote, der Rest des Ortes war dann resistent. Die, die erkrankt waren und gestorben waren, waren eben eh tot und insofern fiel eben das Gelübde und des Ende dieses Pestbefalls sehr günstig zusammen.
M Achlys (Länge: 0´25´´) unter:
SPRECHERIN
Bereits ein Jahr später, 1634, findet das erste Oberammergauer Passionsspiel statt. Auf dem Friedhof, wie in vielen anderen Orten Bayerns auch.
SPRECHERIN
Zurück ins Jahr 1880, knappe 250 Jahre nach dem Gelübde, zu Alexander von Oettingen:
ZITATOR 1
Gottlob, das alte Gelübde bringt es mit sich, daß nur alle zehn Jahre gespielt werden soll. Sonst würde die Sache, wie sie schon heuer es zu werden drohte, zu einem lukrativem Geldunternehmen im neuesten Stil. Es war eben Mode geworden, jene "Pilgerfahrt" zu machen. Eine viertel Million Mark soll die Einnahme dieses Jahres betragen haben.
SPRECHERIN
Die ganze Welt drängt nach Oberammergau. Die Passion ist ihrem Dorfspiel auf dem Friedhof entwachsen. Und, wie so oft, bringt der Erfolg auch viele Trittbrettfahrer mit sich, wie Alexander von Oettingen 1880 aus München zu berichten weiß:
ZITATOR 1
Auf meine Erkundigung in den "Vier Jahreszeiten", wo man, wie es hieß, in solider Weise die Vermittlung der Fahrangelegenheit, der Einlaßkarten und der Wohnung übernähme, war der Preis, auch wenn man auf die ersten Plätze verzichtete, 70 bis 80 Mark à Person! Nein, das konnte und wollte ich nicht.
SPRECHERIN
Die Organisation überlässt der Theologe dann einem Alois Mössl, der im Bierkeller zum Pschorr seine Kundschaft mit einem Preis von 25 Mark ködert - inklusive Fahrt und Eintrittskarte für den zweiten Platz. Zuerst schaut er sich aber noch das gerade erschienene Volkschauspiel "Die Herrgottsschnitzer von Oberammergau" an. 10 Jahre später, 1890, wird der Stoff als Roman von Ludwig Ganghofer dem Ort für immer sein Bild aufdrücken. 1952 bringt ihn Winnetou-Regisseur Harald Reinl ins Kino.
M ARD-LAbelmusik Tradition (Länge: 0´44´´) unter:
SPRECHERIN
Am Morgen des 11.September 1880 verlässt der Zug München Richtung Murnau - die Bahnstrecke ist vor einem Jahr erst eingeweiht worden. Es ist neblig, wie so oft hier im Herbst. Erst am Starnberger See, an dem Halt für eine Dampferrundfahrt gemacht wird, klart es auf und ein prächtiges Alpenpanorama empfängt den "Passions-Pilger".
Oberammergau hat zu dieser Zeit 1200 Einwohner. Und man kann sagen: Das ganze Dorf ist mit den Spielen beschäftigt, denn schließlich dürfen nur Einheimische mitspielen.
Genauso wie heute. Viola Schenz:
M Passionsspiele Oberammergau (Länge: 1´18´´)
Schenz 3
Gut die Hälfte des Dorfes steht irgendwann über die Woche verteilt auf der Bühne, und der Rest ist sowieso auch irgendwie dabei: Wir haben die Feuerwehr, wir haben den Notarzt. Wir haben natürlich - ganz wichtig - den Chor und das Orchester. Die sind natürlich auch groß besetzt. Über hundert Mitglieder. Und wir haben die ganzen Garderobieren, wir haben die Einlasser. Und dann gibt es das ganze Drumherum noch. Also es ist eigentlich, es gibt kaum jemanden in Oberammergau, der nicht oder die nicht berührt wäre von diesen Spielen. Alle sind in irgendeiner Form involviert.
SPRECHERIN
Aber auch Auswärtige verdienen am Spiel. Sei es die Bahn, die Kutscher oder die Schifffahrtsgesellschaften, die die Besucher aus Übersee bringen. Ja, 1880 hat sogar der englische Geistliche Thomas Cook als erster Reiseveranstalter der Welt ein Büro in Oberammergau eröffnet. Die Aufführung dauert 8 Stunden. Bänke gibt es lediglich ohne Lehnen. Und wie heute sind es bereits 5000 Zuschauer pro Aufführung. Das macht bei 23 Aufführungen vom 17. Mai bis zum 26.September gut über 100.000 Zuschauer. Und das bei einer Einwohnerzahl von gerade mal 1200!
M Passionsspiele Oberammergau (Länge: 0´52´´)
SPRECHERIN
Gut einhundert Jahr zuvor sah es allerdings weniger rosig für das Passionsspiel aus: Die aufklärerischen Tendenzen in der bayerischen Regierung mochten dem "religiösen Jahrmarkt" einen Riegel vorschieben und verboten 1770 die Passion. Szenen, wie jene aus der Oberammergauer Barockpassion, in der kleine Teufelchen dem toten Judas die Gedärme in Form von Straubengebäck aus dem Magen reißen und sie genüsslich verspeisen, kamen nicht gut an in München. Man solle...
ZITATOR 4 (od. 2)
"...doch heimgehen und sich das Leiden Christi von ihrem Pfarrer predigen lassen. Das sei besser, als wenn sie den Herrgott auf ihrem Theater herumschleppen."
SPRECHERIN
Doch nach einer Überarbeitung von Text und Inszenierung bekam Oberammergau als einziger Ort für seine Passionsspiele eine Sondererlaubnis. Damit verblieb man der letzte Spielort einer Passion in Bayern!
M Passionsspiele Oberammergau (Länge: 0´24´´)
SPRECHERIN
Und so gingen die Oberammergauer Passionsspiele in ihre nächste Phase: Die des internationalen Ruhms und - ja man kann es nicht anders sagen - die des Massentourismus: 1830 untersagt zwar der Dorfpfarrer Alois Putz das Spielen auf dem Friedhof, doch da...
Schenz 4
…hat man dann das vom Friedhof verlegt, auf einen eigenen Platz im Nordteil des Ortes. Da war eine große freie Wiese. Die hat damals übrigens noch dem Ettaler Kloster gehört, also die hat man den Ettalern quasi abgekauft und hat dann dort erst Vorläuferbauten und dann das endgültige Passionstheater errichtet.
M Passionsspiele Oberammergau (Länge: 0´42´´)
SPRECHERIN
Ein Vorteil davon: Nun hat man deutlich mehr Platz für die Heerscharen, die alle zehn Jahre nach Oberammergau strömen. Bereits 1840 reisen selbst der Kronprinz Maximilian von Bayern, und der König und die Königin von Sachsen in das malerische Gebirgsdorf. Für Oktober hat sich sogar Ludwig der Erste angekündigt, doch früh einsetzender Schnee lässt die Reise nicht mehr zu. Für die Passion zehn Jahre später wird eine eigene Pferde-Bus-Direktlinie von München nach Oberammergau eingerichtet.
Auch die Passion 1870 scheint wieder alles Vorangegangene zu übertreffen, da kommt just während der achten Vorstellung am 17. Juli die Nachricht: Frankreich hat Preußen den Krieg erklärt!
SPRECHERIN
Dafür kommen bei den nachgeholten Aufführungen im Jahr 1871 umso mehr Zuschauer, besonders auch aus England und den USA. Das Deutsche Kaiserreich und somit ein vereinigtes Deutschland hat sich nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich am Anfang des Jahres gegründet und präsentiert sich nun auch im Bergdorf Oberammergau stolz der Welt.
Doch der unablässig zunehmende Tourismus bringt auch absurde Nebenwirkungen mit sich.
Schenz 5
Es gab also etliche Vorfälle, dass das Publikum einfach zwischen Darsteller und seiner Rolle nicht mehr unterscheiden konnte. Und das tatsächlich dann in der großen Pause oder auch am nächsten Tag - das Publikum war ja dann oft mehrere Tage im Ort -, dass dann eben der Judas-Darsteller, wenn er blöderweise auf der falschen Straßenseite ging, niedergeschimpft wurde von irgendeinem Passionsspielbesucher und ausgeschimpft wurde, weil er doch hier Jesus verraten habe.
SPRECHERIN
Selbst Ludwig II., der 1871 einer Privataufführung beiwohnt, geht es da nicht anders.
Schenz 6
Unser Märchenkönig, der ließ es sich nicht nehmen, die Hauptdarsteller alle mal zu einem großen Diner einzuladen. Und zum Ende dieses Dinners hat er allen einen silbernen Löffel als Andenken in die Hand gedrückt. Nur der Judas-Darsteller bekam einen Löffel aus Blech einfach als Missbilligung seiner Rolle und für das, was er Jesus angetan habe.
SPRECHERIN
Dennoch schenkt er der ganzen Gemeinde auch noch das damals größte Steindenkmal der Welt, eine Kreuzigungsgruppe, die auf einem Hügel oberhalb von Oberammergau errichtet wird. Gleichzeitig beginnt er auch mit dem Bau von Linderhof.
M ARD-LAbelmusik Tradition (Länge: 1´15´´) unter:
Doch nicht nur der König, auch eine breite Bevölkerungsschicht entdeckt zunehmend die Faszination für die Alpen und den dazugehörigen Charme des einfachen, ländlichen Lebens - als Gegenentwurf zur sich industrialisierenden Großstadt.
GERÄUSCH Vogelgezwitscher
SPRECHERIN
Auch Alexander von Oettingen, der inzwischen in Oberammergau angekommen ist und sein Quartier bezieht, lernt ihn kennen, den "Charme des einfachen Lebens":
ZITATOR 1
Mir war gesagt worden, die Interieurs dieser Häuschen seien in ihrer "Armseligkeit voll poetischen Reizes". Mir fehlte offenbar der Sinn dafür. Zur Poesie gehört auch Luft und Licht. Diese höchst ursprünglichen Dorflagerstätten kosteten, obwohl für vier Menschen nur zwei Handtücher disponibel waren, á Person 4 Mark für EINE Nacht! Das "Geschäft" spielt jedenfalls auch bei der gastlichen Nachtunterkunft eine große Rolle.
(((SPRECHERIN
Auch im Wirtshaus nebenan kommt wenig Entspannung auf: Es ist so voll, dass es kaum etwas zu Essen gibt.
ZITATOR 1
Glücklich wer ein Glas Bier erobert. Die Mehrzahl durstet und sehnt sich vergeblich darnach. Eine Flasche Wein läßt sich schon eher erreichen. Die lohnt eben mehr! )))
SPRECHERIN
Der auch heute immer wiederkehrende Vorwurf, die Passionsspiele würden schon lange nicht mehr des Gelübdes wegen aufgeführt, sondern einzig, um Geld in die Dorfkasse zu spielen, ist also schon gut 150 Jahre alt.
M Passionsspiele Oberammergau (Länge: 0´46´´)
Dafür bekommt allerdings der Zuschauer auch Einiges geboten. Die Massenszenen und die "Lebenden Bilder" - die recht originalgetreue Nachstellung klassischer Gemälde, die Szenen aus der Bibel zum Thema haben - sind einzigartig. Da befinden sich gut und gern mal mehrere hundert Menschen auf der Bühne – die alle Oberammergauer sind! Und das geht von Babys bis zu 100jährigen. 2020 hat ein Bauer sogar seine Hühner für die Händlerszene im Tempel angemeldet - alles echte Oberammergauer!
Die übrigens ab Aschermittwoch ein Jahr vor der Aufführung dem sogenannten Haar- und Bart-Erlass unterliegen.
Schenz 7
Das heißt, ab diesem Tag dürfen die Darsteller, also Männer und Frauen, ihre Haare nicht mehr schneiden und die Männer auch nicht mehr die Bärte.
SPRECHERIN
Einer, der das ganz ernst genommen hat und sich mit seiner Rolle komplett identifizierte, war Anton Lang.
Schenz 8
Und dieser berühmte Anton Lang, dieser Darsteller von 1900 und 1910 und 1922, also der große Christus-Darsteller, der dann eben auch zwischen diesen Dekaden-Aufführungen, seine Haare lang wachsen ließ. Also der dann wirklich so als ewiger Christus durch den Ort ging. Zu dem gingen dann die Leute während der Passion tatsächlich hin und baten ihn, ihre Kinder zu segnen. Und als dann sein jüngstes Kind, der Gottfried, 1918 auf die Welt kam, da geht die Legende, dass die Haushälterin der Familie Lang durch Oberammergau rannte und meinte: ein Christuskind ist geboren. Also unglaubliche Szenen!
SPRECHERIN
Auch die strengen Vorschriften für Mitspieler bringen immer wieder absurde Szenen hervor. So gibt es lange Zeit für Frauen eine Altersbeschränkung, ab der sie nicht mehr mitspielen dürfen. Was 1922 zu einem komischen Bild auf der Bühne führt, als Anton Lang zum letzten Mal den Jesus verkörpert.
Schenz 9
Also, wir hatten dann da einen 47-jährigen Jesus am Kreuz hängen und seine Mutter Maria war halt dann irgendwie eine Anfang-20-Jährige. Also grotesker geht's nicht. Aber so war es eben.
Diese Regelung aber trieb dann wirklich seltsame Blüten: in einem Fall das war für die 1950er-Passion: Da war eben eine sehr begabte Darstellerin für die Maria vorgesehen. 1948/49, also als schon die ersten Proben liefen und also die Darsteller schon festgelegt waren, hat sie mal - so wurde ihr nachgesagt - auslassend mit amerikanischen Soldaten irgendwo in einer Dorfwirtshaus getanzt. Damals war ja Oberammergau, wie viele Teile Oberbayerns, von den Amerikanern besetzt. Und es wurde ihr natürlich sofort negativ ausgelegt, und der Gemeinderat befand also, dass sie dieser Rolle der Maria nicht würdig war. Und ihr wurde stattdessen die Rolle der Maria Magdalena, also der Sünderin, nahegelegt. Weil das doch ihrem Verhalten viel mehr entspreche.
M Dakryon (Länge: 0´47´´)
SPRECHERIN
Generell stehen die Spiele 1950 unter einem schlechten Stern. Denn es fehlt schlicht an Mitspielern. Viele junge Oberammergauer sind vom Krieg nicht heimgekehrt, die Verbliebenen sind oft zu alt. Und die zahlreichen Flüchtlinge, die im Dorf leben - es sind 2.200 Flüchtlinge auf 3.000 Einwohner - dürfen nicht mitspielen.
Zudem muss sich das Passionsspiel mit seinen antisemitischen Tendenzen auseinandersetzen. Die Nationalsozialisten hatten 1934 die "Jubiläumsspiele" - 300 Jahren Oberammergauer Passion - für ihre Zwecke vereinnahmt. Und nun kommen verstärkt Kritiken am veralteten Passionstext auf.
Schenz 10
Nicht unbedingt aus dem Ort selber oder aus der Gemeinde, wie man es vielleicht sich denken würde, sondern tatsächlich aus Amerika von prominenten amerikanischen Juden, allen voran Arthur Miller und Leonard Bernstein, die tatsächlich dann auch zu zum Boykott der Spiele aufgerufen haben - was tatsächlich zur Folge hatte, dass bei den 1970er Spielen ganze Blöcke leer blieben im Passionstheater. Aber der eigentliche Donnerschlag war das Zweite Vatikanische Konzil, das sich ewig hinzog, von 1962 bis 1965 in Rom, wo eben sehr viele Reformen beschlossen wurden und unter anderem eben auch ein Aufruf speziell nach Oberammergau ging, das Verhältnis zwischen christlichen und nichtchristlichen Konfessionen zu überdenken und die Spiele zu reformieren. Und was machten die Oberammergauer: Sie machten nichts! Sie scherten sich überhaupt nicht darum! Was dazu führte, dass ihnen quasi der Vatikan die Lizenz entzog für die Spiele.
SPRECHERIN
Daraufhin fällt das Passionsspiel in eine große Krise, die den ganzen Ort in zwei Lager spaltet: Die Traditionalisten und die, die sowohl Text als auch von der Zeit überholte Regeln und Strukturen aufbrechen wollen. Das dauert allerdings bis 1990, als der noch nicht einmal 30-Jährige Oberammergauer Christian Stückl die Leitung der Spiele übernimmt.
Stückl
Das Dorf war reif für Reformen und deswegen sind die meisten dann mitgegangen. Ich hab dann die erste verheiratete Frau zur Maria gemacht. Ich hab versucht das Katholische aufzureißen und hab gesagt: Wir müssen auch die Protestanten mit einbeziehen. Wir müssen gemeinsam Gottesdienst feiern, wir müssen ein anderes Verhältnis zum Judentum haben. Also vielleicht hab ich an bestimmten Stellen auch einfach nen riesen Dickschädel und sag: Ich mach´s nur so. Anders mach ich´s nicht!
M Passionsspiele Oberammergau (Länge: 0´56´´)
SPRECHERIN
Was den Passionsspielen allerdings keineswegs geschadet hat. 2014 werden sie in die UNESCO-Liste für Immaterielles Kulturerbe aufgenommen. Die Spiele 2022 - sie wurden wie genau 100 Jahre zuvor wegen einer Pandemie um zwei Jahre verschoben - werden die finanziell erfolgreichste Passion in der Geschichte. Knapp 50 Millionen Euro Umsatz bei 412.000 Zuschauern!
Das Losungswort von 1880 gilt also immer noch, am Mississippi wie an der Spree, an der Seine wie am Rhein: Auf nach Ammergau!
Das Moulin Rouge: Markenzeichen des spektakulären "Etablissements" ist die rote Windmühle auf dem Dach. Nirgendwo tanzt man den Cancan so frivol und ausgelassen wie hier. Das Moulin Rouge entwickelt sich bald zu einem mythisch verklärten Ort, der selbst wiederum große und kleine Legenden entstehen lässt. Von Markus Vanhoefer (BR 2022)
Autor: Markus Vanhoefer
Regie: Martin Trauner
Sprecher: Andreas Neumann, Stefan Merki, Beate Himmelstoß
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Literaturtipps:
Jacques Pessis/ Jacques Crépineau: „Le Moulin Rouge”. Paris 1989
Div. Autoren: “Moulin Rouge. Le plus célèbre Cabaret du monde”. Paris 2008. Herausgegeben vom “Moulin Rouge”.
Alle drei bis vier Jahre gehen sie auf Hochzeitsflug: Maikäfer. Ein paar Wochen haben sie zu leben, sie paaren sich, legen Eier, dann ist ihr Leben auch schon wieder vorbei. In Bayern sind sie heute eher selten. Autorin: Yvonne Maier
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Autorin dieser Folge: Yvonne Maier
Regie: Eva Demmelhuber
Technik: Marcus Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Helmut Beran, Tierökologe, Landesverbund für Vogelschutz
Wolfgang Ludwig, Obstbauer, Unterfranken
Wolfgang Krekl, Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Freising
Ulrich Benker, Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Freising
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Maikäfer: Wie werden aus Engerlingen Maikäfer und Schädlinge? - ARD alpha
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Die zwölfjährige NS-Herrschaft ist erst wenige Monate vorüber und das Misstrauen der amerikanischen Besatzer noch groß: Deutsche Parteien will man eigentlich noch nicht sehen. Doch als die sowjetische Siegermacht auf eine Zulassung vor allem der KPD drängt, zieht auch die amerikanische Militärregierung nach. Es kommt zum Super-Wahljahr 1946. Autor: Thomas Grasberger (BR 2021)
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Autorin dieser Folge: Thomas Grasberger
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Es sprachen: Katja Schild, Johannes Hitzelberger, Andreas Dirscherl
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Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Thomas Schlemmer (Dr., Institut für Zeitgeschichte in München)
Linktipps:
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Es ist dunkel, kalt und einsam. Wer die Tiefsee bewohnt, ist perfekt angepasst. Fischmännchen wachsen dauerhaft mit Weibchen zusammen. Flohkrebse kapern Gallerthüllen von Manteltieren. Manche Tiere leuchten über körpereigene chemische Reaktionen. Das Leben in der ewigen Finsternis ist bunt, ob winziger Organismus oder 18 Meter langer Riesenkalmar. Von Susi Weichselbaumer (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Julia Fischer, Katja Bürkle, Carsten Fabian
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Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Literaturtipp:
Sonnenschutzmittel schützen unsere Haut mit UV-Filter. Einige wandeln die UV-Energie in Wärme um, andere wirken wie kleine Spiegel und reflektieren das Sonnenlicht. Inzwischen sind Sonnenschutzmittel eine Wissenschaft für sich. Von Katrin Kellermann (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Katrin Kellermann
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Julia Fischer, Hans-Jürgen Stockerl
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Carola Berking (Professorin; Dr.; med. Oberärztin, Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie, LMU München);
Heinz Langhals (Professor; Dr.; Organische und makromolekulare Chemie, LMU München);
Sebastian Lorenz (Dr.-Ing.; Physiker BfS);
Cornelia Baldermann (Dr.; Bundesamt für Strahlenschutz)
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Wer über Malerei spricht, meint meist Motiv und Stil, also das WAS und WIE der Darstellung, die Farben und Formen, die Stimmung im Bild. Dabei ist Malen zunächst mal ein technischer Vorgang: ohne Handwerk kein Gemälde. Julie Metzdorf mit einem Blick auf die technische Kunstgeschichte, auf rollbare Leinwände, schimmelnde Fresken und Kunstwerke aus Hasenhaut und Eigelb. Von Julie Metzdorf
Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Christian Baumann, Susanne Schroeder
Technik: Anton Wunder
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. Kathrin Kinseher, Leiterin Studienwerkstatt Maltechnik an der Akademie der Bildenden Künste München
David Kremer, Farbmittelhersteller Kremer Pigmente
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER
Am Anfang waren Fels und Stein. Die ersten Menschen nutzten für ihre Malereien Holzkohle, Blut oder zu Pulver geriebenes Ockergestein, das sie mit Wasser oder Speichel zu Farbe vermischten und direkt auf die Höhlenwand aufbrachten. Als Pinsel dienten fasrig angekaute Zweige. Die Farbe konnte aber auch durch ein Röhrchen aufgesprüht werden, Hände dienten dann gern als Schablonen.
Musik 2: Parovskapproved - 27 Sek
Schon die ersten Menschen nutzten also ganz verschiedene Materialien und Techniken. Im Lauf der Jahrtausende kamen unzählige weitere hinzu. Das beginnt beim Untergrund: Mauerputz und Tonvasen, Buchseiten aus Pergament oder Glasscheiben für Kirchenfenster, selbst die menschliche Haut kann als Malgrund dienen: beim Body Painting.
ERZÄHLERIN
Heute denken wir beim Stichwort Malerei vor allem an transportable Gemälde, „Öl auf Leinwand“ scheint dabei so etwas wie der Standard zu sein. Doch Leinwände aus Stoff sind erst seit 500 Jahren üblich. Zuvor wurde vor allem auf Holz gemalt, man spricht dann von „Tafelbildern“. Die Mona Lisa hat beispielsweise Pappelholz im Rücken, Albrecht Dürers Selbstbildnis im Pelzrock ist auf Linde gemalt.
1 OT Kinseher
Also wenn wir zurückschauen, in die Malereigeschichte, dann sind es immer massive Holztafel. Im Mittelalter ist es immer die sogenannte Kerntafel, also ohne Splintholz, die ist am stabilsten, mit stehenden Jahresringen. Die verbiegt sich am wenigsten…
ERZÄHLER
Dr. Kathrin Kinseher leitet die Studienwerkstatt Maltechnik an der Akademie der Bildenden Künste in München. Sie ist studierte Restauratorin und kennt sich deshalb sowohl mit historischen, als auch mit aktuelle Maltechniken aus.
Die Qualität der Holztafeln war entscheidend für den Wert des gesamten Gemäldes. War das Holz zu frisch oder schlecht verleimt, konnte es sich in verziehen, Risse bilden und das Bild letztlich zerstören.
Musik 3: Melancholy Pavan – 13 Sek
ERZÄHLERIN
Etwa um das Jahr 1500 entschlossen sich immer mehr Maler dazu, statt auf Holz, auf Leinwand zu malen, also auf einem flexiblen Gewebe, weil…
2 OT Kinseher
…die Leinwand einfach sehr viel leichter ... ist. Das Gemälde von A nach B zu tragen, zu transportieren, ist sehr, sehr viel einfacher.
Musik 4: Manifest - 36 Sek
ERZÄHLER
Gemälde konnten nun viel größer werden. Das Große Jüngste Gericht von Peter Paul Rubens in der Alten Pinakothek in München misst fast fünf mal sechs Meter, die Leinwand musste aus vier einzelnen Bahnen zusammengenäht werden. Auf Holz wäre solch ein Gemälde undenkbar, zumindest hätte man es nie und nimmer von Antwerpen nach Bayern bekommen. Das Leinwandbild aber konnte zum Transport gerollt werden.
3 OT Kinseher
Das geht natürlich tatsächlich nur bei jüngerer Kunst, bei junger Malerei ein Gemälde, das 50 oder 100 Jahre ist oder noch älter würde man natürlich absolut vermeiden ist zu rollen. Ja, auch wenn man das nach allen Regeln konservatorischen Regeln macht, sagen es ist natürlich eine extreme Strapaze und extremer Stress.
ERZÄHLERIN
Trotzdem wurde der Rubens später noch zweimal aufgerollt: 1945 bei der Evakuierung der Alten Pinakothek und noch einmal für eine Restaurierung in den 90er Jahren. Das Gemälde hätte sonst einfach nicht durch die Tür gepasst.
ERZÄHLER
Um die Leinwand bemalen zu können, muss sie zunächst einmal auf einen Rahmen gespannt werden. So wird das flexible Leinen zur einigermaßen stabilen Wand, also zur Leinwand. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts setzten sich Keilrahmen durch.
4 OT Kinseher
Wenn man die Leinwand aufspannt, hat es erstmal eine gewisse Straffheit. Aber diese Spannung kann auch nachlassen mit der Zeit. Und dann ist es natürlich hilfreich über dieses sogenannte Auskeilen auf der Rückseite der Leinwand, also ganz sachten, zarten Schlägen mit dem Hammer auf die sogenannten Keile, die in diese Ecken gesetzt werden, die Spannung wieder leicht zu erhöhen.
ERZÄHLERIN
Ursprünglich bestand das Gewebe aus Leinen oder Flachsfasern, heute spricht man auch von Leinwand, wenn es sich um Hanf, Jute oder Baumwolle handelt. Zum Schutz und für zusätzliche Stabilität wird das Gewebe mit Leim bestrichen, danach kommt die Grundierung, meist mehrere Schichten einer weißen Kreide-Leimmischung. Die Grundierung gleicht Unebenheiten aus und sorgt für perfekte Saugfähigkeit beim späteren Farbauftrag. Gerade in Kombination mit Ölfarben ist sie extrem wichtig.
5 OT Kinseher
Die Grundierung ist hier vor allem auch Schutz zwischen dem textilen Gewebe der Naturfaser und dem Öl. Denn sonst ohne Grundierung würde das Öl durchdringen, würde sich einbauen in die textile Faser und die Oxidation und den Alterungsprozess der Faser extrem beschleunigen. Das Gewebe wird dann sehr viel schneller spröder, brüchiger.
Musik 5: Cavendish lab – 35 Sek
ERZÄHLER
Doch nicht nur Haltbarkeit, auch ästhetische Gründe spielen für die Grundierung eine Rolle: Sie reflektiert das Licht. Ölfarben sind teilweise lichtdurchlässig: Das Licht dringt in die Malschichten ein. An manchen Stellen dringt es bis auf die Grundierung und wird von dort zurückgeworfen. Die Farbe der Grundierung kann die Wirkung des Bildes deshalb entscheidend beeinflussen. Eine helle Grundierung bringt ein Gemälde zum Strahlen, ein Rot oder Ockerton lässt es leicht goldig und wärmer wirken.
Musik 6: Walks – 40 Sek
ERZÄHLERIN
Es gibt allerdings auch Maler, die ganz ohne Grundierung gearbeitet haben: Der deutsche Expressionist Otto Mueller beispielsweise hat Anfang des 20. Jahrhunderts vorwiegend mit Leimfarbe auf Rupfen gearbeitet, einem Jutegewebe. Die grobe Struktur der Juteleinwand ist in seinen Gemälden sichtbar, hier und da liegt das Gewebe ganz frei. Mueller ging es in seiner Kunst um die Einheit von Mensch und Natur. Mit Vorliebe hat er Mädchen und Jungen beim Baden an einem See gemalt, nackt in der freien Natur, zwischen Bäumen und Büschen.
6 OT Kinseher
Da passt eigentlich alles zusammen, … also so der Mensch ganz pur unbekleidet in der Natur. Und auch die Wahl dieser einfachen Materialien, die Jute, die er einfach auch zeigt.
ERZÄHLER
Nackte Menschen auf nacktem Malgrund: Thema und Technik, Motiv und Gesamtwirkung greifen hier nahtlos ineinander. Auch der britisch-kenianische Maler Michael Armitage ist dafür bekannt, seinen Malgrund ein Wörtchen mitreden zu lassen. In seinen Gemälden sind oft Risse, Nähte oder gar Löcher zu sehen. Armitage malt auf Lubugo, einem Stoff aus der Rinde der Natalfeige, der in Ostafrika für Kleidung oder auch als Leichentuch verwendet wird. Als Grundlage seiner Malerei steht Lubugo symbolisch für die kenianischen Wurzeln des Malers.
7 OT Kinseher
Das ist ja die Herausforderung in der Wahl der Materialien, dass man mit den Materialien arbeitet oder aber auch bewusst sich dagegenstellt, das kann auch interessant sein.
Musik 7: fach - 30 Sek
ERZÄHLERIN
Das Angebot an Farben ist heute kaum noch überschaubar: Es gibt Dispersionsfarben, Schulfarben, Fingerfarben, Plakatfarben, Acryl-, Tempera-, Wasser-, Aquarell-, Textil- und Wandfarbe, das alles in Eimern, Tuben, Dosen, Plastikbechern oder -flaschen, beim Künstlerbedarf oder im Baumarkt. In früheren Jahrhunderten mussten die Malerinnen und Maler ihre Farben erst einmal anrühren, also selbst herstellen. Einige und vor allem die Restauratoren, machen das immer noch.
Geräusche Holztor
8 OT Kremer
Das ist unser Kollergang, der kommt aus Italien wurde ursprünglich für Olivenölproduktion vermutlich verwendet oder auch zum Vermahlen von Getreide, also sehr weiche Stoffe. Die Mühlräder selber sind aus Granit und werden über ein Riemenmotor angetrieben. Ich kann denn auch mal anmachen:
Geräusch Kollergang
ERZÄHLER
David Kremer von der Farbmühle in Aichstetten im Allgäu, Der Familienbetrieb „Kremer Pigmente“ ist spezialisiert auf die Herstellung von historischen Pigmenten und Farbstoffen. Im Angebot sind mehr als 1000 verschiedene Farbpigmente.
9 OT Kremer, über Geräusch Kollergang
Hier haben wir jetzt im Moment Azurit drauf … eigentlich eher ein hellblaues (Pulver) auf dem Mahlteller hier liegen. Und wir wollen natürlich vorwiegend die dunkelblauen Teilchen hinterher, das heißt, der muss jetzt erst gewaschen werden, sortiert werden, so dass nachher ein Pigment und schönes Dunkelblau entsteht.
ERZÄHLERIN
Vereinfacht gesagt: werden in der Farbmühle bunte Steine zu Pulver gemahlen, dem Pigment. Aber was ist eigentlich ein Pigment? Und was ist der Unterschied zu Farbstoff? Pigment und Farbstoff verhalten sich etwa wie Sand und Salz: Schüttet man Salz in einen Becher Wasser, löst es sich auf. Die Sandkörner hingegen bleiben erhalten, nach einiger Zeit setzen sie sich am Boden ab. So etwa kann man sich auch Pigmente vorstellen, nur dass die Teilchen viel kleiner als Sandkörner sind.
10 OT Kremer
Das Pigment Teilchen bleibt immer ein Teil. Pigmente sind sehr viel stabiler als Farbstoffe. Sie sind nicht so lichtempfindlich, sie sind nicht so säureempfindlich und werden deshalb vorwiegend in der Malerei eingesetzt.
ERZÄHLER
Im Showroom in Aichstetten reiht sich ein farbenprächtiges Pigment neben das andere. Alle haben eine erstaunliche Strahlkraft. Die meisten Pigmente sind aus Erden oder Mineralien gewonnen: grüner Malachit, roter Jaspis, rosa Rubin, Schiefergrün oder andalusischer gelber Ocker. Organische Pigmente aus Pflanzen wie Krapplack, Indigo, Algen oder Sandelholz gibt es weniger.
11 OT Kremer
Der Nachteil von den Pflanzen-Pigmenten oder auch Farbstoffen ist, dass sie nicht lichtstabil sind. Das Licht zerstört einfach den Farbstoff sehr viel schneller als bei einem mineralischen Pigment.
ERZÄHLERIN
Viele Maler haben aber den Anspruch, ihre Bilder in den strahlendsten und haltbarsten Farben zu malen, die es gibt. Das verlangt oft schon das Bildmotiv. Der Mantel der Jungfrau Maria darf schließlich nicht verblassen! Legendär ist die Farbe Ultramarin. Ultramarin wird aus Lapislazuli gewonnen, einem Gestein, das hauptsächlich aus Afghanistan kommt.
12 OT Kremer
Wenn man ein Kilo Stein hat, dann hat man am Ende 50 Gramm Pigment und Lapislazuli oder allgemein die mineralischen Pigmente sind eher transparent, weshalb man dann mehrere Malschichten eigentlich auch benötigt.
ERZÄHLER
Die wenigen, teils schwer erreichbaren Vorkommen und die aufwändige Herstellung machen Lapislazuli zu einem der teuersten Pigmente der Welt, im Mittelalter wurde es mit Gold aufgewogen.
ERZÄHLERIN
Doch Kremer Pigmente arbeitet nicht nur mit jahrhundertealten Rezepturen. Künstler von heute freuen sich auch über ganz neue Farben – zum Beispiel über ein Pigment aus Maw Sit Sit bzw. Kosmochlor, ein Gestein, das einst per Meteor auf die Erde kam.
Geräusche Mühlen
13 OT David Kremer
Hier sind wir in unserer Werkstatt, wo verschiedene Mühlen laufen. Man hört das Rasseln hier hinten. Und das ist das sagenumwobene Maw Sit Sit. Und das sieht ja wirklich sehr leuchtend aus, Schwefelgrün könnte man vielleicht sogar sagen.
Musik 8: micromanaged – 30 Sek
ERZÄHLERIN
Doch egal ob Alge, Lapislazuli oder Kosmochlor: Mit dem Pigment allein kann man nicht malen. Damit das Pigmentpulver auf dem Untergrund hält, braucht es ein sogenanntes Bindemittel, eine Art Kleber. Möglich sind Gummiarabikum, Leim, Harz, Wachs oder Lack. Eines der häufigsten Bindemittel in der europäischen Malerei ist Öl. Aber Öl ist nicht gleich Öl:
14 OT Kremer
Walnussöl … ist ein sehr helles Öl im Vergleich zum Leinöl, trocknet sehr viel langsamer als das Leinöl. Der Vorzug beim Walnussöl ist, es gilbt nicht so stark, weshalb man das auch eher bei blauen und weißen Pigmenten verwendet, sonst hat man nachher beim Leinöl mit einem blauen Pigment vergrünt das nachher.
ERZÄHLER
Jedes Öl hat andere Eigenschaften, manche neigen zum Vergilben, andere trocknen schneller. Olivenöl nutzt man zum Beispiel nicht zum Malen, das trocknet praktisch nie. Nächstes Problem: Pigmente und Öl lassen sich nicht so einfach vermischen: Das Pigment muss in das Öl eingerieben werden. In früheren Zeiten beschäftigten die großen Maler deshalb Lehrlinge, die ausschließlich mit dem Anrühren der Farben beschäftigt waren.
15 OT Kremer
Das macht man klassisch auf so einer Platte wie hier zum Beispiel auf einer Marmor-, auf einer glatten, nicht saugenden Oberfläche. Mit einem Glasläufer oder früher haben die auch einfach solche glattgeschliffenen Steine genommen, wo das Pigment nachher in das Öl eingerieben wird, sodass man eine Paste hat. Und mit der Paste kann man natürlich sehr pastös auf die Leinwand malen, so dass die Farbe steht.
ERZÄHLERIN
Ist die Paste zu dick, muss man sie verdünnen. Dazu nimmt man Terpentinöl, das aus Nadelholz gewonnen wird und für den markanten Geruch in vielen Künstlerateliers sorgt. Es ist auch nicht ganz ungiftig. Kurz gesagt: Die ganze Sache mit dem Malen ist ziemlich kompliziert. Da wundert es nicht, dass Maler lange Zeit als Handwerker galten. Etwa bis ins Jahr 1800 unterstanden sie der Zunftordnung und bewegten sich auf der gleichen Stufe wie ein Bäcker oder Schornsteinfeger. Zwischen Malen und Schuhflicken wurde also kein Unterschied gemacht.
Musik 9: Parovskapproved – siehe vorn – 48 Sek
ERZÄHLER
Jede Maltechnik hat ihre Vor- und Nachteile: Ölfarbe trocknet langsam, man kann lange nass in nass malen. Was nicht gefällt, kann man mit einem Tuch oder Spachtel gut wieder wegkratzen. Doch die Farben neigen zum Vergilben und zu Rissbildung. Eine Alternative sind Temperafarben. Als Bindemittel dient hier Ei, also ganz normales Hühnerei. Eigelb ist eine natürliche Emulsion, das macht die Farbe gut vermalbar. Die Technik ist bereits seit der Antike bekannt. Aber Temperafarben werden schnell fest und die Herstellung ist recht umständlich. Kathrin Kinseher:
16 OT Kinseher
Für manche Malerinnen und Maler ist es ganz wunderbar. Es ist ein Einstieg in den Tag, ja, erstmal die Temperafarben selbst zu binden, zubereiten, weil es ist auch am besten in der Regel immer frisch zu machen. Aber andere sagen, also das geht für mich überhaupt nicht, … das kostet zu viel Zeit. Ich will sofort ans Bild.
Musik 10: Manifest – siehe vorn – 35 Sek
ERZÄHLERIN
Das Malen selbst kostet ebenfalls viel Zeit. Öl-Farben werden meist in Schichten, den sogenannten Lasuren aufgetragen. Jede Schicht ist leicht transparent, so dass die Farbe darunter sichtbar bleibt. Die endgültige Farbwirkung eines Ölgemäldes entsteht im Zusammenspiel aller Schichten miteinander. Das Gesicht seiner Madonnen zum Beispiel hat Lukas Cranach nicht einfach mit Rosa gemalt. Unter den Rot-Tönen liegt eine Schicht sogenannter Grüner Erde. Das ergibt einen natürlichen, lebendigen Hautton und man konnte die Gesichter so perfekt modellieren: Augenringe sind ein bisschen grünlicher, auf die höher liegenden Wangenknochen kam nochmal ein extra Schicht rot.
ERZÄHLER
Eine neue Farbe kann man erst auftragen, wenn die untere Schicht ein wenig angetrocknet ist. Tizian aber malte zum Beispiel selten weniger als 40 Schichten übereinander. Da wundert es nicht, dass manche Maler Monate oder gar Jahre für ihre Ölgemälde brauchten. Zumal in vorelektrischer Zeit nur wenige Stunden Tageslicht zum Malen blieben.
ERZÄHLERIN
Die langsame Trocknungszeit von Ölfarben hat aber auch Vorteile: Will man zum Beispiel Übergänge schaffen, kann man mit der neuen Farbe in die noch feuchte untere Farbschicht hineinmalen und sie auf der Leinwand miteinander vermischen. Bei einem Sonnenuntergang etwa stehen die einzelnen Farbtöne nicht abgegrenzt nebeneinander: Vom weiß der Sonne über die verschiedensten Nuancen von Gelb bis zu Orange und Blutrot hinein in einen blauen Himmel oder das Meer, gehen sie nahtlos ineinander über. Für solche Farbverläufe sind Ölfarben besonders geeignet.
Musik 11: Boating for beginners – 54 Sek
ERZÄHLER
Zugleich sind Malerinnen und Maler natürlich Kinder ihrer Zeit. Neue Maltechniken haben ganze Kunststile entscheidend beeinflusst: Die Erfindung der Tubenfarben 1841 ermöglichte es, in der freien Natur zu malen, direkt vor dem Motiv, „en plein air“. Und zwar nicht nur Skizzen, sondern große Formate. Die Malerinnen und Maler konnten so den Eindruck, den eine Landschaft auf sie machte, unmittelbar wiedergeben. Die Impressionisten wie Claude Monet, aber auch van Gogh, Franz Marc oder Gabriele Münter: sie alle stellten ihre Staffeleien gern an Strand, Feld und Wiesen auf.
17 OT Kinseher
Das war natürlich wirklich eine riesige Innovation… die Tubenfarben können mit auf Reisen genommen werden. Es sind diese Malkästen, dass man ein überschaubares Sortiment der wichtigsten Farbtöne als Tubenfarbe im hölzernen Malkasten bereithält.
Musik 12: erupting light – 53 Sek
ERZÄHLERIN
Leicht zu handhaben sind auch Aquarellfarben. Aquarellfarben werden mit sehr viel Wasser aufgetragen, als Untergrund dient besonders saugfähiges Büttenpapier. Korrekturen sind in der Aquarell-Technik unmöglich, man kann weder ausradieren, noch abschaben und auch nicht übermalen, jeder Pinselstrich muss sitzen. Damit das Papier nicht trocknet, muss man außerdem noch recht schnell malen. Doch die Umstände lohnen: die Nass-in-Nass-Technik sorgt für wunderbare Farbverläufe, die Farben fließen ganz wörtlich ineinander und verschmelzen. Maler wie William Turner, Albrecht Dürer oder Paul Klee schätzten das Aquarell sehr, sie alle aquarellierten viel auf Reisen.
18 OT Kinseher
Ein wunderbarer Begleiter, ja, also man kann damit die Skizze kolorieren, aber einfach auch nur in dieser flüssigen, Farbmaterial-Sprache arbeiten, … diese fluide Kraft des Wassers spielt da eine ganz, ganz große Rolle. Und das ist natürlich auch extrem reizvoll, diese Fließfähigkeit zu nutzen.
ERZÄHLER
Für alle Maltechniken gilt: Man kann sie auch miteinander kombinieren. Seinen Hasen malte Dürer zunächst in braunen Aquarellfarben, die feinen Härchen und Lichter setzte er mit Gouachefarben. Allerdings muss man sich bei der Kombination von Farbsorten an bestimmte Regeln halten. Die wichtigste lautet: von mager zu fett. Das heißt, dass die unteren Schichten eines Gemäldes weniger Öl als die oberen enthalten dürfen, sonst bildet sich ein hässliches Kraquelee.
19 OT Kinseher
Es geht in so einem Maltechnik-System oder Bildaufbau-System eigentlich immer um Haftung und Adhäsion und eine gute Verbindung der Schichten untereinander. … so dass man nicht fürchten muss, dass schnell Schichtentrennungen, Krakelees und Absplitterungen stattfinden.
ERZÄHLERIN
Zum Glück gibt es auch Farben, über die man sich kaum Gedanken machen muss: Acryl zum Beispiel. Acrylfarben haften auf den meisten Oberflächen, sie trocknen schnell und man kann sie gut übermalen. Genau genommen handelt es sich bei Acryl um eine Plastik-Dispersion, die Farbwirkung ist sehr gleichmäßig. Anders gesagt: lasierend aufgetragene Ölfarben wirken deutlich lebendiger und natürlicher. Aber das wollen manche Künstler gar nicht. Die Pop-Art beispielsweise schätze genau diese „künstliche“ Ästhetik einer Malerei, die an gedruckte Comics erinnert.
20 OT Kinseher
Also Acrylfarbe bewegt sich mehr sozusagen an dieser Oberfläche und das wirkt plakativer. Zum Beispiel die Arbeiten von Roy Lichtenstein, der mit Klebebändern arbeitet um eine klare Kante zu schaffen… Da eignet sich einfach eine schnell trocknende Farbe extrem gut dafür … und dadurch konnte gewissermaßen eine neue Bildsprache entwickelt werden. …Diese ganze Pop-Art-Malerei ist auch zum Teil Acryl-Malerei und der ist so was Plakatives zu eigen.
Musik 13: Infinite – 57 Sek
ERZÄHLER
Als letzte Handlung werden Gemälde gern mit einem Firnis überzogen, einem klaren Lack. Er schützt das Gemälde und kann zugleich die Farbwirkung noch einmal unterstreichen. Das Wort Firnis kommt aus dem Französischen, „vernis“ ist der Lack. Im Lauf der Zeit entstand der Brauch, dieses „Firnissen“ im Kreis von Freunden und Auftraggebern vorzunehmen. Diese öffentliche „Vernissage“ kennen wir heute als Ausstellungs-Eröffnung. Und spätestens zur Vernissage ist es egal, was für ein Malgrund, Pigment oder Bindemittel verwendet wurden. Dann wird aus all dem nüchternen Material faszinierende Malerei.
1974 gelang der schwedischen Pop-Band ABBA mit "Waterloo" ein erster Welthit. Das Quartett der anfänglich noch verheirateten Paare steht für gutgelaunte, international erfolgreiche Popsongs Made In Sweden. Von Markus Mayer (BR2022)
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Die Pleite der Kölner Herstatt Bank war eine der spektakulärsten in der deutschen Geschichte. Tausende Bankkundinnen und Bankkunden verloren Geld. Dabei hatte es so gut angefangen, als die Devisenhändler - intern Goldjungs genannt - begannen, auf Währungen zu wetten. Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Friedrich Schuler, Christian Schuler
Technik: Ruth-Maria Ostermann, Lorenz Kersten
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Ulrich Klüh, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Darmstadt
Christoph Kaserer, Professor für Finanzmanagement und Kapitalmärkte an der Technischen Universität München
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Köln, den 27. Juni 1974. Vor der Haupt-Filiale der Herstatt Bank, unweit des Kölner Doms, finden sich ab acht Uhr in der Früh immer mehr Menschen ein. Sie sind aufgebracht, wütend und rufen:
ZITATOR
Halunken, Gauner, Betrüger
SPRECHERIN
Einige versuchen in die Schalterhalle der Bank zu gelangen. Mit aller Kraft stemmen sie sich gegen die Glastür. Vergeblich. Erst zwei Stunden später öffnet sich die Tür. Ein Mann kommt raus, mit einem roten Megaphon in der Hand. Es ist der Generalbevollmächtigte der Bank. Er versucht die Menschen zu beruhigen – und weist gleichzeitig jede Verantwortung von sich. Auch er sei von der „Dany-Dattel-Devisen-Show“ überrollt worden. So zitiert ihn das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Dany wer?
01 O-TON (Klüh)
Dany Dattel – das war durchaus eine schillernde Persönlichkeit.
SPRECHERIN
Sagt der Ökonom Ulrich Klüh. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Darmstadt.
02 O-TON (Klüh)
Er war also der, der mit seinem Team diese spekulativen Währungsgeschäfte betrieben hat. Dieses Team wurde dann auch in Zeitungen als die Goldjungs beschrieben, weil die haben der Bank in den ersten Jahren dieser Geschäfte sehr, sehr viel Geld eingebracht.
Musik: Financial supermarkets 0‘24
SPRECHERIN
Die Goldjungs waren eine Zeitlang die Stars der Herstatt Bank. Sie wetteten im großen Stil auf Währungen und machten enorme Gewinne. Das war möglich, weil Anfang der 1970er vieles im Umbruch war, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
03 O-TON (Kaserer)
Die 1970er Jahre, also vor allem 71 bis 74, waren eine wirklich schwierige Zeit. Vielleicht in gewisser Weise auch vergleichbar mit dem, was wir heute erleben.
SPRECHERIN
Sagt der Ökonom Christoph Kaserer. Er ist Professor für Finanzmanagement und Kapitalmärkte an der Technischen Universität München.
04 O-TON (Kaserer)
Wir hatten massive geopolitische Krisen: den Jom Kippur Krieg im Nahen Osten. Wir hatten immer noch den Vietnamkrieg. Der Jom Kippur Krieg war ja dann auch der Auslöser dafür, dass es dann Ende 73 zum Ersten Ölpreisschock kam und damit ausgelöst eben alle negativen wirtschaftlichen Effekte, also Rezession usw.
SPRECHERIN
Damit endete in der Bundesrepublik eine – in wirtschaftlicher Hinsicht – relativ ruhige Phase, in der so etwas wie Bankenpleiten kaum denkbar waren.
05 O-TON (Klüh)
Es hatte nämlich fast drei Jahrzehnte keine Pleitebank mehr gegeben, in Deutschland und sogar weltweit nicht. Und das lag wiederum daran, dass das Finanzsystem seit dem Zweiten Weltkrieg so aufgebaut war, dass es super stabil war.
SPRECHERIN
Super stabil, vor allem weil es feste Wechselkurse gab.
06 O-TON (Klüh)
Also für eine DM hat man so und so viel Dollar bekommen, für eine Lira hat man so und so viel Franc bekommen.
SPRECHERIN
Das war das sogenannte System von Bretton Woods. Benannt nach dem Städtchen, wo sich die Regierungen 1944 darauf geeinigt hatten.
07 O-TON (Kaserer)
Und das ist eben jetzt mit der Ankündigung von Präsident Nixon, die Goldbindung des Dollars aufzugeben, ins Wanken geraten.
SPRECHERIN
In einer berühmten Fernsehansprache sagte der damalige US-Präsident Richard Nixon:
ZITATOR 2 (Nixon)
Ich habe Finanzminister Conally angewiesen, vorübergehend die Konvertibilität des Dollars in Gold oder andere Reservemittel auszusetzen.
Musik: Dark deeds (A) 0‘17
SPRECHERIN
Das läutete 1971 das Ende von Bretton Woods ein, zwei Jahre später wurde es dann auch formal abgeschafft. Die Folge war, dass die Wechselkurse von da an sehr stark schwankten.
08 O-TON (Kaserer)
Der US-Dollar ist allein im Jahr 1973 vom Höchst- zum Tiefstkurs um mehr als 30 Prozent gefallen. Daran kann man sehen, wie groß die Schwankungen in den Währungen waren.
SPRECHERIN
Und genau hier schlug die Stunde der Goldjungs. Das waren sechs sehr junge Devisenhändler, teilweise erst Anfang 20, die für Herstatt Bank arbeiteten.
09 O-TON (Kaserer)
Die Herstatt-Bank ist das, was man als Privatbank bezeichnet und Iwan Herstatt war dann in der fraglichen Zeit der Geschäftsführer der Bank.
SPRECHERIN
Iwan David Herstatt – genannt Iwan der Große, auch wegen seiner Körperlänge von fast zwei Metern. Er war ein rheinisches Urgestein und bestens vernetzt in der Kölner Gesellschaft.
10 O-TON (Klüh)
Er war so richtig, ich würde sagen, Teil des kölschen Klüngels. Also das ist so ein spannender Seitenaspekt, hat vielleicht auch dazu beigetragen, dass das so spektakulär war.
Is this together (Quintett) 0‘39
SPRECHERIN
Herstatt war in mehr als 30 Karnevalsgesellschaften und 20 weiteren Vereinen aktiv. Mehr als 20 Jahre lang organisierte er als Schatzmeister die Finanzierung des Kölner Rosenmontagsumzugs. Daneben saß er in zahlreichen Aufsichts- und Beiräten namhafter Unternehmen. Kaum ein Kölner Ereignis fand ohne ihn statt. Sein Netzwerk nutzte er, um Geschäfte zu machen. Von der Stadt Köln über den Kölner Erzbischof bis zum Verleger Alfred Neven-Dumont – sie alle hatten ein Bankkonto beim Iwan dem Großen.
Übernommen hatte er die Bank 1955, für ihn ein Lebenstraum. Das Geld dafür kam unter anderem von seinem Freund Hans Gerling, Eigentümer des gleichnamigen Versicherungskonzerns. Unter Iwan Herstatt entwickelte sich die Bank zur größten Privatbank Deutschlands, mit starkem Fokus auf Außenhandelsgeschäfte. Diese Geschäfte waren der Grund dafür, dass die Devisenhändler, also die Goldjungs, so wichtig waren für die Bank. Denn wenn Unternehmen im Ausland handeln, sichern sie sich oft gegen schwankende Wechselkurse ab.
11 O-TON (Kaserer)
Ein ganz einfaches Beispiel kann man sich wie folgt vorstellen: Angenommen, es gibt einen Exporteur, der hat einen Vertrag abgeschlossen über die Lieferung einer Ware. Er weiß, dass diese Ware in einem oder zwei Monaten bezahlt wird. Er fakturiert in, sagen wir US-Dollar, so dass er also heute nicht genau weiß, was werden dann diese US-Dollar dann wert sein, wenn die Bezahlung der Rechnung erfolgt. Und deswegen geht er zur Bank und vereinbart mit der Bank heute einen festen Wechselkurs für die Dollarzahlung, die erst in einem Monat, dann tatsächlich erfolgt. Das nennt man ein Devisentermingeschäft. Und damit hat er das Wechselkursrisiko vom Unternehmen auf die Bank übertragen. Und die Bank muss natürlich ihrerseits dann sich überlegen, ob sie selber dieses Wechselkursrisiko trägt oder ob sie sich wiederum entsprechend dagegen absichert.
SPRECHERIN
Zum Beispiel indem sie ihrerseits ein Devisentermingeschäft mit einer Bank abschließt. Diese Geschäfte nahmen mit dem Ende von Bretton Woods stark zu, nicht nur bei Herstatt, sondern bei den meisten Banken. Aber die Goldjungs waren dennoch etwas Besonderes. Das lag auch an Dany Dattel, Chef der Devisenabteilung.
12 O-TON (Klüh)
Er hatte auch ein spannendes Team, und hat mit diesem Team mit modernsten Computern gearbeitet. Das war alles sehr futuristisch und das hat die Leute fasziniert.
Musik: Ballet 0‘45
Atmo Computer
SPRECHERIN
„Raumstation Orion“ nannte man die Handelsräume der Goldjungs, nach der gleichnamigen Science-Fiction-Serie, die damals populär war. Sie telefonierten mit New York, machten Geschäfte mit London, schoben per Knopfdruck Millionen hin und her. Die Kölner Herstatt Bank war Teil der schillernden Finanzwelt und korrespondierte mit der Chase Manhattan genauso wie mit der sowjetischen Narodny Bank. Ein aufregendes Geschäft, das so ganz anders war als die traditionellen Bankgeschäfte, die bald als langweilig, als „boring“ galten.
13 O-TON (Klüh)
Es ist einfach so, dass bis in die 60er Jahre hinein Banken, vor allem in Deutschland, aber auch weltweit, sich beschränkt haben auf ganz einfache Geschäfte, langweilige Geschäfte. Deswegen Boring Banking. Sie haben die Ersparnisse von Leuten verwaltet auf der einen Seite, und andererseits haben sie Kredite vergeben an die lokale Wirtschaft. Und es war ein relativ einfaches Geschäft, weil die Zinsen auch oft vom Staat festgelegt wurden.
SPRECHERIN
Ganz anders beim Währungshandel. Hier setzte man zum Beispiel darauf, dass der Dollar steigt oder fällt. Und weil das wegen der starken Schwankungen zunächst große Gewinne abwarf, spekulierten in der Herstatt Bank bald alle mit.
14 O-TON (Kaserer)
Was dann in der Bank passierte, ist, dass man offensichtlich im ersten Schritt sich nicht mehr vollständig gegen diese Dollargeschäfte, die man mit Kunden gemacht hat, abgesichert hat, aber darüber hinaus wohl dann auch angefangen hat, unabhängig von Kundengeschäften, Eigenhandel zu betreiben und gegen den Dollar sozusagen zu spekulieren.
SPRECHERIN
Rückblickend läuteten diese neuartigen Finanzgeschäfte eine neue Epoche ein, sagt Ulrich Klüh.
15 O-TON (Klüh)
Mit der Möglichkeit zu spekulieren, ist das Bankwesen ganz anders geworden. Nicht nur das Bankwesen, sondern das Finanzwesen insgesamt. Man kann sogar sagen, dass sich eine ganz neue Art von Kapitalismus entwickelt hat. Dass der Kapitalismus bis Anfang der 70er Jahre ein langweiliger, auf die Realwirtschaft, auf die normalen Unternehmen fokussierter Kapitalismus war, der Kapitalismus seit Anfang der 70er Jahre sich immer mehr zu einem Finanzmarktkapitalismus entwickelt hat. Und damit ist dann auch eine Abkehr vom langweiligen Banking verbunden. Die Banken machen ganz andere Sachen. Sie engagieren sich mit neuen Finanzprodukten, die sehr viel riskanter sind insbesondere.
Musik: Dry and neutral (reduziert) 0‘45
Financial supermarkets 0‘8
SPRECHERIN
Wobei es auch damals schon Menschen gab, die vor den hohen Risiken dieser Geschäfte warnten. Zum Beispiel die internen Revisoren der Herstatt Bank. Aber so lange die Goldjungs Gewinne machten, wurden die Warnungen beiseite gewischt. Kritiker galten auf der Raumstation Orion als Spielverderber. Die Währungs-Party war wohl einfach zu schön. Aber irgendwann ging es dann eben schief. Die Goldjungs verspekulierten sich. Sie setzten auf einen steigenden Dollar, aber er fiel – es kam zu großen Verlusten. Wann genau wie viele Schulden aufliefen, ist nicht ganz klar, denn nicht alle Verluste wurden ordnungsgemäß in der Bilanz ausgewiesen. Christoph Kaserer:
16 O-TON (Kaserer)
Von den Jahren 71 bis 73 hat die Devisenabteilung erhebliche Gewinne erwirtschaftet. Wobei im Nachhinein man davon ausgehen muss, dass die Gewinne von 1973 eigentlich keine Gewinne waren, sondern die wurden sozusagen fingiert. Bestimmte Geschäfte sind nicht verbucht worden. Und wären diese Geschäfte ordnungsgemäß verbucht worden, dann wäre vermutlich – weiß man jetzt nicht ganz genau – aber man kann davon ausgehen, dass man wahrscheinlich schon 1973 Verluste erzielt hätte.
SPRECHERIN
Gerüchte machten die Runde. Denn auch den Währungshändlern der anderen Banken fiel auf, wie hoch der Einsatz der Goldjungs war. Das wurde auch der deutschen Aufsicht zugetragen.
17 O-TON (Klüh)
Die Bundesbank hatte tatsächlich schon relativ früh gesteckt bekommen, und zwar aus London, dass da ihre Kölner Bank ein ziemlich großes Rad dreht und große Risiken eingeht. Aber die Bundesbank und die Bankenaufsicht, die waren nicht in der Lage, diese Informationen zu verwerten und dann einzugreifen.
Musik: Wrong 0‘16
SPRECHERIN
Misstrauen breitete sich in der Bankenbranche aus. Weil nicht klar war, wie es um Herstatt steht, reduzierten andere Banken ihre Geschäfte mit den Kölnern. Dadurch verschlechterte sich deren Lage weiter.
18 O-TON (Kaserer)
Das war letztlich sozusagen der letzte Auslöser für die Pleite –, dass sich die anderen Banken geweigert haben, mit Herstatt so Kursabsicherungsgeschäfte abzuschließen. So dass also Herstatt sich gar nicht mehr von diesen Risiken lösen konnte, weil sie keine Partner mehr gefunden haben, die ihnen diese Devisenrisiken abgenommen haben.
SPRECHERIN
Mitte Juni meldete Herstatt einen Verlust von rund einer halben Milliarde D-Mark – ein Vielfaches des Eigenkapitals der Bank. In den folgenden Tagen versuchte Bundesbank-Chef Karl Klasen eine Rettung zu organisieren. Es gab Gespräche mit Vertretern des Gerling-Konzerns und auch mit den Großbanken, der Dresdner, der Deutschen und der Commerzbank. Ohne Erfolg.
19 O-TON (Kaserer)
Niemand war dann bereit, diese Bank zu retten. Und auch Gerling konnte das nicht mehr bewerkstelligen. Dann war es zu spät und das war dann der Auslöser dafür, dass es gar keinen anderen Weg mehr gegeben hat, als die Bank zu schließen.
Musik: Secret proofs red. 0‘43
SPRECHERIN
Am 26. Juni 1974 entzog die damalige Aufsicht, das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen, Herstatt die Banklizenz. Die Bank musste alle Zahlungen einstellen. Wer konnte, brachte vorher noch schnell sein Geld in Sicherheit. Darunter waren viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Herstatt, aber auch andere Banken, die Wind von der Schließung bekommen hatten, wie die Chase Manhattan. Die meisten Sparerinnen und Sparer standen am nächsten Morgen allerdings vor verschlossenen Türen.
20 O-TON (Kaserer)
Die Privatkunden waren natürlich die letzten, die dann reagiert haben. Dann war es auch schon zu spät.
Musik: Z8037260119 Incorrectness 0‘ 24
Atmo: Menge
SPRECHERIN
Vor mehreren Filialen von Herstatt gab es Tumulte.
21 O-TON (Kaserer)
Zunächst mal gibt es Panik, weil niemand weiß, wie viel Geld kriegt er zurück. Und wenn natürlich die Menschen dann auf der Straße stehen und versuchen in die Bank zu kommen, um ihr Geld in Sicherheit zu bringen, hat das natürlich eine politische Dimension.
SPRECHERIN
Eine aufgeregte politische Debatte folgte – und natürlich kam die Frage auf: Wer ist schuld an der Pleite? Iwan Herstatt schob auf einer Pressekonferenz Anfang Juli jede Verantwortung von sich. Er habe von den enormen Summen, mit denen spekuliert wurde, nichts gewusst.
22 O-TON (Iwan Herstatt)
Ich bekam jeden Abend die Tagesmeldung und da interessierte ich mich dafür, wie der Saldo war. Der war niemals höher als 25 Millionen. Das war also alles in Ordnung.
SPRECHERIN
Über viele Monate gab es eine öffentliche Schlammschlacht mit Schuldzuweisungen und Verleumdungen. Dabei ging es auch darum, wer Entschädigungen zahlen muss. Das wurde auch im Bonner Bundestag diskutiert. Dort meinte der Unionspolitiker Rudolf Sprung:
ZITATOR
In diesem traurigen Fall (…) hat sich keiner der Beteiligten, weder die Bundesbank, noch das Bundesaufsichtsamt, noch die Großbanken, noch die Großgläubiger, mit Ruhm bekleckert. Geradezu als skandalös aber muß das Verhalten, Finassieren und Taktieren des Aufsichtsratsvorsitzenden und Mehrheitsaktionärs des Instituts, Hans Gerling, bezeichnet werden.
Musik: Serious affair red. 0‘39
SPRECHERIN
Gerling war mit mehr als 80 Prozent der Anteile Hauptaktionär der Herstatt Bank. Allerdings verwies Gerling auf die Verantwortung der Großbanken, die seiner Meinung nach bei der Rettung von Herstatt versagt hätten. Die Großbanken hielten dagegen und meinten, dass Gerling die Sparerinnen und Sparer entschädigen müsse. Jürgen Ponto, damals Vorstandssprecher der Dresdner Bank, ließ sich im „Spiegel“ mit den Worten zitieren:
ZITATOR 2
Zur Not muss Frau Gerling ihren Schmuck verkaufen.
SPRECHERIN
Viele zeigten damals aber auch auf Dany Dattel, schließlich war er der Chef der Goldjungs.
23 O-TON (Klüh)
Wovor man warnen muss, ist, das zu tun, was dann nach der Krise häufig passiert ist, ihm die ganze Schuld an der Krise zuzuschreiben. Es war nämlich so, dass diese Krise durchaus auch Konsequenz war des Drucks, der von der Geschäftsleitung und von den Eignern der Bank ausging, wirklich viel zu spekulieren und Gewinn zu machen in diesen Bereichen. So eine Krise ist immer ein System-Versagen. Eine Krise ist nie nur die Verantwortung eines Einzelnen. Zum System gehören hier die Chefs vom Dany Dattel, die Eigner der Bank, auch die Aufsicht, die eben nicht genug aufgepasst hat und nicht stark genug interveniert hat.
SPRECHERIN
Weshalb es nach der Herstatt Pleite eine ganze Reihe von rechtlichen und organisatorischen Änderungen in der Bankenbranche gab. Zum Beispiel ist das Kreditwesengesetz verschärft worden. Und auch für die privaten Sparer und Sparerinnen änderte sich etwas Grundlegendes.
24 O-TON (Kaserer)
Das Allerwichtigste ist, dass es dann 1975 zur Einführung einer allgemeinen Einlagensicherung kam, die es ja bis heute noch gibt. Das ist die Einlagensicherung der Privatbanken.
SPRECHERIN
Bis 100.000 Euro sind heute alle Spar-Guthaben geschützt. Zur Zeit der Herstatt Pleite gab es lediglich den sogenannten Feuerwehrfonds.
25 O-TON (Kaserer)
Das war eine Art freiwillige Einlagenversicherung, die Bankeinlagen bis zu 20.000 D-Mark abgesichert hat. Also bis dorthin gab es gar keine Verluste.
SPRECHERIN
Wer mehr als 20.000 D-Mark bei Herstatt auf dem Sparkonto hatte, musste allerdings Abstriche machen.
26 O-TON (Kaserer)
Im Großen kann man sagen, dass die Sparer etwas über 80 Prozent ihrer Gelder wiederbekommen haben. Und bei den Banken und Kommunen waren es etwas über 70 Prozent.
Musik: Obscure intrigue 0‘35
SPRECHERIN
Das Geld, das an die Gläubiger verteilt wurde, stammte aus mehreren Quellen: dem restlichen Vermögen der Herstatt Bank, dem privaten Vermögen von Iwan Herstatt – er war persönlich haftender Gesellschafter – und von Hans Gerling, der dafür – nein, nicht den Schmuck seiner Frau –, sondern 51 Prozent der Anteile seiner Versicherungs-Holding verkaufte.
Daneben gab es eine Reihe von Gerichtsprozessen. Bis 2006, also 22 Jahre nach der eigentlichen Pleite, zogen sie sich hin. Warum so lange?
27 O-TON (Kaserer)
Ein Grund war auch die Tatsache, dass das die Gläubiger, insbesondere die Sparer, auch noch versucht haben, die Bundesrepublik Deutschland, also die Aufsichtsbehörde letztlich, in die Haftung zu nehmen, was dann eben nicht gelungen ist. Aber schon allein das war ein Gerichtsverfahren, das sich viele Jahre hingezogen hat.
Musik: Still waiting red. 0‘52
SPRECHERIN
Daneben wurde Dany Dattel und Iwan Herstatt persönlich der Prozess gemacht. Wobei Dany Dattel schnell für schuldunfähig erklärt wurde. Er war als Kind im Vernichtungslager Auschwitz und litt seitdem unter dem sogenannten KZ-Syndrom, das mit schweren posttraumatischen Störungen verbunden ist. Iwan Herstatt wurde zunächst zu vier Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde allerdings wieder aufgehoben und in zwei Jahre Haft auf Bewährung umgewandelt. Ein Grund für die mildere Strafe war, dass er unter dem sogenannten Pickwick-Syndrom litt. Betroffene dieses Syndroms haben schwerwiegende Probleme mit der Atmung, was unter anderem zur Folge hat, dass sie plötzlich einschlafen.
Das alles wurde in der damaligen Öffentlichkeit breit diskutiert und kommentiert. Weitgehend ausgeblendet wurde in der Debatte, dass es auch in anderen Ländern Banken-Pleiten gab.
28 O-TON (Klüh)
Wir in Deutschland denken immer, es war die Herstatt-Krise, aber in Wirklichkeit war es die erste globale Bankenkrise. Es war so, dass überall spekuliert wurde auf einmal und überall die Aufsicht darauf nicht vorbereitet waren und überall nicht genug Regulierung war, und eben dieser Switch von der einen Art des Kapitalismus zur neuen Art des Kapitalismus mit einer Krise einherging.
SPRECHERIN
Aber so dramatisch die Herstatt-Pleite damals auch war – aus heutiger Sicht bot sie nur einen Vorgeschmack auf das, was danach kam.
29 O-TON (Klüh)
Ich würde sagen, das sind Vorboten dessen, was dann später in viel größerem Umfang passiert ist. Die ist sozusagen der Beginn einer Entwicklung, wo dann immer mehr dereguliert wird, immer mehr Abkehr vom Boring Banking passiert, immer mehr Finanzmarktkapitalismus gemacht wird. Und insofern ist es so ein Vorbote. Danach, über mehrere Jahrzehnte, wird das weiter intensiviert und das Ganze kulminiert dann, hat seinen Höhepunkt in der Krise von 2008, die dann das Ende erstmal darstellt dieser verrückten Phase des Finanzmarktkapitalismus. Den haben wir zwar immer noch nicht ganz überwunden, aber danach wurde das System wieder stärker reguliert.
Musik: Media rumors 0‘26
SPRECHERIN
Weshalb man am Ende festhalten kann: Die Pleite der Herstatt-Bank war zwar die erste in der Geschichte der Bundesrepublik – aber noch lange nicht die letzte.
Sie machte zunächst mit Hautausschlägen und knotigen Geschwüren auf sich aufmerksam, endete aber nicht selten tödlich: Die Syphilis. Die Geschlechtskrankheit grassierte ab der frühen Neuzeit in Europa und forderte so manch prominentes Opfer. Erst mit der Erfindung des Penicillin gelang es, den Erreger in Schach zu halten. Von Lukas Grasberger (BR 2022)
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Andreas Neumann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Eine weitere hörenswerte Folge zum Thema Krankheitserreger finden Sie in unserem Podcast-Angebot Alles Geschichte - History von radioWissen:
BR Podcast | Alles Geschichte | EPIDEMIEN: Die Pest und ihre DNA
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Ist der Panzer wie eine Kuppel oder wie ein Sattel geformt? An Merkmalen wie diesen lässt sich auf Galápagos bestimmen, von welcher Insel eine Riesenschildkröte stammt. Denn auf flachen Lava-Inseln wächst kein Gras, dort müssen die Schildkröten ihren Hals hochstrecken können, um die Blätter der Kakteenbäume zu erreichen, die ihre einzige Nahrung sind. Autorin: Mechthild Müser (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Mechthild Müser
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Thomas Birnstiel, Julia Fischewr
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
María José Barragán, Wissenschaftliche Direktorin des Charles-Darwin-Research-Centers;
Puerto Ayora, Galápagos;
Klaus Peter Fielsch, im Vorstand der Charles-Darwin-Stiftung, Quito;
Verónica Sánchez, Touristenführerin Galápagos;
David Rodriguez, Aufzuchtstation San Cristobal, Galápagos
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Inside Klimaprotest - Welcher Protest wirkt? (1/3)
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Literaturtipps:
Charles Darwin, Reise eines Naturforschers um die Welt, Insel Taschenbuch.
Irenäus Eibl-Eibesfeld, Galápagos – Die Arche Noah im Pazifik, Piper Taschenbuch.
‚Der Held der alten Tage‘ in mare Heft No.86.
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Wiesen sind voller Geheimnisse, vor allem was ihre kleinsten Bewohner angeht: Die Insekten. Sie sind die wahren Regenten dieses Mikrokosmos und verbringen ihr oft nur kurzes Leben auf sehr vielfältige Weise. Von Christiane Seiler (BR 2019)
Autorin dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Axel Wostry, Rahel Comtesse
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Vater, Mutter, Kind. Kleinfamilien sind der Standard. Aber die verbreitete Lebensform ist eng mit traditionellen Rollenmustern verknüpft. Frauen leisten nach wie vor die meiste unentgeltliche Care-Arbeit. Warum bloß schnappt in Zeiten weiblicher Emanzipation die Falle der Kleinfamilie immer noch zu? Autorin: Justina Schreiber (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Dr. Nina Reggi, Ethnologin, Geschlechterforscherin und stellvertretende Leiterin der Münchner Frauenakademie;
Dr. Mariam Irene Tazi-Preve, Politologin und Geschlechterforscherin
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Wie wir ticken - Euer Psychologie-Podcast
ZUM PODCAST
Literaturtipps:
Sophie Lewis, „Die Familie abschaffen. Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden“: die scharfzüngige Analyse der linken, queeren Autorin versammelt alle Argumente gegen die Kleinfamilie.
Evke Rulffes, „Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung“: einleuchtende Beschreibung, wie sich die Rolle der Hausfrau historisch entwickelte.
Mariam Irene Tazi-Preve „Das Versagen der Kleinfamilie. Kapitalismus, Liebe und der Staat“: die feministische Streitschrift legt dar, warum die Kleinfamilie dem System und nicht den Menschen nützt.
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Der Vogelzug ist eins der großen Geheimnisse der Biologie. Warum fliegen Vögel so weite Strecken? Wie finden sie nach Hause? Und was hat sich durch den Klimawandel an ihrer Wanderschaft verändert? Von Christiane Seiler (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Xenia Tiling, Axel Wostry, Clemens Nicol
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Wolfgang Fiedler (Dr.; Biologe am Max Planck Institut für Verhaltensbiologie, Radolfzell am Bodensee);
Lisa Hörig (Biologin, kommissarische Leiterin des NABU-Bildungszentrums „Storchenschmiede“ in Linum bei Berlin)
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Bis heute haftet dem Muttertag seine schwärzeste Epoche an: Im Nationalsozialismus wurde er von einer menschenverachtenden Ideologie durchzogen. Doch stammt der Tag ursprünglich aus der Frauen- und Friedensbewegung. Die Geschichte eines bis heute umstrittenen, vielgesichtigen Feiertags. Von Karin Becker
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Becker
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Heiko Ruprecht, Hemma Michel, Benjamin Stedler
Technik: Adele Meßmer
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Dr. Désirée Waterstradt, Soziologin, Familienforscherin
Hartmut Knack, Kultur- und Kunstwissenschaftler
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATORIN
„Einmal im Jahr feiert das deutsche Volk seine Mütter. An einem Tag im Jahr werden sie ans Licht gezerrt, mit Reklamen gepriesen, mit Sentimentalitäten verziert, mit Sinnsprüchen gewürdigt und mit beweglicher Pathetik gerühmt. (…) Dann, abends schleichen die Mütter allmählich wieder in das bescheidene Halbdunkel ihrer Alltage zurück (…).“
SPRECHER
So beschreibt die Schriftstellerin und Psychologin Alice Rühle-Gerstel den Muttertag: als ein unehrliches Spektakel ohne wahre Bedeutung. Und das bereits 1932, als es diesen Feiertag in Deutschland noch nicht lange gibt.
ZITATORIN
„Danke für die Blumen. Rechte wären uns lieber.“
SPRECHER
So klingt Kritik am Muttertag vierzig Jahre später, auf einem Flugblatt des Frauenforums München. Für die Feministinnen der neuen deutschen Frauenbewegung Anfang der 1970er Jahre ist der Muttertag nichts anderes als ein Instrument zur Aufrechterhaltung des Patriarchats.
Heutzutage sind weitere Kritikpunkte hinzugekommen. Wie der Vorwurf, dass der Muttertag bestimmte Familienmodelle ausschließe: Was, wenn es etwa keine leibliche Mutter gibt – hat eine Familie dann nichts zu feiern?
Zeit seines Bestehens hat dieser nicht-gesetzliche Feiertag Kritik auf sich gezogen. Doch zumindest eine diskreditierende Behauptung ist – so hartnäckig sie sich auch hält – eindeutig falsch: Es waren nicht die Nationalsozialisten, die den Tag erfunden haben. Auch wenn sie ihn auf üble Weise für sich zu nutzen suchten. Tatsächlich stammt der Muttertag ursprünglich aus der US-amerikanischen Frauen- und Friedensbewegung. Deren Ziel: Mütter vernetzen und stärken.
MUSIK 2 Monaco F: Mei Muada 0‘20
Der Muttertag ist ein historisch schillernder, widersprüchlicher Feiertag, in dem sich seit über hundert Jahren viele wechselnde Interessen und Emotionen spiegeln.
MUSIK 3 Fiona Brice: Through Her Eyes 0’35
SPRECHER
Als geistige Schöpferin des Muttertages gilt Ann Maria Reeves Jarvis. Die Ehefrau eines methodistischen Pastors in Virginia engagiert sich Mitte des 19. Jahrhunderts wohltätig, insbesondere für Familien der Arbeiterklasse. Im Sommer 1865 ruft die US-Amerikanerin dann offiziell eine Mütterbewegung mit dem Namen "Mother´s Friendship Day" ins Leben. Die Familienforscherin und Soziologin Désirée Waterstradt:
OTON 1 WATERSTRADT
„Man muss sagen, dass Mütter im neunzehnten Jahrhundert einfach wahnsinnig litten unter Arbeitsbelastung, Armut, keine Verhütungsmittel, Kinderreichtum, hohe Kindersterblichkeit und all diese Belastungen. Auch wenn der Mann starb im Krieg - und das war ja nun gerade zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs - dann waren die Mütter alleine da und mussten für die Kinder sorgen. Und insofern waren Mütter extrem belastet. Und diese Mütter trafen sich und haben sich eben ausgetauscht über ihre alltäglichen Probleme. Wie werde ich mit meinem Alltag fertig? Wie kriege ich das hin? Und wer bin ich dabei überhaupt? (…) Dieser „Mutter Freundschaftstag“, wenn man es mal übersetzt, (…) der stand (…) im Zeichen der Frauen- und Mütterbewegung, indem sich Mütter als Subjekte sahen und tatsächlich entdeckten, dass ihre Sicht auf die Welt eine ganz andere ist, als die der Männer.“
SPRECHER
In weiten Teilen der US-amerikanischen Frauenbewegung, ebenso wie in religiösen Gemeinden, gilt „Mütterlichkeit“ damals als eine weibliche Tugend, die für die gesamte Gesellschaft wichtig und heilsam ist; sie ist keine rein private Qualität, sondern ein öffentliches Handlungsprinzip, das auch in Politik und Gesellschaft angewendet werden soll.
MUSIK 4 Stars And Stripes foeever. Bearbeitet für Orgel 0‘20
Ann Maria Reeves handelt danach: Während des amerikanischen Bürgerkriegs versorgt sie mit Hilfe ihres Mütternetzwerkes Soldaten mit Medizin und Hilfsgütern, und zwar unabhängig davon, auf welcher Seite diese kämpfen. Und das, obwohl sie selbst mehrere ihrer dreizehn Kinder in diesem Krieg verloren hat.
MUSIK 5 Hopeful Outlook (piano solo) 0‘50
Nach den Kämpfen wird ihr „Mother´s Friendship Day“ zu einer Institution der „Reconstruction“, also der Wiedereingliederung und der Aussöhnung zwischen den verfeindeten Nord- und Südstaaten.
Für einen offiziellen Tag zur Ehren der Mütter votiert und betet Ann Maria Reeves vergeblich. Erst nach ihrem Tod 1905 kommt dieses Projekt in Schwung: Eine ihrer Töchter, Anna Marie Jarvis, macht sich nun die Einführung eines Muttertags vehement zur persönlichen Lebensaufgabe.
Am 12. Mai 1907, dem Sonntag nach dem zweiten Todestag ihrer Mutter, veranlasst sie in ihrer Heimatgemeinde in Grafton, West Virginia, einen Gottesdienst zum Gedenken an ihre Mutter. Schon im Jahr darauf soll die Veranstaltung noch immer die eine, aber zusätzlich auch alle Mütter ehren. Anna Jarvis gründet Komitees, schreibt Briefe und Petitionen, sucht sich Verbündete. Als „Memorial Mothers Day Meetings“ verbreiten sich die von ihr initiierten Feierlichkeiten am zweiten Maisonntag von Jahr zu Jahr weiter. Die geschickte Vorkämpferin verpasst dem Projekt Muttertag auch ein Symbol: die Nelke, Lieblingsblume ihrer Mutter.
MUSIK 6 Fiona Brice: Through Her Eyes 0’25
ZITATORIN
“Jeder soll diese Blume tragen. Denn die weiße Nelke ist besonders dazu angetan, die Tugenden der Mutterschaft zu versinnbildlichen; ihre Weiße steht für Reinheit; ihre Langlebigkeit für Treue; ihr Duft für Liebe; ihre weite Verbreitung für Wohltätigkeit; ihre Form für Schönheit.“
MUSIK 7 Tomorrows Mother’s Day, aus Gypsy 0’30
SPRECHER
Anna Jarvis setzt bei ihrer Kampagne auf Emotionen und rüttelt auch nicht wirklich am traditionellen Mutterbild. Sie hat schnell Erfolg. 1914 wird der Muttertag in den USA offiziell als staatlicher Feiertag ausgerufen.
Mit der ursprünglichen Idee organisierter, öffentlich aktiver Mütter hat der Tag zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr viel zu tun. Sein rascher Aufstieg ist eher mit der Bedürftigkeit der Menschen in einer Zeit des Umbruchs zu erklären, so Désirée Waterstradt:
OTON 2 Waterstradt
„Amerika wurde zu einer bedeutenden Wirtschaftsnation in dieser Zeit. Mit all den Problemen, mit der Armut, mit den psychischen Problemen, mit denen das einherging. (….) Also, das traf auf eine Gesellschaft, die eben unter massiven Wandlungs Druck stand, und die wuchs und sich ausdifferenzierte und in der eben kein Stein mehr auf dem anderen blieb, um es mal so zu sagen. (…) Und insofern war es das Bedürfnis, ja, wieder nach Fürsorge. Und dass es eben nicht nur diese kalte wirtschaftliche Welt gibt, in der ich ja einfach eine austauschbare Person bin, die kommt zum Arbeiten und wieder geht, sondern die tatsächlich von einer Mutter angenommen wird, ein ganzes Leben lang kostenlos mit Fürsorge bedacht wird.“
MUSIK 8 Overture, aus Gypsy 0’20
SPRECHER
Rechtzeitig vor dem Muttertag starten nun unübersehbare Werbekampagnen. Die US-amerikanische Wirtschaft klinkt sich in den Feiertag ein, will Dinge wie Postkarten und Süßwaren verkaufen. Die Nelkenpreise beginnen alljährlich Anfang Mai zu steigen - und Anna Jarvis verzweifelt an ihrer eigenen Schöpfung. Ihr Ziel ist, wie sie schreibt, ein „Tag der Gefühle, nicht des Kommerzes“ gewesen.
Nun bekämpft sie den Muttertag, ruft zu Boykott auf, überzieht Blumenhändler mit teuren Klagen, stört Veranstaltungen und wird 1925 bei Feierlichkeiten wegen „ordnungswidrigen Verhaltens“ zwischenzeitlich sogar verhaftet.
OTON 3 Waterstradt
„Die hat bis zum Schluss gegen diese Verdrehung des Muttertages gekämpft und ist dann, weil sie da wirklich alles eingesetzt hat zusammen mit ihrer Schwester, in Armut gestorben, weil sie es einfach nicht hingekriegt hat, gegen diese massive Kommerzialisierung, Romantisierung sich durchzusetzen.“
MUSIK 9 (IN-SPIRED MUSIC / Subpublish: Delicate Moment 1’30)
SPRECHER
Der US-amerikanische Muttertag verbreitet sich nach dem Ersten Weltkrieg international, kommt nach Großbritannien, Skandinavien, in die Schweiz. Für seine Einführung in Deutschland spielen seine kommerziellen Möglichkeiten eine große Rolle – wenn auch im Verdeckten. In einer Zeitschrift namens „Ethische Kultur“ ist 1923 – die Folgen des Ersten Weltkriegs sind noch deutlich spürbar – folgender Aufruf zu lesen:
+ MUSIK 10 Fabian Bitter: Dark Pulse (Reduced) 0’30
ZITATOR Knauer
„Ernste Frauen und Männer wissen, dass die Wiederaufrichtung unseres Volkes nur bei seiner sittlichen Erneuerung beginnen kann. Hierzu muss der Grund aber in der Familie gelegt werden. Die Familie ist die Keimzelle des Staates. (…) Wer ist nun die vor allem berufene Hüterin und Trägerin unseres Familienlebens? Die Deutsche Frau und Mutter! (…) Uns Deutschen fehlt ein großer vaterländischer Weihe- und Festtag. Wohlan, füllen wir die Lücke aus, indem wir der deutschen Mutter einen Ehrentag bereiten. (…) An diesem Tage wollen wir unser Heim schmücken. Der Mutter gehört der Ehrenplatz. Er werde bekränzt! Blumengrüße sollen ihr unseren Dank, unsere Liebe kundtun. Auch äußerlich soll ein Zeichen, etwa eine Blume im Knopfloch oder an der Brust, die Gesinnung der Liebe und des Dankes bekunden.“
SPRECHER
Wer hier so nachdrücklich von „idealen Gütern“ und „sittlicher Erneuerung“ schwärmt, ist ein Lobbyist: Rudolf Knauer, der frischgebackene Geschäftsführer des Verbands deutscher Blumengeschäftsinhaber.
Zu seiner Muttertagskampagne hat Hartwig Knack, Kultur- und Kunstwissenschaftler, geforscht:
OTON 4 Knack
„Die Strategie von Rudolf Knauer war einfach, die kommerziellen Interessen zu kaschieren. Und er hat aufgrund dessen ausdrücklich so einen ideellen Wert des zu feiernden Muttertages in den Vordergrund gestellt. (…) Da gab es auch so eine Verbandszeitung (…). Und darin standen dann auch Anleitungen, wie der richtige Kurs zu sein hat in Sachen Muttertag, dass er natürlich ideologisch getrimmt sein müsse und nicht so die kommerzielle Geschichte im Vordergrund stehen dürfe. (…) also wie (…) die Schaufensterdekorationen auszusehen haben und so weiter. Also das war sehr strategisch alles aufgebaut.“
MUSIK 11 Palastorchester: Frollein Pardon 0’30
SPRECHER
Die wirtschaftliche Situation der Blumenhändler ist 1923 angespannt, die Inflation hat den Blumenabsatz sinken lassen. Rudolph Knauer will per Muttertag Abhilfe schaffen. Er unternimmt Vortragsreisen, schreibt Artikel und sogar ein eigenes Buch über den Muttertag. Doch die Resonanz in den Kassen der Blumenläden bleibt die ersten Jahre dürftig.
1926 wird das Projekt Muttertag offiziell an die „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung“ übertragen. In ihr sind konservative gesellschaftliche Gruppierungen organisiert, etwa der „Reichsausschuss für Hygienische Volksbelehrung“, der „Reichsbund der Kinderreichen“ oder der „Katholische Frauenbund Deutschlands“. Mit dieser Arbeitsgemeinschaft haben die Blumenhändler nun eine der einflussreichsten Organisationen der freien Wohlfahrtspflege an ihrer Seite, die den moralischen Part der Kampagne viel glaubwürdiger übernehmen kann. Der geschäftliche Aspekt des Muttertags ist nicht verschwunden, aber nun noch besser getarnt.
MUSIK 12 Robert Pabst: At One’s Own Risk 1’00
SPRECHER
Andererseits ist der Muttertag für die Arbeitsgemeinschaft eine Möglichkeit, ihre Ideen zur Bevölkerungspolitik zu verbreiten. In der Zeit der Weimarer Republik zeichnen sich neue, eigenständigere Frauenbilder ab – die Muttertagsbewegung hingegen will zur traditionellen Definition der Frau als Mutter zurückkehren. Sie propagiert beispielsweise Kinderreichtum, um das „völkische Bestehen“ zu sichern, und lehnt Abtreibungen und Verhütungsmittel ab. Der Muttertag soll die Bereitschaft zur Mutterschaft steigern und Mütter nicht nur ehren, sondern sie auch an ihre Pflichten erinnern.
Auch Ideen der so genannten „Rassenhygiene“ und der Eugenik, also der Lehre der vermeintlich guten Erbanlagen, sind bei der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung bereits zu finden. Gedanken, die später von den Nationalsozialisten nicht neu erfunden werden, sondern weitergeführt und radikalisiert.
MUSIK 13 Maria-Ward-Chor: Ave Maria 0‘45
Immer wieder haben Historiker auch auf die Bezüge der Muttertagskampagne zur Religion hingewiesen. So stellt die Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung etwa „Zehn Gebote“ zum Muttertag auf. Auch der Schaufensterschmuck der Blumenläden spielt mit sakralen Anklängen. Hartwig Knack:
OTON 5 Knack
„Im Brauchtum gibt es im Zusammenhang mit der Marienverehrung auch verschiedenste Blumen und Pflanzen, die symbolhaft, zum Teil sogar namentlich Maria zugeordnet sind und sie so als volkstümliche Heilige beschreiben. Da gibt es dann die Marienblume, Mariendistel, Marienmantel und so weiter. Und so war es natürlich relativ einfach, von diesem traditionellen floralen Altarschmuck der Muttergottes zur Ehrung einer profanen Mutter mit einem Blumenstrauß überzuleiten. Das lag nahe.“
SPRECHER
Anfang der 1930er Jahre schreiben die Blumenhändler trotz Weltwirtschaftskrise wieder schwarze Zahlen. Der Muttertag ist endgültig etabliert. Warum die Menschen den Tag angenommen haben, mit dieser Frage beschäftigen sich Volkskundler schon seit Jahrzehnten. Laut Désirée Waterstradt spielen dabei auch Schuldgefühle der Zwischenkriegszeit eine Rolle:
OTON 6 Waterstradt
„Da waren viele tote, kriegsversehrte Männer, viele alleinerziehende Mütter, die eben während der Kriegszeit alles alleine gewuppt hatten. Und ja, diese Männer waren in einer massiven Krise. Also diese Männerfantasien, die sozusagen diese Welten gestaltet hatten, diesen Fortschrittsoptimismus, diesen Technik- und Wirtschaftsoptimismus und diese Kriegszuversicht, das war ja massiv enttäuscht worden. (…) Und auf eine solche Gesellschaft trafen diese Ideen, Mütter zu ehren, und eben auf die massiven Schuldgefühle, die damit einhergehen, dass die Väter das nun nicht mehr so stemmen können, sondern dass die Mütter das machen müssen.“
MUSIK 14 Als die gold’ne Abendsonne 0‘25
SPRECHER
1933 beginnt das dunkelste Kapitel des Muttertages. Die Nationalsozialisten erkennen sein Potenzial für ihre Propaganda. Während sie den internationalen Frauentag abschaffen, erheben sie den Muttertag 1934 zum gesetzlichen Feiertag.
OTON 7 Waterstradt
„Ja, da ging es eben um die Überlegenheit der arischen Rasse. Und deswegen wurde der Muttertag dann der Tag der deutschen Mutter, und zwar die „echte“, „wahre“ deutsche Mutter. Und die ist eben dann auch mit einem Besonderheits- und Überlegenheitsgefühl ausgestattet und wird dann überhöht, aber auch überwacht.“
SPRECHER
Für den Mutterkult der Nationalsozialisten entscheidend ist seine rassistische und antisemitische Unterscheidung in gute und nicht-gewollte Mutterschaft. Jüdische Mütter etwa, oder Mütter der besetzten Länder, werden keineswegs geehrt, sondern verfolgt und ermordet. Nur Frauen, die als der „Volksgemeinschaft“ zugehörig betrachtet werden, gelten für das NS-Regime als wertvoll. Und zwar besonders dann, wenn sie für diese Volksgemeinschaft möglichst viele Nachkommen in die Welt setzen.
Ab dem Jahr 1939 wird am Muttertag das „Ehrenkreuz der deutschen Mutter“ verliehen, wobei die besagte „Ehre“ gestaffelt wird: Ab dem vierten Kind gibt es die Auszeichnung in Bronze, ab dem sechsten in Silber, für acht und mehr Kinder die Variante in Gold. Hartwig Knack:
OTON 8 Knack
„Wenn die ausgezeichneten Mütter ihr Kreuz dann trugen, draußen auf der Straße, da gab es auch Vorschriften, wie die Frauen das tragen mussten, an diesem blau-weißen Band. Es musste eine bestimmte Länge haben, das durfte nur über der Kleidung getragen werden. Und so weiter. Man musste dann, wenn diese Frauen einem entgegenkamen, dann musste man grüßen. Also die wurden gegrüßt, die ausgezeichneten Frauen. (lacht) Das war Pflichtprogramm.“
MUSIK 15 Fabian Bitter: Dark Pulse (Reduced) 0’45
SPRECHER
Das Mutterkreuz, wenngleich ein ziviler Orden, sieht einem militärischen Orden ähnlich und wird auch nach Kriegsanbruch weiter verliehen. Adolf Hitler selbst erklärt die Mutterschaft zum „Schlachtfeld der Frau“.
Ab 1943 werden am Muttertag auch die Frauen geehrt, die Sohn oder Mann im Krieg oder durch feindliche Angriffe verloren haben – und deren Zahl steigt rasant. Auch wenn das Propagandaministerium noch versucht, der Veranstaltung eine „besinnlich-frohe“ Stimmung zu verordnen – der Muttertag wird zusehends zur Trauerfeier.
SPRECHER
Der Krieg ist vorbei, Deutschland in zwei Staaten aufgeteilt. In der DDR wird der Muttertag abgeschafft, als Zeichen der Abwendung von der faschistischen Vergangenheit. Stattdessen wird der Internationale Frauentag im März zum Feiertag, von bösen Zungen als „kommunistischer Muttertag“ bezeichnet. Die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland hingegen nimmt den Muttertag 1950 wieder auf – von Schlagern untermalt.
MUSIK 16 Fred Bertelmann: Gute Nacht, Mutter 0’30
OTON 10 Waterstradt
„Zunächst mal waren die 50er und der Beginn der 60er das, was man dann in der westlichen Forschung - also kommend aus Amerika - als „the golden age of marriage“ sieht und die ganzen Werbeanzeigen sind ja Legende, wo eben die Frau nur zwei Fragen hat. Was zieht sie an? Und was kocht sie? Also, es war eben auch ein Versuch, diese Welt wieder heil zu machen, die ja nun völlig in Scherben lag. Und im Prinzip war das der Höhepunkt des bürgerlichen Familienideals, was ja schon viel, viel früher entwickelt wurde, aber Vater-Mutter-Kind: das war der Höhepunkt. Und dann kam natürlich in den 60er Jahren diese Gegenbewegung auf, diese Unruhe auf, die Frauenbewegung auf, (…) und da stellte man sich massiv gegen den Muttertag.“
MUSIK 17 The Doors: Light My Fire 0’15
ZITATORIN
„Was feiern wir hier eigentlich? Unsere Unterbezahlung? (…) Unsere unbezahlte Hausarbeit? (…) Die nicht vorhandenen oder schlechten Kindergärten?“
SPRECHER
Diese Fragen stellt ein Flugblatt der Frauenaktion 70 und anderer linker Frauenorganisationen zum Muttertag 1972.
Kritisiert wird der Muttertag bis heute – und gefeiert auch. Wenigstens am zweiten Sonntag im Mai der Mutter zu danken, ist für viele eine Art soziales Gebot. Und wem am Muttertag angesichts verdellter Basteleien, überreicht von feuchten Kinderhänden, warm ums Herz wird, dem sei es von Herzen vergönnt.
Historisch gesehen ist der Muttertag vielschichtig, ist ein von den unterschiedlichsten Seiten vereinnahmter Feiertag, der über das nur auf den ersten Blick Private – die Feier der Mutter – hinaus immer mit politischen und ökonomischen Zielen verbunden ist. Wofür man eine Mutter feiert, macht gleichzeitig auch klar, was man von ihr erwartet. Unter dem Deckmantel der Ehrung ist der Tag ein Spiegel dessen, wofür Mütter durch die Jahrzehnte so alles sorgen sollten: für Frieden, für Geborgenheit in unsicheren Zeiten, für künftige Soldaten, für den Großteil der häuslichen Care-Arbeit.
MUSIK 18 Beverly Glenn Copeland: Ever New 1’25
Heute gibt es Gegenvorschläge zum Muttertag, wie etwa den pauschaleren und dadurch offeneren „Elterntag“. Désirée Waterstradt hat noch einen anderen Vorschlag:
OTON 11 Waterstradt
„Ich sag immer „Älterntag mit ä“, also ein Tag, an dem diejenigen gefeiert werden, die die Nachwuchsfürsorge betreiben. Also nicht nur die Mutter, sondern tatsächlich auch Väter, Tanten, Omas, Omas sind extrem wichtig. (…) Kindergärtnerin, Hebammen, Lehrerinnen und Lehrer. Dieses Fürsorgenetz ist heute extrem groß, das wissen wir alle. Und trotzdem tun wir so am Muttertag, als würde diese Mutter dieses Kind ganz alleine großziehen und zeigen im Zweifelsfall mit dem Finger auf sie. Wenn wir merken, wir haben irgendein Problem, dann war es natürlich die Mutter in der Kindheit. Und das, glaube ich, ist ganz wichtig, auf dieses kooperative Fürsorge Netz zu lenken und zu sagen ne ne, nicht die Mutter allein, das ist eine Männerfantasie
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Interviewpartner/innen:
Dr. Thomas Groll, Bistumshistoriker, Domkapitular des Bistums Augsburg;
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Prof. Nicole Deitelhoff, Politikwissenschaftlerin, Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt/M.
Prof. Heidrun Kämper, Philologin, Leibniz Institut für Deutsche Sprache, Mannheim
Prof. Jörg Kilian, Sprachwissenschaftler, Universität Kiel
Prof. Simon Meier-Vieracker, Sprachforscher, TU Dresden
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Pause machen - ein zutiefst menschliches Grundbedürfnis, das in den letzten Jahrhunderten sehr unterschiedlich gehandhabt wurde. (BR 2019) Autorin: Kirsten Zesewitz
Credits
Autor/in dieser Folge: Kirsten Zesewitz
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling, Jerzy May
Technik: Siglinde Hermann
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Prof. Ulrich Wengenroth, Technikhistoriker, TU München (emeritiert);
Prof. Götz Bachmann, Ethnologe, Zentrum für Digitale Kulturen, Leuphana Universität Lüneburg
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Mehr als ein Jahrhundert lang kämpften Gewerkschaften für geregelte Arbeitszeiten. Sie setzten den Acht-Stunden-Tag und die Fünf-Tage-Woche durch. Und heute? Sind alle flexibel. Und überarbeitet. Autorin: Maike Brzoska (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Ariane Payer, Johannes Hitzelberger, Peter Lersch, Anna Greiter
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Michael Schneider, Professor an der Universität Bonn;
Thomas Ertl, Professor an der Freien Universität Berlin;
Birgit Blättel-Mink, Professorin an der Universität Frankfurt am Main
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik Weird instructions unter folgendem: 0´58´´
ZITATOR
Berlin, den 15. November 1918. An den Vollzugsausschuss (..)
SPRECHERIN
Es ist nur eine Seite Papier, eng mit Schreibmaschine bedruckt. Aber es sollte das Leben von Millionen Menschen verändern.
ZITATOR
Die Verbände der Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben unter dem heutigen Tage vereinbart, dass das Höchstmass der täglichen regelmässigen Arbeitszeit für alle Betriebe auf 8 Stunden festgesetzt wird und Verdienstschmälerungen aus Anlass dieser Verkürzung der Arbeitszeit nicht stattfinden dürfen.
SPRECHERIN
Nur noch acht Stunden täglich arbeiten – und das bei vollem Lohnausgleich.
ZITATOR
Wir bitten den Vollzugsausschuss, diese Forderung bei den Friedensverhandlungen zu stellen und zu vertreten.
Musik Weird instructions hoch und weg
SPRECHERIN
Angehängt an das kurze Schreiben ist das sogenannte Stinnes-Legien-Abkommen. Es ist benannt nach seinen beiden Verhandlungsführern: dem Unternehmer Hugo Stinnes und dem Gewerkschafter Carl Legien. Aus Nächstenliebe haben die Arbeitgeber dem Achtstundentag aber nicht zugestimmt. Vielmehr fürchteten sie sich vor revolutionären Umbrüchen. Denn am Ende des Ersten Weltkrieges schien alles möglich zu sein, sagt der Politikwissenschaftler Michael Schneider. Er ist Professor an der Universität Bonn.
01 O-TON (Schneider)
Wenn in Deutschland von Räten die Rede war, von der Sozialisierungs-Forderung die Rede war, haben die Arbeitgeber befürchtet, das könnte womöglich ganz schlecht für sie ausgehen, für die deutsche Industrie, für die Eigentumsverhältnisse.
SPRECHERIN
Deshalb taten sie alles dafür, um den Besitzstand zu wahren und den Status Quo zu erhalten. Auch wenn sie dafür weitreichende Zugeständnisse machen mussten.
02 O-TON (Schneider)
Beide haben unter dem Druck für sich rausgeholt, was für sie von zentraler Bedeutung gewesen ist: den Achtstundentag auf der einen Seite und die Sicherung der Eigentumsverhältnisse auf der anderen Seite.
SPRECHERIN
Es war eine große Errungenschaft für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Jahrzehntelang hatten sie dafür gekämpft. Nötig geworden war dieser Kampf, weil einige Jahrhunderte zuvor zwei Entwicklungen parallel stattfanden, welche die Art und Weise, wie Menschen arbeiten, grundlegend verändert hatten.
Musik Laiser Pointer unter: 0´13´´
SPRECHER
Von Uhren und Städten - Als Zeit zu Geld wurde.
Musik Laiser Pointer weg
SPRECHERIN
In früheren Zeiten hatten sich die Menschen nach dem Stand der Sonne gerichtet, um die Tageszeit zu bestimmen. Um das Jahr 1300 kommen die ersten mechanischen Uhren auf, sagt der Historiker Thomas Ertl. Er ist Professor an der Freien Universität Berlin.
03 O-TON Ertl
Und nun ist es zum ersten Mal möglich, die Zeit über den Tag hinweg - genau - zu messen.
SPRECHERIN
Damit lässt sich auch die Zeit, die jemand arbeitet, exakt bestimmen. Parallel dazu beginnt eine andere Entwicklung: Immer mehr Menschen ziehen in die Städte.
04 O-TON Ertl
In der gleichen Zeit, seit dem hohen Mittelalter, befinden wir uns in einer wirtschaftlichen Expansionsphase. Es beginnt in Europa ein Prozess der Urbanisierung und der Diversifizierung im Arbeitsleben.
Musik: Dogged Pathology unter: 1´02´´
SPRECHERIN
Bis dahin hatten die Menschen das meiste, was zum Leben nötig war, in der Familie selbst hergestellt. Tagsüber ackerten sie auf dem Feld, abends erledigten sie noch Handarbeiten. Oft gab es Knechte und Mägde, die in der Familie mitarbeiteten und dafür Kost und Logis bekamen. In den Städten löst sich dieses traditionelle Gefüge langsam auf. Es entstehen Handwerksbetriebe. Die Aufträge kommen oft von den Städten selbst. Stadtmauern, Straßen, Abwasserkanäle – die Betriebe beschäftigen dafür bald Lehrlinge und Gesellen. Damit kommt eine neue Form der Arbeitsorganisation ins Spiel: die Lohnarbeit:
So selbstverständlich uns das heute erscheint, so neu war sie damals. Ein Mitarbeiter, eine Mitarbeiterin bekommt eine vereinbarte Summe Geld für eine festgelegte Anzahl von Stunden.
Musik: Dogged Pathology weg
05 O-TON (Ertl)
Als technische Unterstützung hängen Uhren an Türmen, an Rathäusern. Auf die Art und Weise wird die Tageszeit normiert und ist für alle erkennbar.
SPRECHERIN
Das, was im Mittelalter ganz allmählich beginnt, breitet sich mit Beginn der Industrialisierung immer weiter aus.
Musik Laiser Pointer unter: 0´08´´
SPRECHER
Von Fabriken und Maschinen - Arbeitskraft als Massenware.
Musik Laiser Pointer weg
SPRECHERIN
In Bayern entstehen die ersten Fabriken ab den 1820er Jahren, zunächst in Nürnberg, wo mithilfe von Maschinen Textilien hergestellt werden. In Augsburg gründen sich bald Unternehmen, die Metall verarbeiten.
06 O-TON (Schneider)
Die hohen Investitionen in die Fabriken, in die Maschinen drängten natürlich die, die in die Maschinen investiert hatten, also die Unternehmer, möglichst lange Maschinenlaufzeiten herzustellen. Und dies wiederum bedeutete, dass man mit dem Beginn der Industrialisierung eine deutliche Verlängerung der Arbeitszeit hatte.
SPRECHERIN
So auch in einer Papierfabrik in Heilbronn. Deren Besitzer schreiben in einem Brief, dass dort regulär 12 Stunden am Tag gearbeitet werden. Weiter heißt es:
ZITATOR
Die Arbeiter verdienen sich noch weiteren Lohn durch extra Stunden, d.h. durch die Zeit, die sie mehr als 12 Stunden arbeiten. In der Regel sind sie sehr verlangend nach diesem Extra-Verdienst.
SPRECHERIN
Kein Wunder, denn der Tageslohn eines Arbeiters reicht gerade mal für einen einzigen Laib Brot. Der einer Arbeiterin nur für einen halben. Deshalb schuften die Menschen Mitte des 19. Jahrhunderts 14 bis 16 Stunden am Tag – an sechs Tagen die Woche. Auch Kinderarbeit ist üblich. Hauptsache, die Maschinen sind ausgelastet.
07 O-TON (Schneider)
Schon dieses Wort der Bedienung der Maschine deutet ja darauf hin, wo die Priorität des Arbeitsmanagements lag, nämlich beim Maschineneinsatz.
Musik: Dogged Pathology unter: 0´34´´
SPRECHERIN
Dennoch ziehen immer Menschen vom Land in die Städte, um in den Fabriken Arbeit zu suchen. Grund sind unter anderem mehrere Missernten Mitte des 19. Jahrhunderts und ein starkes Wachstum der Bevölkerung. Die Zahl der Arbeiterinnen und Arbeiter wächst, bald setzen die Fabrikbesitzer Stechuhren ein. Die heißen damals passenderweise „Arbeiterkontrollapparate“. In Meyers Großem Konversationslexikon von 1897 heißt es:
ZITATOR 2
Um Arbeiter bezüglich des Anfangs und Endes, beziehungsweise der Dauer ihres Arbeitstages zu kontrollieren, sind Arbeiterkontrollapparate angegeben worden.
SPRECHERIN
Prekäre Arbeitsbedingungen, Hungersnöte, allgemeine politische Unzufriedenheit – das alles führt Ende der 1840er Jahre zu revolutionären Unruhen in Europa.
Musik Laiser Pointer C1589890129 unter: 0´13´´
SPRECHER
Kampf um den Achtstundentag.
Musik Laiser Pointer weg
SPRECHERIN
Die Arbeiterinnen und Arbeiter beginnen, sich zu verbünden. Ihr Ziel ist, gemeinsam bessere Bedingungen auszuhandeln.
08 O-TON (Schneider)
Die ersten Gewerkschaften sind 1848 im Umfeld der Revolution gegründet worden, das waren die Zigarrenarbeiter und die Buchdrucker. Die Verbände sind ganz schnell verboten worden in den 50er Jahren. Aber dann in den 1860er Jahren gab es einen Boom von Gewerkschaftsgründungen.
SPRECHERIN
Das waren anfangs noch sehr kleine, lokal tätige Arbeitervereine.
09 O-TON (Schneider)
Aber sie fingen an, kollektiv die Arbeitszeit zu regeln.
SPRECHERIN
Mit Erfolg. Die Arbeitszeit wird in den folgenden Jahren kürzer. Insgesamt verbessert sich die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter. Auch weil andere gesellschaftliche Gruppen ihre Forderungen mittragen. Viele Geistliche prangern die menschenunwürdigen Bedingungen an.
Hinzu kommen gesellschaftskritische Ideen wie die von Karl Marx und Friedrich Engels, die nicht nur das theoretisches Fundament für den Kampf der Arbeiterschaft legen, sondern bald selbst an der Spitze der Bewegung stehen. Auf der Internationalen Arbeiterassoziation von 1864 – der Ersten Internationale – sagt Marx in der Eröffnungsrede:
ZITATOR
Nach einem dreißigjährigen Kampf, der mit bewundernswürdiger Ausdauer geführt ward, gelang es der englischen Arbeiterklasse (...) die Zehnstundenbill durchzusetzen.
SPRECHERIN
Vereinzelt setzen sich auch Industrielle für die Arbeiterschaft ein. In Schottland beispielsweise Robert Owen, Inhaber einer Baumwollspinnerei. Von ihm soll die Formel stammen:
ZITATOR 2
Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen und acht Stunden Freizeit und Erholung.
SPRECHERIN
Der Achtstundentag ist weltweit bald die zentrale Forderung der Gewerkschaften. Auf der Zweiten Internationale von 1889 beschließen Arbeitervertreter aus 20 Ländern gemeinsam dafür zu kämpfen.
10 O-TON Schneider
Und um diese Forderung zu vertreten, hat man sich gedacht, man nimmt den 1. Mai als internationalen Kampftag für das Ziel des Achtstundentages.
SPRECHERIN
Im Kaiserreich können die Arbeitervertreter ihre Forderung nicht durchsetzen. Vor allem Reichskanzler Otto von Bismarck ist dagegen. Das macht er 1885 im Reichstag deutlich:
ZITATOR
Wer empfindet nicht das Bedürfnis zu helfen, wenn er den Arbeiter gegen den Schluss des Arbeitstages müde und ruhebedürftig nach Hause kommen sieht. Aber die Spitze unserer Industrie ist die Exportindustrie. Lassen Sie die Exportindustrie konkurrenzunfähig werden mit dem Auslande und unsere ganze Industrie wird darunter leiden.
SPRECHERIN
Erst nach Ende des Ersten Weltkrieges ist es soweit. Mit dem Stinnes-Legien-Abkommen wird der Achtstundentag ab Januar 1919 Realität für Millionen Menschen – an sechs Tagen in der Woche wohlgemerkt. Dennoch ist es eine große Errungenschaft. Die allerdings bald schon wieder passé ist.
Musik Laiser Pointer unter: 0´09´´
SPRECHER
Der Kampf der Systeme - Wem gehört Vati am Samstag?
Musik Laiser Pointer weg
SPRECHERIN
1923 beschließt die Reichsregierung auf Druck der Arbeitgeber eine neue Arbeitszeitverordnung. Ohne eine Erhöhung der Produktivität könne das Deutsche Reich die Reparationsforderungen nicht erfüllen, argumentieren insbesondere Vertreter aus Metallindustrie und Kohlebergbau. Die neue Verordnung sieht viele Ausnahmen vom Achtstundentag vor, was die Arbeitgeber auch gerne ausnutzen.
M Simple but complex behavior unter: 0´33´´
Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen, spielt der Achtstundentag bald keine Rolle mehr. Die Reichsregierung will das Land für den Krieg rüsten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen zusätzliche Schichten einlegen. 1938 erlässt dann die Regierung ein neues Gesetz, das die Arbeitszeit auf 10 Stunden täglich ausweitet. Und selbst dieses Gesetz kippt sie ein Jahr später.
M Simple but complex behavior weg
12 O-TON (Schneider)
Das ist dann mit Beginn des Zweiten Weltkrieges außer Kraft gesetzt worden, weil man davon ausging, natürlich bei den Kriegsanstrengungen muss mehr gearbeitet werden können.
Musik: Dogged Pathology unter: 1´22´´
SPRECHERIN
Es sind die Alliierten, die nach dem Zweiten Weltkrieg dafür sorgen, dass die Bevölkerung durchschnaufen kann. Der Alliierte Kontrollrat setzt den Achtstundentag und die 48-Stunden-Woche wieder in Kraft. Gleichzeitig führt der Wiederaufbau dazu, dass die Wirtschaft in den 1950er und 60er Jahren boomt. Die Produktivität und die Wachstumsraten sind hoch, was sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmerseite zugute kommt. Es gibt einiges zu verteilen.
13 O-TON Schneider
War eine für gewerkschaftliche Arbeit überaus günstige Zeit.
SPRECHERIN
Wegen der guten wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch wegen des ständigen Vergleichs mit der DDR. Wo lebt es sich besser? Wer schafft bessere Bedingungen für die Menschen? Die soziale Marktwirtschaft will dem Arbeiter- und Bauernstaat in nichts nachstehen. Keiner der Staaten will den Ruf haben, seine Bürger zu schinden. Kein Wunder, dass sich in beiden deutschen Staaten die Arbeitszeit ähnlich entwickelt. In der DDR legt der Staat sie fest. Im Westen setzen die Gewerkschaften per Tarifvertrag immer mehr Forderungen durch. Bald kämpfen sie für die 40-Stunden-Woche. Besonders laut trommelt die IG Metall mit ihrem Slogan:
Musik: Dogged Pathology weg
ZITATOR (Kind wäre gut; vielleicht auch mit Megaphon-Akustik)
Samstags gehört Vati mir!
SPRECHERIN
Ludwig Erhard, damals Wirtschaftsminister, hält allerdings ganz und gar nichts davon.
ZITATOR
Ein Volk, das auf breitester Grundlage den Wohlstand mehren und auch in Arbeitnehmerhand die Vermögensbildung fördern will. Ein Volk, das, um auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu bleiben, ständig hohe Investitionen vornehmen muss. Ein solches Volk sollte sich nicht Überlegungen nach Verkürzung der Arbeitszeit hingeben.
SPRECHERIN
Dennoch arbeiten bald immer mehr Menschen nur noch 40 Stunden pro Woche. Den Samstag können viele Väter nun also tatsächlich mit ihren Kindern verbringen. Montags bis freitags betreuen aber in der Regel die Mütter den Nachwuchs.
Seit der Nachkriegszeit dominiert in Westdeutschland das sogenannte Ernährer-Modell, sagt die Industriesoziologin Birgit Blättel-Mink. Sie ist Professorin an der Universität Frankfurt am Main.
14 O-TON (Blättel-Mink)
Dass also sozusagen der männliche Part der Familie für das Familieneinkommen verantwortlich ist und die Frau für die Reproduktionsarbeit zuhause. Wir haben dann aber beobachtet ab den 1960er Jahren, dass Frauen zunehmend teilzeitbeschäftigt sind, das heißt Zuverdienerinnen sind.
SPRECHERIN
Im Schnitt sind Frauen also weniger erwerbstätig als die Männer. Gender Time Gap nennt die Wissenschaft das. Viele arbeiten im rasch wachsenden Dienstleistungssektor, zu dem die Teilzeit-Modelle gut passen. Seit den 1970er Jahren gibt es beispielsweise die sogenannte Kapovaz. Die Abkürzung steht für Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit. Das bedeutet: Arbeit auf Abruf. Ein Beispiel:
15 O-TON (Schneider)
Die Kassiererin an der Supermarktkasse, die, wenn der Bedarf besteht, morgens von neun bis elf Uhr arbeitet, dann kann sie nach Hause gehen, weil wenig Kunden erwartet werden. Dann soll sie von sechzehn bis achtzehn Uhr noch mal arbeiten.
SPRECHERIN
Vergütet wird dabei nur die Zeit an der Kasse. Solche Regelungen empfinden viele Menschen als Zumutung. Aber sie bietet auch Chancen, was Gewerkschaften lange Zeit nicht erkannt haben, sagt der Politikwissenschaftler Schneider.
16 O-TON (Schneider)
Mit einer Massenfreizeitgesellschaft, einer Massenkonsumgesellschaft, mit einer Neuverteilung – beginnenden Neuverteilung muss man ja in den 70ern sagen – von Hausarbeit, Familienpflichten und Arbeit änderte sich auch der Wunsch von vielen Arbeitnehmern in Richtung mehr Flexibilisierung des Arbeitszeiteinsatzes, um die unterschiedlichen Bedürfnisse in Übereinstimmung bringen zu können.
SPRECHERIN
Auf der einen Seite kämpfen Gewerkschaften nun also für die 35-Stunden-Woche, die sie zum Teil auch durchsetzen können. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr atypische Beschäftigungsverhältnisse mit flexiblen Regelungen. Aber selbst das neue Arbeitszeitgesetz von 1994 spiegelt diese Entwicklungen nicht wider. Es sieht weiterhin den Achtstundentag und die 48-Stunden-Woche vor. Eine Regelung, von der sich die Realität immer weiter entfernen wird.
Musik Laiser Pointer unter: 0´14´´
SPRECHER
Seit` an seit` im Coworking Space.
Musik Laiser Pointer weg
SPRECHERIN
Die neuen Möglichkeiten der Kommunikation verändern das Leben der Menschen in vieler Hinsicht. Auch die Art, wie sie arbeiten. In der Industrieproduktion sind immer weniger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nötig. Handgriffe sind zunehmend automatisiert. Stichwort Industrie 4.0.
17 O-TON (Blättel-Mink)
Es geht darum, durchgängig auch Wertschöpfungsketten sozusagen zu digitalisieren mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien einerseits und eben diesen neuen Formen von Robotik und künstlicher Intelligenz andererseits.
SPRECHERIN
Welche Auswirkungen das auf die Arbeitszeit hat, hängt dabei stark von der Branche ab.
18 O-TON (Blättel-Mink)
In manchen Branchen beobachten wir, dass Debatten geführt werden um eine verringerte Arbeitszeit, sagen wir mal 32-Stunden-Woche, da geht es auch um Fragen von Work-Life-Balance, Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir haben andererseits durch die Digitalisierung, durch die sogenannte Plattform-Ökonomie zunehmend Arbeitsverträge, die sehr wenig konkret sind.
Musik: Dogged Pathology unter: 0´58´´
SPRECHERIN
Zur Plattform-Ökonomie gehören Online-Marktplätze wie Ebay oder Amazon, aber auch Vergleichsportale und Sharing- oder Lieferdienste. Um die Plattform-Ökonomie am Laufen zu halten, braucht man jede Menge Programmiererinnen, die Webseiten optimieren. Außerdem Kuriere, die Pakete oder Essen ausliefern. Und auch Influencer, die ihren Followern Einblick in ihr Leben gewähren und nebenbei Werbung machen. Viele von ihnen arbeiten freiberuflich. Manche mieten einen Platz in einem sogenannten Coworking Space, das sind Gemeinschaftsbüro, die es vor allem in größeren Städten gibt. Wann sie dort arbeiten – und wie lange – ist ihnen überlassen. Das bietet gewisse Freiräume, bringt zum Teil aber auch neue prekäre Beschäftigungsverhältnisse hervor.
Musik: Dogged Pathology weg
19 O-TON (Blättel-Mink)
Denken Sie zum Beispiel an die E-Roller und die Solo-Selbständigen, die diese E-Roller in den Städten sammeln, aufladen müssen und wieder an bestimmte Stellen dann auch transportieren müssen. Sie tun das häufig auf eigene Kosten und werden dann sozusagen nach bestimmten Zielvereinbarungen bezahlt.
SPRECHERIN
Wie viel ein Fahrer, eine Fahrerin verdient, hängt davon ab, wie viel er oder sie schafft. Und das wiederum hängt ab vom Verkehr, vom Auto, vom eigenen Fahrstil und ob der Kunde zuhause ist. Der Auftragnehmer, die Auftragnehmerin ist für sich selbst verantwortlich. Jeder kämpft für sich allein. Wer nicht genug verdient, wer kein gutes Feedback bekommt, muss seine Art zu arbeiten optimieren. Sonst gehen die nächsten Aufträge an die Konkurrenz. Eine Absicherung gibt es nicht. Das ist die Schattenseite der selbstbestimmten Arbeit.
20 O-TON (Blättel-Mink)
Die Selbstausbeutung nimmt in dem Maße zu, könnte man jetzt etwas provokant sagen, wie die Fremdausbeutung, also die direkte Kontrolle durch den Arbeitgeber, zurückgenommen wird.
Musik: Dogged Pathology unter: 0´51´´
SPRECHERIN
Andererseits ist es nun auch möglich, seine Zeit stärker selbst zu gestalten. Die Kurierfahrerin holt mittags die Kinder von der Schule ab. Der Programmierer stellt zwischendurch die Waschmaschine an. Und die Influencerin probiert für sich Kochrezepte, die sie vielleicht auch ihren Followern vorstellen wird. Arbeit und Privates verschwimmen zunehmend. Die Corona-Pandemie hat dieser Art zu arbeiten einen weiteren Schub gegeben. Zuhause Mails beantworten und gleichzeitig die Kinder zum Lernen animieren. Oder Gemüse schnibbeln und nebenbei telefonisch Termine abstimmen. Wie viele Stunden man für was gebraucht hat, lässt sich am Ende des Tages gar nicht mehr genau sagen.
Musik: Dogged Pathology weg
21 O-TON (Ertl)
Ein Stück weit gehen jene Standardarbeitsverhältnisse, die nen großen Teil des 20. Jahrhunderts ausgefüllt haben, zu Ende und weichen einer Flexibilisierung, die in manchen Bereichen durchaus erinnert an die Verhältnisse vor 1800.
SPRECHERIN
Nur dass wir heute nicht mehr von „Heimarbeit“ sprechen, sondern im Home Office sind.
Musik Laiser Pointer unter: 0´13´´
SPRECHER
Die Zukunft.
Musik Laiser Pointer weg
Musik Weird instructions unter folgendem: 0´29´´
SPRECHERIN
Wie könnte es weitergehen? Machen wir künftig keinen Unterschied mehr zwischen Erwerbs- und Hausarbeit? Oder grenzen wir die Arbeitszeit wieder stärker ab – vielleicht nicht per Stechuhr, sondern mithilfe einer Smartwatch, die uns signalisiert, dass jetzt Zeit für vier Stunden Erholung ist. Oder auch für sechs oder acht Stunden. Viele Wissenschaftler in früheren Jahrhunderten sind davon ausgegangen, dass wir in Zukunft sehr viel weniger arbeiten.
23 O-TON (Ertl)
In der Mitte des 19. Jahrhunderts betrug die durchschnittliche Arbeitswoche 60 Stunden, heute beträgt sie durchschnittlich 30 Stunden. Ob sich aber in diese Richtung weiter entwickelt und hinführt zu einer Arbeitswoche von 15 Stunden, das kann wohl derzeit niemand prognostizieren.
Musik Weird instructions unter folgendem: 0´27´´
SPRECHERIN
Vielleicht spielt die konkrete Anzahl an Stunden aber auch immer weniger eine Rolle. Weil Arbeit und Privates sich kaum noch trennen lassen. Die Geschichte der Arbeitszeit wäre dann an ihr Ende gekommen oder müsste ein neues Kapitel aufschlagen.
Musik Weird instructions weg
Die Gewerkschaften haben sich in den letzten 150 Jahren zu wichtigen wirtschaftlichen und politischen Akteuren entwickelt. Doch Antworten auf die herausfordernde Transformation von Arbeit wie Gesellschaft scheinen sie schwer zu finden. Können sie den Wandel mitgestalten - und gleichzeitig selber zukunftsfähig werden? Autor: Lukas Grasberger
Credits
Autor: Lukas Grasberger
Es sprachen: Katja Amberger und
Technik: Adrian Talhammer
Regie: Irene Schuck
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Frank Deppe, em. Politikwissenschaftler, Uni Marburg;
Prof. Klaus Dörre, Arbeitsbereich Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Uni Jena;
Dr. Jürgen Schmidt, Gewerkschaftsforscher und Leiter des Karl-Marx-Hauses Trier;
Carolin Denise Fulda, Ökonomin mit Schwerpunkt Lohn und Tarifpolitik am Institut der Deutschen Wirtschaft Köln
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Paula sucht Paula | Folge 1/3 | Alles Geschichte - History von radioWissen
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Atmo Streiks
O-Ton 1 Frank Deppe, em Prof. für Politikwissenschaft, Uni Marburg
„Das Jahr 2023 ist ein Jahr, in dem in Europa so viel gestreikt wurde wie seit den 70-er Jahren nicht mehr.“
Atmo Streiks nochmal hoch
O-Ton 2 Deppe
„Und wer streikt da? Das sind: Pflegepersonal, die, die arbeiten im Gesundheitssystem, Lehrer, Polizisten: Die ganzen Berufsgruppen, die da von England bis Portugal hinunter in Streik treten. (…) und sich zusammenschließen! Das ist untypisch. Auch Leute, die nie etwas mit Gewerkschaften zu tun hatten...“
Sprecherin
…die nie etwas mit Gewerkschaften zu tun hatten, wie der Politikwissenschaftler Frank Deppe sagt. Ja, früher waren die Gewerkschafter die Fließbandarbeiter, ganz früher die Handwerker – jetzt, knapp 200 Jahre später organisieren sich Arbeitnehmer aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Und trotzdem trifft auf sie zu, was der Historiker Dr. Jürgen Schmidt für die Mitglieder der frühen Gewerkschaftsbewegung beschreibt. Damals, im 19. Jahrhundert, entstand die Gewerkschaft dort, wo Beschäftigte sich nicht nur selbst als politisches Subjekt, sondern auch in einer Gemeinschaft wahrnahmen.
O-Ton 3 Dr. Jürgen Schmidt
„...Man wollte als Arbeiter wahrgenommen werden, und dann eben auch verbunden mit Würde, Respekt und ner Arbeiter-Identität. (…) Und so das Wissen: Unsere körperliche Arbeit trägt zum Wohlstand - und auch zum Aufblühen von Wirtschaft, Handwerk und Industrie bei.“
Musik 2
"Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0'10
Sprecherin
Mitte des 19. Jahrhunderts organisierten sich die ersten Arbeiter.
O-Ton 4 Schmidt
„Es gab einerseits so soziale Bedingungen, könnte man das im weitesten Sinne bezeichnen, um sich zusammenzuschließen. Das waren eben überlange Arbeitszeiten von zwölf, 14 Stunden am Tag. Das waren schlechte Löhne. Es war aber eben auch diese Missachtung als Arbeiter, die Unterordnung unter den Arbeitgeber.“
Musik 3
"Diary" - Album: La marque des anges - Miserere (Bande originale du film) - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'28
Sprecherin
Dazu kam ein historisches Momentum: Die Revolution des Jahres 1848.
O-Ton 5 Schmidt
„...und durch die Revolution ergaben sich eben Möglichkeiten der Teilhabe und Partizipation. Die neuen Freiheiten haben dann eben Arbeiter und Handwerker genutzt, um sich zusammenzuschließen.“
Sprecherin
Den Boden für die „Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung“ – die Keimzelle der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung – hatten Handwerker bereitet. Vor allem Handwerksgesellen sahen ihre Arbeit durch den zunehmenden Einsatz neuer Maschinen wie Dampfmaschine oder mechanischen Webstuhl gefährdet, ihre handwerkliche Qualifikation entwertet.
Gegen die industrielle Herstellung von Waren, gegen die neue Konkurrenz des Marktes und gegen die Gewerbefreiheit hatten Handwerks-Meister und -Gesellen anfangs noch gemeinsam aufbegehrt. Aber sie wurden immer mehr zu Kontrahenten, die Interessen entwickelten sich immer mehr in gegensätzliche Richtungen. Konnten sich die Gesellen früher ziemlich sicher sein, zum selbstständigen Handwerksmeister aufzusteigen, war das nun für die meisten unerreichbar geworden. Sie blieben abhängig beschäftigte Arbeitnehmer – im Gegensatz zu den Meistern, die Unternehmer und Arbeitgeber waren.
Allerdings wussten sich die Handwerker-Gesellen zu organisieren: Jahrhunderte alte Erfahrungen aus den Zünften kamen ihnen dabei zu Gute. Sie waren die treibende Kraft bei einem Zusammenschluss der Beschäftigten, die in den neuen Industrie-Betrieben arbeiteten. Gemeinsam sollten sie nun eine neue Klasse des „Arbeiters“ bilden. Mit der so genannten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung“ verschafften sie sich gemeinsam in großem Umfang Gehör.
O-Ton 6 Schmidt
„Die Arbeiter-Verbrüderung hatten eben den Anspruch, nicht mehr einzelne Berufe zu repräsentieren, sondern die Arbeiter an sich. Und das bedeutete eben auch eine Aufwertung des Arbeiterbegriffs.“
Musik 4
"Diary" - Album: La marque des anges - Miserere (Bande originale du film) - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'44
ZITATOR
„Wir Arbeiter waren einem großen Teile der deutschen Bürgerklasse fremde, unbekannte Wesen....an welche man die dunklen Begriffe von Rohheit und Feigheit, Unbildung und Demut, Dummheit und wilder Zerstörung knüpfte; konnten wir erwarten, dass man uns in einer geschichtlichen Bewegung sah? Dass man uns als eine Klasse in der Gesellschaft betrachtete, die ihre eigene selbständige Entwicklung durchmacht?“
Sprecherin
...schrieb 1848 Stephan Born, der Gründer der Arbeiterverbrüderung. Und weiter:
ZITATOR
„Wir nehmen unsere Angelegenheiten selbst in die Hände - und niemand soll sie uns wieder entreißen!“
Sprecherin
Die Regierenden waren alles andere als angetan von dieser Selbstermächtigung und dem wachsenden Selbst-Bewusstsein der „neuen“ Arbeiter. Ab 1850 reagierten die Machthaber des deutschen Staatenbundes mit Repression. Die Arbeiterverbrüderung wurde verboten. Vor allem die Forderung der Arbeiter nach einer gerechteren Gesellschaftsordnung galt als unbotmäßig.
O-Ton 7 Schmidt
„Sie forderten ja Demokratie, Republik, politische Teilhabe... und stattdessen wurden sie ausgegrenzt und sogar verfolgt. Und gerade so eine Situation schweißt natürlich zusammen - und markiert eine klare Trennungslinie zwischen denen und uns.“
Sprecherin
Trotz – oder gerade wegen ihrer Verfolgung und Unterdrückung: die Arbeiter ließen sich nicht einschüchtern, sie schlossen sich 1863 zum „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ zusammen, der bald die Gründung einer „Partei der Arbeiter“ beschloss: die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Diese neue sozialdemokratische Partei wuchs und wuchs - Hand in Hand mit den Gewerkschaften ¬-, ungeachtet der Durchsuchungen und Verhaftungen, mit denen Kanzler Otto von Bismarck im neu gegründeten Kaiserreich die Arbeiterbewegung zu unterdrücken versuchte. Nach und nach erkannten Unternehmen die Gewerkschaften als Vertragspartner an: Erste Tarifverträge, also Vereinbarungen mit den Arbeitgebern auf bestimmte Löhne und Arbeitsbedingungen schlossen zunächst einige wenige Branchen - wie die Buchdrucker, Maler oder Maurer: Dann folgte der nächste Schritt und mit ihm ein Zuwachs an Macht: die Arbeitnehmerorganisationen gründeten einen Dachverband, die „Generalcommission der Gewerkschaften Deutschlands“. Erster Vorsitzender war Carl Legien – der entscheidende Weichen für die Entwicklung des deutschen Gewerkschaftswesens bis zum heutigen Tag stellen sollte:
Musik 5
"Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0'32
Sprecherin
Er nutzte die Novemberrevolution 1918 für die Sache der Arbeiter. Unter der Drohung der Enteignung und Verstaatlichung von Industrie und Banken rang er dem Großindustriellen Hugo Stinnes die offizielle Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft ab. Dies bedeutete die flächendeckende Ausbreitung und die allgemeine Verbindlichkeit von Tarifverträgen. Ein Zugeständnis mit Hintergedanken, sagt Frank Deppe.
O-Ton 8 Deppe
„Ziel war die Niederschlagung der Revolution. Das war sozusagen der Kern dieser Vereinbarung, der dann aber Zugeständnisse der Arbeitgeberseite an die Gewerkschaften beinhaltete.“
Sprecherin
Dazu einigte man sich auf die Bildung von Arbeiterausschüssen – dem Vorläufer der heutigen Betriebsräte. Statt revolutionärer Konfrontation schrieb man also ein konstruktives Miteinander von Kapital und Arbeit im Betrieb fest.
Mit dem Stinnes-Legien-Abkommen war der Grundstein für das deutsche Modell von Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung gelegt. In den frühen Jahren der Bundesrepublik wurde diese Sozialpartnerschaft dann in Gesetzesform gegossen.
O-Ton 9 Deppe
„Betriebsräte und Unternehmen müssen zusammenarbeiten zum Wohle des Unternehmens.“
Sprecherin
Die Gewerkschaften liefen jedoch Sturm gegen das Gesetz: Sozialpartnerschaft ja, aber nur, wenn die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat gleichberechtigt vertreten sind. Dies war allerdings nicht vorgesehen. Und so kam es 1952 zum letzten legalen politischen Streik in der Bundesrepublik - und einer doppelten Niederlage für die Gewerkschaften: Denn weder der Ausstand der IG Druck und Papier, noch Massenkundgebungen der Gewerkschaften verhinderten, dass das Betriebsverfassungsgesetz zu ihrem Nachteil beschlossen wurde. Zum anderen verbot das Bundesarbeitsgericht 1954 Streiks aus politischen Gründen - sowie solche, die spontan abgehalten werden. Demnach dürfen bis heute...
O-Ton 10 Deppe
„...in der Bundesrepublik Deutschland nur Streiks durchgeführt werden (...), die sozial adäquat sind, also die sich auf soziale Belange des Betriebes richten oder der auch der Tarifpolitik richten, und die gleichzeitig nur von Gewerkschaften mit Arbeitgeberverbänden in der Auseinandersetzung geführt werden können.“
Sprecherin
Und nicht vom Staat, der Regierung.
Damit waren die Weichen für einen deutschen Sonderweg in der Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gestellt. Nicht die Fundamentalopposition gegen einen Kapitalismus, nicht die revolutionäre Umgestaltung eines als ausbeuterisch wahrgenommenen Systems prägte fortan die Arbeit der Gewerkschaften – sondern die Kooperation mit den Arbeitgebern: mit Regeln für Tarifverhandlungen und Streiks; mit Posten in Aufsichtsräten, in denen Arbeitnehmer nicht mehr direkt als Gewerkschafter, sondern indirekt als gewählte Betriebsrats-Vertreter neben den Managern ihrer Unternehmen Platz nahmen.
Dennoch: Außerhalb der Konferenzräume und Besprechungszimmer von Unternehmen ließen sich viele Gewerkschafter ihr gesellschaftspolitisches Engagement nicht nehmen. Der linke Flügel verknüpfte die Forderung nach Mitbestimmung -
O-Ton 11 Deppe
„...mit einer Perspektive noch weitergehender gesellschaftlicher Veränderungen.“
Musik 6
"48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 1'29
Sprecherin
Dieser Anspruch der Gewerkschaften auch gesellschaftspolitisch Einfluss zu nehmen, sagt Frank Deppe, blitzte in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder auf. Im Engagement gegen die atomare Wiederbewaffnung, später in der Friedensbewegung. Besonders aber in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rund um das Jahr 1968: Die geplanten Notstandsgesetze berührten die ureigenen Interessen der Gewerkschaften – sahen sie doch anfangs auch Einschränkungen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von Beschäftigten und Arbeitnehmervertretern vor. Eine Schutzklausel, die die Anwendung des Notstands bei Arbeitskämpfen ausschloss, brachte die Gewerkschaften schließlich dazu, die Gesetze doch mitzutragen. Intellektuelle und Studierende wandten sich daraufhin enttäuscht von den Gewerkschaften ab: Sie hatten in ihnen einen Bündnispartner für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel oder gar einen Systemsturz gesehen. Die zunehmend radikalen Proteste gegen den Vietnamkrieg oder das Schah-Regime im Iran bestritten die 68er schließlich ohne Unterstützung der großen Gewerkschaften.
Damit schienen die Gewerkschaften ihre Rolle im Gefüge der Bundesrepublik endgültig gefunden zu haben: Als selten widerständiges oder gar blockierendes Rädchen in einem – wie gut geölt laufenden – Kapitalismus funktionierten sie in Zeiten des Wirtschaftswunders – und bis weit darüber hinaus.
Musik 7
"I" - Album: Equilirium - Ausführender: PRSZR - Komponist: Peter Votava - Länge: 0'43
Sprecherin
Aber dann kamen die 1970er – die Ölkrise, Wirtschaftskrise und Inflation. Die Inflation schürte die Bereitschaft zu Arbeitskämpfen, mit denen die Gewerkschaften trotz massiver Kritik seitens der Wirtschaft Lohnerhöhungen von über zehn Prozent durchsetzen konnten. In dieser Zeit strömten Massen an neuen Mitgliedern in die Gewerkschaften. In den Augen von Klaus Dörre, der sich im wissenschaftlichen Beirat von Attac engagiert, ist Konfliktfähigkeit nicht nur eine Bedingung für die Durchsetzung der Interessen, sondern auch für eine sinnvolle Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer.
O-Ton 12 Klaus Dörre, Professor für Soziologie, Uni Jena
Wenn Sie nicht das Schwert an der Wand haben, also eine große gewerkschaftliche Organisationsmacht mit Bereitschaft zum Konflikt, bekommen Sie keine Sozialpartnerschaft.“
Sprecherin
Diese „große gewerkschaftliche Organisationsmacht“, von der Klaus Dörre spricht, schwindet seit Beginn der 90er-Jahre langsam, aber stetig. Auch der kurzfristige Mitgliederzuwachs aus den neuen Bundesländern nach der deutschen Einheit hat letztlich nichts daran geändert. Mitgliederverluste...
O-Ton 13 Carolin Denise Fulda
„...vor allem natürlich aufgrund des demografischen Wandels.
Sprecherin
...sagt die Ökonomin Carolin Denise Fulda, Autorin der Studie „Gewerkschaften: Weniger Repräsentativität durch Strukturdefizite?“
O-Ton 13 Fulda Teil 2
„...das heißt, die Babyboomer-Generation geht in Rente. Es kommen aber nicht entsprechend viele junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach. Und noch dazu sind diese jüngeren Beschäftigten dann auch noch seltener in der Gewerkschaft organisiert.“
Sprecherin
Doch warum lassen diese Beschäftigen Vertreter ihrer ureigenen Interessen lieber links liegen? Ein Grund liege wohl nicht bei der Gewerkschaft selbst – sondern am zunehmenden Individualismus in der Gesellschaft, glaubt Fulda. Sie ist Expertin für Lohn- und Tarifpolitik am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
O-Ton 14 Fulda
„...Also Gewerkschaften sind ja nicht die einzigen Organisationen, die Mitglieder verlieren. Das Gleiche trifft für Sportvereine zu, aber zum Beispiel auch für die Kirche. Und auf dem Arbeitsmarkt? Konkret bedeutet das, dass viele Beschäftigte sich einfach lieber selbst vertreten und ihr Gehalt und ihre Arbeitsbedingungen individuell mit ihrem Arbeitgeber verhandeln.“
Sprecherin
Möglicherweise, sagt die Forscherin, habe das zunehmende Fremdeln von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit der Gewerkschaft auch mit einem Wandel der Arbeitswelt zu tun: Mit neuen Jobs in Büros, die weit weg sind von der klassischen „Malocher“-Arbeit in der industriellen Fertigung – einer traditionellen Domäne der Gewerkschaften.
O-Ton 15 Fulda
„Das könnte zum Beispiel daher kommen, dass Angestellte und Akademiker zum Beispiel sich einfach in einem ganz anderen Arbeitsumfeld bewegen als das traditionelle Gewerkschaftsmitglied, also eine Person mit Ausbildungsberuf, die in der Industrie arbeitet.“
Sprecherin
Auch das Profil „älterer Arbeitnehmer“, „weiß“ und „männlich“ sei in den Gewerkschaften überrepräsentiert. Dagegen gebe es dort anteilsmäßig zu wenige Junge, zu wenige Frauen, zu wenige Akademiker. Nicht allein die Demographie – auch der Strukturwandel hat Klaus Dörre zufolge dazu beigetragen...
O-Ton 16 Dörre
„...dass die Branchen, wo die Gewerkschaften ihre Hochburgen hatten und auch die großem betrieblichen Strukturen, wo sie sie hatten, einfach von der Beschäftigung her geschrumpft sind, und die Beschäftigung expandiert in Bereichen, wo die Gewerkschaften traditionell schwach sind. Also nur,
um ein Beispiel zu nennen: der ganze Bereich prekärer Beschäftigung, der ja im Zuge der Hartz-Reformen eine dramatische, kann man sagen, Expansion erlebt: Niedriglohnsektor, Leiharbeit, Zeitarbeit, ungewollte Teilzeitarbeit, und so weiter… Also ein Leiharbeiter wechselt im Durchschnitt alle drei Monate den Betrieb. Wie wollen Sie den organisieren?“
Sprecherin
Die Gewerkschaften, meint Klaus Dörre, müssten auch dieses schwierige Terrain beackern – sie wären schlecht beraten, sich auf die eingespielte Arbeit in den gut organisierten, „alten“ Industriebetrieben zurückzuziehen.
O-Ton 17 Dörre
„Mit bloßem Besitzstandswahren wird man nicht weit kommen“
Sprecherin
Zumal eine Stagnation oder ein weiterer Mitglieder-Rückgang die Legitimation der Gewerkschaften in Lohnverhandlungen mehr und mehr in Frage stellt.
Die Gefahr, es sich im etablierten Miteinander der Mitbestimmung zu gemütlich zu machen – sie ist nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Frank Deppe in der strukturellen Ausrichtung der deutschen Gewerkschaften auf die Sozialpartnerschaft hin angelegt. Der Marburger Professor zeichnet das Negativbild, in dem die Gewerkschafter immer wieder mal eher „Genossen der Bosse“ sind, die sich mit Managern gemein machen – statt auf Augenhöhe mit „ihren“ Beschäftigten zu agieren. Wozu das führen kann, zeigt der VW-Skandal:
O-Ton 18 Deppe
„Dass das eine Deformation von Machtpositionen ist, die die Gewerkschaften dort in den Betrieben haben, bis heute! Es ist eine Deformation, wenn die Vertreter, wie bei VW, korrupt sind. Oder sie schaffen es nicht, sich den Zwängen zu entziehen, die ihnen angeboten werden. (…) Wenn Kollegen aus den Gewerkschaften erzählen, dass sie Aufsichtsratsmitglieder sind von großen Unternehmen...und wenn solche Sitzungen sind, dass am Ende der Sitzung gesagt wird: wir gehen jetzt in diese und diese Bar. Dann ist das die primitivste Variante, wie Sozialpartnerschaft dann auch kulturell ausgreift.“
Musik 8
"48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 0'38
Sprecherin
Mit der 2005 aufgeflogenen VW-Affäre stellte sich auch eine alte Frage neu: Was macht das Wesen von Gewerkschaft eigentlich aus? Ist es genug, wenn sich Teilhabe für Arbeitnehmer darauf beschränkt, betrieblichen Anliegen an hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre zu delegieren? Müssen sie weniger als der Sozialpartnerschaft dienen, sondern sich mehr als soziale Bewegung organisieren? Der Jenaer Professor Klaus Dörre glaubt, dass manchen Gewerkschaften gar nichts anderes übrig bleibt, als gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen.
O-Ton 19 Dörre
„Ganz sicher müssen die Gewerkschaften auch mit Blick auf die Gesellschaft aktiv werden. (…) Das eine Beispiel ist sicherlich der ökologische Gesellschaftskonflikt, allem voran der Klimawandel... Da ist es ja so, dass die Gewerkschaften gar nicht anders können als gewissermaßen die klassischen Kämpfe um Verteilungsgerechtigkeit, um Löhne, Arbeitsbedingungen zu verbinden mit der Transformation in Richtung nachhaltige Arbeitsweisen und Produktionssysteme.
Sprecherin
Besonders für die als „Autogewerkschaft“ geltende IG Metall oder die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie würde dies einen langen und schmerzhaften Prozess bedeuten und radikale Veränderungen.
Musik 9
"48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 0'55
Sprecherin
Ein fundamentaler Zielkonflikt, der besonders die Metall-Gewerkschaft vor eine Zerreißprobe stellt. Dem Ausstieg aus der Verbrennertechnologie widersetzt sich die IG Metall zwar nicht mehr. Aber Uneinigkeit herrscht in der Frage: Wie soll der Ausstieg erfolgen? Wie kann die Situation für Arbeitnehmer gut gestaltet und eine sichere Zukunft ermöglicht werden?
Die Auseinandersetzungen um die so genannte Antriebswende, vom Verbrenner zum E-Motor, die Sorgen um Zehntausende zur Disposition stehende Arbeitsplätze, insgesamt die Umstellung auf eine CO2-arme oder -freie Produktion: das alles bedeute einen tiefgreifenden Wandel für Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt – und eine Zunahme von Unsicherheiten insgesamt. Auch wenn es in einzelnen Werken zunächst Beschäftigungsgarantien gibt. Klaus Dörre sieht hier die Gewerkschaften stark in der Pflicht.
O-Ton 20 Dörre
„Die Frage ist ja, was Gesellschaften leisten müssen, um ähnliche Sicherheitsgarantien geben zu können. Und das ist eine offene Frage, die die Gewerkschaften aber beeinflussen müssen.“
Sprecherin
Dabei betrifft die umfassende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft auch die Gewerkschaften selbst. Frank Deppe erinnert sich an eine Begegnung, gemeinsam mit IG-Metall-Funktionären, in Stuttgart.
O-Ton 21 Deppe
„Und wir fuhren durch die Stadt, und fuhren offenbar an einer Kita vorbei, wo ein Transparent ist, und Menschen davorstanden. Und das waren die Pflegefrauen, die haben gestreikt dort. Und da sagt der Kollege von der Bezirksleitung der IG Metall: „Das ist doch gar kein richtiger Streik, was die machen! Die haben doch auch nur einen Organisationsgrad von unter 10 Prozent! Wenn wir beim Daimler sagen: ,Geht raus, Kollegen!´ - Dann stehen da 30.000 vor dem Werkstor! Sehen sie, das ist ein auch kultureller, riesiger Unterschied jetzt in den Gewerkschaften...und dass jetzt praktisch der Neuaufbau von Gewerkschaften in Rahmen von Verdi passiert...“
Sprecherin
An mancher Stelle erschüttert die Transformation also Selbstgewissheiten organisierter Arbeitnehmer – anderswo schafft sie neues Selbstbewusstsein: Da ist die stolze IG Metall, die größte Gewerkschaft der Welt, die sich gezwungenermaßen auf die Umstellung der Produktion auf Elektromobilität einlässt: Werkschließungen, Produktionsverlagerung und Abbau von Arbeitsplätzen inklusive - Ausgang ungewiss. Da ist Verdi, deren Mitglieder nicht Jobverluste fürchten, sondern die – im Gegenteil - an einem Mangel an Personal und permanenter Überlastung leiden. Die die fehlende, auch finanzielle Wert-Schätzung der Care-Arbeit beklagen - und die sich um die Zukunft des Sozialwesens insgesamt sorgen.
Schließlich ist da etwa die Eisenbahnergewerkschaft EVG, die den Schulterschluss mit Verdi und den jungen Klimaaktivisten von Fridays For Future übt: Die nicht nur höhere Löhne für ihre Mitglieder im Blick hat, sondern sich mit Klimastreiks für einen nachhaltigen Aus- und Umbau des Verkehrssystems einsetzt.
Musik 10
"Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0`29
Sprecherin
Hat im 18. Jahrhundert die industriellen Revolution die Gewerkschaften erst hervorgebracht - so könnten sich die multiplen Krisen der heutigen Zeit für sie als Chance für eine Erneuerung entpuppen: Gelingt es den Arbeitnehmerorganisationen, an Herausforderungen zu wachsen und zu gestaltenden Kräften zu werden, die die ihren im Fortschritt mitnimmt: So könnten sie wieder zu einer authentischen „Arbeiter-Bewegung“ werden.
Privatdetektive, die in Geschichten voller Gier, Lust und Mord gezogen werden, in denen gefährliche Frauen die Männer mit ihren Reizen in den Abgrund reißen und die Moral als erstes auf der Strecke bleibt - das ist Film Noir. Kein Genre, eher ein Gefühlszustand, der das US-Kino der 1940er und 1950er Jahre geprägt hat. Von Florian Kummert
Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Susanne Schroeder, Carsten Fabian
Technik:
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Paul Duncan, Filmhistoriker und Autor, „Film Noir“ (Taschen Verlag)
Christian Keßler, Filmwissenschaftler und Autor, „Hollywood Blackout“ (Martin Schmitz Verlag)
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ERZÄHLERIN
Los Angeles. Die Stadt der Engel wird sie genannt, dabei steckt sie doch voller Teufel und Dämonen. Die Hügel von Hollywood versprechen das ganz große Geld und den ganz großen Ruhm. Und andere Verlockungen flüstern süßes Gift ins Ohr, das einen wie der Gesang der Sirenen ins Verderben stürzt. So wie den Versicherungsvertreter Walter Neff (engl.).
(Musik ausfaden lassen…)
Mit Vollgas rast er durch Downtown L.A., rote Ampeln stoppen ihn nicht, ebenso wenig der Lastwagen, in den er beinahe kracht. Egal, der Mann hat nur ein Ziel: das Büro seiner Versicherung. Mit quietschenden Reifen bringt er das Auto vor dem Gebäude zu stehen. Mühsam schleppt sich Walter Neff über den Bürgersteig durch den Eingang zum Aufzug. Jeder Schritt eine Qual. Dafür sorgen die blutende Wunde und die Pistolenkugel in seiner Schulter.
(SOUND Aufzugtür öffnet sich)
Das Büro ist zu dieser nächtlichen Stunde so gut wie leer. Nur Neffs Schatten zeichnet sich deutlich an der Wand ab, wie ein unheimlicher, stiller Gast, der Walter zu seiner letzten Reise begleitet. Die in dieser Julinacht 1938 vor dem Diktiergerät seines Chefs endet. Walter Neff nimmt das Mikrofon in die Hand und beginnt die Beichte.
ZITATOR
Der Versicherungsfall Diedrichson (SPRICH engl, Diidrikksn).
Kein Unfall, sagten Sie? Richtig.
Und Selbstmord auch nicht? Richtig.
Sie meinten Mord. Richtig.
Aber was Ihnen entgangen ist: Ich habe Diedrichson umgebracht.
Ich, Walter Neff, Versicherungskaufmann, 35, ledig, keine sichtbaren Narben. Bis vor kurzem zumindest.
Ja, ich hab’ ihn umgebracht. Es ging um viel Geld und um eine Frau.
Ich habe das Geld nicht bekommen.
Und die Frau auch nicht.
MUSIK Suite Double Indemnity
ERZÄHLERIN
Mit diesem Geständnis beginnt „Frau ohne Gewissen“ aus dem Jahr 1944. Regisseur Billy Wilder (AUSSPRACHE: 'Billi 'Waillde) schuf damit eines der Meisterwerke des so genannten „Film Noir“. Eine abgrundtief schwarze Geschichte über Gier, Lust und Mord, über einen Mann, der einer Frau verfällt, der das große Ding drehen will und am Ende scheitert.
Alles, was Film Noir ausmacht, steckt hier drin.
OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 1
Film Noir is a state of mind. … what noir is about.
Film Noir ist ein Geisteszustand, eine Gefühlslage, die der Frage nachgeht: Kann ich den Menschen, die ich liebe, vertrauen? Allein diese Frage zu stellen, trifft den Kern von Noir.
ERZÄHLERIN
Sagt der britische Filmhistoriker und Film Noir-Experte Paul Duncan (SPRICH: engl. Poohl Dannkn). In mehreren Büchern für den Taschen-Verlag hat er das Phänomen Film Noir untersucht und dabei auch Listen der besten Noir-Filme erstellt. Immer ganz oben dabei ist für ihn „Frau ohne Gewissen“, der den Komödiendarsteller Fred McMurray (SPRICH: engl Mekk'Möhri) in einer für ihn ungewohnten dramatischen Rolle zeigt: Versicherungsvertreter Walter Neff, zu Beginn ein liebenswerter Charmeur, auf den der Abgrund wartet.
OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 2
He’s a bit cheeky… could do, but don’t.
Er ist um keinen Spruch verlegen, witzig, intelligent. Aber er trifft eine Frau, die ihn zur Straße der Verdammnis führt. Soll heißen: Er ist per se kein schlechter Mensch, aber er ist verführbar. Er kann überredet werden. Und so sind wir doch eigentlich alle. Wir treffen auf bestimmte Leute und tun vielleicht Dinge, die gegen unsere Natur sind. Oder Dinge, die wir insgeheim gerne tun würden, aber davor zurückschrecken.
ERZÄHLERIN
Eigentlich will Walter Neff nur die Autoversicherung eines Kunden verlängern, doch dieser Mister Diedrichson ist nicht zu Hause. Stattdessen trifft er dessen Ehefrau, Phyllis (SPRICH engl, Fillis, Betonung vorne), gespielt von Barbara Stanwyck ('Bahrbre 'Stännwikk (S=scharf, w=engl.), mit blonder Perücke, Goldkettchen am Fußknöchel, und einem durchdringenden, selbstbewussten Blick. Ein Blick, für den Walter zum Mörder wird. Gemeinsam mit Phyllis arbeitet Walter einen perfiden Plan aus, den scheinbar perfekten Mord. Dazu jubelt er dem Ehemann eine Lebensversicherung unter. Die schüttet im seltenen Fall eines Eisenbahnunglücks die doppelte Versicherungssumme aus, eine „double indemnity“, wie der Film im englischen Original heißt. Also muss Diedrichson bei einer Bahnreise sterben, scheinbar durch einen eindeutigen Unfall, so dass die Kontrolleure bei der Versicherung nicht anders können, als die 100.000 Dollar auszuzahlen. Davon träumt Walter, von den Dollarnoten und von Phyllis.
OTON Christian Keßler 1
Er stolpert über seinen eigenen Hochmut. Er sieht gut aus, ist sicherlich auch ein gewiefter Verkäufer. Nur er denkt irgendwie, er würde ganz groß rauskommen, würde den richtig großen Coup landen. Und damit übernimmt er sich. In dem Moment, wo man sieht, wie Barbara Stanwyck die verdammte Treppe herunterkommt, mit diesem tollen Kettchen am Fußknöchel, weiß man, was die Stunde geschlagen hat und dass der McMurray keine Chance hat.
ERZÄHLERIN
Analysiert der Bremer Filmwissenschaftler Christian Keßler, der die Welt des Film Noir liebt, und ihm ein Buch gewidmet hat: „Hollywood Blackout“.
((OTON Christian Keßler 2
Beim Film Noir handelt es sich nicht um ein klar umrissenes Genre wie den Western oder Kriminalfilm oder Horrorfilm, sondern eher um eine filmische Tradition, die sich Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre entwickelt hat im Hollywood-Kino und sowohl formal als auch inhaltlich sehr mit vorangegangenen Kriminalfilmen brach. Also eine besondere Form des Kriminal-Kinos.))
MUSIK Audrey’s Dance - Twin Peaks
ERZÄHLERIN
Film Noir - französisch für „schwarzer Film“, denn der Begriff wird von der französischen Filmkritik geprägt, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Frankreich war zuvor, ab 1940, von Nazi-Deutschland besetzt; während der Kriegsjahre waren amerikanische Filme von den Leinwänden verbannt. Nach Kriegsende laufen dann die cineastischen Höhepunkte gleich mehrerer Jahrgänge dichtgedrängt in den französischen Kinos an, darunter US-Filme wie „Frau ohne Gewissen“, „Die Spur des Falken“ oder „Murder, My Sweet“. Eine Flutwelle der Finsternis, von der der Filmkritiker Nino Frank (dt. ausgesprochen!) nachhaltig beeindruckt ist. „Kriminelle Abenteuer“ betitelt Frank seinen Artikel über die Werke, die sich deutlich von den Kriminalfilmen unterschieden, die er vor dem Krieg gesehen hatte.
ATMO Maschinengewehr
ERZÄHLERIN
Die Gangsterfilme der 1930er Jahre waren auch Geschichten voller Mord und Totschlag, aber mit einer eindeutigen Moral, einem klar gezeichneten Gut-Böse-Schema und einem Fokus auf die Handlung. Nun aber schiebt sich die Atmosphäre in den Vordergrund, Landschaften voller nebelverhangener Häfen, einsame, nasskalte Straßen, in denen sich das wenige Licht der Laternen in Pfützen und Schlaglöchern spiegelt. Die Handlung selbst ist oft ein verworrenes Labyrinth, durch das Privatdetektive in Trenchcoats stolpern. Die Auflösung, wenn überhaupt, ist zweitrangig. Es dominiert die Charakterzeichnung der Figuren, die im Off-Kommentar von ihren unmoralischen Taten und Gefühlen erzählen. Das Publikum wird in die Psychologie des Verbrechens eingeführt und geht so gezwungenermaßen eine Mittwisser- oder Komplizenschaft mit korrupten Polizisten, psychopathischen Killern, Außenseitern auf der Flucht und verlorenen Großstadtseelen ein. Erpressung, Bespitzelung, Drogenhandel: diese klassischen Krimi-Themen werden in Abenteuergeschichten verwebt, mit Anti-Helden, auf die der Tod wartet. Für diese Art von „kriminellen Abenteuern“ prägt Nino Frank 1946 den Begriff „Film Noir“. Denn das Schwarz der Nacht wird das bestimmende Element. Paul Duncan über die Welt der Schatten:
OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 3
The best, the most intelligent … the pits of hell.
Die besten, intelligentesten Noirs wussten, dass sie mit dieser Idee der Schatten spielen konnten, und dass die Dunkelheit die Abgründe im Inneren der Figuren symbolisieren. Diese Filme malen mit Licht und Schatten und schaffen dabei eine Atmosphäre, die sich deutlich von anderen Filmen der Zeit abheben.
Ein gutes Beispiel ist das Finale von „Die Macht des Bösen“. Dort geht Hauptdarsteller John Garfield (Dschonn 'Gahrfihld) eine Treppe nach der anderen hinunter. Sie scheint gar kein Ende zu nehmen. Unten am Ufer liegt der Leichnam seines Bruders. Die Szene spielt in New York, aber so wie das Ganze gefilmt ist, hat man das Gefühl, er steigt hinab in den Schlund der Hölle.
MUSIK subtil, dissonant, z.B. Night Life in Twin Peaks
ERZÄHLERIN
Die Gangsterfilme der 1930er Jahre, oft leichtfüßig, eher oberflächlich. Sie transformieren sich in den 1940er Jahren in die psychologisch düsteren, vielschichtigen Film Noirs. Und greifen dabei den Wandel der Gesellschaft auf. Amerika, Japan und Europa sind im Würgegriff des Zweiten Weltkriegs. All die Entwurzelten und Fliehenden, all die Toten und schließlich das Grauen des Holocaust. Die Welt scheint sich immer schneller zu drehen, und zu einem eigenartigen, dunklen Fleck im Universum zu werden. Zudem sind die Nachwehen der Großen Depression immer noch zu spüren. Diese Ängste und der düstere Weltblick manifestieren sich auf der Leinwand. Etwa die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Die Furcht, von der Vergangenheit eingeholt zu werden. Oder die Paranoia vor Mächten, die sich gegen einen verschwören. Der Typus der Heldenfigur, die Ordnung ins Chaos bringt, verschwindet dabei, sagt Filmwissenschaftler Christian Keßler.
OTON Christian Keßler 3
Diese Ordnung wird zu Anfang durch einen Mord oder eine Entführung, einen Banküberfall oder so in Schieflage gebracht. Dann kommt der Ermittler, also ein Privat- oder Polizeidetektiv, und mit Hilfe seines Intellekts oder seiner Muckis rückt er das dann alles wieder gerade. Das waren dann so unfehlbare Helden, Tausendsassas. Und naja, ab den 30er-Jahren glaubten die Leute nicht mehr so richtig an solche alleskönnenden Helden. Das war die Zeit, in Folge der Weltwirtschaftskrise, als immer mehr im Kinopublikum aus dem Alltag eigentlich die dauernde Niederlage gewöhnt waren, teilweise auch an Armenspeisungen anstehen mussten, hinter Jobs her waren, die es nirgendwo gab. Und in den 40er-Jahren, als halt eben auch das Kriegserlebnis noch hinzu kam, entwickelte sich dann diese düstere Thriller-Form.
((ERZÄHLERIN
Existentialistische Krisengeschichten auf Zelluloid. Über eine Welt voll Pessimismus, in der das Vertrauen in die Mitmenschen schwindet. Man weiß nie, wer ein Messer hinter seinem Rücken versteckt hält. Und das Schicksal? Das schlägt sowieso gnadenlos zu, mögen die Träume noch so groß sein. Das ewige Leid der Film Noir-Figuren.
OTON Christian Keßler 4
Sie sind eher so ein bisschen existenzialistische Wassertreter, also Leute, die einige Niederlagen im Leben gehabt haben, einen Knick in der Vita. Und dann passieren irgendwelche tollen Sachen. Teilweise wie eine Flipperkugel werden die dann durch die Gegend geschossen. Das hat ja auch immer sehr viel mit realem oder eingebildetem Schicksal zu tun. Also diese Schicksalshaftigkeit, die ist gerade in den 40er-Jahre-Noirs sehr deutlich drin.))
MUSIK, melancholisch, Saxofon, z.B. Theme from Twin Peaks - Film
ERZÄHLERIN
Viele Noirs beginnen mit dem Ende. Die Figuren sind geschlagen, gescheitert, desillusioniert und blicken dann zurück, auf die vergebene Zeit der Hoffnung. So wie Walter Neff in „Frau ohne Gewissen“, der Versicherungsmakler, der sich nach dem Mord am Mann seiner Geliebten selbst wie ein Todgeweihter fühlt. Rückblickend beichtet er:
ZITATOR
Der Plan war perfekt. Nichts war schiefgegangen, nichts wurde übersehen, nichts konnte uns verraten. Und dennoch… als ich die Straße hinunterlief, hatte ich das Gefühl, dass alles scheitern würde. Es klingt verrückt, aber es war so, tatsächlich.
Ich konnte meine eigenen Schritte nicht mehr hören.
Es war der Gang eines Toten.
Aufblende SOUND Schreibmaschine, blendet über in…
ERZÄHLERIN
Sätze aus der Feder von Raymond Chandler ('Räimmennd 'Tschänndlerr (sch=stl.), der das Drehbuch zu „Frau ohne Gewissen“ mit seiner abgebrühten Poesie und doppeldeutigen Anspielungen anreichert, gemeinsam mit Billy Wilder. Das Ganze basiert auf einer Geschichte des Journalisten und Autoren James M. Cain ('Dschäimms Emm 'Käinn), der mit dem Roman „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ berühmt-berüchtigt wurde. Billy Wilder will erst mit Cain direkt arbeiten, aber der ist bereits bei einem anderen Studio unter Vertrag. Also fällt die Wahl auf Raymond Chandler. Wilder ist begeistert von dessen Roman „The Big Sleep“, der unter dem Titel „Tote schlafen fest“ mit Humphrey Bogart erfolgreich verfilmt werden wird.
MUSIK z.B Miles Davis, „Fahrstuhl zum Schafott“
ERZÄHLERIN
Persönlich hassen sich die beiden so gegensätzlichen Typen. Billy Wilder, der leutselige Österreicher, bringt mit seiner wuseligen Art den introvertierten Raymond Chandler zur Weißglut. Chandler flutet die Paramount Büros mit Beschwerdebriefen und beginnt wieder zu trinken. Eine Sucht, der viele Noir-Autoren verfallen, etwa Dashiell Hammett. Sie trinken, wie ihre literarischen Geschöpfe, Whisky, Bourbon, und anderes Hochprozentiges und rauchen stangenweise Zigaretten, aber sie bringen auch den Sound der Straße in die amerikanische Literatur und Filmwelt.
ZITATOR
Wir beide gehören zusammen. Ich weiß nicht, wie. Vielleicht so, wie Kanonen und Munition zusammengehören.
ERZÄHLERIN
Knappe Dialoge, wie hier aus „Gefährliche Leidenschaft“, die nur ein Minimum an Gefühlen zur Schau stellen, Gefühle, die sich stattdessen in inneren Monologen Bahn brechen. Für Noir-Fan Paul Duncan bis heute große schriftstellerische Kunst.
OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 4
These voiceovers, … coming into the world.
Diese innere Monologe stammen aus den Vorlagen, den Kurzgeschichten und Romanen, von Autoren wie Raymond Chandler und Dashiell Hammett,
'Däschell (sch=stl.) 'Hämmitt, (im Vornamen KEIN i sprechen)
die oft aus der Sicht von Privatdetektiven erzählen. Es gibt so viele tolle Romane, etwa von Horace McCoy,('Horress Me'koi)
Jim Thompson, (Dschimm (sch=sth.) 'Tommsenn (s=scharf))
David Goodis, ('Däiwwidd 'Guddiss (ss=scharf))
die auch heute noch fantastisch zu lesen sind, da man wirklich in die Gedanken der Figuren eintauchen kann. Wie bei „Der Fremde“ von Albert Camus (All'bähr Ka'mü) passen die Noir-Romane philosophisch zum Existentialismus und auch zu einer nihilistischen Stimmung, die immer mehr um sich griff.
ZITATOR
Ich sah sie nie im Tageslicht - wir schienen bei Nacht zu leben. Was vom Tage übrig blieb, verflog wie der Rauch einer Schachtel Zigaretten.
MUSIK düster, z.B. Can’t Sleep 2, Thomas Newman, Soundtrack „In the Bedroom“
ERZÄHLERIN
Stilistisch blickt der Film Noir zurück in die deutsche Filmgeschichte und orientiert sich am expressionistischen Film der Weimarer Republik, an Werken wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ oder die Dr. Mabuse-Filme von Fritz Lang. Der wandert nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Amerika aus, und dreht in Hollywood düstere Noirs, wie auch seine Regiekollegen Billy Wilder und Robert Siodmak (dt. gesprochen).
MUSIK düster, z.B. Beginn „North on 73“, Thomas Newman
ERZÄHLERIN
Den inneren Aufruhr der Figuren extern darstellen, durch klaustrophobische, verzerrte Kulissen, extreme Licht- und Schattensetzung, durch schräge, fallende Winkel und ungewöhnliche Perspektiven. Diese Standards des Expressionismus entfalten ihre Wirkung wieder im Film Noir. Wenn Walter Neff in „Frau ohne Gewissen“ zum ersten Mal die Wohnung von Phyllis Diedrichson betritt, erstrahlen die Räume noch im Tageslicht, doch von Mal zu Mal verfinstert sich das Haus, so wie die Seelen des mörderischen Paares.
ZITATOR
Es war ein heißer Nachmittag und ich wundere mich heute noch über den Jasmin-Duft, der über den Gärten lag.
Wie sollte ich ahnen, dass Mord zuweilen nach Jasmin duftet?
ERZÄHLERIN
Mord duftet nach Jasmin und dem Parfum von Phyllis Diedrichson. Die Frau, die Walter um den Finger wickelt. Die zentrale Figur vieler Film Noirs: die Femme Fatale.
MUSIK, z.B. Ava, Soundtrack Sin City 2 - A Dame to Kill for
OTON Christian Keßler 5
Die böse Frau, die klassische Femme Fatale, die Männer in den Untergang lockt, die den Femme Fatales dann folgen wie die Motte dem Licht und die dann quasi wie Lemminge über die Klippe springen, dem eigenen Selbstzerstörungsdrang folgend. Den grundsätzlichen Femme Fatale-Gedanken finde ich relativ sexistisch eigentlich.
ERZÄHLERIN
Denn - so Christian Keßler - er ist ein Männer-Konstrukt und dämonisiert das Weibliche.
(MUSIK Ava langsam ausfaden)
Im Zweiten Weltkrieg wandeln sich in den Vereinigten Staaten die traditionellen Familienwerte. Frauen müssen in Abwesenheit der Männer arbeiten gehen, werden die Brotverdienerinnen, werden zu wichtigen Stützen der Gesellschaft, und verspüren ein Gefühl der Freiheit und der Macht. Female Empowerment…
All das führt zur Femme Fatale. In ihr spiegeln sich die Ängste der bislang männlich dominierten Gesellschaft wider: die klassischen Machtstrukturen zwischen Männern und Frauen werden untergraben.
OTON Christian Keßler 6
Filmisch war ja so die Norm, dass es sich bei Frauen um das schöne Beiwerk handelt, die dem männlichen Charakter dann am Schluss als Preis sozusagen in die Arme fliegen. Da gab es zwar auch Ausnahmen, aber meistens war das wirklich so, dass die halt nett Kaffee gemacht haben, in irgendwelche fürchterlichen Situationen geraten, wo die Helden sie dann rausboxen müssen. Im Noir Kino hingegen sieht das nicht so aus. Da sind die Frauen häufig deutlich die stärkeren Charaktere als die Männer. Double Indemnity ist ein perfektes Beispiel dafür. Die nimmt die Sache selber in die Hand, ist nicht nur ein schönes Anhängsel, wie das die traditionelle Frauenrolle damals vorgesehen hätte, im Kino und auch anderswo. Sondern sie schlägt die Männer auf ihrem eigenen Terrain sozusagen.
ERZÄHLERIN
Die Femme Fatale ist dabei weit mehr als eine Männerfantasie, als ein bösartiges, mordendes Spinnenwesen, das die Opfer kaltherzig ausnutzt. Femme Fatales wie Phyllis Dietrichson kann man auch als starke Frauen interpretieren, die in einer von Männern beherrschten Welt gefangen sind, und für Chancengleichheit sorgen wollen. Dazu sind sie willens, jede Waffe einzusetzen, ihre Sexualität und Schusswaffen.
PISTOLENSCHUSS
ERZÄHLERIN
Phyllis schießt in „Frau ohne Gewissen“ tatsächlich auf Walter, trifft ihn aber nur an der Schulter. Doch als er näher kommt, schafft sie es nicht, nochmals auf ihn zu schießen. Erst jetzt - so gesteht sie - habe sie wahre Gefühle für ihn verspürt, lässt die Pistole sinken und umarmt ihn. Doch Walters Blick ist zu Eis erstarrt. Jetzt hat er die Waffe in der Hand.
ZITATOR
Leb wohl, Baby!
zwei PISTOLENSCHÜSSE, schnell hintereinander
dann MUSIK Ende Double Indemnity, darüber:
ERZÄHLERIN
Das Ende von Phyllis Diedrichson läutet auch das Ende von „Frau ohne Gewissen“ ein. Walter Neff kehrt in sein Büro zurück und beginnt seine Beichte. Der Bogen zum Filmbeginn schließt sich.
MUSIK hoch bis Ende
ERZÄHLERIN
Der finanzielle Erfolg von Billy Wilders Film, ebenso wie lukrative Werke wie die Humphrey-Bogart-Detektivgeschichten „Die Spur des Falken“ und „Tote schlafen fest“ führen zu einer Welle an Noirs von großen und kleinen Studios, mal aufwendig, mal schnell heruntergekurbelt, von den 1940er bis in die späten 1950er Jahre hinein. Orson Wells’ „Im Zeichen des Bösen“ von 1958 gilt oft als Endpunkt der klassischen Film-Noir-Phase in Hollywood, die aber auch in anderen Ländern Widerhall findet, etwa in Frankreich, wo François Truffaut 1959 „Schießen Sie auf den Pianisten“ dreht.
MUSIK Georges Delerue, Rencontre (Soundtrack Schießen Sie…)
ERZÄHLERIN
In den 1960ern dominiert farbenprächtiger Technicolor die Kinokassen: Epen wie „Lawrence von Arabien“, exotische, augenzwinkernde Action wie die James-Bond-Reihe und Musicals wie „My Fair Lady“. Noir-Krimistoffe wandern ins Fernsehen ab, in Form von Polizeiserien wie „Stahlnetz - Dragnet“. Doch die Noir-Sensibilität bleibt der großen Leinwand erhalten, denn sie hat viele Genres infiziert, sagt Paul Duncan.
OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 5
You can have noir westerns… in us as well.
Es gibt Noir-Western, Noir-Kriegsfilme, Noir-Musicals, Noir-Melodramen, denn Noir selbst dreht sich um die zwiespältige Gefühlslage, ob man seinen Mitmenschen trauen kann, oder ob sie einen hintergehen. Das macht Noir so zeitlos gültig. Es spricht Bereiche unseres Lebens an, die schmerzhaft sind, über die wir nur schwer reden können. Doch in diesen Filmen werden sie auf besondere Weise thematisiert und geben uns zu verstehen: die Abgründe der Noir-Figuren stecken in uns allen drin.
MUSIKBETT Soundtrack Sieben
ERZÄHLERIN
So bleibt die Düsternis im Kino erhalten, besonders in Form der Neo-Noir-Filme, die mal mehr, mal weniger unverhohlen, eine Hommage an die Klassiker sind.
ZITATOR
Das wird ganz sicher kein Happy End geben.
ERZÄHLERIN
Sagt Detective Somerset (SPRICH engl. Sammaset) zu seinem Partner Mills im Thriller „Sieben“. Im Dauerregen einer gnadenlosen, unmenschlichen Großstadt müssen sie Morde nach Art der sieben Todsünden aufklären.
MUSIK Vangelis, Blade Runner (kurz, als Trenner)
ERZÄHLERIN
Es können düstere Zukunftswelten sein, wie im Science-Fiction-Noir „Blade Runner“, oder der Blick zurück ins Hollywood der späten 1930er Jahre wie in Roman Polanskis „Chinatown“.
MUSIK Twin Peaks Theme
ERZÄHLERIN
Oder die albtraumhaften Visionen eines David Lynch, der in „Twin Peaks“, „Blue Velvet“, oder „Mulholland Drive“ (Mall'hollennd 'Draiww) die Schattenseiten im Unterbewusstsein erforscht.
(kurz Musik frei)
Ob in Schwarz-Weiß oder in Farbe, die Schattierungen des Film Noir sind noch längst nicht alle filmisch erforscht.
OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 6
It’s not the black…there will always be noir.
Bei Noir denken viele an schwarz-weiß Bilder, an extreme Gegensätze, dabei sind gerade die Graubereiche die spannendsten. Vor allem die psychologischen Graubereiche. Die lassen einen nicht mehr los.
Die Macht des Noir: So lange Menschen Probleme haben oder Albträume, sie um ihr Leben fürchten oder glauben dass die Liebe ihres Lebens sie nicht zurückliebt, so lange wird es Noir geben.
Morgenkreis, Freundeskreis, Jahreskreis - der Kreis spielt in unserer Kultur eine besondere Rolle - und das schon seit Urzeiten. Menschen wählen den Kreis, um zu feiern, zu verhandeln, auch um Kämpfe auszutragen. Politische Abkommen werden häufig am berühmten "runden Tisch" verhandelt. Warum ist das eigentlich so? Von Constanze Alvarez
Credits
Autorin dieser Folge: Constanze Alvarez
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Christoph Jablonka, Rahel Comtesse, Christopher Mann
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Thomas Buchheim, Prof. der Philosophie an der Ludwig-Maximilian-Universität München;
Prof. Johannes Müller, Archäologe, Institut für Ur- und Frühgeschichte, Kiel;
Prof. Michaela Schäuble, Kulturanthropologin, Institut für Sozialanthropologie, Bern;
Hala Baalbaki, Montessori-Pädagogin, Schule „Aktion Sonnenschein“, München-Großhadern
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Freigeist und Revolutionär, Maler und Fotograf, Geologe und Naturforscher, Reiseschriftsteller und Brigadegeneral im amerikanischen Bürgerkrieg - der rasante Lebenslauf des Dresdners Wilhelm Heine passt in keine Schublade. Von Leo Hoffmann (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Leo Hoffmann
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Stefan Wilkening
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Andrea Hirner, Verfasserin der Biographie „Wilhelm Heine – Ein weltreisender Maler zwischen Dresden und Japan“
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Literaturtipps:
Andrea Hirner, Ein weltreisender Maler zwischen Dresden, Japan und Amerika, Edition Reintzsch, Radebeul 2009
Wilhelm Heine, Japan – Beiträge zur Kenntnis des Landes und seiner Bewohner, Hg. von Andrea Hirner und Bruno J. Richtsfeld, Dettelbach a.M. 2019
Bayerns Forstleute müssen jetzt Wälder pflanzen, die dem wärmeren, trockeneren Klima in 100 Jahren gewachsen sind, und womöglich neuen Schädlingen. Deshalb wählen sie auch Arten wie Flaumeiche oder Japanlerche. Von Renate Ell (BR 2020)
Autorin dieser Folge: Renate Ell
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Rahel Comtesse, Peter Veit
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Matthias Eggert
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Credits
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Stefan Merki
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Prof. Hans Ulrich Gumbrecht, Stanford University,
Dr. Uwe Wittstock
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Chauvis und Machos tun sich heute schwerer als früher. Das Männlichkeitsideal hat sich gewandelt - dank der Frauen- und Schwulenbewegung. Heute gibt es "neue", liebevolle Väter. Auch Männer dürfen Gefühle zeigen. Doch der heroische Typus des (gewalttätigen) Helden ist deshalb nicht ausgestorben. Von Justina Schreiber (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Thomas Viola Rieske (Dr.; Erziehungswissenschaftlicher Geschlechterforscher);
Klaus Theweleit (Dr.; Kulturtheoretiker und Literaturwissenschaftler)
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Treibhauseffekt, Klimawandel und die Folgen von viel Kohlendioxid in der Atmosphäre sind nicht erst seit heute, sondern schon lange bekannt: Dass die Menschheit durch ihren CO2-Ausstoß das Klima der Erde verändern kann, wurde bereits im 19. Jahrhundert entdeckt. 1956 warnten Forscher vor einem gefährlichen "geophysikalischen Experiment", das aber bis heute weiterläuft ... Von Renate Ell
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Ell
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann, Carsten Fabian, Karin Schumacher
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. em. Christian-Dietrich Schönwiese, ehemaliger Leiter der Arbeitsgruppe Klimaforschung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt
Prof. em. Wolfgang Seiler, ehemaliger Leiter des Instituts für Meteorologie und Klimaforschung in Garmisch-Partenkirchen
Prof. Hermann Flohn†, früher Direktor des Meteorologischen Institutes der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Universität Bonn
Prof. em. Hartmut Graßl, früher Max-Planck-Institut für Meteorologie
Prof. Susan Solomon, Professor of Environmental Studies and Chemistry, Massachussetts Institute of Technology, Boston, USA
Das Max-Planck-Institut für Meteorologie hat 2012 ein Klimamodell mit globalen Durchschnittstemperaturen ab dem Jahr 1530 veröffentlicht. Der Musiker Jörn-Peter Boll hat, wie in unserer Sendung erwähnt, diesen Temperaturverlauf hörbar gemacht. In den rund 200 Jahren, seit Joseph Fourier den Treibhauseffekt entdeckte, hört man die Erwärmung schon deutlich. Die Vertonung gibt es HIER. (Quelle: Youtube)
Lesenswert sind außerdem die frühen Warnungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft von 1971 und 1985.
Noch mehr Interesse an Natur? Dann empfehlen wir:
BIOTOP!CS - Der Podcast von BIOTOPIA
Welche Geheimnisse verbergen sich in der Welt des Träumens oder in mikroskopisch kleinen Organismen in unserem Körper? Welches Potenzial steckt eigentlich in Kacke? Und wie gestalten wir das Zusammenleben mit künstlicher Intelligenz? BIOTOP!CS – der BIOTOPIA Podcast widmet sich dem Leben in all seinen Facetten. Frei nach dem Motto: Explore Life! Egal ob Life Sciences, Umweltwissenschaften, Astrophysik, Philosophie, Kunst oder Design.
EXTERNER LINK I ZUM PODCAST BIOTOP!CS
Bei BIOTOPIA – Naturkundemuseum Bayern, das neu entstehende Museum und Zukunftsforum für Lebens- und Umweltwissenschaften in München, werden topaktuelle Forschung und die Öffentlichkeit zusammengebracht.
EXTERNER LINK I https://www.biotopia.net/de/
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Am 13. Dezember 1951 wird in der Starnberger Villa Adlon die Mieterin Sonja Bletschacher aufgefunden, ermordet mit zahlreichen Messerstichen. Der authentische Fall ist nicht nur für Krimi-Fans spannend, sondern auch für Geschichtsinteressierte. Denn die Akten gewähren einen lebendigen Blick in die Vergangenheit. Von Thomas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Wilkening
Technik: Anton Wunder / Atrium Studios
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Ulrike Claudia Hofmann, Historikern und Archivarin im Staatsarchiv München, Autorin des Buches "True Crime Starnberger See. Mord im Hause Adlon"
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
VERBRECHEN FRÜHER - Kriminaltechnik
Mit der Abschaffung der Folter im 18.Jahrhundert stand die Kriminalistik vor einem Problem: Das Geständnis als "Krone der Beweise"" verlor sein Gewicht. Neue Beweisführungen mussten her. Berühmte Kriminalfälle aus der Geschichte zeigen, welche wissenschaftlichen Errungenschaften den Weg in die moderne Kriminaltechnik ebneten. (BR 2017)
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36.000 Menschen werden jährlich im Verkehr verletzt und 2.800 Menschen getötet. Oft ist der Unfall auch für die Verursacher traumatisch. Sie verzweifeln, weil sie keinen Weg finden, mit der großen Schuld zu leben. Zwar gibt es keine Wiedergutmachung, doch es kann gelingen, weiterzuleben. Von Karin Lamsfuß (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Amberger, Herbert Schäfer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Silke von Beesten, Notfallpsychologin, Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland;
Verena König, Traumatherapeutin;
Dr. Christoph Quarch, Philosoph und Theologe;
Melanie Regus, Unfallverursacherin
Conny Vogt, ihr Mann kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST
Linktipps:
Beratung für Unfallverursacher und Unfallopfer HIER
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Melanie Regus:
Ich habe vor 20 Jahren einen Menschen überfahren.
O-Ton 2 Melanie Regus:
Es ist so, dass ich rechtlich gesehen eine Täterin bin und auch bleiben werde. Den Rest meines Lebens.
O-Ton 3 Melanie Regus:
Und man fragt sich dann manchmal auch so was wie: Was hab ich im Leben getan, dass ich das verdiene? Dass mir das geschieht? Hab ich etwas getan?
O-Ton 4 Melanie Regus:
Ich habe viele, viele Jahre keine Antwort darauf gehabt, weil faktisch ist es so, dass ich verantwortlich bin für den Tod dieses Menschen. Ich bin schuld daran, dass dieser Mensch nicht mehr in der Mitte seiner Lieben ist.
Sprecherin:
Es war einer der ersten schönen Frühlingstage. Melanie Regus war damals gerade 20. Sie fuhr mit ihrem Auto in vorgeschriebener Geschwindigkeit auf der Landstraße.
O-Ton 5 Melanie Regus:
Ich hatte das Fenster unten, ich kann mich sogar an den Wind in meinem Haar erinnern. Ich kann mich dann aber nur noch fragmentarisch an das erinnern, was passierte, dass ich nämlich in die Spurrinne gekommen bin neben der Fahrbahn, als Fahranfängerin gegengelenkt habe, auf die andere Fahrbahnseite geschleudert bin und auf der kam ein Radfahrer, den ich dann überfahren habe.
MUSIK Source Code
O-Ton 6 Melanie Regus:
Und es kam ein Polizist und hat mir die schöne Nachricht überbracht: „Wir fliegen ihn jetzt gleich weg ins Klinikum, er wird’s schaffen!“ Und ich kann mich dran erinnern, wie eine tonnenschwere Last von mir abgefallen ist. Dann kam der Polizist einige Zeit später wieder und hat mir relativ trocken und knapp und kurz mitgeteilt, dass er es nicht geschafft hat.
Sprecherin:
Melanie Regus ist erst seit Kurzem in der Lage, offen über das zu sprechen, was ihr damals passiert ist: Sie hat einen Menschen getötet. Unbeabsichtigt. Sie war nicht betrunken, nicht zu schnell. Hat nicht am Handy gespielt. Es ist einfach passiert. So wie es jedem Menschen passieren könnte, der sich hinters Steuer setzt.
MUSIK Broken dreamland
Sprecher:
Jeder Mensch kann sich jederzeit schuldig machen. Wir verletzen einander, körperlich sowie seelisch. Und wir können einander unbeabsichtigt schwer versehren oder sogar töten.
Sprecherin:
Und obwohl diese Wahrheit zum Menschsein dazugehört, ist sie in dem Moment, wo sie wahr wird, einfach nur ein Albtraum, so die Traumatherapeutin Verena König:
O-Ton 7 Verena König:
Ich glaube, verantwortlich zu sein für so einen großen Schaden, für so einen enormen Schmerz, ist etwas, was man zunächst einmal überhaupt nicht greifen kann und wo man wirklich Arbeit zu leisten hat, um das zu bewältigen. Und ich glaube auch, dass es viele Menschen gibt, die das nicht schaffen. Und die nicht darüber hinwegkommen und die ihr eigenes Lebensglück darüber verwirkt sehen und das so erleben.
Sprecher:
Rund 36.000 Menschen werden jährlich im Verkehr verletzt und 2.800 getötet. Hinzu kommen Unfälle in Job und Freizeit durch menschliches Verschulden. Alle Aufmerksamkeit, alles Mitgefühl gilt den Opfern. Zu Recht.
MUSIK Wasteland
Sprecher:
Doch wer kümmert sich um die Täter? Also um die Menschen, in deren Leben auch nichts mehr ist wie zuvor?
O-Ton 8 Silke von Beesten:
Wir betrachten Unfallverursacher genauso als Unfallopfer, wie alle anderen Betroffenen auch. Auch dieser Mensch braucht Hilfe. Auch dieser Mensch braucht Unterstützung. Ein Verkehrsunfallverursacher hat diesen Verkehrsunfall auch nicht gewollt.
Sprecherin:
Silke von Beesten, Notfallpsychologin und Vorsitzende der Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland. Der gemeinnützige Verein berät sowohl Unfallopfer, als auch Unfallverursacher. Nur von denen kamen gerade mal zwei in den ganzen letzten Jahren. Dabei, so sagt sie, sind die Gefühle, die solch ein Ereignis auslöst, so schwerwiegend, dass nur die wenigsten damit alleine klarkommen.
MUSIK Wasteland
O-Ton 9 Silke von Beesten:
Auf psychischer Ebene erleben alle zunächst einmal eine schwere Belastung, die hochemotional wirkt und die zunächst einmal einhergehen kann mit überflutenden Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Und in der Folge sind dann die so genannten Risiko- und Schutzfaktoren maßgeblich dafür verantwortlich, ob eine Traumafolgestörung entsteht, und zwar sowohl bei Unfallverursacher als auch bei Unfallbetroffenen oder ob die Möglichkeit der Heilung entstehen kann.
Sprecher:
Trauma Schuld. Menschen, die für das Schicksal eines anderen verantwortlich sind, müssen mit dieser Bürde in der Regel ganz alleine weiterleben.
Kaum jemand will etwas mit ihnen zu tun haben, Hilfsangebote gibt es so gut wie keine. Dabei haben auch sie eine zentnerschwere Last auf ihren Schultern zu tragen.
O-Ton 10 Verena König:
Ja, also ich glaube, dass Schuldgefühle, um die es da ja auf einer ganz tiefen Ebene geht, tatsächlich die Kraft und die Macht haben können, uns die eigene Existenzberechtigung zu nehmen. Also das Gefühl von eigener Existenzberechtigung. Es gibt anscheinend in unserem tiefen sozialen Sein eine ganz intensive Verbindung zum Leben. Und wenn das Leben eines anderen Menschen endet, dann bedeutet das, dass das etwas mit unserer eigenen Existenz macht. Das ist nicht möglich, das von der eigenen Existenz zu trennen, wenn man eine Verantwortung oder Schuld trägt.
MUSIK The start, the end and all the space between
Sprecher:
Wo jemand einem anderen Menschen das Leben nimmt oder ihn gesundheitlich nachhaltig schädigt, versagen alle Konzepte von Entschuldigen, Verzeihen, Versöhnen und Wiedergutmachen. Also die Konzepte, die bei kleineren Verletzungen funktionieren, so der Philosoph und Theologe Dr. Christoph Quarch:
O-Ton 11 Christoph Quarch:
Hier müssen wir tatsächlich mit der Situation klarkommen, dass es Dinge gibt, die schlicht und ergreifend unverzeihlich sind. Man kann Schuld auf sich laden, bei der wir nicht erwarten können oder auch erwarten dürfen, dass die Betroffenen uns dafür verzeihen.
Sprecherin:
Melanie Regus stand ganz alleine da mit ihren überflutenden Gefühlen. So recht wollte keiner ihre Geschichte hören. Um Abstand zu gewinnen, zog sie in eine größere Stadt, studierte Psychologie und Religionswissenschaften – auch, weil sie Antworten suchte auf ihre drängendsten Fragen:
O-Ton 12 Melanie Regus:
Ist Gott ein liebender Gott, wenn es einen Gott gibt? Und wenn es ihn gibt: Wieso muss ich diese Bürde tragen? Wieso hat er mir das aufgeladen?
O-Ton 13 Verena König:
Eine ganz typische Reaktion von Menschen, denen so etwas passiert, ist, das sich zermartern und zermürben. Was hätte ich anders machen müssen, damit das nicht passiert? Weil die Psyche irgendwie versucht, einen Grund dafür zu finden, dass das passiert ist, was passiert ist.
O-Ton 14 Melanie Regus:
Ich hab immer wieder Wellen gehabt mit intensiven Gefühlen, die mich übermannt haben, was als erstes kam, war tatsächlich Wut! Eine Art Wut auf das Leben, auf das Schicksal, vielleicht auch auf den Radfahrer, dass er zu dem Moment da war oder Wut auf mich selbst, dass ich dort gefahren bin!
O-Ton 15 Silke von Beesten
Schuld ist ein ganz massives, intensives Gefühl.
Sprecherin:
Notfallpsychologin Silke von Beesten:
O-Ton 16 Silke von Beesten
Schuld an etwas zu haben, ist ein Gefühl, das sehr tiefgreifend ist. Mit einem Schuldgefühl gehen sofort auch weitere Gefühle einher wie Überforderung, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Und diese Gefühlslage ist dazu geeignet, ein potenziell traumatisierendes Unfallerleben ja sofort noch mal zu verstärken und auch noch mal zu vertiefen.
MUSIK Source Code
Sprecher:
Wie lebt man damit, ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben? Kann man das überhaupt seelisch überleben?
Sprecherin:
Die Jahre zogen dahin, und Melanie Regus wollte einfach nicht so recht ins Leben kommen. Sie zweifelte sogar daran, ob sie mit dieser schweren Schuld überhaupt weiterleben durfte.
O-Ton 17 Melanie Regus:
Darf ich überhaupt noch leben? Habe ich eine Berechtigung zu leben? Und wenn ich lebe, wie tief darf ich leben? Darf ich lieben? darf ich geliebt werden? Darf ich tanzen? Darf ich all das erfahren, was schön ist in diesem Leben? Oder habe ich die Berechtigung dazu einfach verloren?
Sprecherin:
Viele Jahre lang ging es ihr so schlecht, dass sie es nicht schaffte, nur einen winzigen Schritt auf die Familie des getöteten Radfahrers zuzumachen. Irgendwann kam der Strafprozess.
„Vorbestraft wegen fahrlässiger Tötung“ lautete das Urteil. Dort hätte sie der Familie unter die Augen treten können. Doch ihr fehlte die Kraft.
O-Ton 18 Melanie Regus:
Ich glaube, ich hätte das einfach psychisch nicht ausgehalten. Ich hatte vorher eine lange Zeit, in der es mir nicht gut ging. In der ich gebeutelt war von Depressionen, und zwar schwersten Depressionen, wo ich überhaupt nicht in der Lage war, mein eigenes Leben aufrecht zu erhalten. Wie hätte ich da jemandem gegenübertreten können, wenn ich gar nicht in der Lage war, mich selbst überhaupt zu halten? Auszuhalten? Mein Leben zu stabilisieren?
Sprecherin:
So kam es zu keiner Begegnung zwischen der Unfallverursacherin und den trauernden Hinterbliebenen. Ob die Familie das erhofft, erwartet hatte? Ob sie offene Fragen gehabt hätte? Das weiß Melanie Regus nicht.
MUSIK Like underwater
Sprecherin:
Conny Vogt steht auf der anderen Seite. Der Tag, der ihr Leben veränderte, ist schon viele Jahre her. Damals war sie 39 und Mutter von zwei kleinen Kindern.
O-Ton 19 Conny Vogt:
Ich mach die Tür auf, und der Polizist guckt mich an und sagt: „Können wir vielleicht erst mal reinkommen? Es tut mir leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann in einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt ist.“
O-Ton 20 Conny Vogt:
Also es war ja wirklich so: In dem Moment, wo dieser Polizist sagte „Ihr Mann hatte einen tödlichen Verkehrsunfall“ hat mir einer das Herz rausgerissen.
Sprecherin:
Conny Vogts Mann saß auf dem Motorrad, als ein unaufmerksamer Autofahrer auf ihn auffuhr. Ungebremst. Der Unfallfahrer war einen Moment lang unaufmerksam, weil er an seinem CD-Laufwerk rumfummelte. Und nahm Conny Vogt das Liebste, was sie hatte - neben ihren zwei Kindern.
O-Ton 21 Conny Vogt:
Wir hatten 23 Jahre lang eine wundervolle Beziehung, wir waren einfach wie seelenverwandt. Also es hat einfach supertoll gepasst.
Sprecherin:
Der Notfallseelsorger, der den Polizisten begleitete, kümmerte sich um den schreienden Sohn. Conny Vogt war in einer Schockstarre, erinnert sich an das meiste nicht mehr. Nur daran, wie der Polizist ihr die Adresse des Unfallverursachers auf den Küchentisch legte. „Um alles Weitere zu regeln“, so seine Worte.
O-Ton 22 Conny Vogt:
Und dann entstand tatsächlich als ich alleine war, in meinem Kopf eine Fantasie: Ich nehme mir eine Waffe, ich nehme diesen Zettel, dann klingele ich an der Tür, er macht die Tür auf, und ich halte diese Waffe an seinen Kopf und drück ab.
Sprecherin:
„Ein Leben für ein Leben“ – diesen Gedanken hatte die Mutter von zwei kleinen Kindern in dem Moment. Der Unfallfahrer war ein Phantom. Ein „Mörder“. So nannte sie ihn in der ersten Zeit gedanklich.
O-Ton 23 Conny Vogt:
Ich wollte wissen: Wie sieht ein Mörder aus? Kann man das sehen? Kann man das in den Augen sehen? Ne spitze Nase? Sieht man ihm an, dass er ein Mörder ist? Was er faktisch nicht ist! Ich hab das später revidiert, dieses Urteil, aber zu dem Zeitpunkt war es für mich ein Mörder.
MUSIK So much love
Sprecherin:
Zu einem Mord gehört Vorsatz, und der lag hier nicht vor. Es war einfach menschliches Versagen. Ein Unfall. Ein Unglück. Eins, so stellte sich später heraus, das auch den Unfallfahrer schwer belastete.
Sprecher:
Wenige Wochen später erhielt Conny Vogt über ihren Anwalt einen Brief des Unfallfahrers. Sein innigster Wunsch, so stand es geschrieben, sei es, sich bei ihr zu entschuldigen, wohl wissend, dass der Unfall unverzeihlich sei.
Sprecherin:
Ihre ersten Rachefantasien waren zu dem Zeitpunkt schon verflogen. Sie wollte sich selbst weder in den Knast bringen, noch ihre zwei Kinder im Stich lassen. Ganz langsam ließ sie erste Gedanken an den Unfallfahrer zu, den sie schon längst nicht mehr „Mörder“ nannte:
O-Ton 24 Conny Vogt:
Ich hab mir halt überlegt: Wenn mir das passieren würde, wie wäre es dir dann anschließend ergangen? Und ich hatte die Information, dass er nicht alleine in dem Auto saß, sondern er hatte seine Frau dabei, die beinah selbst aufgrund eines Herzanfalls in diesem Unfall ums Leben gekommen wäre. Wie würde es dir damit ergehen? Und ich muss ganz ehrlich sagen: Ich hätte mein ganzes Leben lang da ganz schwer mit zu kämpfen gehabt.
Sprecher:
Eine Sekunde der Ablenkung: Während der Fahrt das Radio aufdrehen, die Heizung hochstellen. All das hat fast jeder schon viele Male gemacht. Und immer ist es gut gegangen. Zum Glück. Doch wer kann sich davon freisprechen, durch eine Sekunde der Unachtsamkeit nicht selbst mal zum Täter, zur Täterin zu werden?
Sprecherin:
Im Alltag verdrängen die meisten diese Tatsache, so der Philosoph und Theologe Christoph Quarch:
O-Ton 25 Christoph Quarch:
Ich glaube ja, es ist sinnvoll. Ganz einfach deswegen, weil wir sonst eben ja im Prinzip gelähmt wären. Und wenn wir die ganze Geschichte zu Ende denken, möglicherweise gar keinen Schritt mehr vor die Haustür machen, weil immer irgendwie die Gefahr besteht, dass wir in dem, was wir tun, andere Menschen in irgendeiner Weise gewollt oder ungewollt damit schaden. Und da, finde ich, ist zum Beispiel eine alte Weisheit aus den indischen Veden sehr hilfreich, die sagt: In dem Augenblick, wo du geboren wirst, kommt die Ordnung des Kosmos durcheinander. Das heißt, der Grundgedanke ist: Egal was wir tun, irgendwie machen wir uns immer schuldig, weil eben das große Gleichgewicht allein durch unser Erscheinen in der Welt gestört wird.
MUSIK Broken dreamland
Sprecherin:
Es kam zu dem Treffen zwischen der verwitweten Conny Vogt und dem Unfallfahrer. Als sie ihm im Lokal gegenübersaß, musste sie feststellen: Das ist kein Monster, kein Mörder. Sondern einfach nur ein Mensch. Ein ganz normaler Herr um die 60. Es hätte ihr Vater sein können. Oder ihr Onkel.
O-Ton 26 Conny Vogt:
Ich stand einem älteren Mann gegenüber, der auf mich auch sehr gebrochen wirkte, dem das unendlich leidtat, und er sagte: „Egal, welche Strafe da auf mich zukommt, ich werde dem nicht widersprechen.“ Ich fand aber gut, dass er sagte, er würde sich nicht wehren und er würde sich dem jetzt ergeben. Ich glaube, wenn er gesagt hätte „Ich bin ja gar nicht schuld!“ oder „Ihr Mann hätte ja auch zur Seite fahren können“, dann hätte ich, glaube ich, auch noch mal anders reagiert, dann wäre vielleicht in mir auch noch mal Rache hochgekommen.
Sprecher:
Trauma-Therapeutin Verena König sagt: Solch ein Zusammentreffen kann unter Umständen heilsam sein:
O-Ton 27 Verena König:
Diese Person ist eine zentrale Figur fortan in der Biographie dieser Menschen. Und wenn diese Person ein Fragezeichen bleibt, ein eine Silhouette, ein Phantom, dann ist das natürlich furchtbar schwer, damit umzugehen Und ich glaube, dieses Sichtbarwerden, dieses Sichzeigen, sich Stellen kann sehr viel Entlastung und vielleicht auch Heilung bringen, weil eben dieser große weiße Fleck auf der Landkarte endlich erkundet werden kann und sich ein Puzzleteil einfügt in ein Bild, das einfach unvollständig bleibt.
Sprecher:
Silke von Beesten, Vorsitzende der Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland gibt zu bedenken: Solch ein Zusammentreffen macht nur dann Sinn, wenn der Verursacher die volle Verantwortung übernimmt:
O-Ton 28 von Beesten
Das ist für die Unfallbetroffenen ganz, ganz wichtig zu erfahren, dass der Unfallverursacher das nicht gewollt hat. Es muss natürlich authentisch klingen. Ein dahingerotztes „habe ich nicht gewollt!“ - das wäre nicht authentisch. Das würde nicht funktionieren.
MUSIK So much love
O-Ton 29 Conny Vogt:
Ich hab gesagt: „Das ist in Ordnung, das ehrt Sie, aber das bringt meinen Mann nicht zurück. Egal, was du machst, was du nicht machst, es bringt ihn nicht zurück“ Und das Allergrausamste ist, dass am nächsten Morgen einfach so die Sonne wieder aufgegangen ist. Und das ist dann einfach der Moment, wo ich mich ergeben hab. Und gesagt hab: Es ist so!
MUSIK House of glass
Sprecherin:
Melanie Regus, die mit 20 einen Menschen mit dem Auto tödlich verletzt hatte, lebte die Jahre nach dem Unfall voller Zweifel, voller Schuldgefühle. Sie kam nicht so recht ins Leben – so beschreibt sie ihren Zustand damals. Der Radfahrer, für dessen Tod sie verantwortlich war, spielte in ihren Gedanken immer eine ganz große Rolle.
Sprecherin:
Es kam der Tag, an dem Melanie Regus beschloss, Kontakt zur Familie des Verstorbenen aufzunehmen. 20 Jahre nach dem Unfall.
O-Ton 31 Melanie Regus:
Ich wollte nicht einfach anrufen und einen Menschen überfallen. Das schien mir absolut pietätlos und unangebracht, also habe ich mich entschieden zu schreiben. Ich hab erst eine Nachricht geschrieben, in der ich mich vorgestellt habe und angekündigt, dass ich einen Anhang sende, in dem ich einen Brief geschrieben habe, so dass die Person auch die Wahl hat, ob sie diesen lesen möchte oder nicht.
Sprecherin:
Die Antwort des Sohnes kam sofort.
O-Ton 32 Melanie Regus:
Und hab es gar nicht geschafft, sie ganz zu Ende zu lesen, da hab ich schon geweint. Ich hab mit allem gerechnet: dass wirklich noch mal Vorwürfe kommen, dass Wut kommt, dass totale Ablehnung kommt, aber was kam, war einfach Verständnis, Mitgefühl, Wohlwollen. Und das war so heilsam für mich.
Sprecherin:
Zu einem persönlichen Treffen kam es nie. Das Bedürfnis gab es seitens der Familie nicht. Es blieb beim Kontakt über E-Mail. Und trotzdem: Nicht verurteilt zu werden bedeutete ihr unendlich viel:
O-Ton 33 Melanie Regus:
Es ist was von mir abgefallen, was sehr, sehr alt ist, was ich so lange mit mir rumgetragen habe, von dem ich gar nicht mehr gewusst habe, wie schwer es ist zu tragen. Also, was mich total berührt hat, war, dass der Mensch geschrieben hat, dass er sich damals auch über mich Gedanken gemacht hat: Wie es ist für so eine junge Frau mit so einer Last jetzt leben zu müssen. Das hat mich total berührt.
Sprecherin:
Es brauchte viele Jahre und tiefe innere Prozesse, bis sie diesen entscheidenden Schritt gehen konnte. Der wichtigste: Von der passiven Haltung „Wieso ist mir das passiert?“ hin zu „Ja, ich bin verantwortlich für den Tod eines Menschen!“
O-Ton 34 Melanie Regus:
Ich hab aufgehört die Sachen zu verdrängen, hab sie hergeholt und gesagt: Okay, ich halte diese Gefühle aus. Alle, die kommen wollen: Ich halte euch aus! Weil, ihr gehört zu mir! Ihr gehört zu dieser Erfahrung, die ich gemacht habe. Das Zweite ist: Ich beantworte meine Fragen. Ich weiß nicht, was Vergebung ist. Aber ich bin bereit mich auf den Weg zu machen. Das Dritte ist: aufzuräumen mit allen Sachen, die noch offen sind. D.h. der Kontakt mit der Person, für die ich verantwortlich bin, dass sie nicht mehr lebt und mit den lieben Menschen, denen ich diese Person weggenommen habe.
Sprecher:
Verantwortung übernehmen – das ist für Traumatherapeutin Verena König beim ‚Trauma Schuld‘ der entscheidende Schritt.
O-Ton 35 Verena König:
Das ist ein Sehnen, glaube ich, von Menschen, die Schuld fühlen, dass jemand anderes sie daraus befreit. Und in der Verantwortung ist es so, dass ich nicht mehr darauf angewiesen bin, dass jemand anderes es mir nimmt, sondern dass ich in der Lage bin, mich vor den anderen zu stellen und in einer Aufrichtigkeit und einer gewissen Wahrhaftigkeit sagen kann „Ich bin verantwortlich, ich stehe dir gegenüber und du darfst mich sehen in dieser Verantwortlichkeit.“
Sprecherin:
Heute zeigt sich Melanie Regus öffentlich mit ihrer Geschichte. Und stellt sich als Gesprächspartnerin zur Verfügung für Menschen, denen Ähnliches passiert ist.
MUSIK The start, the end and all the space between
Sprecherin:
Denn sie weiß, wie bitter es ist, wenn man wirklich niemanden hat, mit dem man reden kann.
Sprecher:
Vielleicht ist das eine Form der Wiedergutmachung: Dort, wo es nichts zu verzeihen und zu vergeben gibt, taucht vielleicht irgendwann mal die Frage nach dem Sinn auf. Und damit auch der Wunsch, aus dem Furchtbaren in irgendeiner Form etwas Gutes, für andere Dienliches, zu machen.
Sprecherin:
Darin sieht jedenfalls Philosoph und Theologe Christoph Quarch einen Weg, das Trauma Schuld ins Leben zu integrieren:
O-Ton 36 Christoph Quarch
Ich kann das zwar nicht wieder gut machen, aber ich kann mit dem Leben, das mir noch verbleibt, etwas dazu beitragen, dass vielleicht anderswo in der Welt Unrecht ausgeglichen wird (…) Mit dieser Schuld muss ich jetzt leben. Aber ich begreife das jetzt als Chance, als Möglichkeit, etwas Sinnstiftendes, Vernünftiges mit meinem Leben zu machen.
Nach der Revolte 1968 blicken die Autoren der Neuen Subjektivität auf das Erlebte zurück und beschäftigen sich mit dem alltäglichen Leben, mit ihren persönlichen Wünschen und Schmerzen in einer für sie nach wie vor ungerechten Welt. Was bewegt so ein Ich, das die großen Utopien als gescheitert erlebt, sich aus kollektiven ideologischen Zwängen befreien will und die Welt nach wie vor enttäuschend und ungerecht findet? Von Brigitte Kohn (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Thomas Birnstiel, Katja Amberger
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Andrea Bräu
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Die Narkose war über Jahrtausende sehr gefährlich: Man wusste zu wenig über Wirkung und Dosierung, etliche Patienten starben. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts begann mit der Entdeckung des Äthers ein neues Zeitalter. Von Lukas Grasberger (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Susanne Schroeder, Christian Schuler
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Götz Geldner, ehemals Präsident des Berufsverbands Deutscher Anästhesisten.
Karl-Heinz Leven, Professor für Medizingeschichte, Uni Erlangen-Nürnberg
Wolfgang Locher, em. Prof für die Geschichte der Medizin, LMU München
Prof. Marion Ruisinger, Direktorin Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt
Horst Stoeckel, ehemals Prof. für Anästhesiologie, Uni Bonn
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Superfood wie Avocados, Quinoa, Gojibeeren ist wegen seiner Inhaltstoffe Trend. Doch sind die Produkte so gut wie die Werbung verspricht? Ihr ökologischer Fußabdruck ist schlecht, oft sind sie schadstoffbelastet und ihre Produktion hat negative Folgen in ihren Herkunftsländern. Dabei gibt es genügend regionales Superfood. Von Roana Brogsitter (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Roana Brogsitter
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Julia Fischer, Christian Baumann
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Dr. Silja Schäfer, Hausärztin, Ernährungsmedizinerin
Julia Sausmikat, Ernährungswissenschaftlerin Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen
Dr. Wilfried Bommert, Gründer und Sprecher Institut für Welternährung e.V.
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Der Nanga Parbat im Westhimalaya gilt als einer der gefährlichsten Berge der Welt. Vom nationalsozialistischen Deutschland wurde er zum "Schicksalsberg" hochstilisiert, den es um jeden Preis zu bezwingen galt. Die Risikobereitschaft der Alpinisten kostete und kostet bis heute Vielen das Leben. Von Markus Mähner (BR 2022)
Credits
Autor dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christian Baumann
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Wir empfehlen außerdem das spannende Hörspiel von Frank Halbach:
„Namaste, Yeti! Oder: Die Jagd nach dem Schneemensch“
Maya begleitet ihre Mutter nach Nepal. In einem Himalayadorf hört sie, dass man hier angeblich den Yeti-Schneemenschen gesehen hat. Gopal, ein Kollege ihrer Mutter, erzählt ihr die fantastischen Abenteuer von Tashi: Das Mädchen kann mit Tieren sprechen und machte sich auf, den geheimnisvollen Yeti zu finden. | Hörspiel über ein Abenteuer in Nepal ab 6 Jahren | Eine Geschichte von Frank Halbach
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Borkenkäfer haben einen schlechten Ruf. Bei Massenvermehrung können sie Wälder zum Absterben bringen, mit Millionenschäden für die Waldbesitzer. Dabei sind sie eigentlich große Nützlinge, die sich mit der Fichte in Symbiose entwickelt haben. Doch industrielle Forstwirtschaft und der Klimawandel haben dieses Gleichgewicht gründlich durcheinander gebracht. Von Brigitte Kramer (BR 2023)
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Hannes Lemme, Biologe, Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft, Abteilung Waldschutz, Freising.
Michael Held, pensionierter Förster und ehem. stellvertretender Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald, Passau.
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Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
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Redaktion: Matthias Eggert
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?Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte?? , schreibt Eduard Mörike im frühen 19. Jahrhundert. Hier umwirbt der Frühling alle Sinne des lyrischen Ich ? sehen, riechen hören - und versetzt es in ekstatische Vorfreude. Und auch Johann Wolfgang von Goethe schickt in seinem ?Osterspaziergang? den erschöpften Wissenschaftler Faust in die freie Natur. Von Astrid Mayerle
Credits
Autorin dieser Folge: Astrid Mayerle
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Annette Wunsch, Hemma Michel, Friedrich Schloffer
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Kerstin Preiwuß, Lyrikerin
Prof. Dr Ulrich Kittstein, Literaturwissenschaftler
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Linktipps:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zitatorin
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
1 Oton Kittstein
Aus dem blauen Himmel wird eben etwas Bewegtes, etwas Dynamisches. Der Frühling lässt sein „Blaues Band wieder flattern durch die Lüfte“ und auch die Düfte: es riechen nicht einfach irgendwelche frühen Blumen, sondern Düfte streifen das Land. Sie bewegen sich gewissermaßen durch die Landschaft.
Sprecherin
Der Literaturwissenschaftler Ulrich Kittstein spürt der Dynamik und der Atmosphäre eines der bekanntesten Frühlingsgedichte nach: Der Titel „Er ist´s“ von Eduard Mörike.
MUSIK 2 ( Juan Maria Solare – Esto también pasará 0‘26)
Zitatorin
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist´s!
Dich hab ich vernommen!
Sprecherin
Typische Frühlingsmotive tauchen auf: die Natur erwacht und sendet Zeichen einer neuen unbeschwerten Zeit: Zuversicht, Lebensfreude. Das Gedicht erzählt, wie dieser Aufbruch von allen menschlichen Sinnen wahrgenommen wird: den Frühling kann man im wahrsten Wortsinn nicht nur sehen, sondern auch riechen und hören. In den insgesamt nur neun Zeilen inszeniert Eduard Mörike einen Sinnesrausch.
2 Oton Kittstein
Seine Meisterschaft, die dem Gedicht dann auch seinen Rang und seine Bekanntheit verleiht, liegt offenkundig darin, wie er dieses Thema mit künstlerischen Mitteln gestaltet, also wie es ihm gelingt, mit den Mitteln der poetischen Sprache den Frühling hier für die Leserschaft zu einem ästhetischen Erlebnis zu machen.
Sprecherin
Dazu gehört, dass Eduard Mörike die Natur vermenschlicht. Blumen erscheinen wie schlafende Wesen kurz vor dem Erwachen, denn „Veilchen träumen schon“ und am Ende wird der Frühling sogar angesprochen wie ein Gegenüber: „Frühling, ja Du bists! Dich hab ich vernommen!“
3 Oton Kittstein
Auch der Aufbau des Gedichts ist sorgfältig kalkuliert. Der Frühling wird am Anfang schon benannt, als Personifikation, als Akteur und am Ende, auf dem Höhepunkt des Ganzen wird er unmittelbar angeredet und zwar mit einem mehrfachen wiederholten, sich verstärkenden Anruf, „Frühling, ja du bists! Dich hab ich vernommen!“.
Wobei Mörike klugerweise nun nicht so weit geht, den Frühling als eine menschenähnliche Gestalt zu beschreiben. Er wird nur apostrophiert, er wird angesprochen oder angerufen von einem lyrischen Ich, das durch diese Frühlingsatmosphäre in den größten Enthusiasmus versetzt worden ist.
MUSIK 3 ( Jerome Rebotier: César et Arthur 0‘55)
Sprecherin
Das Gedicht hat eine besondere Geschichte: Eduard Mörike war gerade mal 25 Jahre alt, als er es im Jahr 1829 verfasste. In dieser Zeit arbeitete er einerseits als Angestellter einer protestantischen Pfarrei, genauer, als Vikar. Andererseits versuchte er, sich eine Existenz als Schriftsteller aufzubauen. Parallel zu seinen Gedichten entstanden auch Prosawerke und ein bis zu seinem Tod fragmentarisch gebliebener Roman mit dem Titel „Maler Nolten“. - 1832 in einer ersten Fassung veröffentlicht. Eduard Mörike erzählt hier die Lebens- und Liebesgeschichte des Malers Theobald Nolten und seiner Verlobten. Interessant ist, dass in diesem Roman das bekannte Frühlingsgedicht „Er ist´s“ auftaucht.
4 Oton Kittstein
Mörike hat sich da an eine Kunsttechnik angeschlossen, die von Goethe und den Romantikern herkommt. Die hatten schon gerne lyrische Texte in ihre Romane integriert, also Formen einer Gattungsmischung vorgenommen.
Sprecherin
Das heißt, Romanfiguren singen Lieder oder tragen Gedichte vor. Solche Gattungsmischungen haben immer einen dramaturgischen Sinn. Die in einen Roman eingefügten Verse deuten voraus, kündigen eine Wende an oder spielen mit gegensätzlichen Handlungselementen. So auch in „Maler Nolten“. Der Literaturwissenschaftler Ulrich Kittstein:
5 Oton Kittstein
Der Titelheld Theobald Nolten, von dessen Kunst- und Liebesgeschichten hier erzählt wird, ist durch Intrigen ins Gefängnis geraten und auch noch erkrankt. Aber dann wendet sich sein Schicksal, wie es scheint, zum Besseren: er wird gesund, eine Wiedervereinigung mit seiner Jugendgeliebten zeichnet sich ab und in dieser hoffnungsvollen, auch durch den Frühling gekennzeichneten Umgebung, vernimmt er dann durch ein Fenster diese Verse, wie sie im Freien von einer weiblichen Stimme gesungen werden.
MUSIK 4 ( Juan Maria Solare – Esto tambi´n pasará 0‘12)
Zitatorin
Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte…
Sprecherin
Das Gedicht bekommt an dieser Stelle im Roman eine richtungsweisende Funktion: Es steigert Theobald Noltens hoffnungsfrohe Stimmung und er erzählt, unmittelbar nachdem er den Gesang hörte, einem Freund davon:
MUSIK 5 ( Jerome Rebotier: Arthur 0‘35)
Zitator
Soll ich dir gestehen, Alter, dass dies der glücklichste Tag meines Lebens ist, ja dass mir vorkommt, erst heut fang ich eigentlich zu leben an? Begreife mich aber. Nicht diese erquickende Sonne ist es allein, nicht dieser junge Hauch der Welt und nicht deine belebende Gegenwart. Sieh, das Gefühl, von dem ich rede, lag in der letzten Zeit beinahe reif in mir…
MUSIK 6 ( Iva Zabkar: Frühstück / einbruch / Mord 0‘20)
Sprecherin
Allerdings baut Mörike diese hoffnungsvolle Stimmung nur auf, um die Erwartungen, die er damit weckt, umso schlimmer enttäuschen zu können.
6 Oton Kittstein
Das heißt, die Frühlingsstimmung, die Hoffnungsstimmung, die freudige Atmosphäre bietet lediglich einen wohlkalkulierten Kontrast zu der abschließenden Katastrophe und das kann man in dem Roman ganz allgemein beobachten: Mörike baut immer wieder scheinbare Idyllen auf, um diese Idyllen dann als trügerisch zu entlarven und seine Figuren umso schlimmer ins Unglück zu stürzen.
MUSIK 7 ( Martin Todsharow: All Of This 0‘44)
Sprecherin
Mörike setzt mit seinem in den Roman eingefügten Gedicht „Er ist´s“ auf eine Dramaturgie der Gegensätze. Daher schwingen im selben Gedicht – je nachdem, ob man es im Kontext der Romanhandlung oder nur allein, für sich genommen liest – völlig andere Zwischentöne mit: Im Roman taucht die Frühlingsstimmung nur als kurzer Schein, als Illusion auf. Dagegen: wenn man das Gedicht für sich genommen liest, erscheint es als ein ganz und gar heiteres, optimistisches und klangvolles Frühlingsgedicht.
7 Oton Preiwuß
Das mochte ich schon als Kind nicht. Das ist ja das, was man im Unterricht auswendig gelernt hat, im Deutschunterricht.
Sprecherin
So die Lyrikerin Kerstin Preiwuß.
8 Oton Preiwuß weiter
Und das ganze Gedicht ist eine Anrufung und eine Anrede und eine Übertreibung und gleichzeitig ist es statisch. „Frühling lässt sein Blaues Band wieder flattern durch die Lüfte.“ Der Frühling ist da, und er ist immer da, er ist unveränderlich und er ist überhaupt nicht fragwürdig. Es geschieht ihm auch nichts, es geschieht auch in ihm nichts in diesem Gedicht, und dann kommt diese Anrede auch noch, dieses heroische oder pathetische „Frühling ja du bist´s! Dich hab ich vernommen!“ Und dann kommt auch noch ein Harfenton. So jetzt hab ich genug geschimpft über dieses Gedicht.
Sprecherin
Die vielfach ausgezeichnete Lyrikerin Kerstin Preiwuß möchte dem Frühling in ihrer eigenen Dichtung neue Facetten hinzufügen. Ihr geht es darum, die Bedeutungsschichten dieser Jahreszeit zu erweitern. Sie experimentiert daher mit Gegenbildern und konfrontiert gängige Erwartungen mit überraschenden Eindrücken. Ihr 2016 erschienener Gedichtband „Gespür für Licht“ folgt dem Rhythmus der Jahreszeiten, beginnend mit dem Frühling. Die Lyrikerin stellt ihren eigenen Gedichten in diesem Band ein altes Volkslied voran:
MUSIK 8 (Quadro Nuevo: Guter Mond, Du stehst so stille 0‘12)
Zitatorin
Es war eine Mutter
Die hatte vier Kinder
Den Frühling den Sommer
Den Herbst und den Winter.
Sprecherin
Doch das Idyll, das dieses Volkslied beinhaltet, trügt.
Was bereits das erste Gedicht in dem lyrischen Jahreszeitenzyklus andeutet:
MUSIK 9 ( Martin Todsharow: Lost In The Light 0‘32)
Zitatorin (nüchtern, skizzenhaft lesen)
Selten so einen Frühling erlebt.
Im April immer noch null Grad.
Der Ostwind fegt vom Ural bis in die Mittelgebirge.
Krähen brechen ihren Nestbau ab.
Zugvögel treibt es zurück.
Alles ist durchsichtig weil Laub fehlt.
Das ist wie Leben unter dem Röntgengerät.
9 Oton Kittstein
Auch dieses Gedicht rechnet sicherlich mit Lesern, die die traditionelle Bildlichkeit kennen, die an den Frühling in der Lyrik bestimmte Erwartungen knüpfen, die bestimmte Stimmungswerte, eine bestimmte Atmosphäre erwarten. Aber dieses Gedicht bricht eben ganz gezielt mit diesen Erwartungen. Es präsentiert den Frühling in einer ganz anderen, in einer unkonventionellen, in einer modernen Art und Weise.
10 Oton Preiwuß
Ich benenne nur „im April immer noch null Grad“ und dann „fegt der Ostwind vom Ural bis zu den Mittelgebirgen“ und dann „brechen die Krähen ihren Nestbau ab“. Das sind einfach nur Beobachtungen // ohne in die dichterische Überhöhung zu kippen. Die Zugvögel treibt es zurück – das ist dem Vers nach zwar auch wieder nur eine Beschreibungsebene, aber in dieser Beschreibungsebene ist ein Widerspruch eingebaut. Warum treibt es Zugvögel zurück? Was geht dem voraus, sind die schon wieder da und müssen zurück? Welche Umkehrung der Tatsachen ist das eigentlich?
Sprecherin
Diese Fragen werden im Laufe des Lyrikbands „Gespür für Licht“ beantwortet. Denn alle Gedichte sind über die Abfolge der Jahreszeiten chronologisch und darüber hinaus auch erzählerisch miteinander verbunden. Der Nestbau steht anfangs für ein ungeborenes Kind, welches das lyrische Ich erwartet. Der Zyklus der Jahreszeiten und der kühle, unberechenbare Frühling deuten eine schwierige Schwangerschaft an. Ihr Ausgang erscheint ungewiss. In einem der späteren Frühlingsgedichte heißt es dann doch wieder hoffnungsvoll:
MUSIK 10 ( Martin Todsharow: Little Voices 0‘23)
Zitatorin 37
Die Windsbraut schläft in mir.
Ein schaukelndes Embryo in jeder Ohrmuschel.
Wie beruhigt mich dass sie sich bewegt.
Ich bin gut aufgehoben egal was in mir tobt.
Die Windsbraut hat sich in mein Ohr gelegt…
11 Oton Preiwuß 61 018-056
Für den Gedichtband war mir sehr früh klar, dass ich ein Kalendarium wollte. Ich wollte nicht nur, dass der Gedichtband aussieht wie ein Kalender, sondern ich wollte auch, dass er den Jahreszeiten folgt. Das hängt mit dem Thema zusammen: Da es um das Kinderbekommen oder auch Nichtbekommen geht und die Frage, wie das Leben in die Welt kommt und wie es vielleicht auch doch nicht in die Welt kommt und das hat sich für mich am besten gemäß einer zyklischen Ordnung entlang des Jahresverlaufs ergeben.
Sprecherin
Kerstin Preiwuß sieht im Frühling eine ganz besondere große Spannweite an Elementen, die für eine Übergangszeit stehen. Auch wagt sie einen Blick in künftige sprachliche Anverwandlungen und literarische Themen dieser Zeit:
12 Oton Preiwuß 63 505-633
Der Frühling geht meteorologisch vom ersten März bis Ende Mai, bis zur Zeit der Apfelblüte. // - Von den Frühblühern bis zur Zeit der Apfelblüte, wenn alles schon grün ist und das ganze Laub auch schon da ist. // Sie haben einen sehr langen Zeitraum und auch eine gewisse Unabwägbarkeit und verschiedene Schritte der Verwandlung und etwas Prozessuales. Ein Zustand, der sich erst ergibt.
Wenn man an den Mai denkt, hat man den satten Frühling voller Blütenduft und warmer Luft im Kopf, aber auch hier denke ich mittlerweile: Vorsicht so, wie wir es gewohnt sind, die Jahreszeiten wahrzunehmen, muss es nicht bleiben, auch aufgrund der klimatischen Veränderungen. Es kann sein, dass der Frühling zukünftig, auch mit zu früh zu heiß bedichtet werden kann oder assoziiert werden kann. – Also als Wahrnehmung, die dann in den Sprachgebrauch übergeht oder so empfunden wird.
MUSIK 11 ( Maxi Menot: Breeze Over Grasslands 0‘38)
Sprecherin
…dann könnte man Goethes „Osterspaziergang“ als ein historisches Dokument lesen aus einer Zeit, in welcher ein eher kühles Frühjahr auf einen sehr kalten Winter folgte:
Zitator
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter in seiner Schwäche,
Zog sich in raue Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;…
13 Oton Preiwuß
Er geht nicht ins Pathos der Anrede, er übertreibt nicht, sondern es ist eher chronologisch beschreibend. Der Frühling taucht relativ früh auf und zwar in der zweiten Zeile schon als Wort. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden belebenden Blick“. Das heißt, er wird benannt und ab dann kann er beschrieben werden, ohne dass ihm gleich etwas zugeschrieben werden muss, das entwickelt sich erst in der Chronologie dieses Gedichtes. Und die zweite Sache ist, - und das ist auch klassisch – er lässt den Frühling mit Ostern zusammenfallen. Das ist dann die religiöse Komponente und die Engführung an den Auferstehungsgedanken.
Sprecherin
So Kerstin Preiwuß. In vielen Bänden mit Naturlyrik taucht Goethes „Osterspaziergang“ als eigenständiges Gedicht auf. Ursprünglich stammt die fast vierzig Zeilen lange Passage aus Goethes Drama Faust I. und spiegelt die Gedanken der Hauptfigur während eines Spaziergangs am Ostersonntag wider. Der Wissenschaftler Dr. Faust hatte eben noch in seinem Studierzimmer über seinen Büchern gebrütet und mit der Fülle des ihm unermesslich scheinenden Wissens gerungen, hatte finstere Gedanken voller Selbst- und Weltzweifel. Doch auf seinem Spaziergang vertreibt der Wandel der Natur seinen Trübsinn. Die neue Jahreszeit, der Frühling entmachtet gleichsam den Winter und damit auch Fausts Trübsinn. Er wird hoffnungsvoll, beginnt die Welt und damit auch die Menschen neu zu sehen:
MUSIK 12 ( Maxi Menot: Elektroniske drommer 0‘37)
Zitator
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
14 Oton Kittstein
Faust spricht ja über die Befreiung, die die Menschen erfahren, wenn sie am Ostertag in die freie Natur hinausgehen. Er spricht nicht direkt über sich selbst, aber in dem Kontext des Dramas kann man entnehmen, dass diese Erfahrungen für ihn gelten.
Sprecherin
Faust verlässt durch ein Tor die Stadt, blickt um sich. Einerseits von einem Hügel auf das Stadttor zurück und gleichzeitig in die ferne Landschaft. Dabei bemerkt er, dass die Natur zwar noch nicht blüht. Aber die Menschen mit ihren Kleidern für farbige Akzente in der Landschaft sorgen.
MUSIK 13 ( Maxi Menot: Elektroniske drommer 0‘14)
Zitator
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
15 Oton Kittstein
Es ist in der Tat ein Vergnügen von Stadtmenschen, was wir hier vor uns haben. Das sind keine Bauern, keine Jäger, keine Fischer, sondern das sind Menschen, die aus der Stadt hinausgehen ins Freie, in die Landschaft. Was Goethe hier zugrunde legt, ist auch wiederum ein ganz traditionelles literarisches Motiv – der Gegensatz von Stadt und Land.
Sprecherin
So der Literaturwissenschaftler Ulrich Kittstein. Er deutet im Osterspaziergang die Stadt als den Ort der Kultur, der Zivilisation. Gleichzeitig erscheint sie auch als Sphäre vielfältiger Zwänge und Einschränkungen, denen sich die Menschen unterwerfen müssen. Daraus rührt die Sehnsucht nach Natur, die Sehnsucht danach, die engen Häuser und Gassen zu verlassen und sich frei in der Landschaft zu bewegen.
16 Oton Kittstein
Etwas zugespitzt gesagt: der erholsame Spaziergang in freier Natur ist eine Erfindung von Stadtmenschen. Von Menschen, die prinzipiell in ihrer Lebenswirklichkeit schon von der Natur getrennt sind und deswegen die Natur als Gegenwelt, als eine Welt der Freiheit und der freien Entfaltung erfahren. Deswegen auch die Analogie zur Auferstehung: „Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden aus niedriger Häuser dunklen Gemächern…aus der Straßen quetschender Enge…“
MUSIK 14 ( Ralf Wienrich: Nacht 0‘42)
Sprecherin
Eine besondere motivische Verbindung steckt in der Engführung von Frühling und Nacht. In verschiedenen Epochen spürten Autorinnen und Autoren ihr immer wieder nach: unter anderem der Romantiker Josef Eichendorff, aber auch die Expressionistin Else Lasker-Schüler. Im Jahr 1900 schickte sie in einem Brief ein Gedicht mit dem schlichten Titel „Frühling“ an einen Freund. Ein Jahr später veröffentlichte sie dieselben Verse in ihrem ersten Gedichtband. Die Verbindung von Frühling und Nacht taucht bereits in der ersten Strophe auf und deutet an, dass es sich um ein Liebesgedicht handelt.
MUSIK 15 ( Maria Böhme: February Tale 0‘49)
Zitatorin
Wir wollen wie der Mondenschein
Die stille Frühlingsnacht durchwachen,
Wir wollen wie zwei Kinder sein.
Du hüllst mich in dein Leben ein
Und lehrst mich so wie du zu lachen.
Sprecherin
In dieser Frühlingsnacht begegnen sich zwei erwachsene Menschen, die sich wie Kinder fühlen:
17 Oton Kittstein
Und die Frühlingsnacht gibt ihnen den Anlass dazu. Das heißt, das Naturerlebnis inspiriert gewissermaßen das Gefühl, sich in die eigene Kindheit zurückversetzt zu fühlen, in die Geborgenheit des Kindes, das noch von „Mutterlieb“ und „Vaterwort“ und „Frühlingsspielen“ umgeben gewesen ist.
MUSIK 16 ( Maria Böhme: Tell Me Now (What You See) 0‘39)
Zitatorin
Ich sehnte mich nach Mutterlieb
Und Vaterwort und Frühlingsspielen,
Den Fluch, der mich durchs Leben trieb,
Begann ich, da er bei mir blieb
wie einen treuen Freund zu lieben…
Sprecherin
So der zweite Vers. Hier spricht das lyrische Ich von einem Fluch, der nicht weiter benannt oder beschrieben wird. Vermutlich steht er in Zusammenhang mit dem Verlassen der Kindheit. Gleichzeitig motiviert der Fluch die inneren Bilder und die hoffnungsvollen Wünsche des lyrischen Ichs. Ulrich Kittstein:
18 Oton Kittstein
Die Nacht ist ja seit der Empfindsamkeit und der Romantik, die Zeit der Fantasie, der Einbildungskraft, der Vorstellungskraft, des Traums und das passt ja durchaus dazu, dass die Figuren, die da erscheinen, nicht mehr wirklich Kinder sind, sondern sich nur in ihrer Fantasie, in ihrer Einbildung noch einmal in die Kindheit zurückversetzen wollen.
Sprecherin
Jedenfalls so lange bis der Tag anbricht.
MUSIK 17 ( Juan Maria Solare – Esto tambi´n pasará 0‘41)
Sprecherin
Autorinnen und Autoren haben über alle Epochen hinweg sehr unterschiedliche Aspekte des Frühlings bedichtet: die Verwandlung der Natur, die Hoffnung auf eine neue Zeit und neues Leben, das Gefühl des Aufbruchs und der Freiheit und nicht zuletzt eine gewisse Unberechenbarkeit dieser Jahreszeit. Durch alle Zeiten hinweg scheint aber auch etwas Verbindendes auf: dass dem Frühling eine eigene Kraft zugesprochen wird, die nach Vorn gerichtet ist und eine Verwandlung in Gang zu setzen vermag.
Vergessen gehört zu den essentiellen Abläufen in unserem Gehirn. Es ist also kein Aussetzer vom Gedächtnis sondern ein aktiver Prozess. Es funktioniert wie ein gut programmierter Spam-Filter. Nur wer vergisst, kann Wichtiges von Unwichtigem trennen, den Überblick behalten, abstrakt denken und Probleme lösen. Von Prisca Straub (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Pricsa Straub
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Hemma Michel
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Karl-Heinz T. Bäuml, Department of Experimental Psychology, Universität Regensburg
Prof. Dr. Martin Korte, Abteilung für zelluläre Neurobiologe, Zoologisches Institut der TU Braunschweig
Prof. Dr. Emrah Düzel, Abteilung für Klinische Neurophysiologie und Gedächtnis, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, DZNE
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Was wäre München ohne die Wahrzeichen der Olympischen Spiele 1972? Die Zeit für die Gestaltung des Olympiaparks, den Bau des Stadions, des olympischen Dorfes und der ersten U-Bahn war knapp, ebenso wie das Geld. Das gesamte Setting war bemerkenswert modern, visionär, sogar geradezu avantgardistisch. Von Sandra Vogell (Br 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Sandra Vogell
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Birnstiel
Technik: Viktor Veress
Redaktion: Iska Schreglmann
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DIE OLYMPIAPROTOKOLLE (Folge 1-4) auf Alles Geschichte:
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BR PODCAST | Himmelfahrtskommando - Mein Vater und das Olympia-Attentat
Literatur-Tipp:
Hans-Jochen Vogel: „Die Amtskette. Meine 12 Münchner Jahre. Ein Erlebnisbericht.“ Süddeutscher Verlag, 1972. Gebraucht erhältlich.
Die Begriffe Storytelling und Narrativ sind heute in fast aller Munde. 2020 haben sie es sogar in den Duden geschafft! Gut so. Denn sie rücken die Wirkmacht von Geschichten und Erzählungen in den Fokus. Mit Hilfe von Storys und Narrativen lassen sich Gefühle manipulieren und Massen mobilisieren. Von Justina Schreiber (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Stefan Wilkening, Johannes Hitzelberger
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Michael Müller, Unternehmensberater und Germanist vom Institut für Angewandte Narrationsforschung an der Hochschule der Medien in Stuttgart,
Prof. Dr. Katharina Rennhak, Literaturwissenschaftlerin vom Zentrum für Erzählforschung an der Universität Wuppertal
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Alle Frauen dieser Welt durchleben den weiblichen Zyklus Monat für Monat. Er beeinflusst deutlich Körper- und Selbstwahrnehmung. Für viele Frauen ist die monatliche Menstruation immer noch Anlass für Schamgefühle. Zyklusbedingte Erkrankungen sind noch zu wenig erforscht und das Wissen über hormonelle Abläufe erstaunlich gering. Von Birgit Magiera (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Birgit Magiera
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling, Diana Gaul
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Matthias Eggert
Linktipps:
Wechseljahre: Das erwartet dich rund um die Menopause
Wechseljahre? Daran kommt keine Frau vorbei. Doch gegen Symptome wie Hitzewallungen und Schlafprobleme gibt es vielfältige Strategien. Wir erklären, woran ihr die Menopause erkennt und wie ihr die Hormonumstellung gut bewältigt.
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Training nach Zyklus: Wann Frauen am besten welchen Sport machen
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Ein Blick in den Spiegel macht sichtbar, was sonst unsichtbar bliebe. Schon immer sahen die Menschen mehr in ihm als einen einfachen Alltagsgegenstand. Sagt er uns die Wahrheit oder täuscht er uns? Ein Alltagsgegenstand voller Facetten. Von Silke Wolfrum
Credits
Autorin dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Burchard Dabinnus, Susanne Schroeder, Andreas Dirscherl
Technik: Matthieu Bar
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Fabian Estermann, Autor des Buches „Der Spiegel als Instrument zum Nachweis von Selbstbewusstsein bei Tieren. Eine Kulturgeschichte der Spiegelherstellung und des Spiegelexperiments.
Prof. Dr. Heidrun Alzheimer, Lehrstuhl für Europäische Ethnologie, Bamberg; Nina-Alisa Kollakowski, promoviert zur Selbstentwicklung im Kleinkindalter an der LMU München.
Was unser Selbstbild bestimmt - Erleben, bewerten, vergleichen
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Homo pictor - Der Mensch und die Bilder
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER:
Vor rund 9.000 Jahren verlassen Männer die Großsiedlung Catalhöyük im heutigen Zentralanatolien und machen sich auf den beschwerlichen Weg zu zwei Vulkanen, rund 190 Kilometer entfernt. Dort finden sie Obsidian, schwarzes vulkanisches Gesteinsglas, laden es auf und schaffen es den langen Weg zurück in ihre Siedlung. Aus dem kostbaren Gestein stellen sie Werkzeuge und Pfeilspitzen her, lebenswichtig für die Gemeinschaft. Doch auch für etwas anderes lohnt sich der große Aufwand: Spiegel.
O-TON 01 Fabian Estermann
Also bis heute ist die genaue Bedeutung und Funktion der Spiegel nicht ganz klar. Die Spiegel selbst wurden lediglich in Gräbern bei Ausgrabungen entdeckt, also das heißt nicht in den Überresten der Siedlungen selbst, im Haushalt, sondern wirklich nur als Grabbeilage. Und doch geht man davon aus, dass sie nicht nur für das Grab erschaffen worden sind, sondern tatsächlich auch schon eine Funktion zu Lebzeiten erfüllten. Durch Experimente konnte man immerhin ausschließen, dass sie sich nicht zu Lichtsignalgeber oder zum Feuermachen eigneten. Und da aber die damaligen Siedler und Siedlerinnen dort bereits über eine ausgeprägte Körperkultur verfügten, geht man davon aus, dass dann auch die Spiegel dazu dienten, dass sich die Leute selber betrachten konnten, beispielsweise beim Auftragen von Rouge, um sich so wahrzunehmen, wie es dann eben doch eine dritte Person tut.
MUSIK 3: Crystal Memories - 52 Sek
SPRECHERIN:
Uralt scheint das Bedürfnis des Menschen, sich im Spiegel zu sehen und uralt scheint auch der Respekt vor diesem facettenreichen Gegenstand. Spiegel als Grabbeigabe sind keine Seltenheit, auch in etruskischen Gräbern aus dem vorchristlichen Jahrtausend fand man welche. Zeugen sie vom Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod, in dem man erneut den Spiegel braucht, um sich schön zu machen. Oder werden dem Spiegel noch andere Fähigkeiten zugeschrieben, als bloß zu reflektieren? Übersinnliche Fähigkeiten oder magische? Wobei auch die reine Reflexion es in sich hat, denn sich selbst im Spiegel zu erkennen, ist eine Leistung, die nicht jeder Mensch vollbringen kann.
MUSIK 4: Up the stairs/ Down the hall – 52 Sek
SPRECHER:
Narziss war ein wunderschöner Jüngling, in den sich Männer wie Frauen verliebten, doch er erwiderte niemandes Liebe. Eines Tages kam er an eine Quelle, um dort zu trinken. Er erblickte sich und verliebte sich in sein Spiegelbild. Doch da seine Gefühle nicht erwidert wurden, er sich aber auch nicht von dem Bilde losreißen konnte, siechte er dahin und starb.
MUSIK kurz hoch
SPRECHERIN:
Narzissten sind für uns heute selbstsüchtige Egoisten, die sich maßlos überschätzen. In den Erzählungen des antiken römischen Dichters Ovid besteht Narziss’ Tragik jedoch gar nicht in seiner Selbstverliebtheit, vielmehr ist Narziss nicht in der Lage sich selbst auf der spiegelnden Wasseroberfläche zu erkennen.
O-Ton 02 Fabian Estermann
Er merkt nicht, dass er es selbst ist, der dort in diesen Teich guckt, sondern erblickt für ihn eine andere Person, in die er sich dann verliebt und dann vor Ort sozusagen dann zugrunde geht, weil die Liebe naturgemäß nicht erwidert wird, der Gegenüber bleibt sozusagen stumm und lässt sich nicht auf ihn ein. Und da haben wir es mit einer frühzeitigen Thematisierung dessen zu tun, dass die Fähigkeit zur Selbsterkennung im Spiegel keine Selbstverständlichkeit ist, sondern immer auch ein Prozess, der auch fehl laufen kann.
SPRECHERIN:
Dr. Fabian Estermann hat sich für sein Buch „Der Spiegel als Instrument zum Nachweis von Selbstbewusstsein bei Tieren“ mit der Kulturgeschichte der Spiegelherstellung und dem so genannten Markierungstest befasst. Dieser Test wurde erstmals 1970 von dem amerikanischen Psychologen Gordon Gallup an Schimpansen durchgeführt und erbrachte für Gallup den Beweis: Schimpansen verfügen über ein Selbstkonzept, sie nehmen sich als Individuum wahr.
O-TON 03 Fabian Estermann
Im Kern besteht der darin, dass dem Tier unbemerkt eine Farbmarkierung in einem Bereich aufgetragen wird, meistens im Gesichtsbereich, die das Tier ohne Spiegel nicht sehen kann. Und anschließend wird dann dem Tier ein Spiegel vorgehalten. Und wenn das Tier die Farbmarkierung dann an sich berührt, nach Sichtung des eigenen Spiegelbildes, gilt der Spiegeltest als bestanden und wird als Indiz dafür genommen, dass das Tier in der Lage ist, sich selber im Spiegel zu erkennen.
SPRECHERIN:
Das gleiche Verfahren wurde wenig später auch von Beulah Amsterdam von der University of North Carolina an Kindern durchgeführt. Ähnlich wie bei den Affen, ist das Sich-Erkennen ein Prozess, der in verschiedene Reaktions-Phasen unterteilt werden kann, erläutert Nina-Alisa Kollakowski von der LMU München.
O-TON 04 Alisa Kollakowski
Was sich da gezeigt hat, ist, dass die Kinder, wenn sie noch jung sind, also wenn sie zwölf Monate alt sind, dann zeigen Sie eher so spielerisches Verhalten vor dem Spiegel. Also es fühlt sich für die Kinder an, als wäre da ein anderes Kind im Spiegel zu sehen. Und sie versuchen dann zum Beispiel auch mal das Kind zu küssen auf den Spiegel, so, was Kinder vielleicht manchmal so in der Interaktion machen oder fangen an zu lächeln und umso älter die Kinder dann werden, so ab 14 Monaten, sieht man das, fangen die Kindern an ein bisschen ängstlich zu sein und sich eher zurückzuziehen und sind so ein bisschen erschrocken vor dem, was sie im Spiegel sehen. Und dann so mit 20 Monaten ungefähr, also kurz vor dem zweiten Geburtstag, sieht man dann, dass die Kinder anfangen, ihr eigenes Gesicht anzufassen und eben diesen roten Punkt, den sie auf der Nase haben versuchen, wegzuwischen.
Musik 5: Bella - 51 Sek
SPRECHER:
Was passiert in dem Moment, in dem Kinder erkennen, dass das Gegenüber eben kein anderer Mensch ist? Was ängstigt sie? Wieso weichen sie vor dem Spiegel zurück? Für den Psychologen Philippe Rochat und den Philosophen Dan Zahavi ist das eigene Erkennen im Spiegel eine „zutiefst entfemdende Selbsterfahrung“. In ihrem Aufsatz „Der unheimliche Spiegel“ berufen sie sich auf den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty und stellen fest: Nur im Spiegel sieht sich der Mensch auf einmal so, wie auch andere ihn sehen. Ohne den Spiegel haben wir niemals unser Gesicht im Blick, niemals unseren Körper als Ganzes. Und so bringt der Spiegel uns gleichzeitig Selbsterkenntnis als auch Selbstentfremdung, denn unser Bild von uns verliert seine Subjektivität, wir blicken mit Hilfe des Spiegels scheinbar „objektiv“ auf uns selbst, als wären wir selbst ein anderer. Und das kann zunächst erschrecken.
Musik 6: 1.1_5-illusionofchoice.mp3 - 33 Sek
SPRECHERIN:
Der Spiegel als Mittel der Erkenntnis – dieses Bild zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählungen vieler Jahrhunderte. Jemandem den Spiegel vorhalten, heißt nichts anderes, als ihn zu Selbsterkenntnis zu führen. Und auch im übertragenen Sinn, wird der Spiegel häufig als Garant für Wahrheit und Weisheit genannt, so Prof. Dr. Heidrun Alzheimer vom Lehrstuhl für Europäische Ethnologie in Bamberg:
O-TON 05 Heidrun Alzheimer
Beichtspiegel ist eine Metapher für die Wahrheit, die einem im Spiegel entgegengehalten wird. Man nutzt Beichtspiegel dazu, dass man mögliche Verfehlungen sich nochmal vergegenwärtigt, also Gläubige, die zur Beichte gehen wollen, betreiben mit dem Beichtspiegel eine Gewissenserforschung. Und genauso als Metapher finden wir den Spiegel auch wieder im Begriff des Fürsten-Spiegels. Das waren also eigene Werke, Bücher, in denen künftige Könige und Fürsten an ihre Tugenden und Pflichten gemahnt wurden. Und durch diese Lektüre sollten sie lernen, wie gute Regierung funktioniert.
Musik 7: Holidays at Ravenwood - 1:12 Min
SPRECHERIN:
Sokrates soll seinen Schülern empfohlen haben, regelmäßig in den Spiegel zu blicken, um über Schönheit und Vergänglichkeit nachzudenken und den eigenen Charakter zu bilden. Auch im Märchen sagen Spiegel oft die Wahrheit, auch wenn man sie nicht hören will.
MUSIK kurz hoch
ZITATOR:
Frau Königin, ihr seid die Schönste hier. Aber Schneewittchen über den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen ist tausendmal schöner als Ihr!
SPRECHER:
In vielen Geschichten können Spiegel in die Zukunft blicken oder in die Vergangenheit, ganz generell können sie Dinge zeigen, die man ohne sie nicht sehen würde und Welten eröffnen, die man ohne sie nicht betreten könnte. So geht Alice durch einen Spiegel ins Wunderland und im Film von Jean Cocteau betritt Orpheus durch einen Spiegel das Totenreich.
MUSIK kurz hoch
Spiegel können aber auch ganz konkret und praktisch, als optisches Hilfsmittel, das Blickfeld weiten, wie im Mythos der Medusa, die Perseus letztlich dank eines Spiegels besiegt.
O-TON 06 Fabian Estermann
Wie wir wissen, bewirkt der Blick der Medusa, dass die Person, die sie anschaut, versteinert. Und um genau dieser Gefahr zu entgehen, bedient sich Perseus eben einer List, nimmt die Medusa über sein Schild wahr, das heißt, das Schild fungiert hier als Spiegelfläche, die es ihm ermöglicht, seine Umgebung zu mustern, die Medusa auszumachen und sie daraufhin dann zu enthaupten, ohne Gefahr zu laufen, dass er beim Anblick versteinern würde.
SPRECHERIN:
Der Spiegel ermöglicht uns, Dinge zu sehen, die wir ohne ihn, nicht sehen könnten. Als technisch ausgeklügeltes Hilfsmittel erweitert er unseren Blick sogar ins Unendliche. Den Anfang machte Newtons berühmtes Spiegelteleskop aus dem Jahr 1668. Heute steht das größte Teleskop der Welt mit einem Spiegeldurchmesser von 39 Metern in der chilenischen Atacamawüste. Mit Hilfe dieses „Extremely Large Telescope“ wollen europäische Forscher herausfinden, wie Planeten entstehen und ob es außerirdisches Leben gibt. Doch auch der einfache Spiegel dient Menschen schon lang dazu mehr zu sehen als mit dem bloßen Auge möglich:
O-TON 07 Heidrun Alzheimer
Wir kennen das Volkacher Stadtbuch aus dem Jahr 1504, und da sehen wir Marktstände, an denen Spiegel feilgeboten werden. Es waren runde Gebilde, die eingefasst waren von einem wulstartigen Polster. Mit diesem Polster waren sie zum einen bruchsicher eingepackt, und zum anderen aber lagen sie damit auch gut in der Hand. Und Wallfahrer haben zur Reichskleinodien-Schau solche Spiegel mitgenommen, weil,
das muss man sich so vorstellen, dass das ein riesiger Andrang von tausenden von Leuten vor den jeweiligen Kirchen war. Die Kurfürsten haben die Reichskleinodien gezeigt und um einen Blick darauf zu erhaschen, hat man Spiegel dabeigehabt und hat dann quasi den Segen, der von diesen Objekten ausging, in dem Spiegel aufgefangen.
MUSIK 8: Nostalgia – Impressionism - 43 Sek
SPRECHER:
Zur Selbst-Betrachtung waren Spiegel im Christentum lange jedoch verpönt, denn Eitelkeit galt neben Geiz und Neid als eine der sieben Todsünden, lenkte sie doch die Aufmerksamkeit von Gott ab und verschwendete damit kostbare Lebenszeit. Memento Mori, bedenke dass du sterblich bist, war das Motto des Christentums und manche Darstellungen gerade des Barock zeigen eine schöne junge Frau sich im Spiegel betrachtend, um sie herum Symbole der Vergänglichkeit. Dennoch benutzten auch Christen Spiegel, um sich selbst zu sehen, sogar die besonders frommen.
O-TON 08 Heidrun Alzheimer
Wir kennen aus barocken Frauenklöstern sogenannte Nonnenspiegel. Das war ein Spiegel, auf die man ein Medaillon mit Heiligen aufgebracht hat und zusätzlich außenherum Verzierungen aus Leonischen Drahtwaren, das waren Gold- und Silberfäden. Damit wirken diese Spiegel auf den ersten Blick wie Heiligenbilder, die man sich legitimerweise als Nonne in seine Klosterzelle gehängt hat, für Andachtsübungen, aber in den Zwischenräumen zwischen dem Heiligenbild und diesen Ornamenten außenherum konnte man sich ja doch noch erkennen. Und so haben die Nonnen ihren Wunsch kaschiert, sich im Spiegel zu betrachten und konnten das Verbot, in den Spiegel zu schauen, durch den Vorwand der Heiligenverehrung geschickt und ungestraft umgehen.
MUSIK 9: Me so selfie – 30 Sek
SPRECHER:
Mancher blickt auch heute nur verschämt und ungern in den Spiegel, viele jedoch mit der größten Selbstverständlichkeit: Sich selbst in Szene zu setzen, sein äußeres Erscheinungsbild zu optimieren scheint eine Grundvoraussetzung für Erfolg zu sein und ist gesellschaftlich völlig anerkannt. Wohl kaum eine Generation bespiegelt sich so viel wie die aktuelle – Stichwort Selfie. (Musik aus)
Die Umdeutung von christlichen Todsünden zu erfolgsversprechenden Charaktereigenschaften ist jedoch keineswegs ein Phänomen unserer Zeit, sie begann vielmehr schon in der Renaissance und war eine Voraussetzung für die Industrialisierung, wie Heidrun Alzheimer erläutert.
O-TON 09 Heidrun Alzheimer
Also die Selbstoptimierung und der gewisse Stolz auf das, was man geleistet hat, das hätte man früher als eine Untugend oder vielleicht sogar sündhaft bezeichnet. Und seit der Renaissance und vor allem dann in der Neuzeit ist es zu einer positiven Eigenschaft umgemünzt worden.
Geiz wird zum Beispiel als Sparsamkeit uminterpretiert, Habgier als die Triebfeder für das Anhäufen von Kapital. Und durch dieses Kapital ist dann später erst die Industrialisierung überhaupt möglich geworden. Und der Neid fördert den Konsum, ist also auch positiv umgemünzt worden. Gefährliche Leidenschaften wurden zu Tugenden umgemünzt, und seit der Neuzeit versucht man, diese unvermeidlichen Neigungen so zu kanalisieren, dass sie den Wohlstand und das Glück der Allgemeinheit stärken oder vergrößern.
SPRECHERIN:
In der Aufklärung verliert der Spiegel dann auch all seine magischen Komponenten, wird aber zu einem hochgeschätzten und äußerst wichtigen Alltagsgegenstand. Letztlich geht es auch hier um Selbstoptimierung.
O-TON 10 Heidrun Alzheimer
Ein berühmtes Beispiel dafür ist Johann Krünitz’ ökonomisch technologische Enzyklopädie. Darin heißt es, ohne den Spiegel würden die Menschen doch nur sehr unvollständig und mit vielen Schwierigkeiten ihre Toilette machen können. Und weiter: Er ist hierbei ein zwar stummer, aber doch sehr sicherer Ratgeber. Er ist ein Wahrsager, der nicht Schmeichler der Matronen und Greise. Er gilt als Mittel, den Körper reinlich zu erblicken, die Haare zu machen und seinen Anzug gehörig zu ordnen, überhaupt alle Teile zu betrachten, wohin das Auge allein nicht reichen kann, um ihre Mängel zu entdecken. Er ist das notwendigste Möbel vom Palast bis zur Hütte geworden.
MUSIK 10: 1.1_5-illusionofchoice.mp3 – siehe vorn – 25 Sek
SPRECHERIN:
Je bedeutender und wichtiger es wurde, sich zu spiegeln, desto besser wurden auch die Spiegel selbst. Zunächst betrachtete man sich in polierten Kupferplatten, später wurde Kupfer durch Bronze ersetzt.
Im ersten Jahrhundert nach Christi stellte man dann die ersten Glasspiegel her. Diese wurden von Hand geblasen, wie Fabian Estermann erklärt:
O-TON 11 Fabian Estermann
Bereits zu dieser Zeit gab es dann schon die Glasbläserei und in diesen Glasballon wurde dann flüssiges Blei gegeben, was sich dann auf der Innenseite der Glaskugel dann sozusagen absetzte und damit diese benötigte Spiegelschicht bildete. Der Glasballon wurde dann anschließend zerteilt und diese Kleinteile wurden dann gerahmt, sodass sie besser handhabbar waren. Der Rahmen bestand geradezu Anfangszeiten, auch meistens aus Blei. Bedingt durch das Herstellungsverfahren waren diese Spiegel allerdings vergleichsweise klein, also sie hatten einen Durchmesser vielleicht von vier Zentimetern, und immer konvex, das heißt nach außen hin gewölbt, womit auch das Spiegelbild selber verzerrt war und sicherlich eben auch ein kleiner Nachteil gegenüber den Metallspiegeln, die doch eine ebene Fläche aufwiesen.
SPRECHERIN:
Deshalb existierten Metall- und Glasspiegel auch bis ins 17. Jahrhundert nebeneinander. Erst das so genannte Schmelz-Gussverfahren aus Frankreich erlaubte es dann richtig große Glasflächen herzustellen, die dann mit Zinn verspiegelt wurden. Diese großen Spiegelflächen machten sich die Mächtigen der Zeit schnell zu Nutze:
Musik 11: Entrée pour la Maison de France – 19 Sek
Prunkvolle Spiegelsäle wie in Versailles, auf Herrenchiemsee oder in der Würzburger Residenz sollten Besucher beeindrucken und Macht demonstrieren. Neben der Repräsentation dienten Spiegel jetzt aber auch der bloßen Unterhaltung.
O-TON 12 Heidrun Alzheimer
Beim Adel waren außerdem verspiegelte Irrgärten noch sehr beliebt, so zur Unterhaltung, wenn man eine Gesellschaft gegeben hat, und dafür wurden extra sogenannte Spiegellabyrinthe angelegt und in ihnen täuschen großflächige Spiegel unendliche Korridore vor. Oder sie stellen auch Barrieren dar. Also man ist dann auf ein Spiegelbild zugelaufen in der Meinung, da geht es jetzt gleich weiter, da kommt man rechts oder links um die Ecke, und in Wirklichkeit war es eine Barriere, und man musste wieder umkehren. Für die einfachen Leute hat es ähnliche Einrichtungen gegeben, nämlich sogenannte Zerr-Spiegel. Gegen Eintritt konnte man in kleine Lachkabinette gehen und darin hat man sich dann in seinem Spiegelbild grotesk verzerrt gesehen, also extrem dick oder spindeldürr oder ganz stark verbogen.
Musik 12: Bella – 30 Sek
SPRECHER:
So wie der Spiegel also einerseits als Garant der Wahrheit und weiser Ratgeber wahrgenommen wird, so kann er auch genau das Gegenteil verkörpern: Spiegel können die Wahrheit verzerren, Durchgänge vortäuschen, die es sie gar nicht gibt, Größe und Weite vorgeben, wo in Wirklichkeit Enge herrscht. Und genauso können sie auch statt Wahrheit Unglück bringen oder auch zutiefst verunsichern.
O-TON 13 Heidrun Alzheimer
Auch ner abergläubischen Vorstellungen entspricht, dass man keinesfalls in einen zerbrochenen Spiegel reinschauen soll, also in einen Spiegelscherbe. Angeblich soll das Unglück bringen, der Mensch zerbricht selber an einer Krankheit oder an einem Unfall. Und früher gab es auch die pädagogische Vorschrift, dass man kleine Kinder bis zu einem Jahr niemals in einen Spiegel schauen lassen sollte, weil sonst bekämen sie Albträume, oder sie würden besonders eitle Menschen werden.
MUSIK 13: Nr. 1: The brides (orig.) – 1:06 Min
SPRECHER:
Ist es nicht auch merkwürdig, dass wir im Spiegel etwas sehen, das einerseits existiert, sich bewegt, da ist und andererseits nicht da ist, nicht zu greifen ist? Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb man dem Spiegelbild lange eine eigene Existenz zusprach, es als etwas Geisterhaftes, aber irgendwie doch Wirkliches ansah. Häufig wird das Spiegelbild auch als ‚Seele des Menschen‘ bezeichnet, ist also gerade nicht bloßer Schein, sondern etwas Höheres, vielleicht auch Reineres als der Mensch als Ganzes. Vampire haben dementsprechend kein Spiegelbild und verliert ein Mensch sein Spiegelbild wie z.B. in Erzählungen des Romantikers E.T.A. Hoffmann, dann hat er sich selbst verloren.
MUSIK 14: Bella – siehe vorn – 31 Sek
SPRECHERIN:
Je länger man sich mit dem Spiegel befasst, desto facettenreicher und widersprüchlicher erscheint er.
Doch, ob Wahrsager, Wegbereiter, Lügner oder Unglücks-Bringer – letztlich ist das, was wir im Spiegel sehen, doch immer wieder nur ein Abbild unserer selbst, unserer eigenen Sehnsüchte, Vorstellungen und Irrtümer.
Die Sommer der Kindheit haben scheinbar ewig gedauert. Und auch die Jugend war eine Lebensphase, in der Zeit reichlich vorhanden war und nur sehr langsam verging. Aber je älter wir werden, desto mehr rasen die Jahre dahin. Woran liegt das? An Routinen und Automatismen, die sich im Laufe des Lebens etablieren? Autorin: Daniela Remus
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Anja Scheifinger
Es sprach: Caroline Ebner
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Jacob Bellmund, Max Planck Institut für Kognition und Neurowissenschaften
Prof. Tatjana Tchumatchenko, Neurowissenschaftlerin, Universität Bonn
Dr. Marc Wittmann, Zeitforscher, Universität Freiburg
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Die Welt in unter 30 Minuten besser verstehen? Das geht nicht? Doch, das zeigt der tagesschau Podcast 11KM.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO (Freibad im Sommer draussen)
SPRECHERIN
Pommes, ein mit Eis verschmiertes Handtuch, Süssigkeiten und der Geruch von Sonnencreme.
ATMO (Freibad im Sommer draussen)
SPRECHERIN
Wie habe ich die Sommer früher genossen. Mit Freundinnen und Freunden lagen wir stundenlang auf der Wiese des Freibads. Rannten gemeinsam zum Sprungbecken, übten elegante Köpfer und wasserspritzende Arschbomben. Und irgendjemand wurde jedes Mal mit großem Geschrei von den anderen ins Wasser geworfen…
ATMO (Freibad im Sommer draussen)
SPRECHERIN
In meiner Erinnerung dauerten diese Sommer eine gefühlte Ewigkeit.
Atmo Schlitten?
Aber auch die Winter währten grenzenlos lange. Im Rückblick kommt es mir so vor, als hätten wir monatelang Schneemänner gebaut und seien Schlitten gefahren. Aber je älter ich werde, desto kürzer werden nicht nur die Sommer und Winter, nein, ganze Jahre schnurren in meiner Erinnerung zusammen, wie ein Luftballon, dem Luft entweicht.
TAKE 1 (O-Ton Wittmann) L. 0, 15
Wenn wir rückblicken auf Zeitintervalle, dann ist der entscheidende Faktor für unser Gefühl für Dauer oder wie schnell ein Intervall vergangen ist, das Gedächtnis.
SPRECHERIN
Erklärt Dr. Marc Wittmann. Er ist einer der wenigen Forschenden in Deutschland, der sich mit der Wahrnehmung von Zeit beschäftigt. Und zwar am Institut für Grenzgebiete der Psychologie an der Universität Freiburg. Der Psychologe hat herausgefunden, dass vor allem das, was neu ist, vom Gedächtnis besonders intensiv gespeichert wird.
TAKE 2 (O-Ton Wittmann) L: 0, 35
Und das erklärt uns auch, warum wir in der Kindheit, im Jugendalter, aber auch im frühen Erwachsenenalter das Gefühl haben, die Zeit war viel länger, wenn wir jetzt zurückblicken, weil so viel Neuartiges passiert ist. Also der erste Kuss, das erste Bier mit den Spezln. Dann ziehen wir aus dem Elternhaus aus, machen eine Ausbildung, Studium etc. diese ganzen Dinge sind so neuartig und einzigartig erst einmal, dass die ganz besonders im Gedächtnis haften bleiben. Und wenn wir uns dann zurückerinnern, dann kommt uns das so lang vor!
SPRECHERIN
Die Erinnerung an meine scheinbar endlose Kinderzeit ist also erst einmal gar nichts Besonderes. Dass ich mich an vermeintlich grenzenlose Sommer erinnere, an nicht endenwollende Schuljahre liegt nicht daran, was genau ich als Kind und wie erlebt habe, sondern vielmehr daran, wie das menschliche Gehirn arbeitet, und damit auch meins, erklärt Prof. Tatjana Tchumatchenko, Neurowissenschaftlerin an der Universität Bonn:
TAKE 3 (O-Ton Tchumatchenko) L: 0,30
Das Gehirn kennt nur die Aktivität in den einzelnen Bereichen des Gehirns. Also im visuellen Cortex, im auditorischen Cortex, im Bereich, der für Gefühle zuständig ist… also alle Areale liegen dem Gehirn vor und anhand dieser Aktivität in diesen Arealen und der Frage wie komplex, wie aktiv das Gehirn insgesamt ist, anhand dieser Aufnahme schätzt das Gehirn, wie lange etwas gedauert hat.
Musik Flatliners Länge: 0´15´
SPRECHERIN
Und je mehr komplexe Sinneseindrücke das Gehirn verarbeiten muss, desto länger kommt uns die vergangene Zeit vor. Und zwar im Rückblick, wenn wir uns erinnern.
TAKE 4 (O-Ton Tchumatchenko) L. 0, 15
Je komplexer, desto länger wird es für uns erscheinen: Das heißt, wenn wir an die Schulzeit zurückdenken, der erste Schultag kommt unser immer länger vor als der letzte Schultag. Weil der erste Schultag viel mehr Eindrücke hervorgerufen hat, viel mehr Emotionen, viel mehr Sachen waren neu.
Musik Flatliners Länge: 0´52´
SPRECHERIN
Die Wahrnehmung und Einordnung einer Zeitdauer ist immer eine Rekonstruktion. Das Gehirn stellt sie her, indem es – vereinfacht gesagt - auf seine Gedächtnisinhalte zurückgreift. Denn wir Menschen haben keinen Sinn für die Zeit, so wie wir Augen für das Sehen und Ohren für das Hören haben. Und Erlebnisse, die uns überrascht haben, die uns emotional besonders berührt oder erschreckt haben, werden besonders intensiv erinnert. Deutlich besser als banale Erlebnisse der Alltagsroutine. Diese Eigenschaft des Gehirns ist ein entscheidender Grund dafür, warum es den meisten von uns so vorkommt, als verginge die Zeit immer schneller, je älter wir werden, erklärt Zeitforscher Marc Wittmann:
TAKE 5 (O-Ton Wittmann) L: 0, 20
Wenn wir älter werden, dann kommen wir immer mehr in die Falle der Routine, dann sind wir vielleicht 30 Jahre am selben Arbeitsort, im selben Job, und dann werden nicht mehr so viele Dinge als besonders eingespeichert und deswegen kommen uns dann Zeitintervalle irgendwie relativ kürzer vor.
Musik Pulsating environments Musik Flatliners Länge: 0´37´´
SPRECHERIN
Selbst Jahre, in denen wir, objektiv betrachtet, sehr viel in unserem Leben bewältigt haben, etwa mit frühem Aufstehen, Schulbrote schmieren, Kinder pünktlich zur Schule schicken, Wohnung aufräumen, im Job bestehen, aber auch darauf achten, dass der Kühlschrank gefüllt ist, die alten Eltern besucht, Freunde und Partner nicht vernachlässigt werden: Solche Jahre schnurren oft in der Erinnerung zu kurzen Intervallen zusammen. Weil es nicht ausschließlich die Vielzahl von Erlebnissen ist, die die Zeit im Rückblick dehnt, sondern ganz offenbar auch deren Qualität:
TAKE 6 (O-Ton Wittmann) L: 0, 30
Gerade das mittlere Erwachsenenalter ist eigentlich das, wo wir auch den meisten Zeitdruck spüren und die meisten Dinge tun, die Überladung durch einerseits Arbeit, weil wir irgendwo versuchen uns eine gute Position zu ergattern, gleichzeitig vielleicht Familie, Kinder und das muss man alles gleichzeitig unter einen Hut bringen. Da macht man eigentlich besonders viel, aber trotzdem haben wir das Gefühl im Vergleich zu vor 10, 20, Jahren, dass die Zeit trotzdem schneller geht.
SPRECHERIN
Und das liegt daran, dass das Neuartige, das Besondere, das Intensive an dem Erlebten fehlt. An die Geburt meiner Kinder kann ich mich beispielsweise noch sehr detailreich erinnern, aber die vielen durchwachten Nächte danach sind in der Rückschau nur noch eine Episode, eben weil sie in dieser Lebensphase zur Routine des Alltags fest dazugehörten
TAKE 7 (O-Ton Tchumatchenko) L 0, 35
Wir haben ja festgestellt, dass die komplexe Aktivität, die wir erlebt haben, zu einer komplexen neuronalen Aktivität führt. Und dass diese komplexe neuronale Aktivität zu dieser Fehleinschätzung führt, dass sie länger gebraucht hat in dem Ablauf. Das heißt, unsere Erinnerungen später sind mit einem Tack versehen, der heißt, das ist eine längere Phase gewesen, die wir hier abgespeichert haben.
SPRECHERIN
Wird diese Erinnerung aus dem Langzeitgedächtnis in den aktiven Teil des Gedächtnisses zurückgerufen, so Tatjana Tchumatchenko, dann liefert das Gedächtnis nicht nur die Komplexität und Qualität dieses Erlebnisses mit, sondern auch die damalige Zeitwahrnehmung.
Musik Summer lights Länge: 0´36´´
Dieser Prozess ist dafür verantwortlich, weshalb beispielsweise der erste Konzertbesuch oder der erste Schultag in der Erinnerung Stunden länger gedauert haben, als das erste Konzert, das ich mir auf dem Fernseher oder im Kino angeschaut habe. Denn die Komplexität dieser filmischen Sinneseindrücke ist extrem viel reduzierter als die eines „echten” Konzertbesuchs. Und diese verschiedenen Sinneseindrücke prägen die Zeitwahrnehmung, wie die Forschenden in einfachen Experimenten zeigen konnten:
TAKE 8 (O-Ton Tchumatchenko) L. 0,15
Was auch in Versuchen sehr schön zu sehen ist, ist, wenn wir die gleiche Aufgabe die Probanden durchführen lassen, beim ersten Mal werden sie abgelenkt durch andere Reize, wird diese Aufgabe ihnen länger erscheinen als bei Kontrollversuchen ohne Ablenkung.
Atmo Straßenverkehr
SPRECHERIN
((Und das erklärt auch, warum beispielsweise Wege, die wir das erste Mal gehen, uns länger erscheinen als der Rückweg derselben Strecke. Weil wir dann alles genau anschauen: Die Bäume an der Straße und die Baustelle, spielende Kinder im Park oder die vielen LKW, die sich auf der rechten Spur stauen.)) Dieses Abspeichern der vielen, unterschiedlichen Sinneseindrücke ist auch der Grund dafür, warum wir eine Wochenend-Reise in eine uns vorher unbekannte Gegend oder Stadt im Gedächtnis als viel gedehnter speichern, als ein gemütliches Wochenende zuhause, an dem wir vor allem Kleinkram erledigen. In der Erinnerung ging das in Windeseile vorbei.
MUSIK Hidden Länge: 0´43´
SPRECHERIN
Beim Rückblick in meine Kindheit erinnere ich mich auch noch an endlos erscheinende Tage, die sich aber von den ereignisreichen deutlich unterschieden haben. Beispielsweise fallen mir Sonntage ein, an denen rein gar nichts passiert ist, und die sich endlos hinzogen. An denen nichts los war, außer vielleicht ein Spaziergang mit meinen Eltern. Das komplette Gegenteil also von einer ereignisreichen Zeit. Wie passt das zu den bisher gehörten Erkenntnissen der Zeitforscher?
TAKE 9 (O-Ton Wittmann) L: 0,15
Das ist das Im-Moment-Erleben. Was Sie erinnern in Ihrer Kindheit, die langweiligen Momente, das ist die Erinnerung an die Langeweile. (…) eher so, oh da war mir langweilig …
SPRECHERIN
Sagt Marc Wittmann von der Universität Freiburg:
TAKE 10 (O-Ton Wittmann) L: 0, 15
Das ist eben ein bisschen was anderes: Wie kommen wir zu unserem Gefühl der Langeweile? Dass wir im Moment, nicht rückblickend, im Moment auf die Zeit achten und wenn ich auf die Zeit achte, dann wissen wir, vergeht sie viel langsamer.
SPRECHERIN
Und daran erinnern wir uns später.
Musik schnell-langsam oder Metronom im Wechsel
Zeit kann nicht nur in der Erinnerung, sondern auch im aktuellen Erleben extrem unterschiedlich wahrgenommen werden: Mal schnell und mal sehr langsam vergehend.
MUSIK Hidden Länge: 0´40´
Und so, wie wir sie im Moment erleben, so wird sie dann auch erinnert. Deshalb kommen uns langweilige Tage auch in der Erinnerung noch als zäh und langweilig vor, weil wir uns an das Gefühl der erlebten Langeweile erinnern. Und die kommt dadurch zustande, dass wir auf uns selbst zurückgeworfen werden. Jede und Jeder kennt diese simplen Beispiele: Stehe ich allein und dann noch bei eisiger Kälte oder heftigem Regen wartend an einer Bushaltestelle, dann sind selbst 5 Minuten ellenlang und quälend. Warte ich dagegen gemeinsam mit einer Freundin, rede mit ihr über das bevorstehende Wochenende, dann gehen diese 5 Minuten richtig schnell vorbei.
TAKE 11 (O-Ton Wittmann) L 0, 30
Worauf achte ich, wenn ich auf die Zeit achte? Das ist ja schon ein Rätsel als solches, selbst wenn ich die Uhr vergessen hab, und ich die Zeitangabe auf meinem Handy nicht beachte, trotzdem erlebe ich die Zeit. Wie komme ich zu meinem Gefühl der Zeit? Des Rätsels Lösung ist, wie die neuesten Metaanalysen von Studien zeigen, dass das etwas mit der Körperwahrnehmung zu tun hat.
SPRECHERIN
Bereits vor rund 15 Jahren hat der Freiburger Psychologe Marc Wittmann mit Untersuchungen zeigen können, dass vor allem ein bestimmtes Areal im Gehirn dafür verantwortlich ist, wie wir in einem konkreten Moment die Zeit wahrnehmen. Dieses Areal ist die sogenannte Insula. Auch Inselrinde oder insulärer Cortex genannt. Dabei handelt es sich um ein kleines Hirnareal, das auf beiden Seiten der Großhirnrinde situiert ist:
TAKE 12 (O-Ton Wittmann) L: 0, 30
Die ist das primäre Organ für unsere Körperwahrnehmung. So wie wir ein primäres Organ im Gehirn für das Sehen und Hören haben, gibt es auch einen fürs Körperfühlen. Ob mir kalt ist oder heiß, wenn ich Schmerzen hab, wenn ich Hunger hab, wenn ich Durst hab, dann ist die Insel sehr aktiv, durch die Signale, die aus den Körper dort zusammenlaufen.
Musik Stock up Länge: 0´54´
SPRECHERIN
Ob ich müde oder schlecht gelaunt bin, den Wadenmuskel gezerrt habe oder heiter und voller Vorfreude auf das Treffen mit Freunden bin, diese Informationen werden im Körper gesammelt und dann zum insulären Cortex geschickt. Und aus all diesen Gefühlen, Eindrücken und Informationen entsteht die Körperwahrnehmung und daraus wiederum das sogenannte Körperselbst. Wenn ich mich auf meinen Körper fokussiere, eben weil ich beispielsweise lange auf den Bus warten muss und die Kälte oder den Hunger spüre, oder weil ich starke Schmerzen habe, dann hat das auch Auswirkungen auf meine Wahrnehmung der Zeit. Diese Erkenntnis von Marc Wittmann ist in der Zwischenzeit von anderen Forschenden bestätigt worden. Die Zeit vergeht bei der Hinwendung auf das Körperselbst scheinbar deutlich langsamer, als wenn ich viel zu tun habe:
TAKE 13 (O-Ton Wittmann) L: 0, 15
Wenn ich nicht auf mich achte, weil ich abgelenkt bin, z.B. weil ich jetzt mein Handy zücke und mal schaue, was so die neuesten Nachrichten sind, dann bemerke ich mich nicht mehr… und die Zeit vergeht plötzlich ganz schnell.
SPRECHERIN
Neben dem Zeitgefühl in der Erinnerung oder der Zeitwahrnehmung im konkreten Moment gibt es noch eine weitere Ebene des zeitlichen Erlebens, wie die Forschenden herausgefunden haben. Denn selbst wenn wir ohne Uhr oder anderen Zeitangaben unterwegs sind, können wir Zeiträume relativ gut einschätzen.
TAKE 14 (O-Ton Tchumatchenko) L: 0, 15
Wenn wir wissen, wir müssen um eine bestimmte Zeit dort sein, bedeutet das nicht für das Gehirn, dass es genau weiß, wie viele Minuten exakt es bis zu diesem Ereignis sind, sondern wir denken in Handlungsabfolgen.
SPRECHERIN
Erklärt die Neurowissenschaftlerin Tatjana Tchumatchenko:
TAKE 15 (O-Ton Tchumatchenko) L: 0, 20
Wir wissen, aha, ich muss zur Arbeit erscheinen. Das heißt, ich muss zuallererst aus der Tür rausgehen, die U-Bahn besteigen, dann muss ich aus der U-Bahn rausgehen, das heißt, wenn wir ein bestimmtes Ereignis in einer bestimmten Zeit erreichen wollen, müssen wir es in eine Handlungsanweisung übersetzen. Und diese Handlungsanweisung ist das, was das Gehirn abspeichert.
Musik Stock up Länge: 0´31´
SPRECHERIN
Und deshalb kann das Gehirn aus Erfahrung mit einer gewissen Ungenauigkeit abschätzen, wieviel Zeit beim Zähneputzen, Anziehen oder beim Kaffeetrinken vergeht und wieviel Zeit uns dann noch bleibt, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Dieses Denken in Handlungsabfolgen hilft aber nicht nur dabei, sich in der Zeit – auch ohne Zeitmesser – zu orientieren, sondern auch dabei, Ereignisse zeitlich einzuordnen. Dazu hat Dr. Jacob Bellmund geforscht. Er arbeitet am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig:
TAKE 16 (O-Ton Bellmund) L: 0, 30
Wir haben keinen direkten Sinn für Zeit, aber für unser Gehirn ist Zeit oder Rhythmen natürlich sehr wichtig. Auf verschiedenen Ebenen. Wenn mir jemand einen Ball zuwirft, muss ich ganz präzise abschätzen können, wann der bei mir ankommt, wenn ich ihn fangen will, oder anderseits steuert unser Gehirn auch die Ausschüttung von Hormonen, in einem zirkadianen Rhythmus in unserem 24 Stunden Tag-Nacht-Rhythmus.
SPRECHERIN
Dieser zirkadiane Rhythmus wird umgangssprachlich auch als innere Uhr bezeichnet. Und sie ist existentiell für uns, weil sie lebenswichtige Vorgänge im menschlichen Körper steuert. Aber damit ist der Mensch keine Ausnahme, selbst kleinste Lebewesen wie Einzeller verfügen über einen inneren Biorhythmus, der ihren Tagesablauf regelt. Die innere Uhr des Menschen hat einen Rhythmus von ungefähr 24 Stunden, erklärt Zeitforscher Marc Wittmann:
TAKE 17 (O-Ton Wittmann) L: 0, 30
Die chronobiologische Uhr, die unseren Schlaf-Wach-rhythmus steuert, die uns über 24 Stunden quasi organisiert, physiologisch aber auch psychologisch, ist tatsächlich eine echte innere Uhr. Von der eigentlich all unser Befinden und unser Denken aber auch die ganz basalen Körperprozesse wie Verdauung, abhängen, oder Temperaturregelung, und das hält uns, in Synchronizität mit dem, was draußen passiert.
SPRECHERIN
Und selbst wenn Menschen ohne Tageslicht und andere äußere Einflüsse über einen längeren Zeitraum leben müssen, dann, so haben Experimente in den 1960er Jahren gezeigt, gibt die innere Uhr weiter den Takt an. Sie verrutscht dann zwar leicht, um bis zu eine Stunde, aber sobald die äußeren Einflüsse wie Tageslicht wieder da sind, gleicht sich die innere Uhr an den Tag-Nacht-Rhythmus der Umgebung wieder an. Ist diese innere Uhr vielleicht auch dafür verantwortlich, dass wir Erinnerungen zeitlich korrekt einordnen können? Ist sie eine Art biologisches Zeit-Korsett, in das alle anderen Zeitwahrnehmungen eingefügt werden? Nur teilweise, sagt der Psychologe Jacob Bellmund:
TAKE 18 (O-Ton Bellmund) L: 0, 20
Wir nutzen unser Wissen über den Kontext oder über verwandte Ereignisse, was wir getan haben oder etwas, was ähnlich damit zu tun hat. Und können darüber dann damit zu einem Schluss kommen, wann etwas passiert ist. Weil das aber so ein Rekonstruktionsprozess ist, ist das natürlich auch fehlerhaft, oder fehleranfällig.
SPRECHERIN
Die Erinnerung an die Dauer von vergangenen Ereignissen ist also nicht ausschließlich eine Gedächtnisleistung. Um sie zeitlich richtig einzuordnen, bedarf es darüber hinaus einer sogenannten psychologischen Rekonstruktion, wie Jacob Bellmund diesen Prozess nennt.
M Far away Länge: 1´38´
Ein einfaches Beispiel: Ich frage mich, wann meine Mutter das letzte Mal angerufen hat. An welchem Wochentag und um wieviel Uhr war das? Die Antwort darauf erschließe ich mir, indem ich die Erinnerung an andere Ereignisse zuhilfe nehme. Montag kann es nicht gewesen sein, da saß ich den ganzen Tag im Zug, heute ist Mittwoch, also muss es gestern am Dienstag gewesen sein. Angerufen hat sie am Abend. Vorher habe ich die Tagesschau geguckt, bin aber schon ausnahmsweise gegen 22 Uhr ins Bett gegangen, weil ich so müde war. Also hat meine Mutter vermutlich gegen 21 Uhr angerufen, rekonstruiere ich. Und so machen wir es alle, um Ereignisse in den Tages- oder Jahresablauf einzuordnen, wenn wir die genaue Uhrzeit oder das konkrete Datum nicht kennen.
MUSIK nochmal hoch
SPRECHERIN
Manchen Menschen gelingt es besser, anderen schlechter, sich zeitlich zutreffend an Vergangenes zu erinnern. Auch das kann am Alter liegen, daran, dass sich Tages-, Wochen- oder Jahresabläufe ähneln, dass wir das Gefühl haben, die alte Tante doch erst neulich besucht zu haben. Beim Nachsehen im Kalender aber feststellen, dass seither schon wieder drei Jahre vergangen sind. Denn die psychologische Rekonstruktion von Ereignissen funktioniert nur, wenn das Gedächtnis auf allen Ebenen intakt ist, wenn die verschiedenen Areale des Gehirns miteinander verknüpft sind.
Bei dementiell Erkrankten geraten die Zeitwahrnehmung, das Zeitgefühl und auch die Zeitabläufe durcheinander. Mit schwerwiegenden Auswirkungen auf das tägliche Leben.
TAKE 20 (O-Ton Tchumatchenko) L: 0, 30
Wir können z.B. das, was wir aktuell erleben, nicht mehr so gut in das Langzeitgedächtnis überführen, und das, was im Langzeitgedächtnis bereits ist, wird dabei leichter wieder in das aktuelle Geschehen eingebaut. Und dadurch vermischt sich Vergangenheit und Gegenwart in einer Art und Weise, die nicht ganz korrekt ist. Die aktuellen Erlebnisse müssten stärker gewichtet werden, werden sie aber nicht, sondern überschrieben, von dem Recall, von dem Abrufen der Vergangenheit.
SPRECHERIN
Und das führt dazu, dass sich die zeitlichen Ebenen vermischen. Ereignisse, die vor Jahrzehnten stattgefunden haben, scheinen für die Betroffenen erst kürzlich geschehen zu sein. Eine Erzählung beginnt in der Gegenwart, endet aber mit der Beschreibung einer längst vergangenen Situation. Diese extremen Krankheitsfälle machen deutlich, wie sehr uns unser Zeitgefühl prägt. Auch wenn uns das im Alltag in der Regel gar nicht bewusst ist: Ein unsichtbarer Zeitmesser läuft das ganze Leben über mit, sortiert, bewertet, ordnet und hilft bei der Orientierung. Wie sehr wir vom Zeitgefühl abhängen, wird im Extremfall einer Demenz sichtbar, wenn mit dem Zeitgefühl und dem Gedächtnis für die Betroffenen scheinbar das ganze Leben verloren geht.
TAKE 21 (O-Ton Wittmann) L: 0, 15
Die Zeit geht ja nach vorwärts, in Richtung Tod, in Alter und Tod. Es heißt, es hat durchaus eine positive Komponente, wenn ich das Gefühl habe, ich habe lange gelebt, ich habe positiv gelebt, emotional positiv gelebt, ich habe etwas erlebt.
SPRECHERIN
Mit dem Gedächtnis gehen die Erinnerungen verloren und das Zeitgefühl. Das Leben schnurrt zu einer kurzen Abfolge von Kindheit und Alter zusammen. Und das erleben viele Betroffene als ausgesprochen deprimierend und verstörend.
MUSIK Flatliners Länge: 1´39´
SPRECHERIN
Dass die Zeit für uns existentiell ist, haben bereits die griechischen Philosophen in der Antike formuliert. Und heftig darüber gestritten, ob die Zeit tatsächlich objektiv existiert oder ob sie subjektiv zu begreifen ist. Forscher und Neurowissenschaftlerinnen von heute betrachten das Zeitgefühl in jedem Fall als existentiell für das menschliche Leben. Ohne Zeitgefühl und die Wahrnehmung von zeitlichen Abläufen können wir weder denken noch planen oder uns selbst als Individuen in der Zeit wahrnehmen.
MUSIK kurz hoch
SPRECHERIN
Um mit dem fortschreitenden Alter nicht ständig das Gefühl zu haben, dass die Jahre nur so dahinrasen, und uns die Zeit und das ganze Leben abhandenkommen, haben die Forschenden ganz konkrete Tipps: Ich soll etwas Neues anfangen, mich in ungewohnte, neue Situationen begeben. Das kann eine Reise sein, am besten ohne vorher alles durchzuplanen, der Besuch einer ungewöhnlichen Veranstaltung. Aber auch eine Fremdsprache zu erlernen oder ein Instrument ist ein gutes Mittel, um das Zeitgefühl auszutricksen und zu verlangsamen. Oder eine langweilige Situation erzeugen: Zwischendurch einfach Mal nichts zu tun, ohne Handy, Buch, Musik oder Fernseher - einfach nur nichts tun. Und ganz bewusst erleben, wie langsam die Zeit vergeht, wie lang eine Minute sein kann.
Atmo Wasserpflatscher
Vielleicht fast so lang wie damals in der Kindheit, im Sommer, im Freibad, als die Zeit scheinbar ewig währte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg der Dollar zur weltweiten Leitwährung auf. Für die US-Amerikaner ist das eine sehr komfortable Situation. So können sie etwa US-Boykotte de facto weltweit durchsetzen. Denn vom dollarbasierten Finanzsystem abgeschnitten zu sein, kann sich kaum ein Staat oder größeres Unternehmen leisten. Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Jennifer Güzel, Peter Lersch
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Kai Koddenbrock, Politikwissenschaftler
Tobias Heidland, Ökonom und Professor am Institut für Weltwirtschaft Kiel
Sandra Heep, Politikwissenschaftlerin und Professorin an der Hochschule Bremen
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Lasziv, also frech, unanständig und verspielt nennt der römische Rhetoriker Quintilian die Metamorphosen des Ovid. Vielleicht sind dessen Verwandlungsgeschichten gerade deshalb ein literarischer Dauerbrenner. Seit 2000 Jahren regen die Metamorphosen Musiker, Maler, Bildhauer und Dichter immer wieder zu neuen Werken an. Von Simon Demmelhuber (BR 2024)
Credits
Autor dieser Folge: Simon Demmelhuber
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Loibl, Benedikt Schregle
Technik: Daniele Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Markus Janka, Professor für Klassische Philologie/Fachdidaktik der Alten Sprachen, Ludwig-Maximilians-Universität München
Die Übersetzungen aus dem Lateinischen verfasste Markus Janka.
Homer - Der erste Dichter des Abendlandes
Wer Homer wirklich war, ist heute umstrittener denn je. Traditionell gilt er als der Verfasser der ersten literarischen Werke des Abendlands, der Ilias und der Odyssee. Und damit ist er der auch der Urvater beinahe aller nervenaufreibenden Geschichten. Von Thomas Morawetz (BR 2016)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Hereinspaziert, verehrte Damen und Herren! Treten Sie näher, treten Sie ein!
SRECHER
Willkommen in Ovids Varieté der Verwandlungen!
SPRECHERIN
Sehen Sie selbst, wie Götter, Heroen und Menschen vor Ihren Augen zu Tieren, Pflanzen, Sternen und Steinen mutieren.
SPRECHER
Beklagen Sie Daphne, die zum Lorbeerbaum wird, um der Liebestollheit Apolls zu entkommen.
SPRECHERIN
Beweinen Sie Arachne, die gekränkter Götterstolz zum Leben als haarige Spinne verdammt.
SPRECHER
Lassen Sie sich rühren von Philemon und Baucis, denen gastfreie Güte die Gnade erwirkt, in Baumgestalt einander für immer zu lieben.
SPRECHERIN
Erschauern Sie mit Niobe, die der Schmerz über den Tod ihrer Kinder in einen weinenden Felsen versteinert.
SPRECHER
Betrauern Sie Byblis, die von Amor gedrängt, den eigenen Bruder begehrt. Von ihm verschmäht, zergeht sie in Tränen ewigen Kummers.
SPRECHERIN
Sie alle und zahllose mehr wechseln Form und Gestalt durch göttliches Wirken. Die einen zur Strafe, die andern zum Lohn, die Dritten zur Rettung.
SPRECHER
Nur eine Warnung vorweg: Hier geht es heftig zur Sache. Hier wird geliebt, gehasst, betrogen, gekämpft und gemordet. Hier toben Leidenschaften, hier waltet böses Geschick. Nichts bleibt, was es war, allein der Wandel besteht.
MUSIK 2 Tobi Morare: Ghetto Beat
SPRECHER
Das Licht erlischt, der Vorhang steigt. Bevor das Spiel beginnt, ehren wir den Prinzipal des Etablissements mit einem herzlichen Applaus. Begrüßen Sie nun den unvergleichlichen, einzigartigen Erzdichter Publius Ovidius Naso!
ATMO APPLAUS
43 vor Christus geboren, aus besten Verhältnissen stammend, vom Vater für die Ämterlaufbahn, von seinem Wesen aber zum Dichter bestimmt, fehlt ihm, wie er selbst gesteht, alles für die politische Karriere:
ZITATOR
Weder war mein Körper fähig, diese Arbeit zu ertragen, noch mein Verstand dafür angemessen, ständig war ich auf der Flucht vor Ehrgeiz und Stress.
SPRECHERIN
Mit knapp 20 Jahren legt er die Amores vor, eine Sammlung frivol-ironischer Liebesgedichte. Dem Erstling folgen die Ars amatoria, ein poetisches Lehrbuch der Liebeskunst und ein Remedia amoris betiteltes Arsenal hilfreicher Heilmittel für unglücklich Liebende. Die gefeierten Bücher festigen seinen Ruf als Experte für literarische Liebes- und Leibesnöte. Dann, um 8 nach Christus, vollendet er sein unsterbliches Großwerk:
ZITATOR
Publii Ovidii Nasonis Metamorphoseon Libri - Ovids Bücher der Verwandlungen
ATMO: APPLAUS
SPRECHER
Die Metamorphosen - das sind rund 250 raffiniert ineinander verwobene mythologische Geschichten, in denen Menschen, Nymphen, Satyrn und Helden von Göttern teils schützend, teils strafend in Tiere, Pflanzen und anderes verwandelt werden. Mit diesem Werk schafft Ovid eines der wirkungsmächtigsten Bücher der Welt.
SPRECHERIN
Seit 2000 Jahren regen Ovids Verwandlungsgeschichten Dichter, Komponisten, Maler und Bildhauer zu eigenen Werken und Deutungen an. Kein anderer antiker Autor hat ein auch nur annähernd fruchtbares Nachleben. Kein anderes Buch, die Bibel ausgenommen, hat seine Geschichten und Gestalten tiefer in die geistige DNA des Abendlandes eingeschrieben. Die in einen Lorbeerbusch verwandelte Daphne, der vom Himmel ins Meer gestürzte Ikarus,– Ovids verwandelte Körper sind in der europäischen Kunst allgegenwärtig.
SPRECHER
Er ist der meistgelesene, meistimitierte römische Autor des Mittelalters. Schon die im 11. und 12. Jahrhundert verfassten Carmina Burana nutzen den Fundus der Verwandlungsgeschichten. Später lassen sich Dichter aller Epochen von ihnen inspirieren. Dass die frühesten Opern Titel wie La Dafne, oder L'Orfeo tragen und Komponisten noch immer ovidische Stoffe vertonen, bezeugt eine musikalische Dauerpräsenz, die vom Frühbarock bis in die Gegenwart reicht.
SPRECHERIN
Am eifrigsten schöpfen Maler und Bildhauer aus den Metamorphosen. Bereits die Römer lassen Ovidmotive in Marmor meißeln, aus Bronze gießen und auf Wände malen. Seither ist die Kette künstlerischer Anleihen ungebrochen. Wie ertragreich das Werk war und ist, beleuchtet eine Inventur des Kunsthistorischen Museums Wien: 40 der rund 2000 Bilder des Gesamtbestands zeigen ovidische Verwandlungsszenen. Das reicht locker für Platz 2 nach der Bibel und macht Ovid zum wichtigsten Kunstflüsterer der westlichen Welt.
MUSIK 3 Ali N. Askin: Francis
SPRECHER
Die Erfolgsgeschichte hält nicht nur bis heute an, sie weitet ihren Wirkungskreis sogar kontinuierlich aus. Während die meisten antiken Texte allenfalls Fachwissenschaftler beschäftigen, inspirieren die Metamorphosen weiterhin Autoren, Theater- oder Ausstellungsmacher und neuerdings auch Video- und Performancekünstler. Darüber hinaus sorgen Comics, Zeichentrickfilme, Liebesratgeber und Videospiele für eine beispiellose Omnipräsenz in der Popkultur.
SPRECHERIN
Ovid und kein Ende! Ovid überall! Die Metamorphosen überspringen mühelos Generations- und Gattungsgrenzen. Aber wie lässt sich dieser crossmediale Dauer- und Breitenerfolg erklären? Warum gerade Ovid?
SPRECHER
Weil ihm mit den Metamorphosen ein zeitloses Meisterwerk gelungen ist, sagt Markus Janka, Professor für Klassische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen an der LMU München.
01 O-TON JANKA
Ovid schafft ein Epos ganz eigener Art, das es so noch nie gegeben hat: eine unglaubliche Plastizität, Anschaulichkeit, Eindringlichkeit, das ist schon etwas ganz Großartiges!
SPRECHERIN
Die Karriere der Metamorphosen beginnt als literarischer Befreiungsschlag. Bereits die Zeitgenossen des Dichters rühmen das Neuartige und Kunstvolle der Dichtung. Mehr als die eigenwillige Behandlung des mythologischen Stoffs oder die Archetypik der Gestalten wecken zunächst formale und stilistische Innovationen die Neugier der literarischen Öffentlichkeit.
SPRECHER
Dass er mit den Metamorphosen ganz bewusst Neuland betritt, stellt Ovid von Anfang an klar. Gleich die erste Zeile packt den Innovationshammer aus:
ZITATOR
īn nŏvă fērt ănĭmūs mūtātās dīcĕrĕ fōrmās / cōrpŏră
Neuem strebe ich zu, vom Wandel zu dichten der Formen in neue Körper.
SPRECHERIN
Was passiert da? Das ist doch nicht mehr der alte Ovid! Bislang hat er nur elegische Distichen, das für Liebeslyrik typische Versmaß verwendet. Jetzt schreibt er plötzlich Hexameter!
SPRECHER
In diesem Wechsel steckt ein ganzes Programm. Das Metrum, also die festgelegte Kombination langer und kurzer Silben, regelt nicht nur den rhythmischen Fluss. Für römische Ohren ist das Versmaß außerdem stark mit den literarischen Genres verknüpft, erklärt Markus Janka.
02 O-TON Janka
Das Versmaß konditioniert schon das, was man erwartet, und die kontinuierliche Abfolge von Hexametern in einer Langform ist das epische Versmaß schlechthin.
SPRECHERIN
Wenn Ovid nun durchwegs Hexameter einsetzt, ist die Botschaft klar: Er schreibt ein Epos! Er wagt sich an die Meistergattung der Literatur seiner Zeit und tritt in einer Disziplin an, in der Homer und Vergil die Standards setzen. Und diese Standards will er nicht nur kopieren. Ovid braucht es größer. So groß, dass seine knappe Vorrede dafür den Beistand der Götter erfleht:
ZITATOR
Helft mit Inspiration und führt die Erzählung vom ersten Ursprung des Kosmos fortlaufend herab bis zu meiner Zeit.
MUSIK 4 Flore Laurentienne: Point d’ancrage
SPRECHERIN
Damit ist der Plan raus: Ein Epos soll es sein, das Verwandlungen erzählt und dabei den Bogen spannt vom Anbeginn der Zeit bis in die Gegenwart. Da gibt es nur ein Problem: seinem Epos fehlt ein Held, den es besingen könnte.
SPRECHERIN
Stimmt! Aber Ovid bügelt das Manko genial aus. Sein Held ist ein universales Prinzip: der stete Wandel aller Wesen und Dinge.
SPRECHER
Damit beginnt zugleich die Verwandlung einer Gattung, die Vergil bislang mit seiner Aeneis als römischer Homer und größter Dichter des Imperiums dominiert.
03 O-TON Janka
Ohne Vergil ist Ovid nicht denkbar als Dichter. In fast jeder Zeile ein versteckter und öfter auch ein direkter Bezug auf dieses gigantische Vorbild, an dem er sich abarbeitet und der ihn inspiriert zu einer Art von Dichtung, die dann am Ende ganz anders ist.
SPRECHERIN
Was diese Dichtung derart neu und anders macht, dass sie nicht allein das Epos, sondern auch den Mythos verändert, zeigt die Geschichte von Pygmalion und Galatea.
MUSIK 5 Flore Laurentienne: La nuit bleue
SPRECHER
Pygmalion schnitzt eine Frauenfigur aus Elfenbein. Er verliebt sich in die Skulptur und nennt sie Galatea. Weil aber Galatea keine wirkliche Partnerin, sondern ein totes Bildwerk ist, bitter er Venus um eine Gattin, die der Statue gleicht. Die Göttin zeigt sich gnädig und verwandelt Galatea in eine lebendige Frau.
SPRECHERIN
Was Venus mit der Statue macht, macht Ovid mit dem Mythos: Er verwandelt mythologische Gestalten in Wesen, die von Gefühl und Leidenschaft gelenkt, ganz wie Menschen empfinden und handeln.
SPRECHER
Ovid reicht die alten Geschichten nicht einfach weiter. Er aktualisiert sie, spürt den Motiven, Auslösern und Folgen des Geschehens nach und gibt den erzählten Figuren eine Tiefe, die sie bislang nicht hatten.
04 O-TON JANKA
Er ist eben nicht jemand, der Mythos konserviert, sondern der vom Mythos geprägt immer die eigene Zeit bedenkt. Das mag jetzt als Anachronismus erscheinen, aber genau das ist es: dass Ovid der erste Dichter ist, der tatsächlich psychologisch nachfragt, was sich aus mythologischen Konstellationen ergibt.
SPRECHER
Das ist der entscheidende Punkt. Genau darum ist Ovid noch immer aktuell. Genau deshalb funktionieren die Metamorphosen nicht nur als literarisches Kunstwerk, und genau darum spielt es für viele Ovidfans auch absolut keine Rolle, in welcher Sprache sie die Geschichten lesen oder welches Medium sie ihnen erzählt.
SPRECHERIN
Ovid fasziniert uns noch immer, weil er das Verwandlungsmotiv nutzt, um menschliche Erfahrungen und Leidenschaften zu erkunden. Er lässt sein mythologisches Personal archetypische Gefühle und Situationen durchleben, die wir alle kennen und nachfühlen können. Und er stellt Fragen, die jeden Menschen angehen: Was machen Liebe und Hass mit uns? Was stellen Willkür, Kränkung und Missbrauch mit uns an? Wie verändern uns Schicksalsschläge und starke Emotionen? Und wie gehen wir damit um, dass nichts bleibt, wie es ist?
SPRECHER
Im Zentrum der mythologisch eingekleideten Menschenforschung steht dabei stets übergroß das Wesen und Wirken der Liebe, sagt Markus Janka.
O5 O-TON Janka
Immer und immer wieder Eros, immer und immer wieder Amor. Und zwar immer und immer wieder in den unterschiedlichsten Konstellationen, so dass auch schon der große Kommentator Franz Bömer gesagt hat, dass man die Metamorphosen als ein einziges Carmen amatorium, als ein episches Gedicht mit dem Thema Eros, mit dem Thema Amor bezeichnen kann.
MUSIK 6 Billie Eilish: Everything I Wanted
SPRECHER
Die Liebe in allen Facetten! Das ist Ovid! Liebeslieder und Liebeslehren gründen seinen Ruhm, tenerorum lusor amorum, einen Spielmann und Gaukler zärtlicher Launen der Liebe, nennt er sich selbst. Die Metamorphosen bleiben dieser Berufung treu, das Love-Lab der Verwandlungen wimmelt nur so von Paaren, die das Verwirrspiel menschlicher und göttlicher Liebesverstricktheit spiegeln.
SPRECHERIN
Philemon und Baucis, Orpheus und Eurydike, Ceyx und Alkyone, Pyramus und Thisbe – der Musterkatalog ist reich bestückt. Nahezu jede gelungene oder gescheiterte Paarung, derer die Liebe fähig ist, findet ihre Gestalt und Geschichte. Ehelust und Ehefrust, Begehren und Abscheu, Hetero- und Homosexualität, Inzest und Gewalt, Glückseligkeit und Schmerz, Geilheit und Missbrauch – was immer Venus, Eros und Amor im Guten oder Schlechten anrichten – Ovid hat alles auf dem Schirm.
MUSIK 7 Ensemble Modern: A Pig With Wings
SPRECHER
Die radikale Neufassung der mythologischen Tradition verändert auch die Träger des klassischen Epos. Allem Heldengetöse, allem, was allzu waffenstolz prahlt und scheppert, lässt Ovid genüsslich die Luft aus. Die beste Gelegenheit bietet dazu die sehr eigenwillige, bisweilen burleske Schilderung des trojanischen Kriegs.
06 O-TON JANKA
Da wird dann alles gespiegelt, was in der Ilias dargestellt ist, aber immer subjektiv verdreht. Was eben früher als Makel angehängt wurde, ist ein unglaublich modernes Element, das uns heute anspricht, nämlich die subjektive Brechung dieser Gegenstände, die nicht unvermittelte Darstellung von Kampf und Krieg und Heldentod.
MUSIK 8 John Debney: Dying Hero
SPRECHERIN
Besonders arg erwischt es Achill. den zornigen Erzheroen des homerischen Trojaspektakels. Bei Ovid ist er eine dumpfe Kampfmaschine, ein Aufschneider und blutrünstiger Wüterich. Einer, der nach getanem Gemetzel gern mit seinen Kriegstaten prahlt. "Man kennt das", wirft Ovids Erzähler ein. "Worüber wüsste ein Achill sonst zu sprechen, und was gäbe es sonst schon groß über Achill zu sagen?"
MUSIK 9 Billie Eilish: No Time To Die
SPRECHER
Den finalen Schlag erhält der Superkrieger, nachdem er im Kampf gefallen ist und sein Leib verbrannt wird. Statt feierlicher Worte wirft ihm Ovid nur einen spöttischen Kommentar hinterher:
07 O-TON JANKA
Verheizt hatte ihn der Gott, der ihn vorher bewaffnete. Er war in Flammen aufgegangen durch genau den Gott, nämlich Vulkan, den Gott des Feuers und den Schmiedegott, der ihm zuvor die Waffen gegeben hatte.
SPRECHER
Aber einfach nur verheizen reicht nicht, Ovids Heroenkehraus setzt noch eins drauf:
ZITATOR
Schon ist er Asche. Was vom übergroßen Helden übrigbleibt, reicht kaum, um eine Urne zu füllen.
08 O-TON JANKA
Also das ist Ovid. Er kann das Große sehr klein machen, und das Kleine, Randständige kann er großartig entfalten, auch mit einem ganz tiefen psychologischen Einblick und Scharfblick.
SPRECHER
Verblüffend modern ist nicht nur die subjektive Umgestaltung der Tradition, verblüffend modern ist auch Ovids souveränes Spiel mit den Instanzen und Mitteln des Erzählens.
SPRECHER
Der Trick besteht zunächst darin, eine Vielzahl unterschiedlich langer Klein- und Kleinstgeschichten so kunstvoll miteinander zu verweben, dass sie wie aus einem Guss wirken.
SPRECHERIN
Zum Toolset des raffinierten Verknüpfungsmanagements gehört aber vor allem die Vielstimmigkeit der Metamorphosen. Statt eines Haupterzählers schaltet Ovid etwa 40 Binnen-, Neben- und Untererzähler ein, die sich unentwegt gegenseitig kommentieren, ergänzen und widersprechen.
09 O-TON JANKA
Das ist etwas ganz Wesentliches für Ovid: Dass es immer auch die Gegenstimme, immer auch die andere Stimme gibt. Das führt er weiter und modernisiert es, radikalisiert es. Dass wir also teilweise Untererzählungen bis zum vierten und fünften Grad haben, dass jeweils immer die eine Person die Geschichte der anderen erzählt.
SPRECHER
Das postmodern anmutende Spiel verschachtelter Erzählebenen und subjektiver Sichtweisen setzt sich auf der Figurenebene fort. Die Akteure schwingen Reden, streiten und diskutieren; Götter kommentieren von oben herab, Filous und Philosophen räsonieren über den Lauf der Dinge. Niemand hat den ganzen Überblick, niemand das alleinige Wort, alle weben gemeinsam am epischen Teppich der Metamorphosen.
SPRECHERIN
Deshalb hält Ovid nicht nur Philologen bei Laune. Und deshalb haben wir Ovid nicht längst ausgemustert und können seine Geschichten selbst in der Übersetzung und episodisch genießen.
SPRECHER
Ovid klingt seltsam vertraut. Seine Art zu schreiben nimmt vieles vorweg, was unsere Erwartungen an ein reflektiertes, vielstimmiges, perspektivenreiches und psychologisch grundiertes Erzählen erfüllt. Das überbrückt den zeitlichen Graben und macht die Metamorphosen auch für moderne Lese- oder Mediengewohnheiten zugänglich.
SPRECHERIN
Das alleine erklärt aber noch immer nicht, warum sich gerade die visuellen Künste so anhaltend und intensiv durch die Metamorphosen anregen lassen. Und es erklärt schon gar nicht, weshalb Video- und Performancekünstler diese Tradition fortsetzen. Für Markus Janka hat neben der psychologischen Vertiefung noch eine weitere Besonderheit den Metamorphosen zu ihrer beispiellos langen Wirkungsgeschichte verholfen:
010 O-TON JANKA
Für den gewaltigen Erfolg, den das Epos bis heute hat, ist seine Bildkraft das Mitentscheidende. Das was ein neuer Forscher Kino im Kopf genannt hat. Es gibt wohl kaum einen Dichter in der Antike, der so plastisch seriell erzählen kann.
SPRECHER
Was Ovid auszeichnet, ist eine stark visuelle, ausgesprochen szenische Erzählweise, die das Geschehen wie eine Textkamera abtastet und aus wechselnden Winkeln erfasst. Ein Musterbeispiel für diese Strategie, die wie eine erstaunliche Vorwegnahme filmischen Erzählens wirkt, ist die Geschichte von Daphne und Apoll.
MUSIK 10 Flore Laurentienne: Île-aux-Oies
SPRECHERIN
Die Kurzfassung geht so: Apoll kränkt Amor, der aus Rache zwei Pfeile abschießt. Ein goldener Pfeil trifft Apoll, der sich sofort unsterblich in die Nymphe Daphne verliebt. Ein zweiter, bleierner Pfeil trifft Daphne, löst aber keine Liebe, sondern unbezwingliche Abscheu vor Apoll aus. Es kommt, wie es kommen muss. Apoll jagt Daphne, die vor seiner Liebesbrunst flieht. Als sie erschöpft aufgibt, fleht sie ihren Vater, den Flussgott Peneios, an, sie vor der drohenden Vergewaltigung durch die Verwandlung ihres Körpers zu retten.
ZITATOR
Kaum ist die Bitte beendet, lähmt lastende Taubheit die Glieder,
Zarte Brüste umgürtet ein feiner Streifen von Rinde,
Laubwerk sind ihre Haare und Äste die Arme geworden,
und ihr Fuß, so geschwind, bleibt in starrem Wurzelwerk stecken,
ihr Gesicht hat ein Wipfel ersetzt ...
SPRECHER
Den Moment der Verwandlung, das Erstarren im Lauf, das Verholzen der Glieder, das Austreiben der Blätter und Einwurzeln der Füße, Apolls hilfloses Entsetzen haben Maler und vor allem Bildhauer immer wieder auffallend ähnlich gestaltet. Kein Wunder, meint Markus Janka:
011 O-TON JANKA
Dieses visuelle Erzählen spricht Maler, Bildkünstler unmittelbar an. Der Weg zum Baum wird durch die verschiedenen Körperteile, als wenn eine Kamera das aufnimmt, verfolgt. Aber diese Form der poetischen Verdeutlichung dieser Klärung, diese Verklärung im Wortsinn, dass etwas ganz klar und deutlich vor Augen geführt wird, das ist eine Eigenheit seiner Erzählkraft.
MUSIK 11 Flore Laurentienne: La nuit bleue
SPRECHER
Letztlich ist gerade dieser eine Moment der Verwandlung das Gravitationszentrum des gesamten Werks. Am Ende, im letzten der 15 Bücher, legt Ovid dem Philosophen Pythagoras eine Rede in den Mund, die den gedanklichen Kern prägnant verdichtet:
ZITATOR
Omnia mutantur nihil interit – Alles wird verwandelt, nichts vergeht!
SPRECHERIN
Das Gesetz des Wandels kennt keine Ausnahme. Es gilt universal, nichts und niemand entkommt. Nicht einmal Kaiser Augustus, der Stabilität, ewigen Frieden und ein Imperium sine fine, ein Reich ohne Ende und Grenzen verkündet.
SPRECHER
"Von wegen", werfen die Metamorphosen unüberhörbar ein. Wo der Wandel regiert, ist Dauer ein leeres Versprechen. Was aber bleibt? Was hat Bestand, wenn sich fortwährend alles verändert und sogar Kaiser Augustus seine irdische Herrschaft einbüßt? Ovid bleibt die Antwort nicht schuldig.
ZITATOR
Nun ist mein Werk vollendet, das kein Jupiterzorn und kein Feuer, keine Waffengewalt, kein Zahn der Zeit jemals auslöscht. Mein Name wird unaustilgbar, ich werde durch ewigen Nachruhm (..) leben.
SPRECHERIN
VIVAM! Ich werde leben! Das ist der selbstbewusste, über alle Daseinsschrecken und Machtwillkür hinausweisende Trost der Metamorphosen. Es ist die Antwort des Künstlers auf die Frage, was bleibt. Und es ist zugleich die triumphalste, die wichtigste aller Metamorphosen: Ovid hat sich in seine Dichtung verwandelt und ist in dieser Gestalt unsterblich geworden.
ATMO Applaus
MUSIK Tobi Morare: Ghetto Beat
SPRECHER
Hochverehrtes Publikum! Unser Stück ist zu Ende. Ovid aber lebt. Ovid fängt immer erst an. Daher gebührt ihm, bevor der Vorhang fällt, ein allerletztes Wort in eigener Sache. Es ist die Inschrift, die er sich als Grabspruch schrieb für ein Grab, das wir nicht kennen:
ZITATOR
Hier liege ich, Naso, der Dichter, ein Spielmann der zärtlichen Liebe. Ich bin durch meine Kunst umgekommen. Falls aber du, der du vorbeigehst, jemals geliebt hast, sag einfach leichthin: Mögen Nasos Gebeine sanft ruhen.
Gutes Benehmen macht das Leben leichter, da sind sich viele einig. Anders ist das bei der Frage, was darunter zu verstehen ist. Im diplomatischen Protokoll aber ist die Etikette genau festgelegt. Für Staatsbesuche gibt es so genaue Vorschriften, in denen etwa geregelt ist, wer bei einem Bankett wo und neben wem sitzt. Autorin Carola Zinner (BR 2021)
Credits:
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Katja Bürkle, Friedrich Schloffer, Gudrun Skupin
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Zart waren die Musslinkleider des französischen Empire. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die bürgerliche Gesellschaft den repräsentativen Prunk des Absolutismus abgestreift. Ein Hauch von gesellschaftlicher Emanzipation und körperlicher Freiheit - der unter Kaiser Napoleon fast wieder verwehte. Von Barbara Knopf (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Barbara Knopf
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Irina Wanka, Christian Schuler
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Barbara Vinken, Modetheoretikerin, Literaturwissenschaftlerin LMU München
Andrea Klug, Kunst- und Modehistorikerin
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Revier markieren, paarungswillige Artgenossen anlocken, vor Gefahren warnen - für viele Tiere sind Gerüche überlebenswichtig. Manche Insekten wie Ameisen organisieren per Duftstoff sogar einen ganzen Staat. Am Duft wird Feind oder Freund erkannt. Doch Düfte werden zur Tarnung auch kopiert. Von Maike Brzoska (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Anja Scheifinger
Es sprach: Katja Schild
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Jürgen Heinze, Professor für Zoologie und Evolutionsbiologie an der Universität Regensburg
Thomas Schmitt, Professor für Zoologie an der Universität Würzburg
Marc Spehr, Professor für Chemosensorik an der RWTH Aachen
Lisa M. Schulte, Professorin für Zootierbiologie an der Universität Frankfurt
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Eifersüchtiger Ehemann? Extrem anhängliche Freundin? Immer häufiger werden Beziehungen als toxisch bezeichnet. Alles nur Küchenpsychologie? Oder hilft es uns negative Beziehungen zu reflektieren und emotionalen Missbrauch öffentlich zu machen? Von Johanne Burkhardt (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Johanne Burkhardt
Regie:
Es sprachen:
Technik:
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Thies Hansen, Soziologe, Autor und Paarbereater
Umut Özdemir, Psychotherapeut, Nensy Le, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychologie der LMU München
Quelle: Pussy Mind Soul von Sophia Thome: Toxische Beziehungen und Narzissmus - Meine Erfahrung
Youtube
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Es ist eine der ältesten Geschichten der Welt. Zwei Menschen treffen sich, verlieben sich ineinander. Tauschen Zärtlichkeiten und Versprechungen aus. Im Bauch Schmetterlinge, auf der Nase die rosarote Brille.
Alex kennt seinen Schwarm schon lange. Viele Jahre waren sie „einfach gute Freunde“. Bis an einem gemeinsamen Abend mehr daraus wird.
O-TON 01: (Alex)
Das ist entstanden, als wir uns irgendwie getroffen haben und dann sie zu mir gemeint hat, dass sie schon immer Augen hatte für mich. Und sich auch eine Zukunft mit mir vorstellen könnte. Und irgendwie war das bei mir auch schon immer so der Fall. Und dann ist da an einem Abend, was draus entstanden. Ein bisschen was getrunken gehabt und dann haben wir halt wild rumgeknutscht und uns irgendwie halbwegs Versprechungen gemacht. Ja, große Liebe.
SPRECHERIN:
Für Alex, der in Wahrheit anders heißt, beginnt diese Liebesgeschichte als er 26 ist. Er arbeitet damals als gelernter Koch in einem schwäbischen Restaurant. Den Namen seines Schwarms möchte er im Radio lieber auch nicht hören. Nennen wir sie also Clara. Auch sie arbeitet in dem Restaurant. Aus Freunden und Kollegen werden Liebende.
O-TON 02: (Alex)
Auf jeden Fall war dann erstmal ein sehr sehr großes Gefühl von Sicherheit da, was mir vermittelt wurde. Ich habe von ihr wirklich Bestätigung bekommen, auch viele Komplimente und alles Mögliche. Diese Kleinigkeiten, diese kleinen Aufmerksamkeiten.
SPRECHERIN:
Doch eine feste Beziehung möchte Clara erst einmal lieber nicht eingehen. Und auch das Gefühl der Sicherheit ist nur von kurzer Dauer. Nach zwei Wochen wendet sich das Blatt: Gegen Alex.
O-TON 03: (Alex)
Und dann ist plötzlich von heut auf morgen so eine richtige Abneigung gegenüber mir entstanden. Danach war es dann wirklich, also wie ausgewechselt. Sie hat mich gar nicht mehr beachtet. Mich konstant wirklich ignoriert auch. Wenn ich sie nur angesprochen hab, hat sie nur die Augen verdreht. Also ich war auf einmal abstoßend. Das hat sie mir wirklich gezeigt, dass ich abstoßend bin für sie.
Musik
SPRECHERIN:
Hier könnte die Geschichte von Alex’ und Claras Beziehung zuende sein. Doch es ist, wenn man so will, gerade erst der Anfang. Denn das zwischen den Beiden wird noch zwei Jahre weiterlaufen. Es wird nicht nur eine unglückliche Beziehung, sondern eine toxische. Über toxische Beziehungen könnte Alex, wie er es selbst vor dem Interview mit Radio Wissen gesagt hat, ein ganzes Buch schreiben.
Toxisch… im Sinne von bösartig, schädlich, zermürbend, giftig. Das Adjektiv hat sich längst fest im Sprachgebrauch eingebürgert. Dabei stammt das Wort toxisch eigentlich vom altgriechischen τόξον (= toxon) und kann mit Bogen oder Pfeil übersetzt werden. Von Gift ist also erst einmal keine Spur. Doch die Berliner Soziologin und Influencerin Katharina Wohlrab stellt fest:
Zitat
„Hatte Eros, der Gott der Liebe in der griechischen Mythologie, nicht auch immer Pfeil und Bogen dabei? Vielleicht wurde damals schon, zumindest in den Mythen, die toxischen Aspekte der Liebe mitgedacht.“
Doch werden mit toxisch längst nicht mehr nur Liebesbeziehungen beschrieben. Auch von toxischen Freunden und Familien hört man immer häufiger.
O-TON 04: (Hansen)
Also man kann da ja zunächst erst mal feststellen, dass sich im Diskurs da was verschiebt. Und auch da wäre: die Frage Was liegen da drunter für gesellschaftliche Umwälzungen?
SPRECHERIN:
Der Soziologe und Paarberater Thies Hansen glaubt nicht, dass nur weil mehr über toxische Beziehungen gesprochen wird, es auch mehr toxische Beziehungen gibt. Im Gegenteil:
O-TON 05: (Hansen)
Also es könnte ja sein, dass die ganze Aufmerksamkeit für toxische Beziehungen oder was damit gemeint ist, Ausdruck davon ist, dass es im Großen und Ganzen weniger toxische Beziehungen heute gibt als früher, weil es überhaupt ein Bewusstsein dafür gibt. Und vielleicht auch, weil es wichtiger geworden ist, heutzutage eine nicht toxische Beziehung zu führen.
SPRECHERIN:
Noch vor wenigen Generationen waren Partnerschaften vordergründig Zweckgemeinschaften. Nicht umsonst sprechen Soziologinnen und Soziologen von „Ein Acker heiratet den anderen“. Doch in den letzten Jahrzehnten habe die romantische Liebe massiv an Bedeutung gewonnen, so Hansen. Und auch wie diese genau aussehen soll, wird immer mehr reflektiert.
O-TON 06: (Hansen)
Also es verschiebt sich was, die Beziehungswerte verschieben sich. Dadurch rückt die Aufmerksamkeit mehr auf Phänomene, die bis vor gar nicht allzu langer Zeit noch als völlig normal gegolten haben. Also beispielsweise in unserer Großelterngeneration, würde ich sagen, ist so was so was wie emotionaler Missbrauch, emotionale Abhängigkeit völlig alltäglich gewesen.
SPRECHERIN:
Unsere Vorstellungen von dem, was in Beziehungen - ob romantisch, platonisch oder familiär - akzeptabel ist, verändert sich. Lange Zeit wurden vor allem psychische Formen der Gewalt übersehen. Das liegt auch daran, dass sie schwerer zu entlarven sind, als eine Ohrfeige, oder ein zu fest gepackter Arm. Doch das Bewusstsein wächst. Auch, weil unser Wissen über gelingende Beziehungen gewachsen ist, sagt der Soziologe Thies Hansen. Selbsthilfeliteratur und Beziehungsratgeber etwa gehören zu den meistgekauften Sachbüchern.
O-TON 07: (Hansen)
Also das, was vielleicht zuvor ein Expertinnenwissen war, beispielsweise Psychologinnen etc. vorbehalten, ist heute sehr, sehr viel mehr im Alltagsbewusstsein angekommen.
SPRECHERIN:
Doch Laien sind eben keine Experten. Wir wissen zwar mehr über gelingende Beziehungen als noch vor einigen Jahrzehnten - was aber nicht bedeutet, dass wir so ganz genau wissen, was eine toxischen Beziehung wirklich ausmacht. Man kann auf jeden Fall festhalten: Eine allgemein gültige oder gar wissenschaftliche Definition des Begriffs gibt es nicht.
O-TON 08: (Özdemir)
Die Gesellschaft hat vermutlich einen Begriff gebraucht, um dysfunktionale Beziehungen zu beschreiben. Hierbei ergibt sich aber auch direkt ein Problem, dass wir keine allgemeingültige Definition von toxischer Beziehung haben. Also ich weiß gar nicht, ob eine andere Person genau das darunter versteht, was ich darunter verstehe. Dann kann es auch passieren, dass wir - wir würden es in der Psychotherapie Plausibilitätsfalle nennen, dass wir da hineintappen. Also dass ich diese fehlende Info, also die Definition, einfach auch fülle mit dem, was ich darunter verstehe und im schlimmsten Fall völlig aneinander vorbei rede.
SPRECHERIN:
Der Psychotherapeut und Dozent Umut Özdemir berät in seiner Berliner Praxis Menschen speziell zu Sexual- und Paarthemen. Auch solche, die - nach ihrer eigenen Aussage - in einer toxischen Beziehung stecken.
O-TON 09: (Özdemir)
Ich frage erst mal nach was oder anhand welcher Beispiele und Faktoren, die ihre Beziehung als toxisch kennzeichnen oder definieren. Damit ich quasi ein Bild davon habe, worum es tatsächlich geht. Es sind unterschiedliche Antworten. Manchmal ist es ein "Ich werde im Streit angeschrien, von einer anderen Person“ bis hin zu tatsächlich körperlicher Gewalt, das kam auch schon vor.
SPRECHERIN:
Zieht man das Internet zu Rate, was eine toxische Beziehung ausmacht, scheint die Antwort eindeutig. Da werden z.B. Listen ausgespuckt, die Merkmale einer toxischen Beziehung aufzählen. Was dabei auffällt: Es werden vor allem psychische Komponenten genannt: Manipulation, extreme Liebesbekundungen - auch Love Bombing genannt. Stimmungsumschwünge, Herabsetzung, Kritik, Kontrolle.
Musik
SPRECHERIN:
Nachdem Clara Alex für ein paar Tage die Kalte Schulter gezeigt hat, startet sie auf der Arbeit wieder einen Annäherungsversuch.
O-TON 10: (Alex)
Plötzlich von jetzt auf nachher stellt sie mir einen Kaffee hin. Weil sie ganz genau weiß, wie ich meinen Kaffee mache. Von jetzt auf nachher läuft sie vorbei, streichelt mir die Schulter. So kleine Aufmerksamkeiten kamen wirklich von jetzt auf nachher wieder. Also beim ersten Mal hab ich mich gefreut. Hab gedacht, okay, vielleicht ist es jetzt besser geworden.
SPRECHERIN:
Stattdessen ist es der Anfang eines Teufelskreises. Denn das Glück ist wieder nur von kurzer Dauer.
O-TON 11: (Alex)
Das Ganze lief eigentlich die ganze Zeit immer wieder im selben Kreislauf. Also es war wirklich totale Love Bombing Phase. Dann gab es immer irgendein Ereignis, wo ich als verrückt hingestellt wurde. Dann totale Kälte. Ablehnung. Abneigung. Dann Kontaktabbruch, beziehungsweise Abstand. Und dann wieder von vorne. Über fast zwei Jahre.
SPRECHERIN:
Alex wird zum Spielball für Claras Launen.
O-TON 12: (Alex)
Das hat mein Selbstwertgefühl also komplett bis in die Grundfeste erschüttert. Das hat dazu geführt, dass ich mich auf 60 Kilo runter gehungert habe. Ich habe gar nichts mehr gegessen und war dann wirklich spindeldürr. Was sie mir damals auch unterschwellig oft dann gesagt hat, dass ich zu dünn und zu schwach sei. Wenn ich irgendwas hochheben musste „Ja dafür hat er doch eh keine Kraft“. Da ist es mir direkt bis ins Knochenmark gefahren. Ich habe mich in der Zeit auch total abgeschottet. Ich bin gar nicht mehr rausgegangen.
Musik (kurz frei stehen lassen)
SPRECHERIN:
Auch in sozialen Medien und Podcasts teilen immer mehr Menschen ihre persönlichen Erfahrungen mit toxischen Beziehungen.
ATMO „STORYTIME“
Also Leute ich war in einer toxischen Beziehung. Hab die Beziehung beendet - natürlich sehr traumarisierend, natürlich sehr scheiße, war danach am Boden zerstört, bin danach in Therapie gegangen, was ganz oft passiert, weil wenn ein Narzisst mit dir fertig ist, denkst du du bist die Verrückte dabei wurdest du verrückt gemacht.
SPRECHERIN:
Stichwort Narzist: Was viele dieser „Story-Times“, die man zum Beispiel auf You Tube oder auf TikTok findet, gemeinsam haben: Zu einer toxischen Beziehung gehört scheinbar meist ein narzisstisches Gegenüber. Mal als Ursache für den Beziehungsstatus „toxisch“, mal als Begleitsymptom. Auch in Ratgebern zu toxischen Beziehungen taucht oft bereits im Klappentext das Schlagwort Narzissmus auf.
Worin die Autorinnen und Autoren dieser Selbsthilfebücher zunächst recht haben: Mit einem Narzissten oder einer Narzisstin eine Beziehung führen ist tendenziell ziemlich schwierig. Sagt die Psychologin Nensy Le von der LMU München.
O-TON 13: (Le)
Also zum Beispiel ist es so, dass Paare mit mindestens einer narzisstischen oder einer stark narzisstischen Person häufiger streiten. Die Person ist oftmals weniger empathisch. Nach so einem Konflikt ist es zum Beispiel oft so, dass dann als Gegenreaktion Rache eine größere Rolle spielt. Die Personen sind auch tendenziell eher aggressiv oder verhalten sich eher aggressiv, sind weniger warm.
SPRECHERIN:
Doch ab hier wird es knifflig. Denn es gibt nicht „den Narzisten“ sondern eine ganz große Bandbreite von durchaus gesundem, normalem Narzissmus bis hin zu stark ausgeprägtem, pathologisch relevanten Narzissmus.
O-TON 14: (Le)
Das heißt aber auch im Umkehrschluss, dass jeder und jede von uns auf dieser Welt, auf diesen Nazissmuswert irgendwo zu verorten ist.
SPRECHERIN:
Und somit ist es ein Leichtes, das angeblich toxische Gegenüber als Narzisten oder Narzistin abzustempeln.
SPRECHERIN:
Doch vielleicht steckt hinter der vermeintlichen Erklärung „Er war Narzisst, deswegen war unsere Beziehung toxisch“ auch, dass man so die Schuld beim Gegenüber abladen kann, beobachtet der Soziologe und Paarberater Thies Hansen.
O-TON 16: (Hansen)
Vielleicht können wir, um uns dem Phänomen toxische Beziehung zu nähern, die Feststellung treffen: Toxisch sind immer die anderen. Ich bin in einer toxischen Beziehung, mein Partner ist schuld und Schuld ist ja auch immer das Gegenteil von Verantwortung. Und deshalb muss ich mich nicht mehr weiter damit auseinandersetzen. Und an der Stelle kann man vielleicht die Frage stellen, inwieweit diese Labels genutzt werden, um sich selbst mit seinen eigenen Beziehungen auseinander zu setzen und daran zu arbeiten, oder ob es mehr darum geht, da einfach ein Etikett drauf zu kleben und mit dem Finger auf andere zu zeigen, eine Schuldzuweisung zu machen und dadurch nicht selber die Verantwortung für das eigene Liebesleben zu übernehmen.
SPRECHERIN:
In einer Studie der US-amerikanischen Psychologin Dr. Diane Follingstad zu Gewalt in der Partnerschaft gaben alle Befragten an, dass sie selbst nur halb so oft psychische Gewalt in ihren Beziehungen ausgeübt hätten, wie ihre Partner. Natürlich kann die Stichprobe verzerrt gewesen sein, so dass eher Opfer von psychischer Gewalt teilgenommen haben. Wahrscheinlicher ist es jedoch, dass man sich selbst eben nur schlecht oder ungern an die Male erinnert, in denen man selbst zu weit gegangen ist. Da ist es leichter, die Schuld beim anderen zu suchen.
Die Psychologin Nensy Le hat sich intensiv mit verschiedenen Formen von Gewalt in Partnerschaften beschäftigt. Sie kommt zu dem Schluss:
O-TON 17: (Le)
Es gibt common „couple violence“. Also in dem Fall sind beide Partner oder Partnerinnen gewaltvoll oder aggressiv, ohne aber dass dann weitergehendes Motiv dahinter steht. Man will nicht bestimmen, sondern das ergibt sich aus der Situation heraus irgendwie, weil man zum Beispiel keine anderen guten Strategien hat. Und diese Beziehungsgewaltform ist tatsächlich die häufigste, die wir antreffen, wenn wir das mal rundum betrachten.
SPRECHERIN:
Das heißt keinesfalls, dass es nicht auch Beziehungen gibt, in denen Gewalt - ob psychisch oder physisch nur von einer Person ausgeht. Vor allem körperliche Gewalt geht in Beziehungen zwischen einem Mann und einer Frau in der großen Mehrheit der Fälle vom Mann aus. Bei psychischer Gewalt ist das anders: In den meisten Fällen geht sie von beiden Parteien gleichermaßen aus. Das Geschlecht spielt dabei keine besondere Rolle. Die Forschung zeigt auch: der Anteil an Beziehungen, in den toxisches Verhalten vorkommt ist groß.
O-TON 18: (Le)
Also es schwankt ja durchaus von Studie zu Studie, aber bis zu 80- 90 % sind da ja nicht ungewöhnlich. Was natürlich zeigt, dass psychische Gewalt und psychisch aggressives Verhalten auf jeden Fall ein ernstzunehmendes Thema ist, weil es sehr häufig auftritt. Es zeigt aber auch gleichzeitig, dass ein gewisses Maß an aggressivem Verhalten in gewisser Weise auch ein bisschen normal ist
SPRECHERIN:
Die meisten wissen wahrscheinlich ganz genau, was sie sagen müssten, um einen geliebten Menschen zu verletzen. Häufig tun wir es auch, ohne uns darüber wirklich im Klaren zu sein. Ein kleiner Griff zum Handy des anderen… nur mal kurz WhatsApp checken. Nanu, wem hat er denn da geschrieben? Ein klarer Eingriff in die Privatsphäre. Und ein Haken auf der Checkliste der toxischen Beziehung.
Doch ein Verhalten allein trifft keine Aussage darüber, ob die Beziehung toxisch ist, sagt der Paar- und Sexualberater Umut Özdemir.
O-TON 19: (Özdemir)
Oder auch bei so Sachen wie Love Bombing ist ja durchaus die Frage: Warum macht die das denn? Könnte da auch nicht dahinter stecken: Ich flirte, mache Komplimente, ich leg mich ins Zeug, weil ich die Person super interessant finde. Und dann stelle ich fest die Person findet mich gut. Ich find die Person auch gut, aber was, wenn ich verlassen werde und mein Herz gebrochen wird? Und dann erstarrt man vor Angst quasi und macht vielleicht nichts mehr. Das kann ja auch der Fall sein.
Musikakzent, kurz
SPERCHERIN:
Wo ist also der Kipppunkt? Im „toxischen“ Verhalten allein findet man ihn nicht. Er liegt vielmehr in dem, was daraus folgt. Im Schaden, den das Verhalten anrichtet. Daraus folgt ein kleinster gemeinsame Nenner: Eine toxische Beziehung ist eine Beziehung, die nicht gut tut. Das ist, natürlich von Mensch zu Mensch, ja gar von Beziehung zu Beziehung unterschiedlich. Doch zu erkennen, wann eine Beziehung nicht gut tut, ist nicht immer ganz leicht. Da kann die Einschätzung anderer kann hilfreich sein, sagt Umut Özdemir.
O-TON 20: (Özdemir)
Wenn zwei, drei Freund*innen unabhängig voneinander sagen: Boah, das klingt nicht gesund oder gut, was da läuft. Würde ich dem vertrauen. Gleichzeitig kann es aber auch sein, dass man durchaus so einen Eindruck hat und sich denkt: Oh, ich weiß nicht. Wenn man vorher eine andere Beziehung hat und die damit vergleicht oder sagt: Ich merke, dass ich öfter unglücklich bin, als ich glücklich bin. Dann sind das ganz gute Momente, dass man einen Schritt zurück macht und das man sagt: Wenn mir das ne Freundin erzählen würde oder ein Freund, was würde ich denen eigentlich raten? Das fällt uns ganz oft leichter, weil wir ganz oft gütiger sind zu anderen als zu uns selbst.
SPRECHERIN:
Zu erkennen, dass uns eine Beziehung nicht gut tut, ist das eine. Eine Konsequenz daraus zu ziehen das andere. Denn Betroffene erklären eine Beziehung vor allem dann als toxisch, wenn sie schon vorbei ist. Doch das impliziert, dass eine toxische Beziehung es nicht Wert ist, daran zu arbeiten. Ein Fehler, findet die Psychologin Nensy Le von der LMU München. Denn wo ein Gift ist, ist auch ein Gegengift.
O-TON 21: (Le)
Das sind ja oft Muster. Die Muster sind schwer zu durchbrechen, man kann sie aber durchbrechen.
O-TON 22: (Özdemir)
Das Erste, was man machen kann, das Gespräch zu suchen in einem ruhigen Moment. Und auch zu sagen: ich merke, das kostet mich viel Kraft. Ich merke, ich bin sehr oft unglücklich. Ich merke dass die Art, wie wir miteinander umgehen, die verletzt mich, die tut mir weh. Können wir daran was ändern? Und im allerbesten Falle sagt ja die andere Person, dass sie das auch so sieht und da sie etwas verändern möchte. Wenn die Person das gar nicht so sieht, würde mich das schon stutzig machen und ich würde berichten wollen, wie es mir da geht.
SPRECHERIN:
Sagt der Paartherapeut Umut Özdemir.
O-TON 23: (Özdemir)
Man kann eine Paartherapie aufsuchen, man kann aber auch gucken, ob man selber Regeln aufstellt für die Art und Weise, wie man streitet. Also, jetzt wieder so ein überzogenes Beispiel. Aber vielleicht ist ja auch eine Regel: wir beschimpfen nicht die andere Person oder aber auch, was durchaus viele Paare machen: Wir vereinbaren ein Stoppsignal oder ein Codewort, wo wir den Streit unterbrechen und 15 Minuten Pause in getrennten Räumen machen, weil wir vielleicht dann Gefahr laufen, in unserer Wut, in unserer Hitzigkeit wirklich fies zu werden.
Musik
SPRECHERIN:
Nur weil eine Beziehung toxisch ist, nicht gut tut, muss es also nicht gleich das Ende bedeuten.
Musik hoch
Doch manchmal kommt man dann eben doch zu dem Schluss: Egal was wir probieren, es funktioniert zwischen uns einfach nicht. Wir fallen immer wieder in dieselben alten Muster zurück. Alex hat das schon lange realisiert. Eigentlich.
O-TON 24: (Alex)
Ich hab's schon gecheckt, ich bin total emotional abhängig von ihr. Aber ich komme da irgendwie nicht raus. Dass irgendwas tief in mir drin sagt, dass es ohne sie gar nicht funktioniert. Dass ich nur von ihrem Zuspruch eigentlich leben kann.
SPRECHERIN:
Zwei Jahre leidet er unter dem ständigen Hin- und Her mit Clara. Mehrmals versucht er das Gespräch mit ihr. Doch alles wiederholt sich immer wieder aufs Neue. Bis seine Freunde es nicht länger mit ansehen können, wie Alex immer kleiner wird.
O-TON 25: (Alex)
Gott sei Dank kam einer von meinen Jungs zu mir und hat gesagt Ey! Morgen gehen wir ins Gym. Und Du kommst mit. Und ich soll nicht unterschätzen, was für ne mentale Kraft des auswirken kann. Also sportliche Betätigung.
SPRECHERIN:
Das Fitnessstudio holt Alex aus seiner Isolation. Er ist wieder mehr unter Freunden. Der Sport packt ihn. Er fühlt sich zum ersten Mal seit langem wieder mit sich und seinem Körper verbunden. Und er gewinnt ein Stück weit das Selbstvertrauen zurück, das er über die letzten Jahre verloren hat.
O-TON 26: (Alex)
Und war dann auch Manns genug zu sagen okay, das ist nichts mehr für mich. Ich habe das wirklich gemerkt. Es kann so nicht weitergehen.
SPRECHERIN:
Alex hat sich schließlich nach zwei Jahren von Clara getrennt. Und mit der Zeit hat er auch das Gift in einer anderen Beziehung entdeckt. In der Beziehung, die er zu sich selbst hatte. Die tat ihm nämlich auch nicht immer gut.
O-TON 27: (Alex)
Jetzt, wo es mir besser geht, ich davon Abstand habe bin ich auch ein bisschen froh, dass es mir vielleicht irgendwie passiert ist, weil ich weiß dadurch um einiges besser, was ich will und was ich nicht will. Und ich bin um einiges verantwortungsbewusster auch mir selbst gegenüber geworden.
Wunderkammern sind Sammlungen aus dem 14. bis 17. Jahrhundert, in denen Adelige Staunenswertes und Wertvolles zusammentrugen. Mit Verbreitung der Naturwissenschaften verloren sie ihre Bedeutung, aber nicht ihren Zauber. Von Brigitte Kramer (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Christiane Klenz
Es sprach: Thomas Loibl
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Veronika Sandbichler, Direktorin Schloss Ambras, Innsbruck
Annette Schommers, Bayerisches Nationalmuseum, München
Sabine Söll-Tauchert, Kunsthistorikerin, Historisches Museum, Basel
Georg Laue, Sammler und Kunsthändler, München
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O TON 1 Veronika Sandbichler (ab 0'15 ca)
Wir wissen, dass Automaten als Tafelaufsätze verwendet wurden, die scheinbar still und starr am Tisch standen aber dann durch das verborgene Uhrwerk zu einem bestimmten Zeitpunkt in Bewegung geraten sind.
MUSIK 1 (C1178870008 Yann Tiersen: La valse des monstres 0’14)
Drüber O TON 2 Annette Schommers
Zum Beispiel eine Figurengruppe der Diana auf dem Hirsch, begleitet von Hunden. Diese Silbergruppe ist montiert auf einem Sockel, in dem sich ein Schlüsselloch befindet...
ATMO 1 Figurenautomaten (Aufziehen, dann Rattern)
Drüber O TON 3 Schommers (nach 0'24, abruptes Stehenbleiben)
.. die Hunde konnten die Augen bewegen und der Gast, vor dem der Hirsch stehen blieb, der sollte aus dem Gefäß trinken.
MUSIK 2 (C1178870008 Yann Tiersen: La valse des monstres 0’14)
Drüber O TON 4 Sandbichler
Derartige Unterhaltungen, wenn man's so bezeichnen will, waren auch im Zeitgeist der Renaissance verankert, also Trinkspiele … Man hat das Ganze auch als Kurzweil bezeichnet.
ATMO 1 PFURZTRÖTE
Drüber O TON 5 Schommers
Das gab's dann halt eben nur im 16. Jahrhundert, diesen Spaß.
ATMO 1 PFURZTRÖTE
MUSIK 3 Ubert Naich: Canti di voi le ladi
SPRECHER
Mit Begeisterung und Sympathie sprechen die Kunsthistorikerinnen Annette Schommers und Veronika Sandbichler über höfisches Leben im 16. Jahrhundert, zu dem kleine, reich verzierte und ausgetüftelte Unterhaltungs-Mechanismen gehören. Deren Besitzer wollten ihre Gäste unterhalten, verzücken, überraschen, zum Staunen bringen – und ihre Freude am Schönen und Kostbaren teilen.
ATMO 2 Gelächter/Musik/Gerede
SPRECHER drüber
Das gelang ihnen nicht nur mit Trinkspiel-Automaten. Adelige, Gelehrte und Handelsleute – alle, die es sich leisten konnten und mit dem Geist der Zeit gehen wollten –, trugen in der Renaissance und im Barock Raritäten, Preziositäten, Kuriositäten zusammen, aus Nah und Fern. Geordnet wurden die Sammlungen grob nach folgenden Kategorien:
MUSIK 4 Yann Tiersen: Hent V
Exotica: Dinge von weit her. Das konnten Eskimo-Schuhe genauso sein wie ausgestopfte Vögel – Hauptsache, sie waren außereuropäischer Herkunft.
Naturalia: Pflanzen, Tiere und ihre Reste, Mineralien, Fossilien, Organisches wie Bezoar-Steine, das sind verhärtete Kugeln aus Unverdaulichem, die sich in Mägen von Wiederkäuern bilden. Sie galten als magisch, wurden als Mittel gegen Gift im Essen eingesetzt und sollten sogar gegen die Pest helfen.
Artificialia: Das sind Werke von Künstlern und Kunsthandwerkern, in denen oft Naturprodukte aufwändig verarbeitet waren: Bernstein, Elfenbein, Korallen, Nashorn-Hörner, Muscheln, Steine und erstaunlicherweise auch Kokosnüsse galten als gestalterisch interessant. Sie wurden reich verziert und zu Bechern, Kelchen, Duftkugeln, Türschlössern, Schachspielen, Schatullen oder Figurengruppen umgestaltet und sollten zeigen, dass der Mensch die Natur übertreffen kann.
MUSIK 5 Yann Tiersen: Comptine …
Scientifica: Wissenschaftliche Geräte wie Astrolabien, Bergbau-Instrumente, Vermessungsgeräte, Uhren-Automaten, Stundengläser, anatomische Modelle ...
Und Mirabilia: Schlicht Wunderwerke. Dazu gehörten abnormale „Launen der Natur“, wie man sie auf Gemälden von Haarmenschen oder einem armlosen Kalligraphen sehen konnte, der den Pinsel mit den Zehen greift. Oder auch anhand konservierter, missgebildeter Totgeburten. Auch außerordentlich kunstvolles oder komplexes Menschenwerk gehörte dazu: Es stand für fast göttliche Schöpfungskraft.
Erlaubt und begehrt war alles, was die „Affekte anrühren“ und die „Kenntnis der Dinge“ fördern konnte. Und es wurde bei jeder Gelegenheit hergezeigt. Annette Schommers vom Bayerischen Nationalmuseum:
O-TON 6 Schommers
Damals war nicht das Kriterium für die Sammelwürdigkeit die rein materielle Kostbarkeit eines Objekts, also man hat einen Automaten, der über den Tisch fährt, genauso bewundernswert, sammelwürdig angesehen wie ein Gemälde oder eine Skulptur.
SPRECHER
Ausschlaggebend ist der Begriff „Wunder“ und wie er in der Renaissance und bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein definiert wurde:
O TON 7 Schommers
Als Wunder galt, dass einfach ein Mensch sowas umsetzen kann zum Beispiel, also diese feinsten Miniaturschnitzereien auf einem Zwetschgenkern oder dass es einem Künstler gelingt, aus Elfenbein feinste Kugeln ineinander zu drechseln. Und man hat aber auch gleichzeitig einen Baumschwamm, der aussieht wie ein Brot, als Wunder angesehen.
SPRECHER
Gezeigt wurden die Schätze in so genannten Wunderkammern oder Kuriositätenkabinetten: Eigens eingerichtete Zimmer mit enormen Schränken, die Wände und Decken war dicht behängt mit Gemälden, ausgestopften Tieren oder Skeletten.
MUSIK 6 Ensemble Trictilla: Fusi pavana piana
Ihr Vorläufer war das private Arbeitszimmer, das Studiolo in italienischen Renaissance-Palästen. Es war anfangs karg eingerichtet, mit Schloss und Riegel ausgestattet, und diente dem Hausherrn als Rückzugsort. Hier konnte er lesen, Buch führen oder beten, es gab Schränkchen und Schatullen, Mauernischen zum Verwahren von Büchern und Schreibutensilien. Später kamen Geräte für Experimente dazu, bald auch Sammelgegenstände. Schließlich ähnelten die Studierzimmer begehbaren Möbeln, mit holzgetäfelten Wänden, Geheimfächern oder verborgene Türen. Wer sie besuchen durfte, hatte das Vertrauen des Gastgebers gewonnen.
Ihre Bedeutung wuchs mit der Entdeckung und Erforschung der Welt ab Ende des 15.Jahrhunderts. Tiere, Pflanzen und Kunsthandwerk aus den Kolonien und von fernen Handelsplätzen übten größte Faszination auf die Daheimgebliebenen aus. Die Schätze wollten bewundert werden, am bequemsten und sichersten ging das im Kuriositätenkabinett: Es war angelegt wie eine begehbare, ja sinnlich erlebbare Enzyklopädie. Die ganze Welt sollte in so eine Wunderkammer passen – beziehungsweise in ihre Schränke. Veronika Sandbichler vom Schloss Ambras in Innsbruck:
O 8 Sandbichler
Diese Schränke waren unermesslich voll. Die waren vollgefüllt mit Objekten, die zum Teil ineinander gestapelt waren. Und die hat man dann einzeln herausgenommen, konnte sie angreifen, von allen Seiten begutachten, bewundern, bestaunen und da glaub ich gab es auch diese Momente wo einem der Atem gestockt ist.
ATMO 2 Türschloss
SPRECHER drüber
Etwa 2000 Gegenstände sind in Innsbruck zu sehen. Allerdings sind sie heute in ausgeleuchteten Vitrinen ausgestellt – hinter Glas. Das sinnliche Erlebnis von früher muss man sich vorstellen ...
ATMO 3 Singekugeln
SPRECHER drüber
… mit Singekugeln zum Beispiel: kleine vegoldete, leicht klingende Kugeln, die Veronika Sandbichler und ihre Kollegin Katharina Seidl vorsichtig in die Hand nehmen:
O 9 Sandbichler_Seidl Singekugeln
Boa. Die sind ganz schön schwer, ja im Prinzip nicht unähnlich den heutigen Qigongkugeln. Das ist Messing vergoldet, und in am unglaublich guten Zustand. Kaum irgendwelche Bereibungen. Ja, die sind schon toll.
SPRECHER
Gesammelt hat die Singekugeln und mehrere tausend weitere Objekte Erzherzog Ferdinand der Zweite, der ab 1546 Landesfürst von Tirol war und in Innsbruck wohnte:
Der kunstliebende, gebildete Habsburger ließ das mittelalterliche Schloss zu einem Prunkschloss umbauen, seine Wunderkammer und diverse andere Sammlungen bekamen ein eigenes Gebäude, das Unterschloss. Veronika Sandbichler:
O 10 Sandbichler
Dieser Habsburger Fürst hat seine politische Karriere verwirkt, weil er sich in eine Patriziertochter verliebte. Das war Philippine Welser aus Augsburg. Diese Leidenschaft zu ihr muss wirklich sehr heftig gewesen sein, aber ebenso heftig war seine scheinbar unpolitische Leidenschaft für das Sammeln.
MUSIK 7 Orlando di Lasso / Ensemble Trictilla: Qui sequitur
SPRECHER
Wunderkammern waren nicht nur ein Zeichen für den Rückzug ins Private. Sie waren auch ein effizientes und elegantes Mittel der Diplomatie, Soft Diplomacy sozusagen: Gemeinsam staunen, dabei verwandtschaftliche Bande pflegen und politische Beziehungen vertiefen. Wunderkammern waren zudem eine charmante Art der Selbstdarstellung, mit einem Schuss Protzerei. Eine volle Wunderkammer zeigte, dass ihr Besitzer gebildet, weltgewandt, gut vernetzt, wohlhabend und einzigartig war … genauso wie seine Sammlung. Eine von Erzherzog Ferdinands Schwächen galt den Korallen. Agenten mussten sie ihm aus dem Mittelmeer beschaffen und er beauftragte Künstler mit ihrer Gestaltung. Veronika Sandbichler:
O 11 Sandbichler
Interessant ist ja auch die Tatsache, dass die Koralle im 16. Jahrhundert als rätselhafte Repräsentantin des damals weitgehend unerforschten Meeres gegolten hat. Also Ferdinand wusste ja eigentlich nicht: Handelte es sich um eine Pflanze, ein Mineral oder ein Tier?
SPRECHER
Die Korallen sind in der Innsbrucker Provinz geblieben. Sie haben es nicht, wie viele andere Objekte Ferdinands, ins Kunsthistorische oder Naturhistorische Museum in die Hauptstadt Wien geschafft. Ein „deutliches Zeichen für das geringe Interesse, das man heute diesen Dingen entgegenbringt“, schrieb der Kunsthistoriker Julius Schlosser im Jahr 1908.
MUSIK 8 (Ludwig van Beethoven / Stephan Schrader: Finale furioso 0’50)
SPRECHER drüber
Der Drang zu Klassifizierung und Einordnung, die Verbreitung wissenschaftlichen Denkens, die Abwertung magischen Denkens ab dem 19. Jahrhundert – das war das Ende der Wunderkammer. Wer glaubte überhaupt noch an Wunder? Wohl nur die Ungebildeten! Die Sammlungen entsprechen ja einem vor-wissenschaftlichen Weltverständnis. Es ging um Fülle und Herrlichkeit – nicht um Systematik.
Für ihre Besitzer sollten sie den Ruhm des Hauses weitertragen, für deren Erben waren sie oft nur noch „unsystematische Sammelsurien“. Deswegen sind die meisten Wunderkammern heute nicht mehr vollständig. Sie wurden neu sortiert, das „Wichtigste“ wurde auf die gerade entstehenden, öffentlichen Museen verteilt. Der Rest – konnte weg.
MUSIK 9 Romain Lateltin: à la source
SPRECHER
Heute dagegen sind Wunderkammern wieder sehr beliebt. Gerade wegen ihrer scheinbaren Unordnung, der Naivität, Verspieltheit und Freude, die sie ausstrahlen. In vielen europäischen Schlössern und Museen werden neu arrangierte Wunderkammern mit Original-Objekten gezeigt. Auch die Wittelsbacher waren emsige Sammler. Die Kunst- und Wunderkammern von Herzog Albrecht dem Fünften und seinem Sohn Wilhelm dem Fünften gehörten zu den bedeutendsten Europas. Annette Schommers vom Bayerischen Nationalmuseum:
O TON 12 Schommers
Das war, ja man kann schon fast sagen so'n Wetteifern, ich meine Albrecht der Fünfte war mit der Kaisertochter Anna verheiratet und es war auch wichtig, dass man im diplomatischen Dienst Geschenke hin und her geschickt hat …
SPRECHER
Albrecht, der Vater, begann ab 1565 als einer der Ersten, ein Kabinett anzulegen. Die Sammlung war im zweiten Stockwerk des Marstallgebäudes der Münchner Residenz untergebracht. Die des Sohnes Wilhelm in der Burg Trausnitz in Landshut.
O TON 13 Schommers
Das hatte natürlich zur Folge, dass da sehr viel Geld floss, was den Staatsfinanzen nicht sonderlich gutgetan hat. Albrecht der Fünfte der wurde schon sehr früh von seinen Räten ermahnt, er solle mal bitte seine Sammelleidenschaft zügeln, aber das ähm … das hat er wohl nicht so gehört oder hören wollen und Wilhelm der Fünfte hatte dasselbe Problem mit dem Geld.
SPRECHER
Später wurden die beiden Wunderkammern in München zusammengelegt: Mehr als 6.000 Objekte. Archivarisch sind sie komplett erfasst, dank des Ficklerschen Inventars von 1598. Man kann die Liste in der Münchner Staatsbibliothek als kommentierte Ausgabe einsehen. Annette Schommers:
MUSIK 10 Jasmin Seidl: Glasperlen
O TON 14 Schommers drüber
Es gibt natürlich auch zahlreiche Mineralien von denen man glaubte, dass die Steine heilende Wirkung haben.
MUSIK hoch
O TON 15 Schommers drüber
Fast jede Kunstkammer besaß eine von diesen Alraunen, also diese Wurzel aus dem Mittelmeergebiet, die so'n bisschen aussieht wie ein kleines Männlein oder Weiblein, zum Teil hat man die auch angekleidet. Besonders begehrt waren Alraunen, die unter einem Galgen wuchsen.
MUSIK hoch
O TON 16 Schommers drüber
Ja, vielleicht kann man als ein Wahrzeichen der Kunstkammer das Krokodil nennen, das unter der Decke hängt. Sehr mächtige Tiere, die an Drachen erinnerten, also es waren auch furchterregende Wesen. Und man weiß aus den Quellen, dass tatsächliche lebende Tiere aus Äthiopien über Alexandrien als Geschenke nach Bayern gelangt sind, und speziell nach Landshut, denn dort hatte Wilhelm der Fünfte eine Menagerie exotischer Tiere angelegt, da gab's Strauße und Krokodile, Schildkröten und so weiter, aber Sie können sich vorstellen, also ein langes Leben war diesen Viechern nicht beschert. Das ein oder andere Krokodil landete im Kochtopf, in der Hofküche, aber natürlich auch in der Kunst- und Wunderkammer.
MUSIK 10 Ende
O TON 19 Schommers
Das gewaltsame Ende der Kunst- und Wunderkammer fand im 30-jährigen Krieg statt. König Gustav Adolf von Schweden und seine protestantischen Truppen plünderten die Münchner Residenz und leider auch die Kunstkammer. Und so befinden sich manche der ursprünglich in München beheimateten Werke in schwedischen Sammlungen oder sie sind über die ganze Welt zerstreut. Und leider hat man das, was man nicht als wertvoll genug eingeschätzt hat, zerschlagen und zerstört.
SPRECHER
Wie auch in Innsbruck wurden die besten Stücke unter den Resten auf die neu entstandenen Münchner Spezialmuseen verteilt: Kunst in die Pinakothek, Exotica ins Museum Fünf Kontinente, Münzen in die Münzsammlung, Kunsthandwerk ins Bayerische Nationalmuseum …
Seit dem Jahr 2004 ist in der Burg Trausnitz in Landshut wieder eine Wunderkammer zu sehen, mit 750 beispielhaften Objekten.
MUSIK 11 ( Alessandro Scarlatti: (006) 2. Satz aus Cembalokonzert Nr. 6 Es-Dur 0’44)
SPRECHER drüber
Die bürgerlichen Sammlungen rissen keine Löcher in den Staatshaushalt und waren auch keine Mittel der Diplomatie. Auch wohlhabende Kaufleute und Gelehrte an Universitäten legten sich Wunderkammern zu.
Sie dienten der eigenen Erbauung, dem Studium und Verständnis der Welt, und dem Austausch mit Gleichgesinnten. Sie waren reines Privatvergnügen, für den Rechtsgelehrten Basilius Amerbach zum Beispiel, der im 16. Jahrhundert in Basel lebte:
O 20 Söll-Tauchert
Er hat geheiratet und hat leider bei der Geburt des ersten Sohnes sowohl sein Kind als auch seine Frau verloren. Nach diesem schrecklichen Schicksal hat er sich immer mehr zurückgezogen im sein Haus in der Rheingasse in Kleinbasel und hat sich sehr stark auch neben seiner Tätigkeit an der Universität auf das Sammeln selbst fokussiert.
SPRECHER
Die Kunsthistorikerin Sabine Söll-Tauchert arbeitet im Historischen Museum Basel, das im Untergeschoss der Barfüßerkirche eine neu zusammengefügte Kunst- und Wunderkammer zeigt: 2000 Objekte aus dem 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert. Ein Teil davon stammt aus dem so genannten Amerbach-Kabinett.
O 21 Söll-Tauchert
Beispielsweise interessierte er sich in besonderem Maße für den Entstehungsprozess von Kunstwerken. Da nicht nur die Zeichnungen, sondern er hat eben auch ganze Nachlässe von Goldschmieden aufgekauft. In den 1560er und 70er Jahren sind einige Goldschmiede an der Pest gestorben, da grassierte die Pest auch in Basel. Das sind wirklich tausende von Goldschmiedemodellen aus Blei, ursprünglich auch noch aus Brotteig, aus Wachs, die dann leider später nicht aufbewahrt wurden, im 18. Jahrhundert hat man sie aussortiert, weil sie als wertlos galten.
SPRECHER
Basel war in der Renaissance die Stadt der Humanisten und Buchdrucker, die viele Gelehrte anzog und über den Rheinhafen auch intensiven Handel betrieb. Der ideale Ort zum Sammeln.
MUSIK 12 Domenico Scarlatti: Klaviersonate c-Moll, K99
SPRECHER drüber
Auch die Kunst- und Raritätensammlung des Rechtsprofessors Remigius Faesch ist heute im Besitz der Stadt Basel. Faesch gehörte zur reichsten Familie der Stadt, war ledig und kinderlos und legte in mehr als 30 Jahren eine beeindruckende Kunst- und Raritätensammlung an, die er ab 1651 in seinem Haus am Petersplatz ausgewählten Besuchern zeigte. Zwei französische Besucher schilderten in einem Brief Ende des 17. Jahrhunderts folgendermaßen ihren Eindruck:
O 22 Söll-Tauchert
Gegenüber dem Zeughaus ist das Haus des Herrn Faesch, von dessen Kabinett man so viel hört! Wir sahen dieses Kabinett mehrere Male. Man sieht hier: Metallspiegel mit überwältigenden Verzierungen, Trompeten und Messer aus China, Mumien, Skelette und tausend Vögel, die man bisher noch nie gesehen hat und von denen man nicht einmal den Namen kennt.
MUSIK 13 Jasmin Seidl: Melting
SPRECHER drüber
Die Fähigkeit zum Staunen haben wir, so hat das zumindest Sabine Söll-Tauchert erlebt, noch nicht verlernt:
O 23 Söll-Tauchert
Das ist wirklich auch so, wenn die Besucher eintreten in das Kabinett des Staunens bei uns, das hab ich jetzt wirklich schon mehrfach erlebt, dass sie so wie mit offenem Mund dastehen und staunen.
SPRECHER
Und das, obwohl für uns kaum mehr etwas exotisch ist und wir vom Überfluss der Dinge umgeben sind. Ein Kokosnuss-Becher, ein Nautilus-Pokal, eine präparierte Schildkröte, die mit Figürchen auf dem Rücken über den Tisch saust …
ATMO 1 Figurenautomaten (Aufziehen, dann Rattern)
SPRECHER
… ist das nicht einfach nur alter Kitsch, Tand und Nippes?
O 24 Laue
Das hab ich eigentlich noch nie gehört: Ach, was willst'n mit dem alten Graffl.
SPRECHER
Sagt der Münchner Kunsthändler Georg Laue.
ATMO 4 Tür Geschäft Laue
In seiner Kunst- und Wunderkammer hängt das obligatorische ausgestopfte Krokodil an der Decke. Sie ist vollgestopft, wie eine historische Wunderkammer.
ATMO 5 Gerede Laden Laue
O 25 Laue
Es handelt sich jetzt hier nicht um Alltagsgegenstände, die irgendwann abgenutzt oder abgelebt sind, die man als klassische Antiquitäten bezeichnen kann. Sondern es sind immer Dinge, die für sich was ganz Besonderes haben. Und wenn Sie davorstehen, spüren Sie sofort, dass es sich da um was Ungewöhnliches handelt. Es sind immer Sammelgegenstände gewesen.
SPRECHER
Die sind heute schwer zu kriegen und dementsprechend teuer.
O 26 Laue
Naja, wenn Sie jetzt so 'ne geschnittene Kokosnuss haben, die jetzt nicht gerade in Silber montiert ist und kostbar als Gefäß ist und nur als Kokosnuss alleine ist … sowas können Sie schon mal für'n paar hundert Euro finden.
SPRECHER
Nach oben sind die Grenzen offen. Denn: Die historischen Objekte sind im Gegensatz zu ihrem ursprünglichen Sinn und Zweck, die unendliche Fülle der Welt zu repräsentieren, heute natürlich nur noch begrenzt vorhanden. Die allermeisten sind in Museen. Und sie haben nur Sammlerwert, wenn, wie Laue das nennt, ihre Provenienz, ihre Herkunft, nachweisbar ist. Fälschungen gibt und gab es zuhauf:
O 27 Laue Bernstein
Na, es wurde eigentlich alles gefälscht, immer wieder. Da hab ich jetzt vor Kurzem ein dickes Buch gefunden, das war von 1724 und da drin waren Bernsteinstücke abgebildet, transparente, und da waren Fliegen drin. Und das waren Fälschungen. Das heißt, man hat schon im 18. Jahrhundert Bernstein-Inklusen gefälscht, weil die so kostbar waren. Das heißt man hat einfach nen Bernstein genommen, hat ihn aufgebohrt, hat nie Fliege reingesteckt und wieder zugemacht.
MUSIK 14 Romain Lateltin: à la source
SPRECHER
Wer sich eine echte Wunderkammer nicht leisten konnte, der sammelte eben billige Fälschungen. Ach ja, warum denn nicht! Schließlich ist alles sammelwürdig, was den Sammler erfreut. Die Wohnzimmervitrine, der Setzkasten, der Sekretär, sie sind die armen, kleinbürgerlichen Schwestern der prunkvollen, atemberaubenden Wunderkammer von damals. Und in ihr war alles erlaubt – nur keine Langeweile.
Nach Ölkatastrophen gehen apokalyptisch anmutende Bilder um Welt: Schwärme toter Fische am Strand, Vögel mit verklebten Flügeln im Todeskampf. Kann sich das Ökosystem jemals von Havarien wie des Tankers Exxon Valdez oder der Bohrplattform Deepwater Horizon erholen? Es hängt von mehreren Faktoren ab, ob und wie sich die Umwelt von einer Ölpest erhol: Wind, Wetter und Meerestemperatur spielen ebenso eine Rolle wie das Tempo und der Umfang von Bekämpfungsmaßnahmen. Von Lukas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Christian Baumann
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Erik Johnson, Ph.D. Vogelschutzorganisation Audubon, Louisiana;
Manfred Santen, Diplom-Chemiker, Team Meeresschutz bei Greenpeace;
Ron Heintz, Ph.D., Forschungsdirektor Stika Sound Science Center, Alaska
Jürgen Rullkötter, em. Prof. am Institut für Chemie und Biologie des Meeres, Universität Oldenburg; Prof. Steve Murawski, Meeresbiologe an der University of South Florida, St. Petersburg
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Die Klimakrise ist da und zwar mit voller Wucht - aber es gibt auch viele Ideen für ihre Lösungen! Der Podcast nimmt uns mit zu Menschen, die sie bereits ausprobieren oder sie sogar längst erfolgreich umsetzen.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Dr. Erik Johnson, Vogelschutz-Organisation Audubon
Voice Over
„Vor 14 Jahren gingen Bilder dieser Vögel – mit verklebten Flügeln, und unfähig, zu fliegen – um die Welt. Pelikane sind damals so etwas wie die medialen Aushängeschilder der großen Öl-Katastrophe geworden, die sich 2010 im Golf von Mexiko zugetragen hat.“
Musik 1
"Watching my armor melt" - Album: Gold Dust - EP - Komponist: Jóhann Jóhannsson - Länge: 0'28
Sprecherin
Der Naturschutzbiologe Erik Johnson schrieb gerade an seiner Doktorarbeit, als sich vor der Küste Louisianas im Golf von Mexiko der größte Ölunfall der Geschichte ereignete. Für Vogelkundler wie Johnson war die Explosion der BP-Bohrinsel „Deepwater Horizon“ ein Alptraum. Fast drei Monate lang ergoss sich aus einem havarierten Bohrloch Öl ins Meer, insgesamt fast 800 Millionen Liter. Der todbringende Ölteppich waberte monatelang über den Ozean, legte sich schließlich über 2000 Kilometer Küste.
O-Ton 2 Johnson
Voice Over
„Mindestens 100.000 Vögel sind einer Expertenkommission zufolge direkt durch die Ölpest verendet. Es gibt aber auch Schätzungen, die von zehn Mal mehr Opfern ausgehen. Selbst Fachleute haben eingeräumt, dass sie das ganze Ausmaß der Katastrophe nicht abschätzen können, da viele Bereiche der Golf-Küste sehr abgelegen und schwer zugänglich sind. Dort dürfte Öl in das Marschland - dem Habitat vieler Vögel - eingesickert sein.“
Atmo Vögel nochmal kurz
Sprecherin
Vögel wurden zum sichtbarsten Symbol des Deepwater-Horizon-Desasters. Aber wenn Millionen Liter Öl die Lebensräume im Meer und am Ufer durchdringen, so übersteht dies keine Spezies von Fauna und Flora unbeschadet.
O-Ton 3 Manfred Santen, Team Meeresschutz Greenpeace, Teil 1
„Alle schweren Havarien, alle Tankerunglücke zum Beispiel, die wir so kennen, führen immer zu dramatischen Schäden.
Sprecherin
…sagt der Diplom-Chemiker Manfred Santen. Er arbeitet für die Umweltorganisation Greenpeace. Wenn große Mengen Öl ins Meer gelangen...
O-Ton 3 Manfred Santen, Team Meeresschutz Greenpeace, Teil 2
„….dann wird erstmal alles, was dort an Lebewesen da ist, beeinträchtigt bis hin ja getötet - zumindest aber stark beeinträchtigt, was Lebensraum und Nahrungsgrundlagen angeht:(…) Das betrifft dann einerseits natürlich die Meeressäuger, das betrifft die gesamte Unterwasser-Flora und -Fauna, aber es betrifft natürlich auch die Menschen, die von Fischerei und vom Meer leben, dass die sehr, sehr eingeschränkt sind über viele Jahre.“
Musik 2
"Watching my armor melt" - Album: Gold Dust - EP - Komponist: Jóhann Jóhannsson - Länge: 0'26
Sprecherin
Santen beschäftigt sich schon lange für Greenpeace mit den Auswirkungen von Öl auf die Umwelt. Im Laufe der Jahrzehnte hat er etliche Ölkatastrophen erlebt. Gelangt Öl in die Umwelt, so verseucht es dem Diplom-Chemiker zufolge nicht nur die Oberfläche von Meer und Land. Kohlenwasserstoffe, Alkane und Benzine sinken nach und nach in die Tiefe der Ozeane – und wirken durch die gesamte Wassersäule hindurch toxisch.
O-Ton 4 Santen
„Und die sind halt teilweise krebserregend wie Benzol, oder sie können eben zu starken Schädigungen der Atemwege führen. Das, was absinkt, richtig auf den Boden...das sind da wirklich die langkettigen Alkane und Schwefelverbindungen. ….und dann gibt es natürlich Substanzen da drin, die auch biochemisch wirken und Organe schädigen können, also den Magen-Darm-Trakt der Lebewesen schädigen können.“
Sprecherin
Vom Tanker „Exxon Valdez“, der 1989 vor der Küste Alaskas leck schlug, über die Ölpest am Persischen Golf infolge des Golf-Krieges im Jahr 1991 - bis hin zur erwähnten Explosion der Bohrinsel „Deepwater Horizon“: So apokalyptisch die Bilder brennender Bohrtürme oder massenhaft im Öl verendender Vögel auch anmuten – so positiv hören sich später oft die Geschichten einer nahezu vollständigen Erholung der Umwelt an.
Musik 3
"Strathcona" - Komponist: Loscil - Album: Strathcona Variations - EP - Länge: 0'42
Sprecherin
Wie kann das sein? Sind hier die sprichwörtlichen Selbstheilungskräfte der Natur am Werk? Sind Ökosysteme per se resilient gegenüber einem Stoff, der seit Abermillionen Jahren auch auf natürliche Weise in die Umwelt gelangt?
Ob und wie sich die Umwelt von einer Ölkatastrophe erholt: Dies hängt von etlichen Faktoren ab, von denen der Mensch – wie Wissenschaftler mittlerweile gelernt haben – einige durchaus beeinflussen kann. Wie man diese Erholung auch bewertet: Es hängt genauso davon ab, wie genau man hinsieht. Und wie weit man den Blick in die Zukunft richtet.
Zuspielung: Werbung Alaska (Anfang)
Sprecherin
35 Jahre nach der Exxon-Valdez-Katastrophe wirbt Alaska in Videospots wieder mit unberührter, ursprünglicher Natur - damit, dass Touristen in Fjorden unbeschwert fischen können.
O-Ton 5 Ron Heintz - Voice Over
„Wenn du dir heute das Ökosystem anschaust: Sogar im Prince William Sund, der Bucht, in der sich die Ölpest ereignete: Selbst dort wirst du unzählige Seevögel finden - und Wale, die dort ihre Runden drehen.“
Sprecherin
Ron Heintz erforscht die marinen Ökosysteme Alaskas seit dem Jahr 1980. Der promovierte Fischereiwissenschaftler verweist auf dutzende Studien, die belegen, dass die Umwelt im Prinz-William-Sund über 20 Jahre nach der Ölverseuchung wieder sauber ist.
O-Ton 6 Heintz - Voice Over
„Als Wissenschaftler würde ich sagen, dass sich die Umwelt in Alaska im Großen und Ganzen ziemlich gut erholt hat. Allerdings mit der Einschränkung, dass es vor der Exxon-Valdez-Unglück keine umfangreiche Bestandsaufnahme gab, keine genauen Zahlen etwa zu Seeottern, Meeressäugern oder Vögeln vorlagen – man also keinen direkten Vergleich hat. Fragt man Menschen, die in Cordova oder Valdez vom Fischfang leben, so werden sie dir erzählen, dass es anders ist. Dass das Ökosystem weniger produktiv ist als vor der Ölpest.“
Sprecherin
Ron Heintz glaubt, einen Grund dafür zu kennen: Ein wichtiges Element in der Nahrungskette der Meeres- und Küstenbewohner fiel dem Forscher zufolge aus: Der Hering. Dessen Populationen seien nach der Exxon-Valdez-Katastrophe vollständig zusammengebrochen – das lässt sich auch ohne genaue Vergleichsdaten zum Vor-Havarie-Zustand sagen. Sie seien also zusammengebrochen und hätten sich seitdem nie mehr erholt.
O-Ton 7 Heintz - Voice Over
„Gelangt Öl in die Umwelt, wie bei uns in Alaska, so unterbricht es die Beziehungen der Organismen in diesem Ökosystem. Der Hering war ein zentrales Element in diesem Ökosystem, eine wichtiges Beutetier für zahlreiche Arten. Vom Zooplankton über Bären und Rotwild bis hin zu Walen: Sie alle haben den ganzen Fisch, seine Eier, oder seine Larven gefressen. Fällt eine so essenzielle Nahrungsquelle aus, so müssen sich alle Akteure im Ökosystem neu organisieren. Finden sie eine Ersatz-Nahrung, so ist diese dann möglicherweise nicht in der gleichen Fülle vorhanden wie dies etwa beim Hering der Fall war. Das könnte ein Grund dafür sein, warum das Ökosystem als weniger produktiv gilt wie vor der Ölkatastrophe.“
Sprecherin
Allerdings, dies räumt Heintz ein, gebe es auch Forscher, die bestreiten, dass das Verschwinden des Herings direkt mit der Ölpest zu tun habe. Eindeutig sei die Datenlage dagegen beim pazifischen Buckellachs.
O-Ton 8 Heintz - Voice Over
„Einige toxische chemische Verbindungen können dort andocken, wo sie einen hohen Gehalt an Fett vorfinden: Etwa in den Eiern der Lachse. In der Folge beobachtete man bei Embryos und bei Jungtieren deformierte Wirbelsäulen und Herzschäden. Auch waren diese Fische kleiner und weniger überlebensfähig. Eine besonders beunruhigende Beobachtung war, dass selbst sehr geringe Konzentrationen dieser toxischen Verbindungen Schäden verursachen können – etwa bei Zooplankton.“
Sprecherin
Es gebe Hinweise darauf, dass das Öl das Erbgut der Tiere verändern – und so erst Jahre oder Jahrzehnte später seine schädliche Wirkung entfalten könnte, sagt Ron Heintz.
Eine wichtige, vielleicht die wichtigste Lektion, die man aus einer Ölkatastrophe laut Heintz daher lernen kann:
O-Ton 9 Heintz - Voice Over
„Das Öl darf auf keinen Fall ins Ökosystem der Küsten eindringen: Zu diesem Schluss sind wir durch eine Studie gekommen, bei der wir drei große Ölkatastrophen verglichen haben: die der Exxon Valdez, der Deepwater Horizon, sowie das unbekanntere Unglück des Tankers „Hebei Spirit“, vor der Küste Südkoreas. In Korea hat man unmittelbar reagiert, es war sofort eine Million Freiwilliger da, die Strände vom Öl per Hand gereinigt haben.“
O-Ton 10 Jürgen Rullkötter
„Was man gut machen kann, ist die mechanische Entfernung. Das richtet noch verhältnismäßig wenige Schäden an.“
Sprecherin
...bestätigt Jürgen Rullkötter, emeritierter Leiter des Instituts für Chemie und Biologie des Meeres an der Universität Oldenburg. Bei der Reinigung von Öl an den Stränden könne man jedoch viel falsch machen.
O-Ton 11 Rullkötter
„Also es wird sowohl mit normalem Wasser, also wahrscheinlich Meerwasser, das man da zur Verfügung hat, aber auch zum Teil mit Heißwasser versucht, das Öl zu bekämpfen...weil es dann beweglicher ist, wenn es um sehr schweres Öl geht. Aber der Nachteil ist, wenn man Heißwasser benutzt: Dann tötet man Organismen. Und das sind diejenigen, die eigentlich das Öl abbauen. Auf jeden Fall drückt man mit beiden Verfahren das Öl in Gesteinsporen oder in Sandflächen tiefer rein - und dann fehlt der Sauerstoff für einen raschen Abbau.“
Sprecherin
Rullkötter, Mitglied im internationalen Forschungsbeirat zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Deepwater-Horizon-Unglücks, sagt: Man kann sich im Kampf gegen das Öl die Natur zum Verbündeten machen. Funktioniert habe dies etwa im Fall der „Amoco Cadiz“: der US-Öltanker lief 1978 auf einen Felsen an der Küste der Bretagne und zerbrach in drei Teile.
O-Ton 12 Rullkötter
„Dort, wo Wind und Wellen ungestört das angetriebene Material bearbeiten konnten, hat sich etwa nach 15 Jahren wieder der frühere Zustand eingestellt. Das waren also Gebiete, wo der Mensch nicht hin konnte, um zu reinigen. Dort, wo das Öl in sandige Gebiete gelangt ist, hat es etwa 20 Jahre gedauert. Und dort, wo der Mensch versucht hat zu reinigen und dann mit Wasser und Chemikalien das Öl tiefer in die sandigen Bereiche oder in Felsenporen hineingedrückt hat und durch die Chemikalien dann auch die Mikroorganismen abgetötet hat, war es nach 30 Jahren noch nicht wieder so, wie es vorher war.“
Musik 4
"Part 6 - 4 Resonating Stones, Voice" - Komponist: Stephan Micus - Album: Music of Stone - Länge: 0'56
Sprecherin
Der Atlantik vor der Bretagne ist sauerstoffreich und relativ warm. Beides beschleunigt biologische Abbauprozesse. Denn im Meer leben Bakterien und andere Mikroorganismen, die einen regelrechten Heißhunger entwickeln können, etwa auf die Kohlenwasserstoffe des mineralischen Öls. Mit Hilfe spezieller Enzyme wandeln Bakterien und Archaeen giftige Erdölbestandteile um in unbedenkliche Fettsäuren.
Nicht Menschen, sondern solche Mikroorganismen seien verantwortlich dafür, dass auch vom Öl der „Deewater Horizon“ bereits wenige Wochen nach der Katastrophe kaum noch etwas zu sehen war, sagt Gunter Wegener. Der Forscher am Bremer Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie spricht von „Selbstheilungskräften“ der Natur. Der umfängliche Ölabbau im Golf von Mexiko konnte aber nur unter speziellen Bedingungen so schnell vonstatten gehen.
O-Ton 13 Dr. Gunter Wegener
„Die Voraussetzung des aeroben Abbaus ist natürlich das Vorhandensein von Sauerstoff. Der Golf von Mexiko ist natürlich ein aerobes Gewässer, in dem es Sauerstoff gibt. Hohe Temperaturen sind gleichzeitig immer positiv. Und da hat der oberflächliche Golf von Mexiko natürlich eine ganze Arbeit geleistet mit Temperaturen über 20 Grad. In diesem Fall hat es sich weit verbreitet innerhalb des Ozeans, das Öl. Und dort konnte es abgebaut werden, auf dem Weg an Land. Ein weiterer Faktor war sicherlich auch die Qualität des Öls. Es war ein sehr gutes Öl, ein leichtes Öl. Und ein leichtes Öl ist auch leicht für Organismen abzuarbeiten. Und ein großer Teil davon wurde dann einfach von Organismen verbraucht.“
Sprecherin
Damit Bakterien, Archäen und Mikroben ihr Wunderwerk verrichten können, brauchen sie also Sauerstoff sowie die relativ warmen Temperaturen an der Meeresoberfläche. Anders sieht das in der kalten, sauerstoffarmen Tiefsee aus. Dort, sagt Wegener, bauten die Mikroorganismen das ausgetretene Erdöl nur in Zeitlupe ab. Am Grund der Ozeane kommen aber manche Spezien von Fauna und Flora übrigens erstaunlich gut mit Öl zurecht.
O-Ton 14 Dr. Wegener
„Erdölaustritte sind, interessanterweise, gerade zu Oasen des Lebens geworden. Wenn sich die Natur darauf eingestellt hat dort unten, kann es auch lokal zu sehr interessanten Lebensformen kommen. Röhrenwürmer leben zum Beispiel von dem Sulfit, was die Bakterien herstellen, und es kommt zu sehr interessanten Lebensgemeinschaften dort.“
Sprecherin
Aber, betont der Wissenschaftler Wegener, dies gilt nur für Öl, das auf natürliche Weise und in geringen Mengen aus dem Erdinneren ins Meer strömt. Bis zu zehn Prozent des Öls, das über das gebrochene Bohrloch austrat, legen sich als Schlammteppich über den Meeresboden – so Forscher der University of South Florida. Das heißt: Oberflächlich betrachtet mag sich der Ozean von der großen Ölpest erholt haben. In den Tiefen des Golfs von Mexiko sehe das aber anders aus, sagt der Meeresbiologe Steve Murawski.
O-Ton 15 Prof. Steve Murawski - Voice Over
„Eine immense Zahl von Schalentieren, von Würmern und anderen Populationen von Tiefseelebewesen wurden getötet oder geschädigt. Vielleicht am meisten Sorgen machen mir die Korallen: Sie wachsen sehr langsam – und haben eine sehr lange Lebensdauer. Sind sie einmal abgestorben, so dauert es viele Jahrzehnte, bis diese sich erholen – wenn überhaupt.“
Sprecherin
Die verletzlichsten Meereslebewesen sind Murawski zufolge diejenigen, die dem giftigen Öl nicht ausweichen konnten - und können.
O-Ton 16 Murawski - Voice Over
„Korallen natürlich - aber auch Delphine. Da gab es etwa eine Population, die isoliert in einer Bucht von Louisiana lebte, und die dort – ohne den Zustrom „neuer“ Tiere von außen – mit der Ölpest ausstarb. Ohnehin zählen Meeressäuger wie Delphine oder Wale zu den gefährdetsten Arten: Tiere, die geringe Reproduktionsraten und eine lange Lebensdauer haben. “
Musik 5
"Caisson" - Album: Caisson - Single - Komponist: Loscil - Länge: 0'39
Sprecherin
Die vielleicht erschreckendste Erkenntnis aus einer 2020 veröffentlichten Studie, an der Steve Murawski mitgearbeitet hat: Nahezu jedes der untersuchten Meerestiere war auch zehn Jahre nach der Deepwater-Horizon-Katastrophe noch mit Kohlenwasserstoff, dem wichtigsten Öl-Bestandteil, belastet. Und die meisten Arten haben die Ölpest zwar überlebt. Aber Populationen, besonders diejenigen nahe der Unglücksstelle, sind bis heute kleiner als vor der Katastrophe.
O-Ton 17 Murawski - Voice Over
„Das liegt daran, dass sich Meereslebewesen – vom einfachen Einzeller bis zum großen Fisch - jede Nacht hunderte Meter auf und ab bewegen. So transportieren sie – wie in einem Aufzug - Ölpartikel vom Boden des Ozeans bis an die Meeresoberfläche. Dort werden diese Meerestiere von anderen Raubfischen wie Schwert- oder Thunfisch gefressen, die damit ebenfalls verseucht werden. Dieses Beispiel zeigt uns als Wissenschaftler, dass wir bei der Bewertung der Folgen einer Ölkatastrophe nicht einzelne Arten betrachten dürfen – sondern, dass wir einen ganzheitlichen Blick brauchen. Einen, der die vielfältigen Beziehungen innerhalb eines Ökosystems berücksichtigt.“
Musik 6
"Watching my armor melt" - Album: Gold Dust - EP - Komponist: Jóhann Jóhannsson - Länge: 0'45
Sprecherin
Das Ausmaß der Katastrophe im Golf von Mexiko führte dazu, dass diese Ölpest bislang am umfangreichsten erforscht wurde – und die Wissenschaft so viele Erkenntnisse wie noch nie zu Tage förderte. Erst in Folge des Deepwater-Horizon-Ölunfalls hätten Wissenschaftler eine umfassende Bestandsaufnahme vorgenommen, wie belastet Fauna und Flora durch Öl genau sei, betont der Forscher Steve Murawski. Seine Kolleginnen und Kollegen führten eine Vergleichsstudie mit einer ähnlichen Katastrophe vor der mexikanischen Küste in den Jahren 1979 und 1980 durch, um vorherzusagen, wie lange der Abbau des ausgelaufenen Öls der „Deepwater Horizon“ dauern würde.
O-Ton 18 Johnson - Voice Over
„Blickt man zurück auf den Wissensstand des Jahres 1989, dem Jahr des Tankerunglücks der „Exxon Valdez“, dann haben wir seitdem eine Menge gelernt“
Sprecher
...so das Fazit von Erik Johnson.
O-Ton 18 2. Teil Johnson - Voice Over
„Forscher konnten Prognosemodelle dazu entwickeln, wie genau sich Öl durch die Umwelt bewegt, wie es sich in unterschiedlichen Wasserschichten verteilt, wie Mikroorganismen es aufnehmen - und welchen Weg die schädlichen Stoffe durch ein Ökosystem nehmen. Auch Fragen, wie man die Erholung der Natur von einer solchen Ölpest fördern kann, können wir dank dieser Erkenntnisse besser beantworten als vor 35 Jahren.“
Sprecherin
Der heutige Wissensstand lässt sich so zusammenfassen: Gelangt Öl ins Meer, so ist zuerst schnelles Handeln geboten, damit möglichst wenig an giftigen Substanzen an die Küste oder auf den Grund des Meeres gelangt. Durch Ölsperren, Verbrennung vor Ort – oder durch so genannte Dispergatoren. Der Nachteil: Auch diese chemischen Mittel, die Öl in kleine Partikel auflösen und damit dessen natürlichen Abbau beschleunigen, sind meist giftig. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass die Chemie natürliche ölabbauende Bakterien ausbremst.
Musik 7
"Strathcona" - Komponist: Loscil - Album: Strathcona Variations - EP - Länge: 1'12
Sprecherin
Hat sich das Öl auf dem Meer oder am Strand bereits ausgebreitet, ist es oft am besten, auf die Selbstreinigungskräfte des Ökosystems zu setzen: Beim Tankerunglück in der Bretagne etwa transportierten Wind und Wellen das Öl auf den Ozean hinaus – wo, wie auch im Golf von Mexiko, Mikroorganismen schädliche Ölbestandteile zersetzten. Diesem natürlichen Abbau sind jedoch Grenzen gesetzt: In kalten oder tieferen Boden- oder Meeresschichten arbeiten ölfressende Bakterien langsam - oder gar nicht. Verklumpt das Öl dann oder setzt es sich im Bodensediment fest, müsste man es mühsam mechanisch entfernen, möglicherweise den ganzen Boden abtragen. Oder darauf vertrauen, dass noch immer giftige Substanzen im Boden gespeichert bleiben - ohne früher oder später doch noch Schaden anzurichten. Ein Problem, das auch dem Forscher Steve Murawski in Bezug auf den Golf von Mexiko Kopfzerbrechen bereitet.
O-Ton 19 Murawski - Voice Over
„Hier geht es etwa darum, neue Austernbetten anzulegen – oder Marschland. Dabei ist man mit der schwierigen Frage konfrontiert, ob man Marsch neu pflanzen soll, der womöglich auf ölverseuchtem Sediment wächst und dann wieder eingeht – oder ob man auf die sogenannte Natürliche Attenuation setzt: Natürliche Prozesse, bei denen sich Boden und Wasser nach und nach von selber von Schadstoffen reinigen.“
Sprecherin
Von den 20 Milliarden Dollar an Entschädigung, die der Ölkonzern BP für die Schäden durch die Deepwater-Horizon-Havarie zahlen musste, floss viel in die wissenschaftliche Analyse und Aufarbeitung der Ölpest. Ein erheblicher Teil kam aber auch der Wiederherstellung der Umwelt am Golf von Mexiko zu Gute.
O-Ton 20 Murawski - Voice Over
„Hier hat gerade ein ambitioniertes Groß-Projekt begonnen, um Wasser vom Mississippi abzuzweigen und in die Schwemmgebiete am Golf von Mexiko zu leiten – wo sich Sediment ablagern und damit neues Marschland entstehen kann. Dieses Projekt dient aber nicht nur der Wiederherstellung der Umwelt nach der Deepwater-Horizon-Katastrophe - sondern auch dazu, ökologisch wertvolles Feuchtgebiet zurückzugewinnen, das durch Stürme und Überflutungen in Folge des Klimawandels verloren gegangen ist.“
Sprecherin
Auch die Naturschutz-Organisation Audubon bekam eine Millionensumme für Projekte zur Wiederansiedlung von Wildvögeln. Deren Naturschutzbiologe Erik Johnson setzt große Hoffnungen in das Renaturierungsprojekt – dem bisher größten in der Geschichte des US-Bundesstaates Louisiana.
O-Ton 21 Johnson - Voice Over
„Zunächst werden im Flachwasser Wassergänse oder Schnepfen einen Lebensraum finden. Wenn sich so mit der Zeit neues Land aufbaut, wird Grasland entstehen, in dem Vögel wie die Tropfenralle oder die Strandammer nisten. Schließlich werden dort Bäume wachsen, eine Waldvegetation entstehen, die ganzen Vogelkolonien eine neue Heimat bietet. Ich bin so optimistisch, weil wir bereits jetzt dank der Renaturierungsprojekte, die mit Hilfe der Strafzahlungen realisiert wurden, Erholung in einem Ausmaß sehen, wie wir sie nie erwartet hätten: Etwa im Vogelschutzgebiet der Insel Queen Bess, wo man wieder große Mengen an Königsseeschwalben findet – und auch den mit der Ölpest zu trauriger Berühmtheit gelangten braunen Pelikan.“
Lange Zeit wurde die Literatur der DDR verächtlich abgetan: zu kniefällig, zu parteikonform. Aber es geht darin eben nicht nur um Produktion, Arbeiter- und Bauerntheater, sondern auch um Selbstbehauptung, Empfindsamkeit und Utopien. Welches sind die häufigsten Themen, und wo schlug unbarmherzig die Zensur zu? Autorin: Christine Hamel (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Christine Hamel
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Friedrich Schloffer, Stefan Wilkening, Katja Bürkle
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Literaturwissenschaftlerin Carmen Ulrich, LMU München
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Tiere helfen einander - das gilt für Schweine ebenso wie für Ameisen. Offenbar ist Egoismus kein Konzept, das zum Überleben taugt. Wie vielfältig die Formen von Altruismus und Kooperation sind, findet die Wissenschaft nach und nach heraus. Und stellt sich die Frage nach dem tieferen Sinn dieser Strategien. Autorin: Christiane Seiler
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Martin Trauner
Es sprachen:
Technik:
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr Liza Moscovice, Verhaltensbiologin, Forschungsinstitut für Nutztierbiologie;
Dr. Christian Nawroth, Verhaltensbiologe, Forschungsinstitut für Nutztierbiologie;
Shahin Tavangari, Reviertierpfleger Zoo-Aquarium Berlin,
Hanspeter Dill, Ziegenhalter
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Igel sind wahre Überlebenskünstler. Lange vor der Entstehung der Menschheit durchwanderten sie bereits die Landschaft. Dank ihrer Anpassungsfähigkeit werden sie uns wohl auch in die Zukunft begleiten. (BR 2014) Autorin: Carola Zinner
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Axel Wostry, Burchard Dabinnus
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Bernhard Kastner
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Die Forschung fragt heute nicht mehr nach der Herkunft der Bajuwaren, sondern richtet den Blick mehr auf den Raum, der planmäßig besiedelt wurde mit Menschen verschiedenster Herkunft, die später zu Bajuwaren wurden. Von Thomas Grasberger (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Alexander Duda, Thomas Birnstiel, Kia Ahrndsen
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Irmtraut Heitmeier, Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Lexikon Bayerns und freiberufliche Historikerin
Michaela Harbeck, Anthropologin, Oberkonservatorin Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie in München
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Herkunft der Bajuwaren: Die Fachfrau für das frühe Bayern, die Historikerin Irmtraud Heitmeier, ist auch Gesprächspartnerin in Gerald Hubers Podcast-Folge "Obacht Bayern":
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Jane Goodall. Primatenforscherin, Umweltschützerin, Humanistin und Autorin ist schon zu Lebzeiten Legende geworden. Die Grand Dame des Umweltschutzes engagiert sich bis heute für eine lebenswerte Zukunft. Von Geseko von Lüpke (BR 2019)
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Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer, Irina Wanka
Technik: Daniela Röder
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Lawinen werden intensiv erforscht und die Wissenschaft weiß schon ziemlich viel. Trotzdem: Es bleibt ein Rest von natürlichem Chaos und macht die Lawinen zu Ereignissen, die der Mensch nicht vollkommen kontrollieren kann. Und das macht sie immer noch unberechenbar. Von Georg Bayerle (BR 2023)
Credits
Autor dieser Folge: Georg Bayerle
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Katja Schild
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Dr. Michael Bründl, Gruppenleiter Lawine und Prävention SLF;
Amelie Fees, Wissenschaftliche Mitarbeiterin SLF;
Ernst Flütsch, Laubaenahus St. Antönien;
Pia Ruttner-Jansen, Doktorandin SLF;Dr. Christina Perez-Guillén, Wissenschaftliche Mitarbeiterin SLF;
Dr. Benjamin Walter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter SLF;
Dr. Thomas Feistl, Leiter Lawinenwarndienst Bayern;
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Fernab der einst bekannten Welten entwickelte sich um Christi Geburt auf den Kanaren eine rätselhafte Kultur. Die ersten Bewohner der Inseln im Atlantik scheinen weder über seetaugliche Boote noch über Kenntnisse der Schifffahrt verfügt zu haben. Wie aber waren sie dann auf die Inseln mitten im Meer gekommen? ? Nur eines der vielen spannenden Rätsel rund um die Ur-Kanaren, die Guanchen. Von Lukas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Christian Baumann, Carsten Fabian, Katja Schild, Jennifer Güzel
Technik: Matthieu Belohradsky
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Teresa Delgado, Archäologin und Konservatorin, Museo Canario, Las Palmas de Gran Canaria Prof. Harald Braem, Autor „Auf den Spuren der Ureinwohner: Ein archäologischer Reiseführer für die Kanaren
Dr. Rosa Fregel, Genetikerin, Universidad de La Laguna, Teneriffa
Dr. José Ignacio Sáenz, Direktor Museum Cueva Pintada, Gáldar, Gran Canaria
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher
Touristen schlendern über die Strandpromenade von Maspalomas auf Gran Canaria. Einige schlürfen Eis, andere lassen den Blick über den tiefblauen Atlantik streifen. Für die ovale Steinformation zu ihren Füßen, ein paar Meter strandwärts, scheinen sich die meist deutschen Urlauber kaum zu interessieren.
Musik 2: ARD-Labelmusik Drifting beauty red – Z8021443108 – 29 Sek
…Ganz anders die kanarische Archäologin Teresa Delgado. Für Forschende wie sie sind die Spuren derjenigen, die bereits ein paar Tausend Jahre vor den Touristen auf die Insel kamen, ein spannendes Rätsel - das sie nur nach und nach zu lösen lernen.
O-Ton 1 Dr. Teresa Delgado, Konservatorin am Museo Canario, Las Palmas, span.
Voice Over weiblich
„Das sind Reste einer Siedlung, wie sie für die Ureinwohner der kanarischen Inseln typisch war. Damals boomte die Bevölkerung auf Gran Canaria, ihre Kultur blühte. Menschen, die seinerzeit in Berg-Höhlen lebten, zogen an die Küsten. Die Gesellschaft war im Aufbruch: Vormalige Viehzüchter entwickelten ihre Fähigkeiten im Ackerbau - und begannen auch den Ozean intensiv auszubeuten.“
Sprecher
In den Ruinen von „Punta Mujeres“ fanden die Archäologen Hinterlassenschaften, die auf einen reichhaltigen Fischkonsum der ersten Bewohner Gran Canarias hindeuteten. Doch da war eine Sache, die die Forscher bald ins Grübeln bringen sollte...
O-Ton 2 Delgado
Voice Over weiblich
„Bei dieser und anderen Ausgrabungen haben die Archäologen nie Gräten oder Köpfe von Hochsee-Fischen gefunden. Die ersten Bewohner der Inseln haben wohl nur an oder nahe der Küste gefischt. Darauf, dass sie das ohne Boote taten, weist eine besondere Ohrerkrankung hin, die man in Schädeln der Urkanarier gefunden hat. Diese hatten einen Tumor im Hörkanal, der bei häufigem Kontakt mit kaltem Wasser entsteht – etwa, wenn man am Ufer nach Meerestieren taucht. Auch hat man bei Ausgrabungen nie Überbleibsel von Schiffen entdeckt. In der Gesamtschau verleitet uns das zu dem Schluss, dass die frühen Bewohner der Inseln weder über Boote, noch über Fähigkeiten der Navigation verfügt haben dürften.“
Atmo Meeresrauschen +
Musik 3: ARD Labelmusik Drifting beauty red – siehe oben – 19 Sek
Sprecher
Wie aber waren die ersten Siedler dann auf die kanarischen Inseln gekommen – und warum? Und: Falls sie doch eigene Boote hatten: Weshalb hatten sie sich überhaupt auf die lebensgefährliche Überfahrt übers offene Meer, in unbekannte Gefilde, begeben?
Musik aus
Sprecher
Vieles zur Herkunft und Lebensweise der kanarischen Ureinwohner erscheint uns heute, gut 500 Jahre nach der endgültigen Einnahme der Inseln durch die Spanier, geheimnisvoll. Die iberischen Eroberer haben die Guanchen, Canarios, Majos und Majoreros, die Gomeros, Bimbaches und die Benahoaritas gnadenlos ausgerottet. Deren Kultur und Zivilisation versank im Dunkel der Geschichte.
Musik 4: Weak Sunlight
Grabungs-Funde haben nachgewiesen, dass das mediterrane Seefahrer-Volk der Phönizier bereits im zehnten Jahrhundert vor Christus einen Fuß auf die Insel Lanzarote setzte. Später kamen die Römer. Doch beide waren keine Siedler, betont die Archäologin Teresa Delgado: Es waren wenige Menschen, die dort saisonal Stützpunkte für den Handel, etwa mit Purpur, betrieben. Die Urkanarier, das erste Volk, das die Inseln im Atlantik dauerhaft besiedeln sollte, waren andere...
O-Ton 3 Delgado
Voice Over weiblich
„Die erste nachhaltige Besiedlung der Inseln fand durch Berber-Völker aus dem Nordwesten Afrikas statt. Darauf deuten auch die jüngsten Untersuchungen von Spuren alten Erbguts hin.“
O-Ton 4 Dr. Rosa Fregel, Genforscherin, Universidad de La Laguna, Teneriffa, span.
Voice Over weiblich
„Nach unseren genetischen Analysen waren die ersten dauerhaften Bewohner der Kanaren Berber, die aus dem Norden Afrikas stammen.“
Sprecher
...bestätigt die Forscherin Rosa Fregel von der Universität von La Laguna auf Teneriffa. Die Biologin untersuchte mit ihrer Arbeitsgruppe das Erbgut von 48 Menschen, deren Überreste Archäologen an verschiedenen Orten der Inseln ausgegraben hatten. Die alten Erbgutspuren verraten, dass die Ur-Kanarier offenbar in zwei Wellen übers Wasser kamen: In Fregels Analysen zeigte das Erbgut der ersten Bewohner der östlichen Kanareninseln Lanzarote, Fuerteventura und Gran Canaria einen größeren europäischen Einschlag - während bei den westlicher gelegenen der Anteil an nordafrikanischen Genen überwog. Und: Es war kein homogenes Berber-Volk, das da aus Nordafrika auf das Atlantik-Archipel gelangte.
O-Ton 5 Fregel
Voice Over weiblich
„Es war bereits ein Völkergemisch. Das Erbgut der ersten kanarischen Siedler weist nordafrikanische und mediterrane Elemente auf – sowie aus Subsahara-Afrika. Vor der ersten Migration auf die Kanaren dürfte es größere Wanderungsbewegungen im und in den Norden Afrikas gegeben haben. Auch von Menschen, die südlich der Sahara aufbrachen, Richtung Norden.“
Sprecher
Waren es Verwerfungen rund um die römische Einnahme von Nordafrika, die Menschen unterschiedlicher Herkunft und in großer Zahl vertrieben, und diese zu einer Wanderung bis auf die kanarischen Inseln veranlassten? Nicht nur genetisch, auch ihrem Aussehen nach unterschieden sich die Guanchen, die Ureinwohner Teneriffas, frühen Beschreibungen zufolge deutlich. Der Dominikaner-Pater Fray Alonso de Espinosa, der mit den spanischen Eroberern auf die Insel kam, schilderte die Urbevölkerung einerseits als „dunkel und braungebrannt“; andererseits fand der Priester und Geschichtsschreiber im Norden des Eilands „hellhäutige“ Menschen vor - darunter Frauen „mit blondem und schönem Haar“. Die Forschung der Biologin Rosa Fregel und ihrem Team bestätigt, dass es besonders unter den Ureinwohnern der großen Inseln Teneriffa und Gran Canaria eine große genetische Vielfalt gab.
Musik 5: Weak sunlight – siehe vorne – 29 Sek
Doch: Wer genau wann auf die Inseln kam – und vor allem warum: Diese Fragen lassen sich auch mit Erbgut-Analysen nicht zufriedenstellend beantworten. Für Teresa Delgado passen die Erkenntnisse ihrer Forscher-Kollegin Fregel zumindest zu zwei Theorien über die Ankunft der ersten Siedler auf den Kanaren.
O-Ton 6 Delgado
Voice Over weiblich
„Die erste These geht davon aus, dass ein anderes Volk – wie die Römer – die ersten Inselbewohner herübergebracht, sie quasi auf den Inseln ausgesetzt hat: Als Gefangene oder Sklaven. Eine zweite These ist, dass sie aus eigenem Antrieb und mit eigenen Mitteln gekommen sind. Demnach hätten die Ur-Kanarier die Kunst der Schifffahrt mit der Zeit einfach verlernt. “
Sprecher
Es gibt Quellen, die Wissenschaftler an der These vom Inselvolk ohne jegliche Kenntnisse und Mittel zur Seefahrt zweifeln lassen. So erwähnt der italienische Geschichtsschreiber Leonardo Torriani nach der spanischen Eroberung im 16. Jahrhundert, Boote von Ureinwohnern, gefertigt aus dem Holz von Drachenbäumen. Der deutsche Kanaren-Forscher Harald Braem verweist in diesem Zusammenhang auf Zeugnisse, die die indigene Bevölkerung selbst hinterließ.
O-Ton 7 Braem
„Gran Canaria ist stark vertreten mit interessanten Darstellungen…. die Felsbilder natürlich, sogar von einem Schilfboot. Was jetzt wirklich interessant diskutiert wird, ist, dass diese Boote Schilfboote waren. Dieses Schilf ist quasi unsinkbar, weil es ja hohl ist innen. Und dass mit diesen Schilfbooten diese Expeditionen gemacht wurden.“
Sprecher
Ob es diese Boote wirklich gab, und wie groß der Bewegungsradius damit gewesen sein mag – dies ist und bleibt eine weitere Unbekannte in der Geschichte der Urkanarier. In jedem Fall dürften die ersten Bewohner der Kanaren ihr Dasein über 1000 Jahre lang in Isolation gefristet haben - bis die Europäer die Inseln im späten Mittelalter wiederentdeckten. Selbst die benachbarten Inseln waren stets zum Greifen nah – und doch unerreichbar. Mangels Metallvorkommen stellten die Ur-Kanarier Werkzeuge und Waffen aus Stein und Knochen her. Und noch eine These wird durch DNA-Analysen von Rosa Fregel gestützt: dass sich Wirtschaft und Gesellschaft jeder einzelnen der Kanareninseln unabhängig voneinander entwickelten, Handel oder sonstiger Austausch fand nicht statt:
Ton 8 Fregel
Voice Over weiblich
„insgesamt recht seltene Krankheiten, die auf El Hierro gehäuft auftraten, deuten auf eine starke Blutsverwandtschaft hin - und eine geringe genetische Vielfalt der Bewohner. Auf Gran Canaria dagegen hat sich eine große genetische Diversität erhalten. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass es auf dieser ungleich größeren Insel mehr Vieh und Getreide hab – und mehr Wasser, um auch eine größere Bevölkerung durch Krisenzeiten zu bringen.“
Atmo Plätschern Wasserquelle, darüber weiter mit
Sprecher
Wasser – das gibt und gab es auf der nordwestlichsten Kanareninsel La Palma im Überfluss. Noch heute füllen die unterirdischen Quellen zuverlässig die Trinkwasserreservoirs. Die Nähe zum Wasser: Sie war ein entscheidender Grund, warum gerade hier die einst wichtigste Siedlung der Ureinwohner entstand.
O-Ton 9 Braem
„Wir sind hier im barranco gomeros, im Westen von La Palma, und das ist eine besondere Zone, mit 35 Höhlen der Ureinwohner. (...) Hier in dem barranco werden, hochgerechnet, 200 bis 250 Menschen gelebt haben, Männer, Frauen Kinder.(…) Die Population der Einwohner hier, der Ureinwohner, wird ungefähr auf 10.000 geschätzt, zur Ankunft der Spanier, in zwölf Stämmen aufgeteilt.“
Atmo Schritte, Abstieg in den barranco
Sprecher
Über unwegsames Gelände geht es hinunter, zum Grund der Schlucht. Vor Ankunft der spanischen Eroberer, die Bäume und Sträucher in großer Zahl abholzten, dürfte der Barranco de Los Gomeros bewachsen und die Höhlensiedlung besser zugänglich gewesen sein. Heute prägen Sand, Fels und Geröll eine zerklüftete Landschaft, die schließlich ins Meer mündet.
O-Ton 10 Braem
„Grundnahrungsmittel war das Meer. Dann war ja hier die Anbaumöglichkeit hier am Bach gegeben… Oder natürlich die Ziegen, die meiste Grundlage beruhte auf Ziegen. Also sowohl die Felle, für Kleidung. Oder die Sehnen, die Hörner. Also man konnte von der Ziege das Fleisch, alles verwenden. Das war hier so eigentlich eine ganz gut ausgewogene Kost zwischen Früchten… Beerensammler, nä? Und Gofio gabs ja auch. Gofio, das war die geröstete Wurzel des Farnkrauts...und dann hat man ein Mehl, so n Hirte hatte nen Beutel mit Gofio dabei für unterwegs: Schnell mal ein kleines Brot backen, oder so.“
Sprecher
In den Höhlen des Barranco de Los Gomeros fördern Archäologen noch immer zahlreiche Utensilien der Urkanarier zu Tage, weiß Harald Braem.
Atmo Braem klettert in Höhle herum
O-Ton 11 Braem
„Die interessantesten Sachen sind natürlich immer im vorderen Bereich, wo die Feuerstelle war, und wo man die Abfälle ´rauswarf. Und da findet man am meisten.“
Musik 6: Automatique love
Sprecher
Kunstvolle, aus Knochen geschnitzte Nadeln, mit denen die Ureinwohner Kleidung aus dem Leder der Ziegen nähten, fanden sich in den Höhlen ebenso wie steinernes Werkzeug, mit denen sie Fleisch schnitten. Unmengen an Splittern tönerner Töpfe lassen erahnen, dass hier groß aufgekocht wurde: Die Benahoaritas, so der Name der ersten Siedler auf La Palma, lebten wohl in Verbünden von Großfamilien zusammen. Ein Grund, warum die kanarischen Ureinwohner nicht in einzelnen Höhlen wohnten – sondern sich in Höhlenkomplexen niederließen: Überall dort, wo ihnen die vulkanische Geographie der Inseln genügend Platz bot.
O-Ton 12 Dr. José Ignacio Sáenz, Leiter der archäologischen Stätte Cueva Pintada, Gáldar, Gran Canaria, span.,
Voice Over männlich
„Diese Orte bestehen teils aus natürlichen Höhlen, teils aus künstlichen Eintiefungen, die die Ureinwohner so in den Berg schlugen, dass sie einerseits unterirdische Wohnräume hatten, andererseits aber auch die Flächen der Terrassen nutzen konnten, die die Geografie der Hanglage für sie bereithielt. Später kamen auch freistehende, runde Steinhäuser dazu. Es entstanden nach und nach immer komplexere Siedlungen, wie etwa im Gáldar – wo sich mehr als 60 Häuser rund um die Cueva Pintada, die „bemalte Höhle“, gruppieren.“
Sprecher
...sagt José Ignacio Sáenz. Er leitet das Museum Cueva Pintada in Gáldar, im Nordwesten von Gran Canaria. Der heute knapp 25.000 Einwohner zählende Ort war einst Hauptstadt des Nordreiches der Altkanarier. An der Cueva Pintada von Gáldar zeigt sich, dass die kanarischen Ureinwohner Höhlen nicht nur für weltliche Zwecke nutzten (())
O-Ton 13 Sáenz
Voice Over männlich
„Die Cueva Pintada war keine normale Grabkammer. Bei den dort aufgebahrten Mumien dürfte es sich, ähnlich wie bei christlichen Heiligen-Reliquien, um bedeutende Persönlichkeiten gehandelt haben. Diese Bestattung, möglicherweise eines kanarischen Herrschers, dürfte die Höhle zu einem ,heiligen Ort’ aufgewertet haben.“
Musik 7: Dark Lake
Sprecher
Auch die „bemalte Höhle“ von Gáldar hält, wie José Ignacio Sánz einräumt, letztlich mehr Fragen als Antworten über das Leben und Sterben der kanarischen Ureinwohner bereit. Denn deren Kenntnisse der Mumifizierung wollen nicht recht zu einem ausgewanderten Berbervolk aus Nordafrika passen: Dies rief den französischen Forscher Jean-Paul Canamas auf den Plan: Der behauptete, verbannte oder verschleppte Ägypter seien einst gemeinsam mit den Berbern auf die Inseln gelangt, und hätten dort ihre Bestattungsbräuche eingeführt. Doch warum unterscheiden sich die Arten der Mumifizierung der alten Ägypter und der Altkanarier dann so deutlich? Wie erklärt sich, dass die Ägypter Verstorbene ausweideten, die Urkanarier ihren dagegen mitsamt aller Organe einbalsamierten – und die Leichen schließlich auch noch in Lederhäute einnähten?
Musik aus.
Auch der Sinn und Zweck der Zeichen und Formen an der Wand der Cueva Pintada von Gáldar bleibt bis heute im Dunkel der Vergangenheit verborgen. Markierten die Kreise und Dreiecke, die Archäologen in unterschiedlicher Ausprägung auf allen Kanareninseln entdecken, die Zugehörigkeit zu einem Volk, Stamm oder Familie? Dienten sie einst als eine Art Kalender – oder für religiösen Riten? Die Forscherin Teresa Delgado glaubt: In der vorzeitlichen Gesellschaft der Urkanarier waren handfeste landwirtschaftliche Zwecke und spirituelle Praxis kaum zu trennen.
O-Ton 14 Delgado
Voice Over weiblich
„Diese Menschen mussten den Blick nach oben richten, die Sterne, das Wetter und die Jahreszeiten verfolgen: Sie sahen sich also im wahrsten Sinn des Wortes den Himmelsmächten ausgesetzt.“
Sprecher
Ob sich die Geheimnisse der indigenen Bildersprache jemals vollständig lüften lassen? José Ignacio Sáenz hat daran Zweifel: Denn die ersten Bewohner der kanarischen Inseln hinterließen keinerlei schriftliche Dokumente, ihre Kultur wurde mündlich überliefert. Selbst von ihrer Sprache sind nur Bruchstücke bekannt – etwa die Ureinwohner-Bezeichnung Guanche - die sich aus den Worten „Guan“ für „Mensch“ und „Chinet“ für die Insel Teneriffa zusammensetzt. So bleibt Wissenschaftlern wie Sáenz nur, Scherben zusammenzufügen, auf dass sich ein stimmiges Bild von den ersten Kanariern ergebe; oder, im wahrsten Sinn des Wortes, die Zeichen an der Wand zu deuten: Felsgravuren etwa, oder die Malereien in der Cueva Pintada. Doch diese in ihrer tieferen Bedeutung zu entschlüsseln: Für José Ignacio Sáenz eine schwierige, wenn nicht unmögliche Aufgabe.
O-Ton 15 Saénz
Voice Over männlich
„Als Archäologen kommen wir hier oft nicht weiter, weil wir mit den materiellen Zeugnissen einer Kultur arbeiten. Sobald es um die Welt des Denkens, des Glaubens, der Rituale und der Religion der Urkanarier geht, wird es für uns sehr schnell sehr kompliziert.“
Sprecher
Der Autor Harald Braem taucht in seinen Büchern und Filmen tief ein in diese mythenumrankte Welt der kanarischen Ureinwohner. Literarisch - und mit experimentellen Expeditionen folgt er den Spuren der Urkanarier, auch in seiner Wahlheimat La Palma. Die Gesellschaft der dort lebenden Benahoaritas, das wird dabei deutlich, war eine hierarchische. Die Autorität der Adelsklasse leitete sich ab aus dem Monopol über Mythen und Riten, aber auch aus der Fähigkeit, den Himmelskalender zu deuten. Als Mittler zwischen den Menschen und den übernatürlichen Kräften, als eine Art Priester und Zeremonienmeister traten dabei die Faycanes oder Fayzagues auf dem heiligen Berg der Ureinwohner auf: Dem Idafe – auf dem man Tiere opferte, die Götter beschwor - und weissagte.
O-Ton 16 Braem
„Also, Tieropfer, insofern, als man die Ziege danach aufgegessen hat, mit der ganzen Familie (lacht)...das ist klar. Aber die Innereien, das wurde dann zum Idafe hochgebracht, und dann auf einem kleinen Opferplatz hingelegt für die Seelenvögel. Also Adler, Geier und Raben. Und dann hat man beobachtet, wie die Tiere sich verhalten haben. Und daraus dann geweissagt. Das ganze Ritual ging eigentlich immer um Himmel und Wasser. Dass es wieder regnet und das Wasser kommt. Da gabs ganz ausgeklügelte Rituale von Steinbohrungen bis zu Zicklein, die angebunden wurden. Und die haben dann so gejammert, dass dann die große Regengöttin Munaiba dann ein Erbarmen hatte. Und hat´s dann regnen lassen“
Musik 8: No man’s river
Sprecher
Für kultische Zwecke genutzt worden sein soll auch eine Reihe von Steinbauten, die ebenfalls nach Himmelskörpern ausgerichtet sind - und die bis heute Rätsel aufgeben: Stufenpyramiden, die sich auf der Hälfte der acht kanarischen Inseln finden. Um den Ursprung der imposanten Bauten aus dunklem Lavastein entstand in den 1990er-Jahren eine erbitterte Kontroverse, an der sich Wissenschaftler und geschichtsinteressierte Laien, aber auch kanarischen Nationalisten und Esoteriker beteiligten. Auch Harald Braem hat gemeinsam mit dem norwegischen Archäologen Thor Heyerdahl an der Pyramide von Güimar auf Teneriffa gegraben. Nach Heyerdahls abenteuerlich anmutender These bildeten die kanarischen Pyramiden sowohl zeitlich als auch geografisch eine Zwischenstation auf dem Weg von ägyptischen Sonnenanbetern zu den Maya in Mexiko. Demnach wäre ihre Bauzeit rund 1000 Jahre vor Christi anzusiedeln. Kanarische Wissenschaftler wie die Kuratorin des Museo Canario von Las Palmas, Teresa Delgado, reagieren auf solche Spekulationen zunehmend gereizt.
O-Ton 17 Delgado Teil 1
Voice Over weiblich
„Diese Pyramiden haben nichts mit der Welt der kanarischen Ureinwohner zu tun“
Sprecher
..erklärt Teresa Delgado, Kuratorin des Museo Canario in Las Palmas de Gran Canaria.
O-Ton 17 Delgado Teil 2
Voice Over weiblich
„Das sind Anhäufungen von Lesesteinen, die Bauern von ihren Feldern entfernt haben, die Stufen wurden dazu angelegt, um Früchte oder Getreide zu trocknen. Archäologen haben die Pyramiden nach Ausgrabungen eindeutig auf die Zeit nach der spanischen Eroberung datiert. Es ist schon wichtig, hier der wissenschaftlichen Evidenz zu folgen: Wir können nicht einfach Geschichten verbreiten, die nicht durch die Evidenz wissenschaftlicher Erkenntnis gedeckt sind.“
Sprecher
Diese „archäologischen Erkenntnisse“, entgegnet der deutsche Professor Harald Braem, seien das Ergebnis lediglich einer Grabung - und ließen andere Funde und historische Quellen außer Acht.
O-Ton 18 Braem
„Tatsächlich beschreiben Chronisten wie Leonardo Torriani die Rituale auf solchen Pyramiden. Das gabs ja vor den Spaniern! Da wurden die Könige, die Menceys gekrönt, da wurden die Feste gefeiert an diesen Pyramiden…und wir haben zum Beispiel unter der einen Pyramide eine Höhle ausgegraben, da lagen Scherben, und zwar der Ureinwohner! (()) Also man wird nicht ernstgenommen. Oder, die Ureinwohner werden nicht ernstgenommen.“
Musik 9 Rein – siehe vorn – 48 Sek
Sprecher
Es mangle an Finanzmitteln und Motivation, behauptet Braem. Und es fehlten Forscherinnen und Forscher mit einem frischen Blick, um das archäologische Erbe der kanarischen Ureinwohner unvoreingenommen zu erkunden, ihre steinernen Zeugnisse zum Sprechen zu bringen. Und dennoch: Trotz aller Kritik ist Harald Braem zuversichtlich, dass die weit zurückliegende Zivilisation der Urkanarier nicht in Vergessenheit geraten wird.
O-Ton 19 Braem
„Die Kultur hier ist irgendwie in den Menschen drin, in der Landschaft: Die ist auf eine magische Weise so kraftvoll, dass sie einfach überlebt.“
Manche können nicht genug davon bekommen, Viele ekeln sich davor. Austern sind teure Delikatessen, schmecken aber eigentlich nur nach Salzwasser und Glibber. Für die Meere sind Austern wichtige Wasserfilter. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Irina Wanka, Peter Veit, Hemma Michel
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Bernadette Pogoda, Meeresbiologin am Alfred-Wegener-Institut für Meeresforschung in Bremerhaven.
Diana Nunes, Naturpark-Führerin in der Ria Formosa, Portugal.
Nuno Gomes, Austernzüchter in Olhao, Portugal.
Bruno Amaro, Koch in Faro, Portugal.
Henry Taura, Perlenzüchter auf Tahiti, Französisch-Polynesien
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O 1 Ambiente OV weibl.: (Nunes)
„Das Besondere hier ist, wie die Menschen mit der Natur umgehen! Mit den Pflanzen, mit den Tieren, auch die Art, wie sie z.B. Austern fischen. Und diese Initiativen werden nicht von der Politik vorgegeben, sondern kommen von den Einwohnern selbst. Sie leben seit Generationen am Meer, vom Meer, in Harmonie mit dem Meer. Das ist ein funktionierendes System.“
SPRECHERIN:
Diana Nunes (sprich: Nunesch) sitzt in einem kleinen Motorboot und zeigt auf die Marschlandschaft der Ria Formosa an der portugiesischen Algarve. Dieses Feuchtgebiet ist Heimat von Flamingos, Eisvögeln, Chamäleons, Seepferdchen und: Austern! Die Pädagogin leitet Natur-Führungen durch die zerklüftete Küstenlandschaft.
Gentle Whisper
(((O 2 educational OV weibl.: (Nunes)
„Auf unseren Touren lernen die Besucher das Ökosystem der Ria Formosa kennen. Und ein wichtiger Teil davon sind die Austern. Ich versuche, den Besuchern Respekt für die Arbeit der Leute und den Schutz der Natur zu vermitteln. Fischer sind meistens nicht so gesprächig, aber wir treffen einige älteren Fischer, die inzwischen gerne ihr Wissen und ihre Sichtweise an Besucher oder auch Schüler weitergeben.“)))
ATMO 2 Motorboot 2
ATMO 3 Austernbank
SPRECHERIN:
Am Steuer des Bootes ist Nuno Gomes (sprich: Gomesch). Er ist Austernzüchter. Er lenkt das Boot auf eine mit kleinen schwarzen Bojen abgesteckte Fläche zu. Das Wasser ist hier nur etwa einen Meter tief, am Sandboden befindet sich eine seiner Austernbänke. Etwa ein Dutzend schwarze Säcke aus Fischnetz-Material liegen am Boden, gefüllt mit Millimeter kleinen Austern – Austern-Babys:
O 3 Leben OV männl.: (Gomes)
„Die Auster hat etwa sechs Millimeter, wenn wir sie ins Austernnetz geben. In den nächsten beiden Jahren wachsen die Austern dann zu der Größe heran, mit der sie verkauft werden. 15 Prozent der Austern verenden allerdings. Im Frühling werden sie von einem Virus angegriffen, im Sommer von einem Parasiten. Immer wenn die Wassertemperatur einen Sprung nach oben macht, wird es gefährlich. Das war schon immer so und leider kann man nichts dagegen tun.“
SPRECHERIN:
Nuno Gomes und seine Kollegen erkennen das daran, wenn sich die Austernschalen von alleine öffnen. Dann werden sie aussortiert.
Zwei Mitarbeiter werfen Netzsäcke voll mit Austern ins Wasser. Zuvor hatten sie in ihrem Boot alle Austern herausgenommen, kontrolliert, gegebenenfalls voneinander getrennt und abhängig von ihrer Größe umverteilt.)))
ATMO 4 Netze
O 4 Sortieren OV männl.: (Gomes)
„Alle zwei Wochen werden die Austern sortiert. Wir haben Netze mit verschiedenen Maschengrößen. In die Kleinmaschigen kommen die Babys, in die mit den größten Maschen kommen die ausgewachsenen, die dann schon fertig für den Verkauf sind. Austern wachsen unterschiedlich schnell und unsere Aufgabe ist es, sie so oft umzufüllen, dass am Ende der zwei Jahre alle die gleiche Größe haben.“
ATMO 5 sortieren
De Usuhaia
SPRECHERIN:
In der Ria Formosa mit ihren mäandernden Wasserwegen, vorgelagerten Sand-Inseln sowie dem extremen Gezeiten-Wechsel finden Austern beste Lebensbedingungen. Dazu der hohe Salzgehalt des Atlantikwassers, kaum Wellengang durch die geschützte Lage und die ganzjährig warmen Temperaturen im südlichen Portugal:
O 5 conditions OV männl.: (Gomes)
„Wir haben die besten Verhältnisse hier: viel Phytoplankton, also
Kiesel-, Grün-und andere Algen, die die Austern als Nahrungsmittel brauchen, und auch das ganze Jahr über Sonne. Außerdem ein sehr sauberes Wasser. Keine Verschmutzung, keine Chemie. Und wir haben Menschen, die diese Arbeit mit guter Technik und mit viel Leidenschaft verrichten, und zwar 365 Tage im Jahr. Das ist auch ganz wichtig.“
SPRECHERIN:
Da sind Austern nicht anders als die meisten Pflanzen: sie brauchen Sonne, Wärme und Wasser. Je höher die Temperaturen, umso schneller wachsen sie.
MUSIK 1 (vielleicht etwas Portugiesisches?)
„Pools of light“
SPRECHERIN:
Austern gehören zum Stamm der Weichtiere, genauer gesagt der Schalenweichtiere und zur Familie der Muscheln. Sie bevölkern die Meeresküsten seit 250 Millionen Jahren. Die bekannteste Gattung heißt Ostrea und umfasst über 100 verschiedene Arten. Auster ist also keineswegs gleich Auster!
Dr. Bernadette Pogoda ist Meeresbiologin am Alfred-Wegener-Institut für Meeresforschung in Bremerhaven:
O 6 Arten:
„Austern leben vor allem in Küstengebieten und es gibt unterschiedliche Austern-Arten-Gruppen. Und je nachdem gibt es eher Arten, die an Felsen festwachsen und dort Riffe bilden oder auch als Einzeltiere wachsen, oder es gibt auch Weichbodenarten, d.h. Austern können auch auf einem Sandboden oder Schlickboden Austernriffe bilden. Und es sind Meeres-Organismen, das bedeutet, sie brauchen Salzwasser zum Leben, aber es gibt auch Arten, die in Ästuargebieten, also im Brackwasser von Flussmündungen vorkommen, also bei Wassertemperaturen von bis zu 30 Grad in den Sommermonaten, je nach Art und je nach Region, wo dieser Art vorkommt.“
MUSIK 1 hochziehen bitte
O 7 Gattungen:
„Die eine Gruppe, das sind die sogenannten Cupped Oysters, cup wie die Tasse, weil eine Schalenhälfte ähnlich wie eine Tasse vertieft ist. Dazu gehören etwa die pazifische und die portugiesische Auster, auf Lateinisch heißt diese Gattung Crassostrea. Und die andere Gruppe, das sind die Flat Oysters. Flat wie flach, denn beide Schalenhälften sind sehr flach. Und diese Gattung heißt Ostrea und zu dieser Austernart gehört auch unsere heimische Auster.“
SPRECHERIN:
Die Austern-Expertin leitet ein Projekt, bei dem in der Nordsee Austern wiederangesiedelt werden. Zwar kommen die größten Austern-Populationen in wärmeren Gefilden vor, aber auch hierzulande gab und gibt es die Schalentiere:
O 8 Winter:
„Das Wasser darf in den Wintermonaten bis auf null Grad heruntergehen, die Wassertemperatur ist dann für die Auster nicht so das Problem. Die Auster ist dann in einer Art Winterruhe und frisst nicht und hat ihren ganzen Stoffwechsel heruntergefahren. Problematisch ist es für die Auster, wenn sie im Flachwasser vorkommt und es dort friert in den Wintermonaten. Gerade in den europäischen Wattenmeergebieten gab es ja früher große Austernbänke und die sind regelmäßig von Treibeis, was sich mit den Tidebewegungen nach oben und unten bewegt hat mit den Gezeiten, da sind die oft abgerissen worden und sind eingefroren. Und daran geht das Tier zugrunde, wenn es so kalte Winter sind.“
MUSIK 2
Oceans Deep
SPRECHERIN
Besonders hübsch anzusehen sind Austern von außen eigentlich nicht. Ihre Schale ist zackig, scharfkantig, hart, zerfurcht und hat eine unbestimmbare schmutzig-gräuliche Farbe.
Die abschreckende und harte Schale dient der Abwehr von hungrigen Angreifern und davon kennt die Auster einige:
O 9 Fressfeinde:
„Da gibt´s einmal Seesterne, die an der Auster interessiert sind, und die Seesterne haben ja kleine Saugnäpfe unter ihren Armen und können die Auster auseinanderziehen. Die Auster arbeitet dagegen mit einem sehr starken Schließmuskel und tatsächlich ist es so, wenn ein Seestern die Wahl hat, dann öffnet er lieber eine Mischmuschel, weil er sie leichter aufbekommt als eine starke Auster, weil der Schließmuskel der Auster einen wesentlich größeren Energieaufwand für den Seestern benötigt. Und so kann die Auster ihre Schalenklappen sehr gut zuhalten und der Seestern als Fressfeind kommt dann an das Fleisch der Auster nicht heran. Und auch Großkrebse, also Hummer und größere Krabben, fressen gerne die Austern, dann aber eher jüngere Tiere, die noch nicht so eine feste Schale haben. Und bei flacheren Gewässern gibt es auch eine Menge von Seevögeln, die sich Austern holen und dann die Schale aufknacken mit ihren Schnäbeln oder sie sogar aus größerer Höhe auf Steine herabfallen lassen, so dass die Schale brüchig wird und dann können die Vögel das Fleisch herauspicken.“
Precedessor
SPRECHERIN:
Im Inneren dagegen überrascht die Auster mit einer silbrig-glimmernden und glitzernden Schicht:
O 10 Perlmutt:
„Als Perlmutt bezeichnet man die innere Schalenschicht und die wird aus Kalziumkarbonat aufgebaut und hat noch Einlagerungen verschiedener organischer Stoffe und davon hängt auch ab, welchen Farbton oder welchen Schimmer dieses Perlmutt hat. Das bedeutet also, dass Austernarten unterschiedliche Perlmuttschichten bilden können, aber auch je nachdem, um welche Jahreszeit, um welche Nahrung im Wasser ist, und so entstehen diese charakteristisch schimmernden Perlmuttschimmer. Und im Prinzip ist es einfach die innere Schalenschicht.“
ATMO 6 Meer
SPRECHERIN:
Eingebettet in diese funkelnde Perlmuttschicht lebt der Weichkörper! Er ist mit einer dünnen Haut ummantelt, deren Rand wie ein eingerissener Stoff aussieht und eine lebensnotwendige Funktion hat: der Sensor dieses Mantels betätigt den Schließmuskel.
Bei Erschütterungen schließt der Sensor die Schalenhälften im Bruchteil von Sekunden. Überhaupt hat eine Auster ausschließlich existentielle Organe:
O 11 Weichteile:
„Der Weichkörper einer Auster besteht wie bei allen Muscheln aus Kiemen, aus dem Mantelgewebe und einem Eingeweidesack. Und der Mantel bedeckt Kiemen, Fortpflanzungsorgane, das Herz und die Verdauungsorgane.“
SPRECHERIN:
Das größte Organ der Auster ist der Schließmuskel, der bis zu 40 Prozent der Gesamtmasse ausmacht. Wenn man so will, verspeist der Gourmet also einen Schließmuskel mit Herz, Fortpflanzungs-und Verdauungsorganen sowie Kiemen!
ATMO 7 öffnen
SPRECHERIN:
Nuno Gomes, der portugiesische Austernzüchter, hat einen Netzsack voll mit Austern vom knietiefen, sandigen Meeresboden in sein Boot gehievt. Geankert hat er an einer seiner Austernbänke ein paar hundert Meter vor dem Ufer der kleinen Insel Culatra (sprich: Ku-la-tra, Betonung auf la).
O 12 special OV männl.: (Gomes)
„Beim Typ Special oyster ist die Schale perfekt rund, nicht länglich oder oval und das Fleisch schaut fest aus und füllt die ganze Muschel aus. Wenn du eine Auster siehst, die richtig prall gefüllt ist, ist es eine especial (sprich: espessial), wenn du eine siehst, die transparent ist und die Schale nicht ausfüllt, ist es eine „fina“.
Precedessor
SPRECHERIN:
Austernkenner schätzen besonders, wenn vom Perlmutt möglichst wenig zu sehen ist.
ATMO 8 öffnen 2
SPRECHERIN:
Mit einem speziellen kleinen und sehr scharfen Messer sticht Gomes an eine bestimmte Stelle zwischen den Schalen. Mit einer routinierten Drehbewegung öffnet er eine nach der anderen Muschel. Um ihre Gesundheit und Qualität zu kontrollieren ... und um sie zu probieren:
O 13 Besten OV männl.: (Gomes)
„Wenn ich eine Auster aufmache und sehe, dass sie perfekt geformt ist, geht mir das Herz auf. Die kräftige Farbe der Auster, die runde Form. Das ist der Lohn für die harte Arbeit des Züchters. Er muss ja alle 15 Tage zu seinen Austernbänken raus, die Netze umdrehen, die Muscheln umsortieren, alles Handarbeit. Und dann bleibt nur noch eines zu tun: Kosten!“
O 14 salzig OV männl.: (Gomes)
„… charakteristisch für unsere Austern: sie sind sehr salzig! Das liegt daran, dass es hier an der Algarve selten regnet. Dadurch kommt wenig Süßwasser in die Schalen, sondern fast nur Salzwasser und das bestimmt den Geschmack!“
MUSIK 3
De Usuahia
SPRECHERIN:
Ob Austern für den Menschen genießbar sind, hängt einerseits von der Wasserqualität ab, andererseits von der Jahreszeit. In Europa gilt die R-Regel, also in Monaten mit einem R, September bis April, ist die beste Zeit für Austern-Feinschmecker. Problematisch sind die Zeiten der Algenblüten, erklärt Meeresbiologin Bernadette Pogoda:
O 15 genießbar:
„Die Austern ernähren sich ja filtrierend von Plankton und das sind Kleinstlebewesen, die im Wasser schweben. Und die Austern filtern diese kleinen Nahrungspartikel mit ihren Kiemen aus dem Wasser und vor allem mikroskopisch kleine einzellige Algen. Und in den Frühjahrs-und Sommermonaten kann es durchaus sein, dass giftige Algenblüten auftreten, also Algen, die in großen Konzentrationen auftreten und die für uns Menschen toxische Stoffe produzieren, die aber für die Meeresorganismen nicht toxisch sind. Diese Giftstoffe werden von den Austern aufgenommen und angereichert. Und genau dann sind sie für den Menschen ungenießbar.“
Pools of light
SPRECHERIN:
Für die Austern selbst sind die Algen nicht gefährlich. Wenn sie also weder vom Menschen noch von anderen Fressfeinden vertilgt werden, können Austern 30 Jahre und älter werden. Und dabei große Kolonien bilden, die an Korallenriffe erinnern. Zu verdanken haben sie das auch ihrer flexiblen Art sich fortzupflanzen:
O 16 Fortpflanzung:
„Austern sind Zwitter, d.h. sie können ihr Geschlecht auch während eines einzigen Fortpflanzungszyklus wechseln. Die männlichen Tiere geben Spermienpakete ins Wasser ab und die Weibchen produzieren die Eier. Bei unserer heimischen Austernart in Europa ist es so, dass diese Eier von den Weibchen in der Mantelhülle gehalten werden, also die sind immer noch im Inneren des Tieres. Und mit dem Wasser nehmen die Weibchen dann Spermien auf und dort in der Mantelhülle befruchten die Spermien dann die Eier. Es entwickeln sich kleine Austernlarven, die dann nach einigen Tagen ins Wasser entlassen werden. Die sind noch mikroskopisch klein und leben für ca. zwei Wochen als Planktonorganismen und dann suchen sie sich einen geeigneten Ansiedlungsuntergrund und verwandeln sich. Also ähnlich wie Insektenlarven durchlaufen auch diese jungen Tiere eine Metamorphose.“
MUSIK 4
Scuba Diving
SPRECHERIN:
Wie archäologische Funde zeigen, standen bereits in der Antike Austern auf dem Speiseplan, etwa der Römer oder Ägypter. Eine Ausgrabung in Augsburg förderte zutage, dass – vermutlich - die Fugger gerne Austern verspeisten.
Eine etwas skurrile Legende besagt, dass Kleopatra ihrem Römischen Geliebten Marcus Antonius imponieren wollte, indem sie nach einem gemeinsamen Mahl eine Austern-Perle aus ihrem Ohrring löste, zerstampfte und das Pulver mit Essig vermischt verzehrte.
Hätte die Königin aus dem ägyptischen Ptolemäerreich gewusst, was eine Perle eigentlich ist, hätte sie sie womöglich nicht geschluckt. Die meisten Naturperlen entstehen nämlich, weil zum Beispiel Saugwürmer in die Auster eindringen und diese mit einem Abwehrmechanismus darauf reagiert. Eine Perle ist also in vielen Fällen ein verkalkter Wurm!
O 17 Perle:
„Die Tiere bauen ja ihre Schale aus Kalk auf, aus Kalziumkarbonat und dieses wird aus Drüsen im weichen Gewebe der Tiere abgesondert. Und wenn ein Fremdkörper in dieses Gewebe eindringt, dann wird als Schutzfunktion dieser Fremdkörper auch mit Kalkschichten überzogen und so entsteht eine Perle.“
ATMO 9 Tahiti
Girl with the eatring
SPRECHERIN:
Und genau diesen Schutzmechanismus der Austernmuschel nutzt die Perlenzucht-Industrie. Die sogenannten Perlaustern gehören allerdings nicht der Familie der Austern an, sondern der Familie der Flügelmuscheln. Für den Laien sehen sie nahezu identisch aus, nur produzieren die Perlaustern wesentlich größere und formschönere Perlen als normale Austern.
Besonders geschätzt und teuer gehandelt sind die Austernperlen aus Französisch-Polynesien.
ATMO 10 Trommeln
Hallo
SPRECHERIN:
Eine Perlenfarm auf der Insel Tahiti: Henry Taura (sprich französisch: Ongri Tau-raa) arbeitet hier seit vielen Jahren. Sein Job ist es, möglichst wertvolle Perlen zu produzieren. Hier in der Südsee haben sich die Perlenzüchter auf schwarze Perlen spezialisiert.
Der Tahitianer sitzt an einem Werktisch, auf dem wie in einem Krankenhaus Operations-Besteck liegt. Zunächst betäubt er eine junge Auster, die ihm eine Kollegin aus dem Meerwasser geholt hatte, mit einer Narkose-Spritze. Dann führt er die Operation durch:
O 18 greve OV männl.: (Taura)
„Für die Veredelung brauche ich ein kleines rundes Stück Perlmutt einer Spender- Auster. Das entnehme ich mit so einer Zahnarzt-Zange. Ich suche mir dabei eine Stelle aus, wo mir die Farbe des Perlmutts besonders gefällt. Ich mag die sehr dunklen Töne. Denn diese Farbe wird dann auch die Perle haben. Dieses Stückchen Perlmutt verpflanze ich in die junge Auster, mit ein bisschen Gewebe als Schutz, und zwar in ihre Keimdrüse.“
ATMO 10 Trommeln kurz hochziehen bitte
Scuba diving
O 19 incision OV männl.: (Taura)
„Das ist wirklich eine chirurgische Präzisionsarbeit. Denn das Tier darf dabei ja nicht zu Schaden kommen. Wenn der Kern eingepflanzt ist, kommt die Muschel in ein spezielles Wasserbecken, für etwa zehn Minuten zum Erholen. Danach geht`s wieder ins Meer. Meistens bin ich mit der Qualität der Perlen zufrieden, aber man kann immer noch besser werden.“
SPRECHERIN:
Die nächsten ein bis zwei Jahre verbringen die Perlaustern in abgesteckten Meeresbecken, wo sie sich an Holzstangen klammern. Alle paar Wochen holen die Arbeiter sie aus dem Wasser, reinigen und befreien sie von Tang, Algen usw. Erst wenn die Auster genug Zeit hatte, um den eingesetzten Kern herum einen kalkhaltigen Mantel zu bilden, also die Perle, werden die Muscheln geerntet.
O 20 Traumjob: OV männl.: (Taura)
„Es war immer ein Traumjob für mich, hier zu arbeiten. Und das ist es auch heute noch. Eine schöne Perle zu züchten, ist einfach eine tolle Aufgabe. Und wenn das Produkt, das man mit seinen eigenen Händen schafft, von den Menschen, die hierherkommen, geschätzt wird, ist das eine schöne Bestätigung.“
O 21 Kommerz: OV männl.: (Taura)
„Der Beruf des Perlenzüchters ist gut bezahlt. Aber natürlich ist das auch ein Geschäft, mit dem Geld verdient wird. Zwischen unserer Farm hier und den Kunden in Europa, die die Perlen kaufen, sind mehrere Zwischenhändler. Und alle verdienen etwas daran, viel mehr als ich. Das ist mir schon klar, aber es ist in Ordnung.“
ATMO 11 Ukulele / evtl. crossfaden
MUSIK 5
SPRECHERIN:
Gesunde Austern kommen nicht nur Perlenliebhabern und Feinschmeckern zugute, sondern vor allem dem Ökosystem Meer!
Ähnlich wie Korallenriffe fungieren Austernbänke als Wellenbrecher vor den Küsten und schaffen so Lebensraum für viele Fische und andere Meerestiere. Und sie gehören zu den Reinigungskräften der Ozeane! Für Meeresbiologin Bernadette Pogoda werden Austern aus ökologischer Sicht oft unterschätzt:
O 22 Filtration:
„Unsere heimische Austernart kann bis zu 240 Liter pro Tag filtrieren, das entspricht etwa einer Badewanne. Und da Austern in dichten Austernriffen-oder bänken vorkommen, ist die Gesamtfiltrationsleistung natürlich enorm und damit steigern sie die Wasserqualität in ihrer Umgebung oft erheblich. Und diese Filtration ist Teil der Nahrungsaufnahme, das bedeutet, dass Wasser durch die Kiemen, die wie sehr feine Kämme aufgebaut sind, in das Tier strömt, und die Nahrungsteilchen werden aus dem Wasser herausgekämmt, aber nicht nur Nahrungsteilchen, sondern auch andere Trübstoffe, die im Wasser sind. Diese unverdaulichen Bestandteile, also diese Trübstoffe, die auch mit rausgefiltert wurden, werden von den Austern gebunden und dann als kleine Klümpchen auf dem Meeresboden abgelagert. Dadurch wird das Wasser insgesamt klarer.“
MUSIK 6
„Pools of light“
O 23 Ökosystem:
„Zum Beispiel kann mehr Licht ins Wasser eindringen, wenn das Wasser klarer ist, sodass Meeresalgen, die ja wie unsere Landpflanzen Sauerstoff produzieren, besser wachsen können und diesen Sauerstoff auch im Meerwasser an ihre Umgebung und somit ist das Gesamtökosystem einfach gesünder.“
SPRECHERIN:
Deshalb laufen in mehreren Küsten-Regionen Wiederansiedlungs-Projekte verschwundener Austern-Populationen. Etwa vor der Küste von Hong Kong oder auch in den Flüssen von New York. Millionen von Austernmuscheln werden seit einigen Jahren im Bronx River, Hudson River oder East River an künstlich errichteten Riffen ausgesetzt.
Bernadette Pogoda selbst arbeitet beim einem Projekt in der Nordsee mit. In einer Anlage vor Helgoland züchten die Wissenschaftlerin und ihr Team mithilfe von Elterntieren aus anderen Meeresgegenden eine neue Population.
O 24 Vielfalt:
„Unser Ziel ist, dass wir die Auster wieder ansiedeln mit der Funktion, dass die Auster die Artenvielfalt steigert. Austern sind ökologische Schlüsselarten, so bezeichnen wir sie, weil sie den Lebensraum für viele andere Tierarten gestalten und auch bieten. Und damit erhöhen sie die Biodiversität, also die Artenvielfalt. Austern bilden ja diese dicke Kalkschale und Austern wachsen oft aufeinander, bilden also Aggregationen, später sogar Austernriffe und diese dreidimensionalen Riffe bieten vielen anderen Lebewesen einen Schutzraum, ein Versteck oder sessilen Arten, also sesshaften Arten, einen Siedlungsuntergrund.“
SPRECHERIN:
Sollte das Projekt erfolgreich sein und sich die Austern sogar über das Schutzgebiet vor Helgoland hinaus verbreiten, wäre sogar an ein Fischereimanagement mit Austernzucht denkbar. Dann könnten auch hierzulande Austern-Gourmets einheimische Austern genießen.
ATMO 12 Fischmarkt 1
O Navio
SPRECHERIN:
In Olhao (sprich: Oll-jao) an der portugiesischen Algarve gibt es solch einen lebhaften Fischmarkt. Auf den Tischen der Marktleute häufen sich Fische, Oktopusse, Garnelen, Muscheln und Austern.
ATMO 13 Schalen
SPRECHERIN:
Wobei ein Großteil der portugiesischen Austern an Großhändler aus Frankreich verkauft wird. Dort ist der wichtigste Absatzmarkt Europas. Weltweit ist China der bedeutendste Austern-Produzent.
ATMO 14 Küche
SPRECHERIN:
In den heimischen Küchen und den Restaurants an der Algarve sind Austern erst in den vergangenen Jahren beliebt geworden, seitdem sie hier gezüchtet werden und deshalb bezahlbar sind. Im Lokal „Tertulia“ (sprich: Betonung auf U) in der Provinz-Hauptstadt Faro hat Koch Bruno Amaro ein eigenes Austern-Rezept kreiert:
O 26 Koch OV männl.: (Amaro)
„Unsere typische Wurst Chorizo (sprich: Tschorissó) kommt in eine Auflauf-Form, wird angebraten, dann gebe ich Austernwasser mit zwei Austern dazu und püriere alles … Paprika, Zwiebeln, Knoblauch, etwas geräucherten Schinken und Fischbrühe dazu … nochmal ein paar Austern, zwei Minuten köcheln, fertig. Ich kombiniere ein traditionelles Algarvegericht, das schon meine Oma immer zubereitet hat, die sogenannte Cataplana, mit Austern. Also Hausfrauenkost mit lokalen Produkten, aber mit neuem Touch!“
ATMO 15 Messer
„Pools of light“
SPRECHERIN:
Am liebsten isst Koch Amaro Austern aber roh und direkt aus der Schale. Wie auch Austernzüchter Nuno Gomes. Und der verrät Austern-Freunden in Deutschland ein kleines kulinarisches Geheimes:
O 27 französisch OV männl.: (Gomes)
„Wenn du in Deutschland französische Austern kaufst, ist es sehr gut möglich, dass es eigentlich portugiesische sind. Sie werden hier gezüchtet, dann in Frankreich verpackt und exportiert. Aber eigentlich sprechen sie portugiesisch …“
Der Krieg ist ihr Handwerk. Doch sie kämpfen nicht als Soldaten für ihr Land, sondern gegen Sold, also gegen Bezahlung, für eine fremde Macht. Das Söldnertum besteht schon seit langem. Von Claudia Steiner (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Rahel Comtesse
Technik: Stefan Oberle
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Martin Clauss, Technischen Universität Chemnitz.
Dr. Lennart Gilhaus, Institut für Alte Geschichte der Universität Bonn.
Dr. Johann Schmid (Aussprache wie Schmied), Oberst im Generalstab; Staatswissenschaftler am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) sowie Non-Resident Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN
Der Krieg ist ihr Handwerk. Doch Söldner kämpfen nicht als Soldaten für ihr Land, sondern gegen Sold, also gegen Bezahlung für eine ausländische Macht. So wie die berüchtigte Wagner-Gruppe, die zeitweise an der Seite der russischen Armee in der Ukraine kämpfte, aber auch im afrikanischen Mali im Auftrag der Regierung gegen Rebellen und Dschihadisten. Profi-Krieger werden rekrutiert, wenn zum Beispiel reguläre Armeen Verstärkung brauchen oder auch, weil sie spezielle Fähigkeiten haben, die nur für einen bestimmten Einsatz notwendig sind.
Musik hoch
SPRECHERIN
Ihr rechtlicher Status ist im Zusatzprotokoll aus dem Jahr 1977 zu dem Genfer Abkommen von 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte geregelt. In Artikel 47 heißt es, dass Söldner keinen Anspruch auf den Status eines Kombattanten, also als Angehöriger der Kampftruppen, oder eines Kriegsgefangenen haben. Damit sind sie vom Schutz durch die Genfer Konvention ausgenommen. Im Fall einer Gefangennahme gelten für sie nur die grundlegendsten humanitären Grundsätze. Die Definition, wer als Söldner gilt, ist lang und kompliziert. So heißt es zum Beispiel, dass Söldner im Inland oder Ausland angeworben werden, um in einem bewaffneten Konflikt zu kämpfen und tatsächlich unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen. Wichtig ist unter anderem auch, dass es Söldner um Streben nach persönlichem Gewinn geht. Sie sind zudem keine Staatsangehörige einer der am Konflikt beteiligten Parteien.
Musik: Coming closer red 1‘04
SPRECHERIN
Die Bundeswehr lehnt den Dienst von Söldnern bei Auslandseinsätzen ab. Es ist zudem strafbar, deutsche Staatsangehörige für Kämpfe im Ausland anzuwerben. Wer dennoch für einen ausländischen Auftraggeber in den Krieg oder einen bewaffneten Konflikt zieht, dem droht der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit.
SPRECHERIN
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gab es immer wieder Berichte über Deutsche, die für Kiew im Einsatz sind. Doch wie kann das sein? Bei den meisten dürfte es sich juristisch betrachtet nicht um Söldner handeln, sondern um ausländische Freiwillige, denen es um Hilfestellung und nicht um das Streben nach persönlichem Gewinn geht.
ATMO Soldaten marschieren
SPRECHERIN
Trotz der ausführlichen Definition im Genfer Abkommen ist die Abgrenzung oft schwierig. Es gibt Söldner im klassischen Sinne, die mit der Waffe in der Hand ins Gefecht ziehen, aber auch private Militärunternehmen und -Dienstleister wie die US-amerikanische Privatarmee Blackwater, deren Kämpfer zum Beispiel in Syrien im Einsatz waren. Inzwischen tritt Blackwater unter dem Namen Academi auf. Johann Schmid (sprich: Schmied) ist Oberst im Generalstab und Staatswissenschaftler. Er forscht am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zum Themenkomplex Hybride Kriegführung, lehrt an der Universität Potsdam und ist Non-Resident Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.
O-TON 1
Das Profil reicht gewissermaßen vom Profikämpfer, auch ehemaligen Angehörigen auch westlicher Spezialkräfte beispielsweise, die nach ihrem aktiven Dienst in den Personenschutz eintreten oder sich in Ausbildung und Beratung fremder Streitkräfte betätigen, setzt sich fort über intelligente, regional ausgerichtete Rekrutierungsansätze, (…) oder über die Legionäre der französischen Fremdenlegion. (…) Und es endet in vielleicht einer Extrem-Version, der bewussten Rekrutierung in Gefängnissen auch unter Strafgefangenen durch die russische Wagner-Organisation, (…) wo also speziell für die Sturmangriffe auf Bachmut in Gefängnissen rekrutiert wurde.
MUSIK Artificial developments 0‘22
SPRECHERIN
In der Geschichte gibt es Beispiele für erfolgreiche Söldnerführer, die ein Vermögen anhäufen. Auch heute sind die Vermietung von Kämpfern und das Erbringen von Militärdienstleistungen weltweit ein Milliardengeschäft. Johann Schmid (sprich Schmied):
O-TON 2
Mit 1,5 Millionen Beschäftigten bereits vor circa einem Jahrzehnt über 200 Milliarden US-Dollar Umsatz. In der Hochphase insbesondere, als die USA im Irak und in Afghanistan präsent waren, waren die Vereinigten Staaten auch der Hauptauftraggeber privater Militärunternehmen.
Musik: Ancient troy 0‘23
SPRECHERIN
Dabei ist das Söldnertum kein neues Phänomen. Im Laufe der Zeit kämpften unter anderem Griechen für Ägypter und Perser, Germanen für den römischen Staatsmann Cäsar und Wikinger für die Herrscher von Byzanz. Söldner sind so alt wie die Kriege selbst, sagt Johann Schmid.
O-TON 3
Söldner sind keine Erfindung des 20. oder 21. Jahrhunderts. Söldner sind bereits in der Antike zu beobachten, auch standen sie im Dienste Hannibals oder Karthagos während der Punischen Kriege. (…) Söldner prägten insbesondere vom ausgehenden Mittelalter, das heißt vom 14. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution das Militärwesen in Europa ganz nachhaltig.
Musik: Archaic power 0‘46
SPRECHERIN
Detaillierte Quellen über den Einsatz der Schattenarmeen gibt es zum Beispiel aus der griechischen Zeit. So beschrieb der Athener Xenophon den „Zug der Zehntausend“, den Marsch eines griechischen Söldnerheeres durch das Perserreich, in seinem Werk „Anabasis“. 401 vor Christus ließen sich tausende griechische Krieger rekrutieren, um an der Seite des persischen Prinzen Kyros zu kämpfen. Dieser wollte seinen älteren Bruder Artaxerxes II. vom Thron stoßen – doch das misslang, erklärt Lennart Gilhaus vom Institut für Alte Geschichte der Universität Bonn:
O-TON 4
Die Schlacht bei Kunaxa, das ist die berühmte Schlacht, bei der dann auch die griechischen Söldner eingesetzt wurden, wurde zwar gewonnen, aber Kyros als Thronanwärter starb. Und die Söldnertruppe war dann auf sich alleine gestellt und gegen alle Erwartungen gelang es dieser Truppe von eben über 10.000 Kriegern tatsächlich, ihren Weg durch Kleinasien, Armenien bis ans Schwarze Meer zu finden und dann eben auch wieder zurückzukehren in ihre griechischen Städte, und diesem Zug der 10.000 hat Xenophon eben auch ein literarisches Denkmal gesetzt.
Musik: Last old world (b) 0‘16
SPRECHERIN
Die Männer bekamen einen Grundsold. Doch in der Regel gab es Aussicht auf mehr: Beute. Lennart Gilhaus:
O-TON 5
Aber das Hauptverdienst der Söldner und das war auch der hauptsächliche Anreiz, Söldner zu werden, war Aussicht auf Plünderung. Und das war auch manchmal ganz explizit vorgesehen, dass eben die Söldner aus den geplünderten Gütern bezahlt werden sollten oder eben den Söldnern direkt bestimmt Siedlungen, Dörfer zu Plünderungen überlassen wurden, damit sie sich eben versorgen konnten.
SPRECHERIN
Dabei wurde nicht nur Hab und Gut, Getreide und Vieh geraubt, sondern die Söldner verschleppten auch Menschen, so der Bonner Historiker Gilhaus.
O-TON 6
Sie nahmen natürlich Sklaven auch aus den Dörfern, die sie überfallen haben, gerade wenn das nicht-griechische Dörfer waren und entführten daraus auch mit Vorliebe eben jugendliche Männer und Frauen, die ihnen dann auch sexuell dienstbar sein sollten.
SPRECHERIN
Einen guten Ruf hatten die Miet-Krieger nicht. Wenn Einsätze vorbei waren, Sold-Zahlungen ausblieben, fielen die streunenden Kämpfer oft über Dörfer her. Im Mittelalter zum Beispiel gibt es immer wieder Beschwerden von Nicht-Söldnern über die Truppen, sagt der Historiker Martin Clauss. Der Professor lehrt an der Technischen Universität Chemnitz:
O-TON 7 neu
Leute, die sich selber für ehrbare Ritter, ehrenvolle Kämpfer halten, die schauen dann auf diese Söldner herab, argumentieren, das sind Leute, die das eben nur des Geldes wegen machen. Auch die Ritter, die ehrbaren Ritter, werden bezahlt von ihren Herren, um in den Krieg zu ziehen. Also das Geld spielt überall eine Rolle. Aber bei den Söldnern wird halt immer gesagt, die machen es nur des Geldes wegen. (…) und damit geht dann oft auch so eine Abwertung einher. Nein, das sind eben so ehrlose Leute, sind ja auch Kriminelle. Dass man die schlecht kontrollieren kann, dass die sehr undiszipliniert sind.
Musik: Grey day 0‘41
SPRECHERIN
Ein weiterer Grund für den zweifelhaften Ruf von gekauften Kämpfern kann auch in der Art des Einsatzes begründet sein, denn Söldner agieren oft in Grauzonen. Johann Schmid.
O-TON 8
Also Söldner werden ja häufig gezielt als Stellvertreter oder als Proxies eingesetzt für Operationen in der Grauzone diverser Schnittstellen, also beispielsweise zwischen regulären und irregulären, offenen-verdeckten, legalen und illegalen oder auch kriminellen Bereichen, wo der Auftraggeber ganz bewusst nicht direkt in Erscheinung treten will, weil vielleicht die Legitimität der eigenen politischen Zielsetzung nicht immer gewährleistet ist. Und wenn dann noch Aufgaben hinzukommen, die vielleicht die Bewachung und Ausbeutung von Rohstoffquellen, denken wir an Gold- oder Diamantenminen, Öl- oder Gasvorkommen einhergehen, dann kann sich hier natürlich auch Gier breitmachen, was dann auch die Gewalteskalation weiter beschleunigen kann.
MUSIK: Roundelay 0‘25
SPRECHERIN
Es liegt in der Natur des Söldnertums, dass die Miet-Soldaten bei unterschiedlichen Herrschern in Dienst standen. So waren beispielsweise im 12. Jahrhundert die Brabanzonen aus Niederlothringen für den römisch-deutschen König, den englischen König, aber auch den französischen König tätig. Martin Clauss.
O-TON 9
Im Hundertjährigen Krieg, da sind wir dann im 14. Jahrhundert, da gibt es eine Gruppe, die heißt die Grand Companie, also die große Kompanie. Das zeigt eben schon, das ist eine große Gruppe gewesen. Die haben ursprünglich mal für den französischen König gekämpft und (…) waren dann, wenn sie nicht beschäftigt waren, auch immer ein großes Problem. Das ist etwas, was wir bei Söldnern im Mittelalter immer wieder greifen. Wenn sie dann nicht im Krieg beschäftigt sind, dann stellen sie ein Problem dar, weil sie ja ihr Geschäft betreiben wollen.
SPRECHERIN
Auch der Engländer John Hawkwood schloss sich zeitweise der Großen Kompanie an, später agierte er eigenständig in Norditalien. Seine schlagkräftige Truppe brachte dem Engländer Ruhm ein. John Hawkwood, der in Italien den Namen Giovanni Acuto bekam, wurde ein reicher Mann. Martin Clauss:
O-TON 10
Diese Leute, die Hawkwood bei sich hat: Das sind sehr erfahrene, sehr professionelle Truppen, weil die viel Krieg gesehen haben, weil die das sozusagen gut können. (…) Das hat auch was damit zu tun, dass er es sich leisten kann, auszusuchen. Also er nimmt einfach nicht jeden auf in seine Kompanie, sondern kann auch da selektieren. Das heißt, das ist ein hohes Potenzial an kämpferischer Qualität. (…) Und dann war er sicherlich auch einfach - ich würde fast sagen - politisch sehr geschickt mit den entsprechenden Städten zu verhandeln und das alles so zu seinen Gunsten auszunutzen.
SPRECHERIN
Nach seinem Tod im Jahr 1394 bekam John Hawkwood ein Grabmal im Dom von Florenz. Dass er im prächtigen Dom verewigt wurde, zeigt, wie bedeutend der Militärführer damals war.
MUSIK: Secret proofs red. 0‘29
SPRECHERIN
Nicht allen Söldnerführern gelang es, politisch so klug zu agieren wie John Hawkwood. Zu mächtige Söldnerführer, die sich gegen ihren Auftraggeber stellten, wurden verfolgt und ermordet. Beispiel: Albrecht von Wallenstein. Dessen Truppen kämpften im Dreißigjährigen Krieg für Kaiser Ferdinand II. gegen Dänemark und Schweden. Johann Schmid.
O-TON 11
Wallenstein war ja der Kriegsunternehmer par excellence, der im Auftrag des Kaisers Heere aufstellte, organisierte, versorgte und auch geführt hat.
SPRECHERIN
Doch Wallenstein soll – trotz anderer Interessen des Kaisers – Friedensgespräche mit den Schweden aufgenommen haben. Es wurde ihm der Vorwurf des Hochverrats gemacht. Der Feldherr floh, um seiner Verhaftung zu entgehen. Am 16. Februar 1634 drangen schließlich kaisertreue Offiziere in ein Haus in Eger, im heutigen Tschechien ein, und erstachen Wallenstein.
MUSIK: Dark figures 1‘04
SPRECHERIN
Auch dem ehemaligen Chef der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, wurde seine Macht offenbar zum Verhängnis. Beim Überfall Russlands auf die Ukraine kämpften Wagner-Söldner zunächst gemeinsam mit russischen Soldaten. Wagner-Chef Prigoschin fühlte sich aber bald mächtig genug, um öffentlich Kritik an der russischen Führung zu äußern. Im Juni 2023 marschierte ein Teil seiner Truppe dann in Richtung Moskau. Prigoschin nannte die Aktion den „Marsch der Gerechtigkeit“. Die Meuterei endete damit, dass Prigoschin und seine Männer nach Belarus abziehen durften. Doch durch den versuchten Putsch machte sich Prigoschin Russlands Präsident Wladimir Putin zum Feind. Zwei Monate später stürzte der Söldnerführer unter ungeklärten Umständen mit seinem Privatflugzeug ab. Viele Beobachter gehen davon aus, dass der Wagner-Chef beseitigt wurde. Johann Schmid:
O-TON 12
Die Meuterei, der versuchte Marsch auf Moskau als Machtdemonstration hat vermutlich das Fass dann zum Überlaufen gebracht.
MUSIK: Dark operation red 0‘26
SPRECHERIN
Wenn der Krieg die Geschäftsgrundlage ist, ist das Interesse an Frieden in der Regel nicht besonders groß. Das war immer wieder ein Problem beim Einsatz von Söldner-Truppen, sagt Martin Clauss.
O-TON 13
Der Auftraggeber möchte ja in der Regel eine bestimmte Konstellation militärisch gelöst haben. Und wenn sie dann gelöst ist, dann soll eben auch die ganze Sache vorbei sein. Dann sollen die Söldner nach Hause gehen. Die Zahlungen sollen eingestellt werden. Und die Söldner auf der anderen Seite, gerade wenn zwei Söldnerheere gegeneinander agieren, haben dann ein Interesse daran, den Konflikt einfach immer, ich sag mal, auf kleiner Flamme am Laufen zu halten, damit eben immer das Geld weiter fließt.
MUSIK: Dark operation red 0‘22
SPRECHERIN
Doch warum zogen junge Männer überhaupt für andere Herrscher in den Krieg? Eines der Hauptmotive waren gute Einkommensmöglichkeiten. Lennart Gilhaus:
O-TON 14
Wenn man eben ein junger Mann ist, vielleicht der zweite oder dritte Sohn, der kein Auskommen auf dem väterlichen Hof irgendwo im Hinterland der Peloponnes hat, dann wird man für kurze Zeit Söldner und versuchte, sein Auskommen zu finden. Aber für die wenigsten Menschen ist das ein Lebensweg, den man über viele Jahre eigentlich gehen möchte.
SPRECHERIN
Bei den Griechen gab es sogar professionelle Anwerber, meist ehemalige Soldaten, die mit ihrem Reichtum und ihren Erfolgen prahlten. Auch einige andere Völker ließen sich gerne anwerben – wie später etwa die Schweizer Reisläufer. Es handelte sich um junge Männer, die für die Feldzüge auf Reisen waren - daher der Name. Der Chemnitzer Historiker Martin Clauss.
O-TON 15
Das waren Fußkämpfer, sehr, sehr professionelle, sehr erfolgreiche, sehr effiziente Fußkämpfer, die dann irgendwann aufgrund dieser Professionalität das zum Geschäft gemacht haben. Also weil die einfach auf den Schlachtfeldern Europas in einer bestimmten Zeit, 14., 15., Anfang des 16. Jahrhunderts so erfolgreich waren, dass sie sehr viel Angebote bekommen haben. Das war sozusagen eine Marke. (…) Und das hat dann quasi als Geschäftsmodell so gut funktioniert, dass die Schweizer damit europaweit ein Stück weit die Schlachtfelder beherrscht haben.
SPRECHERIN
Reisläufer führten unter anderem für Frankreich, Spanien, Österreich, Ungarn und die Niederlande Krieg. Einige Familien stellten ganze Armeen zusammen und sandten diese in den Krieg. Sie verdienten mit den exzellenten Söldnern ein Vermögen.
Musik: March to war 2 0‘41
SPRECHERIN
Erste Zweifel an diesem erfolgreichen Geschäftsmodells kamen im Jahr 1709 mit der Schlacht von Malplaquet auf. Englisch-holländische und kaiserliche Heere standen französischen Truppen gegenüber. Schweizer Söldner leisteten auf beiden Seiten Dienst und töteten sich gegenseitig. 8.000 Eidgenossen sollen bei der Schlacht ihr Leben gelassen haben. Dieser Bruderkrieg sorgte für heftige Diskussionen. Seit 1859 ist Schweizern der Dienst in fremden Armeen offiziell verboten.
Musik: Vatikanhymne 0‘48
SPRECHERIN
Eine Ausnahme von dem Verbot ist die 1506 gegründete päpstliche Schweizergarde. Es gelten strenge Regeln für junge Männer, die Gardist werden wollen: Sie müssen unter anderem praktizierende Katholiken, Schweizer Bürger und beim Eintritt ledig sein. Zudem wird eine abgeschlossene Rekrutenschule der Schweizer Armee vorausgesetzt. Die Gardisten – bewaffnet mit Schwert und Hellebarde - erhalten kostenlose Unterkunft und Verpflegung im Vatikan, aber ein vergleichsweise geringes Gehalt – für die jungen Männer scheint meist der Ruhm der alt-ehrwürdigen Einheit eine Rolle zu spielen, um sich für mindestens 26 Monate zu verpflichten.
MUSIK hoch
SPRECHERIN
Das Söldnertum war lange Zeit die dominierende Form der Rekrutierung von Streitkräften in Europa – dies änderte sich erst mit der Französischen Revolution. Bei der sogenannten Leveé en masse, der Massenaushebung, handelte es sich um eine Form der Wehrpflicht, erklärt Johann Schmid.
O-TON 16
Damit wurden Soldaten billig, Massen verfügbar und das führte dann umgehend auch zu einer Radikalisierung der Kriegführung. Das ermöglichte gewissermaßen erst eine Kriegführung im Stile Napoleons, bei der man auf die Schlachtentscheidung setzen konnte und Schlachten annehmen und schlagen konnte, ohne Rücksicht auf Verluste, weil die wehrpflichtigen Soldaten im Vergleich zu Söldnern billig waren und einfach ersetzt werden konnte.
Musik: East attack 0‘18
SPRECHERIN
Neben Geld können übrigens auch ideologische Gründe für Söldner eine Rolle spielen, wie das Beispiel der Terrororganisation Islamischer Staat, kurz IS, zeigt. Johann Schmid:
O-TON 17
Das Phänomen, dass junge Männer, Frauen aus europäischen Ländern, auch aus Deutschland, auf eigene Faust in den Krieg ziehen, haben wir ja im größeren Maßstab 2014, 15 gesehen als Tausende junge Männer und Frauen aus Europa (…) dem sogenannten Islamischen Staat nach Syrien und in den Irak folgten, und sich als Kämpfer angeschlossen haben. Hier ist sicherlich nicht das monetäre Motiv im Vordergrund, sondern gewissermaßen die Möglichkeit, Macht, Ideologie oder einen spezifischen Lebensstil ausleben zu können oder auch mit Blick auf jenseitige Orientierungen.
SPRECHERIN
Angeworben wurden die Muslime oft über Propaganda-Videos in sozialen Netzwerken, in denen der Tod als Märtyrer idealisiert wurde. Viele, auch westliche IS-Terroristen starben in Gefechten. Andere kehrten oft radikalisiert wieder zurück. Der Staatswissenschaftler Johann Schmid.
O-TON 18
Besonders problematisch in diesem Kontext ist, dass der Auftraggeber hier eine als Staat auftretende Terrororganisation ist, bei der Terror, Terrorismus, Folter und Mord zum Handwerkszeug gehören, mit der auch eine ideologische Radikalisierung islamistischer Prägung einhergeht und mit der letztendlich radikale totalitäre Zielsetzungen - Stichwort weltweites Kalifat - verfolgt werden. Und wo sich dann natürlich auch Betätigungsfelder nach Rückkehr aus dem Einsatz in Anführungszeichen nach Deutschland, nach Europa ergeben. Denken wir an die Terroranschläge in Paris auf das Bataclan, in Brüssel auf den Flughafen oder in Berlin auf den Weihnachtsmarkt.
MUSIK: Contant fear red 0‘27
SPRECHERIN
Viele Länder setzen heutzutage auf reguläre Armeen. Dennoch haben Söldner – in Zeiten des Outsourcings und Sparens – weiter eine Zukunft, besonders, weil Kriege und Konflikte zunehmend in hybrider Form ausgetragen werden. Johann Schmid:
O-TON 19
Das heißt, dass bewusst in Grauzonen diverser Schnittstellen operiert wird, also in den Schnittstellen beispielsweise zwischen Krieg und Frieden, zwischen Freund und Feind, zwischen innerer und äußerer Sicherheit, zivilen und militärischen, staatlichen und nichtstaatlichen Verantwortungsbereichen, dass dabei insbesondere auch unorthodoxe Mittel- und Methoden-Kombinationen zum Tragen kommen können. (…)
SPRECHERIN
Das heißt: Söldner werden auch immer wieder für Operationen einsetzt, für die Staaten zum Beispiel aus rechtlichen Gründen keine regulären Soldaten einsetzen können oder möchten.
O-TON 20
Und damit einher geht häufig das Streben der Hauptakteure dahinter nach Ambiguität, nach Verschleierung, nach plausibler Abstreitbarkeit einer eigenen Beteiligung und für derart unorthodoxes Operieren in der hybriden Grauzone von Schnittstellen,
Foreboding of war (alternativ) 0‘34
dafür sind Söldner-Formationen besonders geeignet, weil man sie passgenau aufstellen oder einkaufen kann, weil man sie als Stellvertreter einsetzen kann, um den Auftraggeber aus der Schusslinie zu nehmen und weil man sie eben auch für Aufgaben in der Grauzone einsetzen kann, für die reguläre Streitkräfte so hier nicht infrage kommen.
Warum sind Mammuts, Säbelzahntiger und Wollnashorn ausgestorben? Waren es die Temperaturen oder war es der Mensch? Weltweit wird das Schicksal der damaligen Megafauna erforscht. Im tauenden Permafrostboden kommen nun neue Erkenntnisse zutage. Vielleicht können wir die Riesen bald zu neuem Leben erwecken. Von Brigitte Kramer (BR 2021)
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Christian Baumann, Marlen Reichert
Technik: Helge Schwaru
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Manche Menschen begeben sich zur Sinnsuche in den Garten. Dort, so sagen sie, begegnen sie den ganz großen Themen des Lebens: Anfang und Neubeginn, Durchsetzung und Unterwerfung, Entstehen und Vergehen, Konkurrenz und Miteinander und nicht zuletzt dem ewigen Kreislauf des Lebens. (BR 2022) Autorin: Karin Lamsfuß
Autor/in dieser Folge: Karin Lamfuß
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Bürkle, Peter Weiss
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Mensch ohne Natur? - Der Mensch, das ökologische Wesen
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Der Wald - Rückzugsort für Natur und Seele
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Die Deutschen und ihr Wald - Eine Beziehungsgeschichte
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Literaturtipps:
Gerhard Dane: Im Garten kannst du Gott begegnen, Don Bosco Verlag 2011
Blanka Stolz: Die Philosophie des Gärtnerns, Suhrkamp 2017
Pflanzenjäger - kein scherzhafter Begriff, sondern ein uralter Beruf! Ob im Auftrag eines Königs oder der Forschung, an Deck eines Schiffs oder mitten im Dschungel - lebensgefährlich war die Pflanzenjagd immer. Von Anja Mösing (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Niels Köster (Dr.; Biologe und Kustos für tropische und subtropische Pflanzen am Botanischen Garten, Berlin)
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
ATMO Dschungel
ERZÄHLER
Es sind 24 Kanus. Die Männer darin haben Musketen. Den ganzen Tag schon beschießen sich die beiden verfeindeten Gruppen. Sie sind kriegerisch, die Papua auf Neuguinea. Und es heißt sogar, dass sie die Köpfe ihrer besiegten Feinde sammeln, als Trophäen! Trotzdem: Wilhelm Micholitz braucht ihre Unterstützung. Er sitzt zwischen ihnen, in einem der Kanus. Und er hofft, dass sie bald weiterfahren können. Nur haben die Männer in Kriegsbemalung momentan ganz anderes im Sinn.
Micholitz lässt sich von den paar Musketenschüssen nicht beeindrucken. Auch nicht von der tropischen Hitze und Feuchtigkeit. Micholitz hat einen neuen Auftrag. Nur der interessiert ihn: Für seinen Chef in London soll er wieder Orchideen finden. Dieses Mal die mit den zartlilafarbenen Blütenblättern: „Dendrobium phaleanopsis“. Von denen gibt es in ganz Europa Ende der 1880er Jahre nur drei Exemplare.
Diese Pflanzen sind eine Rarität! Und Micholitz Chef will damit bei den Orchideen-Verrückten Sammlern in Europa einen großen Coup landen. Er [gemeint ist der Chef] hat alte Aufzeichnungen entdeckt und ist sicher, dass sie irgendwo hier wachsen müssen, bei den Kopfjägern in Neuguinea.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Auftraggeber von Wilhelm Micholitz ist der Unternehmer Friedrich Sander. Aus dem Briefwechsel zwischen den beiden weiß man heute viel über den sogenannten „Orchideenkrieg“ im 19. Jahrhundert: ein Wettlauf europäischer Gärtnereien um exotische Pflanzen. – Der unrühmliche Höhepunkt einer jahrhundertelangen Entwicklung.
ERZÄHLER
Sander war als junger Gärtner aus Bremen nach London gekommen und wurde dort mit seiner Orchideengärtnerei weltberühmt. Um die sensationshungrige, meist adelige Kundschaft zufrieden zu stellen, beschäftigte der ungekrönte „Orchideenkönig“ Jäger – Pflanzenjäger!
O-TON 1 Köster
Der Begriff "plant hunter" bezog sich ursprünglich auf die Leute, die hauptberuflich durch bisher unbekannte Gegenden gezogen sind und neue Pflanzen nach Europa gebracht haben.
ERZÄHLERIN
Niels Köster ist promovierter Biologe am Botanischen Garten von Berlin. Für den Verband Botanischer Gärten hat er eine große Wanderausstellung über Forscher, Sammler und Pflanzenjäger kuratiert. Pflanzenjäger? Das klingt seltsam!
MUSIK aus
O-TON 2 Köster
Das waren normalerweise Auftragsjäger für größere Handelsgärtnereien. Also „Sanders“ oder „Veitch“ in Großbritannien. Die Briten als klassisches Gartenvolk hatten natürlich größere Gärtnereien, die ja extrem viele Pflanzen umgesetzt haben. Und einige von diesen Gärtnereien hatten bis zu 20 Leute gleichzeitig überall auf der Welt unterwegs, die für sie Pflanzen gesammelt haben.
ERZÄHLER
Im Ausland Pflanzen tausendfach einsammeln? Das ging im 19. Jahrhundert. Einer Zeit, in der sich manche Männer in Frack und Zylinder so benahmen, als seien fremde Kontinente große Schatztruhen und Europäer hätten die Lizenz, alle nach Belieben zu plündern.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Dabei klingt „Pflanzensammeln“ erst mal nach einer harmlosen Tätigkeit. Tatsächlich brauchte es dazu Draufgängertum und Leidensfähigkeit, meint Niels Köster:
O-TON 3 Köster
Wenn sie sich überlegen, um allein schon, von Europa nach Amerika zu kommen: Wochenlange Seereisen zu extrem vielen Leuten an Bord. Wasserknappheit, es brechen Krankheiten aus wie Typhus. Es war nicht selten, dass gut die Hälfte der Leute, die an Bord gegangen sind, letztendlich unterwegs gestorben ist. Also das war relativ normal. Dann natürlich auch vor Ort oftmals monatelange Bootsreisen, Flüsse entlang, zu Fuß ganz viel, tropische Krankheiten verschiedenster Art, letztendlich das Klima verträgt auch weiß Gott nicht jeder, die große Hitze teilweise. Also schon kein leichtes Leben.
MUSIK aus und neu
ERZÄHLER
Leicht sicher nicht, aber eines voller Freiheit und Abenteuer mit Aussicht auf märchenhaften Erfolg! Darum hatte die Jagd nach seltenen oder in Europa noch völlig unbekannten Pflanzen schon immer eine ungeheure Anziehungskraft.
ERZÄHLERIN
Renate Hücking und Kej Hielscher beschreiben in ihrem packenden Buch „Pflanzenjäger“ Männer und Frauen, die alle Sicherheiten des europäischen Lebens hinter sich gelassen haben, auch ihre Familien und oft ihr Leben auf Spiel setzten, um diesem Beruf nach zu gehen.
ATMO
ERZÄHLER
Amalie Dietrichs war eine von ihnen. Sie stammte aus einfachen Verhältnissen im sächsischen Siebenlehen und arbeitete Mitte des 19. Jahrhunderts ganze zehn Jahre als Pflanzenjägerin in Australien. Sie durchwanderte die Küstengebiete, sammelte Holzproben australischer Bäume, presste Moose, Farne und Gräser, sogar Algen und Pilze und schickte alles exklusiv an den reichen hanseatischen Kaufmann Godeffroy. So konnte sie den Lebensunterhalt und die Schule ihrer Tochter in Deutschland finanziern. Ein neuer Vollzeitberuf im 19. Jahrhundert.
MUSIK
O-TON 4 Köster
Letztendlich ist dieses Suchen nach Pflanzen aber sehr-sehr alt. Die ersten konkreten Belege kann man sich am Totentempel der Hatschepsut, einer Pharaonin in Ägypten, so um 1.500 vor Christi Geburt, anschauen. Da hat sie nämlich darstellen lassen, wie sie eine Expedition nach Punt, das war dieses sagenumwobene Land, irgendwo am Horn von Afrika, ausgesandt hat, um Weihrauch-Bäume und vor allem auch Myrrhe-Bäume nach Ägypten zu bringen. Die sie dann wirklich als ganze Bäume mit riesigen Wurzelballen hat herbringen lassen: über See, über Land. Und die wurden dann am Eingang ihres Tempels eingepflanzt, in riesige Kübel.
ERZÄHLERIN
Schon bei dieser ersten belegten Pflanzenjagd der Geschichte ging es keineswegs darum, mit den erbeuteten Pflanzen leere Vorratskammern zu füllen.
O-TON 5 Köster
Da ging es natürlich auch schon drum: Schaut her was ich kann! Von tausenden von Kilometern entfernt Pflanzen hierherbringen lassen! Und die hier kultivieren lassen! Das war natürlich, ja, extrem spektakulär. Das ging damals schon los.
ERZÄHLER
Etwas Exotisches zu besitzen war schon immer eine starke Triebfeder für menschliche Unternehmungen. Überall auf der Welt!
MUSIK
ERZÄHLERIN
Im Europa nördlich der Alpen wurde das Bedürfnis nach Exotik noch durch einen gewissen Mangel befeuert. Einen Mangel, den man heute leicht vergisst, bei all der bunten Fülle an fremdländischen Pflanzen und Bäumen, die hier inzwischen heimisch gemacht wurden; all den Geranien, Pfingstrosen, Lupinen, Clematis, Blauregen, Goldregen, Akazien, Douglasien, den Rosskastanien undundund.
MUSIK
ERZÄHLER
Tatsächlich war Europa nördlich der Alpen über Jahrtausende hinweg relativ arm an Pflanzenarten.
O-TON 6 Köster
Richtung Äquator nimmt die Artenzahl zu. Das ist generell so. In Europa haben wir aber den Spezialfall, dass wir die Eiszeiten hatten, die ja erst vor 10.000 Jahren, die letzte, aufhörte. Und die haben dazu geführt, dass ganz-ganz viele Arten ausgestorben sind, die es vorher in Europa auch gab. Wenn Sie heute in der rheinischen Braunkohle buddeln, finden sie ganz-ganz viele Gattungen, die es in Nordamerika und in Ostasien noch gibt. Die in Europa aber damals in den Eiszeiten ausgestorben sind.
ERZÄHLER
Natürlich fanden die eisigen Perioden auch auf den anderen Kontinenten statt. Nur konnten die Pflanzenarten dort durch langsame Samenausbreitung wieder zurückwandern. Bei uns waren da die Alpen im Weg, erklärt Niels Köster:
O-TON 7 Köster
Wenn Sie sich ne Landkarte anschauen, in Europa verlaufen ja die Gebirge, die Pyrenäen, die Alpen, von Ost nach West. Als es kälter wurde, sich die Eisschilde über Skandinavien bildeten, die Arten nach Süden abgedrängt wurden, irgendwann standen die sozusagen vor den Alpen und konnten nicht weiter! Denn die waren schon vergletschert. Und sind dann letztendlich ausgestorben. Und das ist in Nordamerika und Ostasien nicht passiert. Denn in Nordamerika zum Beispiel die Rocky Mountains, die Appalachen, die verlaufen ja von Nord nach Süden. Da konnten also die Arten nach Süden wandern. Und später, als es wieder wärmer wurde, wieder nach Norden zurückwandern. Deswegen haben wir, gerade wenn wir Baumarten vergleichen, viel-viel mehr Arten in Nordamerika und Ostasien als in Europa.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Nachdem die Menschen nördlich der Alpen vor rund 12.000 Jahren von Jägern und Sammlern langsam zu Ackerbauern wurden, kam auch der Tauschhandel bald in Schwung. In unseren Breiten wurden schon um 5000 vor Christus weit mehr als Feuersteinknollen und Keramiken getauscht. Immer wieder kamen auf diese Art wichtige neue Pflanzenarten hinzu: wie der Flachs für Bekleidung, die Erbsen als Nahrungsmittel oder Kräuter für Zeremonien.
ERZÄHLER
Kaufleute, Seefahrer, auch Söldner und Eroberer, sie alle brachten neue Gewächse wie die weiße Lilie, auch Samen oder Wurzelstöcke, aber immer nur in sehr kleiner Stückzahl, von Ort zu Ort. Als Andenken, als Kuriosum, oder weil sie, wie die Römer, ihre Ernährungsgewohnheiten auch in den eroberten Gebieten beibehalten wollten. Darum bauten sie auch in Germanien ihre heimischen Weinstöcke an und in Britannien ihre römischen Rettiche und Gurken.
Zu den ersten „Nebenerwerbs-Pflanzenjägern“ gehörten vor allem Mönche und Nonnen. In ihren Klostergärten sammelten und kultivierten sie Heilkräuter als Arzneimittel und gaben sie auch von Kloster zu Kloster weiter.
MUSIK aus
und ATMO
ERZÄHLER
Erst mit dem Zeitalter der Entdeckungsfahrten im 15. Und 16. Jahrhundert kam Schwung in die Pflanzenjagd. Der Gewürzhandel war damals eine mächtige Triebfeder. Portugiesische, spanische, italienische und englische Seeleute spielten eine große Rolle. Aber auch die niederländischen Kaufleute der „Oostindien Kompagnie“ brachten mit ihren Segelschiffen nie dagewesene Pflanzen nach Europa. Allzu oft hatten knallharte Handelsinteressen Vorrang vor naturkundlichem Wissendurst. Das bekamen Pflanzensammler Ende des 16. Jahrhunderts immer wieder unangenehm zu spüren:
MUSIK
O-TON 8 Köster
Ein Beispiel wäre Georg Rumpf, den man vor allem unter seinem latinisierten Namen „Rumphius“ kennt. Der war Offizier bei der niederländischen Ostindien Compagnie und ist mit denen auf die Molukken gereist und ist da jahrzehntelang auf der Insel Ambon gewesen. Das war eine der Herkunftsinseln, wo die Muskatnuss und die Nelke wuchs. Die beiden höchstpreisigen Gewürze damals, die wirklich extrem wertvoll waren. Und der hat dann dort alles an Pflanzen gesammelt, was er gefunden hat. Hat sich das aber natürlich auch von Einheimischen bringen lassen.
ERZÄHLERIN
Und Rumphius hat in seinen rund 50 Jahren auf den Gewürzinseln all diese exotischen Pflanzen exakt und penibel gezeichnet, auch benannt und in seinem Buch „Herbarium Amboniense“ zusammengefasst. Trotz der hochinteressanten Beschreibungen wurde es nicht mehr zu Rumpfius Lebzeiten veröffentlicht. Warum, das ist unter Biologen kein Geheimnis:
O-TON 9 Köster
Vermutlich vor allen Dingen deswegen, weil die niederländische Oostindien Kompagnie Konkurrenz fürchtete! Das waren nämlich ziemlich gute Zeichnungen. Und anhand derer hätte man solche Pflanzen auch ganz gut wiedererkennen können. Und deswegen haben die das blockiert sozusagen, die Publikation. Ja, um eben keine Konkurrenz zu bekommen im Gewürzhandel!
ERZÄHLER
Ihre Kunden in Europa bezahlten zwar seit eh und je horrende Preise für Muskatnüsse und Nelken, wussten aber lange nicht, wie und vor allem wo diese Gewürze überhaupt wachsen.
ERZÄHLERIN
Überhaupt duldete man die Tätigkeit von Naturforschern eher nur. Dieses Erbeuten von Pflanzen wurde während der gefährlichen Reisen an Bord von Handels- oder Kriegsschiffen lange Zeit nicht wirklich gefördert oder gar respektiert. Ankerte das Schiff an einer unbekannten Küste, blieb man nur solange, wie es für das Auffüllen der Wasserreserven und Proviant nötig war. Nicht solange, wie es der Naturkundler für seine Botanisier-Arbeiten [sic!] gebraucht hätte!
ERZÄHLER
Erst daheim, in Europa, wurde die Pflanzensammler für ihre pflanzenkundlichen Schriften und Zeichnungen gefeiert. Besonders für die kostbaren Herbarien: Bücher mit gepressten, getrockneten und beschrifteten zarten Pflanzen. Nun kam die Jagd nach Grünen Schätzen in Mode!
MUSIK
ZITATOR
„Guter Gott, wenn ich das traurige Schicksal so vieler Jünger der Botanik bedenke, fühle ich mich versucht, die Frage zu stellen, ob die Männer noch bei Verstand sind, die wegen ihrer Liebe zum Pflanzensammeln ihr Leben und alles andere so aufs Spiel setzen.“
ERZÄHLER
Dieser Stoßseufzer stammt aus dem 1737 erschienen Aufsatz „Lob des Naturforschers“ vom schwedischen Arzt und Botaniker Carl von Linné. Denn das 18. Jahrhunderte entwickelte sich zum goldenen Jahrhundert der Botanik! Bisher war Pflanzenkunde immer nur ein Teilgebiet der Medizin gewesen, nun wurde es ein eigenes Studienfach. Und Linné entwickelte 1753 eine Systematik, nach der bis heute alle Pflanzen klassifiziert und benannt werden können.
ERZÄHLERIN
Das taugte den Entdeckern neuer Pflanzen natürlich. Nun konnten sie sich per Namensgebung wissenschaftlich verewigen; ein Teil des Namens bezeichnet die Gattung, der andere die Unterart. Vor allem aber half Linnés System, die Fülle an nie gesehenen Pflanzen zu ordnen. Der Wissensdurst war enorm:
MUSIK
ERZÄHLER
Auch der englische Adelige Josef Banks wurde berühmt für diese Leidenschaft. Er zahlte einfach die Hälfte der Expeditionskosten, um 1768 mit Käpitän James Cook auf Weltumseglung gehen zu können.
O-TON 11 Köster
Ja, Joseph Banks war einer von den ganz Wichtigen. Er war nicht der einzige Botaniker an Bord. Da war noch Daniel Solander aus Schweden dabei. Und die haben, sobald man irgendwo an Land ging, dann Pflanzen gesammelt. Sie waren im Grunde die Ersten, die wirklich große Mengen aus Australien mitgebracht haben. Im Stadtgebiet von Sydney gibt es eine Bucht, die heißt auch heute „Botany Bay". Weil die damals dort an Land gegangen sind und einfach so viele, natürlich komplett neue Sachen, für ihre Augen gesehen haben, dass sie einfach so begeistert waren und wahrscheinlich da den guten Cook auch versucht hatten, zu überzeugen: nein, wir müssen jetzt einfach noch länger hier bleiben. Hier gibt es so viel zu entdecken. Wir stechen besser noch nicht in See.
ERZÄHLER
Als Geldgeber hatte Banks Wunsch natürlich Gewicht. Acht Tage bekamen sie vom Kapitän zugestanden, zum Botanisieren, zum Sammeln und Pressen der überbordenden Pflanzenwelt. Ziel war nicht, diese kostbaren Beispiele aus „Neu Holland“ wie Australien damals hieß, zu Geld zu machen. Es ging Ihnen um Ruhm und Ehre.
O-TON 12 Köster
Genau! (lacht) Die hatten‘s ja auch einfach, weil da war ja fast alles noch unbekannt. Wenn man damals als erster Botaniker seinen Fuß auf australischen Boden setzte, da konnte man eigentlich nix sammeln, was schon bekannt war. Von daher, da konnte man mitnehmen was man wollte, es war etwas Neues.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Auf alles Neue wartete man aufgereg! Nicht nur in den gelehrten Kreisen der 1860 frisch gegründeten Londoner Royal Society: Heil zurück gekehrte Naturforscher waren in den Salons und an den Höfen Europas gern gesehene Gäste. Ihre Reisebeschreibungen wurden gedruckt und gierig gelesen.
O-TON 13 Köster
Und Banks war dann ja nach seiner Rückkehr wirklich sehr schnell sehr bekannt. Wurde letztendlich dann, ja, der inoffizielle Direktor der Königlichen Botanischen Gärten in Kew. Und hat dann als solcher unheimlich viele andere Sammler in die Welt entsandt, um Material zu bekommen. Herbar-Belege aber auch lebende Pflanzen.
Musik aus
ERZÄHLER
Und Herbar-Belege, also gepresste und getrocknete Pflanzen in Büchern, den sogenannten „Herbarien“ waren lange Zeit die einzigen Originale, die man in Europa aus den neuen Pflanzenwelten sehen und kaufen konnte. Lebende Pflanzen zu transportieren, war fast unmöglich. Ob in der stickigen Dunkelheit unter Deck oder oben in der salzigen Luft, alles war ungünstig für das Überleben der Pflanzen: Sie konnten verschimmeln, bei Süßwassermangel vertrocknen und bei schwerem Seegang leicht über Bord gespült werden. Viele der mühsam erbeutete Pflanzen wurden auch einfach von hungrigen Schiffsratten und Mäusen aufgefressen. Die Verluste waren schlicht enorm!
ERZÄHLERIN
Auch Pflanzensamen waren nicht immer eine Lösung. Viele sind nur wenige Wochen keimfähig, wie die kostbare Muskatnuss: Bei ihr sind es nur knappe zehn Tage. Zu kurz für eine fruchtbare Schiffsreise nach Europa. In der Hochphase des Kolonialzeitalters gründete man deshalb unzählige Botanische Gärten, erklärt Biologe Niels Köster:
O-TON 14 Köster
Das waren wirklich Dreh und Angelpunkte der Pflanzentransfers von einer Kolonie, von mir aus in Südasien, dann in die nächste, in der Karibik. Und da hat man tatsächlich auch botanische Gärten, ja so bisschen wie Trittsteine dazwischen angelegt. So richtig lange Seetransporte haben die meisten Pflanzen nicht überlebt. Und so konnte man eben von einem Garten zum nächsten die Pflanzen transportieren, dann wieder aufpäppeln.
ERZÄHLERIN
Besser noch als dieses Aufpäppeln und ein echter Meilenstein für die Pflanzenjäger war die Erfindung von Nathaniel Ward: ein Kasten, in dem Pflanzen über lange Zeit quasi in einem geschlossenen Feuchtigkeits-System aufbewahrt werden können, wie in einem mini Gewächshaus. Der „Wardsche Kasten“: unten eine Kiste, oben aus Glas, wurde ab 1835 von Pflanzenjägern verwendet. Jetzt konnten sie ihre Auftraggeber in Europa mit heiß ersehnten lebenden Pflanzen beliefern.
ERZÄHLER
Trotzdem waren Pflanzensamen häufig die bessere Wahl, weil sie
so ein transportfreundliches Sammelgut sind. Gerade die Leidenschaftlichsten unter den Pflanzenjäger wussten das zu schätzen. Ihr Gepäck sollte überschaubar bleiben. Auch ihre Tauschwaren für einheimische Helfer waren möglichst klein: Knöpfe, Kautabak, kleine Ringe, solche Dinge.
MUSIK
O-TON 15 Köster
David Douglas ist eigentlich ein schönes Beispiel. Douglas aus Schottland, der ist mit 24 Jahren von der Royal Horticultural Society nach Nordamerika geschickt worden. In den Nordwesten, der war ja den europäischen Siedlern noch komplett unbekannt. Da ist er dann über drei Jahre lang komplett allein durch die Gegend gezogen. Weit über 11.000 Kilometer müssen das gewesen, die er da zurückgelegt hat. Zu Fuß, mit Pferd mit dem Kanu. Kam dann immer wieder mal total zerlottert in irgendwelchen kleinen Vorposten der europäischen Siedler an. Und da hielten sie ihn teilweise für einen Überlebenden einer schlimmen Katastrophe, weil er so heruntergekommen aussah. Kein Wunder, wenn man so viel Zeit in der Wildnis verbringt. Und der hat da vor allen Dingen Gehölzsamen gesammelt. Zum Beispiel eben auch von der Douglasie. Die dann nach ihm benannt wurde.
ERZÄHLERIN
Douglas Funde passten wunderbar zur neuen europäischen Gartenmode: Englischen „Landschaftsgärten“. Französische Gärten mit geometrischen Blumenbeeten und zurecht gestutzten Büschen waren passé. Nun ging es um zart gehügelte Landschaften mit Bäumen und Büschen in aufeinander abgestimmten Blattformen und Farben.
MUSIK
ERZÄHLER
Die Pflanzenjäger sind im Lauf des 19. Jahrhunderts mit ihrer Sammelleidenschaft immer weiter gegangen: In Japan, das damals noch für Europäer tabu war, setzte sich der Würzburger Franz von Siebold größten Gefahren aus. Er wurde sogar wegen Spionage verurteilt und des Landes verwiesen. Aber er schaffte es trotzdem, hunderte von Kisten mit Pflanzen, darunter die blaue Hortensie, auch Porzellan, Waffen, Stoffen und Landkarten nach Europa zu bringen, was einen regelrechten Japan-Boom ausgelöst hat.
MUSIK
ERZÄHLER
Wenn die Pflanzenjagd bis dahin immer noch bedeutet hatte, dass Pflanzen respektvoll und in überschaubarer Menge entnommen wurden, dann bekam dieser Beruf mit den Orchideenjägern Ende des 19. Jahrhunderts einen räuberischen Zug: Ihre Beute war zart und variantenreich und wuchs meist hoch oben in den Kronen der Bäume. War das Klettern zu mühsam, fällten sie die Bäume kurzerhand und sammelten die Orchideen am Boden ab.
O-TON 16 Köster
Und es war wirklich ein Kampf zwischen den Leuten! Also zwischen den einzelnen Orchideenjägern. Die haben dann teilweise nach dem Motto Nach mir die Sintflut alles hinter sich abgefackelt, um bloß der Konkurrenz nicht auch noch etwas übrig zu lassen.
ERZÄHLER
Ob für Orchideen, für Lilien oder Kakteen – die Gewinnspanne war für Jäger und ihre europäischen Auftraggeber so groß, dass Sammelleidenschaft in Raub und Gier umschlug.
O-TON 17 Köster
Hat letztendlich auch dazu geführt, dass eben bei gewissen Pflanzengruppen man dann schon relativ früh gesagt hat, okay, damit müssen wir den Handel einschränken. Weil die an den Rand der Ausrottung gebracht wurden.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Heute hat sich viel geändert in der Pflanzenjagd: Seit 1975 gilt das Washingtoner Artenschutzabkommen, weltweit haben es weit über 150 Staaten unterzeichnet. Wenn Biologen wie Niels Köster heute im Ausland Pflanzen sammeln wollen, dann brauchen sie vorher einiges an Anträgen und Genehmigungen:
O-TON 18 Köster
Heutzutage gibt es natürlich, Gott sei Dank muss man sagen, auch internationale Regelungen, dass man nicht einfach irgendwohin fahren kann, Pflanzen dort sammelt und wieder nach Hause bringt und dann wer weiß was damit macht. Das ist heutzutage nicht mehr möglich. Das ist schon auch gut!
MUSIK aus
Misanthropen werden vielfach kritisiert, doch sie schaffen durch Irritationen eine reflexionsfördernde Distanz zu etablierten Denkweisen. Von Rolf Cantzen (BR 2019)
Credits
Autor dieser Folge: Rolf Cantzen
Regie: Irene schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Wilkening, Andreas Neumann
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. Ulrich Horstmann, emeritierter Professor für Anglistik, Schriftsteller, Essayist,
Prof. Dr. Michael Pauen, Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR 1: (boshaft)
Timons Hass geweiht
Sei künftighin der Mensch und alle Menschlichkeit.
ERZÄHLERIN:
Timon ist bei Shakespeare der Protagonist des Menschenhasses.
O-TON 1: Prof. Dr. Ulrich Horstmann (flüsternd)
„Pssst, jetzt lassen wir zusammen die Sau raus.“
ERZÄHLERIN:
… zusammen mit Ulrich Horstmann.
MUSIK AUS
Er ist Professor für englische Literaturwissenschaft, Schriftsteller und Verfasser der philosophischen Streitschrift „Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht“.
O-TON 3: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Menschenflüchtiges Denken lebt aus dem Pathos der Distanz.
ERZÄHLERIN:
Bei der Menschenflucht und beim Menschenhass geht es vor allem darum, Abstand zu gewinnen und Distanz herzustellen – zu den Menschen, unter denen man leidet, weil sie einem selbst oder anderen Menschen Schlimmes angetan haben oder auch, weil man ihre Nähe nicht mehr aushält. Dann kommen sie – böse, menschenfeindliche Gedanken:
O-TON 3: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Ausflüge in das Nicht-Erlaubte, eigentlich Nicht-Tolerierbare, in die Randbezirke dessen, was uns durch den Kopf geht, in den abgeschlossenen, abgesperrten Hinterstübchen. …
ERZÄHLERIN:
Gelegentlicher Menschenhass könne Entlastung bieten, meint Ulrich Horstmann:
O-TON 4: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Solche Ausflüge waren immer attraktiv, wenn nicht jemand daraus Handlungsanweisungen und Imperative ableitet.
ERZÄHLERIN:
Es geht also bei menschenflüchtigen oder menschenhassenden Ausflügen nicht darum, etwas zu tun, es geht darum, sich bestimmte Gedanken zu gestatten, vielleicht auch, damit wir es nicht tun: Ein gedankliches Korrektiv, das prophylaktisch wirkt. Obwohl – geben wir es ruhig zu – uns unliebsame Besucher oder Menschen im Allgemeinen schon gewaltig auf die Nerven gehen können:
O-Ton 5: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Die Möglichkeit das eigentlich Unaussprechliche herauszulassen und einem Stellvertreter zuzuhören, der das artikuliert, was man selbst nicht sagen darf, das ist der Köder und den schlucken wir von Zeit zu Zeit alle liebend gern.
ERZÄHLERIN:
Stellvertreter können die Protagonisten in Büchern, im Theater, in Filmen sein. Ein Auslöser für menschenhasserische Impulse können auch Situationen sein, in denen wieder einmal von uns erwartet wird, menschenliebenden Appellen und Tugenden beizupflichten, wenn uns positive Menschenbilder beruhigen, wenn optimistische Philosophien und der Glaube an den Fortschritt uns beglücken sollen ...
MUSIK:
ZITATOR 2: (hier und im Folgenden ironisierend)
Die Welt ist gut!
ZITATOR 1:
… und wenn unsere Welt noch nicht gut ist, wird sie es.
MUSIK:
O-Ton 6: Prof. Dr. Michael Pauen
Wenn man sich das ein bisschen genauer anschaut, sieht man einerseits, dass die optimistischen Theorien einfach unter dem Eindruck bestimmter theologischer oder metaphysischer Vorannahmen stehen, also vor allem unter der Annahme, dass diese Welt von einem guten, verständigen, wohlmeinenden und allmächtigen Gott geschaffen worden ist. Das heißt, so ein Gott kann keine andere als eine gute Welt schaffen. Und wer das bestreitet, der vergeht sich an seinen fundamentalen religiösen und theologischen Annahmen. Und dann muss diese Welt eben gut sein.
ERZÄHLERIN:
… auch die Menschen sind gut, die auf dieser Welt herumlaufen. Klar, sie morden millionenfach, vergewaltigen, ruinieren die Natur, doch letztlich gilt:
MUSIK:
ZITATOR 2:
Der Mensch ist gut!
ZITATOR 1:
… oder wird es.
MUSIK aus
O-Ton 7: Prof. Dr. Michael Pauen
Sinnstiftende Theorien haben es an sich, dass sie negative einzelne Erfahrungen erklären können.
ERZÄHLERIN:
Michael Pauen ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität. In einem seiner Bücher zeigt er, wie es vielen Philosophen immer wieder gelingt, alles schön zu reden und dass eine philosophische Minderheit es schwer hat, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen:
O-Ton 8: Prof. Dr. Michael Pauen
Das bedeutet, wenn dann dieser höhere Sinn letztlich darauf hinausläuft, dass wir in einer guten Welt oder möglicherweise der besten aller möglichen Welten leben, dass dieses Leid an Bedeutung verliert.
MUSIK:
ZITATOR 2:
Alles ist gut, alle sind glücklich oder könnten es sein!
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
Das wird zu einer philosophisch legitimierten Lebenslüge. Misanthropen – Menschenfeinde, Menschenhasser, Menschenverächter, es gibt verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten – Misanthropen spielen da nicht mit, weil sie mit Menschen nicht die besten Erfahrungen gemacht haben oder einen anderen Blick auf die Menschheit werfen:
O-Ton 9: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Misanthropen sind natürlich Freaks, Misanthropen sind randständige Figuren, das sind Figuren, die diese Randständigkeit ausnutzen.
ERZÄHLERIN:
Sie leben auch oft am Rand, sind Einzelgänger, fügen sich nicht nahtlos ein in die Gesellschaft, obwohl auch sie die Gesellschaft brauchen – und sei es, um sich von ihr abzugrenzen.
MUSIK:
ERZÄHLERIN: („Timon“ immer deutsch aussprechen.)
… Die Geschichte des Menschen- und Menschheitshassers Timon von Athen.
ZITATOR 1: (boshaft)
Timons Hass geweiht
Sei künftighin der Mensch und alle Menschlichkeit.
ERZÄHLERIN:
Über die Jahrtausende hinweg blieb die Lebensgeschichte von Timon von Athen das Motiv für zahlreiche Theaterstücke und vor allem: die Diskussionsgrundlage, an der Philosophen ihre Gedanken zur Misanthropie entwickelten.
Timon war zunächst reich, großzügig und freundlich, sammelte viele Menschen um sich, von denen er meinte, sie seien seine Freunde. Dann ging ihm das Geld aus. Er erwartet nun im Gegenzug von seinen Freunden Unterstützung, wird aber in Stich gelassen und hasst nun nicht nur die falschen Freunde, sondern die gesamte Menschheit.
ZITATOR 1:
Weg mit der Menschheit!
ERZÄHLERIN:
Auch als er zufällig wieder zu Geld kommt, ändert sich – in Shakespeares Bearbeitung des Stoffs – an seinem Menschenhass nichts: Er bleibt unversöhnt.
O-TON 10: Prof. Dr. Ulrich Horstmann (flüsternd)
Ihr könnt euch vorstellen, was in mir vorgeht.
ZITATOR 1: (aggressiv, boshaft)
Glatt lächelnde, verächtliche Schmarotzer,
Höfliche Mörder, sanfte Wölfe,
Kratzfüßige Sklaven, Dünste, Wetterfahnen! –
Alle Krankheiten von Mensch und Vieh
Solln euch mit Grind bedecken!
ERZÄHLERIN:
Shakespeare gestattet sich in seinem Stück „Timon von Athen“ nicht nur deftige Flüche, Timon treibt sein Menschenhass zu Vernichtungsphantasien.
Alkibiades gibt er Geld, damit er Athen zerstört, der Hure Timandra, damit sie alle mit Syphilis ansteckt:
ZITATOR 1:
Mach alle krank, die ihre Lust dir lassen,
Mach reif die Jugend für die Hungerkur der Seuche.
ERZÄHLERIN:
Kurzum: Shakespeare lässt in seinem Protagonisten Timon – umgangssprachlich formuliert – die Sau raus. Er gestattet sich menschenfeindliches Denken.
ZITATOR 1:
Alles glatte Schurkerei. Drum seid gemieden,
Feste, Gelage, menschliches Gewimmel!
Timon verabscheut sein Ebenbild, sich selbst!
Weg mit der Menschheit!
MUSIK aus
O-TON 11: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Wenn ich die Menschheit hasse, muss ich natürlich als Element dieser kollektiven Größe eigentlich auch mich selbst hassen, darf mich selbst nicht ausnehmen. So ist Timon gestrickt. Das macht er.
ERZÄHLERIN:
Von seinem extremen Menschenhass kann sich Timon nicht selbst ausnehmen: Er hasst sich selbst und bringt sich wahrscheinlich – bei Shakespeare ist das nicht eindeutig – selbst um.
O-TON 12: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Der Wille, bei seinen Mitmenschen, wie wahrscheinlich auch bei sich selbst tabula rasa zu machen.
MUSIK:
ZITATOR 1:
… eine Jauchegrube
Sei dann euer aller Grab!
Musik aus
ERZÄHLERIN:
Der Philosoph Platon – die Tragödien antiker Autoren vor Augen ¬– analysiert die Geschichte von Timon eher vorsichtig:
ZITATOR 2: (Zitat gekürzt)
Menschenfeindschaft entsteht, wenn man einem zu sehr vertraut und einem Menschen für durchaus wahr, gesund und zuverlässig gehalten hat, bald darauf aber denselben als schlecht und unzuverlässig findet, und dann wieder einen; und wenn einem das öfter begegnet und bei solchen, die man für die vertrautesten und besten Freunde hält, so hasst man dann endlich alle, und glaubt, dass an niemandem irgendetwas Gesundes ist.
ERZÄHLERIN:
Menschenfeindschaft wegen mehrfacher Enttäuschung! Platon diskutiert, ob das nicht auch an dem Enttäuschten selbst liegt: Vielleicht ist er zu naiv bei der Wahl vermeintlicher Freunde. Einem vernünftigen Menschen passiert das wahrscheinlich nicht und er verallgemeinert auch nicht vorschnell schlechte Einzelerfahrungen. Bei Platon ist die Misanthropie nicht der bösen Menschheit anzulasten, sondern dem beschränkten oder verwirrten Misanthropen. Das heißt:
MUSIK
ZITATOR 2: (unbeschwert)
Im Wesentlichen sind Welt und Mensch in Ordnung!
ZITATOR 1:
… mit Vernunft und Moral wird alles gut.
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
Der römische Philosoph Cicero pathologisiert die Misanthropie zu einer Art psychischem Defekt:
ZITATOR 1:
Misanthropie ist eine Krankheit der Seele, die aus einer gewissen Furcht vor denjenigen entsteht, die sie fliehen und hassen.
ERZÄHLERIN:
Cicero sieht in der Misanthropie einen psychischen Defekt. Das heißt: Nur Anormale, die ihr seelisches Gleichgewicht verloren haben, hassen die Menschen. Mit einer solchen Definition erübrigt es sich, ernsthaft über Menschenhass zu diskutieren. Menschenhass oder Menschenfeindlichkeit ist dann kein ernsthaftes philosophisches Problem, sondern – heute würde man sagen – ein psychopathologisches.
O-Ton 13: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Das bedeutet eigentlich, dass ich den Misanthropen zurückverfrachte in die Zwangsjacke des Normalen, des Sozial-Akzeptablen, dessen, der seine Zunge im Zaum hält und sich so benimmt, dass er bei seinen Mitmenschen keinen Anstoß erregt.
MUSIK:
ZITATOR 2: (insistierend)
Der Mensch ist gut.
ERZÄHLERIN:
… und man muss ihn lieben: Immer! Schließlich ist er ein Geschöpf Gottes!
MUSIK aus
ZITATOR 1:
Nächstenliebe! Du sollst deinen Nächsten lieben!
ERZÄHLERIN:
… hassen tut ihn der Teufel. Und wer Menschen hasst, ist des Teufels. Im christlichen Mittelalter hatte man kein Verständnis für Misanthropie.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In der Renaissance erinnerte sich Machiavelli an die Misanthropie-Diskussion der Antike. Er empfahl den Mächtigen, die Menschen nach Strich und Faden zu manipulieren:
ZITATOR 2:
Denn von den Menschen lässt sich im Allgemeinen so viel sagen, dass sie undankbar, wankelmütig und heuchlerisch sind, voll Angst vor Gefahr, voll Gier nach Gewinn.
ERZÄHLERIN:
… und deshalb gibt es keinen Grund, den Menschen Respekt und Achtung entgegen zu bringen. Im Gegenteil: Ihre Boshaftigkeit und Dummheit rechtfertigen jede Unterdrückung:
ZITATOR 2:
Wenn der Fürst auch genötigt wäre, das Blut eines Untertanen zu vergießen, mag er es ruhig tun …
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
In der Aufklärung ging die Menschenfreundlichkeit dann wieder so weit, dass man jede Misanthropie, Einzelgängerei und Eigenbrödlerei verbannte und oft die Menschenliebe zum alleinigen Maßstab machte.
ZITATOR 1:
Die praktische Menschenliebe ist aller Menschen Pflicht.
ERZÄHLERIN:
… „moralisierte“ Kant und hält den Menschenhass für teils hässlich, teils verächtlich. Auch andere Philosophen verdammten Menschen, die sich einen anderen – einen negativen – Blick auf den Menschen und seine Geschichte gestatteten. Der Mensch sollte sich positiv mit der Menschheit identifizieren, sich nicht negativ von ihr und der Welt abgrenzen.
O-Ton 14: Prof. Dr. Michael Pauen
Ich glaube, Hegel ist da das beste Beispiel. Also, die hegelsche Geschichtsphilosophie steht noch in der Tradition dieser optimistischen Aufklärungsphilosophie. Letztlich Hegels Vorstellung, dass Geschichtsphilosophie eine Art von Theodizee sein, also Rechtfertigung Gottes, und damit letztlich ein Nachweis, dass diese Welt gut ist, das ist für Hegel noch unbestritten.
MUSIK
ZITATOR 2: (unbeschwert)
Die Welt ist gut …
ZITATOR 1:
… und der Mensch ist es auch, weil er sich immer weiter zum Guten entwickelt!
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
Mord und Totschlag, das Leiden, das sich Menschen gegenseitig zufügen, sind unbedeutende Kollateralschäden. Damit muss die Menschheit leben.
O-Ton 15: Prof. Dr. Michael Pauen
Da ist offensichtlich eine Vernachlässigung der individuellen Perspektive zu Gunsten der Perspektive des Ganzen, aus der sich wieder angeblich alles zusammenfügt. Ob sich das tatsächlich zusammenfügt, ist dann gar keine Frage, weil das einfach vorausgesetzt wird.
ERZÄHLERIN:
Diese Vernachlässigung des individuellen Leids – überhaupt: die Vernachlässigung des individuellen Menschen und negativer Erfahrungen – führen, so der Philosophieprofessor Michael Pauen; dazu, dass einige Dichter und Denker aus der verordneten Menschenliebe ausbrechen.
ZITATOR 2:
Gerade so ging es mir …
ERZÄHLERIN:
… schreibt Friedrich Schiller an einen Freund.
MUSIK
Erzählerin:
Er spürt wie die Menschenliebe umschlägt...
ZITATOR 2:
… alle Menschen werden Brüder …
ERZÄHLERIN:
Schiller spürt, wie die Menschenliebe umschlägt in Menschenhass:
ZITATOR 2:
Ich hatte die Welt mit der glühendsten Empfindung umfasst, und am Ende fand ich, dass ich einen kalten Eisklumpen in den Armen hatte.
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
Der Mensch braucht den anderen Menschen, doch das ist kein Grund, die Menschheit nicht zu hassen. Man kann sogar einzelne Menschen lieben und das Kollektiv „Menschheit“ hassen:
O-Ton 16: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Das erinnert mich an einen ganz großen Satiriker, den viele auch für einen Misanthropen halten nämlich an Jonathan Swift. Der hat in einem Brief folgendes gesagt: „I love John, Jill and Jack, but I hartley detest mankind.“
ZITATOR 1:
Ich liebe John, Jill und Jack, aber zutiefst verabscheue ich die Menschheit.
O-Ton 17: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Und das ist ein Satz, in dem sehr, sehr viel Wahrheit steckt, nicht nur über Swift, sondern über das Phänomen der Misanthropie.
ERZÄHLERIN:
Jonathan Swift – er lebte um 1700 – lässt seinen Protagonisten Gulliver nicht nur nach Liliput und in die Welt der Riesen reisen, sondern auch zu den edlen Pferden, die sich ekelhafte Menschen als Haustiere halten. Die phantasievollen Reisen des Gulliver erlauben Swift eine Distanz zu den Menschen, die ihr Wesen transparent macht: Sie sind lasterhaft, gierig, dumm und sie stinken. Die edlen Pferde nutzen ihre Häute, um Segel daraus zu fertigen. In einem anderen Text, dem „bescheidenen Vorschlag“, rät er zum Kannibalismus:
ZITATOR 1:
Ein Kind wird bei einem Essen für Freunde zwei Gänge ergeben und wenn die Familie allein speist, so wird das Vorder- oder Hinterviertel ausreichen.
ERZÄHLERIN:
Der gebürtige Ire Swift wird oft als ‚Menschenhasser‘ bezeichnet, wegen solcher Texte. Der historische Hintergrund macht klar, er ist entsetzt von dem, was Menschen anderen Menschen antun: Die reichen Landbesitzer wandelten in Irland aus Profitgier Ackerland in Schafsweiden um.
Die Folge: Zehntausende von Bauern verhungerten. Swifts vermeintlich menschenhasserischer Ratschlag, doch einfach Kinder zu verspeisen, macht auf groteske Weise den Zynismus und die Unmenschlichkeit dieser Landbesitzer erkennbar. Die Verlogenheit ist, dass nicht die Verursacher des menschlichen Leid als Menschenhasser bezeichnet werden, sondern die, die darauf aufmerksam machen.
MUSIK
ZITATOR 2: (unbeschwert)
Der Mensch ist gut …
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
… wer das in Frage stellt, wer anders denkt, als es sich gehört, ist Menschenfeind, wie Swift oder etwa der Philosoph Philipp Mainländer:
ZITATOR 1:
Ich möchte alle windigen Motive zerstören, welche den Menschen abhalten können, die stille Nacht des Todes zu suchen.
ERZÄHLERIN:
Mainländer schrieb um 1870 seine „Philosophie der Erlösung“ ...
O-Ton 18: Prof. Dr. Michael Pauen
… da gibt es die Vorstellung, dass Erlösung noch darin bestehen kann, dass die Welt letztlich ihr Ende findet. Und damit eben das Leid ein Ende findet.
ERZÄHLERIN:
Mainländer will die Welt und die Menschen ausgelöscht sehen. Seine Überlegung: Leben ist Leiden, Gott ist gestorben und sein verrottender Leib ist die Schöpfung und deshalb sei es besser, mit all dem aufzuhören:
ZITATOR 1:
Alles, was ist, ist von Übel und auf das Übel hin bestellt: der Zweck des Weltganzen ist das Übel; die Ordnung und der Zustand, die Gesetze, der natürliche Gang des Universums sind durchaus von Übel. Gut ist nur, was nicht ist.
ERZÄHLERIN:
Mainländer sucht die Distanz nicht auf fiktiven Reisen, wie Swifts Gulliver, sondern in seiner Vorstellung, dass es ihn selbst, die Welt und die Menschheit nicht mehr gibt. Der Mensch als Krone der Schöpfung ist nur gut, wenn er nicht existiert.
O-Ton 19: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Misanthropie ist eine Luftnummer. Was meine ich damit? Normalerweise geht es beim Lieben und Hassen um interpersonale Interaktion …
ZITATOR 2:
Ich hasse dich, du hasst mich …
ERZÄHLERIN:
… und das belastet die Kommunikation. Doch die Menschheit ist keine Person, mit der ich kommuniziere, sondern ein Abstraktum. Das heißt für Ulrich Horstmann:
O-Ton 20: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Der Menschheit als Kollektivsubjekt ist es herzlich gleichgültig, ob sie geliebt wird oder gehasst wird. Insofern kämpft der Misanthrop mit Windmühlenflügeln.
ERZÄHLERIN:
Man tut der Menschheit also nicht weh, wenn man ihr skeptisch, feindlich oder mit Hass gegenübersteht, wenn man sie nicht mag:
O-Ton 21: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Ich bin auch heilfroh, dass es mir – pathetisch vergönnt war – im späten 20. Jahrhundert und frühen 21. Jahrhundert zu leben mit dem furchtbaren 20. Jahrhundert im Rücken, das mich in seiner Grausamkeit nicht mehr erreicht hat – Gott sei Dank …! Das war im wortwörtlichen Sinne eine Offenbarung.
ERZÄHLERIN:
Die Grausamkeiten im 20. Jahrhundert – Kolonialismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, um nur die schlimmsten zu nennen – waren keine Taten von erklärten Menschenhassern. Die Menschheitsverbrecher hatten eherne Ziele. Sie ‚liebten‘ angeblich die Menschheit und gaben vor, ihr zu dienen und nur ihr Bestes zu wollen.
ZITATOR 1:
… weil sie der Menschheit dienten, darum schnitten sie den Menschen die Hälse ab.
ERZÄHLERIN:
… schrieb Max Stirner, ein provokanter Philosoph des 19. Jahrhunderts. Die Liebe zur Menschheit kann tödlich sein für den einzelnen Menschen. Misanthropie kann ein Korrektiv sein zur mörderischen Menschenliebe, indem sie Distanz schafft und irritiert.
MUSIK
Ulrich Horstmann fasst es so zusammen:
O-Ton 22: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Ich halte diese Widerspruchskomponente, dieses „Nein, es ist ganz anders“ für einen Hirnschrittmacher.
ERZÄHLERIN:
Die Misanthropie wäre dann so etwas wie eine philosophische Therapie. Und psychologisch betrachtet stellen sich Fragen: Wie sollen Menschen mit Sympathie füreinander in dieser Wirklichkeit leben, wenn sie sich nicht ab und zu misanthropische Anwandlungen gönnen?
MUSIK aus
Nacht und Nebel sind die größten Feinde der Seefahrer. Leuchttürme und Feuerschiffe waren lange Zeit rettende Lichter im Dunkel, die Schiffe vor Gefahren warnten und viele vor dem Untergang bewahrten. Von Christiane Neukirch (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Andreas Neumann, Jerzy May
Technik: Clemens Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Mikrochips sind mittlerweile unentbehrlich: Sie stecken im Kühlschrank, im Auto oder der EC-Karte. Seit Intel 1971 den ersten integrierten Schaltkreis in Serie produzierte, hat die Technologie einen globalen Siegeszug angetreten. Doch das kostbare Gut sorgt immer wieder für Streit unter Wirtschaftsmächten. Von Lukas Grasberger (BR 2022)
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Jerzy May, Julia Fischer
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Frank Dittmann, Kurator Hauptabteilung Technik, Deutsches Museum, München
Genevieve Bell, Senior Fellow bei Intel und Professorin für Kybernetik, Australian National University, Canberra
Klaus Behling, Journalist und Klaus Behling, Autor „Die DDR und der High-Tech-Schmuggel“, Potsdam
Reinhard Buthmann, Autor „Kadersicherung im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena: Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms“
Jan-Peter Kleinhans, Halbleiter-Experte Stiftung Neue Verantwortung, Berlin
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SPRECHER
Die junge Frau erschrickt, als sie aufwacht: Sie hat verschlafen! Der Wecker hat nicht geklingelt. Schnell ins Bad, Waschen und Zähneputzen, aber: Die elektrische Zahnbürste streikt.
MUSIK HOCH
Doch der Alptraum beginnt erst: Auch das Auto springt nicht an. Im Krankenhaus, wo die junge Frau arbeitet, kann sie nicht Bescheid geben: das Smartphone ist tot. In der Klinik würde ohnehin keiner abnehmen, es herrscht Ausnahmezustand. Fast das gesamte medizinische Personal ist auf der Intensivstation, wo es versucht, den Ausfall von lebenserhaltenden Maschinen zu kompensieren.
MUSIK HOCH
ERZÄHLERIN
Dieses Szenario ist erfunden und ist noch nie eingetreten. Aber es zeigt: Versagten alle Mikrochips auf einmal ihren Dienst: Unser gesamtes Alltagsleben würde binnen Sekunden zusammenbrechen.
ERZÄHLERIN
Mikrochips sind heute in unserem Alltag allgegenwärtig: Millimetergroße, und dennoch mehrstöckige Gesamtkunstwerke, in dem viele Millionen Transistoren, Widerstände und Kondensatoren lautlos zusammenarbeiten – und die in der Dating-App genauso stecken wie in der komplexen Steuerung des Autoverkehrs. Klingt nach abgefahrener Raketenwissenschaft? Ja, das war die Chip-Technologie Anfangs im wahrsten Sinne des Wortes, sagt der Münchner Technik-Historiker Dr. Frank Dittmann.
O-Ton 1 Dr. Frank Dittmann, Kurator Abteilung Starkstromtechnik, Energietechnik und Automatisierungstechnik, Deutsches Museum München
„Denn da kommts ja vor allem drauf an, sehr klein zu bauen, und bei Raketen oder auch bei Flugzeugen die Masse zu minimieren. Das kann man mit solchen integrierten Bauelementen sehr gut. Und das ist so forschungsintensiv, bevor man überhaupt verstanden hat, was da passiert: Das konnte eigentlich nur das Militär bezahlen.“
ERZÄHLERIN
Es war der Kalte Krieg - und vor allem der Wettlauf zwischen Ost und West ins All, der der Entwicklung der Chip-Technologie einen entscheidenden Schub gab.
Musik CREATIVE IDEAS (B) 0‘40
ERZÄHLERIN
Ein frühes Video der US-Raumfahrt-Organisation NASA: Männer in schwarz-weiß drücken klobige Tasten an einer riesenhaften Steuerungs-Konsole. Es sind Test-Ingenieure, die den Navigations-Rechner für das Apollo-Raumfahrzeug ausprobieren, das im Jahre 1969 auf dem Mond landen sollte. Der Computer im Inneren der heute monströs wirkenden Apparatur war der erste, der eine Technologie nutzen sollte, die noch in den Kinderschuhen steckte. Die aber bald – unter der landläufigen Bezeichnung „Mikrochip“ - maßgeblich den Weltenlauf mitbestimmen wird.
Für die Mond-Mission des Jahres 1969 brauchte die NASA zur Berechnung der Flugbahn einen Rechner an Bord, der zuverlässig funktionierte – der gleichzeitig aber auch so klein und leicht wie möglich war.
O-Ton 2 Dittmann
„Wenn ich ne Rakete hochschicke, dann geht’s natürlich um Platz, und es geht auch um Gewicht, es geht auch um Energie, die man dort einsetzen muss.“
ERZÄHLERIN
...erklärt Frank Dittmann. Er ist Kurator der Abteilung für Starkstrom-, Energie- und Automatisierungstechnik am Deutschen Museum München.
O-Ton 3 Dittmann
„All das waren natürlich limitierende Faktoren. Also insofern musste man sich eine Technologie suchen, die dafür Lösungen bereithielt - und das ist eben die Halbleitertechnik.“
MUSIK: CANS AND COMPUTERS 0‘42
ERZÄHLERIN
Die Neuerung bei dieser Technologie: Elektronische Schaltungen brachte man im Miniaturformat auf hauchdünnem Silizium auf. Silizium, das vor allem aus Quarzsand hergestellt wird, gilt als perfektes Trägermaterial. Denn Silizium ist ein so genannter Halbleiter, das heißt: Es ist - je nach Notwendigkeit – elektrisch leitfähig oder isolierend. Zwischen diesen beiden Zuständen kann nun gezielt geschaltet werden. So lassen sich Schaltkreise – quasi Rechner im Miniformat – komplex gestalten, wie dies früher nur mittels Röhren möglich war.
ERZÄHLERIN
Die Idee, Bauelemente auf einem Trägermedium zusammenzubringen, stamme bereits aus den 1930er-Jahren, betont Frank Dittmann. Doch diese Zusammenschaltung von Elektronen-Röhren, wie sie etwa bei Radiogeräten zum Einsatz kam, hatte ihre Tücken. Sie machte die Geräte immer größer, komplexer – und fehleranfälliger. Welches der vielen Teile war jetzt wieder kaputtgegangen? Oder hatte die weit verzweigte Verdrahtung irgendwo einen Wackler?
O-Ton 4 Dittmann
„Deswegen haben die angefangen, einen neuen Typ von integriertem Schaltkreis zu produzieren, oder – zu erst einmal – zu entwickeln. Nämlich den integrierten Mikroprozessor. (...) Nämlich Bauelemente zusammen zu einer Schaltung, und dann möglichst in ein Gehäuse zu bringen. Vorher war ja die Idee: man baut die speziellen Schaltungen so für das, was man braucht. Und wenn man was anderes braucht, muss halt ne spezielle Schaltung her. Und dort war die Idee: Ich baue einen kleinen Rechner – also Prozessor -, den ich programmieren kann. Damit er das tut, was ich will.“
ERZÄHLERIN
Es war der Radio-Konstrukteur Jack Kilby, der 1958 einen Miniatur-Schaltkreis von der Größe eines halben Bierdeckels entwickelte. Statt der klobigen Röhren setzte der Elektroingenieur auf kleine, aber feine Transistoren: Bauteile, die als Ein- oder Ausschalter oder als Verstärker von Strom fungierten. Diese elektronischen Bauteile wurden nun auf einen Halbleiterkristall aufgebracht, die Transistoren und ihre Verdrahtung wurden quasi auf den Halbleiter-Träger aufgezeichnet. Je mehr man die Striche auf dem Chip verfeinerte, umso mehr ließen sich die Schaltkreise verkleinern.
MUSIK: TESTING OUT 1‘02
Die Idee schien in der Luft zu liegen: denn nahezu gleichzeitig mit Kilby tüftelte auch sein Konkurrent Robert Noyce an dieser integrierten Schaltung.
Noch war die Technologie zu teuer für den Massenmarkt: Doch das US-Militär investierte in derartige sogenannte integrierte Schaltkreise, um die Schnelligkeit von Waffensystemen und Rechnern zu steigern. Nur dank dieser Vorarbeit konnte die Landung auf dem Mond dann zum erste Meilenstein in der Geschichte des Mikrochips werden.
MUSIK HOCH
ERZÄHLERIN
Die Serienfertigung von Mikrochips für den freien Markt begann 1971 die US-Firma Intel. Da die Bauteile immer winziger wurden, konnten auf den dünnen Halbleiterplättchen immer mehr Schaltkreise aufgebracht werden. Damit wandelten sich Computer fundamental, sagt die Anthropologin Genevieve Bell. Die australische Professorin hat lange Jahre als leitende Wissenschaftlerin für Intel gearbeitet.
O-Ton 5 Genevieve Bell OV
SPRECHERIN Voice Over
„Ich konnte einmal mit der Person sprechen, die irgendwann in den 40er-Jahren den ersten australischen Computer gewartet hat. Er sagte mir: Immer wenn ich ihn ausgeschaltet habe, dann war das, als würde man ein lebendes Wesen töten. Rechner waren damals physisch sehr präsent: sie nahmen viel Raum ein, sie machten Lärm, und sie rochen. Das sollte sich in den folgenden Jahrzehnten ändern. Dank unserer Mikrochips wurden sie immer kleiner - und in den 70er-Jahren waren Computer recht unpersönliche Geräte geworden, die bald auf jedem Schreibtisch standen; die keine persönliche Wartung mehr brauchten - und die zunächst vor allem für buchhalterische Zwecke genutzt wurden.“
ERZÄHLERIN
Der erste Intel-Mikrochip „4004“ war dann auch in einem Tischrechner verbaut, nützlich etwa für Buchhalter und Ingenieure. Schnell nahm das Ganze Fahrt auf: Nahezu jedes Jahr verdoppelte sich auf den Chips die Anzahl der Bauteile. Mit doppelt so vielen Schaltungen kann ein Mikrochip doppelt so schnell rechnen. Verdoppelt sich die Transistoren Zahl nun alle 12 bis 24 Monate – wie es der Intel-Gründer Gordon Moore vorhersagte, dann steigt die Leistungsfähigkeit schnell exponentiell.
O-Ton 6 Bell OV
Sprecherin Voice Over
„Gordon Moore hat nicht nur die technischen Entwicklungssprünge des Mikrochips prognostiziert, nein: Er hat in seinem Aufsatz auch treffende Szenarios skizziert, was passieren würde, würden diese Mikrochips allgegenwärtig. Dann nämlich würden die Mikroprozessoren die Art und Weise verändern, wie wir miteinander kommunizieren. Wie wir arbeiten; wie wir einkaufen – ja: wie wir zusammenleben, in unseren Wohnungen, oder genereller, in Städten. Moore hat verstanden, dass eine auf den ersten Blick nur technische Innovation das Potenzial hatte, unser aller Leben von Grund auf zu verändern.“
MUSIK: MACHINE LIKE 0‘38
ERZÄHLERIN
Der Mikrochip war Bell zufolge die Keimzelle der anhaltenden „digitalen Revolution“. Es reiche deshalb nicht, Mikrochips stetig in Punkto Materialien, Produktionsprozess, oder Leistungsfähigkeit zu verbessern, betont Genevieve Bell, die neben ihrer Professur noch als „Senior Fellow“ für Intel tätig ist. Forscher und Entwickler müssten immer auch aktuelle wie zukünftige Anwendungsmöglichkeiten mitdenken. Als Anthropologin spüre sie deswegen im Auftrag des Unternehmens der grundsätzlichen Frage nach: Was machen Mikrochips mit Menschen?
O-Ton 7 Bell
Sprecherin Voice Over
In den letzten Wochen etwa habe ich mir von hier, meinem Büro in Canberra aus, digitalisierte Objekte der Weltausstellung im 19. Jahrhundert in London angesehen. Schließlich können wir uns dank leistungsfähiger Mikroprozessoren in unseren Rechnern nun nicht nur unterhalten, sondern uns sogar über Kamera sehen.
ERZÄHLERIN
...erzählt Bell per Videokonferenz von Australien aus.
O-Ton 8 Bell
Sprecherin Voice Over
„Und wenn Sie nun vorhergesagt haben, dass Sie mit ihrem Erscheinungsbild in der Videokonferenz unzufrieden sind, so zeigt das, dass diese Technologie nicht nur unsere gegenseitige Wahrnehmung - sondern auch das Bild von uns selbst verändert.“
ERZÄHLERIN
Niemand bleibe von den Auswirkungen der neuen Technologie und der Erfindung des Mikrochips unberührt, sagt die australische Professorin. Dies gelte für Bewohner eines weit abgelegenen afrikanischen Dorfes, die nur dank Online-Überweisungen von Verwandten im reichen Europa überlebten - genauso wie für einen auf den ersten Blick von der Welt abgeschnittenen Farmer in den Weiten Australiens.
O-Ton 9 Bell OV
Sprecherin Voice Over
„Der erzählte mir bei einer meiner Feldforschungen: „Wissen Sie, ich google jeden Tag!“. Darauf ich ich: „Moment mal, gerade haben Sie erzählt, sie hätten nicht einmal einen Computer?“ Es stellte sich dann heraus, dass dieser Farmer immer seine Tochter anruft, wenn er eine Frage hat – und die gibt diese dann für ihn in die Suchmaschine ein. Dieser Landwirt brauchte also nicht einmal einen Rechner, um mit der Welt vernetzt zu sein. Ein Beispiel, das zeigt: Die Mikroprozessor-Technologie beeinflusst das Leben jedes Individuums weltweit – auch wenn sich die Auswirkungen jeweils sehr unterschiedlich ausgestalten.“
MUSIK: MASCHINE LIKE 0‘17
ERZÄHLERIN
Doch damit die Mikrochip-Technologie weitreichende Wirkungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft entfalten konnte, musste sie zuerst einmal den jahrzehntealten Nimbus einer sperrigen Spezialanwendung für Buchhalter oder Ingenieure ablegen.
O-Ton 10 Bell
Sprecherin Voice Over
„Dazu kamen sie dann nach Hause: Als Personal – oder so genannte Home-Computer.“
ERZÄHLERIN
Zu Beginn der 1980er-Jahre waren Home-Computer das neue Ding. Erstmals kam eine breite Bevölkerung mit Computern in Kontakt, der in einem grauen Gehäuse ruhenden „Commodore 64“ - zog auch in viele deutsche Haushalte ein.
GERÄUSCH PAC MAN SOUND
Doch der von außen bieder wirkende „Brotkasten“ hatte es in sich: Auf der Platine waren neben dem-Haupt-Prozessor auch ein Sound- und ein Videochip integriert.
Dies machte ihn zum Renner für scheppernde und blinkende Computerspiele, die oft im Wohnzimmer über den Fernsehbildschirm flimmerten.
GERÄUSCH TIPPEN
Der digitale Fortschritt veränderte in den 80ern auch die Büroarbeit: Überall zogen Personal Computer – kurz PCs – ein. Schrittmacher dieser Geräte waren Chips, die immer kleiner und gleichzeitig leistungsfähiger wurden. Damit konnte mehr Speicher genutzt werden - was komplexere und bessere Programme ermöglichte.
Doch nicht nur in den Büros – auch in der Produktion war der Siegeszug der Mikrochip-Technologie nicht aufzuhalten. Weltweit wurden Maschinen und Anlagen in großem Stil mit Mikrochips bestückt.
O-Ton 11 Klaus Behling, Autor „Die DDR und der High-Tech-Schmuggel“
„Das ist ja nicht nur ein bisschen Rechentechnik gewesen, sondern das war eine grundlegende Umstellung in der Produktion....
ERZÄHLERIN
...die vor allem den Anlagen- und Maschinenbau betraf, sagt der Journalist und Autor Klaus Behling.
O-Ton 12 Behling
„Und diese Umstellung der Produktion hat natürlich zu Wertverschiebungen geführt. Diese Maschinenbau-Ergebnisse haben sich mit der Mikroelektronik so verändert, dass also letztlich die eigentliche Maschine nur noch 20 Prozent des Wertes ausmachte, manchmal sogar noch weniger, und die Steuerung 80 Prozent.
MUSIK: NOT KNOWING 0‘29
ERZÄHLERIN
Glänzende Geschäfts-Aussichten für die Halbleiter-Industrie, die solche Mikrochips für die Maschinen-Steuerung liefern konnte – und düstere Perspektiven für diejenigen, die nicht an diese Chips kamen, wie etwa Hersteller in der DDR. Seinerzeit weit vorn in Bau und Export etwa von Werkzeugmaschinen, drohten dem Staat nun massive Einbußen bei den lebensnotwendigen Devisen.
O-Ton 13 Behling
„Sie machte also diesen riesen Eisenklotz, und ein anderer setzte sein kleines Kästchen rein – und kassierte 80 Prozent des Preises für die Maschine. Und daraus ergab sich dann letzten Endes die Notwendigkeit, entsprechend zu reagieren.“
MUSIK: STRIP OF WORLD 0‘23
ERZÄHLERIN
Es waren zum einen ein zu später Einstieg in die Halbleitertechnik, zum anderen das Abgeschnitten-Sein von Know-How und Material, die die DDR ins Hintertreffen und damit in Zugzwang brachten. Denn der Westen hatte gegen die sozialistischen Staaten des Ostblocks ein Wirtschaftsembargo verhängt, das auch Hochtechnologie umfasste. Den Mangel versuchte die DDR mit dem Schmuggel und dem Klau von Wissen wettzumachen – Wissen, was Chips sowie das Rohmaterial und Maschinen für deren Produktion anbelangt. Was unter das Embargo fiel, musste teuer illegal eingeführt werden – und entsprach oft nicht einmal dem modernsten Stand der Technik. Die DDR lieferte sich so ein hochruinöses Wettrennen mit dem Westen, das nicht zu gewinnen war.
O-Ton 14 Buthmann
„Diese ganze Mikroelektronik-Import-Geschichte der DDR – forciert Mitte der 80er-Jahre – führte eindeutig in eine krisenhafte Situation und verschärfte mit Sicherheit den Abstieg der Volkswirtschaft der DDR – und mithin auch des politischen Systems.
„Der illegale Import von Hochtechnologiegütern hat mit Sicherheit die Existenzdauer der DDR verkürzt.“
ERZÄHLERIN
...so das Fazit von Reinhard Buthmann, der das Mikroelektronik-Programm der DDR erforscht hat.
MUSIK: SIGNS OF RELAXATION 0‘48
Zeitgleich mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ kamen erste Zweifel am „Moore´schen Gesetz“, dieser Prognose eines exponentiell wachsenden Potenzials von Mikrochips auf, bis Mitte der 1990er-Jahre hatten dann die Ansprüche an Mikroprozessoren ihre tatsächliche Leistungsfähigkeit überstiegen. Neue Lösungen mussten her:
Statt immer mehr Leistung in nur einen Prozessor zu stecken, teilte man die Aufgaben auf:
Hauptprozessor, Arbeitsspeicher und Grafikeinheit werden nun auf einem Chip platziert - neben – oder sogar übereinander. Dieses „System On a Chip“ kam zunächst vor allem bei Smartphones zum Einsatz.
O-Ton 15 Dittmann
„Wir tragen heute einen Supercomputer von vor zwanzig Jahren in Hosentasche – und merken das gar nicht. Es ist enorm, wie da die Leistungsfähigkeit zugenommen hat“
ERZÄHLERIN
Chips, die immer kleiner und leichter werden, ermöglichen eine neue Infrastruktur unserer Informationsgesellschaft: Das „Internet der Dinge“, sagt Genevieve Bell.
O-Ton 16 Bell OV
Sprecherin Voice Over
„Gordon Moore hat bereits vorhergesehen, dass Mikroprozessoren an allen möglichen oder unmöglichen Orten zum Einsatz kommen würden – etwa in Autos, und dass diese Objekte mit anderen Gegenständen kommunizieren würden.“
ERZÄHLERIN
Unterschiedliche Objekte – seien sie real oder virtuell – sind miteinander sowie mit dem Internet vernetzt und arbeiten im „Internet der Dinge“ zusammen. Hauchdünne Halbleiter-Chips können dabei nicht nur als Prozessoren Rechnen und Steuern. Sie sind auch als Speicher im Einsatz - und als Sensoren, die messen und Signale übermitteln. Im „Smart Home“ etwa weiß ein „intelligenter“ Kühlschrank, was fehlt – und sendet diese Botschaft ans Smartphone seines Besitzers, sobald dieser den Supermarkt betritt. Beim autonomen Fahren misst ein Sensor den Abstand zu einem vorausfahrenden Auto und meldet dies an einen Prozessor-Chip, der diese Information verarbeitet - und automatisch bremst.
MUSIK: ENDLESS DATA (C) 0‘42
Eine segensreich scheinende Zukunftstechnologie – die sich aber schnell als Fluch erweisen kann: Fällt ein für die Sicherheit der Passagiere höchst relevantes Teil aus, ist das ganze System lahmgelegt.
Die Omnipräsenz der Mikrochips hat mittlerweile Abhängigkeiten in großem Maßstab geschaffen. Mangelt es – wie während der Corona-Pandemie - gar ganz an Chips, so geraten Wirtschaftskreisläufe ins Stocken, weiß der Halbleiter-Experte Jan-Peter Kleinhans. Er arbeitet für den Berliner Think Tank „Stiftung Neue Verantwortung“.
O-Ton 17 Jan-Peter Kleinhans, Halbleiter-Experte Stiftung Neue Verantwortung
„Egal, ob das der Traktor ist zum Maisernten, oder das Beatmungsgerät in der Intensivstation, oder der Bankautomat, von dem ich mein Geld hole. All das ist ohne Halbleiter nicht denkbar.“
ERZÄHLERIN
Die Chipkrise hat auch die deutsche Wirtschaft bis ins Mark getroffen: Den Bau von Maschinen und Anlagen, sowie die Autoindustrie. In vielen VW-Fabriken ruhte wochenlang die Produktion, weil Mikrochips fehlten. Maschinenbauer mussten trotz voller Auftragsbücher Kurzarbeit anmelden. Die Gründe für den weltweiten Mangel an Mikrochips sind komplex, haben aber viel mit der Pandemie zu tun. Wenn ein Autohersteller einen Chip braucht, bestellt er diesen häufig bei einem Zulieferer. Dieser wiederum kauft bei Halbleiter-Konzernen ein. Doch auch dieses Halbleiter-Unternehmen produziert oft nicht selbst - sondern hat die Herstellung häufig an einen Auftragsfertiger in Asien ausgelagert. Dazu kommt die Chip-Produktion an sich, die an die 1000 Schritte beinhaltet und bis zu drei Monate dauert. Fällt nun – wie bei asiatischen Herstellern geschehen - coronabedingt die Produktion aus, fehlt also plötzlich ein Glied in der Produktionskette, so geht schnell gar nichts mehr.
MUSIK: MACHINE LIKE (C) 0‘40
Doch der Chip-Mangel bei deutschen Auto-Herstellern ist auch hausgemacht. Sie selbst stoppten mit der ersten COVID-Welle das Gros ihrer Bestellungen. Als die Nachfrage wieder anzog, fehlten diese Chips. Halbleiter-Hersteller wie Intel, TSMC oder die Münchner Infineon hatten nicht auf ihre Kunden aus der Autoindustrie gewartet – sondern ihre kleinen Bauteile nunmehr in Richtung IT- und Unterhaltungsindustrie weitergeleitet. Deren Verkäufe boomten, weil immer mehr Menschen immer mehr Streamingdienste und Video-Konferenzen nutzten. Der Mangel an Mikrochips in wichtigen Wirtschaftsbereichen schädigt das Wachstum auf kurze und mittlere Sicht, sagt Jan-Peter Kleinhans.
O-Ton 18 Kleinhans
„Es gibt ja verschiedene Hochrechnungen und Analysen, dass sich die Chipknappheit bereits schon heute auf das Bruttoinlandsprodukt in Europa und zum Beispiel auch in den USA auswirkt. Das ist aber eben in der Tat nur mittelfristig so.“
ERZÄHLERIN
Lösungen seien bereits in Sicht, sagt der Halbleiter-Experte Kleinhans: Langfristige Verträge etwa könnten den Auftragsherstellern von Chips mehr Sicherheit geben – und damit Investitionen sowie die stockende Produktion wieder ankurbeln.
MUSIK: ANOTHER DAY 0‘55
Halbleiter werden mehr denn je zu einer kostbaren Ware, sagt die australische Wissenschaftlerin Genevieve Bell. Und der Mikrochip zu einem Objekt, das die moderne Wirtschaftswelt im Innersten zusammenhält.
O-Ton 19 Bell
Sprecherin Voice Over
Dank leistungsstarker Analyse-Software konnte man etwa in Rekordzeit die genetischen Marker des Corona-Virus bestimmen und die Impfstoff-Entwicklung voranbringen. Doch letztendlich hat uns dieses „Massenexperiment“ der Pandemie auch gelehrt zu unterscheiden zwischen Angelegenheiten, bei denen wir glücklich sind, wenn sie dank Chips digital funktionieren – und zwischen Dingen, die wir schmerzlich vermissen, wenn sie nicht physisch präsent sind.“
Ob wir uns nun die Schuhe zubinden oder den Müllsack schließen, ob wir segeln oder klettern, nähen oder uns den Pulli umhängen: Knoten sind auch im digitalen Zeitalter allgegenwärtig. Von Julie Metzdorf
Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Hemma Michel, Johannes Hitzelberger
Technik: Laura Picerno
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Michael S. Karg, Buchautor und Knotenexperte
Anna Heringer, Architektin
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER
Dampfmaschine? Elektrizität? Das Rad? Können Sie alles vergessen. Der Knoten war es, der die Menschheit voranbrachte:
Musik von Privat Intervox Nr. 71 african Wildlife Take 4 African Jungle percussion K: Matthais Ruckdäschel Dauer: 0´35´´
geknotete Stricke hielten die Axt am Stiel und die Speerspitze am Stock, Schlingen und Schlaufen halfen Lasten zu tragen und Fallen zu stellen, mit Knoten verband man Baumstämme zu Flößen und Hütten, spannte Sehnen an Ästen zu Bögen, knüpfte Netze und überhaupt: die Bezeichnung Steinzeit sollte man abschaffen. „Knotenzeit“ ist viel passender.
1 OT Michael S. Karg
also man vermutet, dass der Mensch bereits vor zwei 250.000 bis vielleicht sogar 1 Million Jahre vor unserer Zeit schon begonnen hat, Dinge zu verknoten und den Knoten zu nutzen als Werkzeug. Und wenn man bedenkt, das Rad, das kam ja eigentlich vergleichsweise spät. Und insofern hatte der Knoten schon sehr viel geleistet, bevor das Rad überhaupt erst erfunden wurde.
ERZÄHLERIN
Michael Simon Karg ist Experte. Er hat ein Buch über die zentrale Bedeutung des Knotens für die Menschheit geschrieben: „Am Anfang war der Knoten“ heißt es. Michael Karg hat einmal Soziologie studiert, aber ein Knoten-Wissenschaftler ist er nicht. Denn eine Wissenschaft vom Knoten gibt es nicht:
2 OT Michael S. Karg
Er ist nach wie vor unglaublich wichtig in der Alpinistik, in der Nautik, im Bühnenbau nimmt man ihn her, sogar in der Medizin auch in der Forensik spielt er eine Rolle, eine unglaubliche thematische Breite und gleichzeitig aber auch eine wahnsinnige zeitliche Tiefe. Und ich persönlich habe es mir nur so erklären können, dass es schlicht und einfach zu komplex ist für eine einzige Wissenschaft.
Musik von Privat Intervox Nr. 71 african Wildlife Take 4 African Jungle percussion K: Matthais Ruckdäschel Dauer: 0´55´´
ERZÄHLER
Wer über Knoten spricht, muss zunächst mal über das Seil sprechen. Über den Faden, die Schnur, das Tau, die Leine. Oder wie man solche „materialisierten Linien“ noch alles nennen kann. Genau genommen ist der Knoten nur ein bestimmter Zustand solch einer Linie. Der Knoten IST das Seil. Das Seil wiederum bleibt beim Verknoten gleich, es ändert sich nicht im Geringsten. Braucht man den Knoten nicht mehr, kann man ihn einfach wieder lösen und hält das Seil vom Anfang in den Händen. Sehr ressourcenschonend. Die Anzahl der Möglichkeiten, WIE man das Seil verknoten kann, geht dabei ins Unendliche.
3 OT Michael S. Karg
Er beinhaltet eine irre Komplexität, wenn man bedenkt: aus einer einzigen Leine lassen sich Tausende verschiedene Knoten machen.
ERZÄHLER
Aber zurück zum Faden, der ist nämlich wichtig: Jeder Knoten kann nur so gut sein wie die Leine, mit der er geknüpft wurde.
Musik Misjudgement Dauer: 0´23´´
Die frühen Menschen benutzen zunächst Leinen, so wie sie sie in der Natur vorfanden: Sehnen, Därme, Wurzeln, Lederriemen. Irgendwann entdeckten die Menschen das Verdrillungsprinzip, vor mehr als 40, vielleicht auch 50.000 Jahren, also in Alt- und Jungsteinzeit.
Musik In the water Dauer: 0´37´´
ERZÄHLERIN
Pflanzliche Materialien wie Flachs, Hanf oder Brennnesseln wurden in einem komplexen Prozess und unter Verwendung mehrerer Werkzeuge zu Garnen verarbeitet. Dazu mussten die Pflanzen erst einmal einige Wochen lang unter Wasser gären. Dann wurden sie getrocknet, gedroschen und gekämmt, Forscher fanden dazu Muschelschalen mit winzigen eingesägten Kerben an den Rändern, die wohl als Kämme gedient haben. Erst dann konnten die Fasern zu Garn und mehrere Garne zu einem Seil verdrillt werden.
ERZÄHLER
Aber woher weiß man das eigentlich? Pflanzenfasern aus der Altsteinzeit haben wohl kaum bis heute überdauert.
4 OT Michael S. Karg
Es gibt höchstens Artefakte, wie zum Beispiel perforierte Steine oder auch Muscheln oder Perlen, wo man natürlich dann den Rückschluss ziehen kann, dass da einfach Fäden durchgezogen wurden. Es gibt aber auch Funde von verdrillten Fasern, die sind bereits 50.000 Jahre alt, aus einer Gegend, und man weiß, dass zu der Zeit nur Neandertaler dort lebten. Also selbst die Neandertaler haben das Verdrillungs-Prinzip für sich genutzt.
ERZÄHLERIN
Und der ganze Aufwand nur, um ein besseres Ausgangsmaterial für den Knoten zu bekommen. Die Verdrillung von Fasern zu Garnen und Seilen gilt als eine der bedeutendsten technologischen und kulturellen Errungenschaften der Menschheit – und der Knoten war wohl ihr Auslöser. Knoten waren extrem wichtig. Sie waren der Grundbaustein für eine unüberschaubare Menge an neuen Werkzeugen: Schlingen und Netze zum Sammeln und Jagen, Flechtwerk für Körbe, Gewebe für Segel und Kleidung.
M Alter Ego Dauer: 0´53´´
ERZÄHLER
Heute kennen die Menschen vor allem einen Knoten: den sogenannten Überhandknoten. Es ist der einfachste Knoten der Welt: Man nimmt eine Leine und legt mit einem Ende ein Auge, also eine Art Kreis. Dann sticht man mit dem losen Ende von unten durch den Kreis hindurch. Festzurren, fertig. Der Überhandkoten ist ein Stopperknoten. Jeder kennt und verwendet ihn, z.B. um damit einen Luftballon zu verschließen.
ERZÄHLERIN
Soll ein Knoten etwas zusammenhalten, wird er mit zwei Seilenden geknotet: Rechts über links, unten durchziehen, und dann noch einmal rechts unter links, fertig ist der ewig schöne Kreuzknoten.
M Knoten knoten weg
ERZÄHLER
Sie merken schon: Knoten erklären ist eine echte Herausforderung! Zur Weitegabe von Wissen ist es aber wichtig. Eines der bedeutendsten Knotenbücher ist das „Ashley-Buch der Knoten“ von 1944. Es umfasst mehr als 7000 Zeichnungen, die annähernd 4000 verschiedene Knoten darstellen. Elf Jahre hat der Künstler und Seemann Clifford Ashley daran gearbeitet. Ein Buch über Knoten im Schaufenster eines Buchladens war es auch, das den Autor Michael Karg zum Knoten-Enthusiasten machte:
5 OT Faszination - Michael S. Karg
Diese Gleichzeitigkeit von der Einfachheit einer Leine, was kann es einfacheres geben als eine Leine und dann diese irre Komplexität – und gleichzeitig aber auch diese existentielle Dualität: Leinen können töten, aber sie können eben auch Leben retten.
ERZÄHLERIN
Erst beim Schreiben seines Buchs über die Kulturgeschichte des Knotens fiel Michael Karg auf, dass seine Faszination vielleicht auch etwas mit einem einschneidenden Ereignis in seinem Leben zu tun haben könnte:
6 OT Rettung - Michael S. Karg
2005 bin ich mit fünf Freunden, wir hielten es für gute Idee, auf der Isar Boot zu fahren, und sind dann aber ziemlich schnell gekentert in der Wasserwalze. Und ja hatten da einfach überhaupt keine Möglichkeit, rauszukommen aus eigener Kraft. Und irgendwann kamen dann eben die Hubschrauber, und da hing dann eben auch das Seil herab, und das hat und dann alle unversehrt Gott sei Dank wieder herausgezogen.
M Lights Dauer: 1´19´´
ERZÄHLER
Doch Knoten dienen nicht nur als Werkzeug, sondern auch als Symbol: Ausgehend von ihren Funktionen stehen Knoten heute vor allem für Verbundenheit, Vertrauen und Sicherheit. Das passt zur heute üblichen praktischen Anwendung von Knoten in Seefahrt, Alpinistik und Bühnentechnik. Im Sport begegnen uns Knoten zum Beispiel an der Saitenbespannung von Tennisschlägern, in der Musik an der Gitarre und selbst Chirurgen verschließen Nähte heute genau wie ihre Kollegen vor 2000 Jahren oft mit einem Kreuzknoten, hinzu kommen zum Beispiel Gleitknoten: Diese können am Fadenende gelegt und dann zur Nahtstelle hingeschoben werden. Angehende Chirurgen müssen sich während ihrer Ausbildung jedenfalls ernsthaft mit Knoten beschäftigen.
ERZÄHLERIN
Knoten haben einen abschließenden Charakter: Der Name Knut bedeutet im Skandinavischen Knoten. Man nannte denjenigen Sohn Knut, mit dem man die Familienplanung abzuschließen, also gewissermaßen zuzuknoten gedachte. Aber wie wir wissen: man kann Knoten auch wieder lösen, falls man es sich anders überlegt…
7 OT Michael S. Karg
Und der Knoten war eigentlich auch in vielen Kulturen immer auch ein Symbol für Treue. Also man hat zum Beispiel in Skandinavien noch sehr lange an Knoten eine verwendet als Ehe-Symbol, also die Kirche hatte es eigentlich relativ lange es schwer gehabt, den Ring einzuführen, weil er einfach der Knoten so eine starke Bedeutung gehabt hat.
M Boleras Sevillanas Dauer: 0´48´´
ERZÄHLER
Aber nicht nur Menschen, auch Städte konnten treu sein. Die andalusische Metropole Sevilla hat den Knoten deshalb im Stadtwappen. Vom Kanaldeckel übers Leihfahrrad bis zur Werbung einer Bankfiliale: Das 8-förmige Knotensymbol findet sich überall in der Stadt, meist eingebettet in das Wort „nodo“, was nichts anderes heißt als Knoten. Zugleich umfasst „nodo“ aber auch den Anfang und Ende des Ausspruchs „No me ha dejado“ - sie hat mich nicht verlassen. Genau das soll König Alfonso der Weise gesagt haben, als die Stadt bzw. ihre Bewohner ihm im Kampf beigestanden haben. Das könnte sich kein Stadt-Marketing-Experte des 21. Jahrhundert besser ausdenken, und ob der König das nun wirklich so gesagt hat oder nicht: die identitätsstiftende Wirkung von Anekdote und Symbol sind unbestritten.
ERZÄHLERIN
Falls Sie jetzt direkt mit dem Knoten anfangen wollen: Kein Problem! Man braucht keinerlei Vorbildung. Eine schöne Leine, die gut in der Hand liegt und einfach mal drauflosgeknotet. Selbst Kinder können schon Knoten binden. Die international hochdotierte Architektin Anna Heringer aus Laufen an der Salzach ist für das Bauen mit Lehm bekannt. Aber auch Knoten benutzt sie in ihren Gebäuden gern. Ihre ersten hat sie bei den Pfadfindern gemacht:
8 OT Anna Heringer
Für mich waren die Knoten ganz essenziell beim Bau meines ersten Gebäudes, bei der METI-Schule, das ist im Erdgeschoss ein Lehmbau, aber im Obergeschoss ist es ein Bambusbau. Und wenn man damals so die Literatur über Bambus angeschaut hat, dann waren das alles so Metallgelenke, die dann auch wieder teilweise ausgegossen waren mit Beton, die Zwischenräume usw. … Und dann hab ich mir gedacht, bei den Pfadfindern bauen wir das doch auch alles mit Knoten.
ERZÄHLER
Für ihre preisgekrönte METI-Schule in Bangladesch hat Anna Heringer Bambusstäbe zu tragenden Decken zusammengefügt. Die Knoten übernahmen hier nicht nur wichtige Funktionen, sie wurden auch ganz bewusst als Gestaltungsmittel eingesetzt. Stundenlang haben Anna Heringer und ihr Team mit den Bauarbeitern vorab geübt, schöne, gleichmäßige Knoten zu machen.
9 OT Anna Heringer
Das war eben das Schöne, weil ich es als Jugendliche und Kind wirklich gelernt habe, auf Knoten zu vertrauen. Wir haben halt im Lager immer unsere Sisal-Seile und Schnüre dabeigehabt. Und mit denen haben wir immer von Bauern ein paar Fichten-Rundlinge gekriegt, haben damit alle möglichen Bauten gemacht, Türme, auf denen wir dann oben natürlich gestanden sind. Und dann habe ich gemerkt, wie viel das tragen kann.
ERZÄHLERIN
Selbstwirksamkeit lautet das Stichwort. Beim Knoten können Kinder wichtige Erfahrungen machen, sie spüren, wieviel Kraft in einem Knoten steckt und lernen früh, wie schön einfache Dinge sein können.
10 OT Anna Heringer
Quasi mein allererstes Architekturstück war auch ein Knotenstück, und deswegen habe ich Vertrauen gehabt in Knoten. Im Team, dem Bangladesch Bauteam war auch mein Cousin Emmanuel Heringer dabei, und der ist auch Pfadfinder und Zimmerer und Korbflechter. Und diese Kombination war natürlich genial, und er hat dann wirklich diese, diese Knotentechnik, die wir aus der Jugend konnten, dann einfach dann noch mal verfeinert.
Ich: Und haben sie während ihres Studiums der Architektur jemals etwas von Knoten gehört?
Heringer: … M-M. Nee…
G Seemöwen
ERZÄHLER
Heute bringen wir Knoten schnell mit Seefahrt und Segelsport in Verbindung. Mit Leinen und Knoten wurden einst Segel, Ruder oder Steuerrad befestigt, die Ladung fixiert oder das Schiff selbst am Kai verankert. Doch Knoten hatten auf einem Schiff von jeher nicht nur praktische Bedeutung. Sie dienten auch dem Zeitvertreib, Taue und Zeit waren ja ausgereichen vorhanden. So wurden Seemänner zu Meistern des dekorativen Knotens und verzierten allerlei kleine Dinge, Griffe an Kisten zum Beispiel oder das Steuerrad. Wer besonders kunstvolle Knoten knüpfen konnten, genoss in der Mannschaft hohes Ansehen.
M Aimless 0´20´´ unter:
ERZÄHLERIN
Letztlich waren Knoten sogar eine Möglichkeit, Gefühle auszudrücken: Der Überlieferung nach übergaben Seemänner ihrer Liebsten bei der Abreise einen sogenannten Liebesknoten, eine Schnur mit zwei Knoten. Waren sie bei seiner Rückkehrt immer noch zusammengezogen, hieß das, dass die Liebste treu geblieben war.
M Alter Ego Dauer: 0´33´´
ERZÄHLERIN
Das Besondere an Knoten: Sie sind sowohl Werkzeug als auch Werkstoff. Der Knoten entsteht aus der Leine selbst. Wenn wir ihn nicht mehr brauchen, verschwindet er wieder und hinterlässt keinerlei Müll. Gerade noch Leben gerettet und schon in Luft aufgelöst, als hätte es ihn nie gegeben. Die Leine ist wiederverwendbar, und sofort bereit für einen nächsten Knoten.
ERZÄHLER
Ressourcenschonender geht’s nicht. Welch gute Dienste ein Knoten bei alldem leistet, beweist ein Blick auf den Hochleistungssport. Sportartikelhersteller geben jährlich Millionen von Euro für die Entwicklung neue High-Tech-Materialien aus, die Schuhe werden immer leichter und steifer, die Läufer immer schneller. Doch egal ob Fußballer oder Marathonläuferin: Am Ende schließen sie ihre High-Tech-Schuhe mit einer prähistorischen Verbindungstechnik und machen den guten alten Schnürsenkelknoten.
Musik von Privat Intervox Nr. 71 african Wildlife Take 4 African Jungle percussion K: Matthais Ruckdäschel
ERZÄHLERIN
Aber Knoten sind nicht nur praktisch. Schon das Mittelalter kannte Knoten nicht nur als Hilfsmittel bei Jagd und Handwerk, sondern auch als Informationsträger: Müller zum Beispiel nutzten zum Verschließen der Mehlsäcke unterschiedliche Knoten, die über den Mahlgrad des Mehls Auskunft gaben. Die Ureinwohner Nordamerikas kannten ein auf Knoten basierendes Kalendersystem,
12 OT Michael S. Karg
indem man also Leinen mit einer bestimmten Anzahl von Knoten knüpfte, wobei jeden Tag ein Knoten zu lösen war. So konnten sich unterschiedliche Stämme auch miteinander koordinieren, für einen zukünftigen Treffpunkt und Zeitpunkt. Dann weiß man zum Beispiel von den Maya, die haben das Rechen-Instrument verwendet…
ERZÄHLER
Die Maori wiederum nannten Knoten den „Ursprung des Wortes“. Tatsächlich berichten Knoten-Profis immer wieder, Knoten zu knüpfen sei wie eine Sprache mit einer eigenen Grammatik, bei der sich einzelne Teile immer wieder neu zusammensetzen lassen und aufeinander aufbauen. Die Beschäftigung mit Knoten dürfte das abstrakte Denken der frühen Menschen gut geschult und die Entwicklung von Sprache vorangetrieben haben.
ERZÄHLERIN
Gleichzeitig blieben Knoten den Menschen immer rätselhaft. Das spiegelt sich in ihrem symbolischen Gehalt: Knoten stehen für Ewigkeit und Unendlichkeit oder für die Welt an sich, also für Dinge, die sich der Mensch nicht recht vorstellen kann. Denn es gibt Knoten, die alle physikalische Logik aufzuheben scheinen und selbst geübte Knotenknüpfer immer wieder staunen lassen, wie sie eigentlich funktionieren.
M Alter Ego Dauer: 0´45´´
Der Eiszapfenstek zum Beispiel hält wie von Zauberhand an einem glatten, spitz nach unten zulaufenden Gegenstand. Beeindruckend findet Michael Karg auch den Constrictor bzw. „Würge-Knoten“:
13 OT Würgeknoten - Michael S. Karg
Man wirft da ein Seil eigentlich nur, sage jetzt mal dreimal um einen Gegenstand rum und zieht ihn zweimal unter sich selbst durch. Und der hat so eine unglaubliche Wirkung, man zieht an beiden Händen an und egal wie fest, er hält dann einfach, er hält sich selbst fest. Für Urvölker war diese zum Teil nicht mehr nachvollziehbare Funktion von Knoten, diese Wirkung, die er entfaltet, einfach ein Beleg für so eine gewisse göttliche Einwirkung in diese Knoten.
ERZÄHLER
Der Würgeknoten als Gottesbeweis… Im christlichen Kontext begegnen uns Knoten tatsächlich immer wieder, an Säulen oder in der Buchmalerei. Be der Ordenstracht der Franziskaner ist das Cingulum ein weißer Strick - die drei Knoten dieser Kordel stehen für Armut, Gehorsam und Keuschheit.
14 OT Symbolik- Michael S. Karg
Gerade im christlich abendländischen Raum hat der Knoten eine sehr positive Bedeutung gehabt, Knotensäulen, und das hat sich aber dann innerhalb von ein paar Jahrhunderten gewandelt und der Knoten hat dann im Spätmittelalter eine ziemlich schlechte Konnotation erhalten.
M Causic – slow motion Dauer: 0´53´´
ERZÄHLERIN
Plötzlich waren Knoten ein Problem, mussten gelöst oder durchschlagen werden. Im 18. Jahrhundert etwa tauchen vermehrt Gemälde mit dem gordischen Knoten auf. Einer griechischen Sage nach war das ein Knoten am Streitwagen des phrygischen Königs Gordios. Er verband die Deichsel des Wagens mit dem Zugjoch und soll aus dem besonders festen Bast der Kornelkirsche gefertigt gewesen sein. Ein Orakel hatte vorhergesagt, wer diesen Knoten löse, würde über Asien herrschen. Viele Tüftler versuchten sich an der Aufgabe und scheiterten. Alexander der Große soll den Knoten schließlich einfach mit seinem Schwert durchgeschlagen und damit seinen Siegeszug durch Asien eingeläutet haben.
M Wooden structure Dauer: 0´30´´
ERZÄHLER
Ein Schwert zum Durchschlagen wünscht man sich manchmal auch beim täglichen Kampf mit ungewollten Knoten: Kopfhörerkabel, Wäschestücke, Strickwolle und der Unterfaden an der Nähmaschine verknoten sich regelmäßig von ganz allein zu herausfordernden Knäueln. Es gibt auf Youtube sogar Tutorials, wie man seine Kopfhörer wickeln soll, damit sie nicht verknoten.
ERZÄHLERIN
Zu einigem Ruhm hat es eine barocke Darstellung der Jungfrau Maria als Knotenlöserin in einer Augsburger Kirche gebracht:
M Facades aus: Melody for Saxophone Nr. 12 / Facades Dauer: 0´26´´
das Gemälde aus dem Jahr 1700 zeigt Maria auf einer Mondsichel, in den Händen hält sie ein langes weißes Band, das sie von vielen Knoten befreit. Mit ihrem Fuß tritt sie auf den Kopf einer verknoteten Schlange, Symbol für den Sündenfall. Die Schlange spiegelt das Band mit den Knoten, indem Maria die Knoten löst, macht sie gewissermaßen den Sündenfall rückgängig.
15 OT Michael S. Karg
Und diese Madonna als Knotenlöserin ist in Südamerika sehr beliebt, weil der Papst Franziskus während seines Deutschland-Aufenthalts dieses Bild eben entdeckt hat und war dann so fasziniert davon, dass er das bei sich zu Hause dann eigentlich so ein bisschen auch promotet hat und das hat offenbar hohen Anklang gefunden.
ERZÄHLER
Eine der beeindruckendsten Knotendarstellungen kommt von Leonardo da Vinci. Er schuf die sogenannte Concatenation, ein hochkomplexes Ornament aus einer einzigen durchgehenden Linie, die sich in immer wieder neuen Knoten und Verschlingungen systematisch auf dunklem Untergrund windet und das ganze Blatt füllt.
Musik Misjudgement Dauer: 0´50´´
ERZÄHLERIN
Leonardo galt der Knoten in der Renaissance als Ideal-Objekt, in dem Schönheit und Nützlichkeit, abstraktes Denken und praktisches Handwerk, Wissenschaft und Dekor zusammenkommen. Ein komplexer Knoten stand sinnbildlich für die Rätsel der Natur – die es zu lösen galt wie einen Knoten. Das großflächige Ornament aus einem einzigen weißen Band zu bilden, entspricht der philosophischen Idee vom Sein an sich: aus dem Einen das Viele. Inspiration für seinen Knoten-Symbolik erhielt Leonardo vermutlich von seinem Landsmann Dante Alighieri, der hatte in seiner Göttlichen Komödie die komplexe Darstellung eines Knotengeflechts als Metapher für das Universum benutzt.
M Alter Ego Dauer: 0´46´´
ERZÄHLER
Wer mit offenen Augen durch die Welt läuft, wird viele Knoten finden. Und manches Mal wird er sie auch vermissen: unlösbare Kabelbinder aus Kunststoff ersetzen den guten alten Strick immer öfter. Ein anderes Beispiel ist der Kordelstopper an Jacken und Rucksäcken. Er soll verhindern, dass eine Kordel in den Tunnel hineingezogen wird. Abermillionen von diesen kleinen Plastikteilen sind in Umlauf und werden am Ende mit der abgetragenen Kleindung einfach weggeworfen. Dabei ist der Materialaufwand völlig überflüssig:
Ein einfacher Knoten hätte es auch getan.
Kaiserin Theophanu sorgt im weströmischen Reich der Ottonen für Stabilität und außenpolitische Erfolge. Die Frau aus Byzanz hat nicht nur politisches Geschick, sie bringt auch Kunst und Bildung nach Deutschland. Autorin: Ulrike Beck (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Stefan Wilkening, Irina Wanka
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Ludger Körntgen (Professor; Dr.; Historiker; Professor für mittelalterliche Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz);
Klaus Gereon Beuckers (Professor; Dr.; Kunsthistoriker; DIrektor am Kunsthistorischen Institut der Christian-Albrechts-Universität, Kiel)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1
Erzähler
Rom im Frühjahr 972. Es muss ein spannender Moment gewesen sein, als die Griechin Theophanu aus Byzanz in Rom eintrifft. Sie ist noch ein halbes Kind, vielleicht erst 12, vielleicht aber auch schon 16 Jahre alt. Ihr genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt. Hier soll sie nun Otto II. heiraten. Den künftigen Herrscher aus der Dynastie der sächsischen Ottonen, die das weströmische Reich regieren.
Erzählerin
Theophanu kennt ihren künftigen deutschen Gatten noch nicht. Sie weiß nur, dass er siebzehn Jahre alt ist und sein Vater sich in den Kopf gesetzt hat, dass er eine purpurgeborene Prinzessin aus Byzanz, aus dem Zentrum des oströmischen Reichs, zur Frau nehmen soll. Auf sie werden viele Aufgaben zukommen.
Erzähler
Denn ihr künftiger Schwiegervater, Otto der Große, verknüpft mit dieser Verbindung große Absichten, erklärt der Kunsthistoriker Klaus Gereon Beuckers:
MUSIK ENDE
1.O-Ton ( Beuckers ab 2:50)
Für die Ottonen war das eine Anerkennung ihrer inzwischen erlangten Stellung. Otto der Große hatte sozusagen in der Tradition Karls des Großen stehend und auch dezidiert darauf Bezug nehmend sich in Aachen krönen lassen. (…) Und
wollte jetzt diese damit verbundene geopolitische Dimension durch eine Prinzessin aus Byzanz oder durch die Anerkennung aus Byzanz absichern und auch nach außen dokumentieren. 3:19 (…) Weil es zu der Zeit gerade in den 60er-, 70er-Jahren einige Probleme mit Süditalien gab, was formell zum Reich gehörte und wo die Byzantiner relativ große machtpolitische Interessen hatten und auch das wollte man befrieden und hat sich dementsprechend um diese Prinzessin gekümmert.
Erzählerin
Theophanu ist aber nicht die Tochter, sondern nur die Nichte des oströmischen Kaisers Johannes Tzimiskes. Es ist ein Affront, dass Byzanz sie schickt. Dennoch lässt Otto der Große die Hochzeit nicht platzen, sondern nimmt Theophanu als künftige Schwiegertochter in Ehren auf.
2. O-Ton ( Beuckers ab 4:00)
Wir wissen, dass einige am Hof da etwas die Nase gerümpft haben. Man muss aber auch sehen, dass in Byzanz zu der Zeit keine ganz klare Herrscherstruktur da war, da war gerade eben ein Herrscher abgelöst worden. Und im Prinzip der neue Usurpator schickte jetzt seine Nichte, über eine Tochter in dem Maße hat er nicht verfügt. Die Anna, auf die die Ottonen spekuliert hatten, wurde nach Russland verheiratet. 4:25 Warum Otto der Große darauf eingegangen ist oder auch Otto II. Wir wissen es nicht. Aber sie sind mit viel Nachdruck drangegangen, haben das Beste aus der Situation gemacht und haben direkt Theophanu wie eine Prinzessin behandelt.
Musik 2
Erzähler
Am 14.April 972 ist es soweit. Otto II. und Theophanu werden in Rom vom Papst vermählt. Während der Zeremonie krönt Johannes XIII. die Braut auch zur Kaiserin. Die einen reichen Schatz mit in die Ehe bringt: Wertvolle byzantinische Elfenbeinschnitzereien, Textilien, Parfümflakons und Goldschmiedearbeiten. Mit der jungen Kaiserin zieht nicht nur der Glanz der byzantinischen Kultur in das sächsische Herrscherhaus ein, sondern auch Bildung und modische Raffinesse.
Erzählerin
Welches Kleid Theophanu bei ihrer Hochzeit trug, ist nicht überliefert, aber wie sie in etwa aussah, das lässt sich rekonstruieren. Auch, wenn kein einziges zeitgenössisches Porträt von ihr existiert:
MUSIK ENDE
3.O-Ton (Beuckers ab 1:05)
Wir können es über ein paar Dinge rückschließen. Ein Punkt ist beispielsweise, dass wir relativ genau wissen, wie ihre Enkeltochter, die Königin Richetza ausgesehen hat, weil ihre Gebeine untersucht worden sind in den Fünfzigerjahren, die im Kölner Dom ruhen heute. Und wir daher wissen, dass Richetza eine (1:40) schmale kleine dunkelhaarige Frau mit schmalem Gesicht gewesen ist.(…) Sodass wir auch davon ausgehen können, dass sie wahrscheinlich etwas von ihrer Großmutter widergespiegelt hat und weniger das Aussehen der Ottonen selber, die eher etwas gedrungener und rotblonde Leute gewesen sind, also eher einem anderen Typus entsprochen haben.
MUSIK 3
Erzähler
Nur ein Jahr nach der Hochzeit übernimmt Otto II. nach dem Tod seines Vaters die Alleinherrschaft über ein gigantisches Reich, das sich im Jahr 973 weit über Sachsen hinaus in die heutigen Beneluxländer, Elsaß und Lothringen, den nordöstlichen Teil der Schweiz, das Herzogtum Bayern mitsamt Österreich, Kärnten und Südtirol bis nach Italien hinein erstreckt.
Erzählerin
Das bedeutet für Theophanu, dass ihr Alltag von nun an vor allem durch Reisen bestimmt ist. Eine feste Residenz als Wohnsitz gibt es nicht. Stattdessen begleitet sie ihren Mann quer durch das Reich und von einer Kaiserpfalz zur anderen, um dort die Regierungsgeschäfte zu erledigen. Allein von Frühjahr bis Sommer 973 steht der Besuch der Pfalzen Quedlinburg, Memleben, Dornburg und Magdeburg auf dem Programm. Das ist strapaziös, aber notwendig, wie der Historiker Ludger Körntgen erklärt:
MUSIK ENDE
4.O-Ton ( Körntgen ab 7:40)
Man hat durchaus ohne Abschätzung insgesamt die Kaiser des Mittelalters (…) als Normaden auf dem Königsthron angesprochen, weil sie permanent durch das Reich sich bewegen, um ihre Herrschaft zur Geltung zu bringen. Die Herrschaft war sehr stark auf das persönliche Gegenüber angewiesen, auf die konkrete Kommunikation mit den anderen wichtigen Akteuren. (8:14) Und das konnte man eben nicht über lange Nachrichtenwege machen, das konnte man nur durch persönliche Präsenz machen. Deshalb ist eben Reisen von einem Ort zum anderen eigentlich ein prägendes Moment dieses Lebens.
Erzähler
Das Ehepaar scheint sich gut zu verstehen. Otto II. bezeichnet Theophanu in Urkunden auch als seine „vielgeliebte Gattin“, deren Rat er sehr zu schätzen weiß. Schon ein Jahr nach ihrer Hochzeit bestimmt er sie zur „Mitkaiserin“, die die politischen Angelegenheiten entscheidend mitbestimmt. Allein durch ihre Funktion als Mittlerin zwischen Bittstellern und ihrem Mann, dem Kaiser.
5.O-Ton (Körntgen ab ca. 10:30)
Wenn man den Kaiser mit einem Wunsch oder einem Anspruch konfrontieren wollte, war es manchmal sinnvoll, erst mal bei der Kaiserin vorzufühlen. Das war noch ein bisschen unverbindlicher. (… 10:55) Sie verbringt viel Zeit mit Beratungen, sie empfängt Personen, die sich an sie wenden. Sie setzt sich ein für manche Personen, bringt deren Anliegen dann auch in der Beratung des Kaisers und seiner Umgebung zur Sprache. Das sind ganz wichtige Momente ihres Lebens.
MUSIK 1
Erzählerin
Theophanu ist nicht die erste Kaiserin, die im ottonischen Herrscherhaus als Mittlerin auftritt. Doch sie ist es, die in dieser Rolle Beispielloses leistet. Ein Viertel aller Urkunden, die Otto II. unterschreibt, gehen auf ihre Anträge - also Interventionen - zurück.
Erzähler
Theophanu hat aber noch eine andere wichtige Aufgabe: sie muss Kinder kriegen. Drei Jahre nach ihrer Hochzeit bringt sie ihre erste Tochter zur Welt: Sofia. 977 folgt Adelheid, ein Jahr später Mathilde. Der lang ersehnte Thronfolger Otto III. wird im Jahre 980 geboren.
Erzählerin
Für ihre Kinder mischt Theophanu das Erziehungsprogramm der Ottonen gründlich auf. Sie setzt durch, dass nicht nur Otto III. Griechisch und Latein lernt, sondern auch seine beiden Schwestern Sofia und Adelheid, die später Äbtissinnen werden.
Erzähler
Otto III. wird später als Kaiser aufgrund seiner außergewöhnlichen Bildung als „mirabilis mundi“ - als Staunen der Welt - bewundert. Wie sehr ihn seine Mutter dabei geprägt hat, erklärt Ludger Körntgen:
MUSIK ENDE
6.O-Ton (Körntgen ab 28:05)
Offensichtlich war er die ersten zwei drei Lebensjahre (…) sehr eng mit der Mutter zusammen. Aber das ist nur eine vorübergehende Phase. Wichtiger war, dass sie einen Einfluss auf die Auswahl seiner Erzieher gehabt hat. 28:24 Eine ganz wichtige Persönlichkeit in diesem Zusammenhang war der spätere Bischof Bernward von Hildesheim. Ein Geistlicher, (…) der später als einer der dominierenden kulturell wirksamen Persönlichkeiten, ein Mäzen in Baukunst und Buchkunst und so weiter hervorgetreten ist. (…29:13) Interessanterweise gibt es so etwas spielerisch gemeinte Verse, die Otto der Dritte an seinen Lehrer geschrieben hat. 29:20 Darin bittet er ihn, ihm zu helfen, dass er etwas von seiner sächsischen Derbheit verliert und dass seine griechische Feinheit etwas gestärkt wird.
MUSIK 4
Erzählerin
Mit Theophanu kehrt aber nicht nur die Kultur in das sächsische Herrscherhaus ein, sondern sie sorgt mit einer Gefolgschaft aus Künstlern, Architekten und Goldschmieden aus ihrer Heimat auch dafür, dass sich im ganzen Reich byzantinische Kunstgegenstände verbreiten.
Erzähler
Und das ist absolut gewollt. Denn Byzanz als Zentrum des oströmischen Reiches gilt als der Maßstab in puncto Kultur. Sich an ihr zu orientieren, gilt im 10.Jahrhundert als chic - auch im weströmischen Reich. Der Kunsthistoriker Klaus Gereon Beuckers:
MUSIK ENDE
7.O-Ton: (Beuckers ab 6:45)
Etwa in der Mitte des Jahrhunderts geht das los, dass wir sehen, wie stark letztendlich byzantinische Vorbilder (…) rezipiert werden. 6:54 Das ist in der Buchmalerei so, das ist in der Goldschmiedekunst so, ganz besonders in Textilgewerben, die ja sehr sehr teuer waren. Und das hat in der Zeit, als Theophanu dann kam, einen großen Schub noch einmal erlebt. Wir sehen, (7:24) dass seitdem sie 972 gekommen ist, dass wir (…) dann wirklich die ottonische Hochblüte erleben, die auch sehr stark mit byzantinischen Formen, mit antiken Formen einhergeht. (…8:22) beispielsweise die beiden Elfenbeine auf dem Einband des Evangeliars Ottos III. im Aachener Domschatz.
MUSIK 5
Erzählerin
Und es ist Theophanu, die einen ganz neuen Brauch aus ihrer byzantinischen Heimat in Deutschland einführt: Sie feiert mit ihren Kindern das Nikolausfest. Natürlich nicht so, wie wir es heute kennen.
MUSIK ENDE
8.O-Ton (Beuckers ab 16:20)
Nikolaus ist im byzantinischen Bereich ein sehr gängiger Heiliger gewesen. Wurde im Westen richtig bekannt, als man seinen Sarkophag aus der Türkei nach Bari, also nach Süditalien gebracht hat. In den 80er-Jahren des 11. Jahrhunderts, also hundert Jahre nach Theophanu. Da wurde er dann zu dem, was wir heute kennen. (…) In der (16:55) Zeit vor der Translation nach Bari gibt es nicht besonders viele Nikolaus Zentren. Aber die ersten, die wir greifen können, (…) sind im sehr engen persönlichen Umfeld von Theophanu entstanden, sodass man davon ausgehen kann - (…) dass sie im Prinzip eigentlich diejenige war, die diesen Kult innerhalb ihrer Familie zum mindesten eingeführt hat und verbreitet hat.
MUSIK 5
Erzähler
Allzu oft wird Theophanu mit ihren Kindern das Nikolausfest nicht gefeiert haben, denn an der Seite ihres Mannes ist sie schon ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes zunehmend in Italien unterwegs. Otto II. versucht als römisch-deutscher Kaiser, ganz Italien in seine Reichsherrschaft einzubeziehen.
MUSIK ENDE
Erzählerin
Das führt allerdings zu Konflikten in Süditalien. Nach mehreren Angriffen der Sarazenen unter der Führung des Emirs Abu al-Quasim beginnt Otto II. im Herbst 981 seinen Feldzug. Theophanu begleitet ihn bis nach Kalabrien in die Stadt Rossano, nicht aber in die entscheidende Schlacht am Kap Colonna, die am 15.Juli 982 stattfindet.
Erzähler
Und für Otto II. mit einer verheerenden Niederlage endet. Ludger Körntgen:
9.O-Ton (Körntgen ab 14:48)
Eigentlich weniger aufgrund militärischer Schwäche, sondern einfach aufgrund taktischer Unbeweglichkeit. 15:00 Man hatte sehr stark das gegnerische Heer zunächst einmal zur Auflösung der Schlachtordnungen gebracht. Der gegnerische Emir war gefangen und als dann alle dachten, die Schlacht ist gewonnen, kamen aus dem Hintergrund Reserven und konnten das ottonische Heer weitgehend aufreiben. Es ist eine große Anzahl von wichtigen Führungspersönlichkeiten des Reiches gefallenen. Der Kaiser konnte sich nur mit großer Mühe retten, und es hat eine Weile gedauert, bis man dann wieder einigermaßen zur politischen Tagesordnung übergehen konnte.
Erzählerin
Schon eineinhalb Jahre später stirbt Otto II. am 7.Dezember 983 in Italien. Er ist der einzige deutsche Herrscher, der in Rom beigesetzt wird.
Erzähler
Sein designierter Nachfolger ist sein Sohn, der bereits auf dem Hoftag von Verona zum König gewählt worden ist. Es gibt dabei allerdings ein kleines Problem: Otto III. ist erst drei Jahre alt und kann von daher unmöglich regieren. Stattdessen übernimmt seine Mutter Theophanu die Regentschaft für ihn.
Erzählerin
Doch bevor sie dieser neuen Aufgabe gerecht werden kann, muss sie sich gegen einen Verwandten aus Bayern durchsetzen: Heinrich den Zänker. Der, wie der Name schon sagt, dafür bekannt ist, seine Ziele rücksichtslos durchzusetzen. Um seinem Herrschaftsanspruch Nachdruck zu verleihen, entführt er kurzerhand das Kind. Doch damit kommt er nicht durch. Ludger Körntgen:
10.O-Ton: ( Körntgen 16:05)
Theophanu hat gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Adelheid, die ja auch gekrönte Kaiserin war, gewissermaßen ihren Rang, ihre Autorität in die Waagschale werfen können, um ihrem Sohn die Krone zu retten gegen die Ansprüche des Verwandten Herzogs von Bayern.
16:39 Ein wichtiger Punkt ist auf jeden Fall gewesen, dass dieser Heinrich der Zänker (…17:24), dass er damit wirklich zu weit gegangen ist. Er hat sehr viele vergrätzt. (…) Von daher können wir sagen, dass (…) die große Mehrzahl der Entscheidungsträger, der politischen Akteure, der Grafen und der Herzöge, vor allen Dingen dann auch der Bischöfe, allen voran der Erzbischof Willigis von Mainz, der (…) eine wichtige Vertrauensperson für Otto II. und Theophanu war -, die wollten einfach diesem Anspruch des Bayern Herzogs einen Riegel vorschieben.
MUSIK 6
Erzähler
Nach diesem Intermezzo kann Theophanu nun die Regentschaft für ihren Sohn übernehmen. Heinrich der Zänker übergibt ihn ihr 984 höchstpersönlich auf dem Reichstag in Rohr. Als Regentin für ihren Sohn besteht Theophanus Aufgabe nun darin, den Status Quo der Reichsherrschaft zu festigen und den Kaiserthron für Otto III. zu sichern.
Erzählerin
Das ist keine leichte Aufgabe, die sie dennoch - in Allianz mit ihrer Schwiegermutter Adelheid - bravourös bewältigt. Sieben Jahre lang sorgt sie für Stabilität und außenpolitische Erfolge und wird zur mächtigsten Frau des Abendlandes.
Erzähler
Dank der innenpolitischen Stabilität hat Theophanu in ihrer Regierungszeit den nötigen Spielraum, sich um die vielen außenpolitischen Konflikte an den Grenzen des Reiches zu kümmern.
Musikakzent: Fanfare
Erzählerin
Da sind zum einen die aufständischen Slawenstämme jenseits der Elbe, die sie durch Feldzüge und eine Allianz mit dem polnischen Herzog Miseko einzudämmen versucht. Im Jahr 986 scheint ihr Ziel erreicht, als die slawischen Fürsten Böhmens und Polens in friedlicher Absicht beim Hoftag in Quedlinburg erscheinen.
Erzähler
Und auch der Süden Italiens bedarf immer wieder ihrer Aufmerksamkeit. Ganz zu schweigen vom westlichen Nachbarn Frankreich.
MUSIK ENDE
Die Frage ist, wie Theophanu dort und anderswo versucht hat, Herrin der Lage zu bleiben und warum sie als besonders geschickte Politikerin gilt? Ludger Körntgen:
11.O-Ton (Körntgen ab 25:00)
Politik bedeutet aus der Warte der Herrscher vor allen Dingen, dass man versuchen muss, Gunst zu erweisen, Frieden zu bewahren und zu schaffen. Die Ansprüche der vielen Akteure des Adels, aber auch der Kirchen, der Bischöfe und
Äbte, die ständig an die Herrscher gerichtet werden, so klug auszutarieren, dass wenn man dem einen etwas bewilligt, nicht ein anderer vor den Kopf gestoßen wird. Und das ist eigentlich das, was politisches Agieren ausmacht, sodass wir mitunter auch sagen, die Herrscher reagieren eigentlich eher, als dass sie eigene Vorstellungen sehr konsequent umsetzen. Und was man dabei brauchte als politisches Geschick - ich würde das kommunikative Intelligenz nennen - das war die Möglichkeit (…) entsprechend dieser Erwartungen zu agieren. Ohne dabei auf der anderen Seite den eigenen Rang, den eigenen überlegenen Anspruch aufzugeben und aufs Spiel zu setzen. 26:28 Das auszutarieren, war nicht sehr einfach und das scheint Theophanu (…) dann eben doch auch sehr erfolgreich bewältigt zu haben.
Erzählerin
Theophanu verfügt also über kommunikative Intelligenz - und: kluge Berater. Allen voran vertraut sie dem Mainzer Erzbischof Willigis, dessen Rat sie schon geschätzt hat, als ihr Mann noch lebte. Beides macht sie zu ihrer Zeit unschlagbar.
Erzähler
Außerdem sieht sie - anders als ihre Schwiegermutter Adelheid - die Kirche als Diener des Staates. Ihre häufigen Besuche in Rom dienen vor allem dem Zweck, sich den Rückhalt des päpstlichen Organisationsapparats als politische Macht zu sichern.
MUSIK 7
Erzählerin
Dennoch regiert Theophanu im ottonischen Reich nicht mit dem Anspruch einer Kaiserin, sondern immer stellvertretend für ihren Sohn. Daher existieren keine Münzen mit ihrem Konterfei. Und sie signiert in der Regel auch nicht als Kaiserin.
Erzähler
Nur einmal lässt sie sich am 1.April 990 in Italien dazu hinreißen, sogar als Kaiser zu signieren. Die Ravennater Urkunde vom 1.April 990 ist unterschrieben mit den Worten: „Theophanius gratia divina imperator augustus“, was übersetzt bedeutet: „Theophanius, durch göttliche Gnade erhabener Kaiser“.
Musikakzent
Erzählerin
Nur ein Jahr später stirbt die Kaiserin am 15.Juni 991 in der Pfalz Nimwegen. Es gab Gerüchte, dass sie vergiftet worden sein soll. Ob etwas daran sein könnte, lässt sich allerdings nicht nachvollziehen.
Erzähler
An Theophanus Stelle übernimmt nun Kaiserin Adelheid fünf Jahre lang die Regentschaft für ihren Enkel, bis Otto III. 996 in Rom von Papst Gregor V. zum Kaiser gekrönt wird.
Erzählerin
Wie sie es gewünscht hat, werden Theophanus Gebeine in Köln, einer ihrer Lieblingsstädte beigesetzt. Und zwar in der Kirche ihres Schutzheiligen, des Heiligen Pantaleon. Sie wurde schon zu ihren Lebzeiten als Autorität anerkannt, aber 30 Jahre nach ihrem Tod geradezu als Kultfigur verehrt. Nach dem Tod ihre Sohnes Otto III. und seines Nachfolger Heinrich II. setzt ein regelrechter Hype um Theophanu ein. Klaus Gereon Beuckers:
MUSIK ENDE
12.O-Ton: (Beuckers ab 14:05)
In St. Pantaleon wird quasi ein neuer Westbau errichtet, rund um das Grab von Theophanu. Was vorher wahrscheinlich im Südarm des Querarms gelegen hat.
Also wirklich dezidiert dann Theophanu zum Mittelpunkt einer Kultur aufgewertet wird. Das tun vor allen Dingen ihre Enkel die Ezzonen ( 14:17), die aus der Ehe von Mathilde, der Tochter Theophanus mit Ezzo, dem Pfalzgrafen von Rhein sind - die einzige, die verheiratet war von den Kindern Theophanus, die sich sehr stark um das Erbe bemühen und damit auch ihre eigene Herkunft unterstreichen und sehr mächtig sind und auch sehr reich sind.
MUSIK 1
Erzählerin
Heute ist die Erinnerung an Theophanu in Köln immer noch präsent. Immer wieder pilgern Besucher zu ihrem Sarkophag und stellen Kerzen auf.
Und auch in den Niederlanden, dem Ort, wo sie starb, erinnern Straßennamen an die ottonische Kaiserin, die einst als Mädchen aus Byzanz gekommen war und die als Mutter und Regentin für Bildung, den richtigen Tonfall und Stabilität im römisch-deutschen Reich sorgte.
MUSIK ENDE
Theatralik und Drama, Wucht und Architektur, über drei Stunden Länge - die Matthäus-Passion ist nicht nur des großen Bach umfangreichstes Werk, sie verlangt auch dem heutigen Zuhörer noch einiges ab. Von Johannes Roßteuscher (BR 2016)
Credits
Autor dieser Folge: Johannes Roßteuscher
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Heinz Peter, Frank Manhold
Technik: Jochen Fornell
Redaktion: Petra Herrmann-Böck
Im Interview:
Enoch zu Guttenberg, Hansjörg Albrecht, Hartmut Schick, Beatrice Lackner
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Luchse galten in Deutschland als ausgerottet. Doch seit etwa 50 Jahren kehren die großen Raubkatzen zurück. Es gibt wieder drei Populationen. Die sind jedoch weitgehend voneinander isoliert, der Gen-Pool droht zu verarmen. Wird Deutschland wieder das ?Luchsland? das es einmal war? Autor: Werner Bader
Credits
Autor dieser Folge: Werner Bader
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Julia Fischer
Technik: Anton Wunder
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Professor Marco Heurich, Nationalpark Bayerischer Wald, Wildtierökologe und Naturschutzbiologe, Universität Freiburg;
Katja Schnetz (Wildbiologin, Hochschule Weihenstephan-Triesdorf);
Freiherr Eberhard von Gemmingen-Hornberg, Waldbesitzer und Vize-Präsident des Bayerischen Jagdverbands (BJV);
Uwe Friedel, Artenschutzreferent des Bund Naturschutz in Bayern
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IQ - Wissenschaft und Forschung | Wildtiere in der Stadt - Wie leben wir in Zukunft zusammen?
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„Wolf, Luchs und Bär in der Kulturlandschaft“ von Marco Heurich (Hrsg.), Stuttgart 2019. Guter Überblick zu Biologie, Ökologie und Management der Tiere. Zeigt Möglichkeiten und Grenzen des Wildtier-Managements.
„Der Luchs: Rückkehr auf leisen Pfoten.“ Von Robert Hofrichter und Elke Berger. Graz, 2004. Viele gute Abbildungen, guter Einblick zu den Auswirkungen der Wiederansiedlung der Luchse, mit Statements von Jägern, Förstern, Bauern und Tierschützern.
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Der Archaeopteryx. Ein bayerischer Urvogel, der zu einer Zeit aus dem Solnhofener Plattenkalk bei Eichstätt geborgen wurde, als Charles Darwin auf der Suche nach dem letzten Beweis für seine Evolutionstheorie war. Von Katharina Hübel (BR 2022)
Credits:
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Frank Manhold
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Iska Schreglmann
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Literaturtipps:
Probst, Ernst: Raubdinosaurier in Bayern. Von Archaeopteryx bis Sciurumimus. Oktober 2019.
Wellnhofer, Peter: Archaeopteryx. Der Urvogel von Solnhofen. Verlag Dr. Friedrich Pfeil. 2008.
Bollen, Ludger: Der Flug des Archaeopteryx. Auf der Suche nach dem Ursprung der Vögel. Mit einem Vorwort von Dr. Martina Kölbl-Ebert, Jura-Museum Eichstätt. Edition Goldschneck. 2008.
Lavaströme, Glut- und Aschewolken - Vulkane können zerstörerische Kraft entfalten. In Europa befinden sich die meisten Vulkane in Island und Italien. Doch auch in Deutschland, besonders in der Eifel, beobachten Wissenschaftler Anzeichen aktiven Vulkanismus. Von Georg Gruber (BR 2020)
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Autor dieser Folge: Georg Gruber
Regie: Rainer Schaller
Es sprach: Christian Jungwirth
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Karen Strehlow (Dr.; GEOMAR Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung, Kiel)
Ulrich Küppers (Dr.; LMU München, Department für Geo- und Umweltwissenschaften, Sektion für Mineralogie, Petrologie und Geochemie)
Torsten Dahm (Professor; Deutsches Geoforschungszentrum GFZ, Helmholtz-Zentrum Potsdam, Sektionsleiter Erdbeben- und Vulkanphysik)
Eleonora Rivalta (Dr.; Deutsches Geoforschungszentrum GFZ, Helmholtz-Zentrum Potsdam, Arbeitsgruppenleiterin Erdbeben-und Vulkanphysik)
Roland Eichhorn (Dr.; Leiter des Geologischen Dienstes am Bayerischen Landesamt für Umwelt, Hof)
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Ständig sind wir heute auf der Suche nach dem Authentischen: Essen, Kultur-Urlaub, Kunst. Und auch wir selbst sollen authentisch sein. Doch wie geht das? Und was, wenn das 'authentische Ich' ein mieser Charakter ist? Autor: Niklas Nau (BR 2018)
Credits
Autor dieser Folge: Niklas Nau
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Wolfgang Pregler, Hemma Michel
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Monika Betzler (Professorin; Lehrstuhlinhaberin für Praktische Philosophie und Ethik, LMU München);
Stephanie Draschil (Sozialpsychologin)
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Authentisch sein – das ist heute schwer in Mode. Die Regale der Buchhändler und Lebenshilfeblogs im Internet laufen über mit Titeln wie:
COLLAGE ZITATORIN / ZITATOR
'Authentizität: Die neue Wissenschaft vom geglückten Leben'
ZITATOR
'Sind Sie noch ganz echt?: Mut zur Authentizität'
ZITATORIN
'Sich selbst finden und leben in 7 Schritten'
ZITATOR
'Du willst echt sein? – 3 Tipps für mehr Authentizität'
ZITATORIN
'Einzigartig!: Mit authentischer Positionierung und Branding zum Erfolg'
ZITATOR
'Authentisch, präsent, charismatisch. Nutzen Sie das Potenzial Ihrer Ausstrahlung'
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Und nicht nur wir selbst, auch unsere Erfahrungen sollen heute möglichst authentisch sein. Beim Urlaub in Südafrika nur am Strand brutzeln und Löwen vom Safari-Jeep aus beobachten?: „Out“! „In“ ist heute, das „echte“ Südafrika und seine Menschen kennenzulernen: etwa mit einer Tour durch den einstmals als Drogenhöhle berüchtigten Ponte Tower in Johannesburg, inklusive Einblick in die Wohnungen und das „echte Leben“ der Bewohner. Die Tourismusindustrie tut alles dafür, damit sich der Tourist nicht als 'Tourist' fühlen muss.
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Oder beim Essen: Wenn wir ein unbekanntes kleines chinesisches Restaurant betreten und alle anderen Gäste Chinesen sind, beglückwünschen wir uns wahrscheinlich erst einmal selbst: Wir haben etwas Authentisches entdeckt! Falls es dann doch schlecht schmeckt, war es immerhin authentisch schlecht.
Dass wiederum in der chinesischen Provinz Guangdong vor einigen Jahren das gesamte österreichische Dorf Hallstatt für 940 Millionen Dollar seitenverkehrt nachgebaut wurde, erscheint uns mindestens skurril.
Österreichisches Weltkulturerbe im Reich der Mitte? Unauthentisch! Auf der Startseite von Hallstatts Internetauftritt steht (augenzwinkernd):
ZITATOR (http://www.hallstatt.net/)
Herzlich willkommen in Hallstatt. Millionenfach fotografiert – einmal kopiert – nie erreicht.
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Die Liste der Dinge, die bitte möglichst authentisch sein sollen, lässt sich fast beliebig lange weiterführen:
Unser Chef oder unser Führungsstil, unsere Politiker, die Produkte die wir kaufen, die Musik, die wir hören: Der Drang, Authentisches zu erleben und authentisch zu leben, scheint so groß wie vielleicht noch nie:
O-Ton 1 - Stephanie Draschil
Ich habe das Gefühl, dass sich sehr viel vereinheitlicht hat, also sehr viel homogenisiert ist. Wenn Sie in der Welt herumreisen, haben Sie überall Starbucks, Sie haben überall McDonalds, Sie haben überall H&M, die Leute ziehen das Gleiche an, die trinken das gleiche, die beschäftigen sich mit ähnlichen Sachen. Wir sind sehr vernetzt geworden, es hat sich alles sehr homogenisiert. Und ich glaube, da ist ein Bedürfnis da, dass man wieder individueller wird, dass man wirklich auch sich die Frage stellt: Was will ich eigentlich, was ist mir eigentlich wichtig, wie will ich mich auch von anderen Menschen abgrenzen?
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Sagt die Sozialpsychologin Stephanie Draschil. Doch was genau ist diese Authentizität, nach der wir uns so sehnen? Das Wort „authentisch“ kommt vom griechischen authentikós und heißt so viel wie „echt“, „original“, „verbürgt“, „wahrhaftig“.
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Was ein authentisches Dokument ist, etwa ein authentischer Vertrag oder ein authentisches Testament, leuchtet uns sofort ein. Auch bei klassischen Kunstobjekten wie Gemälden ist das Identifizieren von Authentischem noch relativ einfach. Ein authentischer Rembrandt ist eben das Gegenteil von einer Fälschung und das Gegenteil von einer Kopie. Doch was genau meinen wir, wenn wir von „authentischer“ Kultur sprechen? Es ist ein Begriff, der schnell in eine gefährliche Nähe zu den Völkerschauen des Kolonialismus gerät, in denen „Wilde“ wie Zootiere zur Schau gestellt wurden:
Zum Beispiel dann, wenn Touristen enttäuscht sind, dass das exotische Volk, zu dem ein Reiseveranstalter sie führt, nicht in der Zeit festgefroren ist, sondern durchaus eine hohe Smartphone- und Fernseherdichte aufweist. Und wie sollen wir erst über Authentizität entscheiden, wenn es um so etwas Komplexes wie den einzelnen Menschen geht?
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Was macht eine Person authentisch? Monika Betzler ist Professorin für Praktische Philosophie und Ethik an der LMU München. Sie empfiehlt eine Annäherung über den Alltag:
O-Ton 2 - Prof. Monika Betzler, LMU München
Da kann man sich mal überlegen, was meinen wir alltagssprachlich damit, und noch einfacher, was meinen wir mit dem Gegenteil von Authentizität, was sind denn inauthentische Wesen? Da hat wahrscheinlich jeder eine Vorstellung davon. Das sind Menschen, die irgendwas verbergen beispielsweise, die nicht in der Lage sind zu dem zu stehen oder das zu äußern, was sie wirklich denken und so weiter. Und das Gegenteil wäre dann etwas, was den Begriff der Authentizität charakterisiert. Und vielleicht ist auch die allgemeinste Definition, die, das eine Person authentisch ist in dem Maße, in dem sie zu dem steht, was ihr wichtig ist. Und dann müssen wir uns nähere Gedanken machen was heißt das jetzt genau, was heißt, zu sich stehen, und was heißt, dass einem etwas wichtig ist.
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Das Ideal der Authentizität ist dabei relativ neu. Zwar stand schon vor etwa 2.500 Jahren am Apollotempel in Delphi die Inschrift „Gnothi seauton“ – „Erkenne dich selbst!“. Und auch der antike Philosoph Sokrates soll die Wichtigkeit der Selbsterkenntnis immer wieder gelehrt haben.
Und doch verstanden vormoderne Gesellschaften unter diesem „Erkenne dich Selbst!“ wohl etwas ganz anderes, als wir das heute tun. Denn Menschen sahen sich damals in den meisten Gesellschaften als Teil einer größeren, kosmischen Ordnung. Irgendwo zwischen Göttern oder Geistern, Tieren und Pflanzen hatte der Mensch seinen Platz. Sich selbst zu erkennen hieß, seinen Platz – und seine Aufgabe – innerhalb dieser kosmischen Ordnung zu begreifen.
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Doch dann, im 18. Jahrhundert, ist auf einmal alles anders.
Es ist das Zeitalter der Aufklärung und Säkularisierung, der wissenschaftlichen und industriellen Revolution und tief greifender gesellschaftlicher Veränderungen wie der Französischen Revolution. Mit sich bringen diese Entwicklungen, was der Soziologe Max Weber als „Entzauberung der Welt“ beschrieben hat: die Erkenntnis, dass das Universum rational erklärbar ist, dass es keine verborgenen mythischen Mächte gibt. Das hat weitreichenden Folgen:
O-Ton 3 - Prof. Monika Betzler
Wir sind nicht notwendig Teil des Kosmos oder der Gesellschaft und sind nun in der Lage uns davon zu entfernen und uns nun dazu selbst reflexiv in ein Verhältnis zu bringen. Ja, das sieht man auch an solchen Dingen, wie dass so Begriffe wie Ehre plötzlich weniger eine Rolle spielen, und es gibt auch eine wunderbare Schrift von John Stuart Mill, das ist dann 19. Jahrhundert, über die Freiheit, der einen Lobgesang auf die Individualität singt.
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Die alte Idee von der kosmischen Ordnung, in der jeder Mensch einen festen Platz und feste Aufgaben hat, in der gut zu leben bedeutet, seinem gesellschaftlichen Stand und seinen Pflichten gerecht zu werden, ist passé.
In der Moderne ist der Mensch ein freies, vernunftbegabtes Individuum. Doch die geistige und gesellschaftliche Freiheit, die der Mensch sich erkämpft hat, bringt eine große Frage mit sich: Wie soll er diese Freiheit nutzen? Was ist in diesem entzauberten Universum ein gutes, ein sinnvolles Leben?
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Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau gilt als zentrale Figur bei der Schöpfung des modernen Authentizitätsbegriffs.
Denn die Antwort, die er auf die Frage nach dem richtigen Leben hat, ist folgende: Der Schlüssel liegt in uns selbst. Der Mensch, glaubt Rousseau, ist von Natur aus gut und moralisch. Die Gesellschaft ist es, die uns verdirbt, vom rechten Weg abbringt, unmoralisch und unglücklich macht. Den Zauber, der die Welt verlassen hat, finden wir wieder – und zwar in uns selbst. Rousseau schreibt:
ZITATOR Rousseau (public domain, http://gutenberg.spiegel.de/buch/emil-oder-ueber-die-erziehung-erster-band-3811/12)
Bevor die Vorurtheile und die menschlichen Einrichtungen unsere natürlichen Neigungen verderbt haben, besteht das Glück der Kinder eben so wie das der Erwachsenen in dem unbeschränkten Genusse der Freiheit; Wer thut, was er will, ist glücklich, sobald er sich selbst genug ist; das wird stets bei dem Menschen der Fall sein, welcher im Naturzustande lebt.
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Obwohl Rousseau den Begriff Authentizität selbst nicht verwendet: Indem er der für ihn „künstlichen“ Gesellschaft die Idee des „Edlen Wilden“, der in uns schlummert, gegenüberstellt, gibt er den Startschuss für die Suche nach dem Authentischen. Viele der großen Philosphen der Moderne werden sich an ihr beteiligen:
Hegel, Kierkegaard, Heidegger, Nietzsche, Sartre, Camus, Adorno, Fromm, Foucault, Taylor – ein echtes Who is Who der Philosophie.
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Doch sehen sie sich dabei mit einem grundliegenden Problem konfrontiert: Authentizität, wie die meisten Philosophen sie von nun an verstehen, ist nichts, das sich anhand objektiver Kriterien beschreiben ließe, sondern zutiefst subjektiv. „Zehn Dinge, die dich zum authentischen Menschen machen?“ – Fehlanzeige! Und so lässt Nietzsche seinen Entwurf eines authentischen „Übermenschen“ – den Einsiedler Zarathustra, der beschließt, seine Weisheit mit den Menschen zu teilen – auch keine allgemeingültigen Regeln für ein authentisches Leben aufstellen, sondern erklären:
ZITATOR Nietzsche (public domain, http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3248/66)
»Das – ist nun mein Weg, – wo ist der eure?« so antwortete ich Denen, welche mich »nach dem Wege« fragten. Den Weg nämlich – den giebt es nicht!
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Authentizität ist für viele Existenzphilosophen etwas, das jeder nur für sich selbst finden kann. Der dänische Philosoph Soren Kierkegaard identifiziert gerade die leidenschaftslose Rationalität als großes Übel der Moderne, und sieht Authentizität als Heilmittel und Gegenentwurf dazu. Authentizität bedeutet für ihn Pathos, also Leidenschaft, und Authentizität ist für ihn ein Projekt der Subjektivität und der Gefühle, nicht des Verstandes. Deshalb sollen authentische Helden oder Anti-Helden wie Nietzsches Zarathustra im Leser den Wunsch nach Authentizität wecken, Ironie soll das Inauthentische bloßstellen.
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Dabei sehen viele Philosophen Authentizität bald aber nicht bloß als etwas Statisches, sondern als fortwährendes Projekt: ständiges Ankämpfen gegen das Inauthentische, die ständige Neukreation des authentischen Ichs aus sich selbst heraus, ein ständiger Akt der Selbst-Schöpfung. Nietzsche schreibt:
ZITATOR Nietzsche (http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3245/7)
„Wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein!“
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Natürlich haben die Philosophen in vielen Punkten unterschiedliche Auffassungen zur Authentizität und zum besten Weg, diese zu erreichen. Von einem Verständnis von Authentizität als dem wahren Kern unseres Selbst, der nur freigelegt werden muss, ist etwa bei Nietzsche und Heidegger nicht mehr viel übrig.
Nietzsche betont das spielerische Ausprobieren und fordert vom Menschen, „das zu werden, was man ist“. Authentisch zu werden bedeutet bei ihm also auch, Verantwortung für seine Taten und Charakterzüge zu übernehmen – gute wie schlechte, Stärken wie Schwächen – und sie zu einem kohärenten Bild zu vereinen. In „Die fröhliche Wissenschaft“ verlangt Nietzsche:
ZITATOR Nietzsche (http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-frohliche-wissenschaft-3245/7)
Eins ist Noth. – Seinem Charakter "Stil geben" – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt.
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Für einen der bekanntesten Existenzphilosophen, Martin Heidegger, ist hingegen das Bewusstsein um die eigene Sterblichkeit zentral bei der Suche nach Authentizität. Denn sie ist es, die einem die Verantwortung für das eigene Leben vor Augen führt und aus den Ablenkungen des Alltäglichen in ein Leben führt, das wir uns zu eigen gemacht haben.
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Die Konfrontation mit dem unausweichlichen Tod als Augenblick der Wahrheit und Erkenntnis ist ein Mittel, das auch in Literatur und Film immer wieder gerne eingesetzt wird, um die Möglichkeiten von authentischem Leben auszuloten.
Etwa in Leo Tolstois Erzählung vom Sterben des Gerichtsangestellten Iwan Iljitsch. Erst als Iljitsch mit Mitte vierzig überraschend todkrank wird und auf dem Sterbebett liegt, wird ihm klar, dass er sein Leben falsch und unauthentisch gelebt hat. Alle Annehmlichkeiten seines Lebens und seine gesellschaftliche Stellung sind für ihn auf einmal wertlos geworden, mehr noch, das Spielen seiner gesellschaftlichen Rolle hat ihn zu einer leeren Hülle gemacht.
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Genau in diesem Punkt scheinen sich fast alle Verfechter der Authentizität einig zu sein: Authentisch leben heißt, gesellschaftliche Erwartungen, Rollenbilder und Ideologien kritisch zu hinterfragen und sich – falls nötig – von ihnen zu lösen.
O-Ton 4 - Prof. Monika Betzler, LMU München
Und da sind wir auch schon bei einem der ersten Probleme. Könnte der Wert der Authentizität in Konflikt geraten mit beispielsweise der Moral? Nämlich dann, wenn man sich ganz aufrichtig zu Werten bekennt, die aber unmoralisch sind!?
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In den USA zog mit Donald Trump Anfang 2017 ein Mann ins Weiße Haus ein, der auf einer Tonbandaufnahme damit prahlte, als Star könne er es sich erlauben, Frauen einfach zwischen die Beine zu fassen. Die Reaktionen auf das Öffentlichwerden dieser Aufnahme während des Wahlkampfs waren empört.
Auf seiner Kampagnenseite veröffentlichte Trump daraufhin ein Statement:
ZITATOR Statement D. Trump, Übersetzung Niklas Nau (https://web.archive.org/web/20161007210105/https://www.donaldjtrump.com/press-releases/statement-from-donald-j.-trump)
Das war ein Umkleidekabinengespräch, ein Privatgespräch von vor vielen Jahren. Bill Clinton hat beim Golfen schon deutlich Schlimmeres zu mir gesagt. Es tut mir leid, falls sich jemand davon angegriffen gefühlt hat.
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Bei vielen Wählern schien diese Argumentation anzukommen, denn auf lange Sicht konnte der Vorfall Trump nicht schaden. „Locker Room Talk“ – so, wie echte Männer nunmal in der Umkleidekabine über Frauen reden. Authentisch … unmoralisch.
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Das Ideal der Authentizität stellt die Gesellschaft vor ein Problem. Denn an Rousseaus „edlen Wilden“ – daran, dass der Mensch von Natur aus nur gut ist – glaubt heute fast niemand mehr. Verhaltensforschung und Psychologie haben uns klargemacht, dass der Mensch von sich aus zu Grausamkeit und Mordlust genauso fähig ist, wie zu Selbstlosigkeit und Güte. Wie soll die Gesellschaft also umgehen mit einem Ideal, das es Menschen möglich macht, mit dem Verweis auf die Authentizität auch unsere dunkelsten Impulse zu rechtfertigen?
Wie umgehen mit dem authentischen Rassisten, dem authentischen Betrüger, dem authentischen Gewalttäter?
O-Ton 5 - Prof. Monika Betzler, LMU München
Ich denke, der Begriff der Authentizität und auch der der Autonomie, die haben ein großes Potenzial, die haben einen Wert, aber, und das zeigt sich auch in vielen Kritikern, die sich gegen diese Begriffe richten, mit denen kann man es natürlich auch übertreiben. Ich glaube, dass es ein sehr hohes Gut ist, dass wir sogenannte positive Freiheiten haben. Also sozusagen Dinge verfolgen können, die uns selber am Herzen liegen. Wir leben in einer Welt, in der es viele Länder gibt, die das als keine Errungenschaft sehen. Und ich glaube, das sollten wir schützen. Die Frage ist nur: Wo sind die Grenzen dieses Werts? Also was keiner behauptet: Der liberal ist und jedem möglichst viel Raum zugestehen möchte, sein eigenes Leben zu leben, ist nicht darauf verpflichtet, es dieser Person zuzugestehen es so weit zu treiben, dass sie andere Menschen beschränkt in ihrer Art und Weise gutes Leben zu leben. Da findet sich eine Grenze dieser Autonomie, wenn man so will.
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Die Sozialpsychologin Stephanie Draschil hat für ihre Doktorarbeit Menschen zu deren Wahrnehmung von Authentizität befragt und dabei herausgefunden, dass sich viele durchaus bewusst sind, dass Authentizität bei anderen Menschen auch ihre Schattenseiten haben kann:
O-Ton 6 - Stephanie Draschil
Was rausgekommen ist, war, dass dieses Authentische, so wie wir es in unserer individualistischen Kultur definieren, eben dass wir auch unabhängig von anderen sind, dass wir zu eigener Meinung stehen, nicht von Meinung anderer beeinflussen lassen, was wir ja ganz toll finden, was aber in anderen Kulturen gar nicht unter Authentizität fällt, also in kollektivistischen Kulturen, dass das auch dazu führen kann, dass jemand als sehr egoistisch wahrgenommen wird.
(MUSIK als Überleitung)
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Die Psychologie leistet etwas, was manche philosophische Betrachtungen der Authentizität nicht tun - und auch gar nicht tun wollen.
Sie begründet rational, warum authentisch sein – zumindest so, wie es Menschen im Alltag verstehen – überhaupt wertvoll ist:
O-Ton 7 - Stephanie Draschil
Wir stellen einfach fest: Leute, die sich selbst als authentisch einschätzen, also authentisch heißt in dem Sinne sie stehen zu sich selbst, sie haben das Gefühl, sie stehen zu sich selbst, sie haben das Gefühl, sie sind sich in unterschiedlichen Situationen selbst gegenüber treu, sie sagen was sie denken, sie sind nicht abhängig von der Meinung anderer, sie lassen sich nicht von anderen beeinflussen, dann geben diese Menschen auch an, dass sie eine höhere Lebenszufriedenheit haben, dass sie in ihrer Partnerschaft glücklicher sind, dass sie weniger negative Gedanken haben, mehr positive Gedanken, weniger depressive Symptome ... also, es sind lauter positive Sachen.
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Authentizität ist ein Wert, den wir nicht aufgeben wollen. Einige Philosophen werben dafür, Authentizität nicht nur als persönliche, sondern auch als soziale Tugend zu sehen. Für sie stehen Authentizität und Gesellschaft nicht in erster Linie im Konflikt. Ganz im Gegenteil – die beiden brauchen einander. Denn auch falls es tief in uns ein „Ich“ gibt, das nicht sozial konstruiert ist: Um dieses Selbst herauszuschälen, brauchen wir unsere Umwelt – die Gesellschaft. Diese Denker betonen, dass wir erst dadurch, dass wir uns im Dialog mit anderen ständig positionieren müssen, ein „Ich“ herausarbeiten oder kreieren können.
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Paradoxerweise ist es der gesellschaftliche Druck, sich als einigermaßen beständige Personen mit stabiler Persönlichkeit und Meinung zu präsentieren, der das Authentische Ich, das nicht von blindem Herdentrieb bestimmt ist, erst möglich macht.
„Wir brauchen einander, um überhaupt jemand zu sein“, sagt der Philosoph Bernard Williams.
Gleichzeitig ist gerade die demokratische, freie Gesellschaft, die uns die Suche nach Authentizität überhaupt erst möglich macht, darauf angewiesen, dass Menschen versuchen, Ihre eigenen Werte zu erkennen und zu vertreten – gerade auch dann, wenn sie von der vorherrschenden Meinung abweichen. Ohne Dialog und Diskussion funktioniert Demokratie nicht.
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Und doch: Die Subjektivität von Werten, die das Ideal der Authentizität mit sich bringt, bedeutet: Der authentische Betrüger, der authentische Schläger werden für die Gesellschaft immer ein Problem bleiben:
O-Ton 8 - Stephanie Draschil
Ich denke, es ist wichtig, dass wir authentisch sind oder dass die Gesellschaft authentisch wird, aber dass eben Authentizität nicht als alleiniges Gut gesehen wird. Wir leben in einer Gesellschaft, und da ist eben auch diese soziale Verträglichkeit, dass wir gut miteinander auskommen auch wichtig. Also, es ist immer diese Frage, wie bringe ich denn meine Authentizität auch rüber!? Muss da wirklich der Choleriker sein, der sagt: ja ich bin halt so und ich kann nicht anders, oder ist da trotzdem irgendwie die Frage danach, wie sind wir eben im Umgang miteinander, gibt's da vielleicht eben dann doch diese gewissen Etiketten. Wo dann aber wieder die Frage ist, ist es dann noch authentisch, wenn man sich stark zurückhalten muss. Also ich denke das ist wirklich eine schwierige Frage und ein ganz großer Balanceakt.
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Nicht nur darüber, wie weit das authentische Selbst und die Gesellschaft kompatibel sein können, wird weiter diskutiert.
Die postmoderne Philosophie stellt heute infrage, ob es überhaupt so etwas wie ein zusammenhängendes Selbst gibt, das authentisch sein könnte. Und bekommt dabei Unterstützung von den Neurowissenschaften. Genau verstehen Hirnforscher zwar noch nicht, wie aus einer Fülle von Nervenimpulsen so etwas wie das Selbst entstehen kann. Klar scheint jedoch: Dieses Selbst, das uns so beständig und stabil vorkommt, ist nichts, was als eigenständiges Ding existiert, sondern ist eine von unserem Gehirn erzeugte andauernde Illusion.
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Und hier schließt sich der Kreis: Die Erkenntnis, dass das Selbst eine Illusion ist, wie vielleicht auch der freie Wille, dass das gesamte Universum als Kette von Reaktionen und Zusammenhängen erklärt werden kann, bedeutet nicht, dass wir uns keine Gedanken mehr über unser Leben machen müssen. Genau dies ist der Ausgangsimpuls, der überhaupt erst zum Ideal der Authentizität geführt hat, wie wir es heute kennen: Die Erkenntnis, dass es in einem rein rational erklärbaren Universum keine vorgegebenen Werte und keinen Sinn gibt, sondern dass der Mensch sich diese selbst schaffen muss.
O-Ton 9 - Prof. Monika Betzler, LMU München
Wie ich mich als Mensch, der sich heute und hier fragt, wie soll ich leben, verstehe, da finde ich nicht unbedingt Antworten bei der Neurowissenschaft. Wenn ich mich frage, wie fühlt sich Liebe an, und liebe ich diesen Mann, als Beispiel, hilft mir auch nicht die Neurowissenschaft, die vielleicht sagt: Liebe, das sind nur irgendwelche chemischen Prozesse im Hirn. Das ist sicherlich wahr, aber das ist nicht etwas, was uns in unserem normativen Verständnis, wer wir sein wollen, wie wir uns verstehen, hilft.
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Der Begriff Authentizität bleibt umkämpft und schwierig fassbar. Und doch wird unsere Suche nach Authentizität in absehbarer Zeit nicht aufhören. Denn obwohl wir die Welt und ihre Zusammenhänge immer besser verstehen und kontrollieren können: Einen Sinn geben müssen wir ihr und uns weiterhin selbst. Authentisch sein, das zumindest sagt uns die Philosophie eindeutig, ist dabei eine Lebensaufgabe. Und ob und wann wir wirklich authentisch sind, das können am Ende nur wir selbst entscheiden, oder, wie viele Philosophen es wohl ausdrücken würden: fühlen!
Lange galt Sparta als einzigartig, militaristisch, unbesiegbar. Doch heute glauben Historiker, dass es gar nicht so anders war als andere antike Städte. Wie spartanisch waren die Spartaner wirklich? Autorin: Imogen Rhia Herrad
Credits
Autorin dieser Folge: Imogen Rhia Herrad
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Andreas Neumann, Stefan Wilkening, Katja Amberger
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Andronike Makres (Archäologin am Hellenic Education and Research Center, Athen)
Literaturtipps:
Stephen Hodkinson, „Transforming Sparta. New approaches to the study of Spartan society“, in: „Ancient history. Resources for Teachers“ 41-44 (2015), S. 1-42.
Noreen Humble, „Sophrosyne Revisited: Was it ever a Spartan virtue?“, in: Stephen Hodkinson /Anton Powell (Hrsg.), “Sparta – Beyond the Mirage”, Swansea 2002, S. 85-109.
Claude Calame, „Pre-classical Sparta as song culture“, in: Anton Powell (Hrsg.), „A Companion to Sparta (2 Bde). Blackwell Companions to the Ancient World: Ancient History“, Hoboken 2018, S. 177-201.
Stephen Hodkinson, „Was classical Sparta a military society?“ in: Ders./Anton Powell, “Sparta and war”, London 2006, S. 133-141.
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ZITATOR (Übersetzung Herrad)
Als ich einst darüber nachdachte, dass Sparta trotz seiner geringen Bevölkerung die mächtigste und berühmteste Stadt in Griechenland war, verwunderte ich mich, wie das wohl gekommen sein mochte...
ERZÄHLERIN
So beginnt eine berühmte Abhandlung über die staatliche Ordnung der Spartaner. Ihr Autor war der Feldherr, Historiker und Philosoph Xenophon. Seine Verwunderung ist übrigens rein rhetorisch – in den folgenden fünfzehn Kapiteln seiner Schrift legt Xenophon genau dar, wie vortrefflich alle Einrichtungen in Sparta sind. Am Ende ist es ganz offensichtlich, dass diese vorbildhafte Stadt eine Führungsrolle in der griechischen Welt übernehmen muss.
ERZÄHLER
Xenophon selber stammt übrigens nicht aus Sparta. Er ist Athener und lebt im vierten vorchristlichen Jahrhundert, als seine Heimatstadt mit Sparta schon seit längerem verfeindet ist. Trotzdem gibt es in Athen viele Sparta-Fans, die sich manchmal sogar wie Spartaner kleiden und ausstaffieren. Sparta ist “in”. Allerdings nicht bei allen. Der Philosoph Aristoteles, eine Generation jünger als Xenophon, gehört nicht zu den Bewunderern. Die Übersetzung aus dem Altgriechischen stammt von Franz Schwarz und ist im Reclam-Verlag erschienen:
ZITATOR streng (Übersetzung Franz Schwarz, Reclam)
Die gesamte Einrichtung der spartanischen Gesetze läuft nur auf einen Teil der Tugend hinaus, nämlich auf die Kriegstüchtigkeit. Daher nun hielten sich die Spartaner nur, wenn sie Krieg führten; sie versagten aber, wenn sie herrschten. Denn sie hatten es nicht verstanden, Ruhe zu gewinnen und sie hatten keine anderen wichtigen Dinge geübt als eben die Kriegskunst.
ERZÄHLERIN
Man merkt schnell, dass hinter den positiven wie den negativen Bildern viele Klischees stecken. Sparta und Athen gelten als sprichwörtliche Gegensätze. Zwischen den beiden Gemeinwesen herrscht auch zu Friedenszeiten eine Art Kalter Krieg. Und wie im Kalten Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts geht es auch im alten Griechenland um einen ideologischen Gegensatz. Sparta ist für seine Demokratiefeindlichkeit bekannt. Hier herrscht nicht das Volk, sondern eine kleine Zahl reicher Aristokraten. Athen hingegen ist die Wiege der Demokratie. In einer Rede hat der athenische Staatsmann Perikles um 430, eine Generation vor Xenophon, verkündet:
ZITATOR (Übersetzung Herrad)
Unsere Verfassung gibt den vielen den Vorzug vor den wenigen, deswegen nennen wir sie Demokratie – Herrschaft des Volkes. Die Freiheit, die unserer politischen Verfassung zugrundeliegt, gewähren wir uns auch gegenseitig im Privaten. Wir wollen lieber leichten Herzens der Gefahr entgegentreten als nach mühevollem Training; lieber mit einem durch Gewohnheit gewonnenen Mut als mit einer Tapferkeit, die gesetzmäßig erzwungen ist – und stehen wir so dann nicht viel besser da?
ERZÄHLER
Das mühevolle Training und die strengen Gesetze sind natürlich eine Anspielung auf Sparta. Noch heute ist die strenge, militaristische Erziehung Spartas ebenso berühmt wie berüchtigt.
ERZÄHLERIN
Wie im modernen Kalten Krieg haben die beiden gegensätzlichen Staatsformen auch in der jeweils gegnerischen Stadt ihre Anhänger. Auch in Athen gibt es Aristokraten, die nur ungern die Macht mit dem Volk teilten. Sie schauen bewundernd und neidisch nach Sparta – so wie Xenophon und sein Zeitgenosse, der Philosoph Platon.
ERZÄHLER
In der Antike können sich nur reiche Aristokraten eine umfassende Bildung leisten. Nur sie haben die Zeit und das Geld, historische und philosophische Studien zu betreiben und Werke über Philosophie oder Geschichte zu schreiben. Auch daran liegt es, dass wir vor allem positive und bewundernde Beschreibungen Spartas haben. Daher ist beim Lesen der antiken Darstellungen immer Vorsicht geboten, sagt die griechische Archäologin Andronike Makres.
ZUSPIELUNG 1 (Andronike Makres)
A: We are very responsible, when we read the ancient sources...
OVERVOICE, WEIBLICH
Wir müssen beim Lesen der antiken Quellen immer aufpassen, dass wir da nicht unsere eigenen modernen Vorstellungen und Stereotypen hinein interpretieren.
E: ... clear our heads from whatever modern projections and stereotypes.
ATMO 1 (Straßenatmo Athen) aufblenden
ERZÄHLERIN
Andronike Makres sitzt in einem Straßencafé in Athen. Hier geht es nicht leise zu.
ZUSPIELUNG 2 (Andronike Makres)
A: Without, of course, going too far to the other extreme and deconstruct...
OVERVOICE, WEIBLICH
Dabei dürfen wir aber auch nicht ins andere Extrem verfallen und die Überlieferung vollständig dekonstruieren. Aber wir müssen sie immer wieder korrigieren und anpassen, und wir müssen unser Verständnis von ihr verbessern
E: ... understanding, rather than demolishing and revising one hundred per cent.
ATMO 1 (Straßenatmo Athen) wegblenden
ERZÄHLER
Es ist eine stete Gratwanderung. Auch professionelle Historiker können sich durchaus nicht auf ein einheitliches Spartabild einigen. Aber wie soll man da jemals wissen, wie es wirklich war? Zum Glück haben wir neben den antiken Werken auch noch andere Informationsquellen, berichtet Andronike Makres.
ZUSPIELUNG 3 (Andronike Makres)
A: The archaeology of ancient Sparta is extremely important because...
OVERVOICE, WEIBLICH
Die Archäologie des antiken Sparta ist von höchster Wichtigkeit. Der Geschichtsschreiber Thukydides zum Beispiel macht gleich am Anfang seines Geschichtswerkes eine bemerkenswerte archäologische Projektion...
E: ... he’s doing an amazing archaeological projection, Thucydides.
ERZÄHLERIN
Das Werk des Thukydides‘, den „Peloponnesischen Krieg“, hat Michael Weißenberger für den de Gruyter-Verlag übersetzt.
ZITATOR (Übersetzung Weißenberger)
Würde nämlich die Stadt der Lakedaimonier entvölkert und übrig gelassen nur die Heiligtümer und die Grundmauern der Bebauung, so würden, meine ich, nach dem Verstreichen von viel Zeit die Nachgeborenen angesichts dessen, was sie hörten, nie und nimmer glauben, dass Sparta so mächtig war –
dabei umfasst sein Territorium doch zwei Fünftel der Peloponnes und es ist Führungsmacht der gesamten Halbinsel sowie der vielen außerhalb lebenden Verbündeten.
ZUSPIELUNG 4 (Andronike Makres)
A: This is confirmed by the archaeology. The actual excavations have not...
OVERVOICE, WEIBLICH
Dies wird durch die Archäologie bestätigt. Bei Ausgrabungen haben wir keine großartigen Denkmäler oder Gebäude gefunden, die dem Ruhm der spartanischen Institutionen entsprechen. Wo sind die Häuser der Könige? Wo ist das große Ratsgebäude? Monumentale Bauten fehlen also – genau wie Thukydides das im fünften Jahrhundert schreibt.
E: ... Where is the building where the great gerousia would meet, and the ephors and all that.
ERZÄHLER
War Sparta also tatsächlich so spartanisch und so kriegerisch, wie Filme, Romane und Videospiele es darstellen? Dieses Bild hat seinen Ursprung in der Antike. Schon die Spartaner selber haben es fleißig verbreitet. Es ist schließlich nützlich, für unbesiegbar zu gelten.
ERZÄHLERIN
Schon im siebten oder sechsten vorchristlichen Jahrhundert haben die Spartaner in langwierigen Kriegen das Gebiet der benachbarten Messenier erobert und damit ihr eigenes Territorium verdoppelt. Die Messenier werden kollektiv versklavt und müssen nun als Leibeigene den Spartanern Dienst tun. Über so viel Land und so viele Arbeitskräfte verfügt sonst niemand in der griechischen Welt. Sparta ist groß, reich und mächtig. Aber interessanterweise gilt ihr Staat nicht als außergewöhnlich kriegerisch. Krieg führen in der antiken Welt alle großen und mächtigen Staaten.
ERZÄHLER
Der Wendepunkt ist eine verlorene Schlacht. Bei den Thermopylen, einem engen Gebirgspass in Mittelgriechenland, stehen im Spätsommer des Jahres 480 vor Christus dreihundert Spartaner einer persischen Übermacht gegenüber. Die Perser fordern das kleine Häuflein Griechen auf, sich zu ergeben und ihre Waffen abzuliefern. “Kommt und holt sie euch,” soll der spartanische König Leonidas erwidert haben.
ERZÄHLERIN
Genau das tun die Perser. Als der Kampf vorbei ist, liegen die Spartaner tot auf dem Schlachtfeld. Der heldenhafte Einsatz ist zwar militärisch bedeutungslos, doch in Sparta weiß man ihn weidlich auszuschlachten. Der Dichter Simonides erhält den Auftrag, einen mitreißenden Spruch für das Denkmal der Gefallenen zu verfassen.
ZITATOR (Übersetzung Schiller, Copyright verjährt)
Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.
ERZÄHLER
So übersetzte ergriffen Friedrich von Schiller. Der Opfertod der Dreihundert, die auch im Angesicht des sicheren Todes nicht zurückweichen, macht Sparta in der ganzen griechischen Welt berühmt. Noch dazu gewinnt im Folgejahr ein athenisch-spartanisches Heer die große Entscheidungsschlacht gegen die Perser.
ERZÄHLERIN
Die Spartaner haben gezeigt, dass sie nicht nur heldenhaft verlieren, sondern auch siegen können Noch einmal achzig Jahre später gewinnen sie auch den nächsten großen Krieg – gegen ihren ehemaligen Verbündeten, Athen. Fast dreißig Jahre hat der Peloponnesische Krieg gedauert, und an seinem Ende steht Sparta triumphierend da, ganz so wie Xenophon es beschrieben hat:
ZITATOR
die mächtigste und berühmteste Stadt in Griechenland.
ERZÄHLER
Warum dieser Ruhm auch heute noch anhält, erklärt die Archäologin Andronike Makres.
ZUSPIELUNG 5 (Andronike Makres)
A: Our modern society has departed from the idea of warfare, because we...
OVERVOICE, WEIBLICH
Wir leben heute im Frieden, deswegen ist der Krieg uns fremd. Aber die archetypischen Elemente des Krieges sind in unserem Gehirn und unserer Psyche verankert. Wenn wir dann einen Film sehen oder eine Geschichte lesen, in der Feinde einmarschieren und es darum geht, das eigene Haus und Land und im Grunde auch die eigenen Werte zu verteidigen – dann versteht man, warum die Schlacht bei den Thermopylen so berühmt und ikonisch ist: sie verkörpert den Sieg einer kleinen Schar über eine Übermacht. Das ist heroisch. Man versetzt sich in diese Situation, gerade weil sie nicht in unsere Realität gehört. Es ist ein Gedankenexperiment.
E. ... because it’s not part of our reality. It’s a mental experiment. (lacht)
ERZÄHLERIN
Auch für die Archäologin hat sich die militärische Niederlage längst in einen moralischen Sieg verwandelt.
Aber was ist nun mit all den berühmten und berüchtigten spartanischen Besonderheiten? Gab es sie oder gab es sie nicht, die strenge militärische Erziehung für Jungen und für Mädchen, die anspruchslose, sprichwörtlich spartanische Lebensweise, die Konformität, den staatlich verordneten Gehorsam?
ERZÄHLER
Fangen wir – ganz wie auch Xenophon in seiner Schrift über die spartanische Ordnung – mit der Erziehung an.
ZITATOR (Übersetzung Herrad)
In den anderen Griechenstädten hält man es für gut, dass die Mädchen still zuhause sitzen und sich mit Wollarbeit beschäftigen. Lykurg aber meinte, dass auch Sklavinnen geeignet wären, Stoff und Kleider herzustellen...
ERZÄHLERIN
Lykurg ist eine wahrscheinlich legendäre Figur. In der Antike gilt er als großer Gesetzgeber, dem Sparta seine staatliche Ordnung verdankt.
ZITATOR (Übersetzung Herrad)
Die wichtigste Aufgabe der freien Bürgerinnen aber wäre es, Kinder zu bekommen. Als erstes bestimmte Lykurg also, dass das weibliche Geschlecht nicht weniger als das männliche seinen Körper stärken sollte. Er richtete Wettrennen und Kräftemessen für Frauen und Männer ein, da er meinte, dass ein kräftiges Elternpaar auch kräftige Kinder bekommen würde.
ERZÄHLER
Was Xenophon hier berichtet, ist geradezu skandalös für antike Verhältnisse. Anständige Bürgerfrauen haben im Haus zu bleiben. In die Außenwelt gehen sie nur zu religiösen Anlässen – die sind allerdings gar nicht mal so selten; es ist also nicht so, dass Griechinnen immer nur im Hause sitzen. Alle außer den reichsten Bauersfrauen packen bei der Ernte mit an. Händlerinnen bieten auf dem Marktplatz ihre Ware feil. Sklavinnen gehen einkaufen.
ERZÄHLERIN
„Draußen“ ist in der Welt der antiken Stadtstaaten der politische, öffentliche Raum, in dem Bürger und Philosophen über Krieg und Politik debattieren. In dem haben Frauen nichts zu suchen. „Draußen“ ist auch der Sportplatz.
Auch der ist kein Ort für Frauen – jedenfalls in Athen. In Sparta schon. Das wissen wir nicht nur von Xenophon. Auch hier kommt uns die Archäologie zur Hilfe. In der Region um Sparta sind mehrere Statuetten gefunden worden, die durchtrainierte junge Frauen beim Wettlauf und beim Tanzen zeigen. Sie tragen eine ärmellose kurze Tunika, die ihre muskulösen Beine frei lässt. Auch das ist in der Antike ganz ungewöhnlich.
ERZÄHLER
Es ist allerdings fraglich, ob der Frauensport den Grund hatte, den Xenophon angibt – das Trainieren des Frauenkörpers für die Geburt gesunder Kinder. Öffentliche sportliche Wettkämpfe in der Antike haben oft einen religiösen Charakter: So zum Beispiel die Olympischen Spiele am Wohnort der griechischen Götter, die zu Ehren des Obergottes Zeus stattfinden.
ERZÄHLERIN
Sparta ist berühmt für seine Frömmigkeit. Hier werden viele Feste für die Götter gefeiert. Religiöse Feste in der Antike sind immer öffentliche Feiern. Es gibt Prozessionen, sportliche Wettkämpfe, Blumen, Musik, Wein, leckeres Essen. Man kann sich das ein bisschen wie ein kirchliches Fest heute in Griechenland oder Italien auf dem Land vorstellen.
ERZÄHLER
In der Komödie „Lysistrate“ verbünden sich athenische und spartanische Frauen, um ein Ende des Peloponnesischen Kriegs herbeizuführen. Ihr Autor, der Athener Aristophanes, spöttelt über die durchtrainierte Spartanerin Lampito – allerdings spöttelt Aristophanes über alles und jeden und nimmt davon auch seine athenischen Landsleute nicht aus. Am Ende des Stücks feiern Spartanerinnen und Spartaner, Athenerinnen und Athener die (fiktive) Versöhnung mit einem Tanz.
ZITATOR beschwingt (Übersetzung nach Johannes Minckwitz, Copyright abgelaufen)
Jubelt im Tanzschritt,
Auf, jubelt leichten Sprunges!
Mein Preislied feiert Sparta,
Welches den Chor für die Götter liebt,
und die stampfenden Tanzfüße.
Wo die Mädchen springen,
Fohlen gleich, staubwirbelnd am Fluss
behend, mit stürmenden Füßen
und fliegenden Haaren...
ERZÄHLERIN
Die Götter sind vom Spott der Komödiendichter ausgenommen, deswegen können wir diese Szene durchaus ernst nehmen. Und so ist es, als hätte sich ein Fenster aufgetan, durch das wir einen kurzen Blick auf das tatsächliche Sparta erhaschen können. Wir sehen die Stadt – nicht sehr groß, und schlicht, die Gebäude bescheiden. Am Eurotas-Fluss, der auch heute noch durch Sparta fließt, hat sich eine Volksmenge versammelt. Die Tempel sind mit Blumengirlanden geschmückt; viele Menschen tragen Blumenkränze. Ein Chor singt. Verkäufer bieten Naschwerk zum Verkauf. Und auf dem weiten Platz am Ufer wirbeln mit fliegenden Haaren die Mädchen im Tanz.
ERZÄHLER
Und was ist mit der Erziehung der Jungen? Xenophon berichtet:
ZITATOR (Übersetzung Herrad)
Wenn der Knabe vom Kind- ins Jugendalter kommt, schrieb Lykurg ihm vor, auch beim Gehen auf der Straße die Hände in seinem Mantel zu verbergen, Schweigen zu bewahren und nichts anzuschauen, sondern die Augen gesenkt zu halten.
Von einem Stein würde man eher einen Laut hören, eher von einer Bronzestatue einen Blick einfangen als von einem dieser Jünglinge; man würde sie für schamhafter halten als die Jungfrauen in ihren Kammern.
ERZÄHLERIN
Schamhafte und züchtige spartanische Jugendliche? Teenager, die brav zu Boden blicken und schamhaft die Hände im Ärmel verbergen? Irgendwie hat man sich die Ausbildung der männlichen Jugend in Sparta anders vorgestellt. Härter. Schweißtreibender. Kriegerischer.
ERZÄHLER
Natürlich gibt es das auch. Die Jugendlichen trainieren auf dem Sportplatz und üben sich darin, Strapazen und Schmerzen auszuhalten. In kleinen Gruppen oder alleine werden sie in die Wildnis geschickt, wo sie sich einen Winter lang behaupten müssen. Wer das erfolgreich meistert, wird unter die Männer aufgenommen. Gedrillt wie in Preußen wird hingegen nicht. Eher kann man das Ethos der antiken Krieger mit dem mittelalterlichen Ritterideal vergleichen. Man denkt sich den Krieg als die edelste und männlichste Beschäftigung, und zugleich als erste Bürgerpflicht.
ERZÄHLERIN
Und hier liegt wohl auch der Grund dafür, dass Xenophon die Zurückhaltung der spartanischen Jünglinge so herausstreicht. Selbstbeherrschung gilt als eine der wichtigsten und edelsten Tugenden. Nur wer sich selbst und seine Leidenschaften im Zaum halten kann, so lehren die Philosophen, ist auch in der Lage, über andere zu herrschen. Die Selbstbeherrschung gilt als schlechthin spartanische Tugend.
ERZÄHLER
Schließlich herrschen in Sparta Aristokraten. Das demokratische Athen hingegen ist bekannt – bisweilen sogar berüchtigt – dafür, dass das Volk seine Meinung immer wieder ändert; dass die Volksversammlung heute ein Todesurteil verhängt, nur um es am nächsten Tage reumütig zurückzunehmen. Wie viel besser ist es doch in Sparta, sagen aristokratische Denker wie Xenophon: dort verstehen sogar die Jugendlichen, ihre Leidenschaften zu zügeln.
ERZÄHLERIN
Gut anderthalb Jahrhunderte gibt Sparta in der griechischen Welt den Ton an: mal gemeinsam mit Athen, mal ganz alleine auf dem Siegertreppchen. Dann ist die Herrlichkeit vorbei. Das Undenkbare geschieht. Spartanische Kämpfer unterliegen in einer offenen Feldschlacht. Das ist noch nie passiert. Die Dreihundert bei den Thermopylen standen einer riesigen Übermacht gegenüber. Wenn seitdem Spartaner gegen andere Heere kämpften, ging das schlimmstenfalls unentschieden aus.
ERZÄHLER
Doch im Jahr 371 in der Schlacht bei Leuktra wird Sparta geschlagen. Es kommt noch schlimmer: das Heer der Thebaner marschiert in Lakonien – der Landschaft, deren Hauptstadt Sparta ist – ein. Feinde im Land, und Sparta ist machtlos. Theben diktiert den Frieden und zwingt die Spartaner, das eroberte Messenien aufzugeben und die versklavten Leibeigenen in die Freiheit zu entlassen.
ERZÄHLERIN
Meist wird an dieser Stelle in den Geschichtsbüchern der Schlussstrich gesetzt. Geschichte wird ab jetzt anderswo gemacht: in Makedonien, von wo demnächst Alexander der Große aufbricht, um die Welt zu erobern. In Rom, wo nicht lange darauf eine neue Weltmacht entsteht, die schließlich – im Jahr 195 vor Christus – auch Sparta ihrem Reich einverleiben wird. Aber Sparta besteht weiter fort. Und es hat immer noch Fans, wie die Archäologin Andronike Makres weiß.
ZUSPIELUNG 6 (Andronike Makres)
A: The Romans added a lot to the stereotype, by reinventing and projecting...
OVERVOICE, WEIBLICH
Die Römer haben das stereotypische Spartabild weiter ausgebaut, indem sie ihre eigenen Vorstellungen darauf projizierten. Wir machen es ja nicht anders: wir gestalten unser Bild von anderen Kulturen ja auch so, wie es am besten zu unseren Vorstellungen und Werten passt. Die Römer mochten beispielsweise die athenische Demokratie nicht, deswegen haben sie die spartanische politische Ordnung gelobt, und die spartanische Disziplin.
E: ... right, their political ideology and the idea of discipline. (reißt etwas ab)
ERZÄHLER
Im ersten Jahrhundert stellt der römische Autor Valerius Maximus eine Sammlung vorbildlicher und abschreckender Beispiele aus der römischen Geschichte zusammen. Er schreibt:
ZITATOR (Übersetzung Herrad)
Unseren Vorfahren war die Genügsamkeit die Mutter ihres Wohlergehens. Feindlich standen sie üppigen Gelagen gegenüber und fremd war ihnen der übermäßige Genuss von Wein ebenso wie von fleischlichen Lüsten. Die Stadt der Spartaner war dem Ernst unserer Vorfahren von allen am nächsten.
ZUSPIELUNG 7 (Andronike Makres)
A: The Spartans cooperated with the Romans in creating the mirage...
OVERVOICE, WEIBLICH
Die Spartaner haben bei der Entwicklung dieses Mythos durchaus mitgemacht, sie haben keinen Widerstand geleistet. Sparta war nur noch eine kleine Stadt, der Ruhm der alten Zeit das einzige, was noch geblieben war. Wir in Athen vermarkten heute die Akropolis; genauso haben es die Spartaner damals gemacht, um sich mit den Römern besser zu stellen.
Die Athener haben Jahrhunderte lang ihre heldenhaften Siege in den Perserkriegen ausgeschlachtet! Man nutzt halt, was man hat. (lacht)
E. ... centuries. So whatever you have to improve your position, you use it.
ERZÄHLERIN
Eines müssen wir aber noch erwähnen: den spartanischen Humor. So sprichwörtlich ist die Schlagfertigkeit der Spartaner, dass es dafür ein eigenes Wort gibt. Lakonien heißt die Landschaft, in der die Stadt liegt. „Lakonisch“ heißt bis heute eine kurze, treffende, oft ironische Bemerkung. Es gibt eine ganze Sammlung lakonischer Aussprüche. Sie zeigen, dass den Spartanern am Ende nicht nur der Ruhm geblieben ist – sondern auch der Stolz.
ZITATOR (Übersetzung Herrad)
Einst wurde ein besiegter Spartaner in die Sklaverei verkauft. Ein Marktbesucher fragte: „Bist du tüchtig, wenn ich dich kaufe?“ – „Ja,” sagte der Spartaner, “und auch, wenn du mich nicht kaufst.”
Ohne Neugier gibt es keine Entwicklung. Neugier beflügelt die Wissenschaft, Neugier auf das Zeitgeschehen macht den Menschen zum Subjekt der Geschichte. Von Brigitte Kohn (BR 2014)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Professor Andreas Speer; Köln
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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ZUM PODCAST
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ZUSPIELUNG OBAMA-REDE:
Our challenges may be new. The instruments with which we meet them may be new. But those values upon which our success depends - hard work and honesty, courage and fair play, tolerance and curiosity, loyalty and patriotism - these things are old. These things are true.
DARÜBER:
„Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, mögen neu sein. Unsere Mittel und Möglichkeiten, darauf zu reagieren, mögen neu sein. Aber die Werte, auf denen unser Erfolg beruht – harte Arbeit und Ehrenhaftigkeit, Mut und Fairness, Toleranz und Neugier, Treue und Vaterlandsliebe – diese Dinge sind alt. Diese Dinge sind wahr.“
ERZÄHLERIN:
In seiner ersten Rede als 44. Präsident der Vereinigten Staaten erwähnt Barack Obama ausdrücklich die Neugier als zentralen Motor der amerikanischen Erfolgsgeschichte. Und er verbindet sie mit bestimmten Wertvorstellungen. Neugier hat eine individuelle und kulturelle Dynamik. Der Mensch muss seiner Neugier eine Richtung geben – und die ist nicht vorgegeben, für die muss er sich entscheiden. Ausschalten lässt sich die Neugier nicht. Sie gehört zur menschlichen Natur, sagt Andreas Speer, Professor für Philosophie an der Universität Köln.
1 O-TON PROF. ANDREAS SPEER:
Ich denke, eines der wichtigsten Dinge ist, dass der Mensch, wie ja die Anthropologen sagen, ein ziemlich instinktentsichertes Lebewesen ist. Dass er nicht fest in einen Umweltzusammenhang eingebunden ist, sondern sich seine Welt selbst schaffen muss. Man muss explorieren, man muss sich orientieren, man muss die Eindrücke ordnen, und man muss gewissermaßen sein Leben selbst gestalten.
ERZÄHLERIN:
[Neugier findet man auch im Tierreich. Auch höher organisierte Tiere müssen ihre Umgebung untersuchen und erkunden, um zu lernen, wie sie beschaffen ist und wie man in ihr überlebt.]
Aber die Menschen sind nicht nur neugierig auf die sichtbare Welt. Sie fragen nach Gott, nach der Wahrheit, nach Gut und Böse, nach Werten, Normen und Moral. Sie müssen ihrer Neugier eine Richtung geben; ihrem Wissen Sinn und Bedeutung.
Menschen müssen ständig Neues aufnehmen und verarbeiten. [Ihr Gehirn entwickelt sich im Zusammenspiel mit der Umwelt, ohne Reize würde es verkümmern.] Sich zu entwickeln, ist eine Lust. Menschen sind von Natur aus neugierig auf die Welt, die sich ihnen zunächst durch die sinnliche Wahrnehmung erschließt.
ZITATOR:
„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Ein deutliches Zeichen dafür ist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen. Denn abgesehen vom Nutzen werden diese um ihrer selbst willen geliebt, und von allen besonders die Sinneswahrnehmung, die durch die Augen zustande kommt.“
ERZÄHLERIN:
… schreibt der Philosoph Aristoteles im antiken Griechenland. Augenlust spielt auch bei Kindern eine Rolle, aber die anderen Sinne auch. Schon Neugeborene betasten ihren Körper, besonders Gesicht und Mund, bald schon verfolgen sie Gegenstände mit den Augen. Babys und Kleinkinder ergreifen Objekte und nehmen sie in den Mund, sie beginnen die Dinge zu zerlegen und mit ihnen zu experimentieren, sie spielen und sind kreativ. Neugierig probieren sie Grenzen aus und stoßen auf Verbote, missachten sie, werden zurechtgewiesen, versuchen es bei nächster Gelegenheit wieder. Alles, was verboten ist, scheint die Neugier ganz besonders zu reizen. Das ist ein so zentrales Merkmal der menschlichen Natur, dass sich sogar der Schöpfungsmythos der Bibel damit befasst.
Gott hat Adam und Eva bekanntlich verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen – aber ohne Erfolg.
ZITATOR:
„Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben; sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.
Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre, weil er klug machte; und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch, und er aß.“
[2 O-TON PROFESSOR SPEER:
Sein wollen wie Gott, das heißt: die Versuchung, der wir ja auch heute unterliegen, alles wissen zu wollen und auch die Normen von Gut und Böse setzen zu wollen. Zu wissen, was gut und was böse ist. Dann die Frage, woher kommt das Böse in die Welt. Die Frage, woher das Böse in die Welt kommt, können Sie, denke ich, argumentativ, logisch-deduktiv nicht beantworten. Alle Kulturen haben solche Woher-kommt das Böse-Geschichten.]
ERZÄHLERIN:
Ein Mythos erklärt nicht, er erzählt. Die Schlange, das Prinzip der Verführung, ist einfach da, keiner weiß warum. Und Eva sollte ihre Neugier wohl zügeln, es gelingt ihr aber nicht. Der Mensch kann seiner Neugier nicht entgehen. Und deswegen sind die Pforten des Paradieses jetzt verschlossen. Stattdessen gibt es Menschengeschlecht und Menschengeschichte, Sexualität und Tod und all die Rätsel und Risiken der Existenz, die sich aus diesen Grunderfahrungen speisen. Es gibt die menschliche Kultur, die diese Rätsel zu entschlüsseln oder in Bildern und in Mythen zu verhandeln sucht. Und die selbst, wie Gott im Paradies, Verbote und Tabus errichtet. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen.
Die Neigung zum Tabu wurzelt tief in der menschlichen Natur, sagen die Anthropologen.
3 O-TON PROFESSOR SPEER:
Tabus liegen tiefer, als das was wir regeln, und sie sind elementar für den Zusammenhalt von Gesellschaften. Sie sind sozusagen das Set von Werten und normativen Regelungen, das nicht in Frage gestellt wird in einer Gesellschaft, das gewissermaßen eine Grenze definiert, die wir nicht überschreiten, ohne den Zusammenhang dieser Gemeinschaft und dieser Gesellschaft in Frage zu stellen.
ERZÄHLERIN:
Gesellschaften geben sich Spielregeln. Wer sich an sie hält, ist Teil der Gemeinschaft und lebt komfortabler. Trotzdem strebt die menschliche Neugier immer wieder darüber hinaus. Richtet sich auf das Dunkle, das Grausame, die Ausschweifung, den Überfluss. Die Neugier hält uns in Kontakt zu dem, was wir aus unserer gepflegten Normalität verdrängen. Im Märchen von Blaubart, entstanden im 17. Jahrhundert, gibt es eine verbotene Kammer, hinter der das geballte Grauen lauert.
ZITATOR:
„Die Versuchung war zu groß, sie konnte nicht widerstehen – und schon hielt sie das kleine Schlüsselchen in der Hand, und schon hatte sie, obwohl zitternd, die Türe geöffnet.
Zuerst sah sie nichts, gar nichts, weil die Fenster geschlossen waren; nach einigen Minuten sah sie, dass der Boden mit geronnenem Blut bedeckt war, und dass sich darin mehrere an die Wand gehängte tote Frauen spiegelten. Es waren die Frauen, die Blaubart früher geheiratet und die er alle, eine nach der andern, abgeschlachtet hatte.“
ERZÄHLERIN:
Blaubart ist ein gewaltiger Ritter und unermesslich reich. Er hat einen blauen Bart, und alle fürchten sich vor ihn. Seine Frau hat ihn geheiratet, weil sie neugierig ist auf ein Leben im Luxus, weil ihr ein Durchschnittsleben nicht genügt. Und vielleicht ist sie auch fasziniert von Blaubarts dunkler Erotik. Ihr Mann gibt ihr den Schlüssel zu einer geheimen Kammer und verbietet ihr bei Todesstrafe, sie zu öffnen. Sie tut es natürlich trotzdem und entdeckt sein Geheimnis: Blaubart lebt nicht, um zu lieben, sondern um zu töten. Er will jetzt auch seine letzte Frau umbringen, aber ihre Brüder eilen herbei, um Blaubart zu töten und die Schwester zu retten. Und dann wird das Leben besser als je zuvor.
ZITATOR:
„Blaubart hatte keine Anverwandten, und so fiel die ganze Erbschaft seiner Frau zu. Einen Teil ihres ungeheuren Vermögens [gab sie ihrer Schwester Anna und verheiratete sie mit einem trefflichen jungen Mann, der sie seit langem liebte. Einen anderen Teil] überließ sie ihren Brüdern, die als Soldaten das sehr wohl brauchen konnten, und den Rest brachte sie einem soliden Manne zu, an dessen Seite sie im Glücke die schweren Stunden ihrer kurzen Ehe mit Blaubart vergaß.“
ERZÄHLERIN:
Neugier kann sich lohnen. Der Ausflug der Frau in das Reich des Bösen hat zur Folge, dass eine tödliche Gefahr beseitigt wird und neuer Reichtum auf die Gemeinschaft niederregnet. Neugier überschreitet, erfrischt, bereichert die Normalität, doch es ist immer ein Risiko dabei. In den Bereichen jenseits des Normalen ist es sehr gefährlich. Hätte die Frau ihre Brüder nicht gehabt, wäre sie gestorben. Echte Bindung zwischen Menschen bannt das Böse. Normalität bannt das Böse. Die Gesellschaft hat guten Grund, sie zu verteidigen. Und trotzdem muss sie Neues zulassen, wenn sie nicht erstarren will. Trotzdem darf sie die Neugier nicht ersticken, muss sie die Risiken eingehen, die mit ihr einhergehen.
4 O-TON PROFESSOR SPEER
Bei allen Innovationsschüben, die Gesellschaften zu verkraften haben, die wurden auch als Infragestellungen von Bestehenden, von Geregeltem, von Konventionen angesehen. Das gilt übrigens für uns persönlich auch. Das ist eine ganz einfache Geschichte. Wenn ich irgendwo neu hinkomme: Manche Leute lieben das, und deswegen suchen sie ständig Neuigkeiten. Andere wiederum fürchten das Auflösen von Routinen. Das ist also ein Wechselspiel.
ERZÄHLERIN:
Riskant ist nicht nur die Neugier auf die dunklen Seiten der Existenz, riskant ist auch die Eroberung neuer Wissensgebiete. Auch der Wissensdurst hat etwas Ausschweifendes, und jede Gesellschaft hat Institutionen, die die Produktion und die Vermittlung des Wissens regeln und kanalisieren. Die Frage nach den Grenzen des Wissens stellt sich immer wieder. Neues Wissen stellt die Identität des Einzelnen ebenso in Frage wie die Identität der Gesellschaft.
Doch die Dynamik der Neugier hält sich nicht an Grenzen. Sie ist ein Begehren, das tief im Menschen wurzelt, zum Kern des Lebensvollzugs gehört. Ohne Neues kann der Mensch nicht leben.
5 O-TON SPEER:
Denkverbote haben nie sehr erfolgreich gewirkt, der Mensch bricht immer zu den Ufern auf, zu denen er aufbrechen möchte. Die Fragen, die einmal gestellt sind, lassen sich nicht wieder rückholen. Man muss im Nachhinein dann darüber nachdenken, wie man mit den Konsequenzen solcher Entdeckungen umgeht.
ERZÄHLERIN:
Oder vorher. Denkbar wäre auch, vorher zu fragen, ob der angestrebte Zuwachs an Wissen zu einem sinnvollen Ziel führt. Der Wissensdrang kann gute oder böse Ziele haben, und er kann auch Konsequenzen zeitigen, mit denen niemand gerechnet hat.
Der Kirchenvater Thomas von Aquin schreibt im 13. Jahrhundert ...
ZITATOR:
„ … dass die Erkenntnis der Wahrheit an sich etwas Gutes ist. Dennoch wird dadurch nicht ausgeschlossen, dass jemand die Erkenntnis der Wahrheit zum Bösen missbrauchen oder auch in ungeordneter Weise Wahrheitserkenntnis suchen kann. Es muss nämlich auch das Streben nach dem Guten der verbindlichen Ordnung unterworfen sein.“
ERZÄHLERIN:
Wie die verbindliche Ordnung aussehen soll, das ist in einer säkularen Gesellschaft schwieriger zu verhandeln als als im Mittelalter. Thomas von Aquin lebt und lehrt unter dem Dach der Kirche, die die Leitlinien vorgibt – aber das heißt nicht, dass deswegen alles klar wäre. Auch das Mittelalter hat seit dem 12. Jahrhundert einen ungeheuren Zuwachs an Wissen zu bewältigen, und neu gegründete Universitäten machen den Klöstern als altehrwürdigen Produktionsstätten des Wissens Konkurrenz. Nicht umsonst entwickelt Thomas von Aquin eine Theologie, die Wissenschaft und Vernunft integriert. Die vielfältigen geistigen, religiösen und politischen Konflikte des ausgehenden Mittelalters spiegeln sich in Umberto Ecos Weltbestseller „Der Name der Rose“. Im Mittelpunkt steht eine italiensche Abtei, die sich heftig bemüht, den modernen Wissensdrang ihrer Zeit an sich abprallen zu lassen:
ZITATOR:
„Denn nicht alle Wahrheiten sind für alle Ohren bestimmt, nicht alle Lügen sind sofort als solche erkennbar für eine fromme Seele, und schließlich sollen die Mönche im Skriptorium eine genau definierte Arbeit tun, wozu sie bestimmte Bücher lesen müssen –
die anderen gehen sie nichts an, und sie sollen nicht jedem Anflug von Neugier nachgeben, der sie plötzlich packen mag, sei es aus Schwäche des Geistes oder aus Hochmut oder aufgrund einer teuflischen Einflüsterung.“
ERZÄHLERIN:
Die Abtei verfügt über eine Bibliothek mit unermesslichen Schätzen. Und der Zugang zu ihnen ist nur wenigen Eingeweihten gestattet. Das Verbot steigert die Begehrlichkeit der Mönche ins Unermessliche. Die Bibliothek scheint ihnen als „himmlisches Jerusalem und verborgenes Reich an der Grenze zwischen Terra incognita und heidnischer Unterwelt“; und sie riskieren ihr Leben, um dieses Reich zu betreten.
ZITATOR:
„Warum sollten sie nicht den Tod riskieren, um ein Verlangen ihres wissbegierigen Geistes zu stillen, warum nicht schließlich auch töten, um zu verhindern, dass jemand sich eines ihrer kostbaren Geheimnisse bemächtigte?“
ERZÄHLERIN:
Tödliche Konsequenzen hat vor allem das Lesen eines bestimmten Buches. Es stammt von Aristoteles, und da steht etwas drin über das Lachen Gottes. Ein lachender Gott? Unvorstellbar für einen Christenmenschen. Worüber lacht Gott, dieser Gott der Heiden? Wer es wissen will, büßt seine Neugier mit dem Leben. Denn der Wächter der Bibliothek hat die Seiten des Buches vergiftet. Aristoteles, der antike Philosoph mit seiner ausgeprägten Neugier auf die Erfahrungswelt, auf Kunst und Wissenschaft, soll unter Verschluss bleiben und sein lachender Gott erst recht. Dabei wird Aristoteles seit dem hohen Mittelalter intensiv übersetzt und gelesen, und seine Philosophie prägt auch die neuen Universitäten. Nur, die Abtei hängt an der alten Welt. An einer Welt, die den Glauben höher schätzt als weltliches Wissen.
6 O-TON SPEER:
Der Aristoteles war die Begegnung der damaligen Kultur mit einer paganen antiken Philosophie. Der Platonismus war ja über jahrhundertelang christianisiert worden. Und das war eine gigantische Herausforderung. Und da gab es auch Spannungen, da gab es auch Diskussionen, so wie es immer Diskussionen gibt, wenn etwas Neues kommt.
ERZÄHLERIN:
William von Baskerville, der ins Kloster kommt, um die Morde aufzuklären, ist ein Kind der neuen Zeit: wissbegierig und aufgeschlossen für die Wissenschaft, ein Aristoteliker par excellence. Umberto Eco zeichnet ein realistisches, vielfältiges Mittelalterbild, findet Professor Speer. Das Bild einer bewegten Epoche.
7 O-TON PROF. ANDREAS SPEER:
Es ist eine ungeheuer dynamische Zeit, in der eben all das passiert, was wir als die Wurzeln der Moderne begreifen. Die Gründung der Universitäten, die Entdeckung der Wissenschaft. Das ist alles das sogenannte Mittelalter. [Das Mittelalter ist interkulturell. Eine Zeit, in der Kulturen auf Augenhöhe miteinander kommunizieren und nicht hegemonial aus der Perspektive der westlich-lateinischen Welt erzählt wird, wie Wissenschaft oder Wissen geht. Das muss man erst mal deutlich sagen.] Insofern ist das eine der übelsten Narrationen, die bis in unsere Alltagssprache hinein greift, wo man alles, was man für rückständig oder gewalttätig bezeichnet, als mittelalterlich bezeichnet.
ERZÄHLERIN:
Doch zu Beginn der Neuzeit verliert die Kirche immer mehr die Fähigkeit, Meinungsvielfalt zu integrieren. Reformation und Glaubenskriege zerstören die ursprüngliche Einheit. Die Erfindung des Buchdrucks macht das Wissen zugänglicher, immer mehr Menschen reden mit und reden kontrovers. Die Kirche verteidigt ihre Machtposition mit den Mitteln der Inquisition – vergeblich.
8 O-TON PROFESSOR SPEER:
Die Summe des Wissens wird quantitativ immer größer. Allein schon die Quantität des Wissens, die Ausdifferenzierung des Wissens führt dazu, dass nicht mehr alles von einer Institution verwaltet und gedeutet werden kann. Und dass sich die Gesellschaften ausdifferenzieren.
ERZÄHLERIN:
Die Bereitschaft, Grenzen des Wissens zu akzeptieren, sinkt. [Goethe lässt seinen Magister Faust, eine Figur des 16. Jahrhunderts, einen Bund mit dem Teufel eingehen, um endlich alles, alles wissen zu können.
ZITATOR MEPHISTOLES:
Er ist sich seiner Torheit halb bewusst;
Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne
und von der Erde jede höchste Lust,
Und alle Näh und alle Ferne
Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.“
ERZÄHLERIN:
Faust wird am Ende erlöst, aber bis es so weit ist, geht er durch Abgründe. Die Gier nach Wissen kann teuflische Folgen haben.] Der Philosoph und Essayist Michel de Montaigne erhebt im 16. Jahrhundert, am Ende der Renaissance, seine warnende Stimme:
ZITATORL
„Gleichwie bei allem Essen öfters weiter nichts, als die Lust ist, und gleichwie nicht alles wohlschmeckende auch nahrhaft und gesund ist: eben so ist das, was unser Gemüth aus der Wissenschaft zieht, zwar allezeit sehr angenehm, aber nicht allezeit zur Nahrung bequem und heilsam.“
ERZÄHLERIN:
Der Siegeszug der empirischen Wissenschaft im 17. Jahrhundert ist aber nicht aufzuhalten. Sie setzt auf neue Methoden: Beobachtung und Experiment. [Menschen fragen nach sich selbst nicht mehr hauptsächlich im Verhältnis zu Gott, sondern im Verhältnis zur Natur. Das Prinzip Zweifel ist stärker als der Glaube. Tiere werden massenhaft auf der Sezierbank fixiert und aufgeschnitten, damit man sieht, wie das Leben funktioniert.] Im 18. und 19. Jahrhundert dynamisiert sich im Zuge der Industrialisierung der Siegeszug von Naturwissenschaft und Technik. Man setzt auf das Machbare und hofft darauf, dass es der Menschheit schon zum Wohl gereichen wird.
Die Dichter warnen, [und sie erzählen Geschichten, die eine bemerkenswerte Lebendigkeit entwickeln – weil ihre Botschaft nicht veraltet. Mary Shelleys Frankenstein will den Tod überwinden und erweckt in seinen wissenschaftlichen Experimenten ein Monster zum Leben.] In Dr. Jekyll und Mr. Hyde, einer Novelle von Robert Louis Stevenson, erfindet Dr. Jekyll im Labor ein Pulver, das es ihm ermöglicht, sich in zwei Teile zu spalten: in einen guten und in einen bösen. Das abgespaltene Böse bekommt schnell die Oberhand. Sein schlechtes Gewissen treibt Dr. Jekyll in den Selbstmord ..
ZITATOR:
„… weil ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass das Schicksal und die Bürde des Lebens für immer auf den Schultern des Menschen lasten; wenn der Versuch gemacht wird, sie abzuschütteln, dann kehren sie nur mit neuem fürchterlichen Druck zu ihm zurück.“
ERZÄHLERIN:
Menschen haben in der Geschichte immer nur eine begrenzte Fähigkeit an den Tag gelegt, mit den Ergebnissen ihres Wissensdrangs umzugehen. Die Frage nach den Grenzen des Wissens ist also nicht überflüssig geworden.
Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zeugen davon, dass der säkulare Wissensdrang auch in den Abgrund führen kann. Die moderne Wissenschaft mit ihrer Hochschätzung von Objektivität und Unpersönlichkeit hat Massenvernichtungssysteme nicht nur nicht verhindert, sondern sogar ermöglicht. Der Atomphysiker Robert Oppenheimer, der die ersten Nuklearwaffen entwickelte, tat dies im Kampf gegen die Hitler-Barbarei, also in guter Absicht. Dennoch sagt er, erschüttert vom Massensterben in Hiroshima und Nagasaki, in einer Rede nach dem Krieg:
ZITATOR:
„In einem elementaren Sinn … haben die Physiker die Sünde kennengelernt, und dies ist eine Erkenntnis, die sie nicht verlieren können.“
ERZÄHLERIN:
Heute sind es vor allem die Risiken der Genforschung, die die Gesellschaft beschäftigen. Sollte man von diesem Baum der Erkenntnis wirklich essen? Wissen wir genug über die langfristigen Auswirkungen manipulierter Gene und ihre Wechselwirkungen mit Umwelt, Verhalten und Evolution? Noch besteht eine gewisse Scheu vor so tiefgreifenden Eingriffen in die menschliche Natur, und der Gesetzgeber setzt Grenzen.
9 O-TON PROF. SPEER:
Diese Grenzen sind in jeder Gesellschaft anders, wie wir wissen. Deutschland hat eine der schärfsten Grenzen. Andere Länder haben dort weitere Grenzen. Das sind Fragen, die von den übergeordneten gesellschaftlichen Instanzen geregelt werden.
ERZÄHLERIN:
Ist die Wissenschaft selbstkritischer geworden? Oder drückt die Abhängigkeit von Fördermitteln aus der Wirtschaft inzwischen viel zu viel Forschergeist in Richtung Verwertbarkeit und Profit? Lassen die Bildungssysteme genügend Spielraum für neugieriges Fragen und Suchen, das sich nicht nur auf einen sicheren Arbeitsplatz richtet? Was das betrifft, sieht Professor Speer die Talsohle bereits durchschritten.
10 O-TON SPEER:
Wenn ich mir die letzten Jahre anschaue, neige ich eher zum Optimismus. Wir hatten ja um die Jahrtausendwende eine sehr starke Tendenz, sozusagen der Operationalisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Inklusive der Bildung. Aber davon schwimmen wir uns langsam wieder etwas frei. Das heißt, an den Universitäten gab es und gibt es einen schleichenden Widerstand dagegen, sich nur durch diese Brille betrachten zu lassen. [Die Studiengebühren, ganz klar ausgedacht weniger zur Finanzierung als zur Implementierung eines Modells von Servicenehmern und Servicegebern, die sind abgeschafft, die sind auch aus ideologischen Gründen abgeschafft, das finde ich ganz wunderbar.] Und es gibt, denke ich, genügend Freiräume an den Universitäten und im kulturellen Leben, wo sich Menschen nicht auf ein Kosten-Nutzen-Denken festlegen lassen.
ERZÄHLERIN:
Es reicht nicht zu funktionieren. Menschen brauchen Zeit, um Wissen zu ordnen, zu interpretieren, Wertvorstellungen zu entwickeln, sich geistiger Traditionen zu vergewissern und eigene Zukunftshoffnungen in Mitsprache und politisches Handeln umzusetzen. Kurz: um ihrer Neugier eine menschliche Richtung zu geben.
Fridtjof Nansen - ein Name, der unauslöschlich mit der Geschichte und den Heldentaten der Polarforschung verbunden ist. Dabei wird das dem rastlosen Leben des Norwegers nicht einmal ansatzweise gerecht. Autor: Sebastian Kirschner
Credits
Autor dieser Folge: Sebastian Kirschner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Rahel Comtesse, Réne Dumont, Carsten Fabian, Christian Schuler
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Carl Emil Vogt (Norwegischer Historiker);
Geir Klover (Direktor des Fram Museums, Oslo)
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Literaturtipps:
Fridtjof Nansen, Auf Schneeschuhen durch Grönland 1888-1889 (© Edition Erdmann 2016).
Fridtjof Nansen, In Nacht und Eis. Die norwegische Polarexpedition 1893-1896 (© Edition Erdmann 2018)
Marit Fosse & John Fox, Nansen. Explorer and Humanitarian (© Hamilton Books 2015).
Liv Nansen-Hoyer, Mein Vater Fridtjof Nansen. Forscher und Menschenfreund (© Verlag F.A. Brockhaus 1957).
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SPRECHER/IN
Als Fridtjof Nansen 1887 seine Pläne vorstellt, halten seine Kollegen ihn für verrückt. Die Idee des Norwegers klingt aberwitzig: Im Sommer des nächsten Jahres will er das eisige Grönland durchqueren. Niemand hat bisher diesen Weg geschafft. Keiner weiß, was die Insel im Inneren birgt – einer der letzten weißen Flecken der Landkarte. Ein solches Risiko, nur um zu beweisen, dass Grönland
mit Eis bedeckt ist?
ZITATOR 2
Sollte Nansens Plan in der gegenwärtigen Form in die Tat umgesetzt werden, […] stehen die Chancen zehn zu eins, dass er […] sein Leben und möglicherweise das anderer völlig sinnlos wegwirft.
SPRECHER/IN
urteilt damals die dänische Zeitschrift „Ny Jord“ über die Idee des Wissenschaftlers. Und das nicht ohne Grund, sagt Geir Klover [sprich Gaïr Klöwer]. Er ist Direktor des Nansen-Museums schlechthin: dem Fram Museum in Oslo, benannt nach dem späteren Forschungsschiff Nansens.
01_ZUSPIEL Geir Klover
There's quite a few that have attempted to cross Greenland before Nansen. And all of them had tried from the inhabitant West Coasts. And probably Greenland was steeper and colder and more difficult than they thought.
So there it was quite easy for them to turn back. So Nansen thought his idea to cross Greenland was to go to the east coast to Greenland where there was no population and his ship left. And the only way to survive is to cross over to the west side.
01_ Voice-Over
Etliche hatten vor Nansen versucht, Grönland zu durchqueren. Sie alle waren von der bewohnten Westküste aus gestartet. Wahrscheinlich aber war Grönland steiler, kälter und unwirtlicher als erwartet. Mit den Siedlungen im Rücken konnten sie aber recht einfach umkehren. Nansens hatte die Idee, von der Ostküste Grönlands aus zu starten, wo es keine Bevölkerung gibt. Und der einzige Weg zu überleben ist der durchs Landesinnere zur Westseite.
SPRECHER/IN
Fridtjof Nansen ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Der junge Mann fällt auf, wenn er durch die Straßen geht. Er trägt sogenannte Dr. Jäger-Gesundheitswäsche: eine Art frühe Funktionskleidung, schlicht, leicht, bestehend aus festen Wollhosen mit einer kurzen Jacke, zugeknöpft auf der rechten Körperhälfte. Und: Anders als die meisten Männer der Zeit ist er nahezu glatt rasiert und ohne Kopfbedeckung unterwegs.
((ZITATORIN (Liv Nansen-Hoyer)
Sein Unabhängigkeitsdrang suchte sich mancherlei Ausdruck. Er wollte nicht „modisch gekleidet“ herumlaufen. In langen, allzu weiten Jacken zu gehen, mit hohen Kragen und Riesenkrawatten, von den langen Mänteln ganz zu schweigen, die einem um die Beine schlenkerten und eine gute Figur völlig verdeckten, das alles schien ihm zu viel verlangt.
SPRECHER/IN
schreibt Nansens Tochter Liv später in Erinnerungen an ihren Vater. Nach einem Zoologiestudium an der Universität von Kristiania, dem späteren Oslo, arbeitet Nansen in Bergen als Kurator am Naturhistorischen Museum. Es ist der erste bezahlte Job nach einem Studium, das er vor allem aus einem Grund gewählt hat: um ein Leben in der freien Natur führen zu können. Nansen ist ein eigensinniger Herumtreiber.)) Noch als Student der Zoologie heuert er für ein fünfmonatiges Praktikum auf einem Robbenfänger an, um seine Abenteuerlust gegenüber den Eltern zu legitimieren – und findet so seine Bestimmung:
ZITATOR 1
Das Eismeer ist etwas für sich, nichts anderem vergleichbar und vor allem nicht dem, was man sich gern darunter vorstellt. Flaches, treibendes Eis in wogenden Schollen, bald grünlichblaue See, dann Nebel und Sonnenschein, Sturm und Stille. Das ist es, was ich fand.
SPRECHER/IN
schreibt Nansen damals in sein Tagebuch. Als ihn der Drang zur Polarforschung packt, ist Nansen gerade dabei, sich erste wissenschaftliche Lorbeeren zu verdienen. Mit einer Doktorarbeit über das Zentralnervensystem wirbelloser Meerestiere wird er sich einen Namen machen – als Pionier in der noch jungen Disziplin der Neurologie. Es ist die Zeit der Theorien Einsteins, der Erfindung des Automobils – und die Zeit, in der die letzten unbekannten Flecken der Welt erschlossen werden... Nansens Abschlussprüfung für seine Dissertation liegt erst vier Tage zurück, als er am 2. Mai 1888 nach Grönland aufbricht. Und er konnte nur vermuten, was ihn und seine Mannschaft in den kommenden Monaten erwartet, sagt Geir Klover:
02_ZUSPIEL Geir Klover
They were not prepared for an extreme physical exhaustion of it. So they didn't have dogs for instance to help them pull the sledges and so on. So quite early in the expedition they starved, were hungry all the time. There was no previous experience really in Norway for doing that type of expedition. So you had to use common sense. They barely made it you know almost starving.
02_ Voice-Over
Sie waren nicht vorbereitet auf eine derart extreme Anstrengung. Sie hatten zum Beispiel keine Hunde, die ihnen die Schlitten zogen. Deshalb litten sie schon bald Hunger. In Norwegen gab es bis dahin keine wirklichen Erfahrungen mit derartigen Expeditionen. Man war auf gesunden Menschenverstand angewiesen. Beinahe verhungert haben sie es gerade so geschafft.
SPRECHER/IN
Dabei hat Nansen sich intensiv vorbereitet. In Expeditionsberichten hatte Nansen von den Strapazen seiner Vorgänger gelesen, Bilder gesehen, auf denen sich feine Herren mit Melonen auf dem Kopf und Gamaschen an den Füßen durch den Tiefschnee mühen. Der junge Forscher will planvoller vorgehen. Seine Mannschaft ist klein, aber wohl ausgesucht: ein Spezialistenteam von nur fünf Mann. Ein jeder zäh, ausdauernd und verlässlich. Nansen verwendet für seine Expedition eigens entworfenes Material, hat etwa spezielle Schlitten bauen lassen. Überhaupt ist für Nansen der Erfolg seines Vorhabens eine Frage der passenden technischen Ausrüstung:
ZITATOR 1
Die Ausführung der ganzen Expedition war auf die Überlegenheit der Schneeschuhe über jedes andere auf Schneeflächen in Anwendung kommende Beförderungsmittel begründet.
SPRECHER/IN
Fast scheint es, als hätten schon seine Kindheit und Jugend Nansen auf diese Reise vorbereitet. Ihn prägt die ländliche Idylle seines Elternhauses nahe Kristiania. Der Sohn einer bürgerlichen Oberschichtfamilie liebt es zu fischen, zu jagen und tagelang durch die ausgedehnten Wälder zu streifen. Seine Mutter, eine geborene Baronesse Wedel-Jarlsberg, begeisterte den Jungen früh für Sport und die Natur, sagt der norwegische Historiker und Nansen-Biograf Carl Emil Vogt:
03_ZUSPIEL C.E. Vogt
She loved nature, skiing etc. So I think that he had his very strong and independent character from his mother actually and his mother's family because his father was more of a pedantic correct Protestant, civil servant and lawyer. So I think the combination of the very protestantic ethos of the duty to do what you have to do etc. and the extremely independent and artistic and nature loving sentiments from his mother, I think that combination of them is very important actually.
03_ Voice-Over
Sie liebte die Natur, das Skifahren usw. Ich denke, dass er seinen starken und unabhängigen Charakter von seiner Mutter und ihrer Familie hatte. Sein Vater war mehr ein pedantischer, korrekter Protestant, Beamter und Anwalt. Also einerseits das sehr protestantische Pflichtbewusstsein, das zu tun, was zu tun ist, und andererseits die äußerst unabhängigen, künstlerischen und naturverbundenen Gefühle seiner Mutter: Ich glaube, dass diese Kombination sehr wichtig war.
SPRECHER/IN
Eigenschaften, auf die es in der Eiswüste Grönlands ankommt. Nansen will sein Ziel unbedingt erreichen, sein Motto lautet: die Westküste oder der Tod. Nach einer abenteuerlichen Odyssee auf Eisschollen entlang der Küste beginnt der Aufstieg über das bis zu 3200 Meter hohe Inlandeis. Auf dem Plateau reist die Expedition nachts. Dann ist es kälter, die Skier und Schlitten gleiten besser.
Geschlafen wird tagsüber – jeweils zu dritt in einem Schlafsack. Das spart Gepäck. Am 8. September 1888 notiert Nansen in sein Tagebuch:
ATMO Windgeheul unterlegen
ZITATOR 1
Der Weg ist unglaublich beschwerlich, schlimmer denn je, obwohl er hart ist; dieser Schnee ist widerspenstig wie Sand. Wir arbeiten gegen den Wind und Schneetreiben an. – Und weiter am 9. September: Es wurde im Laufe des Tages schlimmer mit dem Schneefall, und der Weg wurde schlechter und schlechter
SPRECHER/IN
Hunger und entsetzlicher Durst plagen die Männer. Erst am 26. September erreichen sie die Westküste. 49 Tage Wanderung, 560 Kilometer und harte Entbehrungen liegen hinter ihnen. Zum ersten Mal ist der grönländische Eispanzer in Ost-West-Richtung bezwungen. Doch zurück nach Europa kommen sie vorerst nicht: Wegen des nahenden Winters fährt von Godthåb kein Schiff mehr ab. Einen Eilboten der Inuit kann Nansen noch beauftragen, mit dem Kajak 300 Kilometer nach Süden zu fahren, um dem letzten Transportschiff in Ivigtût [sprich Ivittuut] ihre Erfolgsnachricht mitzugeben. Bis zum nächsten Frühjahr müssen sie bei den Inuit überwintern – aus Sicht von Geir Klover der eigentliche Erfolg der Expedition:
04_ZUSPIEL Geir Klover
So they had to spend the whole winter living with the Inuit in Greenland. And that kind of I think changed his mentality and also became more prepared for a future in exploring Polar Regions. It was the starkest initiation as a polar explorer.
04_ Voice-Over
Sie mussten also den ganzen Winter mit den Inuit in Grönland leben.
Ich glaube, das hat in gewisser Weise seine Mentalität verändert, es hat ihn auf eine Zukunft in der Polarforschung vorbereitet. Das hat ihn auf seinem Weg zum Polarforscher wohl am stärksten geprägt.
SPRECHER/IN
Die Nachricht von der Grönland-Querung läuft in der Zwischenzeit in großen Schlagzeilen um die Welt. Bei Nansens Rückkehr am 30. Mai 1889 empfängt ihn in Kristiania die jubelnde Menge. Tausende wollen Norwegens neuen Helden sehen. Dabei ist Fridtjof Nansen nicht nur der Held und soziale Mensch, als den ihn die meisten seiner Zeitgenossen und seine Nachwelt später gern stilisieren. In seinem Buch „Auf Schneeschuhen durch Grönland“, 2016 in der Edition Erdmann wieder aufgelegt, notiert er, was einer seiner Begleiter ihm vorwirft:
ATMO Windgeheul unterlegen
ZITATOR 1
Hungern müssten sie und würden obendrein wie die Hunde behandelt, es werde mit ihnen herumkommandiert, sie müssten den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend arbeiten, schlimmer als Tiere - nein, das wäre nicht zum Aushalten.
SPRECHER/IN
Seine Mannschaft betrachtet ihn als selbstsüchtig, arrogant und launisch. Für Geir Klover nicht ohne Grund:
05_ZUSPIEL Geir Klover
The welfare on the motivation of men was not really Nansens priority. Its priority was more of the science and survival. Nansen didn’t care very much with his men. Every time he was always right. Whatever debate, whatever dialogue – he was always right. And basically I think he felt superior to them. So he did not accept anyone else's input than his himself.
05_ Voice-Over
Wie es mit der Motivation aussah, hatte für Nansens eigentlich keine Priorität. Vorrang hatten für ihn die Wissenschaft und das Überleben. Nansen interessierte sich kaum für seine Männer. Er hatte immer Recht. Egal welche Debatte, welches Gespräch – er hatte Recht. Grundsätzlich fühlte Nansen sich ihnen überlegen. Er akzeptierte keine andere Meinung als die eigene.
SPRECHER/IN
Eine Portion Eitelkeit gehörte zu Nansens Persönlichkeit, notiert auch seine Tochter Liv in ihren Erinnerungen. Angesichts der späteren Erfolge und des Jubels, der Nansen zurück in Norwegen überall entgegenschallte, muss es für ihn auch schwer gewesen sein, nicht an den eigenen Mythos zu glauben. Denn aus Sicht von Geir Klover war Nansen geradeheraus, ein Typ, der sich nur schwer verstellen konnte:
06_ZUSPIEL Geir Klover
Those people have difficulty relating to the feet, to spend a year and a half away, surviving a winter, eating polar bears and shooting Walrus. And then coming back to safety, it was quite unheard of at that time. He was very elegant.
He was good looking. Very good speaker. So he was kind of a poster boy in all different levels, both among the public and then among royalty and scientists and everything.
06_ Voice-Over
Solche Menschen tun sich schwer, auf dem Boden zu bleiben: anderthalb Jahre weg zu sein, einen Winter zu überleben, indem man Eisbären isst und Walrosse jagt. Und wieder sicher zurückzukehren – das war etwas nicht Dagewesenes. Nansen war elegant, sah gut aus, konnte gut reden. Das machte ihn zu einer Art Aushängeschild in der Öffentlichkeit, aber auch am Hof, unter Wissenschaftlern und überhaupt.
SPRECHER/IN
Hochgewachsen, blond, gutaussehend, ein exzellenter Skifahrer und Redner. Mit seinen blauen Augen scheint Nansen immerzu in die unbekannte Ferne zu blicken – und dort zieht es ihn schon bald wieder hin. Knapp drei Monate nach seiner Rückkehr von Grönland heiratet der 27-Jährige die vier Jahre ältere Sängerin Eva Sars. Er nennt sie liebevoll »die beste weibliche Skifahrerin Norwegens«. Ausgerechnet Nansen, der sich lange als entschiedener Gegner der Ehe gezeigt hatte. Er liebt seine Frau, er baut ein Haus, hat fünf Kinder mit ihr – aber eigentlich ist er unfähig zu einem Zusammenleben. Der Polarforscher erweist sich als tyrannischer, launischer Ehemann und Vater – der erstmal nicht für die Familie, sondern seine Arbeit lebt.
AKZENT
SPRECHER/IN
In Nansen reift bereits der Plan zu einer nächsten Expedition. Der Forscher ist sicher, den bis dahin unentdeckten Nordpol erreichen zu können – mithilfe der Eisdecke, die seiner Ansicht nach mit der Strömung nach Norden driftet.
Dazu lässt Nansen eigens ein Schiff konstruieren, das dem Druck der Eismassen standhalten soll: die „Fram“. Mit ihr lässt Nansen sich und seine Mannschaft im Herbst 1893 im arktischen Packeis einfrieren.
ATMO leichtes Windgeheul unterlegen
ZITATOR 1
Montag, 9. Oktober. Nachmittags – wir saßen gerade müßig und plauderten – entstand ganz plötzlich ein betäubendes Getöse und das ganze Schiff erzitterte: Es war die erste Eispressung. Alle Mann stürzten an Deck, um zuzusehen. Die »Fram« verhielt sich wundervoll, wie ich es von ihr erwartet hatte. Mit stetigem Druck schob sich das Eis heran, musste jedoch unter uns durchgehen und wir wurden langsam in die Höhe gehoben.
Diese Pressungen wiederholten sich den ganzen Nachmittag und waren manchmal so stark, dass die »Fram« mehrere Fuß gehoben wurde; aber dann konnte das Eis sie nicht länger tragen und brach unter ihr entzwei. Es scheint hier ziemlich viel Bewegung im Eise zu sein.
SPRECHER/IN
schreibt Nansen darüber in seinem Buch „In Nacht und Eis“. Das Schiff driftet und wird von den Eismassen nicht zerquetscht. Trotzdem verläuft die Mission anders als geplant. Nach zwei Wintern im Eis zeichnet sich ab, die Fram würde den Pol verpassen. Nansen fasst einen waghalsigen Entschluss:
ATMO leichtes Windgeheul unterlegen
ZITATOR 1
Noch immer muss ich warten und die Drift beobachten; aber wenn sie die verkehrte Richtung einschlagen sollte, dann werde ich alle Brücken hinter mir abbrechen und alles auf einem Marsch nach Norden über das Eis wagen.
Ich weiß nichts Besseres zu tun. Es wird gefährlich sein, eine Frage um Leben oder Tod; aber habe ich eine andere Wahl?
SPRECHER/IN
Mit Hjalmar Johansen, einem seiner Begleiter, verlässt Nansen im März 1895 die Fram. Auf Skiern und Hundeschlitten machen sie sich auf den Weg, den Pol zu erreichen. Zum Schiff werden die beiden nie zurückfinden. Doch auch sein Ziel, den Nordpol, muss Nansen knapp über dem 86. Breitengrad aufgeben. Zu beschwerlich ist der Weg:
ATMO Windgeheul unterlegen
ZITATOR 1
Wir wissen weder, wo wir sind, noch wissen wir, wie das enden soll. Inzwischen schwinden unsere Vorräte und mit ihnen unsere Hunde. Werden wir Land erreichen, solange wir noch zu essen haben – ja, werden wir es überhaupt erreichen? Bald wird es unmöglich, gegen dieses Eis und den Schnee noch weiter anzukämpfen.
SPRECHER/IN
Dennoch schafft der Norweger wieder das damals nahezu Unmögliche: Nansen und seine gesamte 12-köpfige Mannschaft kehren nach drei Jahren unversehrt zurück. ((Zu Hause angekommen vermeldet Nansen:
ZITATOR 1
Staatsminister Hagerup. Ich habe das Vergnügen, Ihnen und der norwegischen Regierung mitzuteilen, dass die Expedition ihren Plan ausgeführt, das unbekannte Polarmeer im Norden der Neusibirischen Inseln durchquert und das Gebiet nördlich von Franz-Joseph-Land bis 86°14’ n.Br. erforscht hat. Nördlich von 82° wurde kein Land gesehen. ))
SPRECHER/IN
Nansen und Johansen hatten sich zu Fuß und in Kajaks bis in den Süden von Franz-Joseph-Land durchgeschlagen. Mit einem Versorgungsschiff gelangten sie schließlich zurück Richtung Norwegen. Die Fram hatte derweil die Eisdrift fortgesetzt und nordwestlich von Spitzbergen wieder offenes Wasser erreicht. Im August 1896 kommt es im norwegischen Tromsø zum großen Wiedersehen. Auch wenn Nansen den Nordpol nicht erreicht, so beweist er seine Theorie zur Meeresströmung und kommt dem Pol so nahe wie niemand zuvor. Nansen ist zu diesem Zeitpunkt erst 35. Seine Erfolge machen ihn zu einem der angesehensten Männer des Landes. Gleichzeitig drängen sie den Forscher immer mehr in politische Ämter – auch weil er offensiv für die Unabhängigkeit Norwegens eintritt, sagt Carl Vogt:
08_ZUSPIEL C.E. Vogt
Norway was in a union with Sweden. It was a loose and liberal union. We had only the king, the foreign policy in common but it became more and more clear during the century that Norway wanted its full independence. So these nationalist sentiments were stronger and stronger and Nansen became one of the most important national heroes in Norway. So I guess that was why Norwegian governments started to use him as some kind of an informal foreign minister so to speak.
08_ Voice-Over
Norwegen existierte in einer Union mit Schweden. Zwar einer lockeren, liberalen Union – wir hatten nur den König, die Außenpolitik gemeinsam. Aber im Laufe des Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass Norwegen seine volle Unabhängigkeit wünschte. Diese nationalistische Empfindung wurde immer stärker, gleichzeitig wurde Nansen einer der wichtigsten Helden des Landes. Wohl deshalb hat die norwegische Regierung ihn sozusagen als informellen Außenminister eingesetzt.
SPRECHER/IN
Als solcher handelt Nansen ab 1906 in London die Souveränität seines Landes mit aus. Doch die große Wende in seinem Leben stand Fridtjof Nansen noch bevor: Im Jahr 1907 stirbt seine Frau Eva infolge einer schweren Lungenentzündung. Sechs Jahre später stirbt nach langer Krankheit auch sein jüngster Sohn Asmund. Für Carl Vogt ein Auslöser für Nansens nun folgenden radikalen Karrierewechsel:
09_ZUSPIEL C.E. Vogt
He had lost a son in 1913 so this was some kind of a personal crisis for him. Then came the war and he really had become too old to do this Arctic or polar explorations anymore.
09_ Voice-Over
Er hatte 1913 einen Sohn verloren. Das war für Nansen eine Art persönliche Krise. Dann kam der Krieg und er war einfach zu alt geworden für Polarexpeditionen.
SPRECHER/IN
Die Schrecken des Ersten Weltkriegs und eine drohende Hungersnot in Schweden veranlassen Nansen, sich für einen Platz Norwegens im neu geschaffenen Völkerbund einzusetzen. Dieser beauftragt Nansen im Frühjahr 1920, sich um den Austausch hunderttausender Kriegsgefangener zu kümmern. Auch wenn die Ausgangslage dafür denkbar schlecht war: Aus Sicht von Carl Vogt war Nansen der richtige Mann dafür:
10_ZUSPIEL C.E. Vogt
One has to take into consideration the catastrophe the Great War was for all Europe. It has made a great impact on everybody not at least Nansen. He had another second chance so to speak as a diplomat already during the war. In negotiations in the United States for food provisions to Norway. So when he became high commissioner it was in a situation of total political chaos after the war.
10_ Voice-Over
Man muss bedenken, was für eine Katastrophe der Krieg für ganz Europa war. Das hat jeden stark geprägt, nicht zuletzt Nansen. Schon während des Krieges hatte er sozusagen eine zweite Chance als Diplomat: In den USA verhandelte er die Nahrungsmittelversorgung für Norwegen. Und letztlich herrschte, als er Hochkommissar wurde, totales politisches Chaos nach dem Krieg.
SPRECHER/IN
In einer Rede vor dem Völkerbund sagt Nansen dazu:
ZITATOR 1
Niemals zuvor in meinem Leben bin ich auf so gewaltiges Leid gestoßen, wie dem, zu dessen Linderung ich aufgefordert wurde.
SPRECHER/IN
Bis 1922 können etwa eine halbe Million Kriegsgefangene aus rund 30 Nationen dank Nansen nach Hause zurückkehren. Auch aufgrund eines speziellen, von Nansen erdachten Dokuments, dem später so genannten „Nansen-Pass“. Denn was vielen Flüchtlingen fehlt, ist eine Staatszugehörigkeit . Und das bringt massive Probleme mit sich:
11_ZUSPIEL C.E. Vogt
You do not have citizens’ rights. That's the most basic. But you also have a lot of problems in your daily life. Without paper it is very hard to get a place to live. It is impossible to marry, to baptize your children for instance. And often impossible to have a work and pay taxes. You have a lot of bureaucratic problems in your life. So this is the reason why it became necessary to help these people have a legal status.
11_ Voice-Over
Sie haben keinerlei Bürgerrechte. Das ist das Grundlegendste. Aber sie haben auch viele Probleme im Alltag. Ohne Papiere ist es sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Sie können nicht heiraten oder ihre Kinder taufen. Und oft ist es unmöglich, normal zu arbeiten und Steuern zu zahlen. Sie haben viele bürokratische Probleme. Deshalb war es notwendig, diesen Menschen zu einem legalen Status zu verhelfen.
SPRECHER/IN
sagt Historiker Carl Vogt. Fridtjof Nansen hat seine erste Aufgabe für den Völkerbund kaum angetreten, als man ihn bittet, zusätzlich eine Hilfsaktion für Russland zu leiten. Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und zuletzt anhaltende Trockenheit haben das Land ausgedörrt. Knapp 30 Millionen Menschen droht der Hungertod. Doch politisch traut der Sowjetregierung niemand, wieder steht Nansen, als Hoher Kommissar für Flüchtlingsfragen, am Rednerpult des Völkerbunds:
ZITATOR 1
Die Nahrungsmittel liegen in Amerika, aber niemand findet sich, sie zu holen. Kann denn Europa ruhig dasitzen und nichts dafür tun, diese Nahrungsmittel herüberzubringen und die Völker auf der anderen Seite zu retten?
SPRECHER/IN
Aber der Völkerbund verweigert seine Hilfe, politische Interessen überwiegen. Für Nansen eine schwere Niederlage. Trotzdem kann er private Spender und einen Kredit Norwegens organisieren, um den Hungernden zu helfen. Nicht zuletzt für diesen Einsatz erhält Nansen 1922 den Friedensnobelpreis.
AKZENT
SPRECHER/IN
Seinem Einsatz für Flüchtlinge bleibt Nansen weiter treu: Nach Ende des griechisch-türkischen Kriegs 1922 setzt er sich für griechische Flüchtlinge ein. Ab 1925 bemüht er sich darum, die in der Türkei verfolgten Armenier in der Sowjetunion anzusiedeln. Zu den ihm nachfolgenden Polarforschern – Robert Falcon Scott, Roald Amundsen, Ernest Shackleton – hat Nansen bis zuletzt ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits ist er ihr Mentor, sie alle suchen seinen Rat. Andererseits bleibt Nansen immer ihr Rivale. Er hatte selbst Überlegungen für eine Südpolexpedition angestellt.
Und doch überlässt Nansen seinem Landsmann Amundsen für eine Polarexpedition „seine“ Fram. Als Amundsen bei einer Rettungsmission 1928 in der Arktis umkommt, ist Nansen tief betroffen.
Die folgenden Zeilen einer Rede in Erinnerung an Amundsen sind Teil der wohl einzigen Originaltonaufnahme, die sich von Fridtjof Nansen erhalten hat. Sie könnten auch auf Nansen passen:
12_ZUSPIEL Nansen
Aus der großen, weiten Stille wird aber sein Name im Glanz des Nordlichts durch die Jahrhunderte für die Jugend Norwegens leuchten. Es sind Männer mit Mut, mit Willen, mit Kraft wie seiner, die uns mit Glauben an das Geschlecht und mit Zuversicht in die Zukunft erfüllen. Die Welt ist noch jung, die solche Söhne erzieht.
SPRECHER/IN
In seinen Gedanken an Roald Amundsen verneigt sich Nansen vor dessen Leistungen. Für Historiker Carl Vogt liegen die wahren Leistungen bei Fridtjof Nansen selbst:
13_ZUSPIEL C.E. Vogt
His most dangerous expedition was not the one to the North Pole. Of course he could have died there as well. But in 1921 he really went to the famine areas in Russia in the Volga valley and at least one or two of his travel companions died from typhoid fever they had caught on the train with Nansen. So he could easily have died from his engagement actually. So I mean it was really heroic.
13_ Voice-Over
Seine gefährlichste Expedition war nicht die zum Nordpol. Natürlich hätte er dort auch sterben können. Aber 1921 ging Nansen wirklich in die Hungerregionen in Russland im Wolgatal. Und mindestens ein oder zwei seiner Reisebegleiter starben an Typhus, den sie sich im Zug mit Nansen geholt hatten.
Er hätte also leicht durch sein Engagement sterben können. Das war wirklich heldenhaft. (Bitte den letzten Satz so betonen, dass es heißt „Das war wirklich heldenhaft“ (-und eben nicht seine gefährlichen Expeditionen…. ); danke! NR)
SPRECHER/IN
Am 13. Mai 1930 weilt Nansen auf dem Balkon seines Hauses in Lysaker. Im Liegestuhl genießt er den Frühling und den Besuch seiner Familie; mit einem Stapel Arbeit vor sich erholt Nansen sich gerade von einer langwierigen Venenentzündung. Seine Schwiegertochter Kari will ihm einen Tee bringen, als Nansen einem plötzlichen Herzinfarkt erliegt. Als Fridtjof Nansen mit 68 Jahren stirbt, hat er sie allesamt überlebt: Scott, Amundsen, Shackleton... Als Einziger endet er nicht auf einer Expedition. Und doch bleibt der Polarpionier, Diplomat und Friedensnobelpreisträger bis zuletzt unerfüllt und mürrisch, denkt, er habe sich nie im Leben zurechtgefunden.
Die antike Stadt Pompeji gilt als eines der größten archäologischen Projekte der Welt. Im Jahr 79 nach Christus wurde sie durch den Ausbruch des Vesuvs verschüttet, seit 1748 wird sie ausgegraben. Die bereits von der Asche befreiten Gebäude müssen allerdings nicht nur erforscht, sondern auch ständig konserviert und bewacht werden ? das geht nur mit Nachhaltigkeit. Autor: Michael Stang
Credits
Autor dieser Folge: Michael Stang
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Frank Manhold, Maren Ulrich
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Silvia Bertesago, Archäologin, Archaeology Officer;
Mattia Buondonno, Guide;
Paolo Mighetto, Leiter Ausgrabungen & Konservierungen Insula Occidentalis;
Valeria Moretti, Anthropologin, DNA- & stabile Isotopen-Projekte;
Alessandro Russo, Archäologe, Ausgrabung Insula Occidentalis;
Gabriel Zuchtriegel, Direktor, Archäologiepark Pompeji, Italien
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Credits
Autor dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Stefan Wilkening, Hemma Michel und Stefan Merki
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Susanne Poelchau
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Joseph Horowitz: “Understanding Toscanini. A Social History of American Concert Life“. Los Angeles 1994;
Dorothy Caruso: “Enrico Caruso. His Life and Death”. New York 1945
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Credits
Autorin dieser Folge: Julia Smilga
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Irina Wanka, Jerzy May, Michael Atzinger, Mona Vojacek Koper
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Andrea Bräu
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Interviewpartner dieser Folge:
Nikolay Tsiskaridze, Ballettänzer
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Credits
Autor dieser Folge: Michael Kubitza
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner, Stefan Wilkening, Jerzy May, Florian Schwarz, Katja Schild, Julia Cortis
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
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Schwalben gelten als Glücksbringer und Frühlingsboten. Sie gehören zu menschlichen Siedlungen seit Jahrtausenden. Die kleinen Vögel vollbringen erstaunliche Leistungen beim Fliegen und Nestbau. Von Christiane Seiler (BR 2019)
Credits:
Autorin dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Andreas Neumann, Johannes Hitzelberger
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Wussten Sie, dass der Lebensraum der Schwalben bei uns immer begrenzter wird? BR Wissen hat spannende Artikel zum Thema:
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Von der Kaulquappe zum Frosch, von der Raupe zum Schmetterling ? zahlreiche Tiere, vor allem Amphibien und Insekten durchlaufen auf ihrem Weg zum erwachsenen Tier oft erstaunliche Verwandlungen. Von Iska Schreglmann
Credits
Autorin dieser Folge: Iska Schreglmann
Es sprachen: Iska Schreglmann im Gespräch mit Dr. Thassilo Franke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Thassilo Franke, Biologe von den Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton-Collage / Dr. Thassilo Franke:
Bei der Plattfischlarve wandert ein Auge über den Scheitel auf die andere Seite des Kopfes….
Die Brunftschwielen verhindern, dass das Krötenmännchen bei der Paarung vom Weibchen abrutscht…
Der Sackkrebs wächst wie ein Pilzgeflecht im Inneren seines Opfers!
Sprecherin
Alles Natur!
Wie Tiere sich verwandeln
MUSIK-Akzent
Iska Schreglmann
Ich stehe gerade mit dem Biologen Thassilo Franke an einem, ja kleinen Teich, würde ich sagen, sieht aus wie so eine riesengroße Pfütze, und zwar in einem ziemlich naturbelassenen Gebiet im Norden von München, genauer gesagt in der Nähe des Rangierbahnhofs, falls das jemand kennt. Warum sind wir hier? Weil hier, mitten in der Stadt und doch ziemlich versteckt, leben viele seltene Arten und jede Menge Tiere, die sich auf wundersame Weise verwandeln. Ich habe mich zu diesem Zweck heute auch etwas verwandelt, nämlich meine Gummistiefel angezogen, da es ziemlich nass ist, wie es ja auch sein soll, wenn es um Frösche und Kröten geht.
Dr. Thassilo Franke
Ja, genau. Ich habe auch meine Gummistiefel an – wie man hier an diesem Geschmatze wahrscheinlich auch bei Ihnen zu Hause gut vernehmen kann - und wir befinden uns in einem ganz wichtigen Amphibien- Schutzgebiet mitten in der Stadt. Und hier kommen viele verschiedene Amphibienarten vor, unter anderem auch eine der seltensten Arten, nämlich die Wechselkröte.
Die Wechselkröte ist vom Aussterben bedroht und hat hier ihr bayernweit größtes Vorkommen.
Iska Schreglmann
Das ist ja erstaunlich, das bayernweit größte Vorkommen hier. Von der Wechselkröte habe ich Bilder gesehen. Sie ist wunderschön marmoriert. Vielleicht können Sie sie noch mal beschreiben?
Dr. Thassilo Franke
Naja also, wenn man an eine Kröte denkt, da haben die meisten von uns, die klassische Erdkröte im Sinn. Also ein braunes, warziges Tier mit schönen, bernsteinfarbenen Augen. Die Wechselkröte sieht ihr, was die Form betrifft, eigentlich sehr ähnlich. Aber sie hat eine ganz andere Zeichnung. Sie hat eine graue Grundfarbe mit schönen dunkelgrünen Flecken, schaut fast ein bisschen so tarnfarben aus, wie man es so von der Militärkleidung kennt.
Iska Schreglmann
Militärkleidung mal auf die schöne Art und Weise, um es gleich zu sagen. Aber würde man die Erdkröte jetzt hier schon finden können?
Dr. Thassilo Franke
Für die Wechselkröte ist es hier noch zu früh. Also die fängt eigentlich erst zu Ende April, Anfang Mai an. Was ist aber hier schon gibt, das sind Grasfrösche und Erdkröten. Und auch wenn man es tagsüber meistens nicht finden kann, weil die ihr Laichgeschäft meistens erst im Schutz der Dunkelheit eigentlich vollziehen, kann man ihre Hinterlassenschaften in Form von ihren Gelegen finden. Und da gibt es große Unterschiede. Und zwar der Grasfrosch, der legt seine Eier in Form von Laichballen ab. Und die Erdkröte, die hat eine ganz andere Leitstruktur. Die bildet Laichschnüre mit bis zu ungefähr drei bis 8000 Eiern, die sie praktisch um die Wasserpflanzen drumherum spinnt.
Iska Schreglmann
Und das heißt aber, wenn wir jetzt hier so weiter durchwaten - es ist allerdings ziemlich tief, und ich bleibe hier auch fast stecken mit meinen Gummistiefeln - dann könnten wir hier diese Laichschnüre schon finden, jetzt, Mitte März?
Dr. Thassilo Franke
Also, was die Laichschnüre von den Erdkröten betrifft, sind wir doch noch ein bisschen zu früh dran. Also, die sind jetzt schon auf dem Weg. Die sind jetzt schon dabei, aufzuwachen und sich auf den Weg Richtung Laichgewässer zu begeben. Was wir mit etwas Glück heute schon finden können, sind die bereits erwähnten Laichballen von den Grasfröschen.
Iska Schreglmann
Die Grasfrösche sind, so viel ich das weiß, ja die gängigsten Frösche also die sind nicht selten, oder? Sondern das sind die, die man ab und zu sieht…?
Dr. Thassilo Franke
Also, der Grasfrosch ist, wie fast alle Amphibienarten, ebenfalls rückläufig in seinem Bestand. Aber Sie haben schon recht. Also der Grasfrosch ist mit Abstand häufigste Froschlurch-Art.
Iska Schreglmann
Ja, und dann gehen wir doch mal auf die Suche, oder?
Dr. Thassilo Franke
Erstaunlich, wie tief das hier ist. Ja, also, es ist also hier alles voll mit Entengrütze, die so ein bisschen den Eindruck macht, als hätten wir es mit Laich zu tun. Vor allem, wenn da so kleinen Luftblasen sind… aber es schaut nicht so gut aus.
Iska Schreglmann
Na gut, sie können das sicher auch so beschreiben..?
Dr. Thassilo Franke
Ja, also ich bin mir sicher, wenn wir hier vielleicht in einer Woche noch mal herkommen, dann werden wir das ganze Sortiment eigentlich vorfinden. Aber Froschlaich - viele haben ihn ja auch schon mal gesehen. Das gilt im übrigen auch für den Krötenlaich. Da hat man immer die befruchtete Eizelle im Zentrum, die ist schwarz gefärbt, bei den meisten Arten auch ein Schutz gegen die Sonne, die Sonneneinstrahlung. Und das Ganze, die ganze Eizelle, die Zygote nennt man das ja dann, wenn sie befruchtet ist, ist umgeben von einer Gallert-Hülle, von einer sehr dicken, transparenten Gallert-Hülle. Und beim Grasfrosch ist es so, dass es dann einfach ungeordnete Klumpen sind, wo viele, viele hundert Eier einfach zusammengeballt sind.
Und wenn man sich aber dann dieses Ei einmal genauer anschaut, unter der Lupe zum Beispiel, da kann man sehen, dass sich die mit der Zeit verändern, diese schwarzen Kugeln in ihrem inneren.
Und da sind wir bei einem Prozess, den wir auch durchmachen.
Wir Menschen, das ist die sogenannte Ontogenese, die Individualentwicklung.
Iska Schreglmann
…den wir im Mutterlieb durchmachen…
Dr. Thassilo Franke
Genau, also ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess, Verwandlungsprozess. Verwandlung ist ja das Thema unserer heutigen Sendung, die eigentlich schon zum Zeitpunkt der Befruchtung losgeht. Und weil halt diese Froschlurch-Eier so eine schöne, durchsichtige Hülle haben, sind die auch das Lehrbuchbeispiel, die vielen Lehrer, die jetzt vielleicht die Sendung anhören, die werden es wahrscheinlich auch noch aus ihrem Bio-Unterricht wissen…
Iska Schreglmann
Und die Schüler und Schülerinnen kennen das auch, klar. Ich denke mal, das findet doch in fast jedem Biologieunterricht statt.
Dr. Thassilo Franke
Dieser ganze Zauber der Verwandlung nimmt da seinen Anfang eigentlich - also in diesem transparenten Ei.
Iska Schreglmann
Ich möchte trotzdem noch mal einen Schritt zurück springen zur Paarung, bevor es überhaupt zu dem, was Sie Laichgeschäft nennen, kommen kann - weil bestimmte Kröten sich ja auch für die Paarung schon verwandeln offenbar…
Dr. Thassilo Franke
Ja, vor allem, was die Männchen betrifft. Und das kann man auch sehr schön erkennen. Und man kann sogar die Geschlechter, wenn man mal eine Kröte sieht um diese Jahreszeit, auch sofort daran unterscheiden. Weil nämlich die Männchen, an den Fingern der Hände ab Daumen gerechnet, praktisch, ersten drei Fingern, wachsen denen sogenannte Brunftschwielen aus der Haut.
Solche Schwielen kennt man ja, wenn man hart gearbeitet hat. Da hat man dann so Hornhaut-Polster auf den Handflächen, die manchmal auch recht schmerzhaft sind. Und in die Richtung geht es auch das Ganze eigentlich, weil es sind Hornstrukturen. Und zwar sind die ganz rauh, wenn man die anfasst. Und die haben eine ganz besondere Funktion. Und zwar, Sie haben doch bestimmt schon mal gesehen, dass während der Laichzeit die Frösche so huckepack unterwegs sind. Unten das größere Weibchen, oben also praktisch als Reiter das kleinere Männchen. Und auf so einer glitschigen Kröte zu reiten, das ist also Rodeo in Reinstform, kann man sich ja vorstellen, wenn sie die Cowboys anschauen, Pferde sind ja nicht glitschig….
Iska Schreglmann
Aber als Cowboy hat man ja auch Sattel und Zaumzeug. Aber da hat man ja gar nichts als Krötenmännchen-
Dr. Thassilo Franke
Und damit der Kröterich nicht von seinem Reittier fällt, hat er eben diese Brunftschwielen, und da kann er sich dann sehr gut an ihr festhalten…
Iska Schreglmann
Hört sich irgendwie dann schmerzhaft an für das arme Weibchen.
Dr. Thassilo Franke
Ja, die Weibchen müssen sowieso wahnsinnig viel durchmachen, weil nämlich es gibt immer sehr viel mehr Männchen als Weibchen. Und da ist ein fürchterliches Gerangel. Das heißt, da klammern sich dann oft mehrere Männchen mit ihren rauhen Brunftschwielen an dem armen Weibchen fest, was dann sogar dazu führen kann, dass die Weibchen bei dem Gerangel ertrinken.
Iska Schreglmann
Ach, du Schreck! Aber jetzt reden wir erst mal über das Gegenteil von Tod, nämlich über die Geburt der neuen kleinen... Und da sind wir dann ja beim Laich, aus dem bekanntlich die Larven schlüpfen, die zu Kaulquappen werden, haben wir vorhin schon gesagt, haben wir in der Schule wahrscheinlich allemal gelernt. Und diese Kaulquappen, die sind ja ein ziemlich gewitztes Zwischenstadium.
Dr. Thassilo Franke
J, sie sind wirklich ein gewitztes Zwischenstadium, weil sie erinnern ja erst an an kleine winzige Fischchen. Also sie haben auch ganz am Anfang, also, wenn sie frisch geschlüpft sind, auch noch äußere Kiemen, die man sehen kann. Und einen langgestreckten Körper und einen Schwanz, an dem sich allmählich sogar ein richtig deutlich zu sehender, Flossensaum entwickelt. Und das ist eigentlich der Zeitpunkt, wo die Larve, die Kaulquappe aus dem Ei ausschlüpft, also sie löst praktisch diese Gallertschicht auf, arbeitet sich dann aus dem Ei heraus und haftet sich dann mit einer Haftscheibe, dann die sie am Bauch hat, auf diesem leeren Ei an und auch in der Umgebung dann an den Wasserpflanzen und tut erst mal gar nichts. Sie kann auch gar nichts tun, weil sie noch überhaupt kein Maul hat, mit dem sie fressen könnte. Das bricht erst allmählich durch, und zwar synchron mit dem Durchbruch des Mauls bildet sich eine Hautfalte, die Kiemen einschließt. Das heißt, die Kiemen sind dann nach wenigen Tagen dann nicht mehr sichtbar, sondern die sind in eine Höhle eingeschlossen, die dann nur noch eine Atemöffnung offen lässt. Und da kommen wir eigentlich auch zu einem Punkt, der die Kaulquappen und die aus ihnen hervorgehenden Frösche so wahnsinnig erfolgreich macht. Also eigentlich ist die Kaulquappe ein ungeheures evolutives Erfolgsrezept. Sie müssen bedenken, von denen siebeneinhalbtausend Amphibienarten, die man ungefähr kennt, bis heute... Die Zahl wächst rasant an. Es werden immer wieder neue Arten beschrieben, auch bei uns in der Zoologischen Staatssammlung vom Frank Glaw, der sich mit Fröschen von Madagaskar beschäftigt - und von den siebeneinhalbtausend Amphibien sind über 7000 Frösche. Also Frösche gegenüber von Salamandern und u Blindwühlen sind die erfolgreichste Amphibiengruppe. Und das liegt an der Kaulquappe, weil die Kaulquappe hat nämlich in diesem dieser Arten -Kammer, die ich gerade beschrieben habe, da hat sie einen Filter Apparat ausgebildet und dieser Filter Apparat, dem kommt eine ganz wichtige Bedeutung zu. Weil nämlich die Kaulquappen haben ein ganz kleines Maul mit einem Hornschnabel, Horn-Zähnchen, mit denen sie die Oberfläche abraspeln können und alles, was sie dann praktisch einsaugen - sie haben auch so ein Saugmaul - wird an diesem Filter-Apparat gefiltert und die Nährstoffpartikel dann über eine Art schleimiges Fließband dann in den Schlund befördert. Und das macht Kaulquappen so wahnsinnig erfolgreich.
Iska Schreglmann
Spannend, aber die Kaulquappe bleibt ja nicht so, wie sie ist.
Dr. Thassilo Franke
Sie bleibt nicht so, wie sie ist. Sie bringen es auf den Punkt - wir wollen ja heute über Verwandlungen reden, die Kaulquappe, die verändert sich, und der erste Schritt ist eigentlich nur eine Größenzunahme. Das ist das Wachstum, die Wachstumsphase. Und die eigentliche Metamorphose beginnt eigentlich erst, wenn die Beine durchbrechen. Ja, man sieht auch am Anfang erst nur die Hinterbeine, und wenn, dann diese Vorderbeine aus dieser Peribrancialraum, nennt man das, hervorbrechen, dann verstopfen die das Atemloch, und es würde dazu führen, dass die Kaulquappe erstickt, weil sie nicht mehr atmen kann. Und das ist ein ganz kritischer Zeitpunkt. Das ist praktisch der Höhepunkt der Metamorphose. Da muss der kleine Frosch dieses Zwischenstadium zwischen Frosch und Kaulquappe zum atmen auch an die Oberfläche, weil nämlich die Lungen dann sich schon ausbilden und sie dann von Kiemen zu Lungenatmung übergehen. Und dann setzen gewaltige Veränderungen ein. Also, die Augen bekommen plötzlich Augenlider, die sie vorher nicht hatten, und der Verdauungstrakt der verkürzt sich. Das ist ja ein ganz langer Spiralarm bei der Kaulquappe. Der verkürzt sich um drei Viertel seiner Länge zu einem sehr stark differenzierten Magen-Darm-Trakt, der auch Säure bildet. Vorher hat er keine Säure gebildet, und das Maul, was eben nur so ein kleines Raspel -Mäulchen war, wird eben so eine Maulspalte, damit da auch eine Fliege oder eine Libelle mal reinpasst, wenn der Frosch größer geworden ist. Und das Tier verliert ungefähr 70 Prozent seiner Masse, die allerdings fast nur aus Wasser besteht und so peu a peu absorbiert dann der Frosch auch seinen Schwanz. Der Kaulquappen Schwanz wird nicht abgeworfen, wie das häufig geäußert wird, sondern der wird aufgelöst, eigentlich. Man nennt das resorbieren und das hat eine ganz besondere Bewandtnis. Weil nämlich während dieser Metamorphose kann ja der Frosch nichts fressen, weil ja praktisch der Magen-Darm-Trakt gerade umgebaut wird. Da kann er nicht gleichzeitig ihn mit Nahrung füllen. Das würde er nicht funktionieren. Und in dieser Fastenperiode ernährt er sich eigentlich von der Energie, die in seinem Schwanz gespeichert ist.
Iska Schreglmann
Faszinierend. Das ist wirklich ausgeklügelt. Aber ich kann mir vorstellen, dass es für diese Lebewesen auch irgendwie unglaublich anstrengend ist, sich derart umzuwandeln. Dabei wird ja auch jede Menge Energie verbraucht. Warum hat sich die Evolution denn das einfallen lassen? Ginge es nicht auch einfacher?
Dr. Thassilo Franke
Ja, es ist in der Tat anstrengend, und es ist auch so, dass viele diesen Metamorphose Prozess auch nicht überleben und irgendwann darin stecken bleiben, ertrinken oder was auch immer. Aber dieser Prozess ist einfach notwendig. Ich meine, im Endeffekt geht es ja darum, dass man ein komplett neuen Lebensraum erobert. Die Kaulquappe ist ähnlich wie die Fische ein Wassertier und der Frosch ist ein Landtier, und damit dieses Wassertier dann später auf dem Land zurechtkommt, muss es diese Verwandlung durchmachen. Das betrifft übrigens auch das Mikrobiom - also das, was wir auch haben - unseren Darm, also die Mikroorganismen, die uns bei der Verdauung helfen. Und da wurde festgestellt, dass Fische ein ganz anderes Mikrobiom haben, also ganz andere Bakterien und Mikroorganismen in ihrem Darm haben als Landtiere. Und da hat man dann sich überlegt, wie ist es denn bei den Fröschen, die als Kaulquappe Wassertiere sind und als Frösche Landtiere sind? Und tatsächlich hat sich gezeigt, dass das Mikrobiom der Kaulquappe jenem der Fische ähnelt und das Mikrobiom der Frösche ein typisches Landtier-Mikrobiom ist mit dem entsprechenden Sortiment von Mikroorganismen.
Iska Schreglmann
So, jetzt haben Sie ja gerade eben auch das Mikrobiom des Menschen erwähnt. Wie hängt es denn jetzt damit zusammen?
Dr Thassilo Franke
Also genau genommen sind wir Menschen ja eigentlich auch nichts anderes als Fische, die an Land gegangen sind. Also wenn wir unsere Evolutionsgeschichte rückwärts zurück verfolgen, dann kommen wir über Reptilien, die eben schon Eier hatten, die an Land komplett ihre Ontogenese durchlaufen, also gar kein Wasser mehr brauchen... wenn man dann weiter im Rückwärtsgang zurückfährt, dann kommen wir irgendwann zu Amphibien, die unsere Vorfahren waren. Und das heißt also, im Endeffekt wasserbewohnende Larven, die irgendwann an Land gehen und dann eine Metamorphose machen, um als Landlebewesen weiter zu machen. Die haben wir in unserer höchstpersönlichen Ahnenreihe. Man muss nur eben weit genug zurückgehen. Und wenn wir noch weiter zurückgehen, dann landen wir dann bei so bizarren Lebewesen wie den Lungenfischen. Und die Lungenfische sind, wenn man so will, die Vorfahren aller heute lebenden Landwirbeltiere.
Iska Schreglmann
Also auch unsere. Aber bleiben wir noch mal kurz bei den Fischen an sich, denn da gibt es ja auch ganz bizarre Beispiele von Verwandlungen.
Dr. Thassilo Franke
Ja, da gibt es sehr bizarre Beispiele. Und das verrückteste Beispiel, was mir dazu einfällt, ist die Verwandlung der Plattfische. Ich meine, Sie kennen ja auch Schollen, Schollenfilet, Heilbutt, Seezunge. Und wenn man die Tiere sieht, die schauen dann meistens recht lustig aus, die sind flach auf dem Boden, die schwimmen flach über den Meeresboden in so ondulierenden, wellenförmigen Bewegungen, sind bestens getarnt. Und wenn man ihren Kopf anschaut, dann fällt einem auf, dass da die zwei Augen obendrauf sitzen. Das schaut noch relativ normal aus, aber die Maulspalte, die ist schief. Also praktisch, die ist nicht so, wie man es erwarten würde, sondern die ist eben seitlich orientiert. Und wie es dazu kommt, das kann man sehr schön untersuchen oder beobachten. Wenn man nämlich die Entwicklungsgeschichte, die individuelle Entwicklungsgeschichte so eines Fisches mal genauer anschaut. Er schlüpft aus dem Ei, das Ei ist im Plankton und die erste kleine Scholl- Larve, die da ausschlüpft, schaut eigentlich aus wie jede andere Fischlarve. Also ein kleiner, länglicher Fisch, ein Auge auf der linken Kopfseite, eins auf der rechten Kopfseite. Und was dann geschieht, ist eine ganz seltsame Verwandlung, weil nämlich ein Auge plötzlich nicht da bleibt, wo es war, sondern es wandert praktisch über den Kopf, über den Scheitel auf die andere Kopfseite rüber. Und wenn das Auge dann praktisch auf der anderen Seite angekommen ist, dann ändert auch der Fisch sein Verhalten und auch den Ort, wo er sich aufhält. Dann geht er runter auf den Gewässer Grund und beginnt dann eigentlich sein normales Butt-, Schollen- oder Seezungenleben.
MUSIK
Iska Schreglmann
Sie hören radioWissen, Alles Natur. Heute geht es um Lebewesen, die sich auf wundersame Art und Weise komplett verwandeln. Wir haben gerade schon verschiedene Beispiele gehört von dem Biologen Dr. Thassilo Franke, wir haben über verschiedene Wassertiere gesprochen und auch über Landlebewesen und die verschiedensten Metamorphosen. Aber auch die Luft spielt ja da eine Rolle.
Dr Thassilo Franke
Ja, also, es gibt ja auch Tiere, nämlich innerhalb der Insekten, die den Lebensraum Luft erobern und die aber auch aus einer vollkommen flugunfähigen, sehr primitiv wirkenden Larve hervorgehen. Und eines dieser Beispiele begegnet uns auch hier in diesen Teichen. Hier in dieser Ausgleichsfläche. Das sind die Köcherfliegen. Und Köcherfliegen heißen sie, weil sie einen Köcher bauen, in dem ihr weicher Hinterleib verborgen ist und auch gut geschützt ist. Und diese Köcherfliegen -Larven, die leben auf einem Gewässergrund, häuten sich einige Male und bilden dann ein Puppenstadium, eine Puppe, die im Inneren des Köchers ihre Verwandlung durchmacht. Und der Köcher wird dann auf beiden Seiten auch abgeschlossen, ist ist also eine kleine Kammer mehr oder weniger, und die Puppe treibt dann an die Wasseroberfläche und platzt auf. Und dann entsteigt auch dieser Puppenhülle ein komplett anderes Lebewesen, was nämlich schöne Flügel hat und die Luft erobert und sich dann dort auch fortpflanzt und Eier ablegt, die Eier wieder ins Wasser legt oder ins Wasser tropfen lässt und dann der ganze Kreislauf wieder von vorne losgeht. Und die Köcherfliegen sind die Schwestergruppe der Schmetterlinge.
Iska Schreglmann
An die muss man immer denken, wenn Sie das erzählen.
Dr Thassilo Franke
Genau. Also die Köcherfliegen und die Schmetterlinge, die gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück. Die ähneln sich auch in vielen Aspekten. Und bei den Schmetterlingen kennt man das ja: Aus dem Ei schlüpft eine Raupe, die sich mehrmals häutet, die sich dann in eine Puppe verwandelt. In der Puppe. Wir werden dan praktisch alle Larven -Organe eingeschmolzen, Hystolyse nennt man das Ganze. Das wird richtig in einen Zellbrei verwandelt. Und nur ganz bestimmte Zell Cluste, die entwickeln sich dann weiter und bilden dann die Organe des neuen Insekts, wie zum Beispiel die Flügel oder den Saugrüssel. Weil nämlich das Insekt, was aus der Puppenhülle dann entsteigt, im Falle der Schmetterlinge sicher auch vollständig in der Nahrungsaufnahme unterscheidet, wohingegen die Raupe eben Blätter zerkaut mit Kauwerkzeugen, saugt der Schmetterling mit seinem strohhalmartigen Rüssel Blütennektar.
Iska Schreglmann
Und wo wir gerade über Schmetterlinge sprechen, möchte ich natürlich gerne auf unsere Alles Natur-Folge zum Thema Schmetterlinge hinweisen, die Sie in der ARD Audiothek finden oder überall dort, wo es Podcasts gibt. Aber es gibt ja noch viel mehr Insekten, die sich verwandeln.
Dr Thassilo Franke
Also die Gruppe, wo auch die Köcherfliegen und die Schmetterlinge reingehören, das sind die holometabolen Insekten und das ist die erfolgreichste Organismengruppe überhaupt auf unserem Planeten. Also mehr als die Hälfte aller mehrzellligen Tiere gehören da rein, und die machen alle diese Verwandlung durch. Das sind die Fliegen zum Beispiel oder die größte Gruppe überhaupt, das sind die Käfer, die machen auch so ein Puppenstadium durch. Und auch die Bienen, Wespen und Ameisen
Iska Schreglmann
Und zu Bienen und Westen gibt es im Übrigen auch alles Natur- Episoden. Und es gibt auch Verwandlungen, die auf Kosten anderer Tierarten stattfinden. Da gibt es ja ein besonders fieses Beispiel, sage ich mal.
Dr Thassilo Franke
Ja, es gibt ganz viele Parasiten-Arten, die auch ganz komische Metamorphose-Zyklen durchlaufen. Und das bizarrste Beispiel, was mir dazu einfällt, ist der Sackkrebs. Der Sackkrebs ist ein mit den Seepocken verwandtes Krebstier, was sein Leben wie die meisten anderen Krebse auch als kleine Nauplius Larve beginnt, die durchs Wasser rudert und keinerlei Nahrung aufnimmt und die sich dann irgendwann mal zu einer sogenannten Cypress Larve häutet. Und diese weibliche Cypress-Larve, die macht sich dann auf die Suche nach einer Strandkrabbe. Also, die schwimmt dort durch durchs Wasser. Die hat auch Schwimm-Beine, ganz bewusst und gezielt, spürt die eine Strandkrabbe auf und lässt sich auf der Strandkrabbe an einer ganz bestimmten Stelle des Panzers nieder. Und was dann passiert, ist ganz unglaublich. Also sie stößt praktisch ihre Schwimmbeine ab, sobald sie am Ziel angekommen ist, auch den ganzen Bewegungsapparat, der diese Beine bewegt. Der wird abgeworfen, sodass eigentlich nur noch der Panzer dieser Cypresslarve zu sehen ist. Und die ist aber mit einer Art Harpune in dieser Krebs -Schale also jetzt von der Strandkrabbe verankert und wirft dann zu guterletzt dann auch noch das Allerletzte, was sie noch ab zu werfen hat, nämlich ihren Panzer, ab. Und was dann übrig bleibt es eigentlich nur noch so ein Sack, und dieser Sack hängt dann außen an der Schale dran dieser Strandkrabbe. Und die Harpune bohrt sich weiter durch den Panzer durch, und während sich die Harpune dort durcharbeitet oder Bohrer, müsste man eigentlich sagen, löst sich der gesamte Inhalt dieses Sackes auf, ist eigentlich nur noch ein Zellbrei. Und wenn dann die Krabbenschale durchdrungen ist, dann wird dieser ganze Zellbrei einfach in die Krabbe reingespritzt, rein injiziert. Und die Zellen in diesem Sack, die lösen sich aus dem Verband. Das ist eigentlich ein Zellbrei, was dann da drin ist. Und wenn dann dieser Bohrer die Krebsschale durchbrochen hat, dann kontrahiert sich dieser ganze Sack und der Zellbrei wird in die Strandkrabbe hineingespritzt.
Iska Schreglmann
Oh Gott! Und dann? Was passiert mit der Strandkrabbe?
Dr Thassilo Franke
Wenn dann die Zellen im Inneren der Strandkrabbe angekommen sind, dann bildet sich wieder so ein Zellklumpen. Und von dem geht dann ein Fadengeflecht aus, was eher an das Fadengeflecht eines Pilzes erinnert, was die ganze Krabbe von innen durchwuchert und sich um den Darm herumspinnt, das heißt bis in die äußersten Gliedmaßenspitzen ist diese gesamte Strandkrabbe von diesem fremden Organismus regelrecht durchwuchert.
Iska Schreglmann
Das klingt ziemlich gemein, würde ich mal sagen.
Dr Thassilo Franke
Ja, das ist auch gemein. Und jetzt ist es ja so, dass dieses Faden- Geflecht, was den Sackkrebs eigentlich ausmacht im Inneren der Strandkrabbe, das ist ein Weibchen, und die muss sich ja auch wieder fortpflanzen. Und was dann passiert ist, sie hat wieder diesen gemeinen Trick, dass sie sich durch den Panzer ihres armen Wirts-Krebs durchbohren muss. Und sie bohrt sich genau an der Stelle durch, wo die weibliche Krabbe normalerweise ihr Gelege hat. Und was dann da hervortritt, ist ein Sack, was auch diesem Krebs seinen Namen gibt. Sackkrebs. Ein großer, richtig großer weißlich gelber Sack, in dessen Inneren dann wiederum die Eier dieses parasitischen Krebses sind...
Iska Schreglmann
Unglaublich trickreich.
Dr Thassilo Franke
Jetzt kann es sein, dass die die befallene Krabbe ein Männchen ist. Es ist aber diesem Sackkrebs vollkommen wurscht, der polt die einfach hormonell um. Und dann verhält sich dieses Krebs-Männchen wie ein Weibchen und behütet praktisch dann diesen Sack, den er für seine eigenen Eier hält. Er denkt ja, er wäre ein Weibchen und fächelt denen dann Wasser zu und schützt die die ganze Zeit. Und irgendwann tut sich dann in diesem Sack ein Loch auf, und durch dieses Loch schwimmt dann eine männliche Sackkrebs-Larve in diesen Sack hinein und befruchtet die darin befindlichen Eier und der Kreislauf ist geschlossen.
Iska Schreglmann
Unfassbar. Das könnte man sich eigentlich nicht ausdenken, was da in der Natur sich entwickelt hat.
Dr Thassilo Franke
Ich bin auch immer wieder überrascht. Wir müssen mal eine Sendung über Parasiten machen. Also da gibt es generell so tolle Geschichten zu erzählen...
Iska Schreglmann
Hört sich so an. Aber jetzt bleiben wir noch mal bei den Tieren, die sich verwandeln, beziehungsweise bei den Pflanzen. Denn es gibt ja auch unter den Pflanzen Verwandlungskünstler.
Dr Thassilo Franke
Bei den Pflanzen gibt es sogar ganz besondere Verwandlungskünstler. Ein schönes Beispiel, was mir dazu einfällt, das ist das neuseeländische Lanzenholz Lancewood, das ist eine Pflanze, die als Jungpflanze vollkommen anders aussieht als erwachsene Pflanze. Also ähnlich wie wir es bei den Tieren ujetzt auch besprochen haben. Und zwar, wenn die aus dem Samenkorn keimt, dann entsteht ein kleiner Schößling mit richtig dunkelbraun gefleckten Blättern, fast krötenhautartig gefleckten Blättern, die wunderbar getarnt ist. Man kann die also kaum ausmachen, die, verschmilzt regelrecht mit dem Waldboden. Und warum macht sie das? Natürlich, genau wie die Kröten auch, damit sie von ihren Feinden nicht gesehen wird. Und der Feind dieser Pflanze ist eine Tierart, die es heutzutage gar nicht mehr gibt. Das ist der neuseeländische Riesenvogel. Der Moa, war, bevor der Mensch die Insel erobert hat, eigentlich der größte Pflanzenfresser, und der hatte einen langen Hals. Bis zu drei Meter konnten die groß werden, und der hatte natürlich immer eine Vorliebe für weiches, schmackhaftes Laub. Und um sich dessen Blicken zu entziehen, hat eben dieser Schößling diese braunen Blätter. Jetzt geht es aber noch weiter. Das heißt, die Pflanze wächst und wächst, und ab einer gewissen Größe werden die Blätter immer härter, immer steifer, und sie haben am Rand dann richtig scharfe Dornen dran. Also so Rand-Stacheln an den Blättern und weisen nach unten, und es hat folgende Bewandtnis: Der Vogel hat ja einen langen Hals, und wenn er natürlich versucht, dann die Blätter zu fressen, dann rammt er sich permanent diese Stacheln und diese Dornen dort ins Gesicht und nimmt dann Abstand davon. Aber sobald dann dieser Schößling die drei Meter Halslänge überwachsen hat, dann ändert er komplett seine Gestalt, bildet ganz schönes, weiches saftiges Laub aus, grasgrün, überhaupt nicht mehr getarnt, weil dann ist ja die Schwelle überschritten, wo ihm der Moa was anhaben kann.
Iska Schreglmann
Wahnsinn, wie trickreich, was für eine schlaue Art, einem Feind zu entkommen. Und wenn ich so überlege, uns Menschen stehen da ja vergleichsweise wenig bis gar keine Tricks zur Verfügung. Verwandeln können wir uns nur im Roman bei Franz Kafka in einen Käfer.
Dr Thassilo Fanke
Genau so ist es, so ist es.
Iska Schreglmann
Vielen Dank an Sie, Herr Dr. Franke, für diese tollen Metamorphosen-Geschichten aus der Natur. Und ich würde vorschlagen, wir waten jetzt aus diesem etwas überschwemmten Naturparadies im Münchner Norden zurück auf trockenem Boden.
Dr Thassilo Franke
Ja, nächstes Wochenende wate ich genau hier wieder rein, weil ich natürlich wissen will, ob die Frösche bis dahin angefangen haben, ihren Laich hier abzulegen.
Iska Schreglmann
Na, dann viel Glück!
Dr Thassilo Franke
Danke, vielen Dank.
Eine Umarmung, Streicheleinheit oder Massage: Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe ist ein urmenschliches. In der Haut sitzen bestimmte Sensoren, die es ermöglichen, dass wir berühren und berührt werden. Von Katrin Kellermann
Credits
Autorin dieser Folge: Katrin Kellermann
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Caroline Ebner, Johannes Hitzelberger
Technik: Lydia Schön-Krimmer
Redaktion: Gerda Kuhn
Im Interview:
Prof. Dr. med. Karl Heinz Brisch, Er leitet die Abteilung für Kinderpsychosomatik am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München. Er forscht über die Entwicklung der menschlichen Bindung sowie über die Behandlung und Prävention von Bindungsstörungen;
Prof. Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen, Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie, Facharzt für Klinische Pharmakologie, emeritierter Professor der FU Berlin;
Martin Grunwald, PD Dr. phil. habil. Dipl., Leiter des Haptik-Labors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung in Leipzig;
Holger Carstens, staatl. gepr. Masseur u. med. Bademeister. Berührungstrainer;
Eine Teilnehmerin der Kuschelparty
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 1 Szene Kuschelabend „Wir gehen langsam durch den Raum, wir spüren unsere Füße. Und unsere Augen sind nur soweit geöffnet, dass wir uns im Raum orientieren können und wir schauen, dass wir ganz bei uns selber ankommen, in uns hineinspüren, und den Boden wahrnehmen… “
Nach 20 Sekunden mit Text beginnen. Atmo unterm Text stehen lassen!
Sprecherin:
Es ist ein Sommerabend in München: Ein Dutzend Männer und Frauen schreiten in Strümpfen und bequemer Kleidung durch einen hellen großen Raum. In einer Ecke auf dem Boden liegen Matratzen und Kissen bereit, für den Höhepunkt des Abends, den so genannten Kuschelhaufen. Zunächst sollen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kennenlernen und Hemmungen abbauen. Veranstalter Holger Carstens ist Masseur und heute der Berührungstrainer, er trägt weiße Kleidung und spricht mit sanfter Stimme:
O-Ton 2 Carstens „Veranstaltung“ 00:20 „Es ist eine geführte Veranstaltung, das heißt, wir beginnen bei uns selber, dass wir uns selber wahrnehmen, dass wir mit uns selber tanzen, und dass wir ganz behutsam miteinander Kontakt aufnehmen, über die Augen, über Berührungen, dass wir uns die Hand reichen, oder die Schulter berühren, wer mag, kann sich umarmen. Also immer ganz frei: Jeder kann sich so verhalten, wie er das gerade möchte, wie ihm gerade zumute ist.“
MUSIK Marquis de Sade
Sprecherin:
Die Berührungen sollen ohne sexuelle Absicht und ohne Hintergedanken sein. Es gibt Regeln: Die Kuschelfans sind alle angezogen, intime Körperstellen sind tabu. Es geht um etwas Anderes, um Halten und Gehalten werden, um das Gefühl von Nähe und Geborgenheit, um Glück. Berührung befriedigt ein Grundbedürfnis - sie stillt den Hunger nach Nähe, so wie Lebensmittel den Hunger nach Nahrung stillen, sagt eine Teilnehmerin, die eine erfahrene Kuschelabendbesucherin ist:
O-Ton 3 Teilnehmerin 00:32
„So habe ich gemerkt, dass mein Körper die Berührung braucht, ohne dass ich in eine Beziehung eingehen muss, und danach bin ich glücklich und zufrieden und ich brauch nicht auf die Suche gehen. Ich kann auch mit einer Frau im Arm sein, und ich fühle mich geborgen und gehalten, ich werde auch nicht schräg angeguckt, sondern es ist einfach schön!“.
Sprecherin:
Kuschelabende bieten einen geschützten Raum, wo Berührungshungrige Gleichgesinnte treffen. Ursprünglich aus den USA nach Europa gekommen, gibt es diese Veranstaltungen seit einigen Jahren auch in nahezu jeder deutschen Großstadt. Sie sind gut besucht und sprechen eine klare Sprache: Die Sehnsucht nach sanften, liebevollen Berührungen ist unendlich und wird bei vielen durch ihr Umfeld nicht befriedigt.
MUSIK As little as light
Sprecherin:
Beim Münchner Kuschelabend folgt nach verschiedenen Lockerungsübungen wie Tanzen oder Sich-mit verbundenen-Augen-Anfassen der krönende Abschluss: Körper liegen nebeneinander, Hände streicheln über Arme, Rücken und Köpfe. Keiner weiß mehr so genau, zu wem welches Körperteil eigentlich gehört:
O-Ton 4 Carstens 00:16 „Das Verrückte ist tatsächlich, dass es im Grunde genommen egal ist, mit wem man körperliche Berührung hat. Ich sehe uns da ein bisschen wie die Schäfchen in der Herde, und da ist es auch letztlich auch egal, welches Schäfchen links oder rechts von mir läuft, mit wem ich Berührung habe, ich fühl mich einfach sicher!“
Sprecherin:
Nichts verbindet uns inniger als gegenseitiger Körperkontakt. Berührungen sind die elementarste Form der Kommunikation. Eine Umarmung kann viele Gefühle auslösen, beispielsweise spendet sie Trost und schenkt Geborgenheit. Sie wirkt unmittelbar und manchmal besser als viele Worte, bestätigt der Bindungsforscher und Psychiater Professor Karl Heinz Brisch:
O-Ton 5 Karl Heinz Brisch 00:29
„Körperkontakt in zwischenmenschlichen Beziehungen hat natürlich die Funktion, uns zu beruhigen, wenn wir aufgeregt sind, wenn wir Angst haben, dann braucht jemand, der jetzt zu uns kommt, gar nicht viel zu sagen, der sieht, dass wir sehr traurig sind, dass wir Angst haben und er nimmt uns in den Arm. Und das funktioniert natürlich selbst dann, wenn wir Menschen gar nicht kennen. Also am elften September in New York, als diese Towers eingestürzt sind, da haben sich Menschen plötzlich in den Armen gelegen und sich geklammert und festgehalten, die kannten sich gar nicht.“
Sprecherin:
Eine Umarmung, eine Hand auf dem Körper, Gehaltenwerden: Diese Berührungen vermitteln uns das Gefühl, nicht alleine zu sein! Ihre machtvolle und tröstende Botschaft funktioniert das gesamte Leben lang: Von den ersten Sekunden auf der Welt bis zum Sterbebett. Dabei kommt den allerersten Erfahrungen eine entscheidende Bedeutung zu: Denn die Sprache der Berührungen ist die erste, die ein Mensch lernt, und sie hinterlässt Spuren im Gehirn, die für immer bleiben.
MUSIK All is loved
O-Ton 6 Karl Heinz Brisch 00:45
„Normalerweise sind Eltern liebevoll zärtlich mit ihrem Baby im Körperkontakt unterwegs, das heißt, sie wickeln ihr Baby entsprechend vorsichtig, sie halten es entsprechend zärtlich und geschützt, sie machen vielleicht eine Babymassage mit ihm, und die Babys lieben es, sie entspannen sich dabei. Sie suchen diesen Körperkontakt! Babys, sobald sie können, halten sich an der Mutter fest, umarmen die Mutter und es ist sicherlich evolutionär so angelegt. Wenn man mal zu den Schimpansen geht, da haben die Schimpansenbabys die ersten zwei Jahre ganz viel Körperkontakt. Sie schlafen nachts in engem Körperkontakt mit der Mutter, was übrigens die allermeisten Babys rund um die Welt tun, nur in Deutschland gibt es so Vorstellungen, Babys sollten in einem eigenen Bett, in einem eigenen Schlafzimmer übernachten - das ist aber evolutionär sicherlich nicht so vorgesehen.“
Sprecherin:
Professor Karl Heinz Brisch, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, forscht zum Thema, wie sichere Bindungen gelingen können. Denn ausgestattet mit dem so genannten Urvertrauen, sind Kinder besser gewappnet für Schwierigkeiten, die möglicherweise im Leben auf sie zukommen werden.
MUSIK All is loved
Sprecherin:
Ein Baby ist zunächst vollkommen hilflos. Es ist darauf angewiesen, dass seine Signale richtig gedeutet und seine Bedürfnisse entsprechend gestillt werden. Auf sich alleine gestellt, könnte es nicht überleben. Und nichts versichert ihm die Anwesenheit einer Bezugsperson besser als der direkte Körperkontakt.
MUSIK Crystal Memories
Sprecher:
Zudem werden beim Kuscheln, besonders natürlich auch beim Stillen, sowohl bei der Mutter als auch beim Baby Hormone ausgeschüttet, die im ganzen Körper wirken. Das Oxytocin beispielsweise, auch als Bindungs- oder Kuschelhormon bekannt, löst im Gehirn das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit aus. Außerdem stärkt es die Bindung zwischen Mutter und Kind, was es wiederum der Mutter erleichtert, die Bedürfnisse ihres Kindes richtig zu erkennen. Andere Hormone wiederum sind ein wichtiger Motor für Wachstums- und Entwicklungsprozesse, vor allem im Gehirn:
O-Ton 7 Karl Heinz Brisch 00:42
„Das Baby wird mit ganz vielen Milliarden von Nervenzellen geboren, aber die sind ganz wenig miteinander im Kontakt und zwischen diesen Nervenzellen müssen jetzt Nervenverbindungen aufgebaut werden, und die wiederum werden nur aufgebaut, wenn das neuronale - das Gehirn-Wachstumshormon - ausgeschüttet wird, das heißt, sichere Bindung insgesamt, natürlich auch gefördert durch Körperkontakt, fördert damit nicht nur ein gutes sicheres emotionales Gefühl, sondern natürlich auch dann die Gehirnentwicklung. Und wenn die Gehirn-Vernetzung gut läuft, dann kann ein Baby seine vielleicht genetisch angelegten Potenzen, was es kognitiv, emotional, aber auch von seinen sonstigen Fähigkeiten entsprechend entwickeln, sonst würde das gar nicht gut funktionieren.“
Sprecherin:
Das Gehirn eines Babys ist also zunächst unreif. Erst durch die entsprechenden Berührungen vernetzen sich die Nervenzellen. Das Gehirn passt sich an die Welt an, in die es hineinwächst. Deshalb prägen uns die Berührungserfahrungen der ersten Jahre ein Leben lang.
Sprecher:
Das Leben von Babys, die zu früh geboren werden, hängt an einem seidenen Faden.
Angeschlossen an medizinische Geräte liegen die Winzlinge in Inkubatoren, wie Brutkästen in der Fachsprache heißen. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass gerade ihnen ein intensiver Körperkontakt gut tut. Dennoch ist die sogenannte Känguru-Methode, die auch als „Känguruhen“ bezeichnet wird, erst seit Ende der Siebziger Jahre populär, als sie von zwei kolumbianischen Kinderärzten aus der Not heraus entwickelt wurde. Der Name verweist auf das Tierreich, wo Kängurubabys nach der Geburt außerhalb des Mutterleibs reifen, und zwar im Beutel vor dem Bauch des Muttertiers.
Sprecherin:
In der Klinik der kolumbianischen Ärzte gab es keine Heizung und zu wenige Inkubatoren, weshalb man zunächst mehrere Frühgeborene zusammenlegte. Dadurch stieg aber die Infektionsgefahr und mehr Babys starben.
MUSIK All is loved
Daraufhin band man die zarten Frühchen mit einem Tuch vor den Oberkörper ihrer Mütter. Sie waren nun Haut zu Haut mit der Mutter in Kontakt. Tatsächlich überlebten mehr Babys und auch die Mütter profitierten, denn sie konnten ihr Kind besser kennenlernen und somit eine engere Bindung aufbauen.
Sprecherin:
Auch Babys, die pünktlich auf die Welt kommen, lässt man mittlerweile so schnell wie möglich auf die Haut der Mutter. Ist dies aus medizinischen Gründen nicht möglich, kann ein Säugling zwar die fehlende Nähe kompensieren, jedoch nur für eine bestimmte Zeitspanne. Kinder, die verwahrlost und ohne liebevolle Zuwendung aufwachsen müssen, erleiden irgendwann mit ziemlicher Sicherheit körperliche und seelische Schäden.
Sprecher:
Der feinfühlige Körperkontakt, die Erfahrung, dass Umwelt und Bezugsperson sich liebevoll verhalten, schützen dagegen ein Leben lang:
MUSIK Crystal Memories
O-Ton 8 Karl Heinz Brisch 00:38
„Wenn die Kinder größer werden, wird diese Erfahrung von emotionaler Sicherheit innerlich im Gehirn abgebildet, in einem Arbeitsmodell von Bindung. Und wenn dieses Arbeitsmodell sagt, wann immer ich in dieser Welt Angst habe, kommen Bindungspersonen und helfen mir. Jetzt reicht es, wenn die Kinder drei, vier, sechs, acht, zehn sind, aus, sich daran zu erinnern, wie es wäre, wenn die Bindungsperson jetzt käme, wenn ich Angst bekomme, und ich erinnere mich daran, wie es wäre, die würde mich jetzt tröstend in den Arm nehmen, und dann kann ich als Kind mich plötzlich selber beruhigen, kann angstvolle Situationen besser überstehen, als wenn ich diese Sicherheit nicht an Bord habe.“
Sprecherin:
Babys und Kleinkinder haben normalerweise keine Scheu, ihr Bedürfnis
nach Körperkontakt einzufordern. Sie klammern sich an die Mutter, klettern auf den Schoß ihrer Bezugsperson, wollen getragen werden oder kriechen zu ihren Eltern ins Bett. Bindungsforscher und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch sieht dennoch die Gefahr, dass körperliche Zuwendung im digitalen Zeitalter zu kurz kommt:
O-Ton 9 Karl Heinz Brisch 00:25
„Wenn wir heute sehen, wie Mütter mit Babys unterwegs sind und dann während sie unterwegs sind noch sehr viel mit ihrem Smartphone im Kontakt sind und das Smartphone mehr streicheln und berühren als das Baby, dann ist es nicht verwunderlich, dass Babys schon ganz scharf sind auf dieses Smartphone und auch anfangen, das Smartphone zärtlich zu berühren und zu streicheln, weil sie dort offensichtlich einen Teil ihrer Sehnsucht nach Körperkontakt und Berührungen stillen!“ (bleibt mit der Stimme oben!)
Sprecherin:
Dabei ändern sich die Bedürfnisse der Kinder mit der Pubertät ohnehin: Zwar sehnen sie sich nach wie vor nach Körpernähe, suchen sie aber nicht mehr in erster Linie bei den Eltern, sondern bei Gleichaltrigen. Mit der ersten Liebe erfahren sie dann auch eine ganz neue Lust am Körperkontakt.
MUSIK Assembling
Sprecher:
Verliebte können vom Körper des anderen erst einmal nicht genug kriegen. Allerdings berühren sich Partner oft weniger, je länger sie zusammen sind. In den USA gab es spannende Studien mit jungen Ehepaaren. Man teilte die Paare in zwei Gruppen: Die einen wurden vier Wochen lang immer wieder angehalten, sich gegenseitig zu berühren, die anderen nicht. In der Berührungsgruppe entdeckte man dann Erstaunliches: Die Laborwerte, die auf Stress hinweisen, waren reduziert, außerdem hatten die Testpersonen einen niedrigeren Blutdruck und eine erhöhte Konzentration des Bindungshormons Oxytocin im Speichel. Den Forschern zufolge kann eine Partnerschaft, in der sich die Partner gegenseitig berühren - kuscheln, streicheln oder sanft massieren – sogar das Immunsystem stärken und einen positiven Einfluss auf die seelische Gesundheit haben.
MUSIK As little as light
Sprecher:
Wer die Kraft der menschlichen Berührungen verstehen will, muss einen Blick auf ein besonderes Sinnesorgan werfen – die Haut. Mit zwei Quadratmetern ist sie unser größtes, mit fünf Kilogramm unser schwerstes und evolutionsgeschichtlich auch unser ältestes Organ.
Sprecherin:
Die Haut ist das Organ des Tastsinns. In der Fachsprache hört man auch die Begriffe Tastsinnessystem oder somatosensorisches System. Eher umgangssprachlich reden wir schlicht von „Fühlen“, treffender sind die Bezeichnungen Berührungssinn oder Körpersinn. Ein schönes Bild, denn zusammen mit der Haut erfasst dieser Sinn ja auch unseren gesamten Körper. Der Tastsinn ist unser erster Sinn:
MUSIK Crystal Memories
Sprecherin:
Bereits im Mutterbauch, in der achten Schwangerschaftswoche, reagiert ein Embryo auf Berührungen an der Stelle, die sich später einmal zum Mund ausbilden wird. Zu diesem Zeitpunkt ist der werdende Mensch nur etwa einen bis zwei Zentimeter groß, andere Sinnessysteme wie Hör- oder Gesichtssinn entwickeln sich erst später.
Sprecher:
Trotzdem haben Sinnesforscher dem Tastsinnessystem lange Zeit wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dr. Martin Grunwald ist einer der wenigen Experten, die ihre Forschungen darauf konzentrieren. Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gründete der habilitierte Psychologe das Leipziger Haptik-Forschungslabor. Sein Buch „Homo Hapticus“ ist ein preisgekrönter Bestseller. Wir könnten zwar die Augen schließen und uns die Ohren zuhalten, so betont der Autor, das Tastsinnessystem dagegen sei immer aktiv:
O-Ton 10 Martin Grunwald 00:42
„Ohne das Tastsinnessystem könnten wir den Unterschied zwischen äußerer Umwelt und unserem eigenen Körper gar nicht feststellen. Das heißt, wir wüssten ohne das Tastsinnessystem nicht, dass wir eine körperliche Einheit darstellen, und wir könnten uns auch von der äußeren Umwelt nicht unterscheiden. Man könnte sogar so weit gehen, dass das Tastsinnessystem Voraussetzung für die menschliche Bewusstseinstätigkeit ist. Also die Tatsache, dass wir am Leben sind, ziehen wir aus den Informationen, die uns das Tastsinnessystem zur Verfügung stellt.“
MUSIK Cristallisation
Sprecherin:
Doch wie funktioniert nun die Wahrnehmung einer Berührung? Wie gelangt die Information, dass uns gerade jemand streichelt, von der Haut ins Gehirn?
Sprecher:
In der Haut sitzen Sensoren, so genannte Rezeptoren, die am ganzen Körper Druck, Dehnung, Vibrationen, Kälte, Wärme, Jucken oder Schmerzen registrieren. Die Rezeptoren haben ungewöhnliche Namen wie Vater-Pacini-Körperchen, Merkel-Rezeptoren oder Meissner-Körperchen und befinden sich millionenfach in der Haut. Sie registrieren jede noch so kleine Veränderung ihrer Umwelt und leiten sie an die Nervenfasern weiter.
Sprecherin:
Das sind die „Nachrichtenhotlines“ zum Gehirn, wo die ankommenden Signale in speziellen tastsensiblen Bereichen registriert und verarbeitet werden. Körperstellen, an denen sich viele Rezeptoren befinden, beispielsweise Lippen oder Genitalien, nehmen einen entsprechend großen Bereich ein.
Sprecher:
Eine Berührung ist - rein technisch gesehen - nichts anders als eine Verformung der Haut:
O-Ton 11 Martin Grunwald 00:46
„Durch die Verformung der Körperhaut werden eine ganze Reihe von tastsensiblen Rezeptoren erregt und diese Erregungsmuster werden als kleine elektrische Impulse an das Gehirn weitergeleitet. Und das Gehirn produziert dann seinerseits verschiedene Neurotransmitter, wir erleben positive oder negative Emotionen. Und gleichzeitig wird durch die Ausschüttung der Hormone über die Blutbahn der gesamte Organismus verändert. Also die Herzfrequenz wird in der Regel langsamer, die Muskulatur entspannt sich, die Atmung wird flacher. Also Berührungsreize haben immer eine ganzkörperliche Reaktion zur Folge – in Form von Spannungs- oder Entspannungszuständen.“
MUSIK As little as light
Srecher:
Im Jahr 1999 machten schwedische Forscher eine spannende Entdeckung: Sie fanden eine bis dahin unbekannte Art von Rezeptoren und dazugehörige Nervenleitungen, die so genannten C-taktilen Fasern. Diese sind spezialisiert auf sanfte, rhythmische Berührungen, die mit einer Geschwindigkeit von etwa drei Zentimetern pro Sekunde ausgeführt werden. Ganz klar: Diese trockenen Daten sind der Steckbrief einer Streicheleinheit.
MUSIK Assembling
Sprecherin:
Die Wissenschaftler hatten sozusagen die „Zärtlichkeitsleitung“ gefunden. Eine Nerven-Hotline, die ausschließlich für zärtlichen Input geschaffen ist. Die C-taktilen Fasern befinden sich an allen behaarten Körperstellen. Das heißt, es gibt sie beispielsweise nicht an den Fußsohlen oder an den Handinnenflächen. Vermutlich ist das der Grund, warum uns eine rhythmische Berührung an der Fußsohle eher kitzelt als wohltut. Da liebevolle und sanfte Berührungen für unsere Entwicklung und unser Wohlbefinden existentiell sind, erscheint es evolutionär gesehen logisch, dass es auch auf neuronaler Ebene entsprechende Strukturen gibt. Dennoch galt diese Entdeckung zunächst als Sensation:
O-Ton 12 Müller-Oerlinghausen 00:27
„Man könnte sich ja vorstellen, Wohlgefühl entsteht dadurch, dass verschiedene Eindrücke – Druck, Temperatur, Streichen, und so weiter, Berührung eben, im Gehirn irgendwie zusammengesetzt werden, und dass daraus dann ein Wohlgefühl entsteht - quasi auf irgendeiner Ebene. Es ist aber anders, das Wohlgefühl als solches wird eben durch ein eigenes Nervenfasern-Netz quasi hergestellt.“
Sprecherin:
Professor Bruno Müller-Oerlinghausen ist klinischer Psychopharmakologe und ein international anerkannter Experte für die Behandlung von Depressionen. An der psychiatrischen Klinik der Freien Universität Berlin leitete er eine Forschungsgruppe und führte dabei körpertherapeutische Methoden ein. Eine spezielle Massagetechnik, die er zusammen mit einer Körpertherapeutin entwickelte und in einer Studie erforschte, zeigte überraschend positive Effekte: Seinen depressiven Patienten ging es deutlich besser. Die so genannten psychoaktiven Massagen zielen nicht in erster Linie auf die Muskeln oder das Bindegewebe ab, sondern auf die Haut. Denn die besitzt laut Bruno Müller-Oerlinghausen eine spezifische Intelligenz:
O-Ton 13 Müller-Oerlinghausen 00:35
„Sie entwickelt sich ja in der embryonalen Entwicklung aus dem sogenannten Ektoderm, das ist das äußere von den drei verschiedenen Keimblättern, die es gibt, und das Gehirn entsteht als eine Einstülpung dieses Ektoderms, das heißt, schon in der Entwicklungsgeschichte haben wir eine ganz enge Verbindung zwischen Nervensystem und Haut. Und ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, der hier bei den Wirkungen von Massage auf die Seele eine Rolle spielt.“
Sprecherin:
Einige Depressionsforscher gehen davon aus, dass bei depressiven Menschen die Wahrnehmung ihrer inneren Gefühlswelt und der Außenwelt nicht zusammenpasst. Man spricht von einer gestörten „Kohärenz“. Möglicherweise können Massagen auch deshalb positiv wirken, weil sie das Körpergefühl verbessern.
Sprecher:
Sicher ist: Berührungen beeinflussen unsere Stimmung, unser Denken und unsere Gefühlswelt auf eine faszinierende Art und Weise:
O-Ton 13 Bruno Müller-Oerlinghausen 00:36
„Es gibt Studien, die gezeigt haben, dass eine Massage vor der Operation dazu führen kann, dass die Patienten aus der Narkose besser aufwachen, dass sie weniger strampeln, weniger unruhig sind… Das ist ähnlich wie die Massage bei Schwangeren, wo wir auch Befunde haben, dass eine wiederholte Massage dazu führt, dass Schwangere bei der Entbindung weniger Schmerzen haben, weniger Schmerzmittel brauchen, und vor allem dass das Risiko geringer wird, dass sie nach der Entbindung depressiv werden.
MUSIK As little as light
Sprecherin:
Berührungen spielen eine große Rolle für unser soziales Leben und unsere Beziehungen. Doch immer mehr Menschen leben in Singlehaushalten, und auch die Arbeitswelt reißt Familien auseinander. Die Sehnsucht nach körperlicher Nähe ist bei Menschen in allen Altersstufen oft groß und ungestillt. Psychologe Martin Grunwald würde sich wünschen, dass es Veranstaltungen wie Kuschelabende in Zukunft auch auf Rezept gibt. Und auch Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch sieht gesellschaftlichen und politischen Handlungsbedarf:
O-TON 14 Karl Heinz Brisch 00:26
„Wir haben genügend Altenpflegerinnen und Altenpfleger, die sagen, ich würde das gerne tun, manchmal einen alten Menschen dann tröstend in den Arm nehmen und ein bisschen die Hand halten und Zeit und ein Ohr haben, aber bei den heute ökonomisierten Abläufen, auch in der Altenpflege, genauso wie in der Kinderkrankenpflege oder dergleichen, bleibt dafür leider wenig Zeit und das braucht dringend eine Veränderung.
Dias literarische Lesen begann im Hellenismus. Man las laut, was für Lyrik und Dramen noch bis in die Neuzeit galt. Stummes Lesen galt als gefährlich, denn die Inhalte der Lektüre waren nur schwer sozial kontrollierbar. Von Carola Zinner (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Irina Wanka, René Dumont
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Thomas Rommel (Dr.; Professor; Literaturwissenschaftler)
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Sehnsuchtsort Paradies - Die Religionen beschreiben das Paradies als einen Ort, wo Überfluss und Reichtum herrschen und es keine Gewalt gibt. Das Paradies ist ein Gegenentwurf zum Leben im Hier und Jetzt. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Barbara Schneider
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Andreas Neumann
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Bernhard Lang, Theologe und Religionswissenschaftler
Daria Pezzoli-Olgiati, Professorin für Religionswissenschaften
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Zitator
Die Menschen „lebten wie Götter und hatten das Herz ohne Kummer, ohne Plagen und Jammer. Sogar das klägliche Alter nahte nicht, sondern immer an Füßen und Händen sich gleichend, freuten sie sich am üppigen Mahl und kannten kein Unheil. Wie vom Schlaf überwältigt, starben sie; alles Erwünschte war ihnen eigen.“ (Hesiod)
MUSIK kurz hoch
Sprecherin
Rund 700 Jahre vor Christus skizziert der Dichter Hesiod, der als Bauer in Griechenland gelebt hat, den Mythos einer vollkommenen, glücklichen Zeit.
In seinem Lehrgedicht „Werke und Tage“ nennt er diese Zeit das ‚Goldene Zeitalter‘ und meint damit eine perfekte Urwelt, die er ganz zu Anfang der Menschheitsgeschichte verortet. Diesen idealen Urzustand gibt es nicht mehr.
MUSIK 2: James Horner: „Betrayed“
Nach und nach hat sich die Welt vom Guten zum Schlechten gewandelt, auf das Goldene Zeitalter folgten weitere Zeitalter, in denen das Leben für die Menschen immer mühsamer wird und nach und nach Gewalt und Krieg in die Welt kommen. Nunmehr, so sieht es Hesiod, lebt der Mensch im ‚eisernen Zeitalter‘, wo Gewalt herrscht, Recht gebrochen wird, die Menschen körperlich schwer arbeiten müssen und der Alltag von Sorgen begleitet ist. Den Menschen bleibt nur die Hoffnung, dass irgendwann das Goldene Zeitalter zurückkehrt.
Sprecher
Der Mythos vom Goldenen Zeitalter, wie ihn Hesiod aufschrieb, findet weite Verbreitung in der Antike. Andere Schriftsteller greifen diese Vorstellung auf. Aber nicht nur in der antiken Mythologie gibt es die Idee einer vollkommenen, glücklichen, ja paradiesischen Zeit, sagt der katholische Theologe und Religionswissenschaftler Bernhard Lang:
1 OT Bernhard Lang
Eigentlich findet man in sehr vielen Kulturen Vorstellungen von einer idealen Urzeit, von einem goldenen Zeitalter auf das dann ein langsamer Abfall folgt, der dann schließlich in der Gegenwart, im eisernen Zeitalter, endet, also in unserer relativ schlechten Zeit. Und man sehnt sich auf eine große Zeitenwende, die die ganze Geschichte wieder an den Anfang, in das Goldene Zeitalter zurückführt.
Sprecher
Die Weltliteratur kennt zahlreiche und unterschiedliche Geschichten von einer idealen Urzeit. Von Orten, an denen Frieden und Harmonie zwischen Gott beziehungsweise Göttern und den Menschen herrscht. Die wohl berühmteste Erzählung findet sich am Anfang der Bibel.
MUSIK 3 Marcus H. Rosenmüller: „Amrita und... aus: Sommer in Orange“ + ATMOS Vogelgezwitscher, Löwe, Affe, Gewitter
Sprecherin
‚Garten Eden‘ nennt die Bibel den Ort, den Gott geschaffen hat. Hier kümmert sich Gott um den Menschen. Er pflanzt Bäume an, von deren Früchten sich der Mensch ernährt. Eine Quelle bewässert das Paradies und sorgt dafür, dass in dem Garten alles wächst und gedeiht. Hier lebt der Mensch in einem Urzustand, in dem es keinen Tod gibt.
Atmo Ende
Sprecherin
Der Religionswissenschaftler Bernhard Lang beschreibt das biblische Paradies als ‚Wildpark‘. Dabei verweist er auf die Herkunft des Wortes „Paradies“ aus dem Persischen. In der griechischen Übersetzung der biblischen Paradieserzählung wird dieses Wort zum ersten Mal gebraucht. ‚Paradies‘, sagt der Theologe, bezeichnet einen umfriedeten Park, einen Wildpark, wie man ihn in der Antike im persischen Raum fand. So verwendet es der griechische Schriftsteller Xenophon, der als Heerführer im Dienst des persischen Königs Kyros stand:
2 OT Bernhard Lang
Paradies als Stichwort ist ein persisches Wort, von dort ins Griechische gekommen. Um das Jahr 400 vor Christus hat Xenophon einen solchen Wildpark kurz beschrieben. Er gehört dem König Kyros … dort gibt es große Bäume und vor allem wilde Tiere, die der Herrscher erlegt. Also eine Vorstellung, die mit dem Königtum zu tun hat und die besagt, der König bändigt die Natur. Dieser Wildpark ist gebändigte Wildnis und genau das haben wir in der biblischen Paradies-Erzählung als erste fast unsichtbare Grundlage. Das sehen Sie sehr leicht, wenn Sie bedenken, dass Adam, kaum ist er geschaffen, den Tieren vorgestellt wird oder die Tiere ihm und er Namen gibt.… Die ursprüngliche Gestalt der Paradieserzählung machte Adam zu einem Tierpfleger oder Aufseher eben dieses Jagdparks.
Sprecher
Dieser Park ist ein Ort, an dem der Mensch alles hat, was er zum Überleben braucht.
Sprecherin
Gleichzeitig ist der Urzustand als Wildpark allerdings nur eine Dimension dessen, wie die Bibel das Paradies beschreibt. Denn, sagt der Professor für Altes Testament und Religionswissenschaft, Bernhard Lang, die alte Paradieserzählung wurde durch einen Textzusatz erweitert und damit zu einer Erzählung über einen Liebesgarten umgearbeitet:
3 OT Bernhard Lang
Den Ursprung eines Liebesgartens kennen wir nicht. Woher die Idee eigentlich kommt, wissen wir nicht. Aber der Liebesbaum in der Mitte des Paradieses ist bekannt: Baum der Erkenntnis, der Baum der Liebe, Baum des Liebesspiels. Und gedacht ist hier an eine Pflanze, die die Liebeslust des Paares befördert. Im Hohelied Salomons in der Bibel kommt auch das Wort Paradies, hebräisch Pardes, vor, also ein Fremdwort im Hebräischen. Und dort wird der Körper der Geliebten als ein Paradiesgarten geschildert: „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut ein verschlossener Born, ein versiegelter Quell an deinen
Wasserrinnen, ein Granatapfel-Paradies mit köstlichen Früchten, Henna-Dolden samt Narden-Blüten, Narden, Krokus, Gewürze und Zimt“. Alle Weihrauchbäume, also alle Wohlgerüche des Orients sind hier in diesem Garten, der mit dem Leib der Geliebten gleichgesetzt wird, versammelt.
Sprecher
Über die Jahrhunderte hinweg hat diese Erzählung den Theologen Rätsel aufgegeben. Exegeten und Interpreten der Bibel stritten heftig darüber, ob Adam und Eva im Paradies miteinander geschlafen hatten.
Sie entwarfen wilde Theorien davon, wie eine Fortpflanzung ohne Sexualität im Paradies möglich gewesen sein könnte. Für den Theologen Bernhard Lang ist klar: In der Erzählung verbietet Gott den Beischlaf. Dahinter steckt seiner Auffassung nach ein altes mythisches Gedankengut, nach dem die Götter das Geheimnis der Fortpflanzung für sich behalten wollen.
MUSIK 4
Sergio Assad: “L'Alba” aus: Yesterday's Tomorrow M0052797101 (26 Sekunden)
Sprecherin
Adam und Eva ist es strikt verboten, von dem Baum der Erkenntnis zu essen. Dass sich das erste Menschenpaar nicht an dieses Verbot hält und sich vom Widersacher Gottes verführen lässt, hat Konsequenzen. Die Menschen entdecken die sexuelle Lust, gleichzeitig setzt die Übertretung des göttlichen Gesetzes, nicht von dem Baum zu essen, dem Aufenthalt im Paradies ein jähes Ende. Gott wirft das erste Menschenpaar aus dem Paradies.
MUSIK 5 Philip Glass: I. In the summer house
Sprecher
Das Paradies, wie es die Bibel beschreibt, gibt es nicht mehr. Was bleibt ist die Erzählung von einem idealtypischen Ort. Der Garten Eden wird zum perfekten Ort, der im Gegensatz zur Lebenswelt der Menschen steht: Wo die Menschen hart arbeiten müssen, um sich und ihre Sippen zu ernähren. Wo Hungersnot und Dürre den Alltag bestimmen. Und wo sie mit Kriminalität und Gewalt konfrontiert sind.
Das Paradies, wie es beispielsweise die Bibel beschreibt, ist ein perfekter Gegenentwurf zur realen Welt und zu den Erfahrungen des Alltags. Religionswissenschaftler haben für diese Vorstellungen den Begriff ‚Gegenwelten‘ geprägt:
4 OT Pezzoli-Olgiati
Das sind Welten, die man nur durch religiöse Erzählungen oder religiöse Bilder kennenlernen kann, weil sie nicht zur Verfügung stehen für die menschliche Erfahrung. Und ich denke, die Paradiesvorstellungen gehören zu diesen Gegenwelten. Das sind so Entwürfe von Welten, die vermittelt werden, in Religionen durch verschiedene Medien.
Sprecher
Diese Gegenwelten haben eine Funktion. Sie wollen erklären, warum die Welt so ist, wie sie ist, sagt Daria Pezzoli-Olgiati, Professorin für Religionswissenschaften an der LMU München. So gesehen steckt hinter den Gegenweltsentwürfen ein je eigenes Welt-Erklärungsmodell - bei dem ein religiöses Weltbild zum Ausdruck kommt, in dem aber auch die jeweiligen religiösen Grunderfahrungen reflektiert werden:
5 OT Pezzoli-Olgiati
Die Idee: früher war der Menschen in einer ganz anderen Situation, einer idyllischen Situation, im Paradies vor unsere Schöpfung fast. Und da mussten die Menschen gar nichts tun, einfach nur genießen und da sein. Aber aus dem Gründen, die wir meist kennen: Versuchung, Lust mehr zu wissen, Lust mehr zu können, verschwand dieser Zustand und die Menschen lebten dann so, wie wir es kennen. Also diese Mythologien tendieren dazu den Zustand zu erklären als eine
Entwicklung einer irrealistischen und stabilen Zeit zu unserer Zeit, und ich denke, Paradies-Mythologien gehören auch dazu. Sie zeigen auf, dass das Leben, dass das Leben, das wir haben, eigentlich fragil, nicht ganz beherrschbar ist und versuchen, das zu kontrastieren mit Welten, die ganz stabil und wunderbar sind.
Sprecher
Die Welt, in der wir leben, ist fragil und verwundbar. Das ist, wenn man so will, eine menschliche Grunderfahrung mit der sich religiöse Weltbilder auseinandersetzen. Dabei entwerfen sie nicht nur Idealbilder davon, wie die Welt einmal gewesen sein könnte. Viele Kulturen kennen die Zukunftssehnsucht und Hoffnung auf ein Paradies als Ziel- und Endpunkt des Lebens.
Sprecherin
In der Mythologie spielt der perfekte Ort im Jenseits immer wieder eine Rolle. In der griechischen Mythologie stellt man sich das Paradies als einen Ort vor, der fernab von der empirisch erfahrbaren Alltagswelt liegt, sagt Bernhard Lang:
6 OT Bernhard Lang
Das ist die Idee des Elysiums der altägyptischen und griechischen Mythologie, also ein idealer Ort ewigen Frühlings und Sommers, manchmal auch in die Unterwelt verlegt, so in der Aeneis des Vergils, manchmal als ferne Inseln aufgefasst, als Aufenthaltsort der Seligen auch der Toten.
MUSIK 6 James Horner: „First Recognition“ (42 Sek.)
Sprecherin
Die Literaturgeschichte kennt zahlreiche Werke, die diese mythologischen Erzählungen aufgreifen. Wohl das bekannteste Beispiel ist der italienische Dichter Dante Alighieri. Er wählt im Mittelalter, um 1300 nach Christus, Vergils „Aeneis“ als Vorlage für seine „Göttliche Komödie“. In dem Epos durchwandert Dante als Ich-Erzähler zusammen mit seinem Jenseitsführer Vergil die Hölle, er erklimmt den Berg der Läuterung, wo er selbst Buße tun muss, ehe er endlich die Spitze des Berges und den Eingang zum irdischen Paradies erreicht.
.
7 OT Bernhard Lang
Wer dort anlangt, der betritt das irdische Paradies, das dem Elysium der griechischen Mythologie entspricht. Dort wird der Wanderer, das ist Dante selbst und sein Führer Vergil von der Freundin oder Geliebten Dantes empfangen. Hier kommt es also zu einer großen emotionalen Begegnung. Diese Idee des Wiedersehens im Jenseits in einer paradiesischen Landschaft kommt aus der antiken Welt und ist bis heute eben sehr weit verbreitet.
Leben wir mehr als einmal? Eine Frage, die Menschen immer schon beschäftigt. Antworten findet man vor allem im Hinduismus und Buddhismus, aber auch in anderen religiösen Vorstellungen. Was genau besagen die Konzepte von Seelenwanderung und Wiedergeburt und welche Konsequenzen können sie für das alltägliche Leben haben? (BR 2022)
Autor/in dieser Folge: Sylvia Schopf
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Franziska Ball, Christian Jungwirth, Christian Schuler
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Jens-Uwe Hartmann, Professor em. am Institut für Indologie und Tibetologie an der Ludwig-Maximilian-Universität, München
Franz Winter, Religionswissenschaftler, Professor an der Karl-Franzens-Universität, Graz
Josef-Franz-Thiel, Professor em. der Ethnologie, ehemaliger Direktor des Weltkulturenmuseums, Frankfurt
Engin Iktir, Reinkarnationstherapeut und Heilpraktiker für Psychotherapie in Frankfurt/Main
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Literaturtipps:
Ronald Zürner, Reinkarnation – Einführung in die Wissenschaft der Seelenwanderung, Govinda Verlag, Zürich 2005
Harald Wiesendanger, Wiedergeburt – Herausforderung für das westliche Denken, Fischer Verlag, Frankfurt /Main
Jack Hawley (Hrsg.) Bhagavad Gita – Der Gesang Gottes, eine zeitgenössische Version für westliche Leser, Übersetzung, Peter Kobbe, Goldmann Verlag München
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO: Herzschlag + Atmung (auch dem Folgenden unterlegen)
SPRECHERIN
Der Mensch atmet. Das Herz schlägt. Kommt beides zum Stillstand, gilt der Mensch als tot. Und dann?
ATMO (endet)
ZITATOR
Das war’s! Aus und vorbei. Mit dem Tod endet alles.
SPRECHERIN
So die Haltung von Atheisten, für die weder Gott noch Götter oder ein Leben nach dem Tod existiert. Doch gibt es wohl kaum eine Religion, die nicht davon ausgeht, dass es im Menschen eine Lebenskraft, ein Lebensprinzip gibt, das auch „Bewusstsein“, „Höheres Selbst“ oder „Seele“ genannt wird, das beim Tod den Körper verlässt und weiter existiert. Und wie sieht das aus?
SPRECHER
Sind Körper und Seele auch über den physischen Tod hinaus miteinander verbunden? Oder existieren sie unabhängig voneinander? Durchlebt jede Seele nur ein einziges Leben oder mehrere?
MUSIK (m03, Sinfonie Nr.4 G-Dur, Gustav Mahler, 1:05)
O-Ton 01 (0’15) Franz Winter
Prinzipiell gilt fürs Christentum: Es gibt eine sehr enge Anbindung der Seele an den Körper, was sich vor allem darin spiegelt, dass man die beiden – Körper und Seele - nicht auseinanderdividieren kann; und gemeint ist durchaus, dass am Ende der Zeiten sozusagen Körper und Seele zusammengefügt wird.
SPRECHERIN
Erklärt der Grazer Religionswissenschaftler und Universitätsprofessor Franz Winter. Nach christlich-jüdischem Verständnis durchläuft also eine Seele in einem Körper ein Leben. Am letzten Tag der Welt, dem sogenannten „Tag des Jüngsten Gerichts“, an dem die Toten wieder auferstehen, vereint sich die Seele dann wieder mit dem einstigen Körper. „Eine Seele - ein Körper – ein Leben“ - dies ist das Konzept von Christentum, Judentum und auch dem Islam. – Aber, könnte es nicht auch anders sein?
MUSIK hoch
ZITATOR
„Ist es denn ausgemacht, dass meine Seele nur einmal Mensch ist?“ 1)
SPRECHER
Fragt der Dichter, Dramatiker und Philosoph Gotthold Ephraim Lessing und der französische Aufklärungsphilosoph Voltaire formuliert kurz und knapp:
ZITATOR
„Zweimal geboren zu werden ist nicht erstaunlicher als einmal.“ 2)
MUSIK (Z8015897130, Lethargia more red, 1:00)
SPRECHERIN
Schon die Grabbeigaben vieler Kulturen, die den Toten ins Jenseits begleiten sollen, lassen vermuten, dass die Menschen bereits in früheren Zeiten an so etwas wie „Wiedergeburt“ glaubten. Eine Vorstellung, die möglicherweise aus der Beobachtung der Natur entstand, in der es ein beständiges Werden und Vergehen gibt: Sonne und Mond, die Jahreszeiten, die Pflanzen – alles kommt und geht. Wieder und immer wieder. Warum sollte das nicht auch für den Menschen gelten, der ja Teil dieses Kosmos’ ist?
MUSIK hoch
SPRECHERIN
Viele sogenannte „Ur- oder Naturvölker“ gehen davon aus, dass man mehr als einmal lebt, erzählt Josef-Franz Thiel, Ethnologe, Religionswissenschaftler und ehemaliger Direktor des Weltkulturenmuseums in Frankfurt:
O-TON 02 (0’33) JOSEF F. THIEL
Die meisten Ethnien haben die Vorstellung von zwei Seelen. Davon gehen sie aus. Da ist zunächst die Lebensseele oder Körperseele wie man sie auch nennt. Wenn der Mensch stirbt, ist auch diese Seele mitgestorben. Die zweite Seele ist die Freiseele. Wenn der Mensch nachts träumt, geht sein Leben weiter, aber sie geht auf Wanderschaft. Und wenn er stirbt, stirbt sie nicht. Sie überlebt und wird dann in das Ahnenreich gehen.
SPRECHERIN
Von dort kann sie auch wiedergeboren werden und zwar als Nachkomme innerhalb ihrer einstigen Familie, dem Clan oder der Sippe. Deshalb versuchte man früher gleich nach der Geburt eines Kindes mittels magischer Praktiken herauszufinden, welcher Ahn in dem Neugeborenen wiederauflebt und entsprechend folgte die Namensgebung.
SPRECHER
Auch in der europäischen Tradition kennt man diesen Brauch. Kinder werden nach Großvater, Großmutter oder einem anderen Familienangehörigen benannt. Ein Hinweis oder eine Hoffnung, dass in den Enkeln etwas von den Vorfahren fortlebt.
MUSIK (M0011691Z00, Sitar masters, 0:15)
ZITATOR
Wie ein Mensch alte Kleider ablegt und neue anzieht, so gibt die Seele alte und unbrauchbar gewordene Körper auf und nimmt neue physische Körper an. 3)
SPRECHER
Heißt es in der Bhagavad Gita, einer der zentralen Schriften des Hinduismus. Was es mit der Seele in dieser Religion auf sich hat, erklärt der Indologe Jens-Uwe Hartmann, emeritierter Professor der Ludwig-Maximilian-Universität in München:
O-TON 03 (0’27)
Im Hinduismus geht man davon aus, dass es eine dauerhafte Einheit gibt, die tatsächlich von einer Existenz in die nächste weiterwandert. Das indische Wort dafür ist Atman. Und das wird bei uns mit Seele übersetzt. Etwas, was uns ausmacht. Etwas Dauerhaftes, nicht Greifbares, das dem Menschen innewohnt und ihn begleitet.
MUSIK (C1523050011, Harappa, 0:45)
ZITATOR
Für die Seele gibt es weder Geburt noch Tod. Sie ist immerwährend, ewig dieselbe, unwandelbar und wird nicht getötet, wenn der Körper getötet wird. Nach dem Tod verlässt sie den Körper; um in einem anderen wiedergeboren zu werden. 4).
SPRECHERIN
Heißt es in Bhagavad Gita.)) Im Hinduismus kann man also von einer Seelenwanderung sprechen. Denn eine Seele kommt immer wieder in neuen, anderen Körpern in die Welt. Im Buddhismus hingegen gibt es keine dauerhafte, unvergängliche Seele, erzählt der Indologe und Buddhismus-Spezialist Jens-Uwe Hartmann:
O-TON 04 (0’34) JENS-UWE HARTMANN
Das liegt daran, dass der Buddhismus von der Grundwahrheit ausgeht, dass alles vergänglich ist. Und von dieser Voraussetzung aus, kann es keine dauerhafte Seele geben, die von einer Existenz in die nächste wandern würde. Im Buddhismus nimmt man an, dass so ein Bewusstseinsimpuls von einer Existenz in die nächste weitergeht. Im Todesfall verlässt das Bewusstsein den Körper und dass die Summe der guten und schlechten Verhaltensweisen, gekoppelt an das Bewusstsein, weiterwandert.
SPRECHERIN
Und was unterscheidet nun die Vorstellung einer ewigen, unveränderlichen Seele vom buddhistischen Konzept des Bewusstseins?
O TON 05 (0’17) JENS-UWE HARTMANN
Das Bewusstsein ist ein Prozess, der sich ständig ändert. Das ist keine Sekunde lang gleich. Unser Bewusstsein ändert sich in einem Moment durch die ständig neuen Eindrücke, die wir erleben. Es ist wie ein Bankkonto, auf dem Soll und Haben verbucht wird und das man in die nächste Existenz mitnimmt.
SPRECHERIN
Und diese Eindrücke und Erfahrungen ebenso wie alle Handlungen, Gedanken und Gefühle, die jeder im Verlauf seines Lebens erfährt, haben Auswirkungen auf das aktuelle oder das nächste Leben. Und alles, was dem Menschen im jetzigen Leben widerfährt, hat seine Ursachen in vergangenem Tun - in dieser oder einer früheren Existenz. Das ist die Lehre vom Karma, einem zentralen Prinzip von Buddhismus und Hinduismus.
SPRECHER
Karma ist das kosmische Gesetz von Ursache und Wirkung. Was immer man tut, denkt und empfindet, hat Konsequenzen in der Zukunft nach dem Motto, das sich auch bei Paulus in der Bibel findet:
ZITATOR
„Was der Mensch sät, wird er ernten.“ 5)
SPRECHER
Oder populär ausgedrückt: „Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.“
SPRECHERIN
Die Karmalehre ist elementar für das Konzept der Wiedergeburt. Denn das Karma – also alles Tun - bestimmt, in welchem Körper, welcher Familie, welchem Land, unter welchen Umständen die Seele bzw. das Bewusstsein wiedergeboren wird. Was das konkret bedeuten kann, erläutert der Indologe Jens-Uwe Hartmann:
O-TON 06 (0’30) JENS-UWE HARTMANN
Jemand, dem es in diesem Leben schlecht geht, der hat zu einem früheren Zeitpunkt versäumt, bessere ethisch-moralische Grundlagen zu leben, die sein jetziges Leben verbessert hätten. Und das wird als Ansporn genommen. Wenn du willst, dass es dir in der Zukunft bessergeht, musst du jetzt dafür Sorge tragen, dich so zu verhalten, dass du die Grundlagen dafür schaffst. Das ist im Grunde die Quintessenz der ethischen Vorstellungen in allen indischen Religionen. Die Verantwortung des Einzelnen ist zentral.
Astor Piazzolla gilt als Erneuerer des Tangos. Der Komponist und Bandoneonspieler aus Argentinien hat den "Tango Nuevo" erfunden. Seine leidenschaftliche Musik hat die Konzertsäle der Welt erobert. Autor: Martin Trauner (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Stefan Merki, Kia Ahrndsen
Technik: Robin Auld
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Luis Borda: argentinischer Gitarrist und Tangokomponist, lebt in München
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK: „Decarissimo“ aus: „Piazzolla interpreta a Piazzolla“ 1961
ERZÄHLERIN
Astor Piazzolla spielt: - ein Stück von Astor Piazzolla. „Decarissimo“. Es ist das Jahr 1961. Piazzolla, 40 Jahre alt, bedient das Bandoneon: Begleitet von seinem Ensemble: Klavier, Kontrabass, Geige und mit dabei ein Gitarrist. Horacio Malvicino. Der erinnert sich Jahre später an den etwas schwierigen Maestro:
ZITATOR (Horacio Malvicino)
Piazzolla war ein Perfektionist und er verlangte von allen höchste Präzision. Es war wie beim Militär: Man durfte keine falsche Note spielen!
1. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Der war auch ein bisschen so ein Pedant. - Der war ein bisschen so: Hier bin ich. Piazzolla. Der Beste der Welt!
ERZÄHLERIN
„Der Beste der Welt“! Ja, selbstbewusst war er durchaus -
Schließlich hatte er den Tango revolutioniert, ,
MUSIK pompös aus
2. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Er hatte das erfunden: „Tango nuevo“.
ERZÄHLERIN
Sagt der in Buenos Aires geborene und in München lebende Musiker Luis Borda. -
„Weltberühmt“ war Piazzolla in den 1960 Jahren wahrlich noch nicht. Aber immerhin: zumindest in Argentinien war er bekannt wie ein bunter Hund…
3. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Piazzolla war ein bisschen immer so, kann man sagen, ein Angeber…Hier bin ich. Und jetzt fängt die Sache an…
MUSIK: „Contrabajeando“ - „Piazzolla interpreta a Piazzolla“ 1961 -
erster „Tusch“ freistehend
ERZÄHLERIN
„Contrabajeando“. Auch ein Piazzolla-Stück des „Tango nuevo“ – Nur, das hört sich erstmal doch eher an wie eine Etüde. Eine Etüde für einen Kontrabassisten…
4. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Contrabajeando. – Ist einem Bassisten gewidmet. „Kontrabass“- „Contrabajeando“!
MUSIK hoch
ERZÄHLERIN
Und dann kommt er doch noch: Der Tango. Aber wie!
5. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Als ich Piazzolla das erste Mal hörte, dachte ich, das ist die Musik, die ich möchte.
MUSIK hoch
ERZÄHLERIN
In „Contrabajeando“ ist alles drin, was einen Piazzolla-Tango ausmacht: Gefühl. Leidenschaft. Und vor allem: Perfektion. Nur, es mag sogar nicht mehr nach einem traditionellen Tango klingen… Luis Borda:
6. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Die Musik von Piazzolla war ein bisschen eine andere Dimension. – Nicht besser, nicht schlechter, eine andere Dimension, eine andere Geschichte als der traditionelle Tango…
ERZÄHLERIN
Ist das überhaupt noch Tango? Oder eher eine Mixtur aus Jazz, E-Musik und Tangoelementen. Selbst Piazzollas Gitarrist Horacio Malvio ist sich nicht sicher, er fragt bei Experten nach…Die antworten: Natürlich ist das Tango. - Trotzdem: die Tango-Traditionalisten, die alten Tangoliebhaber, ihnen schienen Piazzollas Werke zu artifiziell, kaum mehr tanzbar zu sein; sie kann man nicht überzeugen:
ZITATOR (Horacio Malvicino)
Jeder von uns Musikern im Ensemble bekam anonyme Anrufe oder Drohbriefe. Aber wir glaubten an diese Musik. Und der Jugend gefiel es auch…
7. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Und als ich Piazzolla gehört habe, ich war 17. Das war für mich ein Wunder! – Weil das war die Musik von meiner Stadt, von Buenos Aires – aber eine andere Sprache!
MUSIK hoch und aus, dann:
ATMO: Mar del Plata 1920
MUSIK „Amurado“ (wehmütig)
ERZÄHLERIN
Astor Piazzolla kommt am 11. März 1921 in Mar del Plata, einer kleineren Stadt in der Provinz Buenos Aires, zur Welt. Sein Vater Vicente stammt von apulischen Einwanderern ab, auch die Vorfahren seiner Mutter kommen ursprünglich aus Italien. Vater Vicente betreibt in Mar del Plata einen kleinen Fahrradladen, obwohl ihn Motorräder eigentlich mehr interessieren…Aber: vor allem ist er ein leidenschaftlicher Tango-Liebhaber. Und trotzdem beschließt er - Sohn Astor ist gerade mal vier Jahre alt geworden – der Heimat des Tangos „Adiós“ zu sagen und sein Glück in den Vereinigten Staaten zu suchen. In New York.
ATMO (New York 1925)
MUSIK (düster)
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Ich habe ziemlich viel von New York in mir. Ich habe dort gelernt, mich fürs Leben abzuhärten, für mich selbst zu sorgen.
ERZÄHLERIN
Sagt der Sohn Astor Piazzolla einmal in einem Interview. – Familie Piazzolla findet eine Unterkunft in der 8th Street, das bekannte „Little Italy“ ist nicht weit weg. Astor besucht in New York die Schule, lernt Englisch mit New Yorker Akzent, und er lernt das harte Leben in der Stadt kennen: Bandenkriege, Mafia, Armut und überall: Gewalt -
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Und all das, die Gewalt und die Gefühle, all das, was New York ausmacht, ist in meiner Musik enthalten.
ERZÄHLERIN
Vater Vicente findet nach längerer Arbeitssuche endlich eine Anstellung als Frisör. Und er kümmert sich um seinen Sohn, sein einziges Kind, er will dessen Talente entdecken, er will ihn fördern. Also schenkt er Astor zum Geburtstag Boxhandschuhe. Vielleicht wird er ja mal Boxer? Oder er überrascht ihn zu seinem achten Geburtstag, mit etwas ganz anderem:
(ZITATOR (Astor Piazzolla)
Was ist denn das? )
MUSIK (Bandoneon)
ERZÄHLERIN
Ein Bandoneon. Ein seltsames Instrument. Eine Mischung aus tragbarer Orgel und Akkordeon. Das Bandoneon wurde in Deutschland erfunden und irgendwann war es d a s Instrument des Tangos:
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Um dem Alten zu gefallen, versuchte ich es zu lernen. Ich war ziemlich ungeschickt. Anfangs war ich sogar richtig schlecht.
MUSIK
8. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Und da hat er mit dem Bandoneon angefangen, der Vater hat ein billiges Bandoneon zufälligerweise gefunden und für ihn gekauft…und er hat angefangen ohne Lehrer, denn es gab keine Lehrer. Und das war das, was ich die „ursprüngliche Beziehung“ nenne zwischen Piazzolla und der Tangomusik…
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Ich wusste nicht, ob ich gut oder schlecht spielte. Aber ich musste vorwärts kommen.
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Tango, nein, der interessiert Piazzolla erst einmal gar nicht. Musik? Ja! Musik zieht Astor an. Aber eine ganz andere Art von Musik wie die des Vaters. Als Astor aus einer Nachbarswohnung Klaviermusik hört, ist er wie von Sinnen. Dort übt ein ungarischer Pianist Stücke von Bela Bartok und: von Johann Sebastian Bach.
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Ich verliebte mich in Bach. Ich bin fast durchgedreht…
ERZÄHLERIN
Der Name des Hinterhof-Pianisten: Bela Wilda. Bei ihm will Astor Piazzolla lernen. Bela Wilda spielt zwar nicht Bandoneon, aber er führt den kleinen Astor in die Welt der klassischen Musik ein, er arrangiert einige Bachstücke für sein Bandoneon.
MUSIK: Bach auf dem Bandoneon
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Im Kopf hatte ich Bach, Schumann, Mozart. Und vielleicht ein kleines bisschen Tango.
MUSIK (Bach) bricht abrupt ab
ERZÄHLERIN
Die Weltstadt New York, Schmelztiegel der Nationen sie prägt den jungen Nachwuchsmusikus. In New York gibt es eine große jüdische Community, und der junge Astor verdient sich auf jüdischen Hochzeiten etwas Geld dazu. ,
MUSIK: Evtl. kurz jüdische Hochzeitsmusik
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Das ging gewaltig unter die Haut. Mein Rhythmus, dieses „3 – 3 – 2“, das ist so ähnlich wie die jüdische Populärmusik, die ich auf Hochzeiten hörte…
MUSIK hoch und aus
ERZÄHLERIN
Wie aus den Einflüssen von Bela Bartok, von jüdischer Musik und vor allem von Johann Sebastian Bach der einzigartige Stil Piazzollas entstanden ist, kann Luis Borda erklären. Er ist Gitarrist und hat etliche Tangos komponiert…
9. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Der Piazzolla hat ja immer gesagt, er hat Bach geliebt. Und wenn du hinhörst, dann findest du bei ihm diese typische Harmonie, die Bach immer benutzt hatte, die Terz am Bass…
ERZÄHLERIN
Hört sich ein wenig kompliziert für Laien an, ist es aber gar nicht. Normalerweise erklingt bei einer Harmonie der Grundton im Bass. Also bei C-Dur das C. Rutscht die Terz in den Bass, wird der Grundton ein „E“.
10. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Zum Beispiel. Ich spiele hier nach: (Borda spielt einige Sekunden auf seiner Gitarre) – Und da sind immer die Terzen unten. Und das war so eine Marke von Piazzolla. Aber das kommt von Bach!
ERZÄHLERIN
Und wie aus den Bachharmonien beinahe schon ein Tango a la Piazzolla entsteht, zeigt Luis Borda wieder auf seiner Gitarre: den typischen „Piazzolla-Rhythmus“. Das 3-3-2, der Rhythmus, den er auf jüdischen Hochzeiten und auch bei Bela Bartok gehört hatte:
11. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Wenn ich jetzt diese Idee mit der Terz nehme und kombiniere das mit dem Rhythmus, kommt das hier: (Borda spielt auf seiner Gitarre) – Das sind Dinge, die für Piazzolla immer dabei waren. Immer!
ATMO Mar del Plata
ERZÄHLERIN
1936 zieht die Familie Piazzolla wieder zurück nach Argentinien. Der Vater hatte Heimweh und Sehnsucht nach dem Sound seiner Heimat, dem Tango. Und er sieht mehr Perspekitive in Mar del Plata als in New York. Die USA waren von der großen Weltwirtirtschaftskrise weit mehr betroffen als sein Heimatland - Aus dem 15-jährigen Astor ist mittlerweile ein ziemlich guter Bandoneonspieler geworden. Und bald kann er sich auch dem Tango nicht mehr entziehen. Tagsüber bandelt er mit „Chicas“ an:
ZITATORIN (Mutter)
Mit großem Erfolg. Er war schlank. Sah gut aus.
ERZÄHLERIN
Berichtet seine Mutter. - Und abends: Ja. Da verdient er sein Geld als Bandoneonspieler in den einschlägigen Cabarets und Cafes. - Doch noch immer schlägt sein Herz auch für die klassische Musik. Er nimmt Kompositionsunterricht. Bei Alberto Ginastera.
12., ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Der war ein großer Komponist. Alberto Ginastera, der war so wie zum Beispiel Silvestre Revueltas in Mexiko, oder Heitor Villa-Lobos in Brasilien – Komponisten, die Elemente von der Populärmusik nehmen und die mischen das mit den klassischen symphonischen Konzerten…Piazzolla war der erste und der letzte Schüler von Alberto Ginastera.
ERZÄHLERIN
A,Ginastera scheint ein besserer Komponist gewesen zu sein als Lehrer, bemerkt Astor Piazzolla später einmal. Und doch: Piazzolla bleibt fünf Jahre bei ihm. Ginastera bildet ihn nicht nur musikalisch aus – er bringt ihm Tonsatz, Harmonielehre und Musikgeschichte bei –und er führt ihn in die Welt der Literatur ein. Astor Piazolla , soll lesen, lesen, lesen, und er soll sehen, sehen, sehen. Ginestra bringt ihm auch die Welt der bildenden Kunst nahe. Sein Credo: Ein Komponist muss alles kennen!
MUSIK (Piazzolla: „Tres minutos con la realidad“ - laut und hektisch)
ZIATOR (Astor Piazolla)
Ich bin eine Art Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Sie haben mich zweigeteilt …
ERZÄHLERIN
Als Mister Hyde schreibt er Tangos, als Dr. Jekyll komponiert er in seinen 20er Jahren symphonische Werke. Piazolla ist hin- und hergerissen. Nachts spielt er mit den Orquestas Tangos.
Tagsüber komponiert er Musik im Stile von Strawinsky, Bartok, Copland oder Hindemith. Und er heiratet: Odette María Wolff, genannt „Dedé“. Mit ihr bekommt er zwei Kinder. Schließlich beginnt er auch noch, Filmmusiken zu schreiben. Piazzolla ist ein Getriebener. Nur, wohin trägt ihn seine Rastlosigkeit?
MUSIK aus
ZITATORIN (Nadia Boulanger) - streng
Das ist gut geschrieben. Aber es fehlt das Gefühl.
ERZÄHLERIN
Astor Piazzolla, mittlerweile 33 Jahre alt, ist in Paris angekommen. Mit einer seiner klassischen Kompositionen hat er ein Stipendium für Frankreich gewonnen. Also ist er mit seiner Frau Dedé für ein Jahr nach Europa umgezogen, die Kinder sind bei den Großeltern in Argentinien geblieben. - Und in Paris zeigt er eines seiner „klassischen“ Werke der seiner Lehrerin, der großen französischen Komponistin und Dirigentin Nadia Boulanger. Begeistert ist die nicht.
ZITATORIN (Nadia Boulanger)
Was hast du eigentlich in Buenos Aires gemacht? Und überhaupt: Wer bist du wirklich: Astor Piazzolla?
MUSIK: Piazzolla Tango Trifunal (KLAVIER)
ERZÄHLERIN
Eigentlich wollte ihr Piazzola verschweigen , dass er aus der „Tangoszene“ stammt. Er wollte ja als ernsthafter Tonsetzer reüssieren. Doch dann spielt er seiner Lehrerin einen selbst geschriebenen Tango vor. Auf dem Klavier.„Triunfal“ heißt der ausgerechnet. Danach spricht sie zahlreichen Überlieferungen zufolge die „historischen Worte“,
ZITATORIN (Nadia Boulanger)
„Das ist der wahre Piazzolla – verlasse ihn niemals.“
. Aber warum spielst du einen Tango auf dem Klavier? Welches Instrument spielst du wirklich?
MUSIK: Piazzolla „Triunfal“ (Bandoneonsolo aus der Orchesterfassung) – wild und laut.
ERZÄHLERIN
Nadia Boulanger, sie hat, ihn auf den rechten Weg gebracht. Und er weiß nun auch, was er wirklich will. Tango! Und zwar so, wie er ihn fühlt, wie er ihn spürt. Noch in Paris komponiert er etliche Tangos à la Piazzolla. Und schon bald macht er erste Aufnahmen, mit Musikern der französischen Oper.
MUSIK: Piazzolla TANGO des „Octeto“
ERZÄHLERIN
Zurück in Argentinien gründet er ein Tangoensemble, mit den besten Musikern der Szene. Das „Octeto Buenos Aires“ – Es soll seine Stücke spielen und den „Neuen Tango“, den „Tango nuevo“ erfolgreich machen!
ZITATOR:
Das erste Mal in meinem Leben hatte ich ein enormes Gefühl von Genugtuung! Ich sehe den Triumph für meine Tangos und für mein Orchester!
MUSIK aus
13. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Wenn du mit jemand, zum Beispiel mit einem Taxifahrer, oder mit jemand, der Tango liebt, in dieser Zeit gesprochen hast – und du hast gesagt: mir gefällt Piazzolla, dann haben die gesagt: Nein. Piazzolla, das ist kein Tango!
ERZÄHLERIN
Die Argentinier mögen seine Musik nicht, das weiß Piazzolla. Also packt er seine Sachen und zieht mitsamt Frau und zwei Kindern nach New York. In die Stadt, wohin auch sein Vater vor über 30 Jahren ausgewandert war,. Astor Piazzolla ist in New York ,einigermaßen erfolgreich. Er gründet ein Quintett, genannt „Jazz Tango“ – Doch dann der Schicksalsschlag: Während einer Tournee mit seinem Ensemble wird er angerufen: „Nonino ist tot“ – „Nonino“ … Sein Vater Vicente. Er ist kurz vor seinem 66. Geburtsatg in Mar del Plata gestorben. Sofort kehrt Piazzolla nach New York zurück. Zu seiner Familie. Er streift durch die Straßen der Stadt, Durch die 8th Street. Streift durch seine Kindheit… Und überall sieht er seinen Vater. Nonino. „Großväterchen“ Seine Frau Dedé sagt:
MUSIK „Adiós Nonino“ ab 2:40 (Bandoneon solo, rührend und tieftraurig)
ZITATORIN (Dedé)
Ich hab ihn noch nie so weinen sehen. Noch nie!
ERZÄHLERIN
Zuhause angekommen schließt sich Astor in sein Zimmer ein. Und dann hört die Familie sein Bandoneon. Es ist eine tieftraurige Melodie.
14. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
…eine Melodie, die kannst du in einem Konzertsaal spielen, oder auch zu Hause mit der Gitarre. Das ist so eine Synthese, eine Erfindung, diese Idee… das ist ein wunderschönes Stück …
ERZÄHLERIN
Piazzolla widmet seinem Vater einen Tango. „Adiós Nonino“. Bis heute vielleicht nicht sein berühmtestes, aber wohl schönstes Stück.
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Vielleicht war ich von Engeln umgeben. Ich war in der Lage, die schönste Melodie zu schreiben, die ich je geschrieben hatte. Ich weiß nicht, wie ich das jemals besser machen sollte…
MUSIK „Adiós Nonino“ lange frei – dann auf Schluss
ERZÄHLERIN
Wie seinen Vater hält es auch Piazzolla nicht lange in New York. Nach zwei Jahren kehrt er, fast 40 Jahre alt, nach Buenos Aires zurück. Der traditionelle Tango ist dort so gut wie verschwunden. Trotzdem gehen die alte Kontroversen wieder los: Hat Piazzolla den Tango zerstört oder ihn gerettet? Zumindest die Jugendlichen besuchen seine Konzerte, sie mögen seine Musik. Und Piazzolla wird immer experimentierfreudiger.
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Alle vier Jahre langweile ich mich. Und ich mache was Neues.
ERZÄHLERIN
Privat bedeutet das: Astor Piazzolla trennt sich nach über 20 Jahren Ehe von seiner Frau Dedé. Und künstlerisch? –
MUSIK: Astor Piazzolla „Tanga fugata“ oder aus der Oper „Maria de Buenos Aires“
ERZÄHLERIN
Piazzolla bringt klassische Musik in den Tango. So weiß man oft nicht, hört man eine Bachfuge oder doch einen argentinischen Tango. Und Piazzolla bringt den Tango in die klassische Musik. Zusammen mit dem uruguayischen Dichter Horracio Ferrer schreibt er eine Oper. Oder besser gesagt, eine Operita. „Maria de Buenos Aires“ –
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Zwar wird die Oper kein kommerzieller Erfolg, aber die Zusammenarbeit mit Horracio Ferres bringt eine Menge neuer Tangos in die Welt. Tangos mit Text: Zum Beispiel „ballada para un loco“ – die „Ballade für einen Verrückten“ Die beiden reichen das Stück bei einem Tangowettbewerb ein:
15. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Mit „Ballada para un loco“ passiert schon wieder dasselbe: er hat „Ballada para un loco“ auf einem Festival vorgestellt. Und das obwohl es das beste Stück war, hat er nicht gewonnen. Mit Ferrer. – An diesen Tango, der gewonnen hat, erinnert sich niemand. Aber alle kennen „Para un Loco“! – (Und die Jury wollte ihm nicht den Preis geben.)
MUSIK: Astor Piazzolla „Ballada para un loco“
ERZÄHLERIN
In Argentinien wird die „Ballada para un loco“ ein Hit, wird im Radio gespielt. Doch wieder einmal beschreitet Piazzolla neue Pfade. Er will nicht nur in Argentinien bekannt sein, er will, na ja, weltberühmt werden
16 ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Aber in Argentinien schaffst du das nicht. Du musst raus, du musst nach Europa! Ich weiß nicht, warum ich diese Idee so hasse, aber leider ist es so… Und mit Piazzolla ist genau dasselbe passiert.
MUSIK aus
ERZÄHLERIN
Astor Piazzolla geht nach Italien. Mit 55 Jahren.
MUSIK Astor Piazzolla: „Libertango
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Ich habe mein ganzes Leben für den Tango gearbeitet. Jetzt hoffe ich, dass der Tango für mich arbeitet.
ERZÄHLERIN
In Italien nimmt Piazzolla seine bekannteste Schallplatte auf: „Libertango“ – Das Titelstück wird zum Welterfolg. Zu einem Ohrwurm. ,
MUSIK hoch/ geht über in Grace Jones
17. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
„Libertango“ zum Beispiel. Alle spielen „Libertango“. Und ich sage: Ich habe die Nase voll, von „Libertango“: Aber! Es gibt eine Version von „Libertango“ – von Grace Jones – sie singt das mit einem komischen Synthesizer, für die Disco, und das das ist auch schön. Oder?
MUSIK hoch und aus
ERZÄHLERIN
Astor Piazzolla kann nun endlich das machen, was er wirklich will. Er komponiert für die E-Musiker ein klassisches Bandoneonkonzert, er experimentiert mit Rhythmen und Tangoelementen, oder er spielt sich schlicht und einfach mit seinem Bandoneon und seinen Melodien in die Herzen der Menschen:
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Ich habe die Hoffnung, meine Musik wird noch im Jahr 2020 gehört. Und vielleicht im Jahr 3000. Manchmal bin ich mir sogar sicher. Meine Musik mag gefallen oder nicht, aber sie hat den Duft des Tango. Und das macht sie für immer verführerisch…
ERZÄHLERIN
Mit der italienischen Sängerin Milva nimmt mit Astor Piazzolla eine Ballade auf. Die „Ballada para mi muerte“ – „Die Ballade auf meinen Tod“ Die Ballade stammt aus dem 1969, den Text hat Horracio Ferrrer geschrieben, doch irgendwie hört man auch die letzten Worte von Astor Piazzolla:
MUSIK: Astor Piazzolla – Milva singt „Ballada para mi muerte“: darüber
ZITATOR (Astor Piazzolla)
Ich werde in Buenos Aires sterben,
im Morgengraun…
Mein vorletzten Whisky, der bleibt ungetrunken steh’n.
Mein Tod naht, wie ein Tango
ERZÄHLERIN
1990 erleidet Astor Piazzolla einen Hirnschlag. Während einer Europatournee…
18. ZUSPIELUNG (Luis Borda)
Und dann wurde er nach Argentinien gebracht. Der Piazzolla. Er konnte schon nicht mehr …wie tot. Und da war er in Argentinien, zwei Jahre lang, das war 1990 und er ist 1992 gestorben. Und er war in einem Bett, zwei Jahre lang. Ohne Bewusstsein…
ERZÄHLERIN
Manchmal ist er doch noch ansprechbar. - Sein Arzt und seine Familie versuchen in den wenigen wacheren Phasen zu ihm vorzudringen. Über Kopfhörer spielen sie ihm Werke von seinem so verehrten Johann Sebastian Bach vor. Auch seine eigenen Stücke.-.Astor Piazzolla will das alles nicht mehr hören.
MUSIK aus
Surf-Rock ist Musik, die so klingt wie die Wellen des Ozeans. Rau, kraftvoll und verspielt. Sie begeistert seit den 60er Jahren Musikfans rund um die Welt. Autor: Christian Schaaf (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Christian Schaaf
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Andreas Neumann, Katja Bürkle, Johannes Hitzelberger
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Andrea Bräu, Susanne Poelchau
Im Interview:
Michael Koltan, Archivar; Martin Schmidt, Musikjournalist
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
50 States - Der Amerika-Podcast mit Dirk Rohrbach
Auf der schönsten Küstenstraße der Welt durch Washington, Oregon und Kalifornien: Dirk Rohrbach fährt mit dem Gravelbike einmal die komplette Westküste runter, 3000 Kilometer auf Amerikas Traumstraße am Pazifik. Von der Grenze zu Kanada im Norden bis zur mexikanischen Grenze südlich von San Diego. Dabei trifft er Häuptlinge, Müllkünstlerinnen, Austernzüchter, Seetangsammlerinnen, Chicanos und natürlich Surfer.
ZUM PODCAST
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RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Einspielung: Musik: Dick Dale. Misirlou 1‘00
Sprecher:
Es beginnt wie ein Knall. Die Gitarre drischt sich überschlagende Tonfolgen in den Raum, steigert den Schalldruck bis fast ins Unerträgliche. Dann bricht die Klangwelle in einer Gischt aus verwehtem Echo und flirrenden Klängen bis der Sog der nächsten Welle einsetzt.
Sprecherin:
Der Gitarrist Dick Dale beschreibt hier 1962 mit seiner Band the Del-Tones eindrücklich die rohe Gewalt der Natur und des Ozeans. Eigentlich ist der Song Misirlou eine Neuinterpretation eines alten griechischen Volksliedes. Doch der Sound, den der Linkshänder Dale aus seiner E-Gitarre holt, ist neu. Und er trifft damit einen Nerv seiner Generation.
Einspielung: Musik: Dick Dale. Misirlou
Musik: The Pyramids. Penetration 1‘10
Sprecher:
Surfmusik ist Anfang der 1960er Jahre der Soundtrack einer Teenagerbewegung in Südkalifornien. Deren Ideal ist ein sorgloses Leben am Strand mit Surfbrett, Strohhut und Hawaii-Hemd. Gedanken um Geld, Beruf und Zukunft existieren nicht. Der Blick geht nach Vorn. Zum Horizont. Auf der Suche nach der perfekten Welle.
Sprecherin:
Aufbruch und Neuanfang liegen in der Luft. Die Zeit der großen Krisen scheint nach den beiden Weltkriegen und dem Korea-Krieg vorbei zu sein. Wissenschaft und Technik weisen den Weg nach vorne. Und der eben gewählte junge US-Präsident John F. Kennedy will, dass nicht einmal mehr der Himmel die Grenze der Möglichkeiten ist: Die USA sollen schon ihn zehn Jahren zum Mond fliegen.
Sprecher:
Teenager zu sein in diesen Jahren bedeutet: take it easy. Zeit, sich auszuprobieren. Und an der Küste Südkaliforniens ist Wellenreiten die Garantie für Abenteuer, Sport und Spaß.
(Musik weg)
Geräusch: Lautes Wellen-Rauschen 1‘20
Sprecherin:
Der Surfsport ist über tausend Jahre alt. Seine Ursprünge liegen wohl in Polynesien und auf Hawaii. Hier war es lange Zeit üblich, dass Frauen, Kinder und Männer, nackt auf einem Holzbrett stehend, die Wellendünung hinunterglitten.
Sogar der hawaiianische König Kamehameha soll diesen Sport betrieben haben.
Der erste Europäer, der davon berichtet, ist 1778 der Leutnant James King, der zusammen mit dem Entdecker James Cook auf die Insel gekommen war. Als er einen Wellenreiter vor Hawaii beobachtet, schreibt er fast schon neidisch in sein Tagebuch:
Zitator:
„Ich konnte daraus nur schließen, dass dieser Mensch höchsten Genuss dabei empfand, so schnell und sanft vom Meer vorangetrieben zu werden.“
Sprecher:
Das wirklich überraschende für den Europäer ist dabei offenbar, dass die Einheimischen das Surfen nur zum Spaß betreiben. Denn das Wellenreiten dient erkennbar nicht der Jagd auf Fische. Auch werden durch das Surfen keine zum Überleben wichtige Fertigkeiten trainiert.
Sprecherin:
Die europäischen calvinistischen Missionare, die im 19. Jahrhundert nach Hawaii kommen, schieben dem unbeschwerten Wellenreiten einen Riegel vor. Sie erachten diesen Freizeitspaß als frivol und gotteslästerlich. Von nun an müssen die Einwohner des Inselstaats stets Kleidung tragen, hart arbeiten und regelmäßig in die Kirche gehen.
Musik: Makalapua Hawaii-Musik 0‘50
Sprecher:
Trotz- oder vielleicht gerade aufgrund der Einschränkungen verschwindet das Surfen auf Hawaii nicht. Und so kann auch der Reiseschriftsteller Mark Twain um 1866 von den Menschen auf Hawaii berichten, die nur zum Spaß auf Brettern stehen und damit Wellenrücken hinuntergleiten. Er schreibt staunend über die Wellenreiter:
Zitator:
„wie Geschosse kommen sie angezischt“.
Sprecher:
Twain ist derart begeistert, dass er versucht, selbst zu surfen. Doch am Ende seiner Hawaii-Reise muss er resigniert notieren, dass er
Zitator:
„mit ein paar Fässern Wasser im Bauch“
Sprecher:
kläglich gescheitert ist.
Sprecherin:
Als der Schriftsteller Jack London rund vierzig Jahre später, im Jahr 1907, nach Hawaii reist, ist er, wie zuvor Mark Twain, von dem Volkssport des Wellenreitens tief beeindruckt. Ob er selbst ein Surfbrett bestiegen hat, ist leider nicht überliefert. Geradezu ehrfürchtig schreibt London in seinem Reisetagebuch:
Atmo Wellen: 1‘15
Zitator:
„Wo einen Moment zuvor nur grenzenlose Verlassenheit und unerschütterliches Wogengebrüll war, steht nun ein Mensch, aufrecht, in voller Statur, der nicht verzweifelt kämpft in dem reißenden Strom, der nicht begraben und zerstampft und umhergeschleudert wird von diesen mächtigen Monstern, sondern der über ihnen allen steht; ruhig und erhaben schwebt er über dem taumelnden Gipfel, während seine Füße von der strudelnden Gischt umschlossen sind, Salzdampf an seinen Knien emporkriecht, und alles Übrige von ihm in freier Luft und blitzendem Sonnenlicht ist, und er fliegt vorwärts ebenso schnell wie die Woge unter ihm; er ist ein Merkur.“
Sprecher:
Es mag an solchen Schilderungen wie denen des viel gelesenen Jack London liegen, dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch außerhalb von Hawaii Menschen mit dem Wellenreiten beschäftigen und versuchen, selbst diesen Sport auszuüben.
Sprecherin:
Einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung des Sports leistet der 1890 in Honolulu geborene Duke Kahanamoku (sprich wie geschrieben). 1912 nimmt er als Schwimmer an den Olympischen Spielen in Stockholm teil und gewinnt dort Gold über 100 Meter Freistil, nicht zuletzt wegen seiner neuen Kraultechnik, die er entwickelt hatte, um auf dem Surfbrett gegen die Brandung auf den Ozean hinaus zu paddeln. Dreimal wird er Olympiasieger, reist um die ganze Welt und führt überall, wo es die Wellen und Küsten erlauben, so auch in Australien und Kalifornien, seine Anhänger in das Wellenreiten ein. Kleine Surf-Sport-Klubs entstehen, in denen Surfbretter gebaut und verkauft werden und Interessierte Unterricht nehmen können.
Musik: The Trashmen: Walk don´t run 1‘30
Sprecher:
Ab den 50er Jahren verhelfen Materialen und Techniken aus dem Flugzeugbau dem Sport zu einem großen Fortschritt: Die bis zu drei Meter langen Surfbretter sind nun nicht mehr aus massivem Holz geschnitzt, sondern aus leichterem Balsa-Holz und Fiberglas geformt. Das macht es vor allem Anfängern leichter, auf dem Brett stehen zu bleiben, wenn direkt darunter der Ozean tobt.
Sprecherin:
Das Erlebnis, im Wasser auf einer Welle zu „reiten“, ist an Land nur schwer zu vermitteln. Die echten Surfer sind zunächst ein eingeschworener Zirkel – zu dem aber immer mehr junge Menschen gehören wollen. Ab Ende der 50er Jahre gehen die Verkaufszahlen von Surfbrettern in Kalifornien steil in die Höhe. An den Wochenenden bevölkern tausende Teenager die Pazifik-Strände und werfen sich mutig in die Wellen. Surfen wird In.
Sprecher:
1959 wird Hawaii als 50. Bundesstaat in die USA integriert. Die Nation endet nun nicht mehr am Sunset-Strip in Los Angeles oder an der Golden Gate Bridge in San Francisco. Der Pazifische Ozean und seine Wellen sind von nun an Bestandteil der Vereinigten Staaten. Das Meer ist nicht mehr die Grenze – sondern ein Teil der unbegrenzten Möglichkeiten.
Musik: The Belairs: Mr. Moto 1‘00
Sprecher:
Anfang der 60er Jahre gehört in Südkalifornien das Surfen zum Life-Style der Jugendlichen. Bands wie die the Belairs liefern den Sound dazu.
Sprecherin:
Das Instrumentalstück „Mr. Moto“ von the Belairs gilt als die erste Surf-Aufnahme überhaupt. Die Single erscheint 1961. Die Band besteht aus fünf Teenagern, die auf High-School-Tanzparties spielten und Rock-n-Roll-Songs coverten. Bis auf die Tatsache, dass sie die erste Surf Single aufnahmen, ist tatsächlich wenig über The Belairs zu berichten. Sie wollten weder rebellisch sein, noch ein neues Genre begründen. Sie wollten in erster Linie die Melodien in ihren Köpfen in tanzbare Musik umsetzen.
Typisch für ihre Zeit, findet der Archivar und Surf-Musik-Spezialist Thomas Koltan aus Freiburg.
Einspielung:
Koltan 1: „Eigentlich ist das eine sehr optimistische Musik. Eine Aufbruchsmusik. Zumindest die erste Welle, die Anfang der 60er Jahre entstanden ist. Man muss sich vorstellen, das war damals die Zeit als mit John F. Kennedy ein jugendlicher Präsident – das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen – die Regierungsgeschäfte führte. Das war einfach eine Aufbruchsstimmung. Und Surfmusik passte da einfach hervorragend rein, um diesen Aufbruch zu symbolisieren und dieses Lebensgefühl in Musik zu fassen.“
Musik:
The lively ones. Surfrider 0‘27
Sprecherin:
Kurz zuvor, also Ende der 50er Jahre, hatte sich der Sound der Jugend noch rauer und schmutziger und ein Stück rebellischer angehört.
Musik: Chuck Berry. Johnny B. Good 0‘35
Sprecher:
Der Musikjournalist und Gitarrist Martin Schmidt beschäftigt sich schon lange mit der Musik dieser Zeit.
Einspielung: Schmidt 1:
„Der Rock and Roll der 50er Jahre ist noch sehr vom Blues beeinflusst – also man hat dann wirklich noch sehr oft das 12-taktige Blues-Schema. Es ist eigentlich immer mit Gesang. Die Themen sind typische Teenager-Themen. Im Rock and Roll ging es eigentlich immer um Liebe oder um Arbeit, die man nicht machen wollte oder um Unverstandenheit. So ein typisches Teenager-Ding. Bei Surf-Musik ist die Melodik einfach ein bisschen anders. Es ist nicht so Blues- oder Country-bezogen, sondern einfach ein bisschen breiter gefächert, vielleicht auch ein bisschen romantischer, mehr in Moll geschrieben, so würde ich das beschreiben.“
Musik: The Centurians. Bullwinkle Part 2 1‘00
Sprecherin:
Bei der Surfmusik spielt die Gitarre die Hauptrolle, da es in den meisten Surf-Songs keinen Gesang gibt. Der legendäre Radio-DJ Phil Dirt ist eine der wenigen Autoritäten der Surf-Bewegung. Er nennt als drei essenzielle Elemente des Surf-Sounds:
Echo, Glissando, also das Herauf- und Heruntergleiten der Töne und Double-Picking, der Doppelschlag der Gitarristen auf einem Ton.
Auch der Musikjournalist und Musiker Martin Schmidt nennt ein paar eindeutige Merkmale des Surf-Sounds:
Einspielung: Schmidt 2:
„Also wenn man es sehr klischeehaft machen will, dann gibt es da zwei, drei Sachen mit denen man das in sehr kurzer Zeit hinbekommen kann. Da ist einfach erst mal ein ganz typischer Drum-Beat. Umm-Ba-Ba. Umm-Ba-Ba. Umm-Ba-Ba. Der ist auf fast allen Surf-Musik-Songs zu hören. Dann eben der Gitarren-Sound mit viel Hall. Eben recht weit hinten am Steg angeschlagen, dass man eben diesen Twang hinkriegt. Und dann bedient sich Surf-Musik immer so harmonischer Klischees. Also entweder ist das noch so an den Rock´n Roll, an das Blues-Schema angedockt oder man nimmt halt so ein bisschen was von orientalischer oder spanischer Musik. Aber alles sehr amerikanisch gespielt, also nicht wirklich tief in diese Folkloremusik reingegangen.“
Musik: Dick Dale: Hava Nagila 1‘35
Sprecher:
Der Gitarrist Dick Dale, der hier mit seiner Band the Del-Tones zu hören ist, gilt als „the King of Surf-Guitar“. Der 1937 geborene Musiker hat mit seinem halsbrecherisch schnellen und kraftvollen Gitarrenspiel wie kein anderer den Surf-Sound geprägt. Dick Dale ist der Musiker, der das Genre um orientalische Klänge und Flamenco-Rhythmen bereichert. Als einer der wenigen Surf-Musiker gelingt es ihm, einen gut dotierten Plattenvertrag zu ergattern und mit seinen Aufnahmen in den Charts zu landen.
Musik: The Surfaris. Wipe out 0‘45
Sprecherin:
Die kommerziell erfolgreichste Surf-Band werden die The Surfaris – Eine Band aus High-School-Kids, die 1963 mit der Single „Wipe-Out“ die US-Charts bis hinauf auf den zweiten Platz stürmen.
Sprecher:
Ohne Dick Dale und the Surfaris wäre Surf-Musik vermutlich nicht über die Grenzen von Kalifornien hinaus bekannt geworden. Überall auf der Welt, in Europa und Japan, erscheinen nun Surf-Singles in den Charts und inspirieren Musiker. Sogar hinter dem Eisernen Vorhang, in der Pazifik-fernen DDR, beginnen Bands wie das Franke-Echo-Quintett, Surf-Musik-Titel einzuspielen.
Musik: Franke-Echo-Quintett. Melodie für Barbara 0‘25
Atmo Beatleskonzert 0‘15– kreischende Fans –
Musik: The Beatles. I want to hold your hand 1‘00
Sprecherin:
August 1964 – Die Beatles starten ihre USA-Tour in Kalifornien – dem Heimatstaat der Surf-Musik. Von hier aus lassen sie eine Welle der Pop-Begeisterung über das Land rollen. In den US-Charts scheinen die Vier aus Liverpool von nun an ein Abonnement auf die ersten Plätze zu haben.
Amerikanische Pop-Musik muss sich von nun an hintenanstellen – und instrumentale Surfmusik scheint niemanden mehr zu interessieren.
Sprecher:
Das musikalische Erdbeben, das der Musikimport aus Großbritannien in den USA auslöst, wird von einigen Beobachtern als „British Invasion“ bezeichnet und somit mit einer feindlichen Übernahme oder einer Eroberung verglichen.
Sprecherin:
Gleichzeitig hat sich die Welt der Jugendlichen in den USA drastisch verändert. Im November 1963 wird US-Präsident John F. Kennedy erschossen. Der Traum von einer friedlichen Zukunft ist geplatzt. Im Frühjahr 1965 lässt Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson Vietnam das erste Mal bombardieren. Die fröhliche Aufbruchsstimmung, die noch zu Beginn der 60er Jahre geherrscht hatte, ist damit endgültig verflogen. Die USA sind wieder ein Land im Krieg.
Sprecher:
Surfen und Surfmusik gelten nun als Klischee. Bands wie die Beachboys halten den Kalifornien-Sound zwar weiter am Leben. Doch erfolgreich sind Surf-Songs nur noch, wenn in ihnen, nach Beatles-Vorbild, mehrstimmig gesungen wird.
Musik: Beach-Boys. I get around 0‘35
schon bei „Bands wie die Beach Boys“ einsetzen
Sprecherin:
Aber ist das noch Surf oder schon die kommerzielle Ausschlachtung einer Jugendkultur? Der Surf-Musik-Spezialist Michael Koltan sieht hier eindeutig eine Grenze überschritten.
Einspielung. Koltan 2:
„Die Beachboys haben großartige Musik gemacht. Ich würde sie nicht unbedingt als Surfmusik – im Sinne dieses Aufbruchs der 60er Jahre sehen. Das war was anderes. Und es ist auch im musikalischen Sinn was anderes. Das eine ist harmonischer Akkord-Gesang und das andere ist schnelle Gitarrenmusik, die mit unwahrscheinlichen Drive nach vorne gespielt wird. Aber mit dieser instrumentalen Surf-Musik hat das nichts zu tun.“
Musik: Paul Johnson & the Packards, Mr. Moto 1‘10
Sprecher:
Echte Instrumentale Surf-Musik kommt erst gute 15 Jahre später - zu Beginn der 80er Jahre, wieder an die Oberfläche. Der Gitarrist Paul Johnson, der mit seiner Schülerband the Belairs 1961 den ersten Surf-Song überhaupt eingespielt hatte, nimmt mit einigen Freunden, die sich zur Band the Packards zusammengeschlossen haben, wieder ein paar Surf-Stücke im Studio auf. Über seine Gründe das zu tun, verrät er in einem Interview Folgendes:
Zitator:
Paul Johnson: „Surfmusik und instrumentale Rockmusik generell sind definitiv die instrumentale Grundlage von Rock ´n Roll. Sie waren für 15 Jahre völlig verschwunden – in den späten 60er und dann in den 70er Jahren – weil jeder dachte, Musik müsste wichtiger und beschäftigter und komplizierter und so weiter sein. Und irgendwann beschlossen die Leute, dass es nicht so sein muss. So kam ich auch wieder darauf zurück.“
Sprecherin:
Zu der Zeit, als Johnson mit den Packards den Surf wiederentdeckt und erste, wenn auch bescheidene Erfolge mit seinen Platten hat, erobern gerade die letzten Ausläufer der Punk-Bewegung und die ersten New-Wave Hits die Hitparaden. Instrumental-Musik scheint da auf den ersten Blick wenig hinein zu passen. Doch schon bald klingt Punk, so wie bei der Band Agent Orange aus Kalifornien, auch so:
Musik: Agent Orange. Mr. Moto 0‘40
Sprecher:
Surf-Musik Experten wie Michael Koltan sind sich sicher, Punk und Surf sind musikgeschichtliche Geschwister.
Einspielung: Koltan 3:
„Phil Dirt, der große Surf-Musik-DJ, hat behauptet - und ich glaube er hat recht - dass Surf die erste Punk-Bewegung war. Nicht im Sinne von Aggressivität und No Future. Sondern in dem Sinn, dass Jugendliche einfach komplett ihr eigenes Ding durchziehen. Unbeeindruckt von dem, was sonst als Standard gilt. Das sich selbst eine eigene Jugendbewegung erschaffen – das war Punk dann auch wieder.“
Musik: Dick Dale and the Del-Tones. Misirlou 0‘45
Sprecherin:
Gute 10 Jahre später: Hollywood Regisseur Quentin Tarantino eröffnet 1994 seinen Erfolgsfilm Film Pulp-Fiction mit dem Surf-Klassiker Misirlou von Dick Dale.
Damit macht er ein Millionen-Publikum auf die bis dahin schon wieder vergessene Instrumental-Musik aus den 60er Jahren aufmerksam. Der Film tritt damit die dritte Welle der Surf-Musik-Begeisterung los.
Sprecher:
Mit einem Mal gibt es wieder Surf-Bands, die vor großem Publikum spielen. Darunter sind auch etliche Musiker, wie z.B. Dick Dale, die ihre Laufbahn während der ersten Surf-Musik-Welle, zu Beginn der 60er Jahre, gestartet haben. Aber es gründen sich auch ebenso viele neue Bands, die den Surf-Sound perfektionieren, wie z.B. Messer-Chups aus Russland. Eine hohe Chart-Platzierung gelingt allerdings keiner Surf-Kapelle mehr.
Musik: Messer Chups. Twin Peaks-Twist 0‘25
Sprecherin:
Und heute? Über 25 Jahre nach Pulp Fiction und der letzten großen Surf-Welle? Die Musik wird noch immer gespielt und auf Festivals gefeiert. Wie die deutsche Band The Razor-Blades.
Musik: The Razor-Blades. Punk-Rock Summer 1‘30
Sprecher:
Die Surf-Szene ist vor allem per Internet eng vernetzt. Fast alle Surf-Musiker Europas kennen sich. Idealismus und der Spaß an der Musik stehen eindeutig im Vordergrund – ganz weit vor dem Traum, mit der Musik das große Geld zu machen. Ob Surf-Musik einmal wieder aus diesem gepflegten Biotop, aus seiner Nische herauskommen wird? The Razor-Blade-Musiker und Journalist Martin Schmidt hat da so seine Zweifel:
Schmidt 3:
„Ich würde jetzt mal ohne Garantie die Nische vorhersagen. Aber in der heutigen Zeit ist es ja immer so, dass der Erfolg von Musik gar nicht mehr so von der Musik selber abhängt, sondern von der Art und Weise, wie sie eingesetzt wird. Wenn es jetzt also einen Film gibt, oder ein Videospiel, oder eine Werbung wo Surf-Musik drin vorkommt, dann ist es wahrscheinlich für viele Leute wieder präsent. Und wenn es das nicht gibt dann sind es eher die Leute, die sich für die Musik interessieren. Dann wird´s klein bleiben. Das ist schwer vorhersehbar. Ich hoffe auf einen Film, der das Ganze wieder nach vorne bringt.“
Atmo Wellen: 0‘15
Sprecherin:
Und so schauen Surf-Musik-Begeisterte wie einst die Wellenreiter auf den Horizont – Auf der Suche nach der nächsten, perfekten Welle.
Asexuelle haben kein Bedürfnis nach körperlicher Liebe. Sie verzichten freiwillig auf das, was Andere für die schönste Nebensache der Welt halten. Erst seit Kurzem widmen sich Wissenschaftler dem Thema. Autorin: Maike Brzoska (BR 2016)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Andreas Neumann, Katja Schild, Christian Schuler
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Kati Radloff, Asexuelle und Gründerin des deutschsprachigen Forums Aven;
Vivian Jückstock, Sexualtherapeutin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf;
Talke Flörcken, Kulturwissenschaftlerin
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik Crazy in Love Z8007984 110
O-TON 1 (Radloff)
Ich bin ein romantischer Typ, ich bin sogar ziemlich oft verliebt, natürlich seit 6,5 Jahren treu. Es ist sehr vergleichbar mit einer ganz klassischen Liebesbeziehung: Schmetterlinge im Bauch, Nähe wollen.
SPRECHER
Kati Radloff ist seit vielen Jahren mit ihrem Freund zusammen. Eine romantische und harmonische Beziehung – mit einer Besonderheit.
Musik aus
Musik Did that hurt Z8007984 116
O-TON 2 (Radloff)
Das einzige ist eben bloß, dass ich niemals Lust auf Sex habe, also keine sexuelle Anziehung ihm gegenüber empfinde. Egal, wie wir uns berühren oder wie nahe wir uns sind oder ob es grad gut oder schlecht läuft, ich habe einfach nie das Gefühl, ach, jetzt wäre Sex einfach toll mit ihm.
SPRECHER
Das gilt nicht nur für ihren Partner. Auch von anderen Männern oder Frauen hat sich Radloff nie körperlich angezogen gefühlt. Sie beschreibt sich selbst als: asexuell.
O-TON 3 (Radloff)
Das können viele vielleicht vergleichen mit dem gleichen Geschlecht, da haben ja auch manche gar keine sexuelle Anziehung, die duschen mit denen zusammen beim Sport oder die schlafen zusammen in einem Bett und da hat man trotzdem keine sexuelle Anziehung. So ist das bei mir mit beiden Geschlechtern.
SPRECHER
Männer, Frauen, Dinge – was Menschen Lust bereitet, ist individuell sehr verschieden. Vielleicht – mag der eine oder die andere jetzt denken – hat sie einfach noch nicht das Passende gefunden? Diesen Gedanken hatte auch Radloff lange.
O-TON 4 (Radloff)
Also, habe ich vielleicht noch nicht die richtige Sexpraktik gefunden? Probier ich vielleicht mal ein bisschen. Hab ich vielleicht nicht den Richtigen oder die Richtige oder das richtige Ding gefunden, probier ich mal ein bisschen.
SPRECHER:
Aber: Nichts.
Musik aus
Fortsetzung O-TON 4: Man kommt ja erst, oder ich bin ziemlich zuletzt darauf gekommen, dass es tatsächlich so etwas wie Asexualität geben muss und dass ich das sein könnte.
SPRECHER
Heute, mit Ende 30, fällt es Radloff leicht, über ihre Asexualität zu sprechen. Sie scherzt sogar darüber. Sex? Kein Interesse, nie gehabt. Da ist dem ein oder der anderen schon mal die Kinnlade herunter gefallen. Dass ihr das Thema leicht fällt, war allerdings nicht immer so. In jüngeren Jahren war sie erst einmal ziemlich irritiert, dass bei ihr etwas anders war als bei ihren Freunden.
O-TON 6 (Radloff)
Also wenn man Kind ist, ist das ja normal, dass man keine Lust auf Sex hat. Wenn man dann in die Pubertät kommt, kann man auch noch Spätzünder sein, der Richtige kann noch nicht gekommen sein oder man versucht vielleicht ein bisschen rum, bevor man so die richtige Sexpraxis findet und so. Tatsächlich habe ich mir dann so richtig Sorgen gemacht, als ich 21 war und all meine Freunde und Freundinnen in Beziehungen waren und für sie Sex eben selbstverständlich war und ich mir dachte, wieso kann ich mir Beziehungen nicht so vorstellen, wie die sie leben? Also, was ist genau an einer Beziehung so falsch, dass ich mich dagegen sträube?
SPRECHER
Sie musste erst einmal herausfinden, was das genau ist, das bei ihr anders ist.
O-TON 7 (Radloff)
Und dann bin ich zu dem Punkt gekommen: Ich hab keine Lust auf Sex und ich weiß nicht, wie ich Sex haben soll, wenn ich überhaupt keine Lust darauf habe, wenn ich mich dadurch zwingen muss sozusagen.
SPRECHER
Einfach war diese Zeit nicht für sie. Denn auch wenn Sex als schönste „Nebensache“ der Welt gilt – oft drängt sich diese Nebensache als Hauptsache in den Vordergrund.
O-TON 8 (Radloff)
Und dann hatte ich so ein schweres Jahr, so ein Jahr lang, wo ich so ein inneres Coming-Out erlebt hab und dachte: Ja, was mache ich denn dann mit meinem Leben überhaupt, wenn Sex nicht so meins ist? Dann fällt ja erst mal eine Beziehung weg, dann fällt ja Ehe weg, dann fallen ja Kinder weg, dann fällt ja ne ganze Menge weg.
SPRECHER
Der Begriff Asexualität als Beschreibung für fehlende körperliche Anziehung durch andere Menschen existiert erst seit ein paar Jahren. Entsprechend wenig ist darüber bekannt. Die wenigen Studien, die es gibt, stammen größtenteils aus den letzten 10, 15 Jahren, sagt Talke Flörcken. Sie ist Kulturwissenschaftlerin und beschäftigt sich intensiv – im Rahmen einer Doktorarbeit an der Berliner Humboldt-Universität – mit dem Thema Asexualität.
O-TON 9 (Flörcken)
Ein Text, der viel zitiert wird, ist von Bogaert, Anthony Bogaert heißt der, und der ist aus dem Jahre 2004, und im Anschluss haben sich halt immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Asexualität beschäftigt.
Musik The Art of War (privat)
SPRECHER
Laut der Studie des kanadischen Sozialpsychologen Anthony Bogaert bezeichnet sich ein Prozent der Menschen in Großbritannien als asexuell. Seine Studie hat allerdings Schwächen. Denn er hat Daten verwendet, die in den 90ern erhoben worden waren im Rahmen eines Forschungsprojektes, in dem es um Aids-Prävention ging. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass andere Wissenschaftler zu ganz anderen Häufigkeiten kommen. Die Spanne reicht von 0,6 bis 5,5 Prozent. Auch darüber hinaus gibt es kaum wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse. Nur darin, dass vermutlich mehr Frauen als Männer asexuell sind, stimmen viele Studien überein.
Dass es so divergierende Daten zur Häufigkeit gibt, liegt daran, dass die Wissenschaftler Asexualität unterschiedlich definiert haben – typisch für ein Forschungsfeld, das gerade erst entsteht. Für die einen ist jemand asexuell, der einfach keinen Sex hat. Für andere ist Asexualität eine sexuelle Orientierung, wie Hetero-, Homo- und Bisexualität. Am weitesten verbreitet ist mittlerweile die Definition, wonach Asexuelle sich nicht durch andere Menschen angezogen fühlen, sagt Vivian Jückstock, Sexualtherapeutin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Musik aus
O-TON 10 (Jückstock)
Eine gängige Beschreibung ist eigentlich, dass der Wunsch nach sexuellem Kontakt mit anderen wenig bis gar nicht vorhanden ist. Es können durchaus sexuelle Handlungen stattfinden, auch im Rahmen von Partnerschaften, aber ein eigenständiges Verlangen ist wenig bis gar nicht vorhanden.
Auch Menschen, die sich als asexuell bezeichnen, haben sexuelle Kontakte, wenn ein Kinderwunsch besteht oder um Partnerschaften aufrecht zu erhalten.
SPRECHER
Einig sind sich die meisten Forscher auch darin, dass Asexualität kein neues Phänomen ist, sondern dass es das immer schon gab, auch wenn der Begriff sich erst vor ein paar Jahren entwickelt hat. Schon der bekannte Sexualforscher Alfred Kinsey beschreibt Mitte des 20. Jahrhunderts das Phänomen – nur hat er es anders genannt.
O-TON 11 (Flörcken)
Er hat ja so Erhebungen gemacht, die heißen, das sexuelle Verhalten des Mannes beziehungsweise der Frau aus den 40er, 50er Jahren. Und da hat er Menschen gefunden, die er der Kategorie X zuordnet.
SPRECHER
Die Menschen, die er zu dieser Kategorie X zählt, beschreibt Kinsey folgendermaßen:
ZITATOR
Wenn sie erotisch weder auf hetero- noch auf homosexuelle Reize reagieren und weder mit dem gleichen noch dem entgegen gesetzten Geschlecht irgendwelche körperlichen Kontakte haben, die als sexuell bezeichnet werden können.
O-TON 12 (Flörcken)
Einige Wissenschaftler sehen halt in dieser Kategorie X so einen Vorläufer von Asexualität.
SPRECHER
Kinsey hat sich allerdings nicht weiter mit der Kategorie X beschäftigt. Ihm ging es damals auch eher darum, seinen Zeitgenossen darüber aufzuklären, welche sexuellen Varianten es gibt und dass seiner Meinung nach viele Menschen eigentlich bisexuell sind. Für die damalige Gesellschaft ein Schock. Menschen, die keine Lust auf Sex haben – das war zu dieser Zeit kein großes Thema.
Musik Clean you Up (privat)
Das änderte sich erst in den späten 90ern. In dieser Zeit existierte zwar der Begriff Asexualität aber nicht in Bezug auf den Menschen. Asexuell, das sind in der Biologie Lebewesen, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, zum Beispiel Amöben, englisch: amoeba.
O-TON 13 (Flörcken)
Und 1997 gab es einen Artikel mit dem Titel „My life as an amoeba“, das spielt also auf das biologische Verständnis von Asexualität an.
SPRECHER
Die Autorin Zoe O`Reilly beschreibt in dem kurzen Text auf recht unterhaltsame und teilweise ironische Weise, wie zufrieden sie als „Amöbe“ lebt.
ZITATORIN
Ich gehöre nicht zu den Leuten, die eine große Sache daraus machen, dass sie keinen Sex haben. (...) Es ist vielmehr so, dass mich das Thema überhaupt nicht interessiert. Und ich finde, dass die Abwesenheit von Sexualität mein Leben um einiges leichter macht. (...) Ein Geburtstag weniger, den ich mir merken muss, weniger Lebensmittel, die ich einkaufen muss und niemand, der mich davon abhält, dass ich auf meiner eigenen Liste ganz oben stehe.
SPRECHER
Stellenweise liest sich der Text von O`Reilly sogar wie eine Art Manifest.
ZITATORIN
Hier bin ich und ich bin stolz asexuell zu sein. Meine Leute sind definitiv eine Minderheit und wünschen sich anerkannt zu werden wie alle anderen. Wir wollen farbige Schleifen, einen nationalen Feiertag, Gutscheine für Fast Food! Und wir wollen, dass die Welt da draußen weiß, dass es uns gibt.
Musik aus
SPRECHER
Der Artikel hatte offenbar einen Nerv getroffen. Viele Menschen erkannten sich wieder. In den Kommentaren unter dem Online-Artikel entwickelte sich in den folgenden Wochen und Monaten eine rege Diskussion zu dem Thema.
O-TON 14 (Flörcken)
Und das wird so als erste Möglichkeit angesehen, für Menschen mit ähnlichen Erfahrungen sich auszutauschen.
Musik Robots (privat)
SPRECHER
Einige Jahre nach Erscheinen des Textes gründeten sich die ersten Foren und Communities. Das bekannteste ist heute Aven, das es seit 2001 gibt.
Die Buchstaben stehen für Asexual Visibility and Education Network, was auf deutsch so viel bedeutet wie: Sichtbarkeit von und Aufklärung über Asexualität. Auch Kati Radloff ist vor einigen Jahren auf das Online-Forum gestoßen.
Musik aus
O-TON 15 (Radloff)
Und ich dachte natürlich; krass, andere Asexuelle, es gibt sie wirklich und das war auch inspirierend irgendwie, worüber sie gesprochen haben. Also was Asexualität ist, war nur eine von vielen Fragen, größtenteils ging es darum, wie gestalte ich meine Beziehung oder wie gehe sozusagen gegenüber anderen um, oute ich mich oder nicht, (was für eine Einstellung habe ich gegenüber meinem Körper, was für eine Einstellung habe ich zu Nähe, Intimität und so weiter.) Das fand ich unglaublich bereichernd und dachte, das muss es auch auf deutscher Seite geben. In Deutschland gibt es bestimmt auch Asexuelle, also habe ein deutsches Unterforum dazu aufgemacht, und das hat wirklich relativ viel Resonanz gefunden, muss ich sagen. Also innerhalb von kürzester Zeit hatten wir schon mehrere tausend Benutzer, die gesagt haben; ja, ich bin auch asexuell, wow, ich bin jetzt 50 oder 60, 70, und dachte wirklich mein ganzes Leben lang, ich wäre irgendwie verkehrt.
Musik Robots (privat)
SPRECHER
Aven gibt es heute in vielen Ländern und Sprachen. Das Internetforum hat sehr stark dazu beigetragen, Asexualität bekannter zu machen. Viele Wissenschaftler und Journalisten beziehen sich auf das Online-Forum und auch die heutige Definition geht größtenteils auf Selbstbeschreibungen von Aven-Mitgliedern zurück.
Warum Asexualität so plötzlich in Wissenschaft und Öffentlichkeit aufpoppte und diskutiert wird, ist unklar. Jückstock vermutet, dass es heute generell mehr Toleranz gegenüber solchen Themen gibt.
Musik aus
O-TON 16 (Jückstock)
Es ist einfach mehr Offenheit da, über Sexualität zu reden, auch über unterschiedliche Ausgestaltungen von Sexualität, vielleicht hat es das erleichtert.
SPRECHER
Viele Asexuelle beschreiben das Online-Forum Aven als erste Anlaufstelle, wo sie nicht nur Informationen bekommen haben, sondern auch erleichtert feststellen konnten: Es gibt andere Menschen, die ähnlich empfinden wie ich.
O-TON 17 (Jückstock)
Das ist der große Vorteil davon, endlich zu wissen, was ist eigentlich los mir mir und auch mitzubekommen, es gibt andere, denen geht es genauso und das ist nichts Schlimmes, sondern es ist einfach eine bestimmte Art, wie die Sexualität ausgeprägt ist. Und dass es viel Druck nimmt, den Fehler – den Fehler in Anführungsstrichen – bei sich zu suchen oder eben herausfinden zu wollen, was stimmt mit mir nicht.
SPRECHER
Ein großes Thema in den Foren sind Beziehungen.
O-TON 18 (Radloff)
Es gibt viele Asexuelle, die haben keine Liebesbeziehung im klassischen Sinne, die sind halt aromantisch, das heißt, die haben halt enge Freundschaften, die ähnlich wie Lebenspartnerschaften sind, oder einen ganz engen Freundeskreis und haben mit denen auch zusammen Kinder, was weiß ich. Aber die haben halt nicht dieses Liebesbeziehungskonzept sozusagen.
SPRECHER
Radloff ist eher der romantische Typ. Für sie war es deshalb besonders interessant zu erfahren, wie andere Asexuelle ihre Partnerschaft – und ein eventuelles Liebesleben – gestalten.
Musik Did that hurt? Z8007984 116
O-TON 19 (Radloff)
Wie ist denn das bei dir mit Treue, mit Liebessachen und so weiter. Wie können Beziehungen gestaltet werden, welche Nähe und welche Form von Intimität möchte ich gerne ausleben? Möchte ich Kinder haben oder nicht, wie sieht es mit meiner Weiblichkeit aus?
SPRECHER
Beim Thema Sex haben sich Radloff und ihr Freund inzwischen gut arrangiert – zu ihrer beider Zufriedenheit.
O-TON 20 (Radloff)
Wir haben da wirklich Wege gefunden, die da gut funktionieren, um sexuelle Nähe zu leben, ohne dass einer von uns beiden zu weit über sich selbst hinaus gehen muss.
SPRECHER
Wie Paare, bei denen einer asexuell ist, ihr Liebesleben gestalten – und wie sie mit Treue oder Eifersucht umgehen – ist sehr unterschiedlich. Auch in den Online-Foren zeigt sich auch, dass es „die“ Asexuellen natürlich nicht gar gibt.
Musik aus
O-TON 21 (Jückstock)
Es gibt jetzt wieder neue Unterkategorien, also ob man nun ein romantischer Asexueller ist, romantische Beziehungen eingeht ohne Sexualität oder ein Solo-Asexueller, also es gibt schon wieder ganz viele Unterkategorien, die zeigen, wie vielfältig es ist. Es gibt Menschen, die sich als asexuell bezeichnen, aber viel Freude an Masturbation haben. Es gibt Menschen, die sich als asexuell bezeichnen und überhaupt kein Interesse an Masturbation haben.
SPRECHER
Mit Gleichgesinnten zu sprechen, ist für viele auch deshalb wichtig, weil das Umfeld oft irritiert reagiert. Keine Lust auf Sex, da muss etwas schief gelaufen sein, denken offenbar viele Menschen. Diese Erfahrung hat auch Kati Radloff gemacht.
O-TON 22 (Radloff)
Mir wurde unterstellt, ich wurde missbraucht, ich wurde missbraucht und hätte es nur vergessen, mir wurde gesagt, ich hätte eine schwierige Kindheit gehabt, meine Eltern wären zu offen gewesen oder sie wären zu rigide gewesen, mir wurde gesagt, ich soll zum Arzt gehen, meine Hormone überprüfen lassen, das ist krank.
SPRECHER
Viele Asexuelle berichten, dass sie erst einmal auf Ablehnung stoßen, wenn sie Freunden und Bekannten erzählen, dass sie Sex nicht interessiert. Ähnlich wie Homosexuelle sprechen sie deshalb von einem Coming-Out, wenn sie sich zu ihrer Asexualität bekennen.
O-TON 23 (Jückstock)
In den seltensten Fällen löst es ja wohlwollende Neugier aus, sonst hätte man nichts zu befürchten, wenn man das sagt, wenn man dann auf viel wohlwollende Neugier stößt und Nachfragen. Sondern häufig gibt es ebenso latente Anfeindungen. Bist du frigide? Kommt dann im schlimmsten Fall noch die Nachfrage. Es gibt sehr viele negative Bezeichnungen für Menschen, die wenig sexuellen Kontakt haben, gerade was Frauen angeht. Und das mag zum einen sein, dass Menschen so reagieren, wenn sie auf etwas Anderes stoßen, was im ersten Moment fremd ist. Aber irgendwie scheint es ja auch sozusagen etwas auszulösen, dass sich jemand angegriffen fühlt.
SPRECHER
Die Frage ist: Warum eigentlich? Denn es könnte anderen ja eigentlich herzlich egal sein, wenn jemand asexuell ist – mal abgesehen vielleicht vom eigenen Partner. Jückstock vermutet, dass der ein oder andere, der ablehnend auf ein Coming-Out reagiert, gekränkt sein könnte, vielleicht auch nur unbewusst.
O-TON 24 (Jückstock)
Natürlich hat Sex auch was mit Fortpflanzung zu tun und wenn da jemand, der aus evolutionsbiologischer Sicht gute Erbanlagen verspricht, sagt: Meine Erbanlagen stehen nicht zur Verfügung. Das ist ne Frustration. Das eigene Begehren kommt nicht an bei einem Menschen, der sich als asexuell bezeichnet.
SPRECHER
Zwar würden eher wenige von sich behaupten, in evolutionsbiologischer Mission unterwegs zu sein und nach guten Erbanlagen Ausschau zu halten. Aber man sollte, sagt Jückstock, sich mal vor Augen führen, was Menschen so alles veranstalten, um attraktiv für potenzielle Sexpartner zu sein.
O-TON 25 (Jückstock)
Freitagabend in die Disco gehen und gucken, ob man mit jemandem knutschen kann, kann ne hohe Motivation sein, am Freitagabend loszugehen und irgendwie sich in enge Klamotten zu zwängen und draußen zu frieren, weil man sagt: Ach, vielleicht treffe ich jemand Nettes. Das ist sozusagen der Motivator. Wenn der sozusagen nicht da ist, dann würde jemand sagen: Warum soll ich mich bei Kälte, in unbequeme Klamotten, in eine Horde von betrunkenen Menschen begeben?
Musik Hubble (privat)
SPRECHER
Fragen wirft Asexualität auch in der Wissenschaft auf. Zwar gehen die meisten Forscher heute davon aus, dass keine oder wenig körperliche Anziehung durch andere Menschen genauso eine Ausprägung von Sexualität ist wie dessen Gegenteil, wenn jemand sehr schnell und häufig erregt ist. Dennoch stellen manche Forscher die Frage, inwieweit Asexualität einen Krankheitswert hat. Denn wenn jemand keine Lust auf Sex hat, kann das durchaus auf Erkrankung zurückgehen, zum Beispiel auf eine Depression. Deshalb ist es für Therapeuten wie Jückstock sehr wichtig, genau hinzuhören, wenn jemand von fehlender Libido berichtet.
Musik aus
O-TON 26 (Jückstock)
Wir haben Patienten oder Patientinnen, die sagen: Ich bemerke, dass ich keine sexuelle Lust mehr hab und das macht mir Probleme. Die bezeichnen sich nicht als asexuell, sondern da ist ein klarer Wunsch nach Veränderung Wunsch nach Hilfe. Deswegen suchen die therapeutische Hilfe auch auf.
SPRECHER
Wobei es auch einige Wissenschaftler gibt, die fragen, ob Asexualität nicht generell als sexuelle Störung gewertet werden sollte. Jückstock hat dazu eine klare Meinung:
O-TON 27 (Jückstock)
Das Entscheidende ist, dass ein Leidensdruck bei der betroffenen Person vorliegt, Leidensdruck und ein Veränderungswunsch, und das ist ganz häufig bei jemandem, der sich als asexuell bezeichnet, überhaupt nicht gegeben. Damit ist ein wesentlicher Bestandteil, um etwas als Krankheit klassifizieren zu können, gar nicht gegeben. Ich finde es auch durchaus sinnvoll, dass Asexualität nicht als Krankheit gewertet wird, sondern dass es einfach eine Ausprägung von Sexualität ist wie viele andere Ausprägungen auch.
SPRECHER
Ungeklärt ist auch die Frage, ob Asexualität dauerhaft oder temporär ist. Denn die Sexualität verändert sich im Laufe des Lebens, bei allen Menschen.
O-TON 28 (Jückstock)
Das bleibt ja nicht starr. Also in der Jugend ist die Sexualität anders als im Alter. Ich würde sehr dafür plädieren, offen zu sein für die Veränderung, die in uns möglich sind.
SPRECHER
Dass sich manche damit schwer tun, Asexualität als sexuelle Orientierung anzuerkennen, liegt vermutlich auch daran, dass sie nicht so richtig in unser Bild von Sexualität passt. Die gängige Vorstellung ist, dass Sex natürlich, eine Art Instinkt ist und man als junger, gesunder Mensch eben ein Liebesleben hat, egal, wie das im Einzelnen aussehen mag.
O-TON 29 (Flörcken)
Und darauf hatten Theorien von Sigmund Freud oder auch Masters und Johnson, das sind andere Sexualforscher, die haben das mitbeeinflusst.
Musik Water and Glass (privat)
SPRECHER
Laut dem Psychoanalytiker Freud ist der Mensch ein Wesen, das – bewusst oder unbewusst – durch seine Triebe gesteuert wird. Menschen, die keine Lust haben, passen nicht in dieses Modell. Und auch wenn nicht jeder die Theorien Sexualforschern wie Freud im Detail kennt – auf unser derzeitiges Verständnis von Sexualität hatten sie maßgeblichen Einfluss. Vielleicht stellen deshalb manche die Frage, ob bei Asexuellen etwas nicht stimmt oder ob in ihrer Kindheit etwas schief gegangen ist. Sie werden auf diese Weise pathologisiert, weil Asexualität bei Freud und Co einfach nicht vorgesehen war.
O-TON 30 (Flörcken)
Dieses Konzept von Sexualität als Norm führte dann lange Zeit oder führt immer noch dazu, dass Asexualität gar nicht richtig denkbar ist.
Musik aus
Musik Crazy in Love Z8007984 110
SPRECHER
Es wird deshalb sehr spannend, wie Asexualität als neue sexuelle Orientierung in wissenschaftliche Konzepte integriert wird, und wie das wiederum unsere Vorstellung von Sexualität verändern wird.
Musik aus
Die Übergänge zwischen Acker und Feld, Wald und Wiese, Bach und Straße werden immer weniger. Dabei ist längst klar, dass diese kleinen Landschaftsstreifen besonders wertvoll sind für die Artenvielfalt. Für viele Säugetiere, Pflanzen und Insekten sind diese "Säume" zwischen verschiedenen Landschaftsnutzungen der ideale Ort, um zu überleben. Von Daniela Remus (BR 2024)
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Frank Manhold
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Rainer Buchwald, Biologe, Universität Oldenburg;
Dr. Lena Neuenkamp, Biodiversitätsforscherin, Universität Münster;
Prof. Georg Petschenka, Insektenkundler, Universität Hohenheim;
Prof. Andreas Schweiger, Ökologe, Universität Hohenheim
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ATMO (Sommeratmo, Vögel zwitschern usw., verblenden mit Atmo von Straße oder Bach oder Traktorfahrt) dann darüber:
SPRECHERIN
Sie sind klein, schmal, oft auch etwas kümmerlich und werden häufig übersehen: Die Ränder oder Übergänge von einem Landschaftselement zum nächsten. Zwischen Acker und Wald, Bach und Straße, Wiese und Feld. Den meisten Menschen fallen sie nicht auf, denn sie sind ein „Dazwischen”. Der Name für diese kleinen Biotope: Saum oder Saumhabitat, aber auch – wissenschaftlicher gesprochen – Refugialfläche, Puffer oder Ökoton. Das Lexikon der Biologie beschreibt den Saum als einen…
ZITATOR
„…wachsenden Streifen von krautigen, meist mehrjährigen Pflanzen, der sich floristisch und damit auch strukturell vom angrenzenden Nutzland (Wiese, Acker, Weide) oder von Wegen absetzt. Je nach Wasser- und Nährstoffhaushalt sind die Säume sehr verschiedenartig aufgebaut.”
ATMO (vom Anfang nochmal hoch)
SPRECHERIN
Denn es kommt darauf an, wo sie sich befinden. Welche Bereiche der Landschaftsnutzung umsäumen sie? Wälder, Äcker oder Bäche? Oder unterbrechen sie als sogenannte Knicks mit Hecken und Sträuchern landwirtschaftlich genutzte Felder?
TAKE 1 (O-Ton Schweiger) L: 0, 15
Grundsätzlich kann man unterscheiden zwischen menschlich gemachten Saumhabitaten und Saumhabitaten oder Ökotonen, die durch nicht menschliches Zutun gestaltet werden, die dann generell als Ökotone bezeichnet werden.
SPRECHERIN
Erklärt Andreas Schweiger, Professor für Pflanzenökologie von der Universität Hohenheim. Natürliche Saumhabitate finden sich beispielsweise in den Bergen: Die Übergange vom Wald in Grasland oder alpine Matten. Außerdem kommen natürliche Säume zum Beispiel auch in den nördlichen Breitengraden vor. Auch dort stellen sie den Übergang dar von bewaldeten Zonen zum offenen, steppigen Gelände der Tundra.
ATMO (Wind pfeift eisig)
SPRECHERIN
Wenn wir hierzulande über diese Übergänge sprechen, dann geht es in der Regel um andere Säume, nämlich um die von Menschen. Also um die Ränder von Äckern, die Bereiche zwischen Wald und Wiese oder die Böschungen von Bächen und Flüssen. Naturschützerinnen und Biologen fordern, diese oft unscheinbaren Streifen Land besser zu schützen. Denn diese Biotope seien ein Rückzugsort für viele Tier- und Pflanzenarten, und damit für den Erhalt der Artenvielfalt unersetzlich. Was das Besondere an einem solchen Übergangsgelände ist, das lässt sich am Beispiel eines Waldrandes anschaulich machen:
TAKE 2 (O-Ton Buchwald) L: 0, 20
Da gibt es eine bestimmte Abfolge, die nennt man Zonierung oder Zonation, das heißt, da sind vier Zonen nebeneinander geschaltet, die interessanterweise auch durch eine zeitliche Veränderung miteinander verbunden sind…
SPRECHERIN
Erklärt der Biologe Rainer Buchwald. Er ist emeritierter Professor an der Universität Oldenburg.
TAKE 3 (O-Ton Buchwald) L: 0, 30
Das ist einmal der eigentliche Wald, mit einem besonderen Waldinnenklima und der Wald ist eben gekennzeichnet durch die Dominanz von Bäumen… dann das nächste ist der Waldmantel, der ist dem vorgelagert sozusagen und ist dominiert von Sträuchern oder jungen Bäumen kann man auch sagen, und der unterscheidet sich vom Wald durch ein anderes Mikroklima.
SPRECHERIN
Unter dem Begriff Mikroklima verstehen die Biologen einerseits die klimatischen Bedingungen in Bodennähe bis zu einer Höhe von rund 2 Metern. Und andererseits ist damit das Klima gemeint, in einem kleinen, klar definierten Bereich. Zum Mikroklima gehört die Bodenbeschaffenheit eines Geländes, die Art und Dichte der vorherrschenden Pflanzen und die Lichtverhältnisse. Aber auch Standortbedingungen wie Wind beeinflussen das Mikroklima. Der Waldmantel, in der Aufteilung von Rainer Buchwald Zone zwei, geht in den Waldsaum über und erst danach, als Zone vier beginnt das Kulturland. Das kann ein Acker sein oder eine Straße. Jede dieser vier Zonen weist ein ganz spezielles Mikroklima auf. Und das bedeutet: Die Zonen unterscheiden sich durch die Sonnenbestrahlung, Feuchtigkeit oder die Bodendichte. Und dementsprechend lassen sich in diesen vier Zonen sehr unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten nieder.
TAKE 4 (O-Ton Buchwald) L: 0, 30
Man sagt, dass ein Wald, damit er ein richtiges Waldinnenklima hat, sollte er mindestens 1-2 Hektar groß sein. Davor ist er den Randeinflüssen zu stark ausgesetzt und ein richtiges Waldinnenklima bildet sich nicht. Der Waldmantel, wenn er von verschiedenen Sträuchern besiedelt ist, sollte mindestens wenn es geht 4-5 oder noch mehr Meter breit sein. (…) Und dann kommt der Waldsaum, der wieder ein anderen Mikroklima hat, der ist noch stärker besonnt oder offen und ist deshalb den äußeren Einflüssen stärker ausgesetzt als der Wald selber (…)
SPRECHERIN
Waldsäume können eigenständige Biotope sein. Sie bieten dann sichere Brutplätze und Nahrung wie Früchte, Nektar oder Pollen. Insekten, Spinnen, Vögel und kleinere Säugetiere leben dann hier. Um aber als eigenständiges Biotop überhaupt bestehen zu können – gegen die äußeren Einflüsse – können Saumhabitate nicht beliebig groß oder klein sein, sie brauchen eine Mindestgröße.
TAKE 5 (O-Ton Buchwald) L: 0, 10
Das ist die Krux: Fluch und Segen eines Saums ist eben, dass er einerseits was Eigenes ist, aber auf der anderen Seite in der heutigen Landschaft sehr häufig unter die Räder kommt.
SPRECHERIN
Und damit meint er, dass sie nicht genug in ihrer Besonderheit beachtet werden. Deshalb fordert Rainer Buchwald, dass kein Saum schmaler sein dürfe als zwei Meter, denn sonst sei dieser bewachsene Rand eben kein Biotop, in dem sich die dafür typischen Tiere und Pflanzen ausbreiten können. Neben der Mindestgröße sei darüber hinaus noch ein weiterer Aspekt entscheidend, damit ein solches Gelände auch tatsächlich als Biotop funktionieren kann: Seine Pflege. Denn diese kleinen Landschaftsflecken dürfen nicht komplett verwildern, nicht komplett zuwachsen, um ihre Eigenart nicht zu verlieren, betont der Vegetationskundler Rainer Buchwald:
TAKE 6 (O-Ton Buchwald) L: 0, 25
Ein Saum ist immer ein Offenbiotop und wenn irgendwann Gehölze aufkommen, dann muss eben ein Landwirt oder eine Gemeinde oder ein Naturschutzverband …muss diese Bereiche pflegen, und das Beste, was man da machen kann, ist eben einmal im Jahr mit dem Mäher drübergehen, damit die nicht zuwachsen und wirklich einen Offencharakter haben.
SPRECHERIN
Denn, um beim Waldrand-Beispiel zu bleiben, würde der Waldsaum nicht immer mal wieder gemäht, allerdings höchstens einmal pro Jahr, dann würde sich der Wald nach und nach auf dieses Territorium ausbreiten.
ATMO (Waldatmo)
SPRECHERIN
Es gibt Tiere und Pflanzen, die sowohl in den kleinen Übergängen als auch im angrenzenden Wald vorkommen. Aber sie brauchen diese unterschiedlichen Biotope für verschiedene Lebensphasen. Die Brut mancher Insekten ist z.B. im Wald perfekt aufgehoben, während die geschlüpften Insekten bessere Lebensbedingungen im Saumhabitat haben. Und manche Arten erfüllen in den unterschiedlichen Umgebungen unterschiedliche Funktionen.
TAKE 7 (O-Ton Petschenka) L: 0,30
So kann es z.B. sein, dass sich am Waldsaum oder am Rand eines Waldweges da kommt beispielsweise durchaus mal ein Baumschößling hoch, und der Baum ist nicht gleich Baum. Der Baum kann ökologisch eine ganz andere Funktion haben, wenn er als kleiner Schößling irgendwo am Wegrand steht, als wenn er eine ausgewachsene Eiche oder Buche im Mischwald ist. Weil manche Insekten beispielsweise ihre Eier nur an Stockaustriebe legen… und da macht es einen ökologischen Unterschied, ob ich einen Baum oder einen Baumschößling vor mir habe und deshalb ist ein Rand oder Saumhabitat ganz wichtig.
SPRECHERIN
Der Lebenszyklus der Pflanzen ist mit dem anderer Arten aufs engste verknüpft, sagt Georg Petschenka, Professor für Insektenforschung an der Universität Hohenheim. Manche Schmetterlinge nutzen junge Bäume zur Eiablage, Wildbienen brauchen Totholz zum Brüten während andere Insekten sich von der Baumrinde ausgewachsener Bäume ernähren. Und nicht zu vergessen, die verblühten Blühwiesen bieten vielen Insekten Unterschlupf als Winterquartier. Deshalb ist es notwendig, unterschiedliche Biotope bestehen zu lassen oder sie anzulegen, um die Artenvielfalt zu erhalten bzw. das Artensterben zu verlangsamen. Und noch ein Beispiel, das zeigt, wie wichtig Saumhabitate sein können: An Gewässern beispielsweise stabilisieren Büsche und kleine Bäume das Ufer und beschatten im Sommer das Wasser. Das bleibt dadurch ein paar Grad kühler und kann so für einzelne Fischarten lebensrettend sein.
ATMO (Bachgeglucker)
SPRECHERIN
Saumhabitate sind also ein wertvoller Lebensraum, der aber in den letzten Jahrzehnten drastisch geschrumpft ist. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Da ist zum einen die Tatsache, dass immer mehr Flächen versiegelt wurden, dass Gewässer begradigt und Feuchtbereiche trockengelegt wurden. Aber auch der Umstand, dass die Landwirte im großen Stil Pestizide auf den Feldern versprühen. Als Hauptursache für den Rückgang dieser kleinen Streifen gebiete benennen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber den grundlegenden Strukturwandel in der Landwirtschaft, erklärt Andreas Schweiger:
TAKE 8 (O-Ton Schweiger) L: 0, 30
Wenn man das Ganze historisch betrachtet, ist es natürlich so, dass die Flurbereinigung sehr viele von diesen Saumhabitaten aus unserer Landschaft entfernt hat. Es werden ja auch Heckenstrukturen als Saumhabitate z.B. gesehen, die wurden einfach systematisch entfernt aus unseren Landschaften mit den allen bekannten Folgen für die Biodiversität, für die Rückzugsräume, pflanzlich aber auch tierisch.
SPRECHERIN
Die Flurbereinigung. Hinter diesem Begriff steht die umfassende Umstrukturierung der Landwirtschaft, die bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen hat. Durch die Erfindung des Kunstdüngers und den Einsatz der ersten landwirtschaftlichen Maschinen. Der entscheidende Schritt aber erfolgte in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch das sogenannte Flurbereinigungsgesetz, das am 1. Januar 1954 in Kraft trat. Der erste Paragraph beschreibt das Ziel dieses Gesetzes:
ZITATOR
„Zur Förderung der landwirtschaftlichen und forstwirtschaftlichen Erzeugung und der allgemeinen Landeskultur kann zersplitterter oder unwirtschaftlich geformter ländlicher Grundbesitz nach neuzeitlichen betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zusammengelegt, wirtschaftlich gestaltet und durch andere landeskulturelle Maßnahmen verbessert werden (Flurbereinigung). ” (§1 Flurbereinigungsgesetz 1953)
SPRECHERIN
Die Konsequenzen dieses Gesetzes: Das Nebeneinander vieler kleiner Äcker, zum Teil schief und krumm, durch Hecken, Gebüsch oder schmale Blühstreifen voneinander getrennt, in manchen Regionen eher einem Flickenteppich ähnelnd, wurde nach und nach neu geordnet.
ATMO (landwirtschaftliche Maschinen)
SPRECHERIN
So entstanden große rechteckige Flächen, die von Ackerwalzen, Beregnungsmaschinen oder Mähdreschern problemlos befahren werden können.
TAKE 9 (O-Ton Neuenkamp) L: 0, 25
Die Flächen, seitdem es die Ackermaschinen gab, sind seitdem viel, viel größer geworden. Früher konnten die Arten immer noch einmal durch´s Feld laufen oder fliegen, heute sind die so groß, dass das einfach unmöglich ist. Und deswegen ist es so wichtig, Ausweichhabitate zu haben. Und die können linear sein aber letztendlich geht es um alle Brachflächen.
SPRECHERIN
Erklärt Dr. Lena Neuenkamp, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Münster, mit Schwerpunkt Biodiversitätsforschung. Die Flurbereinigung veränderte aber nicht nur die Größe der Äcker, das Aussehen der Landschaft, sondern auch die Lebensbedingungen vieler Pflanzen und Tiere: Hecken und schmale Blühstreifen standen der intensiven Nutzung des Bodens entgegen und mussten deshalb vielfach weichen:
TAKE 10 (O-Ton Schweiger) L: 0, 10
Die menschlichen bedingten Saumhabitate sind, oder waren traditionell Bereiche, der extensiveren Nutzung, also Rückzugsorte für Pflanzen und Tiere.
SPRECHERIN
Sagt der Ökologe Andreas Schweiger. Diese Rückzugsorte, wissenschaftlich Refugialflächen genannt, gingen durch die Flurbereinigung im großen Stil verloren. Wie groß der Verlust der Flächen tatsächlich ist, lässt sich allerdings nur schätzen. Denn nicht in allen Bundesländern ist der Verlust dokumentiert worden. Aus Schleswig-Holstein liegen aber z.B. Daten vor. Dort verschwanden zwischen 1950 und 1980 rund 28.000 Kilometer dieser Saumhabitate. Heute ist klar, und wissenschaftlich erwiesen, dass diese Randstreifen und Übergangspassagen bei der Flurbereinigung unterschätzt wurden. Denn sie spielen für den Erhalt der Artenvielfalt eine ganz zentrale Rolle, betont Insektenkundler Georg Petschenka von der Uni Hohenheim:
TAKE 11 (O-Ton Petschenka) L: 0, 30
(…)und die Besonderheit ist, dass diese Lebensräume einfach sehr, sehr heterogen sind, das sind einfach Lebensräume, die sich im Prinzip von links und rechts unterscheiden. Also von dem, was angrenzt, (…) und dieser Übergangsbereich ist besonders interessant, weil wir da andere Bedingungen vorfinden, (…), das geht einher mit einem heterogenen Mikroklima auch unterschiedlichen Nischen und einer erhöhten Biodiversität.
SPRECHERIN
Die Biodiversität ist aber nicht in allen Säumen gleich. Sie variiert je nach Struktur des Saums und je nach Umgebung. Eine junge Hecke beherbergt andere Arten als eine alte Hecke, eine Blühwiese am Waldrand ist ein anderer Lebensraum als der bewachsene Rand einer Autobahn.
TAKE 12 (O-Ton Buchwald) L: 0, 20
Es ist ein eigenes Mikroklima, es sind Arten, die dort ihren Schwerpunkt haben, es ist extrem schwierig, da exklusive Arten zu finden… aber die Zusammensetzung der Arten, die Artengemeinschaft, die ist schon einmalig, das auf jeden Fall, wegen dieses Mikroklimas.
SPRECHERIN
Und Georg Petschenka ergänzt:
TAKE 13 (O-Ton Petschenka) L: 0, 35
Wenn ich jetzt einen Waldrand hab, dann finde ich dort nicht nur Arten, die es im Wald gibt oder auf der angrenzenden Wiese, sondern ich finde auch Arten, die vielleicht nicht ausschließlich aber doch vorrangig in solchen Habitaten vorkommen. Also gerade wenn ich an Wegränder denke, da finde ich (…) eine Insektenfauna die vielleicht einen offenen, lückigen Bodenbewuchs braucht, bestimmte Laufkäfer beispielsweise, die ich möglicherwiese in der Wiese daneben gar nicht finde. (…) Da werden Lebensräume geschaffen, die für bestimmte Arten letztendlich essentiell sind.
SPRECHERIN
Die Forschenden schätzen, dass es rund 8 Millionen Arten gibt. Etwa 1 Millionen davon steht kurz vor dem Aussterben, so der Welt-biodiversitätsrat. Und: Das gegenwärtige Artensterben gehe 10 bis 100 Mal schneller voran, als in den letzten 10 Millionen Jahren. Selbstverständlich sind diese alarmierenden Prognosen nicht allein damit zu erklären, dass es immer weniger Säume in der Landschaft gibt. Aber der Rückgang dieser Lebensräume trägt zum Artensterben ebenfalls bei. So hat sich beispielsweise allein in Deutschland die Anzahl der Vogelarten in der Agrarlandschaft in den letzten Jahrzehnten um mehr als 36 Prozent verringert.
ATMO (Wiesenatmo)
SPRECHERIN
Deshalb haben mittlerweile alle Bundesländer sogenannte Naturschutzpläne, in denen es auch um die Wiederherstellung und die Pflege von Saumhabitaten geht. In Bayern zum Beispiel ist 2019 durch das Volksbegehren Artenvielfalt und Naturschönheit in Bayern das Ziel ins Auge gefasst worden, den „Biotopverbund Offenland” bis 2030 auf 15 Prozent zu steigern. Zur Zeit liegt er noch bei rund 10 Prozent. Denn, das ist die zweite nicht zu unterschätzende Funktion von Saumhabitaten: Sie ermöglichen es, Biotope miteinander zu vernetzen, wie Rainer Buchwald erklärt:
TAKE 14 (O-Ton Buchwald) L. 0, 20
Entlang dieser Korridore wandern z.B. Rehe, das machen Rebhühner, das machen Tagfalter, wenn ich drumrum nur eine Straße und Acker hab, dann ist das das einzige was noch halbwegs ein paar Blüten anbietet für die Tagfalter oder Wildbienen, auch nicht immer viel, aber besser als nichts.
SPRECHERIN
Feldhasen, Rehe, Wildkatzen, Rebhühner und auch die verschiedensten Insektenarten, sie alle brauchen den sogenannten Biotopverbund. Also eine Vernetzung zwischen den Gebieten, in denen sie sich aufhalten und verstecken können oder in denen sie Nahrung finden. Denn viele von ihnen haben keine große Reichweite, wie es in der Biologie heißt. Und das bedeutet, dass sie eine Entfernung von mehreren hundert Metern nicht überwinden können. Ohne Korridore, die einen Saum mit dem anderen verbindet, schaffen sie es also nicht die Entfernung zu bewältigen, sagt Georg Petschenka:
TAKE 15 (O-Ton Petschenka) L: 0, 30
Verinselung ist ein großes Problem, dass Biotope oder Habitate zerschnitten werden, und dann Populationen isoliert. Damit eine Art dauerhaft existieren kann…Insektenarten sind da von ihrer Empfindlichkeit her relativ unterschiedlich, aber üblicherweise ist doch schon so, die Meinung, dass wir einen großen genetischen Fluß wollen und deswegen ist es wichtig, dass die Einzelvorkommen vernetzt sind. Und da helfen natürlich viele kleine Inselchen, um so etwas zu erreichen.
SPRECHERIN
Trittsteinhabitate nennen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese kleinen Inselchen, die eine Biotopvernetzung ermöglichen, erklärt Lena Neuenkamp.
TAKE 16 (O-Ton Neuenkamp) L: 0, 15
Die werden dementsprechend Trittsteinhabitate genannt, dass man sagt, dass selbst die Arten, die in der Intensivlandwirtschaft nicht leben können, die haben dann da wie so Trittsteine, um dann ein Habitat mit dem anderen zu verknüpfen.
SPRECHERIN
Das Wissen um die Bedeutung der kleinen Saumgebiete für die Artenvielfalt ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Und damit auch die Erkenntnis, dass die Flurbereinigung zwar dazu beigetragen hat, die Landwirtschaft zu optimieren, dass sie aber gleichzeitig viele Schäden verursacht hat und auch noch heute bewirkt. Dennoch passiere in der Praxis bisher viel zu wenig, so das einhellige Urteil der Expertinnen und Experten, um diese wertvollen kleinen Flächen angemessen zu schützen. Rainer Buchwald von der Universität Oldenburg:
TAKE 17 (O-Ton Buchwald) L: 0, 30
Man kann nicht sagen, dieser Saum hier, egal ob das am Graben ist oder am Weg oder am Wald, er ist per se schutzwürdig. Und deshalb weil er oft zu schmal, zu klein ist und deshalb ist oft auch dies „geschützter Landschaftsraum”, den man oft bei Baumreihen, bei Alleen hat, der greift da nicht richtig. Und wer macht sich die Mühe, so einen wunderbaren Saum (…) zusammen mit dem Wald oder mit dem Trockenrasen unter Schutz zu bringen?
SPRECHERIN
Das sieht auch Andreas Schweiger von der Universität Hohenheim so.
TAKE 18 (O-Ton Schweiger) L: 0, 10
Das Bewußtsein ist da…ich denk, letztendlich es hängt damit zusammen, dass Förderung noch nicht gezielt genug zur Verfügung gestellt wird, bzw. umgesetzt werden kann.
SPRECHERIN
Die Ursache für die oft halbherzige Umsetzung liegt vermutlich auch daran, dass es bisher, ganz formal, kein Naturschutzprogramm gibt, in dem es ausdrücklich um Saumhabitate geht. Ein solches existiert nicht, betont Rainer Buchwald.
TAKE 19 (O-Ton Buchwald) L: 0, 20
Es gibt keinen geschützten Biotoptyp nach §30 vom Naturschutzgesetz, der sagt, dieser Waldsaum oder dieser Grabenrand ist besonders schutzwürdig! Das gibt es nicht. Und wenn man Glück hat, wird er auch so erhalten und wenn man Pech hat, wird er eben weggenietet.
SPRECHERIN
Dabei gäbe es Möglichkeiten, diese Rand- und Übergangsbereiche zu schützen, zu pflegen und zu erhalten. Viele dieser Flächen sind im kommunalen Besitz. In Bayern zum Beispiel gibt es im Internet den „Bayernatlas”, auf dem ist die Flurstückskarte einsehbar. Dort sind die Flächen gekennzeichnet, die am Rand von Straßen, Feldern oder Gewässern im kommunalen Besitz sind und die als Saumhabitat angelegt oder gepflegt werden könnten. Allerdings rät Lena Neuenkamp von der Universität Münster davon ab, in Aktionismus zu verfallen und überall die gleichen Hecken zu pflanzen oder Blühstreifen anzulegen. Denn für die Artenvielfalt brauche es landschaftliche Diversität, gibt sie zu bedenken:
TAKE 20 (O-Ton Neuenkamp) L: 0, 20
Eine Saumstruktur eine Ackerbiodiversitätsmaßnahme, die kann nicht alles abdecken. Es geht ja auch um Dinge wie, eine Hecke speichert viel Kohlenstoff, die einen sind gut für die Bodeninsekten, die anderen für die Bestäuber…
SPRECHERIN
Deshalb sieht sie es als erforderlich an, nicht nur neue Säume anzulegen, sondern sie in ihrer Struktur so zu mischen, so dass sie für unterschiedliche Tiere und Pflanzen attraktiv sind. Und das bedeutet, dass es neben den generellen Schutzprogrammen für diese Gebiete auch Pflege- oder Aufbauprogramme geben sollte, die die landschaftlichen Bedingungen in einer Region übergeordnet bedenken und nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen bepflanzen und pflegen. Bis dahin aber kann jeder Einzelne viel dafür tun, den eigenen Garten, die Terasse oder den Balkon zu Rückzugsorten für heimische Arten zu machen.
Schon als Jugendliche beobachtet Maria Sibylla Merian fasziniert, wie aus gefräßigen Raupen erst wie tot wirkende Puppen und dann bunte Schmetterlinge werden. Für Biologen des 18. Jahrhunderts waren ihre Bücher Fachliteratur. Autorin: Renate Ell (BR 2013)
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Ell
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Katja Schild, Peter Lersch
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Brigitte Reimer
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MUSIK
ERZÄHLERIN
1647, ein Jahr vor dem Ende des 30jährigen Krieges, kommt Maria Sibylla Merian in Frankfurt am Main zur Welt, als jüngstes Kind einer der bedeutendsten Künstler- und Verleger-Familien im deutschsprachigen Raum. Ihr Vater Matthäus Merian stirbt, als sie drei Jahre alt ist. Ihre Mutter heiratet ein Jahr später Jacob Marrell, einen Kunsthändler und Maler, spezialisiert auf Blumen-Stillleben. Ein Glücksfall: Er erkennt und fördert die künstlerische Begabung seiner Stieftochter - in seiner Werkstatt absolviert sie eine Ausbildung als Blumenmalerin gemeinsam mit den männlichen Lehrlingen. Sie lernt, wie sie später in ihrem „Raupenbuch“ erzählt,
ZITATORIN MERIAN („Der Raupen wunderbare Verwandelung …“, Vorwort, S. 5)
"… meine Blumenmalerei mit Raupen, Sommervögelein und dergleichen Thierlein auszuzieren … eines durch das ander’ gleichsam lebendig zu machen."
ERZÄHLERIN
Mit „Sommervögelein“ meint sie Schmetterlinge.
ZITATORIN MERIAN (ebd.)
"Also hab’ ich oft große Mühe in Auffangung derjenigen angewandt, bis ich endlich, vermittelst der Seidenwürmer, auf der Raupen Veränderung gekommen."
ERZÄHLERIN
Frankfurt ist im 17. Jahrhundert ein Zentrum der Seidenspinnerei. In der Werkstatt eines Onkels beobachtet Maria Sibylla erstmals mit 14 Jahren wie aus Seidenraupen Puppen und dann Falter werden. Und entdeckt durch erste Forschungen, vielleicht im Garten hinter dem Haus, dass diese Metamorphose bei allen Schmetterlingen gleich abläuft. Aber sie streift wohl auch durch die Räume des Merian-Verlags - dort liegen Bücher mit Bildern von allen möglichen Tieren - damals bahnbrechende Werke, sagt die Biologie-Historikerin Katharina Schmidt-Loske vom Museum König in Bonn.
MUSIK ENDE
(1. ZUSP.) KATHARINA SCHMIDT-LOSKE
"Neben dem Ulisse Aldrovandi von 1602, das Werk über die Insektenkunde, gibt es ein zweites, das ist von Thomas Mouffet von 1634, was sich auch wiederum mit der Insektenwelt beschäftigt und diese beiden Werke von Thomas Mouffet und Aldrovandi wurden in der „Historiae naturalis“ von John Johnston zusammengeführt, ein fünfbändiges Werk, in dem eins über Insekten, Schlangen und Drachen zusammengeführt war, und das wurde in der Werkstatt der Merians hergestellt."
ERZÄHLERIN
Es sind keine biologischen Fachbücher im heutigen Sinne. Die damaligen Autoren versuchen lediglich die Vielfalt des Lebens zu erfassen und eine Systematik zu schaffen. Ihre Werke dienen auch Künstlern als Vorlagen, denn sie enthalten vor allem sehr viele präzise Abbildungen. In der „Historiae naturalis“ sind das erstmals fein schattierte Kupferstiche anstelle der zuvor üblichen, viel gröberen Holzschnitte - eine echte Pionierarbeit der Merians. Auch das Kupferstechen lernt Maria Sibylla wohl im Verlag ihres verstorbenen Vaters, meint Brigitte Strehler vom Kunstkabinett Strehler in Sindelfingen.
(2. ZUSP.) BRIGITTE STREHLER
"Ich glaube nicht, dass das für Frauen in der damaligen Zeit üblich war, den Kupferstich zu erlernen, und sie ist eine ganz hervorragende Kupferstecherin - sie kann sehr, sehr fein stechen, in wunderschönen schwarzweiß-Schattierungen; das ist auch durchaus eine schwierige Tätigkeit, wenn man einmal mit dem Stichel in dem Kupfer gearbeitet hat, das lässt sich ja nicht radieren, das ist fix, da ist dann eine Linie, und die lässt sich nicht mehr so leicht wieder entfernen aus der Kupferplatte, weil das ist eine Vertiefung in der Kupferplatte und die ist dann da."
ERZÄHLERIN
Im Alter von 19 Jahren heiratet Maria Sibylla Merian den Architektur-Maler Johann Andreas Graff aus Nürnberg, einen Lehrlings-Kollegen in der Werkstatt. Fünf Jahre später zieht das Paar mit der zweijährigen Tochter nach Nürnberg.
MUSIK N1514040#8
ERZÄHLERIN
In Nürnberg herrscht eine ähnliche Atmosphäre wie in Frankfurt - es ist eine protestantisch geprägte Freie Reichsstadt, also nur dem Kaiser untertan, und regiert von einer Bürgervertretung. Der Kunsthistoriker Andreas Curtius von den Museen der Stadt Nürnberg.
MUSIK N1514040#8 ENDE
(3. ZUSP.) ANDREAS CURTIUS
"Der große Rat und der Kleine Rat, das sind also die Hauptgremien in Nürnberg, die hatten das Sagen in Nürnberg und haben alles eigentlich auch entschieden innerhalb der Stadt, das zweite wesentliche für Nürnberg ist, dass es eine Handelsstadt war, dass Nürnberg Handelsbeziehungen quer über ganz Europa unterhielt, und dass dritte wesentliche Element ist das Patriziat, was sehr ausgeprägt ist in Nürnberg, sehr traditionsbewusst ist, aber gleichzeitig auch sehr weltoffen. Denn der Handel wurde z.T. auch durch das Patriziat geführt, und das Patriziat war eben auch eine sehr gebildete Schicht, und das hatte zur Folge, dass nach dem 30jährigen Krieg Nürnberg auch einen schnellen Wiederaufstieg hatte, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geistig-kulturell."
ERZÄHLERIN
Es muss eine anregende Atmosphäre gewesen sein für die junge Künstlerin, zumal sie schnell Kontakt findet zur lokalen Oberschicht, den Patrizierfamilien: Sie gibt deren unverheirateten Töchtern Malunterricht - scherzhaft spricht sie von ihrer „Jungfern-Companey“. Und sie findet auch Kontakt zu anderen Künstlern und Dichtern, für die Nürnberg ein gutes Pflaster ist.
(4. ZUSP.) ANDREAS CURTIUS
"Das Patriziat war ein sehr wichtiger Auftraggeber, und Nürnberg war auch ein Buchdruckerort ähnlich wie Frankfurt, sehr wichtig waren eben auch Unternehmungen wie illustrierte Bücher, das war eine sehr einträgliche Quelle auch für die Künstlerschaft."
ERZÄHLERIN
Sicher haben sie auch die waschechten, mit Blumenmotiven bemalten Tischdecken von Maria Sibylla Merian gekauft. 1675 veröffentlicht die ihr erstes illustriertes Buch - das „Neue Blumenbuch“. Es steht ganz in der Tradition der so genannten Florilegien, wie sie auch der Merian-Verlag auf den Markt brachte. Solche Bücher enthalten Kupferstiche mit einzelnen Blumen oder Blumen-Arrangements als Vorlagen für Amateur-Maler und für Stickarbeiten. Solche Blumenbücher verkaufen sich gut, in schwarz-weiß oder - gegen Aufpreis - einzeln koloriert. Maria Sibylla Merians Blumenbuch erscheint in drei Bänden. Wie sie es bei ihrem Stiefvater gelernt hat, krabbeln hier und da Insekten über die Blätter, flattert ein Schmetterling davon. Vier Jahre später, und ein Jahr nach der Geburt der zweiten Tochter, erscheint das zweite Buch - und da ist auf einmal alles anders. Die Schmetterlinge sind nicht mehr nur ein belebendes Element. Und für ihre Bilder verwendet sie im Unterschied zu den Malern von Stillleben keine Vorlagen aus naturhistorischen Büchern. Die Biologie-Historikerin Katharina Schmidt-Loske:.
(5. ZUSP.) KATHARINA SCHMIDT-LOSKE
"Sie hat eine richtige Insektenzucht betrieben zuhause in Schächtelchen, hat jedes Stadium erfasst und hat dann als Ergebnis dessen ihr 50 Tafeln umfassendes Werk von 1679, das erste Raupenbuch mit dem Titel „Der Raupen wunderbare Verwandelung und sonderbare Blumennahrung“, in dem hat sie eine Pflanze, die Futterpflanze der Raupe meist in der Mitte dargestellt und rundherum die verschiedenen Entwicklungsstadien. Und das ist absolut neu."
ERZÄHLERIN
Dieses „Metamorphosebild“ ist ihre …
ZITATORIN MERIAN (Raupenbuch, Teil 1; Titel, S. 3)
"…ganz neue Erfindung …"
ERZÄHLERIN
… wie sie im Titel stolz vermerkt. Die meisten Menschen kennen damals die Entwicklungsstadien nicht, die sie im Vorwort ausführlich erläutert.
(6. ZUSP.) KATHARINA SCHMIDT-LOSKE
"Was weit verbreitet war, war der aristotelische Urzeugungs-Gedanke, dass Insekten aus Schlamm und Dreck entstehen, spontan. Das ist natürlich nicht ganz weit hergeholt, denn was man optisch sehen kann, sind die Larvenstadien, die größer sind, die Eier hat man nicht gesehen, die Entwicklung des Mikroskops steht erst bevor, oder auch die Nutzung von Lupen war noch nicht so gängig, dass man sich überhaupt auf diese kleinsten, kleinen Tiere konzentrierte, das begann ja alles erst, das war also ein hoch spannendes Zeitalter."
ERZÄHLERIN
Auch Maria Sibylla Merian selbst entdeckt erst nach und nach, dass alle Schmetterlinge dieselbe Entwicklung durchlaufen wie die Seidenspinner. Sie hält ihre Beobachtungen in kleinen Aquarellen fest, und aus diesen Einzelteilen - Futterpflanze, Eier, Raupe, Puppe, Schmetterling - entsteht dann der Kupferstich für das Buch. Man merkt ihm diese Entstehung durchaus an: Manche Raupen sitzen etwas steif auf der Pflanze, und die Puppen - die sie „Dattelkern“ nennt - liegen neben der Pflanze oder auf einem Blatt wie auf einem Präsentierteller, statt darunter zu hängen, wie in der Natur. In den Begleittexten wird nur die Futterpflanze namentlich bezeichnet, die meisten Insekten hatten damals noch keine Namen.
MUSIK N128393000
ZITATORIN MERIAN (Raupenbuch, Teil 1; Tafel XLVII)
"Ob nicht die unten kriechende Raupe eine von der artigsten und fürnehmsten Gattung der bishero abgehandelten Raupen sei, soll sich bald eröffnen. Denn sie hat fünf große, gelbe Haarborstel auf dem Rücken, zu hinterst noch einen aufgerichten roten Schweif oder Haarschwanz, und ist sonst sehr schön gelb, wie ein schönes Dottergelb. Wenn sie sich streckt, so sieht man vom Kopf an zwischen etlichen Gliedern breite schwarze Streife, wie Sammet; hat auch auf jeder Seite des Leibs schwarze Düpfelein.
Unter dem Kopf finden sich zu jeder Seiten sechs rote Kläulein, in der Mitte des Leibs acht gelbe Füßlein und zu hinterst noch zwei derselben. Ihre Art ist, dass sie von gar erschrockner Natur. Denn so bald sie das geringste merkt oder fühlt, so rümpft sie sich alsobald zu sammen und liegt, als wäre sie tot, so lang, bis alles wieder still ist.
Zu Ende des Augusts aber hat sie sich zu ihrer Veränderung hinbegeben, und ein weißes Gespinst gemacht, worinnen sie zu einem braunen Dattelkern worden. Und weil ich derer etliche hatte, so sind mir teils Vöglein noch im November, teils aber im April des folgenden Jahres hervorgekommen, welche Motten waren, die nur bei Nacht fliegen. Ihre Farb ist weiß und schön grau, wie silberfarb; sie haben zwei braune Hörner und sechs graue oder silberfarbene Füßlein."
MUSIK N128393000 ENDE
ERZÄHLERIN
Die detaillierte Beschreibung ist wichtig, da die meisten Leser Schwarz-Weiß-Ausgaben haben, erklärt Brigitte Strehler vom Kunstkabinett Strehler in Sindelfingen. Nur sehr wenige Bücher hat Maria Sibylla Merian handkoloriert.
(7. ZUSP.) BRIGITTE STREHLER
"Aber das konnte sich ein normales Bürgertum nicht leisten. Das waren dann die Luxusausgaben, die dann in die Höfe gingen oder an die etwas adligeren oder wohlhabenderen Bibliotheken, denn das war nicht üblich, dass man zuhause so ein Buch hatte, denn da war überhaupt kein Geld dafür da."
ERZÄHLERIN
Während in den Schwarzweiß-Bildern die deutlichen Linien des Kupferstichs von Vorteil waren, verwendete Merian für einen Teil der kolorierten Bücher eine ganz besondere Drucktechnik.
(8. ZUSP.) BRIGITTE STREHLER
"Sie hat dann ein zweites Büttenpapier, ein etwas leichteres, dünneres Büttenpapier genommen und hat das auf den ganz frischen Kupferdruck nochmal aufgelegt und nochmal durch die Walze gezogen und das abgeklatscht, abgedruckt, und damit entstand ein seitenverkehrter, viel zarterer Abdruck dieses Kupferstichs, der ganz zarte, feine Linien hatte, keinen Prägerand, und den sie dann koloriert hat, und da hatte sie dann diesen Aquarellcharakter, den sie eigentlich haben wollte. Das war eine ganz schlaue Idee von ihr, denn sie hat sozusagen das Aquarell in ein Multiple verwandelt."
ERZÄHLERIN
Nur wenige dieser so genannten Umdrucke haben die Jahrhunderte überdauert - in all ihrer Schönheit: Die farbenfrohen Schmetterlinge scheinen fast über dem Papier zu schweben. Die Bildtafeln kommen mitunter als Einzelblätter in den Kunsthandel. Durch ihr kleines Format - etwa so wie heute ein Roman - wirken aber auch die kolorierten Exemplare bescheiden.
Das Raupenbuch beginnt mit dem Lobgedicht eines Nürnberger Gelehrten und Poeten, der es in eine Reihe stellt mit den Werken der ersten Insektenforscher. Aber wissenschaftliche Werke erscheinen damals in lateinischer Sprache. Und Maria Sibylla Merian widmet ihr Buch …
ZITATORIN MERIAN (Raupenbuch, Teil 1, Titel, S. 3)
"… den Naturkündigern, Malern und Gartenliebhabern."
ERZÄHLERIN
Die Naturkündiger, das sind eher Natur-Liebhaber als Gelehrte. Sie zieht auch eine klare Grenze ihrer Fähigkeiten, etwa wenn sie beobachtet, dass aus einer Puppe kein Schmetterling wird, sondern Fliegen ausschlüpfen. Das Phänomen der Parasiten war damals noch unbekannt.
ZITATORIN MERIAN (Raupenbuch, Teil 1, Tafel XXII, S. )
"Was nun die rechte Ursach solcher unordentlichen Veränderungen sey, … habe ich nicht ausfinden noch erdenken können, sondern den Herren Gelehrten überlassen müssen und sollen."
ERZÄHLERIN
Einen deutlichen Hinweis auf den Charakter ihres Buchs gibt Maria Sibylla Merian im Vorwort.
ZITATORIN MERIAN (Raupenbuch, Teil 1, S. 5)
"Suche … hierinnen nicht meine sondern allein Gottes Ehre, Ihn als einen Schöpfer auch dieser Kleinsten und geringsten Würmlein zu preisen. … welcher sie mit solcher Weisheit begabt, dass sie … ihre Zeit und Ordnung fleißig halten und nicht eher hervorkommen, als bis sie ihre Speise zu finden wissen."
ERZÄHLERIN
Die Historikerin Anne-Charlott Trepp von der Universität Kassel sieht das Raupenbuch in einer Tradition mythisch-spiritueller Naturfrömmigkeit.
(9. ZUSP.) ANNE-CHARLOTT TREPP
"Die davon ausging dass man einen direkten Weg zu Gott findet, jeder für sich, und im 17. Jahrhundert finden wir tatsächlich eine Bewegung, sich mehr zu öffnen dem zweiten Buch, kann man so sagen, dem Buch neben der Heiligen Schrift, das ist das Buch der Natur. Es gibt seit dem 17. Jahrhundert so einen Trend, sich überhaupt allgemein mehr mit niederen, gewöhnlicheren Naturphänomenen zu beschäftigen. Nicht mehr mit außergewöhnlichen. Und in diesem Rahmen geraten Insekten ebenfalls ins Zentrum des Interesses. Gerade in dem angeblich Unscheinbaren, oder auf den ersten Blick Unscheinbaren sucht man eben wirklich das Höchste, Gottes Wirken in der Natur, Gottes Allmacht, Gottes Vorsehung in der Natur, gerade da, wo man es nicht vermutet."
ERZÄHLERIN
Bücher wie das von Maria Sibylla Merian sollen also gleichsam durch Wissen über die Natur den Glauben stärken.
(10. ZUSP.) ANNE-CHARLOTT TREPP
"Sich Faktenwissen anzueignen und sich gleichzeitig über dieses Wissen, auch die Vermehrung des eigenen Wissens, zu erheben, zu erbauen, das ging wirklich eng zusammen in damaliger Zeit und das wurde dann durch so ein Erbauungsbuch wie das Merians wirklich sehr schön möglich."
ERZÄHLERIN
Diese überkonfessionelle, außerkirchliche Bewegung ist in Frankfurt wie auch in Nürnberg stark vertreten in gebildeten Kreisen, zu denen auch gebildete Handwerker wie die Merians zählten. In ihrem Verlag erscheinen etliche religiöse, auch kirchenkritische Schriften.
MUSIK N128393000
ERZÄHLERIN
Rund 12 Jahre lebt und arbeitet Maria Sibylla Merian in Nürnberg. Nach dem Tod ihres Stiefvaters kehrt sie 1683 mit ihren zwei Töchtern nach Frankfurt zurück, um Erbschaftsangelegenheiten zu klären. Dort erscheint auch der zweite Band des Raupenbuchs.
Nach Nürnberg geht sie nicht mehr - sondern sie zieht mit ihren Töchtern und ihrer Mutter nach Friesland, um dort bei den Labadisten, einer pietistischen Sekte, zu leben.
MUSIK N128393000 ENDE
(11. ZUSP.) ANNE-CHARLOTT TREPP
"Und diese weist alle Elemente einer wirklich eher separatistischen, heute würden wir sagen, fundamentalistischen Frömmigkeit auf. Diese völlige Negation des Körperlichen, aber dies mit einer Konsequenz durchführt, wie wir das in anderen pietistischen Gemeinden, die eben auch diesen Wandlungsvorgang, eine geistige Erneuerung suchen, eben nicht haben."
ERZÄHLERIN
Mit dem Beitritt zu den Labadisten verlässt Maria Sibylla Merian ihren Mann, da die Sekte nur Ehen innerhalb ihrer Gemeinschaft anerkennt, und Johann Andreas Graff diesem Fundamentalismus offenbar nichts abgewinnen kann. Vergeblich reist er nach Friesland um seine Frau umzustimmen. Später beschreibt er seine Eindrücke in einem langen Brief an Johann Jakob Schütz, einen fundamentalistischen Frankfurter Pietisten, der seine Frau in offenbar beeinflusst hat. Es ist der Brief eines verzweifelten Vaters, der sich um seine Töchter sorgt - vor allem um die kleinere, 10-jährige, denn er habe gesehen, wie Kinder dort brutal verprügelt wurden. Und er klagt, seine Frau tue nicht alles freiwillig - und ihr Werk, das er unterstützt habe, drohe verloren zu gehen. Dieser Brief, erst 2009 bekannt geworden, revidiert das Bild von Graff, der in vielen Merian-Biografien schlecht wegkommt: als seiner Frau künstlerisch unterlegen, womöglich ein Trunkenbold oder Weiberheld. Auch äußert der Nürnberger Rat äußert sich lobend über Graffs …
ZITATOR (Nürnberger Ratsverlässe, Nr. 2844)
"… allhie geführten guten Wandel, auch in seiner wißenschafft und Information der Jugend geführten Fleiß."
ERZÄHLERIN
Graff war offenbar nicht nur als Architekturmaler anerkannt, sondern auch als Zeichenlehrer. Auch auf Maria Sibylla Merian wirft der Brief und die genauere Betrachtung ihres geistigem Umfelds in Frankfurt ein anderes Licht als es in den Biografien bisher der Fall war. Religiöser Fundamentalismus - das passt so gar nicht zu der beliebten emanzipatorischen, gar feministischen Interpretation ihrer Biografie.
MUSIK C5057280#21
ERZÄHLERIN
Graff hat mit seinem Besuch keinen Erfolg - fünf Jahre später wird seine Ehe vom Nürnberger Rat geschieden, und er heiratet wieder. Zu dieser Zeit hat sich die Labadisten-Sekte bereits aufgelöst - und Frau und Töchter sind weitergezogen nach Amsterdam.
In der pulsierenden Metropole war es unter den reichen Bürgern Mode, botanische und zoologische Raritäten in Mode zu sammeln, die regelmäßig mit Schiffen aus den Kolonien kamen, erzählt die Biologiehistorikerin Katharina Schmidt-Loske.
MUSIK C5057280#21 ENDE
(12. ZUSP.) KATHARINA SCHMIDT-LOSKE
"Was war das für eine verrückte Zeit, wo so viele Pflanzenknollen und Material getauscht wurde untereinander, zwischen botanischen Gärten und Leuten, die genug Geld hatten, gigantische Schneckensammlungen, und überall war jeder stolz über diese Sammlungen, da waren die Künstler gut im Geschäft, u.a. Maria Sibylla Merian und ihre Töchter, weil natürlich das Botanisieren eine Möglichkeit war, die Pflanzen zu erhalten, aber die viel schönere war natürlich die kraftvolle Vitalität und Farbenpracht durch einen Künstler für die Ewigkeit zu erhalten.
ERZÄHLERIN
Die Töchter, ebenfalls begabte Malerinnen, können mit zum Lebensunterhalt beitragen. Außerdem braucht die Mutter Geld für ein teures und gewagtes Unterfangen: Eine Reise in das kleine südamerikanische Land Surinam, damals niederländische Kolonie. Sie will die prächtigen Schmetterlinge, die sie aus Sammlungen kennt, in ihrem Lebensraum sehen und malen. Und sie schafft es - zu einer Zeit, als allein reisende Frauen eigentlich völlig undenkbar sind. Zwei Jahre von 1699 bis 1701, lebt sie mit ihrer jüngeren Tochter in dem tropischen Land, und erkundet das Umfeld der Zuckerrohrplantagen - unterstützt von Einheimischen und Sklaven, von denen sie vieles über die medizinische Verwendung der Pflanzen erfährt. Zurück in Amsterdam, gelingt es ihr in kürzester Zeit, einen großformatigen Prachtband über die Pflanzen und Tiere Surinams zu veröffentlichen.
(13. ZUSP.) KATHARINA SCHMIDT-LOSKE
"Als erstes naturkundliches Werk Surinams ist ihr Werk zu bezeichnen, sie hat wirklich da Grundlagen entdeckt und beschrieben."
ERZÄHLERIN
Wird Maria Sibylla Merian am Ende ihres Lebens doch noch zur Naturforscherin, als die sie sich vorher nie gesehen hat?
Für das Surinam-Werk zieht sie einen bekannten Amsterdamer Botaniker zu Rate, es erscheint auf Latein und Niederländisch. Es ist kein Andachtsbuch, dem Text fehlen jegliche Hinweise auf Gottes Wirken. Aber es ist nicht ihr letztes Werk: Kurz nach ihrem Tod 1717 veröffentlicht ihre jüngere Tochter einen dritten Band des Raupenbuchs - offenbar ist sie der Naturfrömmigkeit bis zuletzt treu geblieben. Unabhängig davon werden alle ihre Bücher später von Biologen für ihre Forschung genutzt.
(14. ZUSP.) KATHARINA SCHMIDT-LOSKE
"Die Informationen die sie bieten konnte über manche Tierarten, das waren ja die allerersten von manchen Arten. Linné hat 136 mal ihr Werk zitiert."
ERZÄHLERIN
Carl von Linné, der im 18. Jahrhundert die systematischen Grundlagen der heutigen Biologie schuf.
MUSIK N151373#6
ERZÄHLERIN
Maria Sibylla Merian hat keine persönlichen Aufzeichnungen hinterlassen. Ihre wenigen überlieferten Briefe enthalten fast nur Geschäftliches - und außer dem Brief ihres enttäuschten Ehemanns gibt es auch keine persönlichen Äußerungen über sie. Nur ihre Bücher können uns Aufschluss geben über ihr Denken, ihre Ziele. Ihre Eigenständigkeit zu einer Zeit, als das für Frauen so nicht üblich war, weist zweifellos auf eine starke Persönlichkeit hin. Bei den Motiven wird es schon schwieriger. Zielstrebiges Selbstbewusstsein - trotz mancher bescheidenen Äußerung im Raupenbuch? Religion als treibende Kraft - auch für den Weg nach Amsterdam und Surinam? Die Person Maria Sibylla Merian bleibt letztlich rätselhaft - was uns nicht daran hindert, uns an ihren Bildern zu erfreuen und ihre insektenkundliche Pionierarbeit anzuerkennen.
MUSIK N151373#6 ENDE
Als Sohn einer italienischen Adelsfamilie wäre sein Weg vorgezeichnet. Doch Luchino Visconti will hinter die Fassaden von Prunk und Pomp blicken. Er wird Drehbuchautor und Regisseur. "Ludwig II.", "Der Leopard", "Der Tod in Venedig", seine Filme zu Schönheit, Tod und Dekadenz erreichen Weltruhm. Von Susi Weichselbaumer (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Julia Fischer, Stefan Wilkening, Katja Schild
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Michaela Krützen, Professorin für Medienwissenschaft, HFF München
Literaturtipps:
Schifano, Laurence: Luchino Visconti. Fürst des Films. Casimir Katz Verlag.
Schneider, Marianne/ Schirmer, Lothar: Visconti. Schriften, Filme, Stars und Stills. Schirmer/Mosel.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Michaela Krützen, Professorin für MediATMO Dreh
ERZÄHLER
Der alte Palazzo Gangi in Palermo ist längst aufgegeben. Für diesen Dreh jedoch
soll das verlassene Gebäude wieder erstrahlen. Strotzen vor Prunk und Pracht, erhabener wirken, denn je.
ERZÄHLERIN
Günstigere Pappkulissen hätten es vielleicht genauso getan…
ERZÄHLER
Nicht, wenn der Filmverantwortliche Luchino Visconti heißt. Visconti steht Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Drehbuchautor, Theater-, Opern- und eben Filmregisseur. Das Credo des Italieners:
ZITATOR VISCONTI (Akustik Patina)
„Es ist meine Überzeugung, dass, wenn man sich mit etwas befasst, man es immer mit Leidenschaft tun muss. Aus diesem Grund sind wir ja auf der Welt, wir müssen brennen bis der Tod, der ja nur der letzte Akt des Lebens ist, sein Werk vollendet, indem er uns in Asche verwandelt.“
MUSIK Der Leopard 1
ERZÄHLER
Für die Produktion des Films „Der Leopard“ 1962 bedeutet das: Soll eine Szene auf einem Ball spielen, dann muss ein Ball stattfinden.
ERZÄHLERIN
Als Komparsen lädt Visconti die Creme de la Creme der palermischen Aristokratie ein. Er beschäftigt zwanzig Elektriker, einhundertfünfzig Handwerker, die Dekorationen bauen, dazu Schneiderinnen, Tanzlehrer, Maskenbildnerinnen…
ZITATORIN (Akustik Patina)
„Ich erinnere mich, dass ich im 13:30 Uhr mit meiner Arbeit begann und am anderen Morgen um 6.00 Uhr aufhörte.“
ERZÄHLER
Der sizilianische Sommer ist heiß.
ERZÄHLERIN
Die eigens im Palazzo installierte Klimaanlage ist teuer, reicht aber nicht aus –
ERZÄHLER
Visconti nutzt also die kühle Nacht und die Morgendämmerung. Genau 48 Nächte hintereinander.
ERZÄHLERIN
Für EINE EINZIGE Ballszene…
ERZÄHLER
Für DIE Ballszene der Filmgeschichte! Der Blumenschmuck kommt jeden Tag frisch, eingeflogen aus San Remo. Das Geschirr aus Gold und Silber für die Tafel ist von den ältesten Familien Palermos geliehen.
ERZÄHLERIN
Die Kerzen an den Lüstern sind echt und müssen stündlich erneuert werden…
ZITATORIN
„Ehe er zu drehen begann, inspizierte Visconti alle Darsteller von Kopf bis Fuß. Das waren nicht weniger als hundert Leute.“
ATMO Dreh
ERZÄHLER
Darunter ist die junge Claudia Cardinale in der weiblichen Hauptrolle. Dunkle, tiefblickende Augen in einem symmetrischen, herzförmigen Gesicht.
Sie wird über diesen sizilianischen Dreh-Sommer sagen:
MUSIK Der Leopard 2
ZITATORIN Cardinale
„Fast wie ein Besessener studierte Visconti jedes Detail, er war bei den Kostümproben, beim Schminken dabei. Nach diesem Film hatte meine Friseurin einen Nervenzusammenbruch, weil meine Frisur so kompliziert war, dass sie jedes Mal, wenn sie mich frisieren musste, mehr als zwei Stunden dazu brauchte.“
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Zur Besessenheit kommt wenig Teamgeist. Für „Der Leopard“ drillt Visconti Claudia Cardinale, Alain Delon und Burt Lancaster. Der Cineast ist bekannt für seine aufbrausende Art – anklagend, schnell beleidigt –
ERZÄHLER
Aber er ist auch enorm begeisterungsfähig! Mal gleicht Visconti einem verheerenden Tsunami, dann einem euphorischen Vulkanausbruch. Künstlerisch leuchtet er die tiefsten Abgründe in all ihrer naturalistischen Hässlichkeit aus und sucht doch nur das Überdauernde, das Schöne – Zuneigung.
ZITATORIN Cardinale (Akustik Patina)
„Im Studio, auf der Bühne war er der absolute Herr und Meister, der letzte Fürst des Films.“
ERZÄHLER
Erinnert sich Claudia Cardinale an die Dreharbeiten. Bis heute ist „Der Leopard“ einer der bedeutendsten Filme des italienischen Cineasten, bestätigt die Professorin an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film HFF, Michaela Krützen.
MUSIK Der Leopard
1 ZU Krützen 5.40
Von Visconti lernen ist wichtig. Und das ist für Filmstudierende vor allem, dass man sich einzelne Einstellungen, einzelne Szenen noch mal ganz langsam ankuckt wie in Zeitlupe, beispielsweise den Tanz in „Der Leopard“, wie wunderschön diese Tanzsequenz ist, nicht einmal zeigen, sondern mehrfach zeigen und genießen.
ERZÄHLERIN
Wogende Paare in paillettenbesetzten Kleidern und glänzenden Anzügen, beschienen vom Flackerschein unzähliger Lüster –
ERZÄHLER
Tatsächlich ähnelt die Szene einem Totentanz. Hier treffen alte und neue Gesellschaft aufeinander. Das Ende einer Ära ist offensichtlich. Auch wenn Don Fabrizio Corbera, Fürst von Salina –
ERZÄHLERIN
Burt Lancaster –
ERZÄHLER
Auch wenn der Fürst die Augen davor verschließen möchte... Auf Sizilien gewinnen ab 1860 bürgerlich-liberale Kräfte an Macht. Letztlich erlaubt Don Fabrizio seinem umstürzlerischen Neffen Tancredi –
ERZÄHLERIN
Alain Delon –
ERZÄHLER
Don Fabrizio erlaubt es dem Neffen, die Tochter des opportunistischen Bürgermeisters zu heiraten... Gespielt von Claudia Cardinale.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN
Jedoch verweigert der Fürst seine Mitarbeit am neuen Königreich Italien. Er will sein altes Leben weiterführen, ohne von den manierenlosen Emporkömmlingen zu sehr belästigt zu werden. Deren Geld hingegen ist ihm willkommen. Wie viele Adelige zur damaligen Zeit ist Don Fabrizio knapp bei Kasse.
ERZÄHLER
Der Niedergang der Aristokratie - Schönheit, Dekadenz, Tod - diese Film-Themen sind Luchino Visconti aus dem realen Leben vertraut.
MUSIK
ERZÄHLER
Am 2. November 1906 kommt er in Mailand zur Welt, als viertes Kind des Herzogs Guiseppe Visconti di Modrone und Carla Erba. Die Mutter stammt aus einer reichen Großindustriellenfamilie. Luchino und seine fünf Geschwister werden streng erzogen. Zur musikalischen Ausbildung gehören Opernbesuche in der Scala selbstverständlich dazu.
ERZÄHLERIN
Überhaupt ist bei Visconti vieles selbstverständlich. Theater, Feste, Gesellschaften – Stadthäuser, Ferienvillen, Reisen, Personal verfügbar an allen Orten und zu allen Zeiten. Selbst während des Ersten Weltkriegs bemüht man sich diesbezüglich um – glanzvolle – Kontinuität.
MUSIK
ERZÄHLER
Auch als der Herzog als Freiwilliger an die Front geht. Carla Erba kümmert sich alleine um die Kinder. Statt der Besuche in der Scala gibt es zunehmend Programm auf der Familienbühne. Luchino inszeniert für seine Geschwister und Freunde bekannte Opern, Shakespeare-Dramen oder eigene Stücke. Der Junge interessiert sich für Literatur, verschlingt Proust, Stendhal, Balzac –
ERZÄHLERIN
Die Wirklichkeit, die ihn umgibt, wird immer unpoetischer. Nach dem Ersten Weltkrieg greift in Italien der Faschismus um sich. Luchino ist jetzt 16, er hat gesehen, wie Mailand Kulisse eines Bürgerkrieges wird mit täglichen Plünderungen und Gewalttaten. Viele hofieren Mussolini, allen voran der König und weite Teile der Hocharistokratie. Genauso Teile der verzweigten Familie Visconti.
ERZÄHLER
Luchino ist klarer Mussolini-Gegner wie sein Vater, an dessen liberaler Haltung er sich orientiert.
ERZÄHLERIN
Allerdings sehen sich Vater und Sohn nicht mehr so häufig. Visconti Senior ist ein Weiberheld, seine Frau verlässt ihn und nimmt die drei jüngsten Kinder mit. Darunter Luchino.
ZITATOR Visconti
„Mein Vater war ein sehr charmanter Mann und sehr sanftmütig; aber er war ziemlich oberflächlich, hatte viele Frauengeschichten und machte meiner Mutter das Leben schwer. Sie war eine sehr leidenschaftliche Frau und der Bruch war endgültig. In der heutigen Zeit, in der Paare, die sich getrennt haben, weiterhin Beziehungen miteinander haben und sich sogar besuchen, kann man sich dies kaum noch vorstellen.“
ERZÄHLERIN
Luchino Visconti kann sich bereits damals ziemlich alles vorstellen.
ERZÄHLER
Er hält weiter Kontakt zu beiden Elternteilen. Er ist jung und offen für das Leben und die Liebe.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Also probiert er sich aus. Finanziell muss er keine Grenzen fürchten. Mit seinen dunklen Augen, den schwarzen Haaren und den ebenmäßigen, aristokratischen Gesichtszügen, der stilsicheren Kleidung und seiner formvollendeten selbstsicheren Art…
ERZÄHLER
Sein Kopf sprüht vor Ideen. Er beginnt eine Militärkarriere, reist um die Welt, verlegt sich erfolgreich auf die Zucht von Vollblütern. Er jagt von Pferderennen zu Reitturnier. Nebenbei versucht er sich als Literat und Filmemacher. Ende 1934 wird er in Kitzbühel der österreichischen Prinzessin Irma von Windisch-Graetz vorgestellt.
ERZÄHLERIN
Luchino will sofort heiraten, die Eltern Visconti – sonst in allem verstritten - wollen das - gemeinschaftlich überzeugt – nicht. Irmas Eltern sind auch dagegen. Herzzerreißende Briefe gehen hin und her, Pläne werden geschmiedet und verworfen –
ZITATOR Visconti
„Ich sehe Dein liebes, trauriges Gesichtchen wieder, als ich vom Bahnhof in Kitzbühl abreiste. Ich denke an Dich. Ich glaube an Dich und Du musst an mich glauben. Ciao, Dein Luchi.“
ERZÄHLER
Der Widerstand der Familien ist zu stark.
ERZÄHLERIN
Oder die Liebenden sind zu schwach, um einfach bei Nacht und Nebel miteinander durchzubrennen.
ERZÄHLER
Visconti ist zu sehr Kind seiner Klasse. Man wirft nicht Status und Vermögen hin und flieht in der Dämmerung.
ERZÄHLERIN
Man verliebt sich aus Sicht seiner Klasse auch nicht in Männer. Dennoch passiert es. Zwei Jahre nach Irma trifft Visconti beruflich auf den erfolgreichen deutschen Modefotografen Horst P. Horst.
ZITATOR Visconti
„Ich umarme Dich herzlich, mein lieber Horst. Halte mich nicht für verrückt. Ich sehne mich sehr nach Dir. Ciao ciao Luchino.“
ERZÄHLER
Offen homosexuell lebt Visconti nicht. Horst fasziniert ihn, reizt ihn, stößt ihn ab.
ERZÄHLERIN
Eine toxische Verbindung, wie später mit vielen anderen Männern. Generell sind Verbindungen mit Visconti kompliziert. Überbordende Gefühle der Verehrung, Freundschaft, Eifersucht. Alles ist Drama. Immer. Am besten versteht er sich mit Menschen, die genauso sind wie er. Zum Beispiel mit der Designerin Coco Chanel.
ERZÄHLER
So intensiv Beziehungen mit Visconti sind, so produktiv sind sie auch. Alles ist Netzwerk. Coco Chanel vermittelt ihn als Regieassistent an den renommierten Filmkünstler Jean Renoir, sein großes Idol.
Visconti ist fortan oft in Paris, reist viel, nach dem Tod seiner Mutter zieht er von Mailand um nach Rom. Nur um dann wieder nach Paris zu fahren: Renoir braucht ihn für die Dreharbeiten zu „Tosca“. In Frankreich wie daheim in Italien dringt er weiter vor in die höchsten Filmkreise. Er schließt sich einer Gruppe antifaschistischer Intellektueller um die römische Kinozeitschrift „Cinema“ an.
ERZÄHLERIN
Man diskutiert Filmstoffe, entwickelt kommunistische Ideen – für die Leinwand und für eine gesellschaftliche Neuordnung. 1941 stirbt sein Vater. Luchino erbt das Haus der Visconti in der Via Salaria in Rom und ein Vermögen. Großzügig unterstützt er Freunde im Widerstand gegen den Faschismus. Die Via Salaria wird zum Unterschlupf für Verfolgte.
ERZÄHLER
Von dieser Wirklichkeit will Visconti erzählen, politische und soziale Abgründe aufzeigen, authentische Filme drehen wie Lehrmeister Jean Renoir, der den poetischen Realismus begründet hat.
ERZÄHLERIN
Problem bloß: Renoir kommt aus einem freien Land, seine Stoffe sind kritisch, seine Herangehensweise ist unverstellt. So zu arbeiten ist in Italien längst nicht mehr möglich. Die staatliche Zensur greift bereits in die Drehbücher ein und verhindert Werke schon im Planungszustand.
ERZÄHLER
Visconti stößt nur auf Ablehnung. Ob eigene Plots oder Adaptionen von Shakespeare, Miller, Proust - konsequent verweigert die Filmbehörde eine Genehmigung.
ERZÄHLERIN
Visconti ist dem Regime suspekt, er gilt als adeliger Kommunist.
ERZÄHLER
Hartnäckig tritt er dennoch für jedes neue Projekt mit Feuereifer ein. Etwa für „Ossessione... Bessenheit“…
Heute ist dieser Film fixer Bestandteil der Einführung in die Filmgeschichte für ihre Studierenden, erzählt die Professorin an der HFF München, Michael Krützen.
ZU Krützen 0.14
Sie treffen zum ersten Mal auf Visconti, wenn wir über den Neorealismus sprechen, das ist so eine Strömung im italienischen Kino am Ende des Zweiten Weltkriegs, wo man sich plötzlich dafür interessiert hat, so ganz realistische Filme zu machen. Und da ist der Visconti mit seinem Film „Besessenheit, Ossessionen“ 1941 so ein wirkliches Erweckungserlebnis für viele Studierende und da sehen die sowas zum ersten Mal.
MUSIK
ERZÄHLER
Auch für Visconti ist ein derartiger Stoff neu. Renoir hatte ihm den jüngst erschienenen Roman von James Cain empfohlen: „The postman always rings twice“. In diesem Krimi verliebt sich die Ehefrau des Eigentümers eines entlegenen Gasthofs in einen Landstreicher. Sie bringt den Geliebten dazu, ihren Gatten zu töten. Man fingiert einen Autounfall. Visconti versetzt die Handlung nach Italien.
ZU Krützen 0.55
Ossessione, Besessenheit, das fängt erstmal an wie so eine super spannende Krimi-Erotik-Geschichte, der Hauptdarsteller mit entblößter Brust, die Hauptdarstellerin wackelt so mit dem Fuß und lockt ihn gewisser Maßen. Am Anfang ist es halt diese Kerngeschichte, eine Frau verführt einen Mann ihren Ehemann umzubringen, doch der Film ändert sich dann und wenn man als Studierende, Studierender nicht vorbereitet ist, dass so nach ungefähr einer Stunde das Ding ungeheuer langsam wird und die so zu zweit ich sag mal durch eine Landschaft stromern, ist man erstmal schockiert. Das heißt, man muss schon etwas Erfahrung haben, um mit VIsconti umgehen zu können, zumindest mit diesem frühen Visconti der Ossessione, dann aber sorgt das durchaus für Begeisterung.
ERZÄHLER
Wider Erwarten hat die Filmzensur kaum Einwände gegen „Ossessione“.
ERZÄHLERIN
Der Faschismus verliert überall an Boden, die Regeln werden dehnbar. Für die Hauptrollen, den Landstreicher Gino und die untreue Ehefrau Giovanna, gewinnt Visconti Massimo Grotto und die weit jüngere, zauberhaft schöne Clara Calamai. Visconti will sie ungeschminkt und unfrisiert, realistisch bis an die Grenze zur Hässlichkeit. Erschöpft soll sie hinterm Tresen des Gasthauses stehen. Er demütigt und beschimpft sie, wie er überhaupt sein Ensemble bis auf wenige Ausnahmen hart anpackt. Niemand soll den Text vorher auswendig lernen, erarbeitet wird Wort für Wort zusammen mit ihm.
ZITATOR Visconti
„Mich interessieren allein Extremsituationen und die Augenblicke, in denen eine außerordentliche Spannung die Wahrheit aus den Menschen hervorlockt. Ich liebe es, die Figuren einer Geschichte sowie ihren Inhalt hart und aggressiv anzugehen“.
ERZÄHLERIN
Visconti verlangt über die Maßen viel.
ERZÄHLER
Und bekommt Großartiges. Clara Calamai erinnert sich:
ZITATORIN
„Wir haben diese Szene – ich weiß nicht wie oft wiederholt – Schließlich verlor Luchino die Geduld. Auf dem Tisch stand ein großes Tablett mit Gläsern. Er nahm eines nach dem anderen und schmetterte es zu Boden, direkt mir vor die Füße, so dass mir die Glassplitter ins Gesicht sprangen.
Ich selbst war wie versteinert, es kam mir nicht mal in den Sinn zu protestieren, war ich doch unsterblich in Luchino verliebt.“
ERZÄHLER
Wie Calamai wird es vielen ergehen. Sie lassen sich auf den italienischen Cineasten ein, weil er sie ganz fordert.
ZITATORIN
„So war Luchino, er veränderte die Menschen.“
ERZÄHLER
Das gilt für Schauspieler wie Kameraleute, Dekorateurinnen, Beleuchter, Schneiderinnen, Maskenbildner - Visconti ist in jedem Filmgewerk versiert und erzwingt Perfektion in sämtlichen Einzelheiten.
MUSIK
ERZÄHLER
Seine authentische Nähe ist neu im europäischen Kino, schonungslos und ohne Poesie. Als Vater des sogenannten „Neorealismus“ schreibt er Geschichte.
ERZÄHLERIN
Die einen empfinden „Ossessione“ als Beleidigung am ganzen Volk, andere feiern die Wahrhaftigkeit. Der Film gilt bald als Symbol der antifaschistischen Rebellion.
ERZÄHLER
Visconti genießt den Beifall, aber auch, dass sich die Kritiker an ihm reiben. Noch realeren Realismus möchte er erschaffen. In entlegenen Dörfern lässt er arme Fischer zu einem vorgegebenen Plot improvisieren. Daraus entsteht eines seiner Meisterwerke, „Die Erde bebt“.
ZU Krützen 3.03
„La Terre trema“, „Die Erde bebt“, das ist nun wirklich Neorealismus von blankster Sorte, ein Film, der vor Ort gedreht ist, mit Laiendarstellern im Dialekt, und da wachen dann auch unsere Dokumentarfilmstudenten auf, die haben den noch nie gesehen, also ein Film, der unter den Leuten selber gedreht ist.
ERZÄHLER
Erzählt die Professorin für Filmgeschichte, Michaela Krützen. Fortan stellt Visconti die Kamera mitten hinein ins echte Leben.1943 rettet er entflohene englische und amerikanische Gefangene vor den deutschen Besatzern, in seiner Villa in Mailand versteckt er Widerständler und Kommunisten. Schließlich wird er von der politischen Polizei gefasst und gefoltert. Als seine damaligen Peiniger nach dem Krieg vor Gericht gestellt werden, filmt Visconti mit. Jeden Augenblick von der Anklagebank bis zur Hinrichtung.
ERZÄHLERIN
Nach einiger Zeit wird Visconti die Realität zu eng und zu eindimensional.
ERZÄHLER
Vielleicht stattet er schlichtweg zu gerne aus, möchte die Details wieder stärker dominieren, mit exzellenten Schauspielern Nuancen herausziselieren, Pointen selber definieren, nicht bloß Alltag abfilmen und arrangieren. Mitte der 1940er Jahre konzentriert er sich verstärkt auf seine zweite große Passion: Die Bühne.
MUSIK
ZITATOR Visconti
„Das Theater ist eine Tribüne, von der aus man auch Dinge sagen kann, die dazu angetan sind zu brüskieren“.
ERZÄHLERIN
Ob mit seiner eigenen Truppe, der „Compagnia Italiana di Prosa“, oder als Gastregisseur: Visconti liefert eine Skandalinszenierung nach der anderen. Zu brutal, zu freizügig, sein Menschenbild zu negativ. Für „Die schrecklichen Eltern“, „Adam“ oder „Die Tabakstraße“ hagelt es Aufführungsverbote, ob in Venedig, Rom oder Mailand. Gleichzeitig gibt es frenetischen Beifall. Die Zuschauer schimpfen und jubeln, buhen und rufen unablässig „Dacapo“. Oft entbrennt eine wütende Schlägerei im Parkett.
ERZÄHLER
Luchino, der „rote Adelige“ polarisiert. Diese Rolle des gehassten und verehrten Provokateurs gefällt ihm. Die Jugend feiert ihn. Das ist genau das Publikum, das er sich wünscht. Keine versnobten Intellektuellen oder kunstverliebte, weil vom Leben gelangweilten Reiche und Schöne, sondern echte Menschen.
ERZÄHLERIN
Naja, die Schönen und Reichen mag er schon auch: Künstler, Autorinnen, Komponisten, Sängerinnen und Schauspieler. Letztere bewundert er besonders, sie sind sein Mittel zum Ausdruck.
Als Gradmesser gelten ihm die Großen vergangener Tage: Die Duse, Sarah Bernhardt. Aktuell gilt: Je mehr Diva, desto begeisterter ist Visconti. Desto mehr reizt ihn die Zusammenarbeit und vielleicht - bei den Männern – sogar noch ein bisschen mehr.
ERZÄHLER
Mit seinen Begleitern zeigt er sich in der Öffentlichkeit, doch wird er sich nie als homosexuell outen.
ERZÄHLERIN
Etlichen wissen ohnehin darum. Visconti brennt leidenschaftlich für viele Herren, feste Beziehungen geht er nicht ein.
ERZÄHLER
Dafür liebt er zu gerne zu dramatisch und zu gerne solche, die ihm darin ähnlich sind. Sein großer Freundes- und Bekanntenkreis ist seine Ersatzfamilie. Die wichtigste Vertrauensperson bleibt lebenslang seine Schwester Umberta.
ERZÄHLERIN
Sie ist die einzige, die ihm sagen darf, dass literweise Kaffee und 80 bis 120 Zigaretten am Tag nicht gesundheitsfördernd sind.
MUSIK
ERZÄHLER
Das weiß Visconti selber. Es geht nicht ohne. Er ist ein Workaholic, der für seine Arbeit brennt. Tag und Nacht. Solches Engagement fordert er selbstverständlich genauso von seinen Mitarbeitenden. In den 1950/60er Jahren sind das zahlreiche Weltstars. Auch talentierte Nachwuchsdarsteller werden unter seiner Führung zu Leinwandgrößen.
Romy Schneider und Alain Delon baut er in seinen Filmen auf, Maria Callas formt er in opulenten Operninszenierungen zur Grande Dame der Scala. Dorthin lädt ihn endlich Arturo Toscanini ein. Visconti inszeniert für ihn Verdi, den „Don Carlos“ oder „Macbeth“. Für Theater in Italien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien richtet er Strindberg, Miller oder Tschechow ein. Für Shakespeares „Wie es Euch gefällt“ heuert er Salvador Dalí als Bühnengestalter an. Maria Schell, Claudia Cardinale, Burt Lancaster...
ERZÄHLERIN
Jeder sagt bei Visconti zu. Lässt sich am Set anschreien, herabwürdigen, quälen.
ERZÄHLER
Wächst unter diesem immensen Druck über sich hinaus.
ERZÄHLERIN
Und bleibt im Geschäft. Inzwischen ist Visconti der Königsmacher im europäischen Film. Er befördert Karrieren und beendet Laufbahnen. Helfendes Netzwerken und zerstörendes Intrigieren.
ERZÄHLER
Macht und Verfall – im Leben wie auf der Leinwand, das sind jetzt seine Themen. In „Der Leopard“ kreisen alte und neue Gesellschaft im Totentanz umeinander. „Rocco und seine Brüder“ erzählt das Scheitern einer prekären Familie aus dem Süden, die in der Großstadt ihr Glück sucht und gnadenlos untergeht. „Bellissima“ rechnet mit der Scheinwelt des italienischen Hollywood, der Cinecittà ab.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Zum Kammerspiel schließlich verdichtet Visconti den Komplex Schönheit, Dekadenz und Tod 1973 in „Ludwig II“. Die intensiv recherchierte historische Figur zeigt er an Originalschauplätzen, Neuschwanstein, Herrenchiemsee, Linderhof. Der Aufwand für Bauten, Technik und Komparserie ist gigantisch.
ZITATOR Visconti
„In Wahrheit sind die gegen mich gerichteten Vorwürfe angeblicher Verschwendungssucht, Vergeudung und willfährigen Hedonismus stets von Leuten ausgegangen, die es noch immer für Luxus halten, im Speisewagen eines Zuges zu essen.“
ERZÄHLERIN
Original Tafelsilber, die Kerzen an den Lüstern mal wieder echt und beim Dreh dauernd auszutauschen...
ERZÄHLER
Visconti ist gesundheitlich angeschlagen, er merkt, dass ihm die Zeit davonläuft. Er erzwingt den perfekten Film.
ERZÄHLERIN
Herausforderung dabei: Visconti ist schwer in seinen Hauptdarsteller verliebt. Helmut Berger. Österreichischer Charme. Blond, groß, attraktiv -
ZITATOR Visconti
„Berger ist wie ein junges Fohlen. Nachwuchs. Er ist voller Phantasie und hat sehr gute Qualitäten. Aber er muss erst heranwachsen, auch ist er sehr launisch.“
ERZÄHLERIN
Wie Visconti.
MUSIK
ERZÄHLER
Wie der ist Berger aber auch bereit, den ganzen Weg Ludwigs II. zu gehen. Strahlend und aufgeregt am Tag der Krönung, fortan unsicher und schwankend und träumend. Cousine Sisi alias Romy Schneider verehrend, Männer liebend. Die Nacht für den Tag eintauschen, Richard Wagner folgen, weitere Schlösser entwerfen. Aufgedunsen. Apolitisch. Weggesperrt.
ERZÄHLERIN
Starnberger See.
ERZÄHLER
Der Bayerische Rundfunk berichtet über die Dreharbeiten 1972. Visconti schenke den Bayern ihren Film zu ihrem König…
ZU Visconti schon mit VO
Das ist der Kampf eines Mannes, der ein Ideal, feste Lebensvorstellungen hat und seine Konfrontation mit einer Realität, die ihn dazu bringt, noch radikaler zu werden, einen reinen Künstlerstaat zu schaffen. Meiner Meinung nach ist das eine sehr moderne Auffassung, doch dieser Traum zerbrach an den Gegebenheiten eines Europas, das sich im Umbruch befand.
ERZÄHLERIN
Allerdings wieder verreißt ihn die Kritik – mit drei Stunden zu lang, zu homosexuell, zu wenig nah am Mythos.
ERZÄHLER
Wieder feiern ihn die Fans.
ERZÄHLERIN
Wieder intervenieren Produzenten, Filmaufseher und Verleiher.
ERZÄHLER
Kürzen. Umschneiden.
ERZÄHLERIN
Visconti gibt nicht auf. Während der Aufnahmen zu „Ludwig II.“ erleidet er einen Schlaganfall und ist halbseitig gelähmt. Der Zustand nervt ihn. Er muss zurück in den Regiesessel, den Ludwig fertig machen, hat danach tausend weitere Ideen im Kopf.
ERZÄHLER
Am 17. März 1976 stirbt Visconti – sozusagen mitten in der Arbeit und Planung. Seine Schwester Umberta ist bei dem 69-Jährigen.
ZITATORIN
„Zum Schluss sah er mich an. Dann sagte er zu mir in unsere Mailänder Mundart: Es genügt, ich bin müde.“
MUSIK
ERZÄHLER
Nach einem atemlosen, schillernden Leben -
ERZÄHLERIN
Von dem unzählige einzigartige Filmmomente bleiben.
ZU Krützen 6.35
Wer was Opulentes haben will, der soll sich den „Leoparden“ anschauen mit einem großen Kaltgetränk, die Füße hochlegen, es ist ein längerer Film, aber ich verspreche es ist Starkino zum Genießen.
ENDE
Im Laufe der Zeit und unter dem Einfluss gesellschaftlicher Veränderung gewinnt das Haustier für den Menschen große emotionale Bedeutung bis hin zum ebenbürtigen Familienmitglied. Autorin: Silke Wolfrum (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Christian Baumann, Hemma Michel, Carsten Fabian
Technik: Roladn Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Clemens Wischermann (Professor; Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Konstanz);
Rüdiger Korbel (Professor; Leiter der Klinik für Vögel, Kleinsäuger, Reptilien und Fische, LMU München);
Ernst Günther (Dr.; Autor des Buches "Wenn ich ein Vöglein wär" und Ehrenpräsident der Gesellschaft für arterhaltende Vogelzucht)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
O-TON 1 Clemens Wischermann
Natürlich ist es auch so, dass die Beziehungen zwischen Mensch und Tier nicht herrschaftsfrei sind. Es gibt ne Ausnahme, mit so einer Ausnahme lebe ich auch zusammen, nämlich Katzen, die eine Katzenklappe haben, mit der sie rausgehen können oder nicht. Das ist sozusagen so das Ideal der freiheitsliebenden Tiervorstellung. Die Katze kommt und geht und wenn sie geht, sagt man zu ihr, ‚komm bitte wieder!‘
O-TON 2 Ernst Günther
Ich habe zum Beispiel in einer größeren Voliere einen Schwarm Zebrafinken fliegen. Wenn Sie diese Vögel in einem Schwarm fliegen haben, dann zeigen sie ein völlig anderes Verhältnis als wenn sie ein Paar in einem Käfig halten. Oder ich vergesellschafte Vögel verschiedener Arten miteinander, sie kommen ja auch in der Natur miteinander vor. Da erlebt man Verhaltensweisen, die man nicht gewusst hat bis dahin. Die Vogelhaltung wie auch die Tierhaltung in den zoologischen Gärten hat zur Kenntnis der Lebensweise der Tiere in erheblichem Maße beigetragen.
O-TON 3 Rüdiger Korbel
Auch wenn hier bei uns in der Klinik ein Schwerpunkt die Vogelhaltung darstellt, bin ich - ich traue es mich kaum zu sagen - aber ich bin ein Katzenmensch und habe hier eine sehr große emotionale Bindung zu Katzen. Wenn ich ein Haustier halten könnte, dann würde ich mir eine Katze zulegen.
MUSIK endet
SPRECHERIN:
Mit ihrer Vorliebe für Katzen liegen sie voll im Trend. Clemens Wischermann, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Konstanz und Professor Rüdiger Korbel, Leiter der Klinik für Vögel, Kleinsäuger, Reptilien und Fische der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Denn die Katze ist momentan mit Abstand das beliebteste Haustier der Deutschen, während Vögel deutlich an Attraktivität verlieren und wohl schon bald auf der Beliebtheitsskala von Reptilien und Kleinsäugern überholt werden. Warum ist das so? Werfen wir zunächst einen Blick zurück zu den Anfängen der Haustierhaltung:
SPRECHER:
Wobei mit Haustier hier diejenigen Tiere gemeint sind, die eng mit dem Menschen zusammenleben - ohne ihm vorrangig von wirtschaftlichem Nutzen zu sein. Wir haben also auf der einen Seite die Nutztiere, wie etwa Schweine, Rinder oder Hühner und auf der anderen die Haustiere oder besser noch Heimtiere, wie etwa Hunde, Katzen, Vögel, Fische, Reptilien und Kleinsäuger.
SPRECHERIN:
Die Ursprünge beider Mensch-Tier-Lebensformen liegen zigtausende Jahre zurück und gehen mit der Sesshaftwerdung des Menschen in der Jungsteinzeit einher:
O-TON 4 Ernst Günther
Jetzt plötzlich schafften Menschen sich Tiere an, weil sie nicht mehr jagen konnten, weil sie nicht mehr wanderten. Und sie mussten jetzt zusehen, dass sie die Tiere beschützen, die sie früher nur gejagt hatten. Sie mussten zusehen, dass ihre Tiere sich fortpflanzen, worum sie sich früher überhaupt nicht zu kümmern brauchten. Und es entstand aus der Jagdbeute ein notwendiger Partner und auf dieser Grundlage entstanden die Freiräume, wo Menschen dann auch sich eines Tieres annehmen konnten, weil sie plötzlich ein Mitempfinden entwickelten zu diesem Tier. Und das hat getragen, bis in unsere Zeit.
SPRECHERIN:
Dr. Ernst Günther, Ehrenpräsident der „Gesellschaft für arterhaltende Vogelzucht“, hat sich für sein Buch „Wenn ich ein Vöglein wär“ mit der Geschichte der Vogelhaltung beschäftigt.
Ihre Anfänge liegen etwa 1.000 v. Chr. im indischen Raum. Viel früher wird der Hund domestiziert. Er wird vor rund 15.000 Jahren zum Begleiter des Menschen und gilt als das älteste Haustier überhaupt.
In Israel gibt es dazu einen spektakulären Fund: Eine vor 12.000 Jahren beerdigte Frau hält einen Hundewelpen eng an sich gedrückt in den Armen, genau so, wie eine Mutter ihr Kind umarmt.
SPRECHER:
War dieser Hund bereits ein Familienmitglied? Eine stark emotionale Beziehung zu Tieren gibt es wohl zu allen Zeiten, dennoch ist eine solche Bindung lange einer privilegierten Schicht vorbehalten und stellt wohl eher die Ausnahme dar, so Clemens Wischermann:
O-TON 5 Clemens Wischermann
Es gibt dann Tiere, die nur sozialen Status demonstrieren sollen, wenn sie an höfische Gesellschaften in Europa zurückdenken, die hatten Menagieren, die hielten exotische Tiere, die sammelten Tierpräparate. Da demonstrierten Tiere Macht, Kraft, politischen Einfluss oder sie können auch Wissen demonstrieren, indem man große Sammlungen anlegte und daran zeigen konnte, wie viel man über die Welt und ihre Lebensformen und ihre Entwicklungen wusste.
Aber im engeren Sinne, das, was ich mit Familienmitgliedern meine, das ist was, was im 19. Jahrhundert einsetzt und sich bis in die Gegenwart entwickelt - und in der Gegenwart zum Massenphänomen wird.
SPRECHERIN:
Es dauert also eine ganze Weile, bis Tiere zum Freund, Kumpan oder eben Familienmitglied werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist das Städtewachstum, das im 18. Jahrhundert einsetzt und mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts stark zunimmt:
O-TON 6 Clemens Wischermann
In den Großstädten verliert sich allmählich die Verbindung zum ländlichen Leben, das ja auf eine ganze andere Art auch ein enges Zusammenleben mit Nutztieren war und in den Städten, in den bürgerlichen Schichten v.a. findet man dann allmählich Tiere. Es gibt die Vögel und Hunde, Hunde werden ganz wichtig. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich die moderne Hundezucht und das ist eigentlich die wichtigste Spezies, die nah an die Familie herankommt.
MUSIK m02
SPRECHERIN:
Lange Zeit halten sich höchstens Adlige einen Hund. Für den Rest der Gesellschaft stellen sie eher eine Gefahr dar. Sind herumstreunende Hunderudel doch potentielle Überträger von lebensbedrohlichen Seuchenkrankheiten wie Pest, Lepra oder Pocken. Doch mit der modernen Medizin und der Bekämpfung dieser Krankheiten werden Hunde auch für das Bürgertum interessant.
SPRECHER:
Der Brite Charles Cruft arbeitet Ende des 19. Jahrhunderts für einen Hundekuchenhersteller. Er hat die Idee, durch Hunde- oder später auch Katzen-Schauen die Tiere aufzuwerten, damit ihre Besitzer dann auch mehr Wert auf Futter und Equipment legen. Eine Überlegung, die mehr als aufgeht.
Schon bald ist es in, Rasse-Hunde oder Rasse-Katzen zu halten und zu züchten, mit ihnen über den Laufsteg zu schreiten und Preise zu gewinnen. Die Tiere verhelfen dem Bürger zu Ansehen, sie bieten ihm Aufstiegsmöglichkeiten in der Gesellschaft. Sie sind Statussymbole. Das hierarchische Denken der Gesellschaft spiegelt sich auch in der Tierhaltung wieder: Das „Herrchen“ herrscht über das Tier und bestimmt wie, wann und mit wem es sich fortzupflanzen hat.
SPRECHERIN:
Doch nicht nur Hunde werden in dieser Zeit gezüchtet, sondern auch Vögel. Die Vogelzucht gibt es zwar schon seit dem 16. Jahrhundert in Europa, doch erst im 19. Jahrhundert wird sie zu einem Massenphänomen, so der Vogelexperte Ernst Günther:
O-TON 7 Ernst Günther
Dann begann im 19. Jahrhundert das Auftreten von Mutationen, von farblichen Veränderungen, von neuen Rassen, die es von Natur gar nicht gibt. Und die waren dann Gegenstand der Vogelzüchtervereine, die die massenhaft gezüchtet haben. Der Altvater der Vogelzucht, Karl Ruß, hat gesagt: Vogelzüchtervereine sind so gut wie die Ausstellungen, die sie machen. Die Vogelzüchter haben sich zusammengetan um erstens ihre Vögel zu tauschen und gegenseitig zu verkaufen, weil sie damit auch die Preisgeschichte im Griff hatten. Und zweitens um sich gesellschaftlich darzustellen in Gestalt von Ausstellungen, die gleichzeitig auch der Werbefaktor dafür waren, dass mehr Leute sich diesem Hobby zuwenden.
SPRECHER:
In Europa wurden und werden fast ausschließlich fremdländische, exotische Vögel gehalten und gezüchtet. Besonders beliebt sind Vögel, die sprechen oder besonders schön singen können, wie viele Papageienarten oder der Kanarienvogel. Mit den neuen Reisemöglichkeiten des 19. Jahrhunderts können immer mehr Menschen sich so einen Exoten nach Hause kommen lassen:
O-TON 8 Ernst Günther
Die Weltreisen der Segelschiffe brachten aus allen Ländern, die sie neu kennenlernten, unter anderem auch lebende Tiere mit, weil die sich wahnsinnig gut absetzen ließen. Und wir hatten dann schon Mitte des 19. Jahrhunderts Hunderttausende von Vögeln, die als Importe ins Land kamen. Und dann entstand natürlich ein Markt und die Preise gingen auch zurück und dann konnte auch der kleine Mann sich die Vögel leisten.
MUSIK m03
SPRECHERIN:
Ähnliches gilt für Fische, mit dem Unterschied, dass die Meereswelt bis ins 18. Jahrhundert hinein als ein unheimlicher Ort voller monsterhafter Wesen gilt, vor denen man sich eher gruselt.
Doch im 19. Jahrhundert beginnen Forscher und Wissenschaftler sich für Meerespflanzen und -Tiere zu interessieren und sammeln diese an der Küste.
SPRECHER:
Lange Zeit waren Goldfische und andere robuste Süßwasserfische die einzigen im Haus gehaltenen Fische. Für die Haltung von Meerestieren fehlte schlicht und einfach das Wissen und die dafür nötige Technik. Dies ändert sich nun. Maßgeblich trägt dazu der Engländer Philip Henry Gosse bei. 1854 erscheint sein Buch „Das Aquarium – die Enthüllung der Tiefseewunder“ - das Wort ‚Aquarium‘ stammt übrigens von ihm – und erregt großes Interesse. Im gleichen Jahr wird auch in Deutschland über diesen neuen Apparat unter dem Titel „Der Ocean auf dem Tische“ geschrieben. Das Aquarium sei, so heißt es …
ZITATOR:
… gefüllt mit Leben aus der Tiefe des Meeres, das man nun darin in seinem ganzen, tiefen geheimnisvollen Reichthume auf dem Tische studieren kann, im Schlafrock und Pantoffeln.
SPRECHERIN:
Das unheimliche und unüberschaubare Meer wird nun in eine manierliche und geordnete Form gebracht und dient dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, aber durchaus auch der Unterhaltung. Ein Aquarium zu besitzen – egal, ob Salzwasser- oder ein Süßwasseraquarium – gehört zum guten Ton. Es wertet das Wohnzimmer auf und demonstriert, dass sich sein Eigentümer auf der Höhe der Zeit befindet. Zahlreiche Vereine der Aquaristen entstehen. Während man zunächst vor allem Wasserpflanzen und wirbellose Tiere wie Schnecken und Muscheln hält, werden bald Fische immer beliebter. Je farbenprächtiger, desto besser. Das haben sie mit den Vögeln gemein.
MUSIK m04
SPRECHERIN:
Doch der Boom um die Haustiere hat natürlich auch seine Kehrseite. Hunde und Katzen werden nach bestimmten Schönheitsidealen gezüchtet. Eine Entwicklung, an deren Ende Tiere entstehen, wie wir sie heute gut kennen: Der Mops mit Glubschaugen und extrem platter Nase, die unter der Reizung ihrer Hornhaut leidet und permanent nach Luft ringt oder Katzen ohne Fell, die sich nicht mehr vor der Sonne schützen können. Im 19. Jahrhundert setzt auch ein rücksichtsloser Raubbau an der Natur ein, da viele exotische Tiere wie Papageien oder Zierfische Wildfänge sind.
O-TON 9 Ernst Günther
Die Menschheit, speziell die Europäer mit ihrem hohen Lebensstandard, haben in einer Weise auf Naturbestände zugegriffen, das war unerträglich. Und unerträglich war auch zu sehen, wie viele Vögel dabei zugrunde gegangen sind.
SPRECHER:
Ähnliches gilt für die Küsten- und Unterwasserwelt. 1907 zieht Edmund Gosse, der Sohn von Philip Henry Gosse, ein deprimierendes Fazit über eine Entwicklung, die sein Vater - ohne die Folgen zu ahnen oder zu wollen, mit ausgelöst hat:
MUSIK m05
ZITATOR:
Diese Felsenbecken, gesäumt von Korallenalgen, angefüllt mit stillem Wasser, das fast so klar war wie die Luft selbst, reich bestückt mit schönen, sensiblen Lebensformen – es gibt sie nicht mehr, alle sind sie profaniert und geleert und entwürdigt worden. Eine Armee von Sammlern ist über sie hergefallen und hat sie bis auf den letzten Winkel geplündert.
MUSIK
SPRECHERIN:
So ist es nicht verwunderlich, dass schon im 19. Jahrhundert die ersten Tierschutzvereine entstehen. Doch ursprünglich geht es ihnen noch mehr um das Wohl des Menschen als um das Tierwohl:
O-TON 10 Clemens Wischermann
Da gibt es erste Gesetze, die verbieten etwa das Prügeln von Tieren in der Öffentlichkeit, weil man Angst davor hatte, dass diese Grausamkeit gegenüber den Tieren sich in Grausamkeit gegen Menschen verwandeln wird. Da ging es nicht so sehr um die einzelnen Tiere, sondern um Menschen.
SPRECHER:
Doch mit der Zeit rückt immer mehr das Wohl des Tieres in den Vordergrund und der Einfluss der Tierschützer nimmt zu.
Seit 2005 ist der Import von Wildvögeln in die Europäische Union verboten. Auch die Art und Weise, wie man zum Beispiel Vögel hält, hat sich stark verändert, erläutert Rüdiger Korbel:
O-TON 11 Rüdiger Korbel
Beispielsweise weiß man auch heute, dass die Vogelkäfige nicht rund sein dürfen. Da muss man sich auch vor Augen führen, dass der Vogel in einem runden Käfig überhaupt keinen Rückzugsraum hatte, womöglich auch noch von allen Seiten betrachtet werden konnte und dann permanent unter Stress stand.
SPRECHER:
Von Tierschützern stark kritisiert ist auch die auch die Einzelhaltung von Vögeln. Eine Haltungsform, die - so ist sich Ernst Günther sicher - Jahrhunderte lang DIE Haltungsform überhaupt war:
O-TON 12 Ernst Günther
Wenn vor tausend Jahren die Vogelhaltung entstanden ist, dann hat doch niemand Volieren gebaut. Aber vorstellen könnte ich mir eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht, die in ihren Gemächern ein Körbchen stehen hat mit einem Halsbandsittich. Und dem sie süße Feigen füttert und der sie dafür beplappert. Es hat anteilig an der Vogelhaltung eine unterschiedliche Rolle gespielt und ich bin überzeugt am Anfang war es ausschließlich diese Haltung.
SPRECHERIN:
Tiere hinter Gittern? Das – so sind sich viele Tierfreunde einig – ist überhaupt nicht mehr zeitgemäß und die Diskussionen darüber, wie eine artgerechte Tierhaltung aussehen könnte, sind zahlreich und oft hitzig. Fakt ist, dass die Vogelhaltung aus der Mode gekommen ist und die Vogelzuchtvereine an Mitgliedern verlieren.
Das liegt, so Clemens Wischermann, auch an veränderten Wertvorstellungen, wie man sie am Beispiel der Hunde- und Katzenhaltung sehen kann.
O-TON 13 Clemens Wischermann
Es gibt so um die 7 Millionen Hunde in der Bundesrepublik und 12 Millionen Katzen und das Interessante daran ist, dass es eigentlich immer mehr Hunde gab und weniger Katzen und dieses Zahlenverhältnis hat sich in den letzten 20 Jahren umgekehrt. Hunde stehen für eine hierarchische Gesellschaft mit Abstufungen, Hunde stehen für Treue, Zugehörigkeit und Katzen haben den Ruf, dass sie freiheitsliebend sind und sich nicht sehr disziplinieren lassen, da stehen diese beiden Tiere auch für unterschiedliche Wertigkeiten, für unterschiedliche gesellschaftliche Werte.
SPRECHERIN:
Mag sein, dass der eine oder andere lieber ein Tier hält, das sich frei bewegen kann. Ernst Günther führt für die Abnahme der Vogelhaltung jedoch einen anderen Grund ins Feld.
O-TON 14 Ernst Günther
Vögel sind diejenigen Heimtiere, die die stärkste Bindung des Menschen erfordern. Es gibt nur unter ganz ausgesuchten Bedingungen die Möglichkeit, einen Vogel nicht jeden Tag betreuen zu müssen. Wenn Sie heute eine Schlange oder ein paar Eidechsen oder ein Aquarium haben, dann können Sie ohne weiteres mal drei Tage wegfahren. Bei einem Vogel geht das nicht, ein Vogel muss jeden Tag frisches Wasser bekommen und jeden Tag frisches Futter bekommen.
Hunde kann man mitnehmen. Wo Leute überall Hunde mitnehmen heutzutage! Ich warte darauf, dass ich demnächst in der Oper neben einem Hund sitze und einen Vogel habe ich dort noch nicht gesehen.
SPRECHER:
Rüdiger Korbel, der Leiter der Klinik für Vögel, Kleinsäuger, Reptilien und Zierfische in München, bestätigt diese Einschätzung. Auch wenn es durchaus auch sehr enge Beziehungen zwischen Mensch und Reptil gebe, würden in der Summe Reptilienbesitzer doch weniger Zeit in ihr Tier investieren als Besitzer anderer Tierarten. Während z.B. Hundebesitzer oft alles tun und viel Geld aufbringen, um ihren kranken Hund zu heilen, kaufen sich Reptilienbesitzer eher einfach ein neues Tier, bevor sie ihr Reptil kostenaufwendig behandeln lassen.
O-TON 15 Rüdiger Korbel
Das hat sicher etwas damit zu tun, dass in vielen Fällen - kann man auch nicht pauschalisieren - Patientenbesitzer und Patientenbeziehung alleine schon von der Lebensäußerungen und von den Verhaltensweisen bei einem Reptil, wo die Distanz mit Sicherheit größer ist als beispielsweise bei einem Vogel, der menschliche Lautäußerungen nachmacht und wo es dann bei einem Kleinsäuger, ein Kaninchen beispielsweise, noch sehr viel ausgeprägter ist, das Kindchen Schema, was hier ausgelöst wird und hier die Bereitschaft ist, dass man hier höhere Aufwendungen unternimmt um die Gesundheit des Tieres zu erhalten.
SPRECHERIN:
Je mehr Kommunikation und Nähe mit dem Tier möglich ist, desto leichter wird es zum Familienmitglied. Das ist keine schöne Metapher, sondern ganz real: Haustiere haben Namen, bekommen ausgewähltes Essen, viele schlafen im Bett ihres Besitzers, sie werden mit feinster Ausrüstung versehen und erhalten neben dem Impfpass eine exzellente Gesundheitsversorgung. Rüdiger Korbel beschreibt das so:
O-TON 16 Rüdiger Korbel
Radiologische Untersuchung, Röntgenbilder natürlich, Ultraschalluntersuchung, Computertomographie, Kernspintomographie, also alles was in der Humanmedizin eingesetzt wird, wird auch bei der Tierversorgung grundsätzlich und auch im Heimtierbereich eingesetzt. Die Kosten, die damit verbunden sind, sind teilweise ganz erheblich.
SPRECHER:
Und genauso wie es heute möglich ist, über ein künstliches Gelenk für sein Haustier nachzudenken, genauso selbstverständlich ist es, um sein Haustier zu trauern, wie um einen Menschen. Denn die Gefühle für ein Tier sind eben oft die gleichen.
O-TON 17 Rüdiger Korbel
Wenn ein Tier stirbt oder schwerkrank zu uns in der Klinik vorgestellt wird, dann sind das teilweise wirklich dramatische Situationen, die hier gegeben sind und die dann Situationen erfordern, wo es nicht um die tierärztliche Behandlung mehr geht, sondern einfach um die Patientenbesitzer-Betreuung.
Es gibt sogar einzelne Firmen, die hier anbieten eine Bestattung von Tieren nach ihrem Tod und was häufig dann als Bitte an uns herangetragen wird, dass dann Tiere ausgestopft werden, damit sie über ihren Tod hinaus noch physisch zumindest da sind.
SPRECHER:
Wie sehr Menschen an ihren Haustieren hängen und was sie alles für sie zu tun bereit sind, wirkt oft kurios. Manch einer bringt seine Schildkröte ins Wellness-Center, um ihr eine Entspannungsmassage zu gönnen oder lässt den Hund mittels Laufbänder oder Aqua-Aerobic trainieren, ganz zu schweigen von all den Behandlungen, die so manches Tier im Beauty-Bereich erwarten. Tierbesitzer skypen mit ihren Liebsten, wenn sie getrennt sind oder schreiben ihnen Postkarten. Für den einen ersetzt das Tier ein Kind für den anderen vielleicht den Ehemann oder die Ehefrau? Fakt ist, dass Tiere in vielen Haushalten zum Lebensmittelpunkt werden.
SPRECHER:
Die Gründe dafür sind vielfältig. Während Tiere im 19. Jahrhundert noch dazu dienen, in der Leistungsgesellschaft mithalten zu können, sollen sie heute eher helfen, ihr zu entfliehen.
Tiere dienen der Entlastung, halten körperlich fit, bieten unproblematische Nähe ein Tier gibt keine Widerworte! oder fungieren als Kontaktvermittler. Wer einen Hund spazieren führt, bleibt selten allein.
SPRECHERIN:
Und während man früher noch stolz den Rassehund vorzeigte, ist es heute angesagt einen Mischling aus dem Tierheim zu holen. Das fühlt sich für viele inzwischen besser an.
MUSIK m03
SPRECHER:
Es ist wissenschaftlich mehrfach bewiesen, dass Tiere uns Menschen guttun. Wie sehr das auch anders herum der Fall ist, ist eine Frage, die heute eingehend diskutiert wird. Natürlich auch im Zusammenhang mit der Massentierhaltung, die im krassem Gegensatz zur Heimtierhaltung steht. Vielleicht kann das enge und liebevolle Miteinander mit Haustieren, wie es heute üblich ist, ja Auslöser sein für eine Entwicklung, an deren Ende man auch dem Tier und SEINEN Bedürfnissen möglichst gerecht wird. Ein Umdenken in diese Richtung gibt es auf alle Fälle längst und zeigt gerade im Bereich der Vogelhaltung erste Früchte. Noch einmal Ernst Günther:
O-TON 19 Ernst Günther
In den 60er und 70er Jahren hat der Vogelhandel jeden Vogel in der Welt gefangen, den der Vogelhalter haben und bezahlen wollte. Und das ist einfach nicht schön. Das ändert sich im Moment gerade grundlegend. Es gibt eine Gruppe von Vogelzüchtern, die sich vollkommen von diesen Traditionen trennen und jetzt dazu übergehen Vögel zu halten und zu vermehren im Dienste der Arterhaltung, sich also direkt den zoologischen Einrichtungen als Partner zugesellen und Vögel so halten und pflegen, dass sie, wie man so schön sagt, als genetische Reserve für eventuell untergehende Arten in der Welt gelten können.
MUSIK m03 endet
Sand gibt es wie Sand am Meer, denkt man. Aber das stimmt nicht. Denn der Bedarf an Sand steigt rapide an. Vor allem die Bauindustrie braucht große Mengen davon, denn Sand ist ein wichtiger Bestandteil von Beton. Von Hellmuth Nordwig (BR 2016)
Credits
Autor/in dieser Folge: Hellmith Nordwig
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Sabrina Litzinger, Thomas Birnstiel, Benedikt Schregle
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Manfred Zeiler, Geologe, Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, Hamburg;
Prof. Dirk Hebel, Architekt, Karlsruher Institut für Technologie sowie Future Cities Laboratory Singapur;
Stefanie Zoche, Bildende Künstlerin, München;
Dr. Pascal Peduzzi, Director of Science, Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP), Genf
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Der weltweite Hunger nach Rohstoffen steigt. Tief im Meer liegen tonnenweise ungehobene Schätze - Forschende arbeiten daran, Rohstoffe aus der Tiefsee zu fördern. Von Thomas Kempe (BR 2020)
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Kempe
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Anne-Isabelle Zils, Rahel Comtesse
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Antje Boetius (Professor; Meeresbiologin, Alfred Wegener Institut Bremerhaven);
Matthias Haeckel (Dr.; Chemiker, Leibniz Institute of Marine Sciences Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung GEOMAR Kiel);
Thomas Kuhn (Dr.; Geologe, Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe Hannover);
Sven Petersen (Dr.; Geologe, Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung GEOMAR Kiel);
Carsten Rühlemann (Dr.; Geologe, Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, Hannover)
Linktipp:
Spanende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
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Ayn Rand war eine Schriftstellerin und Philosophin, die von Russland in die USA floh. Dort entwickelte sie ihre Thesen eines radikalen, entfesselten Kapitalismus: Ein Staat müsse sich auf eine Minimalversion reduzieren lassen. Von Daniela Remus (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Thomas Albus, Diana Gaul, Johannes Hitzelberger
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Alexander Dietz, Wirtschaftsethiker, Hochschule Hannover;
Dr. Christian Wildhagen, Politikwissenschaftler, Hamburg
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecherin:
2007 stürzt die Welt in eine globale Finanzkrise. 2008 folgt der Zusammenbruch wichtiger US-Großbanken, mit Folgen weltweit. In Deutschland wünschen sich die Menschen, dass der Staat den Finanzsektor dauerhaft stärker kontrolliert. Auch in den USA interveniert die Regierung, aber viele US-Bürger halten diese Einmischung für grund¬verkehrt. Und davon profitieren auch die Erben der russisch-amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand.
Atmo 1 (Geldgeklingel in Kasse)
Sprecher:
Denn die Verkäufe ihres Hauptwerks mit dem Titel Atlas Shrugged, auf Deutsch Der Streik schnellen in diesen Jahren der Finanzkrise deutlich nach oben. Obwohl das Buch ohnehin schon zu den US-amerikanischen Bestsellern gehört. Darin beschreibt Ayn Rand den Zusammenbruch eines Staates, weil die kapitalistischen Unternehmer nicht länger bereit sind, die Früchte ihres Denkens und ihrer Arbeit mit dem trägen Teil der Gesellschaft zu teilen.
Zitatorin:
„Wir sind im Streik, wir, die Verstandesmenschen. Wir streiken gegen Selbstaufopferung. Wir streiken gegen den Glauben an unverdiente Belohnungen und unbelohnte Pflichten. Wir streiken gegen das Dogma, das Streben nach eigenem Glück sei böse.” (S. 1090)
Musik (Tusch oder ähnlich als Trenner)
Take 2 (O-Ton Dietz) L: 0, 13
Sie ist eine der wichtigsten Stichwortgeberinnen im 20. Jahrhundert für die Politik der USA, sie hat sich klar für einen Minimalstaat ausgesprochen, für ein marktwirtschaftliches System in einem radikalliberalen Sinne.
Sprecherin:
Alexander Dietz, Wirtschaftsethiker an der Hochschule Hannover.
Take 3 (O-Ton Wildhagen) L: 0, 10
Rationalität ist ein Ausgangspunkt, dann das Eigennutzstreben, auch die menschliche Selbstliebe, der Mensch handelt ausschließlich zu seinem eigenen Nutzen, es gibt keine altruistischen Motive.
Sprecherin:
Christian Wildhagen, Politikwissenschaftler, Hamburg.
Musik (Tusch oder ähnlich als Trenner)
Sprecherin:
In den USA sind die Schriften von Ayn Rand Schullektüre und fester Bestandteil der Kultur. So gaben die Teilnehmer einer repräsentativen Studie auf die Frage, welches Buch sie am stärksten beeinflusst habe, an, neben der Bibel sei das Atlas Shrugged von Ayn Rand gewesen. Der Ökonom Alan Greenspan, fast zwei Jahrzehnte lang Vorsitzender der US-Notenbank, huldigt den libertären Ideen Rands bis heute genauso wie die Schauspielerin Angelina Jolie oder die Tea Party Bewegung. Ayn Rand und ihr Einfluss auf die amerikanische Kultur ist in Europa wenig bekannt. In den USA aber ist sie die Ikone des freien Marktes, die begeisternde Vordenkerin eines entfesselten Kapitalismus.
Musik (russisch-jüdisch früh es 20.Jahrhundert)
Sprecher:
1905 wird Ayn Rand als Alissa Sinonwjewna Rosenbaum geboren. Ihr Vater ist Apotheker, die Familie lebt in St. Petersburg ein bürgerliches und wohlhabendes Leben. Die Familie ist zwar jüdisch, der Glaube spielt aber im täglichen Leben keine große Rolle. Ayn Rand ist gerade 12 Jahre alt …
Musik (die Internationale) hinterlegen
Sprecher:
… als Im Februar 1917 Arbeiteraufstände die russische Zarenherrschaft endgültig beenden. In der Folge enteignen die Bolschewiken auch Familie Rosenbaum, die verarmt auf die Krim flieht und erst Jahre später zurückkehrt nach St. Petersburg, das jetzt Petrograd heißt. 1921 beginnt Ayn Rand dort Geschichte und Philosophie zu studieren. Aber sie lehnt das kommunistische Regime ab, hofft gemeinsam mit ihrer Familie, dass die Monarchie treuen Kräfte vielleicht doch noch einmal den Umsturz rückgängig machen können. Als sie Ende 1925 ein befristetes Ausreisevisum erhält, um Verwandte in den USA zu besuchen, nimmt Ayn Rand das zum Anlass, Russland für immer zu verlassen.
Atmo (Schiffshupen, Hafenatmo) darüber
Sprecherin:
Anfang 1926 ist sie vier Wochen mit dem Schiff unterwegs, dann erreicht sie Manhattan.
Atmo (Schiffshupen, Hafenatmo) darüber
((Take 4 (O-Ton Wildhagen) L: 0, 17
Dann fiel diese negative Erfahrung auf etwas ganz Positives in den USA, das freiheitliche Denken, die Ankunft in New York, das muss überwältigend gewesen sein da die Skyscraper zu sehen, aus Europa kommend, weil man diese Form der Gebäude gar nicht kannte, das hat sie glaube ich ganz stark geprägt und in etwas ganz anderes geworfen, eigentlich in das Gegenteil dessen, was sie erlebt hat. ))
Sprecherin:
Kaum angekommen in der Neuen Welt ändert die 21Jährige ihren Namen: Aus Alissa Rosenbaum wird Ayn Rand. Nach kurzem Aufenthalt bei ihren Verwandten geht sie zielstrebig in den Westen, nach Hollywood. Dort versucht sie sich in den 20er und 30er Jahren als Drehbuchautorin. Sie heiratet einen Schauspieler und schafft schließlich 1943 mit ihrem zweiten Roman den langersehnten Durchbruch: The Fountainhead, heißt das Buch. Zu deutsch: Der ewige Quell oder die Urquelle. Der Hamburger Politikwissenschaftler Christian Wildhagen, der wissenschaftlich zu Ayn Rand gearbeitet hat, erklärt den Aufbau des Romans:
Take 5 (O-Ton Wildhagen) L: 0, 30
Das gesamte Plot (…) ist schon sehr russisch angelegt, mit der Komplexität des Plots mit der Anzahl von Akteuren an Handlungen, die Handlungsstränge sind miteinander sehr verwoben. Das finden wir bei Dostojewski, bei Turgenjew oder Tolstoi (…) das ist schon sehr russisch. Dass dann durch diese Heldenfiguren, die sie kreiert, fast schon cineastisch anzulegen, das mag sich entwickelt haben durch die Zeit als Drehbuchautorin in Hollywood. Es entstehen ja bei jeder Lektüre Bilder, aber bei ihr in einer ganz anderen Form, weil man den Film quasi schon sieht.
Sprecher:
The Fountainhead wird trotz der russischen Komplexität des Stoffs in Hollywood verfilmt. Ayn Rand schreibt sogar das Drehbuch. 1949 kommt die Geschichte in die Kinos, der damalige Superstar Gary Cooper spielt die Hauptrolle.
Musik (schnulzig 40er Jahre oder Titelmusik) hinterlegen unter Sprecher
Sprecher:
Hauptperson ist der talentierte Architekt Howard Roark, der sich weigert, Kompromisse zu machen, um an lukrative Aufträge zu kommen. Deshalb muss er die Uni ohne Abschluss verlassen, und in einem Steinbruch arbeiten, um zu überleben. Als er schließlich doch die Chance erhält, als Architekt ein Projekt zu planen und der Auftraggeber seine Pläne nicht umsetzt, sprengt Roark das Haus in die Luft. Im Gerichtsprozess beruft er sich auf seine schöpferische Kraft. Er wird freigesprochen. Howard Roark ist jetzt gesellschaftlich akzeptiert, wird ein gefeierter Stararchitekt und heiratet seine große Liebe.
Musik (schnulzig 40er Jahre oder Titelmusik) Ende
Sprecherin:
Den Roman, so Christian Wildhagen, hat Ayn Rand Anfang der 40er Jahre nicht nur als Plädoyer für die Freiheit des Individuums geschrieben, sondern auch als Kritik an der US-amerikanischen Innenpolitik: Präsident Roosevelt hatte den New Deal beschlossen, mit starken Kontrollen für die Wirtschaft, was Ayn Rand als sozialistisch kategorisch ablehnte. Ihre Idee eines funktionierenden Wirtschaftssystems knüpft an die Ideen des Libertarismus des 18. und 19. Jahrhunderts an: Der Staat müsse sich auf ein Minimum wie äußere und innere Sicherheit beschränken. Politik und Wirtschaft gehörten getrennt. Höchstes Gut sei nicht die Gemeinschaft, sondern das einzelne Individuum. Dessen Freiheit dürfe nicht durch Wohlfahrtsansprüche der Gesellschaft begrenzt werden. Solidarität, staatliche Unterstützung für Arme, Alte und Schwache durch Steuererhebungen seien unzumutbare Eingriffe in die Freiheit der Individuen. Das kapitalistische Wirtschaftssystem müsse sich frei entfalten können, ohne jegliche Intervention des Staates. Typisierte Personen wie die Hauptfigur Howard Roark im Roman The Fountainhead zeigen, worauf es Ayn Rand im Kern ankommt: Auf individuelle Autonomie, Selbstverwirklichung und Egoismus, erklärt der Wirtschaftsethiker Alexander Dietz von der Hochschule Hannover:
Take 6 (O-Ton Dietz) L: 0, 20
Alle ihre Romanhelden sind groß, schön, stark, gesund und die anderen Menschen leben auf Kosten von denen letztendlich mit. Und man muss eben aufpassen, dass man den Starken nicht zu viele Kosten aufbürdet, sonst sind sie eben irgendwann nicht mehr so leistungsfähig und so hilfsbereit und dann ist es für alle schlechter.
Sprecher:
Das Personentableau in Rands Romanen ist zweigeeilt. Sie zeigt menschliche Stereotype: Einerseits gibt es die Helden, die wie der Architekt Howard Roark starke und selbstbewusste Individuen sind. Diese Personen bezeichnet Ayn Rand als Schöpfer, im amerikanischen Original creator. Die Gegenspieler dieser edlen Helden sind angepasste Jasager. Also Menschen, die keine eigenen Ideen haben, die sich bequem an das halten, was ihnen vorgegeben wird. Ayn Rand bezeichnet sie als Parasiten oder Trittbrettfahrer, im Original parasite oder second-hander. Diese Menschen haben den Altruismus zur Moral erhoben und beuten damit seit Jahrhunderten die starken und schöpferischen Menschen aus, so Rand:
Take 7 (O-Ton Dietz) L. 0, 18
Sie weist jede Einschränkung individueller Freiheitsrechte zugunsten des Gemeinwohls zurück und sie fordert, dass der einzelne Mensch seine Identität und sein Selbstwertgefühl an seinem individuellen Verstand und seiner individuellen Leistung und nicht an der Zugehörigkeit zu irgendwelchen Kollektiven festmachen sollte.
Sprecherin:
Denn: Der Mensch sei nicht etwa ein soziales oder gar politisches Wesen, sondern ein Egoist, sagt Ayn Rand. Und das sei kein Makel, wie die meisten Menschen annehmen, sondern eine zutreffende und realistische Beschreibung. Die vorherrschende christlich geprägte Moralvorstellung von Nächstenliebe und Altruismus sei in Wirklichkeit zutiefst unmoralisch, weil beide gar nicht existierten.
Die Norm, altruistisch zu sein, mitfühlend und hilfsbereit, sei ein moralischer Mythos, der in eine Sackgasse führe. Und im extremsten Fall in den Kommunismus bolsche¬wis¬ti¬scher Prägung. Deshalb gelte es, diesen Mythos mithilfe der Vernunft zu entlarven und zu überwinden. Wenn jeder an sich selbst denke und die eigenen Interessen verfolge, dann sei an alle gedacht, so Rand. Denn erstens entspreche der Altruismus nicht der menschlichen Natur und zweitens verhindere das altruistische Dogma, die eigene Individualität zu entfalten. Rands Anhänger behaupten deshalb bis heute: „Altruism is evil” – Altruismus ist böse!
Take 8 (O-Ton Wildhagen) L: 0, 28
Soziale Gedanken hat sie in gar keiner Form, (…) außer bei denen, die sie ablehnt. Sie hat eine ganz dualistische Figurenstruktur in ihren Romanen, die einfach zu erkennen ist. Da gibt es die Altruisten, die Kollektivisten, eigentlich man könnte auch sagen, die Kommunisten, also all das, was sie in Russland erfahren hat, das findet sich in jedem Werk. Und dann die Helden, die rationalen Egoisten, die Individualisten, die, wie sie die nennt, die „creators”, die anderen sind die „Secondhander”, die Trittbrettfahrer, die aus zweiter Hand leben, von den Schöpfern.
Sprecher:
Der Mensch ist nach Ayn Rand ein Egoist, so der Politikwissenschaftler Christian Wildhagen. Denn Eigennutz und das Verfolgen egoistischer Interessen seien durch und durch rational. Nur durch die menschliche Vernunft sei es möglich, Erfindungen, Erkenntnisse oder Dinge zu produzieren. Exemplarisch sagt das die Hauptfigur in ihrem Hauptwerk Atlas Shrugged:
Zitator:
„Ihr schreckt nicht vor der Selbsterniedrigung zurück, mit dem Begriff Mensch den Schwächling, den Narren, den Lumpen, den Lügner, den Versager, den Feigling und den Betrüger zu meinen, aber den Heros, den Denker, den Produzenten, den Erfinder, den Starken, den Zielbewussten, den Reinen aus der Menschheit auszuschließen – als wäre Fühlen menschlich, Denken aber nicht, als wäre Versagen menschlich, Erfolg aber nicht, als wäre Unredlichkeit menschlich, Tugendhaftigkeit aber nicht.“ (S. 1132)
Sprecher:
Jeder Mensch habe demnach die Möglichkeit, zwischen zwei Lebensformen zu wählen: Als Schöpfer unabhängig, frei und rational zu sein, oder als Parasit von den Ideen der anderen zu leben. Diejenigen, die sich nichts trauten, die nur das umsetzten, was andere von ihnen erwarten, die sogenannten Trittbrettfahrer, behinderten die egoistischen Individuen und nutzten sie sogar aus. Egoismus bedeutet in Rands Theorie also nicht das, was wir um¬gangs¬sprachlich heute darunter verstehen. Es geht um die Entfaltung der individuellen kognitiven Fähigkeiten, nicht darum, andere zu übervorteilen oder auszubooten, sagt Alexander Dietz, der eingehend zu ihrer Wirtschaftstheorie gearbeitet hat:
Take 9 (O-Ton Dietz) L: 0, 16
Grundsätzlich spielt das Kognitive in ihrem Menschenbild eine ganz besonders große Rolle. Also man kann sagen, bei Rand haben wir eine einseitige Fokussierung auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Die Denkfähigkeit und die Angewiesenheit auf das Denken machen den Menschen aus für Rand.
Sprecherin:
Der Vernunftbegriff ist reduziert auf die technisch-rationale Seite der Vernunft, die Ayn Rand als ein Werkzeug ansieht, um konkrete Zwecke zu erreichen. In Rands Kosmos vor allem, um Produkte für den Markt und die Konsumenten herzustellen.
((Take 10 (O-Ton Dietz) L:0, 10
Vernunft bedeutet rationaler Egoismus und damit meint sie ein positives Verständnis von gesundem Eigennutz bzw. Eigeninteresse. ))
Musik (als Trenner)
Sprecherin:
Mit dem Erscheinen des Romans Fountainhead steigt Ayn Rand zur herausragenden Stichwortgeberin der Marktradikalen und Libertären in den USA auf. Als Heldin dieser Kapitalismusverfechter ist sie ein gern gesehener Gast in Talk-Shows, hält Vorträge und Radioansprachen. Ein enger Kreis von Anhängern schart sich um die erfolgreiche Schriftstellerin, der sich ironischerweise das Kollektiv nennt. Regelmäßig treffen sich diese Rand-Adepten und hören ihrer Ikone zu, wie sie aus ihren Werken liest oder diskutieren politische Entwicklungen. Als Erken¬nungs¬zeichen dient diesem sektiererischen Kreis ein goldenes Dollarzeichen als Anstecknadel.
Musik (Tusch oder ähnlich)
Sprecher:
Mit einem ihrer Anhänger, dem 25 Jahre jüngeren Nathaniel Branden geht Ayn Rand eine Liebesaffäre ein. Die jeweiligen Ehepartner wissen davon und akzeptieren die Beziehung. Branden gründet gemeinsam mit seiner Ehefrau ein Institut, um Rands Philosophie unter die Leute zu bringen. Als die gefeierte Schriftstellerin aber Ende der 1960er Jahre herausfindet, dass sie nicht die einzige Geliebte ist, verbannt sie den Liebhaber und zerschlägt das Institut. Fortan gelten Branden und seine Vertrauten als Abtrünnige. Der unversöhnliche Dualismus, der die Romane von Ayn Rand charakterisiert, gut und böse, richtig und falsch, Helden und Parasiten, ist auch ein fester Bestandteil ihres realen Lebens: Wer nicht zum engsten Kreis der Bewunderer gehört, der ist gegen sie und wird verachtet.
Take 11 (O-Ton Wildhagen) L: 0, 20
Mit dem Bruch von Nathaniel Branden war klar, es gibt eine andere Schule und daraus hat sich mehr entwickelt. Und der reine Kern, der sich heutzutage unter dem Ayn Rand Institute subsumiert und die auch die Schriften verwalten, die reine Lehre, also keine Interpretationen zulässt außer dem, was Ayn Rand kommuniziert hat, das ist von vornherein so angelegt und das widerspricht eigentlich komplett dem Denken.
Sprecherin:
Die Atlas Society von Branden und Co gegründet und das Ayn Rand Institute verbreiten bis heute die Lehren von Ayn Rand. Denn die akademischen Philosophen an den Universitäten haben ihre Theorie nie als Philosophie akzeptiert. Zu wenig systematisch, zu viele Argumentationslücken. Der Verbreitung von Rands Ideen schadet das aber nicht, ganz im Gegenteil. Umweht von dem Mythos der verkannten Wahrheit werben ihre Anhänger bis heute um den akademischen Nachwuchs, die politische und wirtschaftliche Elite und umgarnen millionenschwere Unternehmer. In Deutschland lädt das Ayn-Rand-Institute mit der Seite Entdecke Ayn Rand dazu ein, sich mit der Schriftstellerin und ihrer Philosophie des Objek¬tivismus auseinanderzusetzen.
Take 12 (O-Ton aus Interview ARI) L. 0, 30
My philosophy objectivism holds that 1. reality exists as an objective absolute. Facts are Facts, independent of man´s feelings, hopes, wishes or fears .
2. Reason the faculty which identifies and integrates the material provided by man´s senses is man´s only means of perceiving reality, his only source of knowledge, his only guide to action and his basic means of survival.
Sprecher:
Fakten sind Fakten sagt Ayn Rand in dieser Aufnahme von 1962 und diese Erkenntnis sei das elementare Zentrum ihrer Philosophie. Deshalb sei der Name ‚Objektivismus‘ zutreffend. Vernunft ist das Werkzeug, um diese Fakten zu erkennen, aber auch die einzige Quelle um überhaupt zu Erkenntnissen zu gelangen; zu wissen, was getan werden muss und letztendlich der einzige Weg, um zu überleben.
Musik (als Trenner)
Sprecherin:
1957 veröffentlicht Ayn Rand ihren zweiten großen Roman. 14 Jahre lang hat sie an ihrem intellektuellen Vermächtnis gearbeitet, Atlas Shrugged gilt als ihr Hauptwerk. In den USA erreicht sie damit endgültig Kultstatus, monatelang steht das über 1.000 Seiten starke Buch auf den Bestseller-Listen.
Take 13 (O-Ton Wildhagen) L: 0, 30
Sie war so eine Art Popstar würde man heute sagen und was ihr Verdienst ist, die Philosophie, die schon da war in den USA, der Libertarismus hat ja eine alte Tradition (…) das hat sie so formatiert zusammen mit ihrem russischen Background und dem nihilistischen Moment in ihrer Philosophie, so formatiert, dass es in einem Roman verpackt allgemein zugänglich und gut verständlich ist, (…) diese Form der Literatur, den Roman zu wählen und nicht ein philosophisches Sachbuch zu schreiben, das hat den Erfolg ihres Denkens nach sich gezogen.
Sprecherin:
In Atlas Shrugged, auf Deutsch aktuell unter dem Titel Der Streik erschienen, fragt Ayn Rand, was passiert, wenn die rationalen Egoisten, also die unabhängigen Denker, die Unternehmer, Kapitalisten und Helden, streiken? Dann bräche das ganze System, auf dem die kapitalistischen freien Gesellschaften ruhen, zusammen:
Zitator:
„Wir sind die Ursache all der Werte, nach denen es euch gelüstet, wir, die wir den Prozess des Denkens vollziehen, das heißt Identitäten definieren und Kausalzusammenhänge entdecken. ((Wir haben euch gelehrt zu wissen, zu sprechen, zu produzieren, zu begehren und zu lieben.)) Ihr, die ihr die Vernunft fahren lasst – würden wir sie nicht erhalten, wärt ihr nicht in der Lage, eure Wünsche zu erfüllen oder auch nur zu verspüren.” S. 1119
Sprecher:
Diese Worte schmettert die Hauptperson John Galt den Trittbrettfahrern entgegen. Er erklärt, warum die Kapitalisten genug davon haben, für die anderen aufzukommen. John Galt hat den Streik der Unternehmer ins Leben gerufen, weil er sich von der falschen Moral der Gesellschaft nicht länger knebeln lassen will. Wenn die Leistungsträger von der Gesellschaft gezwungen würden, nicht mehr Herr ihrer eigenen Ideen und Taten zu sein, und das alles unter dem Dogma des Altruismus, dann müssten sie sich verweigern. Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Altruismus seien Irrwege, erklärt John Galt als Sprachrohr Ayn Rands pathetisch.
Take 14 (O-Ton Dietz) L: 0, 30
Gutes Leben bedeutet für Rand, man sollte nie für andere leben und das auch nie von anderen verlangen. Rand wollte mit ihrem Kampf für den Egoismus im Sinne von Eigeninteresse, den Gedanken zum Ausdruck bringen, dass es nicht verwerflich, sondern natürlich und wünschenswert ist, wenn jeder Mensch nach seinem Glück strebt. Das jeder Mensch ein Recht darauf hat, Nutznießer seiner Handlungen zu sein und nicht zum Nutzen anderer instrumentalisiert zu werden. ((Dass ein gesundes Verhältnis zu anderen Menschen ein gesundes Verhältnis zu sich selbst voraussetzt. Und dass der Wunsch nach Selbstaufopferung pathologische lebensfeindliche Züge aufweist.))
Sprecherin:
Dass nicht alle Menschen in der Lage sind, ein vernunftgeleitetes unabhängiges Leben zu führen, hat Ayn Rand komplett ausgeblendet. In ihrer dualistischen Gegenüberstellung von Parasiten und Egoisten, von Trittbrettfahrern und Individualisten, hat sie unterschlagen, dass es Alte, Kranke und Kinder gibt, die darauf angewiesen sind, dass andere für sie da sind, die unterstützen, finanzieren und helfen.
Musik (als Trenner)
Sprecher:
Zweifel an den eigenen Erkenntnissen scheint Ayn Rand keine gehabt zu haben. Zumindest sind keine überliefert. Sie erlebte sich als Star, der es geschafft hat, den amerikanischen Traum in Reinkultur zu leben. Von der russischen Immigrantin zur Millionärin und Vorzeige-Intellektuellen der radikalen Marktliberalen. Als Philosophin in einer Reihe mit den ganz großen der Geschichte, wie sie in einem Interview sagte:
Take 15 (O-Ton Wildhagen) L. 0, 10
Drei Philosophen gibt es, auf die man sich berufen kann: Aristoteles, Thomas von Aquin, Ayn Rand, drei A´s!
Sprecherin:
((Ayn Rand mischte sich mit ihren Anhängern auch in die amerikanische Politik ein. Ronald Reagan beispielsweise war ihr zu lasch, er vertrat nach ihrer Meinung keinen echten Kapitalismus. Gleichzeitig hat die Atheistin es aber auch ihren Anhängern, den konservativen Amerikanern, nicht nur leichtgemacht, sie zu verehren und zu bewundern: Denn sie verurteilte weder Abtreibungen noch Homosexualität.)) 1974 erkrankte die Kettenraucherin an Lungenkrebs. Und ließ sich, obwohl sie zeitlebens gegen den Wohlfahrtsstaat gewettert hatte, auf Kosten der staatlichen Krankenversicherung operieren. Allerdings anonym – unter falschem Namen. Sie lebte dadurch noch bis 1982. Ihre Anhänger schmückten den Sarg bei ihrer Beerdigung mit einem imposanten Blumengebinde in Form des Dollarzeichens. Und bis heute gilt sie den Neoliberalen in den USA als Ikone des freien Marktes und Hüterin der einzig wahren Freiheit.
Die Geschichte des Aufstiegs der süditalienischen Mafia ist gleichermaßen eindrucksvoll wie brutal. Entstanden als regional tätige Vereinigungen im 19. Jahrhundert bauten Cosa Nostra, ?Ndrangheta und Co. durch Gewaltverbrechen ihre Macht aus und machen heute weltweit Milliardenumsätze. Autor: Andreas Strobel
Credits
Autor/in dieser Folge: Andreas Strobel
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Bürkle, Andreas Neumann, Jenny Güzel, Carsten Fabian
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Anita Bestler, Soziologin und Sizilienexpertin
Giuseppe Marino, ehem. Professor für Geschichte an der Universität Palermo
Laura Garavini, Antimafia-Aktivistin und ehem. italienische Senatorin
Literaturtipps:
Umberto Santino, „Phänomen Mafia: Geschichte der Mafia und Antimafia“. Eine ausführliche Geschichte der sizilianischen und anderen Mafien, die zahlreiche Stereotype hinterfragt
Anita Bestler, „Die sizilianische Mafia: Der bewaffnete Arm der Politik“. Die deutsche Soziologin, die schon lange auf Sizilien lebt, beschreibt die Geschichte der Cosa Nostra stets unter ihrem Bezug zur Politik
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Benito Mussolini - Der Mann und die Masse
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Linktipps:
Studie zum Einfluss der Zitronen auf den Erfolg der Mafia
EXTERNER LINK
SWR Mafia Land - über die Mafia in Baden-Württemberg und Deutschland
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
Spannungsmusik, lang anhaltende Töne
ZSP 01 Atmo
Fahrtgeräusche, Autos
Sprecher:in 1
Es ist der 23. Mai 1992, ein frühsommerlicher Samstagnachmittag. Auf der sizilianischen Autobahn 29 fahren drei Fiat in Richtung Palermo. Sie sind gepanzert – denn in einem der Autos sitzt Giovanni Falcone [Dscho'wanni Fall'kohne]. Er ist der italienische Richter, der in den Jahren zuvor etwas geschafft hat, was vor ihm noch niemandem gelungen ist: Er hat zahlreiche Mafiosi hinter Gitter gebracht.
Doch an diesem Tag will sich die Mafia an Falcone rächen:
Quelle
MUSIK
Endet – dann
ZSP 02: Explosion
ZSP 03: Sound Effekt TV anschalten
ZSP 04: TV-Livebericht #1
“Buonasera, vi mando immediatamente le immagini che sono state girate …”
Darüber:
Sprecher:in 2
500 Kilogramm TNT-Sprengstoff waren es, platziert in einem Rohr unter der Fahrbahn – die Bilder im italienischen Fernsehen zeigen die Verwüstung nach der Explosion.
ZSP 05: TV-Livebericht #2
Einspieler „Livebericht nach Attentat Falcone P2“
Scene drammatiche, scene da guerra, quel terricio nasconde quello che una volta era l'autostrada nel tratto di venti chilometri che porta dall’aeroporta di Punta Raisi a Palermo.
Le due corsie in pratica sono assolutamente irreconoscibili, si vedono la mire contorte, si vede un auto al centro e un'altra ancora dietro, probabilmente è la croma bianca, blindata, dove era il giudice Falcone. Falcone guidava la sua auto, accanto a lui c'era la moglie.
kurz angespielt, dann
ZSP 06 OVERVOICE
Dramatische Szenen, kriegsähnliche Szenen wo vorher die Autobahn zwischen Punta Raisi und Palermo war.
Die Fahrspuren sind nicht wiederzuerkennen, man sieht ein Auto und ein weiteres dahinter, vermutlich ist das das gepanzerte Fahrzeug, das der Richter Giovanni Falcone fuhr, neben ihm seine Frau.
MUSIK
weiterhin Spannungsmusik
Sprecher:in 1
Ob Giovanni Falcone den Unfall überleben wird, ist noch unklar. Klar ist dagegen, wer hinter dem Anschlag steckt: die sizilianische Mafia, die sich selbst Cosa Nostra nennt.
MUSIK
Ende
Sprecher:in 2
Seit weit über hundert Jahren ist die Cosa Nostra in Sizilien fest verankert, genau wie andere Mafia-Organisationen in Teilen Süditaliens: Die wichtigsten sind neben ihr die Camorra in Neapel und die ‘Ndrangheta [N'drang-gätta] in Kalabrien. Die sizilianische Cosa Nostra ist viele Jahrzehnte lang die mächtigste unter ihnen.
Sprecher:in 1
Und die hatte sich Giovanni Falcone zum Feind gemacht. Der Richter war beteiligt am sogenannten Maxi-Prozess in den 1980er-Jahren: Mithilfe verschiedener Kronzeugen, also Mafia-Aussteigern, gelang es ihm und den anderen Anklägern, Hunderte Mafiosi hinter Gitter zu bringen. Doch die Mafia hat ihm das nicht verziehen.
Quellen
ZSP 07 Atmo Carabinieri Auto
hier evtl. nochmal Explosions- oder Feueratmo; akustisch zurück an den Ort der Explosion
In einem kleinen italienischen Dorf nördlich von Bergamo fängt alles an. Von dort stammt die Familie der Tasso, die schon bald hinaus in die Welt strebt und ab 1490 die ersten internationalen Postverbindungen in Europa betreibt. Die ?Thurn und Taxis?, wie sie sich später nennen, legen den Grundstein für das internationale Postwesen. Autor: Martin Schramm
Credits
Autor dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Andreas Neumann, Rahel Comtesse, Jerzy May
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Dr. Martin Dallmeier. Historiker, ehemaliger Direktor des Regensburger Thurn & Taxis-Archivs;
Dr. Peter Styra, Historiker, Leiter des Fürst Thurn und Taxis Zentralarchivs
Literaturtipp:
Eine fundierte, sehr umfangreiche wissenschaftliche Darstellung der Thematik mit vielen Quellen und Illustrationen:
Behringer, Wolfgang: „Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen.“ München/Zürich 1990.
Linktipp:
Eine virtuelle Ausstellung der Museumsstiftung Post und Telekommunikation:
Franz von Taxis und die Erfindung der Post | Museum für Kommunikation Nürnberg
EXTERNER LINK | https://www.mfk-nuernberg.de/erfindung-der-post
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 (96239280101 Eric Terwillliger: Improviation über Till Eulenspiegel für Horn solo 0‘10)
MUSIK 2 (M0010633020 Marc Marder: Innocent Games 0‘37)
ZITATOR (Q: Johann Jacob Moser, 1742, S.262)
„Es bleibet also das formliche Postwesen allerdings eine Taxische Erfindung, welche gantz erstaunliche Folgen nach sich gezogen und die Welt in manchen Sachen fast in einen andern Model gegossen hat […] und ist es zwar jetzso so leicht nachzumachen wie die Schiffahrt dem Columbo; wer weiß aber, ob die Welt nicht noch eben so lang als zuvor würde gestanden seyn, ohne von den Posten oder America etwa zu erfahren, wenn kein Taxis und kein Columbus gekommen wäre?“
SPRECHER
Columbus, der Entdecker der neuen Welt -
SPRECHERIN
Familie Taxis, die Begründer der modernen Post.
SPRECHER
Zumindest Johann Jacob Moser, immerhin der führende Reichspublizist des 18. Jahrhunderts, stellt beide für ihre Verdienste auf eine Stufe.
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Fest steht aber auch: Nicht nur die Welt hat von der Post profitiert. Auch die Familie „Thurn und Taxis“. Das Schicksal der „Thurn und Taxis“ ist untrennbar verbunden mit dem Aufbau eines völlig neuen Kommunikationsnetzes, um Botschaften von A nach B zu bringen.
MUSIK 3 (96239280101 Eric Terwilliger: Improviation über Till Eulenspiegel für Horn solo 0‘10)
ZITATOR
Die „Initialzündung“ - oder: Von Stafetten und Felleisen
MUSIK 4 (Fantasia XI für Laute 0‘38)
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Angefangen hat alles in einem kleinen italienischen Dorf - in Cornello, nördlich von Bergamo. Ein Dorf so klein, dass man es selbst heute noch nicht mit dem Auto erreicht.
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Aus diesem kleinen Nest stammt die Familie Tasso, die sich bereits im 12. Jahrhundert auf den Kurierbereich spezialisiert hat - und schon bald hinaus in die Welt strebt.
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Die Tasso dienen u.a. der Republik Venedig als verlässliche Boten in politischen Missionen.
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Um 1490 - in einer Zeit voller Umbrüche – legen die Tasso schließlich die Basis für ein Familienunternehmen, das in der obersten Liga mitspielen wird: Für das spätere „Imperium“ der „Thurn und Taxis“. Peter Styra, Leiter des Fürst Thurn und Taxis Zentralarchivs in Regensburg:
01-O-TON Styra
„Es ist also kurz vor 1500. Wir sind in der Zeit kurz vor der Reformation. Wir sind in der Zeit ja, der Buchdruck ist gerade erfunden. Das heißt also auch die Bildung stellt sich auf neue Beine. Wir sind in der Zeit der deutschen ersten Hochfinanz, mit den Fuggern und Welsern - also eine Zeit, in der sehr, sehr viel passiert. Also, die Renaissance bricht an. Es ist eine völlig neue Konzeption in ganz Europa. Es ist eine komplette Umstellung. Das einzige, was tatsächlich noch fehlt, ist eine gut funktionierende, und möglichst schnelle und zuverlässige Kommunikationseinrichtung.“
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Vor allem für die Mächtigen der Zeit ist die von zentraler Bedeutung. Z.B. für König Maximilian I. - dem späteren Kaiser Maximilian.
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Der hatte ein aufkommendes Weltreich zu regieren - u.a. mit dem im Nordwesten etwas abgelegenen Burgund. Von seiner Residenzstadt aus in Innsbruck war das aber gar nicht so einfach zu bewerkstelligen. Der Kaiser brauchte daher dringend eine schnelle, verlässliche Post:
02-O-TON Styra
„Da müssen Reichsteile verbunden werden, und der Kaiser möchte immer informiert werden, egal, wo er ist, ob er jetzt gerade in Spanien ist oder in Frankreich ist oder in England ist oder Italien ist oder in Innsbruck zu Hause. Er braucht Boten, als er braucht Informationen - und er holt sich tatsächlich diesen Francesco Tasso an seinen Hof nach Innsbruck und gibt ihm den Auftrag, praktisch im im Jahr als sozusagen ja fast zum Beamtenverhältnis, die Kaiserlichen Depesche von A nach B zu transportieren.“
MUSIK 5 (M0027373105 Gerd Baumann: Coyage à trois 0‘41)
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Die Familie Taxis macht sich an die Arbeit – allen voran Franz von Tasso – und begründet die „moderne Post“.
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Wie so oft in der Geschichte fangen aber auch die Tasso nicht bei Null an. Sie profitieren von dem, was andere bereits geleistet haben.
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Z.B. vom „Stafettensystem“. Das haben bereits die alten Römer entwickelt.
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Statt einen einzigen Boten für eine Strecke tagelang reiten zu lassen, ist „Teamwork“ angesagt: Die Boten übergeben ihre Ledertaschen, die sogenannten „Felleisen“ - nach dem französischen Wort Valise für Koffer –jeweils nahtlos an den nächsten Boten. Vorgewarnt durch ein Hornsignal, kann sich der bereithalten.
ATMO POSTHORN
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Die Post wechselt so rund alle 30 km, später sogar alle 15 km, zum nächsten Reiter mit frischem Pferd, und kommt ohne Unterbrechung viel schneller ans Ziel.
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Die dafür eingerichteten Wechselstationen hießen "Posta". Genau daraus leitet sich auch unser heutiges Wort "Post" ab.
MUSIK 6 (M0010633020 Marc Marder: Innocent Games 1‘06)
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Franceso Tasso perfektioniert dieses System - und schafft es 1490 tatsächlich erstmals, eine Depesche von Innsbruck nach Brüssel zu transportieren, in fünfeinhalb Tagen, wie von Maximilian gefordert.
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Es ist die „Geburtsstunde“, die „Initialzündung“ für die internationale Post.
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In der Folge gelingt es den Tasso durch eine ganze Reihe von Verträgen, ihr Unternehmen immer weiter auszubauen. Sie arbeiten ab 1501 für die Krone Spaniens und verlegen dazu ihre – heute würde man sagen „Firmenzentrale“ - von Innsbruck nach Brüssel, der Hauptstadt der damals spanischen Niederlande.
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Dort macht Francesco Tasso, - der sich schon bald „Franz von Taxis“ nennt - 1505 dann einen entscheidenden Schritt: Er schließt einen außergewöhnlichen Vertrag mit König Philipp I. von Spanien.
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Einen gleichberechtigten Vertrag zwischen einem Staat und einem „freien Unternehmer“. Damals ein Novum.
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Mit diesem Vertrag beginnt der Siegeszug der Taxis. Denn Franz von Taxis wird dadurch nicht nur finanziell solide ausgestattet, er erhält auch ungeahnte hoheitliche Rechte, die ihm ermöglichen, den Postdienst weitgehend unabhängig vom Staat zu organisieren: u.a. das Recht, die Postbediensteten aufgrund von Verfehlungen gegen Weisungen des Oberpostmeisters zu bestrafen. Außerdem „das Recht, jeden, der die Postbeförderung behindert oder die Unterstützung verweigert, zur Duldung bzw. Zusammenarbeit zu zwingen.“ usw.
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Diese rechtliche Sonderstellung sollte den Taxis im Postbereich bis ins 19. Jahrhundert erhalten bleiben.
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Und 1615 werden die Verdienste der Familie Taxis schließlich belohnt, indem das Amt des kaiserlichen Generalpostmeisters zum erblichen Lehen erhoben wird – und zwar als „Mannlehen“ wie auch als „Weiberlehen“, wie das damals hieß. Auch Frauen konnten so also das Postunternehmen führen.
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Die Taxis sitzen dadurch sicher im Sattel, niemand kann sie mehr verdrängen. Die Nachfolge durch die Generationen ist gesichert: Sie haben ein verbrieftes Monopol errungen.
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Mitte des 17. Jahrhunderts wollte man dann auch den Namen der Familie optimieren, hin zu einem Namen mit mehr „Glamour“, einem Namen, der klangvoll genug wäre, um damit in den Hochadel aufsteigen zu können.
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Denn die „Taxis“ galten eher als kleines Rittergeschlecht, das in den Kaufmannsstand gewechselt war. Ohne das wirklich beweisen zu können, behauptete man nun einfach, die Taxis würden vom italienischen Adelsgeschlecht „della Torre“, abstammen. - Der Kaiser genehmigte die Änderung und so entstand der klangvolle Name „Thurn und Taxis“.
MUSIK 7 (96239280101 Eric Terwillliger: Improviation über Till Eulenspiegel für Horn solo 0‘10)
ZITATOR
Eine Familie setzt sich durch – oder: Von Netzwerken und Goldgruben
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Nicht alle erkennen die „Monopolstellung“ der Thurn und Taxis’schen Post an – auch wenn der Kaiser sie „verbrieft“ hat.
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Es gibt jede Menge Konkurrenten: Unzählige Fürsten- und Herzogtümer, Reichsstände, Städte und Kaufmannschaften im Deutschen Reich wollen ebenfalls mitverdienen - und gründen ihre eigenen Landesposten, um der Reichspost der Thurn und Taxis Konkurrenz zu machen.
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Die Zünfte beauftragen beispielsweise gerne ihre fahrenden Gesellen.
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Im süddeutschen Raum haben u.a. die Metzger ein ausgeklügeltes Postsystem entwickelt. Die so genannte „Metzgerspost.“
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Um Vieh zu kaufen, ziehen die ohnehin übers Land, haben Wagen und Pferde. Also gibt man ihnen gerne mal die Post mit.
MUSIK 8 (Z8036173101 Gerd Baumann & Gregor Hübner: Octavio 0‘51)
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Doch letztlich war so eine „Metzgerspost“ von eher lokaler Bedeutung. Die Strecke Innsbruck-Brüssel oder Innsbruck-Rom konnten sie nicht bedienen.
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Und selbst die professionelle Boten-Konkurrenz hatte es letztlich schwer, dem internationalen Netzwerk der Thurn und Taxis etwas entgegenzusetzen. Vor allem, als ihnen der Kaiser um 1600 untersagte, eigenständige Wechselstationen, sprich Poststationen, einzurichten. Ohne diese Stationen waren sie nicht konkurrenzfähig.
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Auch Länder wie Bayern wollten den Profit aus der Post lieber selbst einstreichen, als ihn den Thurn und Taxis zu überlassen. - Martin Dallmeier - ehemaliger Direktor des Regensburger Thurn & Taxis-Archivs:
03-O-TON Dallmeier
„Dass Private hier ein große Einkommen anhäufen durch diesen Nachrichtenverkehr. Das war vielen Staaten schon natürlich ein Dorn im Auge. Bayern hat zum Beispiel 1697 versucht, eigene Post einzurichten unter Max Emanuel von Bayern - ist daran gescheitert.“
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Die Bayern hatten dem international agierenden Monopolisten „Thurn und Taxis“ letztlich nichts entgegenzusetzen - , mit seinen unzähligen Poststationen und Verträgen - selbst mit den kleinsten Stadtstaaten z.B. in Italien - wie Venedig, Genua und Florenz.
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Die Thurn und Taxis überließen dabei nichts dem Zufall. Einer der Schlüssel zu Ihrem Erfolg: Es waren Mitglieder aus dem eigenen „Familienclan“, die an entscheidenden Positionen des Unternehmens saßen.
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Und es entstand ein loyales Netzwerk – mit – heute würde man sagen „Franchisenehmern“ - um die stolze Zahl von über 2500 Poststationen überhaupt betreiben zu können. - Der Historiker Peter Styra:
04-O-TON Styra
„Das Postnetz aufzubauen bedeutete, durchs Land zu reiten, sich Gasthäuser zu suchen, Wechselstation zu suchen. Die dortigen Besitzer möglichst eng zu verpflichten und am Gewinn zu beteiligen. Und dieses System funktioniert von 1500 bis 1867. Wichtig ist, dass man seine Leute bei der Stange hält. Natürlich gab es da haufenweise Ärger. Was man aber damals schon gesehen hat, dass über Generationen hinweg das oftmals die gleichen Familien gewesen sind. Also Generationen von Familien, die dieses Amt in ihrer Poststation an die Söhne und Enkel weitergeben, also ein relativ verlässliches Netz.“
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Die Thurn und Taxis taten also etwas für ihre Leute: sie bekamen Anerkennung und wurden gut bezahlt, ja konnten reich werden durch ihre Arbeit.
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Wurden aber auch nach strengen Kriterien ausgewählt – und wenn nötig überwacht:
05-O-TON Styra
„Wir haben Visitationsberichte in der bayrischen Post, wo also genau untersucht wurde: Wie ist das Wirtshaus beieinander? Wie sind die Pferde? Ist es dort sauber. Kann man dort übernachten, wie ist das Essen, also alles wird genau wie in einer Liste aufgeführt. Wieviel Kinder hat er? Da steht alles drin. Also was für eine soziale Kompetenz bringt er damit. Ist er mit seiner Frau gut oder ist Witwer oder ist sie allein? Wird genau untersucht. Also, man sucht versucht immer das Personal auch natürlich abzuchecken. Ob sie sowohl körperlich als auch geistig wie auch immer, ob sie in der Lage sind, das zu machen.“
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Doch gutes Personal bekam eben nur, wer seine Leute auch gut behandelt - und letztlich auch überdurchschnittlich gut bezahlt hat.
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Was die Frage aufwirft: Wie genau haben nun eigentlich die Thurn und Taxis selbst ihr Geld verdient?
MUSIK 9 (M0027373106 Gerd Baumann: Rifiuto 0‘45)
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Bereits kurz nach der Geburt des Unternehmens zeichnete sich ab, dass es um die Zahlungsmoral der Mächtigen dieser Zeit nicht zum Besten bestellt war. Manche sind notorisch pleite, andere zahlen, wenn überhaupt, erst mit reichlich Verspätung.
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Um die Ausgaben zu decken, das kostspielige Zustellungssystem aber auch zu expandieren, waren also neue, verlässliche Einnahmequellen gefragt.
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Die Zukunft lag daher in der Masse. Statt nur amtlich-kaiserliche Korrespondenz zu transportieren, öffneten die Postmeister bereits 1506 ihre Pforten für private Kunden: Jeder, der zahlen konnte, war willkommen. Vor allem durch diese Einnahmen entwickelt sich das teure Postnetz zu einer wahren Goldgrube. Die Thurn und Taxis blieben den Mächtigen so einerseits verbunden – zugleich aber auch freie Unternehmer.
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Egal ob Briefe, Päckchen, Pakete oder Geldkassetten. Transportiert wird alles. Schon bald auch Personen.
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Möglich wird das durch ein weiteres Novum: die Postkutsche. Sie macht es möglich, nicht nur Massensendungen und sperrige Güter von A nach B zu bewegen - sondern auch Reisende.
MUSIK 10 (R0026990W02 Mozart: Divertimento für Streicher D-Dur, Capella Istropolitana (007) 3.Satz: Presto 0’57)
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Auch prominente Zeitgenossen wie beispielsweise Wolfgang Amadeus Mozart. In einem Brief an seinen Vater schildert er 1780 eindrücklich, dass so eine Fahrt mit der Postkutsche offenbar alles andere als ein Luxusreise war:
ZITATOR W.A. Mozart (Q: Brief 8.11.1780)
„Ich versichere Sie, daß keinem von uns möglich war nur eine Minute die Nacht durch zu schlaffen – dieser Wagen stößt einem doch die Seele heraus! – und die Sitze! – hart wie Stein! – von Wasserburg aus glaubte ich in der that meinen Hintern nicht ganz nach München bringen zu können! – er war ganz schwielig – und vermuthlich feuer Roth – zwey ganze Posten fuhr ich die Hände auf dem Polster gestützt, und den Hintern in lüften haltend – – – doch genug davon, das ist nun schon vorbey! – aber zur Regel wird es mir seyn, lieber zu fus zu gehen, als in einem Postwagen zu fahren.“
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Zufriedene Kundschaft klingt anders. - Dabei ging es damals nicht nur um Komfort. Um auf Dauer Erfolg zu haben, war eine weitere Frage zentral: die nach der Sicherheit. Für die Fahrgäste, das geladene Gut – aber natürlich auch für das Personal selbst.
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Wirklich aktenkundig und dokumentiert sind erstaunlich wenige Überfälle auf die Post. Peter Styra:
06-O-TON Styra - Überfälle
„Grundsätzlich kann man sagen ich glaube, es war gefährlicher, einen betrunkenen Postkutschenfahrer zu haben als einen Räuber, der am Straßenrand steht. Das war gefährlicher. Aber natürlich gab es natürlich solche Vorfälle, es gab Überfälle auf die Kutsche, aber die sind sehr selten. Überliefert sind einzelne Fälle in jedem Jahrhundert, vor allen Dingen in Kriegszeiten. Also solche Großkatastrophen wie der dreißigjährige Krieg waren auch für die Post, für die Reichspost, natürlich gefährlich, weil da ist ja alles losgelassen, da haben dann seien es die schwedischen oder die bayerischen oder die sonstwas-Soldaten, die haben sich einen Spaß daraus gemacht. Da gab es ja eben kein Halten mehr. Es gab ja auch nicht das verbindende Reichsglied mehr den Kaiser. Das hat sich ja derzeit aufgelöst.“
MUSIK 11 (M0055275105 Gerd Baumann: Verschellt 0’46)
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Doch nicht nur durch Überfälle war die Post bedroht - auch durch Spionage alle Art.
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Das Postgeheimnis galt zwar schon damals prinzipiell als schützenswertes Gut. Speziell im Zeitalter des Absolutismus stand das Interesse des Staats aber deutlich über dem Briefgeheimnis.
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Weil gerade die Reichspost unter den Thurn und Taxis letztlich vom Kaiserhaus abhängig war, zögerte man dort auch nicht, sich durch „Spionagedienste“ erkenntlich zu zeigen.
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Sprich: Briefe auf direkte Weisung gezielt zu öffnen, also das Siegel zu brechen, die Briefe dann oft auch abzuschreiben - und den Kaiser auf Stand zu halten. Eine Praxis, die europaweit üblich war.
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Dem Ruf und dem Erfolg des Unternehmens Thurn und Taxis scheint das letztlich aber nicht geschadet zu haben. Noch im 19. Jahrhundert äußert sich ein gewisser Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe anerkennend über die „durchgreifende Schnelligkeit der Taxis'schen Posten“ - und auch über „die Sicherheit des Siegels.“
MUSIK 12 (96239280101 Eric Terwillliger: Improviation über Till Eulenspiegel für Horn solo 0‘10)
ZITATOR
Steter Aufstieg - oder: Reichtum, Macht und starke Frauen
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Vor allem im 17. Jahrhundert geht es mit den Thurn und Taxis steil nach oben: 1608 erfolgt die Erhebung in den „Reichsfreiherrenstand“, 1624 in den erblichen „Reichsgrafenstand“ und 1695 schließlich unter Kaiser Leopold I. in den „Reichsfürstenstand“. Und seit Mitte des 18. Jahrhunderts ist ein Thurn und Taxis schließlich Stellvertreter des Kaisers im immerwährenden Reichstag in Regensburg.
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Ohne die sprudelnden Gewinne aus der Post, also den wirtschaftlichen Erfolg der Familie wäre das undenkbar. Im 18. Jahrhundert verdienen die Thurn und Taxis Jahr für Jahr Millionenbeträge, gehören zur wirtschaftliche Elite Europas.
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Adelig zu sein, musste man sich eben auch leisten können. Wer Mitglied im Club sein wollte, musste sich nach den „Spielregeln“ dieses Clubs richten. Gefragt war „standesgemäße“ Lebenshaltung, Prunk- und Prachtentfaltung.
07-O-TON Styra
„Gesellschaftlich gesehen haben die Taxis immer beides betrieben. Sie haben mit ihrem jeweiligen Stand auch ihr Postunternehmer natürlich befördern können. Wenn ich vom Grafen zum Fürstenstand aufsteige, dann kann ich mit ganz anderen Menschen verhandeln als als Graf. Wenn ich ein Reichsfürst bin, kann ich mit dem König verhandeln. Wobei das haben die Taxis vorher auch schon gemacht, weil sie halt selbstbewusst waren. Aber grundsätzlich mit jeder Adels-Erhebung steige ich auf und hebe Standesschranken auf und kann weiter nach oben und kann das auch für mein Unternehmen nutzen. Insofern bedingt eins das andere. Sie haben beides füreinander benutzt und genutzt.“
MUSIK 13 (M0055275105 Gerd Baumann: Verschellt 0’38)
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Die Mission der „Post-Fürsten“ war klar: Es galt, das Imperium gegen alle möglichen Widerstände und Bedrohungen zu sichern. Die Post vor allem als Privatunternehmen zu erhalten – während im übrigen Europa verstaatlicht wurde. Das ging nur im Zusammenspiel mit den Mächtigen.
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Diese Mächtigen bei Laune zu halten, sich mit ihnen zu vernetzen und gut zu stellen, Töchter zu verheiraten usw., war also essentiell. Gefragt waren Diplomatie und beständiges Verhandeln.
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In der Familiengeschichte der „Thurn und Taxis“ ist das auch immer wieder die Stunde starker Frauen. Alexandrine von Taxis beispielsweise führt das Unternehmen durch die Wirren des 30-jährigen Krieges.
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Und Fürstin Therese richtet beim Wiener Kongress 1814 einen eigenen Salon ein, um Politik für das Haus „Thurn und Taxis“ zu machen. Peter Styra:
08-O-TON Styra
„Ihr Mann hat ihr das als Gesandte übertragen. Sie war hübsch, sie war intelligent. Sie war verwandt mit dem russischen Zaren, mit dem bayerischen König, mit dem Preußischen König. Sie war mit allen verwandt, musste in Sachen Taxis verhandeln, und sie durfte auf dem Wiener Kongresse, als Frau nicht teilnehmen. Aber sie hat eben die sogenannte Salon-Politik betrieben, die ja in Frankreich ganz groß gewesen ist. Und die hatten einen ganz genauen Plan. Da gibt es genaue Anweisungen ihres Ehemannes, mit wem sie über was verhandelt, was sie wem auch sagen darf und wie weit sie gehen können und wo sie vorsichtig sein muss. Also genaue Instruktionen, das war ein perfektes Team.“
MUSIK 14 (M0010633046 Marc Marder: Premonition 2 0‘47)
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Dennoch - die Kaiserlichen Reichspost steht 1806 vor dem Aus.
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In gewisser Weise hat die „Reichspost“ aber das „Reich“ sogar überlebt: Die Thurn und Taxis Post versorgt nämlich noch weitere sechs Jahrzehnte einen großen Teil Deutschlands - als Privatunternehmen versteht sich.
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Endgültig abgefahren ist die Post für die Familie dann 1867. Sie muss sämtliche Postrechte an den preußischen Staat abtreten. Die deutsche Reichspost übernimmt.
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Nach über 500 Jahren geht damit eine Ära zu Ende. Das Post-Unternehmen Thurn und Taxis ist Geschichte. Ein Unikum weltweit.
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Doch natürlich ist das nicht das Ende der „Thurn und Taxis“. Sie stellen sich neu auf. Investieren ihre Gewinne aus dem Postgeschäft und auch die Entschädigungen und Abfindungen für ihre Postrechte in neue Geschäftsmodelle. Kaufen Bergwerke, Zuckerfabriken oder Brauereien - und werden zum bis heute wohl größten privaten Waldbesitzer Deutschlands.
MUSIK 15 (M0010633020 Marc Marder: Innocent Games 0‘57)
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Angefangen hat also alles mit den revolutionären Ideen eines Franz von Tasso – in einem kleinen Nest in Norditalien. Daraus wird der größte Dienstleitungsbetrieb der frühen Neuzeit. Geführt von einer Unternehmerfamilie und deren Familienoberhäupter.
SPRECHERIN
Von Wirtschaftshistorikern werden die zwar später gerne mal als „Häuptlinge ganzer Clans verwandter Kapitalisten“ verspottet - doch das Unternehmen ist erfolgreich, kann sich durch die Jahrhunderte behaupten - und wird zum Vorbild für viele andere Postorganisationen weltweit.
SPRECHER
Francesco Tasso hat es übrigens sogar im 19. Jahrhundert noch nach New York geschafft – auf eine Gedenktafel an einem Postgebäude - offenbar hat er sogar die Post dort noch inspiriert.
MUSIKENDE
Schlittenhunde sind robust und wahre Energiebündel. Diese Eigenschaft, die die Völker des hohen Nordens ihnen angezüchtet haben, macht sie zum unentbehrlichen Gefährten der Menschen in den arktischen Regionen. Autorin: Brigitte Kohn (BR 2014)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Detlef Kügow
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Jürgen Stolz, Schlittenhundsportler;
PD Dr. Cornelia Lüdecke, Expertin für die Geschichte der Polarforschung;
Veronika Grahammer M.A., Ethnologin, Völkerkundemuseum München.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK & HUNDEGEBELL
ERZÄHLERIN:
Penzing bei Landsberg am Lech, bayerisches Voralpenland. Auf dem Pullachhof wohnt der Schlittenhundsportler Jürgen Stolz mit seinen 18 Sibirian Huskies. Mit ihnen hat er schon viele Rennen bestritten, ist mehrfacher Europa- und Weltmeister. Jürgen Stolz liebt seinen Sport auch deswegen, weil die Hunde so begeistert mitmachen.
MUSIK ENDE
1 O-TON JÜRGEN STOLZ BAND Band 11/0.56
Dem Sibirian Husky ist das voll angeboren. Also, ich hab jetzt noch keinen Hund gehabt, den ich zu irgend etwas hätte auffordern müssen. Wir haben das große Glück, wir haben einen wunderschönen Hof, wir können von Haus aus trainieren, und da sehen die jungen Hunde, wie das geht. Die sind die ersten zwei drei Mal recht schüchtern. Aber wenn du mit einem Hund gut umgehst, gut mit ihm redest, ihn jetzt nicht tadelst irgendwie, und ihm danach noch Leckerlis gibst und ihm sagst, hey, das hast du gut gemacht, dann wird der mit der Zeit so mutig, dass der sich freut. Die Hunde explodieren in der Früh. Die freuen sich, wenn die eingespannt werden. Das Geschirr an, die wissen, es geht los, das ist für den Hund das Allerallergrößte. Da kommt lange nichts danach.
ERZÄHLERIN:
Jürgen Stolz bietet auf seiner Homepage Workshops und Erlebnistage für alle an, die sich für seine Hunde und seinen Sport interessieren. Die Hunde freuen sich, wenn Besuch kommt, sie sind Menschen gegenüber aufgeschlossen, verspielt und verschmust. Diese Kombination aus Temperament, Kraft und Freundlichkeit fasziniert Jürgen Stolz schon seit 20 Jahren.
2 O-TON STOLZ BAND 11/2.40
Das Aussehen vom Hund. Er ist sehr wolfsähnlich. Er ist ein sehr stolzer Hund, der einen starken Willen hat. Die Art von ihm. Wie er mit einem schmust, wie er einen anschaut, er wird ja auch viel als Therapiehund eingesetzt. Das stolze, natürliche Wesen, es ist einfach nicht so ein untertäniger Hund.
Geräusch HUSKY BELLT
ERZÄHLERIN:
Obwohl er so aussieht: Der Husky ist kein Wolf. Wäre er einer, wäre er zum Schlittenziehen ungeeignet. Dazu braucht es Eigenschaften, die durch Zuchtauswahl verstärkt werden: Zugkraft, Freude an der Arbeit, Freude am Fressen - Rennen verbraucht ja viel Energie -, ein verträgliches Wesen. Alle Schlittenhundrassen, Huskies, Samojeden, Malamutes und Grönlandhunde, stammen von den Arbeitshunden der arktischen Völker ab, die bis heute in Grönland, Nordkanada, Alaska und Sibirien leben. Schon vor 5.000 Jahren, als die Eskimos aus Sibirien nach Alaska einwanderten, waren Schlittenhunde dabei. Bis zur Erfindung von Motorschlitten und Flugzeug sicherte der Hund das Überleben des Menschen in den Regionen nördlich des Polarkreises; ohne Hund hätte der Mensch viele Gebiete überhaupt nicht besiedeln können. In den Geschichten der Eskimos hat die enge Beziehung zwischen Mensch und Hund eine übernatürliche Dimension.
MUSIK
ZITATOR:
"Zwei Männer gingen mit ihrer Hündin auf Eisbärenjagd. Hinter ihnen brach das Eis, und sie trieben lange auf dem Ozean. Beide wurden Ehemänner der Hündin. Die Hündin war trächtig, als das Eis abermals brach. Sie wurde von den Männern getrennt und geriet, den Wellen preisgegeben, in ein fernes Land. .... Bald auch brachte sie drei Junge zur Welt, zwei davon waren Welpen, das dritte aber war ein Menschenkind, ein Junge."
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN:
Auch wenn es sich etwas merkwürdig anhört: Ehen, also Vermischungen zwischen Mensch und Tier kommen in Eskimo-Legenden häufig vor. Die tierische Sphäre ist einfach omnipräsent in einer pflanzenarmen Gegend, in der man ohne Tiere nicht überleben kann. Kaum erwachsen, spannt der Menschenjunge Hundemutter und Hundebrüder vor einen Schlitten und fährt in das Land der Menschenfresser, die er im Handumdrehen unschädlich macht. Ein gutes Gespann ist eben zu allem fähig und durch nichts zu ersetzen. In der traditionalen Gesellschaft signalisierte es den hohen sozialen Status seines Besitzers, sagt die Ethnologin Veronica Grahammer. Sie ist auf arktische Völker spezialisiert und arbeitet im Münchner Völkerkundemuseum unter anderem im museumspädagogischen Bereich.
3 O-TON GRAHAMMER 5.06
Wenn ein Jäger ein Schlittenhundeteam hat, dann muss er die ja ernähren, er muss also nicht nur für seine Familie auf die Jagd gehen, sondern er muss natürlich auch die Hunde füttern.
ERZÄHLERIN:
In den Vitrinen des Völkerkundemuseums, das eine sehr große Arktis-Sammlung hat, finden sich auch zahlreiche Schlittenmodelle.
4 O-TON GRAHAMMER 49:00
Ein guter Schlitten wird aus Holz gebaut, aber Holz ist ein wertvolles Rohmaterial in der Arktis. Das ist nur als Treibholz in der Regel zu bekommen. Was alle Schlitten gemeinsam haben, ist, dass sie unglaublich gut gefedert sind und dass sie keine festen Verbindungen haben. ... Weil es ja immer unebenes Terrain ist. Oft sind da Eisblöcke oder Steine im Weg, da könnte der Schlitten brechen, das will man natürlich unbedingt vermeiden und versucht daher, nie was zu nageln, sondern alles wird mit Lederbändern verbunden.
ERZÄHLERIN:
Die Hunde laufen entweder im Tandem, jeweils zwei nebeneinander ..
5 O-TON GRAHAMMER 6.49
... das ist mehr in Alaska der Fall, oder in Sibirien. In der Zentralarktis, in Kanada also oder in Grönland, werden sie fächerförmig angebunden. Das heißt, der stärkste Hund hat die längste Leine, die anderen laufen neben ihm. Es gibt immer einen Anführer unter den Schlittenhunden, die haben eine ganz klare Rangordnung, wer ist der Stärkste, der Anführer, der Leiter.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Müheloses Gleiten in Hochgeschwindigkeit über verschneite Eisflächen, das kam im Alltag der Eskimos eher selten vor. Meistens war der Schlitten so schwer bepackt, dass die Menschen mit anschieben und den Hunden vorausgehen mussten, um in den endlosen Weiten ohne Spur und Straße die Richtung zu weisen. Zügel kennt so ein Schlittenhund nicht, er reagiert auf Zuruf - oder auch nicht.
MUSIK Ende
6 O-TON GRAHAMMER 49:00.
Und wenn der Schlitten schwer war und man hatte eine schwierige Stelle, dann musste man erst mal den ganzen Schlitten abladen, den Schlitten über die schwere Stelle drüberbringen und dann wieder aufladen, und wenn man Pech hatte, dann sind die Hunde losgelaufen, bevor man fertig war.
ERZÄHLERIN:
Durchgebrannte Hunde suchen, das ist kein Vergnügen bei 40 Grad minus, das ist lebensbedrohlich, vor allem wenn sie Teile des Haushalts mit sich schleifen.
Eskimos waren vor der Zerstörung ihrer traditionalen Lebensweise zu großen Teilen Nomaden, da sie vom Jagen lebten und ihren Beutetieren folgen mussten. Schlitten dienten als Transportmittel nicht nur auf der Jagd, sondern auch auf Reisen.
7 O-TON GRAHAMMER 22.18
Reisen mit einem Schlittenteam kann man am besten im frühen Herbst, wenn das Meer anfängt, zu überfrieren. Dann ist es auf der Meeresoberfläche relativ glatt, und man hat eine gute Grundlage. Was ein bisschen schwierig ist, wenn noch kein Schnee draufliegt, weil das Meereseis bildet so scharfe Kristalle, und da können sich die Hundepfoten sozusagen verletzen. Das heißt, man wartet, bis eine Schneeschicht drauf ist, und dann kann man auf Reisen gehen.
HUSKY jault
ERZÄHLERIN:
Die dichte Unterwolle ihres Fells schützt sie auch bei Minustemperaturen bis zu 40, 50 Grad Celsius vor dem Erfrieren.
9 O-TON GRAHAMMER 15.45
Bei all meinen Reisen nach Alaska hab ich das gesehen, die Hunde bleiben draußen, da kommt nicht einmal eine Pfote in irgendein Wohnzimmer. Das ist irgendwie nicht vorstellbar, das macht für die Eskimos keinen Sinn, dass sie das tun. Einzige Ausnahme ist die Hündin, die gerade geworfen hat, die kommen ins Haus. Und die Welpen, die werden auch sehr geschützt, die werden oft in der Kapuze getragen wie ein Baby, die Kinder schleppen sie natürlich rum, und oft ist es so, wenn der Welpe ein gewisses Alter hat, dass ein Kind diesen Welpen bekommt und ihm dann sofort ein Geschirrchen macht und ihn anspannt. Die Hunde lernen von klein auf, etwas zu ziehen, und sehen das natürlich auch, dass die anderen das machen.
ERZÄHLERIN:
Bei aller Liebe: Hunde, die nicht spuren, haben meist kein langes Leben. Heute nicht, da die Schlittenhunde in der Arktis hauptsächlich für touristische Zwecke und den populären Rennsport benötigt werden, und früher erst recht nicht. Starke Gespanne waren in der traditionalen Eskimo-Gesellschaft überlebensnotwendig und teuer im Unterhalt; Rücksicht auf schwächere Tiere war da nicht möglich. Ein guter Hund zeichnet sich dadurch aus, dass man ihn auch zum Jagen brauchen kann. Am Atemloch einer Robbe stehen, Witterung aufnehmen, herausfinden, ob die Robbe noch in der Nähe ist oder nicht; so etwas kann nur ein Hund.
10 O-TON GRAHAMMER 11. 49
Und was der Jäger dann tut, wenn er verstanden hat, das ist jetzt eines, das vor kurzem noch in Gebrauch war: Er bringt den Hund also zurück, der muss weit weg sein, und stellt sich vor dieses Atemloch und wartet. Und wenn die Nahrungssituation eng ist, dann auch mal 24 Stunden. Das muss er dann aushalten.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Eskimos wissen, wie man in Eis und Schnee überlebt. Die europäischen Polarfahrer der frühen Neuzeit nicht. Die rechneten mit paradiesischen Zuständen, mit Fabelwesen und Reichtümern am Ende der Welt, fanden eine Eiswüste vor und waren zu hochmütig, um von den verachteten Ureinwohnern zu lernen. So manche Expedition in die Arktis begann mit hochgerüsteten Schiffen und nahm ein grausames Ende in Kannibalismus und Hungertod.
MUSIK ENDE
11 O-TON LÜDECKE 4.20
Man sagt eigentlich, dass erst Ende des 19. Jahrhunderts Expeditionen aufgetreten sind, die bewusst von der dort lebenden Urbevölkerung gelernt haben zu überleben und zu reisen, allein damit sie auch weniger Ressourcen mitnehmen mussten, sie mussten auch lernen zu jagen, überhaupt essbare Tiere zu finden ...
ERZÄHLERIN:
... sagt die Meteorologin Cornelia Lüdecke, Privatdozentin an der Universität Hamburg mit dem Schwerpunkt Geschichte der Polarforschung. Was die Polarfahrer am meisten faszinierte, waren die Eskimohunde, und bald hatten sie selber welche und stellten Eskimos in ihre Dienste, die mit ihnen umzugehen wussten. Viele Erfolge, die sich die Nordpolfahrer stolz an ihre Brust hefteten, sind eigentlich dem Sachverstand der Eskimos zu verdanken. Die Hunde hatten für alle Beteiligten nur Vorteile.
11 a O-TON LÜDECKE18:00
Wenn man Hunde dabei hat, hat man auch Freunde dabei. Ein Hund ist einfach immer ein netter Kamerad. Unterwegs bekommen sie Nachwuchs. Das ist ein psychologisches Moment, wenn man überwintert und dann auch seine Freude an den Hunden haben kann. Hunde können fantastisch gut in diesem Schnee laufen, sie haben natürlich auch den Vorteil, dass wenn ein Hund stirbt, wenn er getötet wird, kann er als Futter für die anderen Hunde verwendet werden. Wenn aus irgendeinem Grund die Nahrung für die Hunde ausfällt, können sie auch Hundefleisch essen.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Am Südpol gab es keine Unterstützung durch Einheimische, denn die Antarktis ist menschenleer. Der Norweger Roald Amundsen gewann den Wettlauf zum Südpol, weil er Hunde dabei hatte, als Zugtiere und als Nahrungsreserve.
Immer dann, wenn ein Vorratsschlitten leer geworden war und zurückgelassen werden konnte, wurden überzählige Hunde geschlachtet und verfüttert. Amundsen und sein Team erreichten den Südpol am 14. Dezember 1911; alle kamen wohlbehalten zurück. Sein Konkurrent, der Brite Robert Falcon Scott, setzte auf mandschurische Ponys und Motorschlitten, erreichte den Pol 35 Tage später und starb mit seinen Männern auf dem Rückweg einen qualvollen Tod. Alle Ponys waren zugrunde gegangen, die Motorschlitten längst kaputt, und die halb verhungerten Männer mussten ihre Schlitten bis zur völligen Entkräftung selber ziehen. Cornelia Lüdecke beschreibt die Hintergründe dieses dramatischen Wettlaufs in ihrer spannenden Amundsen-Biografie.
MUSIK Ende
12 O-TON LÜDECKE 7:05
Amundsen hat ja nichts anderes gelernt als Polarforschung, und er wusste, wie extrem wichtig Hunde sind, denn nur mit Hunden konnte man sich gut auf Schnee vorwärtsbewegen, das hat er selbst auf der Durchquerung der Nordwestpassage mitgekriegt, weil er dort engen Kontakt mit Inuit hatte, sodass er sein Fortbewegungssystem ganz auf Hunde gebaut hat. Und sie entsprechend wie ein Hochleistungsmotor von Rennautos sehr gut gepflegt hat, gute Nahrung gegeben hat, dass sie stark sind und gut trainiert sind. Scott war ja ein Marineoffizier. Er hat das Bewusstsein für Hunde als Fortbewegungsmittel nicht gehabt, er hat es nicht gelernt, er ist ja von England aus in die Antarktis gefahren, ohne jegliche Polarerfahrung.
ERZÄHLERIN:
Es gab noch einen Grund, warum Scott sich gegen Hunde entschied: Der britische Tierschutz machte sich in der Zeit vor seiner Abfahrt gerade gegen die Verwendung von Hunden bei Tierversuchen stark. Scott wollte Hundeleid vermeiden, um sein Image nicht zu beschädigen.
12 a O-TON LÜDECKE 9:09
Genau zwischen seiner ersten und zweiten Expedition gab es riesige Revolten in London, weil bei einer Vivisektion ein Hund gestorben ist, dem man dann ein Denkmal gesetzt hat. Und dieses Denkmal musste dann auch abgebaut werden, weil die Proteste zu groß waren. Es war zu diesem Zeitpunkt politically völlig incorrect, Hunde gezielt zu töten. Und so konnte er ein System wie Amundsen nicht aufbauen, mit vielen Hunden starten und dann gezielt auch Hunde zu töten, um sie als Futter an die anderen Hunde weiterzugeben. Das konnte Scott überhaupt nicht machen.
ERZÄHLERIN:
Amundsen hatte diesen öffentlichen Druck nicht. Das Fleisch geschlachteter Hunde hielt sein Team stark und leistungsfähig, auch die Menschen, die sich gerne mal ein Stück Hundelende gönnten. Die Hunde waren da weniger wählerisch, schreibt Amundsen in seinem Buch "Die Eroberung des Südpols".
MUSIK
ZITATOR AMUNDSEN:
"Das Einzige, was von so einer Hundemahlzeit übrig blieb, waren die Zähne des Opfers, und wenn die Hunde einen anstrengenden Tag hinter sich hatten, verschwanden auch diese."
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN:
Anstrengende Tage gab es viele. Die überlebenden Hunde waren nicht zu beneiden. Rückblickend gibt Amundsen zu, dass er ihnen viel zu viel zugemutet hat.
MUSIK ENDE
ZITATOR AMUNDSEN:
["Ich glaube auch sagen zu dürfen, dass ich meine Hunde unter normalen Verhältnissen herzlich lieb hatte, und dieses Gefühl war ganz gewiss gegenseitig. Aber die Verhältnisse hatten eben allmählich aufgehört, normal zu sein.
Oder war ich selbst vielleicht nicht mehr normal? Ich habe später oft gedacht, es sei wirklich so gewesen.] Die tägliche Mühe und Arbeit und das Ziel, das ich nicht aufgeben wollte, hatten mich roh gemacht. Denn roh war ich, als ich diese fünf Skelette zwang, den allzu schwer beladenen Schlitten zu ziehen. Noch geht mir ein Stich durchs Herz, wenn ich an die Klagelaute denke, die Thor, ein feiner, glatthaariger Hund, während des Marsches ausstieß, was ein Hund sonst bei der Arbeit nie tut. Aber ich verstand seine Sprache nicht, wollte sie vielleicht nicht verstehen. Vorwärts wurde er getrieben - vorwärts, bis er umfiel. Als wir ihn zerlegten, fanden wir, dass seine Brust ein einziges großes Geschwür war."
ERZÄHLERIN:
Die Vorstellung vom begeistert dahinstürmenden Schlittenhund, der Seite an Seite mit dem Menschen seiner inneren Berufung folgen darf, ist ein Idealbild, das selten zutrifft. Wie alle Arbeitstiere mussten auch Schlittenhunde sich dem Ehrgeiz der Menschen unterwerfen und einen hohen Preis zahlen. An der Wende zum 20. Jahrhundert standen sie im Dienst der Goldsucher, die in der Zeit des Goldrausches nach Alaska und Kanada strömten. Jack London hat der Kraft und Ausdauer dieser Hunde, aber auch ihren Leiden, in seinen Romanen ein Denkmal gesetzt. Aus "Ruf der Wildnis":
MUSIKAKZENT
MUSIK
ZITATOR LONDON:
"Ihr Elend war so groß, dass sie die Schläge, die auf sie niederfielen, nicht mehr spürten. Der Schmerz kam ihnen nur mehr schwach und verschwommen zum Bewusstsein. Alles, was sie sahen und hörten, schien sehr weit weg von ihnen zu sein. Sie waren nur mehr ein Haufen Knochen, in denen ein schwacher Lebensfunke zuckte. Wenn sie angehalten wurden, dann fielen sie wie tot hin, bis die Hiebe sie auf kurze Zeit wieder auf die Beine brachten."
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN:
Einen gewaltigen Popularitätsschub erfuhren die Schlittenhunde im Jahre 1925, als im kleinen Ort Nome im Westen Alaskas die Diphterie ausgebrochen war.
Das rettende Serum befand sich 1.000 Meilen entfernt in Anchorage. Straßen gab es nicht, in einem Flugzeug wäre das Benzin gefroren. Schlittenhunde waren die letzte Rettung für die Menschen von Nome. Das ganze Land, die ganze Welt verfolgte die Berichterstattung im Radio über den Verlauf des Rennens. Das Unternehmen gelang, trotz schlechten Wetters und widriger Umstände. Am 2. Februar 1925 kam die letzte Staffel mit Leithund Balto an der Spitze in Nome an. Balto ist bis heute ein amerikanischer Held, und im Central Park in New York erinnert ein Denkmal an ihn mit der Inschrift:
HUNDEGEBELL & MUSIK
ZITATOR:
"Gewidmet dem unbeugsamen Geist der Schlittenhunde, der diese über rauhe Eisflächen, tückische Gewässer und durch arktische Schneestürme trug, um dem gepeinigten Nome im Winter 1925 durch ein Gegengift zu helfen. Ausdauer - Treue - Intelligenz."
ERZÄHLERIN:
Schlittenhundrennen sind bis heute der Nationalsport Alaskas. Wenn das Iditarod stattfindet, das über weite Strecken der Route des Serum-Rennens folgt, sitzt die Bevölkerung vor den Bildschirmen und fiebert mit. Das Iditarod gilt als das längste und härteste Schlittenhundrennen der Welt, über 1800 Kilometer durch kaum berührte Natur. Erfolgreiche Musher - das ist der Fachausdruck für Schlittenhundführer - sind Hochleistungssportler und Perfektionisten in der Betreuung ihrer Hunde, Akrobaten auf den Schlittenkufen, die während des Rennens nächtelang kein Auge schließen und, wenn‘s sein muss, stehend auf den Kufen schlafen.
MUSIK ENDE
Der Lohn der Mühe sind Ruhm und ein hohes Preisgeld, das einen Ehrgeiz beflügelt, der das Leistungsvermögen der Hunde oft genug überstrapaziert.
MUSIK
Jürgen Stolz, der bayerische Musher aus Penzing, betreibt den Sport als Hobby und hat nicht die Möglichkeit und auch nicht den Ehrgeiz, in diese Dimensionen vorzustoßen.
MUSIK C1480480036 ENDE
13 O-TON STOLZ 11/9:09
Das ist halt ganz was anderes. Das ist halt dann ein Fulltime-Job. Die sind ja nur am Trainieren, die trainieren ja fast das ganze Jahr durch. Die sind im Sommer teilweise am Gletscher und fahren da Kreuzfahrtgäste und sind beim Lachsfischen, damit sie Geld verdienen. Das ist eine ganz andere Hausnummer.
ERZÄHLERIN:
In Europa ist das höchste der Gefühle der Alpentrail in Italien, der sich über 300 Kilometer erstreckt. Den hat Jürgen Stolz auch schon gewonnen. Aber es macht seiner Meinung nach Sinn, sich auf Sprintrennen zu konzentrieren.
14 O-TON STOLZ 9:40
Letztes Jahr sind wir den Alpentrail gefahren und waren danach auf einer Sprint-Europaschaft und haben da eins auf den Deckel bekommen, weil die Hunde einfach noch zu müde waren. Sie haben nicht gewusst, wie lange fährt der jetzt mit uns, fährt der wieder 60 Kilometer oder fährt der jetzt nur 18. Und da hat der Hund sich immer ein Päuschen im Hinterkopf gehalten und hat nicht hundert Prozent Vollgas gegeben, und da sind wir dann bloß sechster geworden. Das möchte ich wiedergutmachen. Meiner Meinung nach zählt man am meisten im Sprint, gerade auf Weltmeisterschaften. Da hat man den besten Namen, da ist die meiste Konkurrenz.
ERZÄHLERIN:
Wer den Schlittenhundsport aktiv betreiben will, braucht viel Zeit, Platz und Geld. So mancher hat sich da schon überschätzt. Die Hunde leiden, wenn sie zu wenig Bewegung und Zuwendung bekommen, sie leiden, wenn sie weiterverkauft werden. Bei Jürgen Stolz genießen alte Hunde ein behagliches Rentnerdasein auf dem großen, sicher umzäunten Grundstück, und die Aktiven freuen sich, wenn der langweilige Sommer endlich vorbei ist und die Rennsaison beginnt.
15 O-TON STOLZ 11. 43
Das ist das Größte für die Hunde, das ist unglaublich. Die flippen total aus, die Hunde. Die springen in die Seile, die springen einen Meter hoch, obwohl sie angebunden sind vorne und hinten, also am Schlitten schon. Das ist ihr Leben.
HUNDEGEBELL
ERZÄHLERIN:
Ein liebevoll betreuter Wettkampfhund ist besser dran als ein unausgelasteter Familienhusky, der seinen Bewegungsdrang nicht ausleben kann.
16 O-TON STOLZ 13.29
Wenn du mit dem Hund nichts machst, ist der Sibirian Husky der voll falsche Hund.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Bleibt nur zu hoffen, dass sich der organisierte Schlittenhundsport seiner Verantwortung gegenüber diesen liebenswerten Tieren bewusst bleiben.
17 O-TON STOLZ 10.34
Wir müssen uns alle denken, wir arbeiten ja nicht mit Motoren oder mit Maschinen, die man dann wegwerfen kann. Es sind Hunde, es sind Lebewesen. Es sind meine Freunde, ohne die ich nicht leben kann.
MUSIK ENDE
Otto Lilienthal steht im Sommer 1891 auf einer Sanddüne nahe Potsdam mit einem selbstgebauten Hängegleiter, nimmt Anlauf - und gleitet 20 Meter durch die Luft, bevor er sicher landet. Ein Meilenstein in der Technikgeschichte. Autorin: Brigitte Kohn (BR 2013)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Martin Umbach, Rahel Comtesse
Redaktion: Brigitte Reimer
Im Interview:
Dr. Bernd Lukasch, Physiker;
Leiter des Otto-Lilienthal-Museums;
Mitautor der Lilienthal-Biographie „Erfinderleben“;
Fritz Lilienthal (Sohn);
Paul Beylich (Assistent);
Ella Storbeck (Zuschauerin)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK: CD83313 009 (00‘25‘‘)
ERZÄHLERIN:
Sonntag, 9. August 1896. Eine Droschke ist unterwegs zu den Rhinower Bergen. Sie befördert einen Herrn mit blondem Vollbart und ein sonderbares, zusammenklappbares Gestell aus Weidenruten und Baumwollstoff. Damit will er gleich vom Berg springen, der bärtige Herr. Man kennt ihn hier gut, den Otto Lilienthal. Er kommt aus Berlin und ist fast jedes Wochenende hier.
O-TON FRITZ LILIENTHAL:
„Ich weiß, er war ein sehr lebensfroher Mensch. Kerngesund. Er hätte ja auch seine Flugversuche gar nicht mit 48 Jahren noch machen können, wenn er nicht gesund und gewandt und ein guter Turner gewesen wäre.“
MUSIK: CD83313 009 (00‘55‘‘)
ERZÄHLERIN:
Fritz Lilienthal, Ottos Sohn, spricht in einer historischen Rundfunkaufnahme über den letzten Tag im Leben seines Vaters. Am Fuß des Gollenbergs wartet Paul Beylich, Lilienthals Assistent. Er hilft beim Aufklappen des so genannten "Normal-Segelapparats", ein oft erprobtes Fluggerät mit zwei leicht gewölbten Flügeln von 6 Meter 70 Spannweite und waagrechten und senkrechten Schwanzflossen zur Lagestabilisierung. Der Pilot schlüpft durch eine Aussparung im Zentrum des Geräts. Er ist nicht angeschnallt, die Unterarme liegen auf gepolsterten Verstrebungen, die in zwei Griffen für die Hände münden. Die Beine baumeln nach unten, durch Bewegungen nach links oder rechts kann Otto Lilienthal das Gerät in der Luft etwas ausbalancieren. Der erste Flug klappt wunderbar. Trotzdem hat Paul Beylich kein gutes Gefühl. Sagt er - Jahrzehnte später im Gespräch mit Reportern.
O-TON PAUL BEYLICH:
„Weil das nun so windböig war, da hatte ich ihm abgeraten. Aber er sagte zu mir: Beylich, wir machen einen Flug, und dann fahren wir nach Hause.“
ERZÄHLERIN:
Am Fuße des Gollenbergs haben sich ein paar Zuschauer eingefunden, die gespannt zuschauen, wie Lillienthal zum zweiten Mal abspringt. Unter ihnen ist das Bauernmädchen Ella Storbeck.
O-TON ELLA STORBECK:
„Da sah ich denn, wie er eben hochging. Ob es nun durch eine Windböe kam oder was es nun, nun war, na, der Apparat überschlug sich und er stürzte nun senkrecht ins Tal."
MUSIK: CD83313 007 (00‘20‘‘)
ERZÄHLERIN:
Lilienthal liegt mit gebrochener Wirbelsäule im Gras. Er schlägt die Augen auf und spürt seine Beine nicht mehr. Das wird schon wieder gut, glaubt er und scherzt mit dem herbeigeeilten Arzt. Doch als der Schwerverletzte am nächsten Tag in Berlin ankommt, ist er nicht mehr ansprechbar. Am Bahnhof wartet Agnes, Ottos Frau, Als sie ihren Mann sieht, wird sie ohnmächtig. Sie hat vier Kinder, Fritz ist gerade elf.
O-TON FRITZ LILIENTHAL:
„Ich weiß, dass wir durch den Bruder meines Vaters erfahren haben, dass er abgestürzt wäre in Stölln, aus – glaube ich – 40 Metern Höhe. Er ist dann in die Bergmann‘sche Klinik gekommen, und meine Mutter ist dann hingefahren, aber wie sie hinkam, war er schon tot. // Seine letzten Worte sollen gewesen sein: // Opfer müssen gebracht werden."
ERZÄHLERIN:
Diese Worte, obwohl nicht sicher verbürgt, zieren Lilienthals Grabplatte auf dem Berliner Friedhof Lankwitz, sind Teil seiner Legende.
War er wirklich der erste fliegende Mensch? Andere haben vor ihm Fluggeräte konstruiert und ausprobiert. Doch er ging als erster sehr systematisch vor, erzielte nachvollziehbarer Erfolge und hinterließ wissenschaftliche Versuchsreihen und Messergebnisse. Seine wichtigste Erkenntnis überhaupt, die Grundlage seines Erfolges, war ...
O-TON DR. BERND LUKASCH:
„... die Tragfläche, oder das Geheimnis der Tragfläche dem Weißstorch abgeschaut, wenn man’s mal so vergröbern will.“
ERZÄHLERIN:
Der Physiker Dr. Bernd Lukasch ist Mitautor der Lilienthal-Biographie "Erfinderleben" und Leiter des Otto-Lilienthal-Museums in dessen Geburtsstadt Anklam. Das liegt in einer weiten Flusslandschaft, in der viele Störche leben. Störche faszinieren Lilienthal sein ganzes Leben lang. Vor allem ihre Fähigkeit, mit ausgebreiteten Flügeln scheinbar mühelos durch die Luft zu gleiten. Er erkennt als Erster, dass sie das nur deshalb können, weil ihre Flügel leicht gewölbt sind.
O-TON DR. BERND LUKASCH:
„Die Wölbung, in der steckte so ein bisschen das Geheimnis. Ganz vernünftiger Weise haben die Physiker seiner Zeit gesagt, also ja, das fällt schon auf, diese Wölbung, aber wir müssen erst mal das Prinzip von der Fliegerei überhaupt verstehen, dann können wir uns mit den Feinheiten beschäftigen. Das ist eben ein so ein von der Natur recht gut gehütetes Geheimnis. Wir sind ja fast im Zeitalter von Atomphysik und Quantenphysik, wenn man so schaut, und da hat die Natur sich doch so lange so ein kleines Geheimnis, was ganz klassische Newton‘sche Mechanik ist, bewahrt. Und dass die gewölbte Fläche so eklatant andere Eigenschaften hat als eine Ebene, das war sicher für alle, die sich mit beschäftigt haben, eine Überraschung. Und der Otto Lilienthal hat das den Vögeln durchaus abgeschaut, hat aber dann die ersten tatsächlich verfügbaren Messwerte veröffentlicht.“
MUSIK: CD83313 026 (00‘55‘‘)
ERZÄHLERIN:
Otto Lilienthal, geboren 1848, begeistert sich von klein auf fürs Fliegen. Sein jüngerer Bruder Gustav auch. Die Mutter liest ihren Kindern Geschichten von mutigen Ballonfahrern vor. So ein Ballon funktioniert nach dem Prinzip "Leichter als Luft", weil er mit Gas oder Heißluft gefüllt ist, beides leichter als die normale Luft. Das zieht den Ballon nach oben. Der Ballon ist eine Erfindung des 18. Jahrhunderts. Im 19. bemüht man sich darum, sie lenkbar zu machen, mit mäßigem Erfolg allerdings. Otto und Gustav wollen richtig fliegen, selbst bestimmt und mit Körpereinsatz, nach dem Prinzip "Schwerer als Luft", wie die Vögel eben. Sie basteln sich künstliche Flügel aus Holz und laufen damit die Hügel rauf und runter. Klappt nicht? Macht nichts. Otto und Gustav halten fest zusammen und ermutigen sich gegenseitig.
ZITATOR OTTO LILIENTHAL:
„Mein Bruder Gustav war und ist mein zweites Ich. Nicht nur, dass wir von früher Jugend an alle Freuden und alles Leid teilen, alle dummen Streiche und vernünftigen Ideen gemeinsam ausführten, nicht nur, dass wir in gleicher Weise des segensreichen Einflusses unserer vorzüglichen Mutter teilhaftig wurden; auch unsere weitere Selbsterziehung steuerte der gleichen Weltanschauung zu. Viele größere Unternehmungen wurden von uns gemeinsam betrieben.“
ERZÄHLERIN:
Als der Vater starb, war Otto 13, Gustav 12, die Schwester Marie noch ein Kleinkind. Die drei hatten noch fünf weitere Geschwister, aber die leben nicht lange.
ZITATOR OTTO LILIENTHAL:
„Nichts ist geeigneter, eine ernste Lebensauffassung zu wecken, als wenn man seine Geschwister kalt und bleich in weißen Gewändern und von Blumen umgeben im Kindersarge liegen sieht.“
ERZÄHLERIN.
Vielleicht hat Ottos tiefe Sehnsucht, fliegen zu können, auch etwas mit seiner kindlichen Erfahrung des Todes zu tun. Und mit der Erinnerung an den Vater.
O-TON DR. BERND LUKASCH:
„Er war ein ganz Umtriebiger, vielleicht das hatte er dem Otto vererbt, also an allem was um ihn herum passierte, sehr interessiert, vielleicht im falschen Beruf als Kaufmann, also er hat ja angeblich ein Mathematikbuch geschrieben, was nie veröffentlicht wurde, so zum Spaß, hat sich also um technische Neuerungen gekümmert zum Torfabbau in seiner Stadt, und hat sich dann engagiert in der Revolution, was ihn also den Großteil seiner Kundschaft gekostet hat ...“
ERZÄHLERIN:
… und die Familie in Armut und Not stürzte. Mutter Caroline Lilienthal, eine ausgebildete Sängerin, intelligent, vielseitig interessiert und musisch begabt, tut nach dem Tod des Vaters alles für ihre Kinder. Sie lässt sie basteln und experimentieren, träumen und umherschweifen, so viel sie wollen. Sie trägt die Kosten, ohne zu murren. Sie ist stolz, als Otto nach der Schule nach Berlin geht. Dort gibt es die Gewerbeakademie, eine hochmoderne Ausbildungsstätte für Maschinenbau-Ingenieure, die im beginnenden Technik-Zeitalter dringend gebraucht werden. Die Anfänge sind hart, denn Otto hat kein Geld.
ZITATOR OTTO LILIENTHAL:
„Ich mietete mir eine Schlafstelle, zusammen mit einem Droschken- und einem Rollkutscher. Der Droschkenkutscher fuhr nachts aus, so dass ich das Bett nur mit dem Rollkutscher zu teilen brauchte."
MUSIK: CD83313 012 (00‘45‘‘)
ERZÄHLERIN:
Berlin um 1866, eine quirlige, überfüllte Großstadt, ein Moloch mit einem ständig wachsenden Industriegebiet. Es ist die große Zeit der Erfinder-Unternehmer, die mit Patenten auf neu entwickelte Geräte viel Geld verdienen.
So ein Erfinder-Unternehmer will Otto Lilienthal auch werden. Er bekommt ein Stipendium und kann seinen Bruder Gustav zum Architekturstudium nach Berlin holen. Die beiden wohnen zusammen und konstruieren in ihrer Freizeit einen Flügelschlagapparat, dessen Flügel man in Bewegung setzen kann, indem man zwei Pedale betätigt. Fliegen kann man damit nicht. Deshalb beschließt Otto, das Problem des Flügelschlags erst mal ruhen zu lassen und sich mit dem Gleiten zu befassen.
O-TON DR. BERND LUKASCH:
„Als Zwischenschritt. Also er hat gemerkt, dass das mit dem Flügelschlag sicher ne schwierige Sache ist. Und dann hat er sich gesagt: na ja, der erste Schritt ist das, was die Störche ja auch so schön können, die flattern ja auch nicht pausenlos, die halten ihre Flügel ganz still. Das ist der erste Schritt in der Erkenntnis zum Menschenflug. Aber dann war also seine Flugleistungen, die er dann 1893 so erreichte, die waren für ihn eigentlich der Abschluss dieses Gebiets, und dann hat er sich wieder dem Flügelschlag zugewandt. Also die meiste Zeit seiner Forschung hatte er sich eigentlich mit Flügelschlag beschäftigt, kann man sagen, ohne dass er dabei den Durchbruch erreicht hätte.“
ERZÄHLERIN:
Gustav interessiert sich auch für die Entwicklung von Spielzeug und für Kunsthandwerk, für Architektur und sozialreformerische Lebens- und Wohnmodelle. Er geht seinen eigenen Weg. An den praktischen Flugübungen des Bruders in späteren Jahren ist er nicht beteiligt. Vom Berg springen, das ist ihm zu gefährlich. Aber in den frühen Phasen ist er immer dabei.
O-TON DR. BERND LUKASCH:
„Gustav hat sich dann zurückgezogen, aber z. B. dieses berühmte Buch, das wir heute als Wiegenbuch der Flugzeuggeschichte bezeichnen, also "Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst", das ist sicher ein von Otto geschriebenes Buch, aber es steht im Untertitel: Aufgrund zahlreicher von mir und meinem Bruder ausgeführter Versuche.“
ERZÄHLERIN:
Nach dem Studium und Einsatz im Deutsch-Französischen Krieg sammelt Otto Lilienthal erste berufliche Erfahrungen als Angestellter, unter anderem im Bergbau bei Krakau. Sein Traum ist eine eigene Fabrik. Und eine eigene Familie. Otto hat sich verliebt. In Agnes, die Tochter eines Bergmanns.
O-TON FRITZ LILIENTHAL:
„Er hat ja meine Mutter kennen gelernt auf einem Wohltätigkeitskonzert, wo sie Tenor und Sopran zusammen sangen.“
ERZÄHLERIN:
Die Musik verbindet die beiden ein Leben lang und tröstet Agnes oft, wenn sie sich allein gelassen fühlt. Ständig stecken die Brüder zusammen und brüten über gemeinsamen Projekten. Nicht immer geht es ums Fliegen. Gustav hat die Idee, Spielsteine für Kinder zu entwickeln, die nicht aus Holz sind, sondern aus Stein und zum Bauen von Miniaturhäusern gut geeignet. Der Anker-Steinbaukasten wird sehr schön, es gibt ihn heute noch. Nur mit der Vermarktung, da haben die Brüder kein Glück, erinnert sich Ottos Sohn Fritz:
O-TON FRITZ LILIENTHAL:
„Er war damals noch ein kleiner Angestellter anfangs bei einer Firma, wie er den erfunden hatte, und da fehlte ihm nur das Geld, Reklame zu machen, das hätte er selber auch gewusst, aber wenn Geld nicht ist, kann man das nicht machen. Richter hat sie ihm abgekauft, und der hat dann die großen Geschäfte gemacht."
ERZÄHLERIN:
Mehr Glück hat Otto Lilienthal mit der Erfindung des "gefahrlosen Dampfkessels aus Schlangenrohr-Elementen". Ursprünglich ist der Kessel dazu gedacht, einen Flügelschlagapparat in die Höhe zu treiben.
Das funktioniert nicht, aber für normale Produktionsprozesse in mittelständischen Unternehmen ist die Maschine durchaus zu gebrauchen. Sie wird patentiert und geht in seiner eigenen, neu gegründeten Fabrik in der Köpenicker Straße 110 dauerhaft in Produktion. Er hat es geschafft. Die Arbeiter schätzen ihren immer freundlichen und fröhlichen Chef. Und sie staunen nicht schlecht, als eines Morgens ein Aushang am Schwarzen Brett eine unerhört hohe Gewinnbeteiligung verspricht.
ZITATOR OTTO LILIENTHAL:
„Um das Interesse meiner Arbeiter an dem Geschäftsbetriebe zu heben und ihnen Gelegenheit zu bieten, ihr Einkommen durch eigenes Zuthun entsprechend ihren Leistungen zu vermehren, beabsichtige ich, unter Fortfall der Akkordarbeiten, Beibehaltung der jetzigen Lohnsätze und der bisherigen Fabrik-Ordnung eine Beteiligung derselben am Reingewissen des Geschäftes und zwar zunächst in Höhe von 25 Prozent desselben einzuführen.“
O-TON DR. BERND LUKASCH:
„Angeblich soll es bis zu seinem Tod mit großem Erfolg funktioniert haben. Also diese – auch sein Fachpersonal – denn er hatte ja natürlich, Maschinenbau im boomenden Berlin, da große Konkurrenz, und das war natürlich also nicht nur als soziale Wohltat gedacht, sondern das war natürlich auch Unternehmenspolitik, also seine Facharbeiter an seine Firma zu binden und ihr Interesse an der Qualität seiner Erzeugnisse zu befördern. Das war sicher der Hintergrund. Aber es war natürlich auch ne klar eine soziale Maßnahme, in der er ja ganz vorne stand im Berlin der damaligen Zeit.“
ERZÄHLERIN:
Otto Lilienthal engagiert sich auch fürs Theater: Er wird Teilhaber einer kleinen Bühne und sorgt dafür, dass der Eintritt nur zehn Pfennige kostet, damit sich auch Arbeiter das Vergnügen leisten können. Er schreibt eine sozialkritische Posse und schauspielert auch selbst. Anna, die Frau seines Bruders Gustav, ist nicht begeistert.
ZITATORIN ANNA LILIENTHAL:
„Wer betritt da im Kostüm des Herold die Bühne? Es war unser Otto selbst, der Mann der unbegrenzten Möglichkeiten! Aber hier, als Schauspieler, war er fast unmöglich. Selbst das anspruchslose Publikum lachte ihn aus; wir, seine Angehörigen, saßen wie auf Kohlen. Der einzige, den das Fiasko nicht störte, war er selbst. Frohgemut trat er nach der Vorstellung zu uns und beruhigte uns mit den Worten: ‚Ich werde von nun an öfters spielen, um mich zu üben.‘"
MUSIK: CD83313 009 (00‘38‘‘)
ERZÄHLERIN:
Üben, das gilt auch für die Fliegerei, die Lilienthal Anfang der 1890er Jahre wieder intensiviert. Jetzt beginnt er mit aktiven Flugversuchen.
ZITATOR OTTO LILIENTHAL:
„Was uns bei der Lösung der Flugfrage am meisten fördern kann, das sind zahlreiche und mit Verständnis und Geschick ausgeführte Versuche. Auf dem Papier allein kann überhaupt das Flugproblem nicht reifen. Strenge Wissenschaftlichkeit, gepaart mit hervorragender praktischer Erfahrung, kann allein uns Schritt für Schritt dem Ziele näher bringen."
ERZÄHLERIN:
Er übt in verschiedenen Gegenden in der Nähe Berlins und steigert seine Flugleistungen von 25 auf 80, schließlich sogar auf 250 Meter. Nicht weit von seinem Wohnhaus hat er sich einen eigenen Übungsberg errichten lassen.
O-TON FRITZ LILIENTHAL:
„Ich weiß noch, wie wir immer rausgefahren sind zum so genannten Fliegeberg, den er hat aufschütten lassen. Das ist vielleicht drei bis vier Kilometer von Lichterfelde bei Berlin, wo wir wohnten. Da sind wir mit dem Rad rausgefahren, als Kinder mit ihm und haben da oft zugesehen, haben da gesessen und haben in der Sonne da beobachtet, wie er oben absprang und dann runter, den Berg runterflog.“
ERZÄHLERIN:
Zwischen 1891 und 1896 entwirft Lilienthal 16 verschiedene Gleiter, Eindecker und Doppeldecker. Schon auf Zeitgenossen wirken sie rührend altmodisch, so ganz ohne Motor. Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung, die in puncto Fliegen alle Hoffnungen auf die Weiterentwicklung des Ballons setzt, glaubt er fest an das Fliegen nach dem Prinzip "Schwerer als Luft" und konzentriert sich dabei auf die Form der Flügel und aerodynamische Fragen. Die meisten seiner Zeitgenossen halten ihn für einen Spinner.
O-TON DR. BERND LUKASCH:
„Er war ja sogar im doppelten Sinne Außenseiter. Also nicht nur, dass er immer noch mit Flügeln also die Vögel nachahmen wollte, obwohl die Wissenschaft längst also das künstliche Produkt Ballon erfunden hatte, sondern unter den wenigen, die sich mit Luftfahrt schwerer als Luft beschäftigten, war er noch mal der Außenseiter, weil er ja gesagt hat: Und das mit dem Motor machen wir später. Also die anderen haben natürlich die Dampfmaschine, dieses moderne Produkt der Technik, versucht an Flügel zu hängen und daraus das Flugzeug zu machen. Und dann kommt der Lilienthal, selbst Kleindampfmaschinenbauer, also genau aus der Richtung kommend, und der sagt dann: Na, das lassen wir erst mal weg, wir springen erst mal vom Berg.“
MUSIK: CD83313 009 (00‘27‘‘)
ERZÄHLERIN:
Doch zum Glück ist die Momentfotografie gerade erfunden worden. Fotografen pilgern gern zu Lilienthals Flugstätten und schießen spektakuläre Fotos vom fliegenden Menschen. Ihre Fotos gehen um die Welt und zeigen, dass seine Fluggeräte funktionieren. Das verschafft ihm Respekt und bringt ihn seinem Ziel näher, das Fliegen weltweit zu einem populären Sport zu machen. In seiner Fabrik werden Fluggeräte für interessierte Kunden in aller Welt hergestellt.
O-TON DR. BERND LUKASCH:
„Man kann sagen, die Flugzeugproduktion, und da war er ja der Erste. Wenn man immer so über den Ersten die Superlative sucht, wenn man einen finden will für den Lilienthal, dann kann man sagen, die erste Serienproduktion eines Flugzeuges in der Geschichte. Wir kennen also neun Käufer, es gibt also ne Aussaget, zwölf Käufer gab es - also vielleicht zwölf Exemplare gebaut und in die Welt geschickt, also durchaus zwischen Moskau und Washington. Also im Hinterzimmer seiner Maschinenfabrik ist also das erste Mal in der Welt ein Flugzeug in Serie gebaut worden, Berlin ist die Stadt, aus der das Flugzeug kommt, und die Berliner wissen’s nicht.“
ERZÄHLERIN:
Lilienthal liebt das Fliegen. Er schwärmt vom sanften Dahingleiten über weit ausgedehnte sonnige Bergabhänge. Fliegen wäre gut für alle Menschen, glaubt er. Es würde sie freier machen und menschlicher.
MUSIK: CD83313 026 (00‘34‘‘)
ZITATOR OTTO LILIENTHAL:
„Der Fortschritt der Kultur ist in hohem Maße davon abhängig, ob es dem Menschen jemals gelingen wird, das Reich der Lüfte in eine allgemeine, viel benutzte Verkehrsstraße zu verwandeln. Die Grenzen der Völker würden dann ganz ihre Bedeutung verlieren, weil man sie bis in den Himmel nicht absperren kann. Man kann sich kaum vorstellen, dass Zölle und Kriege dann noch möglich sind. Der ungeheure Aufschwung, den der Verkehr der Völker untereinander nehmen wird, müsste schließlich die Sprachen zu einer Weltsprache mischen.“
O-TON Dr. BERND LUKASCH:
„Der Welt umspannende Luftverkehr, den wir heute kennen, das war ne Sache von nicht mal einem halben Jahrhundert, dann war das verwirklicht. Und wie weit wir heute von dem ewigen Frieden gerade mit den Mitteln der Luftfahrt entfernt sind! Da gab es mehrere Revolutionen des Krieges, die gerade mti Hilfe der Luftfahrt stattgefunden haben.“
ERZÄHLERIN:
Die Erfindung des Motorfluges geht nach seinem Tod dramatisch schnell. Das Militär investierte enorme Summen in die Entwicklung. Nicht einmal vier Jahrzehnte später sorgten Flugzeuge im Zweiten Weltkrieg für flächendeckende Bombardements mit Tausenden von Toten. Ein Szenario, das sich Otto Lilienthal nicht vorstellen konnte.
O-TON FRITZ LILIENTHAL:
„Was ihn umtrieb, war ja auch nicht der Gesellschaftsflug, wie er sagte, sondern der persönliche Kunstflug. Also das, was man mit dem Fahrrad macht, was ja auch eine Erfindung aus derselben Zeit ist, nicht, also jedermann kann sich Flügel anbinden und kann damit am Wochenende sich in die Luft begeben. Und ja und eine Armee macht sich eben lächerlich, wenn sie um die Verschiebung einer Grenze kämpft, wenn gleichzeitig jeder Mensch frei wie ein Vogel über die Grenze hinweg fliegen kann. So war seine Vorstellung.“
MUSIK: CD83313 009 (00‘37‘‘)
ERZÄHLERIN:
Noch einen Traum träumte Lilienthal sein Leben lang, dessen Verwirklichung lange Zeit als unmöglich galt: den Flügelschlag der Vögel technisch nachzuahmen. Erst auf der Hannover Messe 2011 wurde der Smartbird vorgestellt - ein Gerät, das wie eine Möwe aussieht und auch genauso fliegt.
O-TON DR. BERND LUKASCH:
„Sensationell – also das Publikum erhob sich von den Plätzen. Also ein High-Tech-Erzeugnis, zwei Meter Spannweite, eine ganz große Möwe, die also in perfekter Steuerung in der Lage war, ferngesteuert also im Küstenwind, aber auch im Saal über die Köpfe des Publikums hinweg zu fliegen.“
ERZÄHLERIN:
Es gibt also immer noch Überraschungen. Der alte Traum vom Fliegen ist noch nicht zu Ende geträumt…
Mit dem sogenannten "Deutschen Herbst" sollte die terroristische RAF im Jahr 1977 eine der schwersten Krisen der Bundesrepublik Deutschland auslösen. Das Drama endete blutig. Von Thomas Grasberger (BR 2017)
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christoph Jablonka, Rahel Comtesse
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
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Die Jazz-Baroness - ein Leben für die Musik. Pannonica de Koenigswarter war eine wichtige Mentorin und Schutzpatronin für zahlreiche Jazz-Musiker der 1950er und 1960er Jahre. Für ihre Leidenschaft brach sie, eine geborene Rothschild, mit allen Konventionen. Autor: Georg Gruber
Credits
Autor dieser Folge: Georg Gruber
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Bürkle, Johannes Hitzelberger, Julia Cortis, Gudrun Skupin
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Literaturtipps:
Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness. Das Leben der Nica Rothschild, Berlin Verlag 2013.
David Kastin, Nica’s Dream: The Life and Legend of the Jazz Baroness, Norton & Company 2011.
Pannonica de Koenigswarter, Die Jazzmusiker und ihre drei Wünsche, Reclam Verlag 2007.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik 1: „Pannonica“ / Monk, aus Film „Straight no chaser“
Thelonious Monk: Hi everybody! I would like to play a little tune, I composed not so long ago, entitled “Panonnica”.
Zitator OV: Ich möchte jetzt ein Stück spielen, das ich vor kurzem erst komponiert habe, mit dem Titel: „Pannonica“. Benannt nach dieser wunderschönen Lady hier.
TM: It was named after this beautiful lady here. I think her father gave her that name, after a butterfly,
Zitator OV: Ich glaube, ihr Vater gab ihr den Namen nach einem Schmetterling, den er fangen wollte – was ihm, glaube ich, nicht gelang.
TM: that he tried to catch. I don’t think he caught the butterfly.
Erzählerin
Der Pianist Thelonious Monk ist einer der Väter des Bebop, ein brillanter Musiker - und ein Exzentriker. Panonnica de Koenigswarter stammt aus einem wohlhabenden britischen Elternhaus und ist eine geborene Rothschild. Und für sie ist Monk ein Genie.
Musik / Pannonica hoch
Erzählerin
Zwei Welten treffen hier aufeinander, die Welt des Jazz und die des alten Europa. Für ihre Liebe zum Jazz bricht die Baroness in den 1950er Jahren mit allen Konventionen, auch mit ihrer Familie. In ihrer Suite in einem New Yorker Nobelhotel treffen sich die wichtigsten Jazzmusiker jener Zeit zu gemeinsamen Jam-Sessions. Sie ist Schutzpatronin, Förderin und Mäzenin vieler Jazz-Musiker jener Zeit.
Musik 2: Etude-Caprice für Violine und Klavier
Erzählerin
Geboren wurde Kathleen Annie Pannonica am 10. Dezember 1913 in einem Londoner Stadthaus der Familie Rothschild. Ihr Vater Charles ist Bankier, doch seine wahre Leidenschaft gilt der Natur, besonders den Insekten. Schon in seiner Jugendzeit hatte er begonnen, Schmetterlinge zu fangen und zu archivieren. In seiner Sammlung befindet sich auch ein auf den ersten Blick unscheinbarer Nachtfalter, den er in Ungarn entdeckt hatte. Sein Name: Pannonica. Erst wenn er die Flügel öffnet, sind seine zitronengelben Flächen zu sehen. Ein passender Name, so als hätte der Vater schon bei Geburt seiner Tochter gewusst, dass sie besonders nachts aktiv ist und sich erst dann zu ganzer Schönheit entfaltet.
Musik hoch
Erzählerin
Nica und ihre drei Geschwister verbringen die meiste Zeit ihrer Kindheit auf den herrschaftlichen Landsitzen, Tag und Nacht sind sie dabei umgeben von einer Heerschar von Kinderfrauen, Hauslehrern, Dienern, Chauffeuren, Gärtnern und Stallburschen. Die Mädchen werden von Privatlehrern unterrichtet, ihr Bruder Victor geht auf ein Internat.
Zitatorin 2, Zitat aus Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness. Das Leben der Nica Rothschild, Berlin Verlag 2013, S. 51
„Zu Mittag aßen die Mädchen im Kinderzimmer und durften erst im Alter von sechzehn Jahren das Abendessen gemeinsam mit den Eltern einnehmen.“
Erzählerin
Schreibt Hannah Rothschild in ihrer Biografie „Die Jazz Baroness. Das Leben der Nica Rothschild“ über den Tagesablauf, der einer strengen Routine folgt.
Zitatorin 2, Zitat aus Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness, S. 51
„Jeden Morgen zu genau der gleichen Zeit wurden die Kinder zu einem Spaziergang durch den Park geführt. Rennen und Versteck spielen waren verboten, damit die Kinder nicht ihre weißen Kleider schmutzig machten oder sich verliefen.“
Musik 3: Blumine. Polka
Erzählerin
Die Rothschilds sind damals überaus wohlhabend und Teil der besseren Gesellschaft. Sie veranstalten prächtige Feste, Bälle, Mittag- und Abendessen für mehrere Hundert geladene Gäste, darunter Politiker, wie Winston Churchill, Wissenschaftler, Künstler und Könige, sogar die Königin Viktoria und der Schah von Persien sind zu Gast. Auch Albert Einstein soll zu Besuch gewesen sein und die Kinder mit Zauberkunststücken unterhalten haben.
Doch es ist keine ungetrübte Kindheit: Nicas Vater leidet an Depressionen, woran auch lange Kuraufenthalte nichts ändern können, immer wieder zieht er sich zurück, ist nicht ansprechbar. Die Eltern verbringen viel Zeit in London, während die Kinder auf dem Lande bleiben.
Zitatorin 2, Zitat aus Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness, S. 60
„Wenn Nica später sagte: „Meine einzigen Freunde waren Pferde“, so war das die Wahrheit. Ihre Kindheit war materieller Luxus in Verbindung mit seelischer Vernachlässigung. Eine Rothschild-Cousine, die Nica als Kind kannte, sagte, dass sie immer wilder wurde. Wenn es einen besonders hohen Baum zu erklettern galt, tat es Nica; war ein besonders hoher Zaun zu überspringen, lenkte Nica unweigerlich ihr Pferd in dessen Richtung.“
Erzählerin
1923 nimmt sich der Vater das Leben. Nica und ihre Schwestern sind mit ihrer Trauer alleine, eine prägende Erfahrung, denn sie haben niemanden, dem sie ihren Kummer mitteilen können, wie Hannah Rothschild schreibt.
Zitatorin 2, Zitat aus Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness, S. 98
„Nica fand schon in früher Jugend heraus, dass die Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse und der natürlichen Vitalität zu schrecklichen Formen der Selbstzerstörung führt. Das war einer der Gründe, warum sie als Erwachsene später unter keinen Umständen in einem Leben gefangen sein wollte, das sie unglücklich machte.“
Musik 4: Strawinsky „ Sonate für 2 Klaviere“ 3. Satz
- SC011520 010 – 1:03 Min
Erzählerin
Mit 16 Jahren entkommt Nica zum ersten Mal der abgeschotteten Enge der herrschaftlichen Landsitze, als sie mit ihrer älteren Schwester auf ein Internat in Paris geschickt wird. Danach reisen die beiden ein Jahr lang durch Europa, begleitet von einer Gouvernante, einem Chauffeur und einem Dienstmädchen. In dieser Zeit besucht Nica auch für kurze Zeit die Kunstakademie in München. Zurück in London tanzt sie auf Debütantinnenbällen, lernt von ihrem Bruder Autofahren und stürzt sich ins vornehme Nachtleben. Mit 21 Jahren bringt ihr ein befreundeter Musiker sogar das Fliegen bei.
Im Sommer 1935 lernt sie den zehn Jahre älteren Baron Jules de Koenigswarter kennen, auch er ein begeisterter Flieger. Ein paar Monate später heiraten sie in New York, worüber sogar die New York Times berichtet:
Sprecher, Zitat aus New York Times
„Miss Rothchild Marries Here“
Erzählerin
Danach begibt sich das frischvermählte Brautpaar auf Weltreise, inklusive einer Bruchlandung mit dem Flugzeug in der Wüste Gobi. Seit der Hochzeit hat Nica auch selbst ein Flugzeug, ein Geschenk ihres Bruders Victor.
Das Paar zieht nach Frankreich, in ein Schloss in der Normandie, palastartig und weitläufig, umgeben von 80 Hektar künstlich angelegter Landschaft, mit Wäldchen und Fahrwegen.
Doch das herrschaftliche Leben hat mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges ein Ende. Jules meldet sich beim französischen Militär, Nica bleibt auf dem Schloss. Und flieht im letzten Moment mit ihren Kindern vor den einmarschierenden deutschen Truppen zuerst nach England, dann in die USA, wo sie von der Familie Guggenheim aufgenommen werden.
Musik 5: Hindemith: Sonate für Violoncello solo
Erzählerin
Doch Nica hält es nicht lange in den USA. Sie kehrt zurück nach Europa und schließt sich den Freien Französischen Streitkräften an, die an verschiedenen Fronten gegen Deutschland kämpfen. Die Baroness schlägt sich auf eigene Faust zu ihrem Mann durch, der in Afrika stationiert ist. Sie wird als Übersetzerin, Entschlüsslerin, Rundfunksprecherin und Fahrerin eingesetzt - und soll sogar selbst Lancasterbomber geflogen haben.
Nach Kriegsende werden beide, Jules und Nica, für ihre Verdienste um die Befreiung Frankreichs ausgezeichnet. Aber der Krieg hat das alte Europa zerstört, auch vom Landsitz in der Normandie ist nicht mehr viel übrig. Das herrschaftliche Leben und seine vorgegebenen Regeln sind Vergangenheit.
Zitatorin 2, Zitat aus Hannah Rothschild, Die Jazz-Baroness, S. 163
„Für Nica war der Krieg ein persönlicher Wendepunkt“
Erzählerin
Glaubt Hannah Rothschild, ihre Biographin.
Zitatorin 2, Zitat aus Hannah Rothschild, Die Jazz-Baroness, S. 163
„Mit zweiunddreissig Jahren war sie endlich frei und hatte ein anderes Leben kennengelernt.“
Musik 6: Duke Ellington, Black, Brown and Beige
Erzählerin
Ihr Interesse für Musik beginnt schon in der Kindheit. Ihr Bruder Victor nimmt Klavierunterricht bei Teddy Wilson, einem der wichtigsten Jazz-Pianisten der 30er und 40er Jahre – und Nica lässt sich von seiner Jazzbegeisterung anstecken. Und dann passiert es: Sie hört zwei Stücke und ihr Leben wird nicht mehr sein wie davor.
Musik hoch
Erzählerin
Das eine ist Duke Ellingtons Sinfonie „Black, Brown and Beige“, die 1943 in New York uraufgeführt wird. Nica hört eine Plattenaufnahme in Mexiko, wo sie zu jener Zeit lebt, weil ihr Mann dort nach dem Zweiten Weltkrieg als Diplomat arbeitet.
Zitatorin 1, Pannonica de Koenigswarter, nach Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness, S. 177
„Ich empfing die Botschaft, dass ich dort hingehörte, wo diese Musik gemacht wurde.“
Erzählerin
Erinnert sich Nica später an diesen Moment.
Zitatorin 1, Pannonica de Koenigswarter, nach Hannah Rothschild, Jazz Baroness, S. 177
„Da war etwas, was ich einfach tun musste. In irgendeiner Form musste ich daran teilhaben. Das war eine vollkommen unmissverständliche Botschaft. Wenig später packte ich meine Koffer. Es war eine echte Berufung. Sehr seltsam.“
Musik 7: Thelonious Monk: „Round Midnight“
Erzählerin
1948 oder 49 reist Nica nach New York. Dort besucht sie, schon auf dem Rückweg zum Flughafen Teddy Wilson, jenen Jazzmusiker, der Klavierlehrer ihres Bruders gewesen war. Er fragt sie, ob sie schon „Round Midnight“ gehört habe, die erste Platte eines jungen Pianisten, sein Name: Thelonious Monk.
Zitatorin 1, Pannonica de Koenigswarter, nach Hannah Rothschild, Die Jazz-Baroness, S. 177
„Ich mochte meinen Ohren nicht trauen. Ich hatte noch nie etwas Ähnliches gehört. Ich muss das Stück zwanzigmal hintereinander abgespielt haben. Verpasste meinen Flieger.“
Erzählerin
Der endgültige Wendepunkt in ihrem Leben. Sie beschließt, nach New York zu ziehen – und sie beschließt, dass sie jenen Ausnahmemusiker unbedingt kennen lernen muss. Von ihrem Mann hatte sie sich zu diesem Zeitpunkt schon länger entfremdet.
Zitatorin 1, Pannonica de Koenigswarter, nach Hannah Rothschild, Die Jazz-Baroness, S 166
„Unsere Ehe ist gescheitert (…) weil mein Mann Marschmusik mochte und meine Schallplatten zerbrach, wenn ich zu spät zum Dinner kam. Und ich kam oft zu spät zum Dinner.“
Erzählerin
Ihre Tochter Janka, ein Teenager, geht mit ihr, sie beziehen eine großzügige Suite im vornehmen Stanhope Hotel am Rand des Central Park, mitten in der Stadt. Die anderen vier Kinder bleiben beim Vater - Nica ist bereit, sehr viel aufzugeben, um ihren Traum zu leben.
Musik 8: „Bloomdido“
Erzählerin
New York ist in den 40er und 50er Jahren die Jazzmetropole, hier treffen sich die kreativsten und innovativsten Musiker. Thelonious Monk gehört damals neben dem Saxophonisten Charlie Parker und dem Trompeter Dizzy Gillespie zu den wichtigen Erneuerern des Jazz. Doch als Nica nach New York zieht, hat Monk ein Auftrittsverbot in der Stadt, wegen eines Drogendelikts. Deswegen lernt sie ihn erst 1954 in Paris kennen, nach einem Konzert, für das sie extra nach Frankreich reist. Sie mögen sich von Anfang an, so erzählt es Nica später.
Musik 9: Monk’s Point, Thelonious Monk, von der CD Solo Monk
Erzählerin
Die beiden haben bis zu seinem Tod 1982 eine sehr enge und besondere Beziehung. Sie sind kein Liebespaar, sondern Freunde, auch Monks Frau Nellie sieht in ihr keine Rivalin, so erzählt es zumindest Monks Sohn Toot:
Zitator Toot Monk, nach Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness, S 221
“Ich weiß nicht, ob sie darüber gesprochen haben oder nicht, aber sie beschlossen für ihn zu sorgen. Sie teilten sich die Aufgabe.“
Erzählerin
Thelonious Monk leidet an Stimmungsschwankungen und an Depressionen. Nimmt Drogen und Alkohol. Immer wieder ist er im Laufe seines Lebens zur Behandlung im Krankenhaus oder in der Psychiatrie und bekommt Medikamente. Nellie und Nica kümmern sich gemeinsam um ihn, um seinen Alltag, um seine Ernährung, begleiten ihn auch auf seinen Tourneen.
Zitator Toot Monk, nach Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness, S. 221
“Seit ich acht oder neun war, hatte ich eine Familie, die aus mir, meiner Mutter, meinem Vater, meiner Schwester und Nica bestand.“
Erzählerin
Nica hilft Monk auch, seine „Cabaret Card“ wieder zu bekommen, die er braucht, um in New York auftreten zu können. Und sie unterstützt den Pianisten finanziell, denn von der Musik kann Monk seine Familie lange nicht ernähren. Als seine Wohnung abbrennt, nimmt sie sogar die ganze Familie vorübergehend bei sich auf.
Doch Monk und Pannonica, der Exzentriker und die vornehme Dame aus der besseren Gesellschaft, verbindet weit mehr als ihr Geld.
2. O-Ton aus Kalenderblatt, DLF, 10.12.2013, Jazzmäzenin Pannonica de Koenigswarter geboren, Autor: Karl Lippegaus
Englisch (T. Monk nicht genau zu verstehen)
Overvoice (schon vorhanden): „Sie ist eine Rothschild. Ja, ihre Familie hat den englischen König mit Kohle versorgt, damit er Napoleon schlagen konnte. Ich sage allen wer Du bist! Ich bin stolz auf Dich.“
Monk: “She is a billionair”
Erzählerin
Für Monk sei es entscheidend gewesen, dass sie seine Musik liebte, sagt sein Sohn:
Zitator Toot Monk, nach Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness, S. 224
“Nica war da, als die Kritiker seine Musik nicht verstanden und als die Hälfte der Musiker sie nicht verstanden. Aber sie verstand sie, und das war sehr wichtig für ihn. Deshalb liebte er sie.“
Musik 10: Monk: „Ba-lue Bolivar Ba-lues“
Erzählerin
In New York taucht Nica in das Nachtleben ein, besucht jeden Abend die angesagten Jazz-Clubs der Stadt.
Zitatorin 2 Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness, S 195
„Während der nächsten 30 Jahre veränderte sich Nicas Lebensweise kaum.“
Erzählerin
Schreibt ihre Biografin Hannah Rothschild.
Zitatorin 2, Hannah Rothschild, Jazz Baroness, S 195
„Sie hörte den Jazz nicht, sie lebte ihn. Sie stand erst auf, wenn es dunkel wurde. Sie ignorierte das Tageslicht, behandelte es mit äußerster Verachtung. Wie die Motte, nach der sie benannt worden war, erwachte sie erst in der Dämmerung zum Leben.“
Erzählerin
Ihre Suite im Stanhope Hotel wird zum Treffpunkt der Jazzszene, nach den Konzerten in den Clubs geht es dort weiter bis in die frühen Morgenstunden. Zum wachsenden Missfallen der Geschäftsführung. Im März 1955 gerät die Jazz-Baroness dann ungewollt in die Schlagzeilen.
Zitator Daily Mirror
„Bop King Dies in Heiress‘ Flat“ - König des Bebop stirbt in Appartement von reicher Erbin
Erzählerin
Charlie Parker hatte bei ihr Zuflucht gesucht, körperlich am Ende, ausgezehrt von Drogen und Alkohol. Der Saxophonist war auf der Suche nach einem Ort, um sich auszuruhen. Und stirbt vor dem Fernseher in ihrer Suite. Ein tragischer Tod, der ihrem Ruf schadet und für Entsetzen nicht nur bei der Familie in Europa sorgt, sondern auch bei der Geschäftsleitung des Hotels. Pannonica de Koenigswarter in einem ihrer seltenen Interviews:
3. O-Ton Pannonica de Koenigswarter, aus Zeitzeichen, WDR, 17. Februar 1982 – Todestag des Jazzmusikers Thelonious Monk, Autor: Niklas Rudoph
Pannonica: I have been living in the Stanhope
Overvoice (schon vorhanden): „Ich habe in einem Hotel gelebt, aber als Charlie Parker dort gestorben war, haben sie mich rausgeschmissen. Also bin ich an den Boulevard gezogen, wo ich mir ein Klavier zugelegt habe. Das war der Punkt, an dem Thelonious und die anderen Musiker ständig bei mir waren und großartige Jam-Sessions spielten. Bis acht Uhr morgens.“
Pannonica: Til eight or nine the next morning
MUSIK 11: “Nutty” von Thelonious Monk
Erzählerin
Über den damals alltäglichen Rassismus setzt sie sich hinweg.
Manche Jazzmusiker begegnen ihr anfangs mit Skepsis. Auch der Lyriker, Autor und Aktivist Amiri Baraka äußert sich kritisch:
Zitator Amiri Baraka, nach Hannah Rothschild, Die Jazz Baroness, S 279
„Sie war eine wohlhabende Dilettantin, ein Groupie. Das Freundlichste, was ich über sie sagen kann, ist: Sie war eine Frau, die das nötige Kleingeld hatte, um dort zu sein, wo sie sein wollte, und das zu tun, was sie tun wollte.“
Musik 12: Art Blakey:
„Weehawken mad pad“
Erzählerin
Doch für viele Musiker, die oft in prekären Verhältnissen leben, ist sie der unerwartet auftauchende gute Engel: Sie zahlt dem einen die Miete, als er knapp bei Kasse ist, füllt einem anderen den Kühlschrank, als er krank ist, und holt für einen Dritten sein Instrument aus dem Pfandhaus. Sie übernimmt sogar die Kosten für würdige Begräbnisse. Geld spielt für sie keine Rolle. Monk kauft sie einen Buick, sein erstes Auto überhaupt, dem Schlagzeuger Art Blakey einen Cadillac und Anzüge für die Musiker seiner Band. Und sie versucht sich sogar kurzzeitig als seine Managerin.
Musik hoch
Erzählerin
Nica selbst malt und fotografiert, macht Aufnahmen von den wichtigsten Jazzmusikern jener Zeit, die bei ihr ein und ausgehen.
Aufnahmen, die sie als Buch veröffentlichen möchte, zusammen mit den Antworten der Musiker auf die Frage, was sie sich wünschen würden, wenn sie drei Wünsche frei hätten. Ein Plan, den erst ihre Nichte Nadine de Koenigswarter umsetzen kann, Jahre nach Nicas Tod.
MUSIK hoch
ERZÄHLERIN
Nica kauft sich sogar ein Tonbandgerät, um Konzerte und Jam-Sessions zu dokumentieren. Die Fotos, die die Jazz Baroness macht, zeigen die große Nähe zwischen ihr und den Musikern. Um keinen Ärger mehr in Luxushotels zu haben, kauft sie sich schließlich ein Haus, das sich der Filmregisseur Josef von Sternberg zehn Jahre zuvor hatte bauen lassen. Ein kreativer Ort für sie und ihre Musikerfreunde, zum Ausruhen, Üben, Jammen – und Tischtennis-Spielen. Thelonious Monk tauft es „Catsville“ und später „Cathouse“. „Cats“ so nennen sich damals Jazz-Musiker gegenseitig, der Name passt aber auch wegen der großen Anzahl von Katzen, die dort mit Nica leben und sich stetig vermehren, über 120 sollen es gewesen sein.
Musik 13: Thelonica, Tommy Flanagan (Piano Solo)
Erzählerin
Anfang der 70er Jahre nimmt sie Thelonious Monk, der sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht, ganz bei sich im Cathouse auf – in Sorge um seine körperliche und psychische Gesundheit. Er hat dort ein eigenes Zimmer und seine Frau Nellie kommt ihn fast täglich besuchen. Es gibt Tage, an denen er überhaupt nicht spricht und auch an den Flügel setzt er sich nur noch selten. 1982 stirbt er mit 64 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. 1986 erinnert Nica in einem Zeitungsartikel an ihren langjährigen Freund und schreibt dabei indirekt auch über sich selbst: Thelonious Monk habe Lebenswege verändern und wunderbarerweise nach allen Seiten hin öffnen können. Und er habe, so schreibt sie, die Kraft gehabt, dich ins Herz der Unendlichkeit der Musik hineinzuversetzen.
Musik 14 „Round Midnight“, Thelonious Monk
Erzählerin
Pannonica de Koenigswarter, die Jazz Baroness, stirbt am 30. November 1988 in New York in einem Krankenhaus an Herzversagen, wenige Tage vor ihrem 75. Geburtstag. Ihr letzter Wunsch: Ihre Asche solle in der Nähe ihres Hauses gegen Mitternacht – also Round Midnight - in den Hudson River gestreut werden.
Musik aus.
Im Zweiten Weltkrieg suchten zehntausende Polinnen und Polen Schutz in Kenia, Tansania, Uganda und Südafrika. Sie hatten eine lange Flucht hinter sich, auf der viele Mitflüchtende gestorben waren. Autorin: Julia Devlin (BR 2017)
Credits
Autorin dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Amberger, Caroline Ebner, Stefan Merki
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Tobias Grill, LMU München
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Es gibt ultraschwarze Fische, schwarze Panter und Raben, auch Hunde und Katzen können pechschwarz sein. Tarnung in der Tiefsee oder in der Nacht, aber auch eine Genmutation, Alterserscheinung, Stress oder Mangelernährung können hinter dem Melanismus, der Schwarzfärbung bei Tieren stecken. Autorin: Brigitte Kramer (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Frank Manhold
Technik: Robin Auld
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Lea Schmitz, Sprecherin Deutscher Tierschutzbund, Bonn;
Jochen Wolf, Evolutionsbiologe, LMU München;
Katrin Vohland, Biologin, Naturhistorisches Museum, Wien.
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Musik Z9500650 102 „On Thin Ice“; Zeit: 00:36
O 1 Jochen Funktion Farbe DRÜBER
Das ist einerseits die Tarnung. Der Organismus hat damit die
Möglichkeit, sich seinem Umfeld anzupassen. Sich zu verstecken.
Geräusch Rabe
Dann dient die Farbe als innerartliches und auch zwischenartliches Signal ist es wichtig für die Kommunikation,
ATMO weg
… hat aber auch physiologische Relevanz, da es die Thermo-Regulationen beeinflussen kann. Und im Fall von Melanin bietet es auch Schutz vor Strahlung. Weil Melanine eben UV-Strahlung gut abfangen können.
SPRECHERIN
… sagt der Evolutionsbiologe Jochen Wolf von der Ludwigs-Maximilians-Universität in München.
MUSIK ENDE
Je mehr Melanine, also Pigmente, Haut, Federn oder Haare haben, desto dunkler sind sie. Eumelanin (sprich: Oi-Melanin) ist für die Farbe Schwarz zuständig. Melanine sind stammesgeschichtlich uralt, es gab also schon schwarze oder sehr dunkle Dinosaurier, wie über 300 Millionen Jahre alte Fossilien zeigen. Die Farbe Schwarz spielt im Tierreich eine wichtige Rolle, bei Insekten gleichermaßen wie bei in Wirbeltieren.
ATMO nachts
SPRECHERIN drüber
Bei nachtaktiven Tieren beispielsweise. Sie wollen entweder beim Jagen erfolgreich sein oder selber nicht gefressen werden: Viele Würmer, Schnecken, Gliedertiere und Säugetiere sind sehr dunkel, schwarz oder zumindest unauffällig gefärbt.
ATMO weg
SPRECHERIN
Doch bei einigen Tieren entstehen dunkles Fell, Federn oder Haut auch aus einer genetischen Laune heraus: ‚Schwärzlinge‘ sind Tiere, die in ihrer Farbe durch übermäßige Pigmentierung mit Melaninen von der Norm abweichen. Schwarze Panther zum Beispiel, aber auch Pferde, Katzen, Mäuse, Kreuzottern, Meerschweinchen oder Finken … Und: Tiere können vorübergehend schwarz werden, als Reaktion auf Stress, weil sie altern, wie manche Schildkrötenarten zum Beispiel, bei Mangelernährung oder bei Lichtmangel – oder weil sich die Umweltbedingungen verändert haben.
Ein Beispiel für den so genannten Industrie-Melanismus sind die Birkenspanner von Manchester, Nachtfalter, die sich eigentlich mit ihren hell-grau-gemusterten Flügeln perfekt an die Stämme der Birken angepasst hatten.
Bis im 19. Jahrhundert die Schornsteine begannen, Ruß in die Luft zu pusten und sich die Birkenstämme schwarz färbten. Jochen Wolf:
O 1a Jochen Birkenspanner
Und 1848 hat man die erste schwarze Morphe des Birkenspanners in Manchester entdeckt und bereits weniger als 50 Jahre später, 1895, waren 98 Prozent der Population schwarz. Und diese schwarze Mutation wurde durch Selektion verändert. Und dann aber in den 1970er Jahren, als dann Rußfilter eingeführt wurden und die Birken so langsam wieder ihren Ursprungszustand angenommen haben, wurden die Populationen wieder weiß. Und das ging innerhalb von 20 Jahren.
SPRECHERIN
`Durch Selektion verändert´ heißt im Klartext: Die hell-gemusterten Falter fielen auf den rußigen Birkenstämmen derart auf, dass sie sofort gefressen wurden. Die dunklen überlebten und trugen ihr Erbgut und mit ihm ihre Melanine weiter.
MUSIK C1044980 009 „Deep“; ZEIT: 01:37
& ATMO Unter Wasser
SPRECHERIN drüber
Auch Tiere in dunklen Lebensräumen sind schwarz – die Fische der Tiefsee zum Beispiel. Forscher haben im Golf von Mexiko entdeckt, dass es mindestens 16 Fischarten gibt, die mehr als 99,5 Prozent des Lichtes, das sie trifft, absorbieren. Sie leben in einer Tiefe von 1.500 Metern in ewiger Dunkelheit. Doch das Licht, das ihre Haut schluckt, ist kein Tageslicht, sondern stammt von Leuchtorganen anderer Fische. Die senden Lichtsignale aus, um mögliche Beutetiere aufzuspüren. Die „ultraschwarzen“ Fische aber bleiben unentdeckt. Das heißt, wenn das Licht eines Raubfisches auf sie fällt, ist da einfach nichts zu erkennen. Den ‚Tarnungs-Rekord‘ leistet der kleine, schuppenlose Laternenfisch der Gattung Oneirodes:
Seine Haut wirft weniger als 0,04 Prozent des Lichtes zurück, dank einer sehr dünnen, aber sehr dicht mit Pigmenten bestückten Schicht unter der Hautoberfläche. Beinahe lückenlos sind hier die so genannten Melanosomen, die Pigmentkörperchen in den Zellen, verteilt. Sie geben dem Oneirodes-Fisch seine ultraschwarze Erscheinung: Er ist so dunkel, dass kein Körper und kaum ein Umriss erkennbar sind, wenn ein Lichtstrahl auf ihn fällt. Der kleine Fisch wirkt einfach wie ein schwarzes Loch. Bei vielen anderen, dunkel pigmentierten Fischen sind die Pigmentzellen in der Haut durch Kollagen und andere Zellen voneinander getrennt, deswegen sind sie nicht so tiefschwarz.
MUSIK ENDE
ATMO Gabun-Viper
SPRECHERIN drüber
In Kombination mit anderen Farben dient die Farbe Schwarz oft auch als kontrastierendes Element, das das mehrfarbige Federkleid oder die gescheckte Haut noch attraktiver macht – oder sie noch besser tarnt.
MUSIK privat Take 001 „March oft he Shadow“; Album: Best African Music; Label: Goldensong – None; Interpret: Arnaud Gauthier; Komponist: Arnaud Gauthier; ZEIT: 00:28
SPRECHERIN drüber
Die Westafrikanische Gabun-Viper setzt die Farbe Schwarz äußerst geschickt ein: Sie ist eine sehr große, schwere Giftschlange und lebt auf dem Waldboden. Um dort nicht aufzufallen, hat sie eine scheckige, teils geometrische Färbung aus tiefschwarzen und hell-bräunlichen Stellen. Das macht sie im Laub nahezu unsichtbar, ja löst ihre Konturen auf, denn das Schwarz wirkt auch hier nicht wie ein Körper, sondern eher wie eine Lücke.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN drüber
Bei der Gabun-Viper sorgen nicht nur Pigmente, sondern Mikro- und Nano-Strukturen ihrer Schuppen dafür, dass auftreffendes Licht fast vollständig absorbiert wird. Tiefes Schwarz entsteht in unserer Wahrnehmung also nicht nur durch dunkle Färbung, sondern auch durch Oberflächenstruktur von Schuppen, Federn oder Panzern. Katrin Vohland (sprich: Foland) vom Naturhistorischen Museum in Wien:
0 2 Katrin Nanotubes
Und dann hat man festgestellt, dass es auch Nanostrukturen gibt im Tierreich zum Beispiel bei dem Paradiesvogel, aber zum Teil auch bei Spinnen, die das Licht so oft reflektieren und brechen, dass eben davon überhaupt nichts mehr übrigbleibt. Oder auch bei Schmetterlingen hat man das gefunden. Die sind so schwarz wie dieser Tiefseefisch, also sind auch ultraschwarz. Also das sind so kleine Nanotubes aus Chitin. Und das ist auch noch mal ein anderer Mechanismus, als wenn man ein schwarzes Pigment im Fell hat.
SPRECHERIN
Chitin ist ein Bestandteil des Außenskeletts vieler Gliederfüßer. Nanotubes sind winzig kleine Röhren, die beispielsweise die Oberfläche von tiefschwarzen Schmetterlingsflügeln bilden. Die Falter der Heliconius-Familie leben in Mittel- und Südamerika und haben intensiv gefärbte Flügel: Zitronengelb-Tiefschwarz, Leuchtrot-Tiefschwarz, Knallblau-Tiefschwarz. Sie nutzen ihre Farbsignale sowohl zur innerartlichen als auch zu zwischenartlichen Kommunikation: Fressfeinden täuschen sie vor, giftig zu sein. Ein klarer Fall von Mimikry, also Signalisierung falscher biologischer Tatsachen.
Und unter ihresgleichen dienen die schwarzbunten Kontraste dem Anlocken von Geschlechtspartnern.
Männliche Tiere wollen in ihrer Auffälligkeit Weibchen anziehen, denn die Farbe Schwarz bringt andere Farben erst richtig zum Leuchten. Katrin Vohland:
O 3 Katrin Female Choise
Allgemein geht man davon aus, alles was man sieht, hat einen evolutionären Vorteil. Also Tiere, die farbig sind, sind attraktiver für Geschlechtspartner. Man spricht ja oft auch von ‚Female Choice‘. Also letztlich investieren die Weibchen mehr in der Fortpflanzung und wählen sich dann entsprechend die Tiere aus. Bei einigen von den Tieren, die tatsächlich schwarz sind, die haben oft bunte Punkte, die dann sehr attraktiv wirken und auch eine Signalwirkung haben.
ATMO Paradiesvögel im Wald
SPRECHERIN drüber
Rekord-Halter in diesem Farbenspiel sind da sicher die Paradiesvögel, die vor allem auf der Insel Neuguinea in Austral-Asien leben. Den männlichen Tieren verleihen dunkle Pigmente und winzige Nano-Strukturen auf der Oberfläche ihrer Federn ein samtiges, superschwarzes Aussehen: Die schwarzen Federn absorbieren je nach Einfallwinkel 0,05 bis 0,31 Prozent des Lichtes. Daneben oder dazwischen wachsen dann schillernde und bunt leuchtende Federn. Der Aufwand ist zielführend: Paradiesvögel sind polygyn, das heißt, Männchen paaren sich nach Möglichkeit mit mehreren Weibchen.
ATMO ENDE
ATMO Fliege
SPRECHERIN drüber
Ganz bescheiden kommen dagegen viele schwarze Insekten daher. Fliegen zum Beispiel. Sie wollen weder auftrumpfen noch etwas vortäuschen. Sie sind aus ganz anderen Gründen schwarz: Ihr schwarzer Körper erleichtert ihnen schlicht das Überleben:
A 5 weg
O 4 Katrin Insekten
Insekten, die ja nicht selber Energie produzieren, sondern davon abhängig sind, dass Energie von außen kommt, wärmen sich schneller auf, wenn es warm ist. Das könnte einfach ihren Wärmehaushalt und damit ihre Mobilität unterstützen.
SPRECHERIN
Schwarz absorbiert das komplette Lichtspektrum und nimmt dabei auch die Wärme des Lichts auf. Das bringt nicht nur Insekten, , sondern auch Tieren in kalten Regionen Vorteile. Jochen Wolf:
0 5 Jochen Eisbär drüber
Der Eisbär ja, der ist ja weiß, wenn man den Eisbären aber rasieren würde, dann wäre der pechschwarz. Also die Haut des Eisbärs ist schwarz, aber die Fellfarbe ist weiß. Und das hat beim Eisbär den ganz einfachen Sinn, dass der weiße Eisbär natürlich wunderbar getarnt ist. Der muss weiß sein, wenn er auf Robbenjagd geht sonst wird er zu früh entdeckt. Andererseits dient aber die schwarze Hautfarbe dazu, dass er mit der Kälte besser klarkommt. Er kann sich einfach aufwärmen und die Haare sind auch noch besonders gestaltet, sodass sie ganz viel Licht durchlassen und auf die Haut reflektieren.
SPRECHERIN
Die schwarze Haut des weißen Eisbären sieht man übrigens an den unbehaarten Stellen: Nase, Schleimhäute des Mundes und Augen.
ATMO Sumpf nachts
SPRECHERIN drüber
Auf Menschen wirken schwarze Tiere oft unheimlich. Bei schwarzen Hunden denken vor allem im englischsprachigen Raum Viele an den „Black Dog“. Ein wahrer Höllenhund also, der als Zeichen des Todes gedeutet wird.
SPRECHERIN
Dabei ist es im wahren Leben genau andersrum: Für viele Hunde ist es ein wahres Unglück, mit einem schwarzen Fell zur Welt zu kommen – auch heute noch. In den USA spricht man mittlerweile vom „Black Dog Syndrome“, oder vom „Big Black Dog Syndrome“, dem Syndrom großer schwarzer Hunde, die wenig Chancen auf eine Adoption haben.
ATMO ENDE
ATMO 8 Katze hoch
SPRECHERIN drüber
Schwarze Katzen dagegen setzten lange Zeit christlich geprägte Assoziationen frei, wurden mit dem Teufel und Hexen assoziiert oder schlicht als Unglücksbringer abgestempelt. Vielen brachte ihre Fellfarbe früher tatsächlich den Tod. Katrin Vohland:
ATMO kurz hoch, dann weg
O 6 Katrin
Was man auch weiß, ist, dass man ganz schwarze Katzen früher umgebracht hat. Das heißt, die Katzen, die immer noch ein weißes Fleckchen hatten, hatten eine höhere Überlebenschance. Das heißt, hier wird gewissermaßen ein künstlicher oder ein von Menschen gemachter Selektionsdruck auf die Katzen. Deswegen findet man offenbar sehr wenig schwarze Katzen ...
SPRECHERIN
… also rein schwarze Katzen, ohne weißes Fleckchen. Eine Umfrage des Deutschen Tierschutzbundes in deutschen Tierheimen hat Vorurteile gegenüber schwarzen Haustieren bestätigt: Lea Schmitz:
O 7 Lea länger sitzen
Eine Katze, die irgendwie grau getigert ist, die wird sicherlich schneller Interessenten finden als ein schwarzes Tier. Die sind auch oft so ein bisschen unsichtbar, also die werden so’n bisschen übersehen. Und wenn da so ein gemustertes Tier, helle Farbe, ist, wirkt vielleicht irgendwie freundlicher. Die finden dann schnell ein neues Zuhause und die schwarzen Tiere bleiben definitiv oft öfter länger im Tierheim sitzen.
SPRECHERIN
550 Tierheime sind dem Tierschutzbund angeschlossen. Bei der Umfrage haben 313 Einrichtungen teilgenommen. Insgesamt hat rund die Hälfte der teilnehmenden Tierheime bestätigt: Schwarze Hunde und Katzen haben es schwer, ein neues Zuhause zu finden. Viele sind so genannte „Dauersitzer“, verbringen schon ihr halbes Leben oder mehr im Heim.Gründe für die Ablehnung der Menschen sind übrigens nicht nur Angst oder Aberglaube, wie Lea Schmitz weiß:
O 8 Lea
Da spielt dann das Thema Ästhetik eher noch eine Rolle. Also, dass die einfach nicht so als schön empfunden werden, auch Fotogenität. Also die Leute machen ja heute viele Fotos auch von ihren Tieren, teilen die in den sozialen Medien. Und ein schwarzes Tier ist vielleicht nicht ganz so einfach zu fotografieren, weil man einfach so die Umrisse, die Mimik einfach nicht so gut wahrnimmt.
SPRECHERIN
((Deswegen hat der Tierschutzbund im Oktober 2020 die Kampagne „Schwarze Tierheimtiere“ gestartet, um mit den Vorurteilen aufzuräumen. Unter anderem wurde ein Fotowettbewerb ausgeschrieben für schwarzer Tiere und eine „Top-Ten-Liste“ schwarzer Tierheimtiere im Netz publiziert, die besondere Menschen brauchen.)) Denn wenn zur schwarzen Fellfarbe andere „Vermittlungshemmnisse“ kommen, wie Kristina Berchthold vom Münchner Tierschutzverein sagt, dann wird es richtig schwierig: Tiere mit Leinenaggression oder solche, die sich mit Artgenossen nicht vertragen ...
ATMO Hundegebell hoch, dann weg
SPRECHERIN:
Nur, warum ist das so? Ist denn was dran an dem Vorurteil, dass schwarze Tiere aggressiver sind als andere? Der Evolutionsbiologe Jochen Wolf hat sich diese Frage auch gestellt:
O 9 Jochen Wolf Stresshormon-Achse
Fürs Verhalten wahrscheinlich am wichtigsten ist der Zusammenhang der Melano-Genese, also der Herstellung von Melanin mit der sogenannten Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse, HPA Achse, das wird auch Stressachse genannt und das ist einfach ein System in Wirbeltier-Organismen, was zwischen mehreren Hormondrüsen kommuniziert …
SPRECHERIN
… Drüsen, Hormone und Teile des Mittelhirns interagieren im Verlauf dieses Stress-Reaktions-Stoffwechselweges. Stoffwechsel findet permanent in den Zellen statt: Er ist ein biochemischer Prozess, bei dem etwas auf-, ab- oder umgebaut wird, zum Beispiel bei der Atmung, der Energiegewinnung, der Entgiftung – oder eben auch bei der Stressreaktion. Vorangetrieben und gesteuert werden diese Stoffwechselprozesse in den Zellen von Enzymen. Und Enzyme sind Eiweißverbindungen, die mach sich wie winzig kleine Maschinen vorstellen kann, die die biochemischen Prozesse im Organismus katalysieren. Der Bauplan der Enzyme ist in der genetischen Information in jeder Zelle gespeichert. Und weil Stoffwechselwege untereinander vernetzt sind, kann ein und dasselbe Enzym in unterschiedlichen, zellulären Prozessen eine Rolle spielen kann – bei Stressreaktion und bei der Pigmentierung zum Beispiel:
O 10 Jochen Wolf Zusammenhang da
Diese HPA Achse, wenn man sich die Stoffwechselwege anschaut, überlappt die oder steht die in Verbindung mit dem Melanom-Genese-Stoffwechselweg. Und so kann man sich schon vorstellen, dass Mutationen in diesem Bereich Auswirkungen auf beides haben, auf Farbe und auf den Hormonen-Stoffwechsel und vor allem auf den Stresshormon-Stoffwechsel.
SPRECHERIN
Allerdings heißt das noch nicht, dass dunkle Tiere aggressiver auf Stress reagieren. Wissenschaftler in Bielefeld untersuchen das gerade bei Mäusebussarden:
O 11 Jochen Mäusebussarde drüber
Die stellen Unterschiede fest im Verhalten zwischen drei Farb-Morphen, die dort vorkommen. Es gibt diese ganz hellen Mäusebussarde, so mittelbraune und ganz dunkelbraune, und die hellen Männchen sind aggressiver, genau andersherum!, gegen Attrappen von Nesträubern. Und die dunklen Männchen sind am wenigsten aggressiv. Bei Weibchen ist es genau umgekehrt.
ATMO weg
SPRECHERIN
Farb-Verhaltens-Kombinationen bei Mäusebussarden und anderen Wildtieren gibt es offensichtlich, dennoch sollte man solche Einzelbeobachtungen vorsichtig bewerten:
O 12 Jochen Zusammenhang unklar
Dieser Zusammenhang, den gibt es schon irgendwie. Stressresistenz, Immun-Antwort und vielleicht auch Aggressivität sind Verhaltens- Komponenten, die denkbar sind und für die es auch einige Hinweise gibt. Aber ein ganz, ganz klares Signal auf Farbe und Verhalten gibt es meines Wissens bisher kaum. Das ist schon relativ hypothetisch.
ATMO 11 Saat/Nebelkrähen
SPRECHERIN
Anderes Beispiel: Krähen. In Westeuropa brüten die tiefschwarzen Rabenkrähen, im Osten hellgrau-schwarze Nebelkrähen. Sie gehören zur gleichen Art, vermischen sich grundsätzlich aber nicht – nur in einem 50 bis 100 Kilometer breiten Streifen entlang der Elbe. Welche Rolle spielt die Farbe ihres Gefieders - und vielleicht auch ihr unterschiedliches Verhalten? Jochen Wolf hat dazu mit einem internationalen Forscherteam junge Raben- und Nebelkrähen untersucht:
O 13 Jochen Bäume hoch
Also wir klettern dann die Bäume hoch, holen die kleinen Krähen raus und haben das einmal ein Radolfzell gemacht und dann einmal noch in Schweden, in der Nähe von Stockholm.
ATMO hoch
SPRECHERIN drüber, dann weg
Die Krähen wurden in Volieren direkt miteinander konfrontiert:
O 14 Jochen Schwarze und graue miteinander
Schwarze untereinander, graue untereinander, ab einem bestimmten Zeitpunkt haben wir dann eine graue mit einer schwarzen jeweils immer wieder zusammengesetzt und geschaut, ob die sich ob es da konsistente Verhaltens-Unterschiede in der Interaktion gibt.
SPRECHERIN
Und? Waren die schwarzen pfiffiger oder aggressiver? Wie haben sie denn reagiert?
ATMO ENDE
O 15 Jochen Nö
Nö, mei, wie so’ne Krähe halt reagiert, ja, krähen ab und zu, setzen sich nebeneinander, verscheuchen sich … Aber Krähen sind ja wahnsinnig sozial, bis eben auf die Fortpflanzungszeit, da werden sie territorial. Aber sonst, erst mal abtasten, es stellt sich sehr schnell ne Dominanz-Hierarchie raus, die aber eben nicht an der Farbe hing. Und gar nicht mal die Körpergröße, das sind wirklich … die haben wahnsinnig unterschiedliche Persönlichkeiten.
SPRECHERIN
Also: die Federfarbe macht keinen Unterschied. Bleibt die Frage, warum es im gesamten Verbreitungsgebiet Europa nicht mehr gemischte Paare gibt, warum sie sich nur entlang der Elbe vermischen.
O 16 Jochen
Wir haben das genomisch untersucht, haben da von ganz, ganz vielen Individuen das gesamte Erbgut sequenziert und stellen fest, dass die sich tatsächlich im Grunde nur in zwei, drei Bereichen unterscheiden, die alle mit der Farbgebung zusammenhängen.
SPRECHERIN
Also dieselbe Krähenart, in der es Tiere mit hellerem und mit dunklerem Gefieder gibt. Eine scheinbar unwichtige Farbmutation, die den Tieren doch wichtig zu sein scheint, denn die allermeisten schwarzen Saatkrähen ziehen schwarze Partner vor und graue wählen graue. Ihr Auswahlkriterium ist nicht, wie bei den Paradiesvögeln zum Beispiel, ästhetischer Natur ...
O 17 Jochen
… aber es scheint schon so zu sein, dass die durch Imprinting, das haben ja Vögel, ganz früh durch Prägung für später für die Partnerwahl auf ihre Eltern geprägt werden. Und dann wählt man eben nicht die Falschen.
SPRECHERIN
Das heißt: Junge Krähen aus gemischten „Ehen“ im Gebiet der Elbe haben nichts gegen Partner mit anderer Federfärbung, die Krähen außerhalb finden es schon wichtig, dass ihre Partner so aussehen wie sie und ihre Eltern: Entweder schwarz (im Westen) oder grau (im Osten Europas).
ATMO Krähe hoch, dann weg
SPRECHERIN
Vielleicht liegt es auch bei anderen Tieren an der Prägung, dass andersartige Artgenossen ausgestoßen werden.
MUSIK privat Take 005 „Castle Leoch“; Album: Outlander; Label: Madison Gate Records – 043396406490; Interpret: Bear McCreary; Komponist: Bear McCreary; ZEIT: 01:08
& ATMO Schaf kurz hoch
Schwarze Schafe zum Beispiel. Ihnen kann die Farbmutation tatsächlich Pech bringen, allerdings nicht wegen ihrer dunklen Erscheinung. In Schottland gibt es immer weniger schwarze Schafe, von der alten Soay-Rasse zumindest (sprich: So-i). Forscher der Universität Sheffield haben festgestellt, dass das Gen für dunkle Wolle mit nachteiligen Eigenschaften gekoppelt ist. Eigentlich müssten die schwarzen Schafe gemäß der Evolutionstheorie ihre helleren Geschwister verdrängen. Denn schwarze Schafe sind bei dieser Rasse größer und schwerer, also besser angepasst als die weißen. Aber dunkle Soay-Schafe leben kürzer und pflanzen sich weniger erfolgreich fort. Die natürliche Auslese hat also nicht primär etwas mit der dunklen Fellfarbe zu tun, sondern mit versteckten Eigenschaften, die an das Farbgen gekoppelt sind: Bei den schottischen Schafen die kürzere Lebensdauer und die weniger erfolgreiche Fortpflanzung.
MUSIK ENDE
ATMO 12 Schaf
SPRECHERIN
Kommunikation, Tarnung, Wärmehaushalt oder auch genetische Laune: Es gibt viele Gründe für ein schwarzes Fell oder Federkleid, für schwarze Schuppen oder eine schwarze Haut. Tiefseefische und Fliegen, Paradiesvögel, Gabun-Vipern, Katzen, Hunde, Saatkrähen, Soay-Schafe … außer ihrer Farbe haben sie nicht viel gemein. Auf uns Menschen wirken dunkle Tiere eher beunruhigend. Dabei haben sie doch nur eins im Sinn: Das eigene Überleben sichern.
GERÄUSCH RABE
ATMO ENDE
Tiere und Pflanzen haben erstaunliche Überlebenstricks entwickelt: Manche täuschen vor, gefährlich zu sein, obwohl sie es nicht sind. Andere locken potenzielle Partner und ahnungslose Opfer mit falschen Signalen in die Falle. Der Einfallsreichtum der Natur ist erstaunlich, wenn es um Täuschen und Tarnen, um Mimikry und Mimese, geht. Iska Schreglmann im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke. (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Iska Schreglmann
Es sprachen: Iska Schreglmann im Gespräch mit Dr. Thassilo Franke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Thassilo Franke, Biologe am BIOTOPIA Lab in München
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Dr. Thassilo Franke
Die Wespe ist ein schönes Beispiel. Die hat diese typische, schwarz-gelb geringelte Warntracht, die man in der Natur sehr häufig findet.
Dann geht das große Maul auf und saugt diesen armen Fisch ein. Dann wird eben der Jäger zum Gejagten und gefressen.
Es gibt auch viele Betrüger, die so tun, als wären sie giftig.
Sprecherin
Alles Natur, Tarnen und Täuschen. Iska Schreglmann im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke.
Iska Schreglmann
Den anderen hinters Licht zu führen, das kennen wir aus der Welt der Menschen ja wirklich zu genüge. Hinterhältige Tricks sind aber auch bei Tieren und Pflanzen sehr verbreitet. Sie existieren auf unserem Planeten ja schon wesentlich länger als wir und haben die Mimikry, also das Täuschen und Tarnen, im Lauf der Jahrmillionen perfektioniert. Dr. Thassilo Franke wird uns gleich faszinierende und teils auch etwas bizarre Beispiele vorstellen. Herr Franke, Sie haben hier auf dem Tisch im Studio schon eine ganze Reihe von Dingen ausgebreitet, über die wir im Lauf der Sendung sprechen werden und die, ehrlich gesagt, erst einmal etwas kurios anmuten.
Dr. Thassilo Franke
Ja, also, ich habe ein paar Sachen mitgebracht. Zum einen ist da ein aggressives Putzmittel und dann zwei Warnschilder, ganz deutlich schwarz, gelb gefärbt, einen Angelköder und - das ist eigentlich das schönste Exponat, was hier heute auf dem Tisch liegt - das ist ein Balk, also ein präparierter Vogel, ein ausgestopfter Vogel. Und zwar handelt sich hierbei um einen Ziegenmelker.
Iska Schreglmann
Das müssen wir beschreiben. Wenn ich jetzt nicht wüsste, dass es ein Vogel ist, würde ich sagen, es ist ein Stück große Baumrinde und wenn man es anfasst, merkt man natürlich, dass es ganz ganz weich ist. Das sind Federn.
Dr. Thassilo Franke
Ja, das ist ganz weiche Baumrinde und genau das will der Vogel damit auch erreichen. Wir haben es hier mit einem sehr schönen Beispiel von Krypsis zu tun, also Tarnung oder auch somatolyse Körperauflösung, so nennt man das in der Wissenschaft. Das ist ein in Vogel, der ganz ausgezeichnet getarnt ist. Und sie sehen auch diese Bänderung, diese rindenartige Bänderung auf dem Gefieder, die geht auch in eine gewisse Richtung, hat also eine Längsrichtung, in der sie verläuft. Und wenn der Vogel ruht, dann setzt er sich auf einen grob berindeten, horizontalen Ast. Er setzt sich nie quer drauf. Er setzt sich immer längst drauf, was für Vögel eher ungewöhnlich ist, normalerweise sitzen Vögel quer auf einem Ast. Der sitzt immer längst auf einen Ast, damit man ihn eben für so einen kleinen Stumpf hält, der von diesem Ast absteht.
Iska Schreglmann
Von der Farbe her ist es wirklich auch exakt so, wie eine marmorierte Baumrinde, also sämtliche Brauntöne von dunkelbraun bis zu hellbeige, würde ich sagen.
Dr. Thassilo Franke
Wenn man ihn so auf dem Boden liegen sehen würde, also zwischen Blättern oder Kiefernnadeln zum Beispiel, oder altem abgestorbenem Gras, dann wäre er auch vollkommen unsichtbar. Und natürlich fragt man sich dann, warum macht der Vogel so was. Warum tarnt er sich überhaupt zu gut? Warum hat er das überhaupt nötig?
Iska Schreglmann
Also wer hat es auf ihn abgesehen?
Dr. Thassilo Franke
Wer hat es auf ihn abgesehen, genau. Am gefährlichsten ist eigentlich sein Leben, wenn er auf dem Boden sitzt und sein Ei ausbrütet, weil, dann kommt er ja wirklich mit Ratten im Begegnung mit Mardern, Wieseln und dergleichen. Aber Gefahr droht auch aus der Luft, zum Beispiel vom Habicht oder sogar von Vögeln wie Krähen, die, wenn die ihn - so einen relativ kleinen, also nicht sonderlich groß, der ist vielleicht wie groß, kann man sagen, das der ist…?
Iska Schreglmann
Naja, länger als Ihre Hand würde ich sagen.
Dr. Thassilo Franke
20 Zentimeter ungefähr, würde ich sagen ist er von der Schnabelspitze bis zur Schwanzspitze. Ist also wirklich kein besonders großer Vogel. Und wenn der natürlich da mit auffälligem Gefieder auf dem Boden sitzen würde, würde der natürlich sofort erbeutet werden.
Iska Schreglmann
So, jetzt haben wir aber über eine klassische Tarnung gesprochen. Also dieser Vogel sitzt auf einem Baumstamm auf der Rinde, beziehungsweise auf dem Boden, und kann so schwer entdeckt werden von Fressfeinden. Jetzt gibt's aber Tiere, die noch ganz andere Tricks auf Lager haben, um Fressfeinde zu Narren.
Dr. Thassilo Franke
Ein Trick ist zum Beispiel vorzugeben, etwas zu sein, etwas Gefährliches zu sein, was man aber in Wirklichkeit nicht ist. Und da gibt es auch schöne Beispiele aus der Vogelwelt, und zwar bei höhlenbrütenden Vögeln kennt man das. Auch in der heimischen Vogelfauna, zum Beispiel unsere Meisen können das sehr gut machen, wenn sich jetzt ein Raubtier zum Beispiel einer Baumhöhle nähert oder in ein Vogelhaus rein schaut. Man kann es auch selber, sollte es aber nicht probieren, aber wenn man es täte, wenn man doch mit dem Finger reingehen würde, da würde die Blaumeisen-Mutter, die auf dem Gelege sitzt und brütet, dann laut fauchen, und dieses Zischen, dieses Fauchen, hört sich genauso an wie das Zischen einer Schlange. Und nachdem ja der Beutegreifer, der von außen in die Höhle eindringen will, im Dunkeln der Höhle nichts sieht, aber dieses Zischen hört, kriegt er es mit der Angst zu tun, weil ja so ein kleines Wiesel auch von einer Schlange überwältigt werden kann und sucht sofort das Weite.
Iska Schreglmann
Nun haben wir über verschiedene Täuschungsmanöver schon gesprochen, und es gibt dafür auch wissenschaftliche Begriffe, also akustische Mimikry, zum Beispiel, Schreck Mimikry oder auch Bates’sche Mimikry.
Dr. Thassilo Franke
Also wenn bei uns von Mimikry die Rede ist, ist eigentlich fast immer von der Bates‘schen Mimikry die Rede. Bates‘sche Mimikry heißt sie, weil sie von einem Naturforscher namens Bates entdeckt wurde. Henry Walter Bates war ein ganz begnadeter Naturforscher, und dabei ist ihm aufgefallen, dass eine Gruppe von Schmetterlingen völlig aus dem Rahmen fiel. Er hat viele Schmetterlinge gefangen, aber die sind meistens weggeflogen. Wenn er sich angepirscht hat, sind sie dann in die Baumkronen rauf oder haben sich im Schatten des Waldes versteckt. Aber eine Gruppe, die flog unbeirrt, ganz langsam, gaukelnd durch die Gegend und hat sich von ihm nicht beeindrucken lassen, hat sich auch ganz leicht fangen lassen. Er hat sich die dann angeschaut und hat gemerkt, dass sie so einen faulen Geruch verströmen und ist dann auf die Idee gekommen: Okay, die haben auch sehr auffällige Flügel, Zeichnungen, die sind mit Sicherheit giftig. Durch ihre bunte Farbe und ihren langsam gaukelten typischen Flug zeigen Sie Vögeln: Vorsicht, ich bin giftig.
Iska Schreglmann
Und welche Farben sind das dann?
Dr. Thassilo Franke
Das sind meistens orange-, schwarz- und gelbfarben bei diesen Schmetterlingen und diese giftigen Schmetterlinge, die gehören in die Familie der Glasflügler. Das sind Edelfalter. Und von denen weiß man auch heute, dass die ausgesprochen giftig sind. Was ihm aufgefallen ist, und zwar erst beim genaueren Hinschauen, erst als er die Falter in der Hand hatte, dass es noch andere gab, die exakt genauso aussahen, aber zu einer ganz anderen Schmetterlings-Verwandtschaft gehörten. Und bei diesen giftigen Faltern handelt es sich um Edelfalter. In unserer heimischen Schmetterlingsfauna gehört da zum Beispiel das Tagpfauenauge rein und bei der anderen Schmetterlingsgruppe, die genauso aussah, bei der handelt es sich um Weißlinge. Vielleicht ist jedem der Kohlweißling ein Begriff.
Iska Schreglmann
Ich denke schon. Das ist ja einer der häufigsten Falter bei uns.
Dr. Thassilo Franke
Und das ist eine ganz andere Schmetterlings-Verwandtschaft, also Edelfalter und Weißlinge sind überhaupt nicht verwandt. Und das hat ihn stutzig gemacht. Also im Endeffekt hat er Paare gefunden von diesen Edelfaltern, diesen giftigen und dem völlig ungiftigen Weißling, die exakt gleich aussagen. Und da hat es dann Klick gemacht und er hat gesagt okay, alles klar ist ja logisch, der eine, der ist ein Betrüger, der tut einfach so, als ob er giftig wäre. Also, er bedient sich dieser Warnsignale, des anderen, der wirklich gefährlich ist und vermeidet dadurch, von einem Vogel gefressen zu werden.
Iska Schreglmann
Für diese Strategie gibt es ja im Tierreich noch mehrere Beispiele, wenn wir an dieses schwarz-gelb gestreifte Muster der Wespen denken.
Dr. Thassilo Franke
Ja genau. Also im Endeffekt auch, was wir vorhin bei den Schmetterlingen hatten, diese auffälligen Flügel Zeichnungen. Da haben wir es mit Warnsignalen zu tun. Aposematische Zeichnung nennt man das in der Wissenschaft, also gefährlich. Jeder, der so aposematisch gezeichnet ist macht eigentlich darauf aufmerksam, dass er gefährlich ist. Aber nicht jeder…
Iska Schreglmann
Die einen sind ja auch gefährlich, nämlich die Wespen.
Dr. Thassilo Franke
Genau, die Wespe ist ein schönes Beispiel. Die hat diese typische, schwarz-gelb geringelte Warntracht, die man in der Natur sehr häufig findet. Es gibt zum Beispiel Schmetterlingsraupen, die auch schwarz-gelb geringelt sind, wie der Jakobskrautbär, den man vielleicht kennt. Das ist ein Schmetterling, dessen Raupe sich gefährliche Giftstoffe ihrer Nahrungspflanze zu eigen machen. Pyrrolizidinalkaloide heißen die, die sind im Jakobskreuzkraut enthalten. Das ist eine ganz gefährliche, giftige Pflanze, die auch von der Landwirtschaft bekämpft wird, weil sich eben Weidevieh auch daran vergiften kann. Und dieser Raupe macht eben dieses Gift nichts aus, aber sie lagert das Gift in ihrem Körper ein und wird dadurch extrem giftig. Und vor dieser Giftigkeit warnt sie mit dem gleichen Signal, wie die Wespe vor ihrer Giftigkeit warnt.
Iska Schreglmann
Gut. Das heißt das macht ja dann in dem Fall auch Sinn, dass der Vogel diese Raupe nicht frisst.
Dr. Thassilo Franke
Und da sprechen Sie einen ganz wichtigen Punkt an, nämlich, man muss überlegen, woher weiß der Vogel überhaupt das schwarz-gelb gefährlich ist?
Iska Schreglmann
Ist das Erfahrung?
Dr. Thassilo Franke
Genau. In diesen sauren Apfel muss jeder junge Vogel irgendwann mal beißen, dass er tatsächlich so ein schwarz-gelb geringeltes, saftiges Insekt, sich schnappt und dann eben mit dem Giftstachel in Berührung kommt und gestochen wird, dort sich elend fühlt oder die giftige Raupe frisst und dann erbrechen muss und eine fürchterliche Magenverstimmung hat. Und diese Erfahrung lehrt dann diesen Vogel, den naiven Vogel - man spricht von naiv, also bevor er diese Erfahrungen gemacht hat, weil es eben nicht angeboren ist und das merkt er sich dann von dem Zeitpunkt an und meidet eben alles, was diese Signal-Zeichnungen vorweist. Und das ist im Regelfall auch vernünftig. Aber in manchen Fällen ist es eben überflüssig, weil es gibt eben auch viele Betrüger innerhalb der Tiere, die so tun, als wären sie giftig. Man denke an die Schwebfliege. Das ist das klassische Beispiel, was auch in jedem Schulbuch drinsteht. Die Schneepflüge ist auch schwarz-gelb gestreift, ist vollkommen harmlos, hat keine Giftstoffe. Wäre eigentlich ein wunderbarer Leckerbissen, aber die Amsel, die einmal eine Wespe gefressen hat, die macht einen weiten Bogen um die Schwebfliege, weil sie gar nicht erst ausprobieren will, ob die nicht auch stechen kann. Das ist einfacher dann eben weiterzufliegen und sich eine schwarze Fliege zu schnappen.
Iska Schreglmann
Und da gibt es auch einen bekannten Forscher, einen Biologen, der genau diese Strategie entdeckt hat, nämlich Fritz Müller. Fritz Müller, der vor 200 Jahren geboren wurde und in Wirklichkeit Johann Friedrich Theodor Müller hieß.
Dr. Thassilo Franke
Ja, früher waren diese langen Namenskolonnen sehr in Mode. Er hat beobachtet, beobachtet, beobachtet, und er hat alles aufgeschrieben. Er hat dann irgendwann Charles Darwins Buch „Die Entstehung der Arten“ gelesen, war vollkommen fasziniert davon und hat dann eigentlich eifrig Daten gesammelt, Fakten gesammelt und hat die in Briefen immer wieder an Darwin kommuniziert. Und darunter waren eben auch solche Beobachtungen an Schmetterlingen, wo ihnen aufgefallen ist, dass nicht, wie Bates es gesagt hat, es ungiftige Schmetterlinge gibt, die sich der gleichen Warnzeichnungen wie giftige bedienen, sondern dass es auch verschiedenste, nicht näher miteinander verwandte, giftige Schmetterlinge gibt, die mit der gleichen Warntracht werben, die nicht verwandt sind, und das nennen wir heute Signalnormierung. Also, es ist eigentlich in der Technik weit verbreitet, aber dass es so etwas auch im Tierreich gibt, das ist zum ersten Mal Fritz Müller aufgefallen.
Iska Schreglmann
Und doch nicht nur im Tierreich. Wenn ich mich jetzt hier umschaue und zu unseren Requisiten gucke, die hier auf dem Studiotisch vor uns ausgebreitet liegen, da gibt es ja auch einige signale Leuchtfarben aus unserer menschlichen Welt. Also jetzt diese Putzmittelflasche hier zum Beispiel, die ein auffälliges gelb-schwarzes Etikett trägt.
Dr. Thassilo Franke
Ja, das ist eine Flasche mit einem Putzmittel, die davor warnt, dass die Flüssigkeit da drin ätzend ist. Ich bin heute früh auch schon so einem Warnzeichen begegnet, und zwar ich habe, bevor ich hier ins Studio kam, einen Antigen-Schnelltest gemacht. Und da ist ja häufig so ein kleines Plastiktütchen mit drin, wo man dann eben diesen mit Nasenschleim durchsetzten kleinen Tupfer entsorgen kann.
Iska Schreglmann
Ich glaube jeder weiß, was Sie meinen…
Dr. Thassilo Franke
Und da steht nämlich hier ein wunderschönes - schauen Sie mal, sehen Sie was da drauf ist?
Iska Schreglmann
Ja, Biohazard - Das ist auch ein Symbol, schwarz auf neongelbem Hintergrund. Das davor warnen soll, dass man das eben nicht anfassen soll. Und hier ist auch noch ein ausgedrucktes Schild, was vor Radioaktivität warnt, das kennt wahrscheinlich auch jeder dieses schwarze Dreieck auf neongelbem Grund.
Dr. Thassilo Franke
Genau das sind Warnzeichen. Immer diese gelbe Farbe, die schwarze Beschriftung. Das ist die Signalnormierung, zum Beispiel, für Warnzeichen.
Iska Schreglmann
Wobei man sagen muss, dass wir Menschen einen entscheidenden Vorteil haben gegenüber den Tieren, weil wir nicht erst Radioaktivität erleben müssen oder scharfe Putzmittel, um die Feststellung zu machen, dass wir davon lieber die Finger lassen sollten, sondern wir vertrauen dieser Signalnormierung.
Aber es gibt ja auch noch ganz andere Arten der Abschreckung nicht durch Optik, sondern zum Beispiel durch Gerüche.
Dr. Thassilo Franke
Ja, es gibt auch eine olfaktorische Mimikry, nennt man das. Da ist wahrscheinlich noch ziemlich viel zu erforschen. Man hat sich am Anfang immer eher auf diese optischen Reize, weil wir Menschen eben auch Augentiere sind, konzentriert. Aber es gibt auch Gruppen von Lebewesen, die alle gefährlich sind und mit ähnlichen Düften auf ihre Gefährlichkeit aufmerksam machen. Also ich denke, dass da die Marienkäfer zum Beispiel Beispiel sind. Das kennt ja jeder, der schon mal Marienkäfer in der Hand gehalten hat, dass der dann einen sehr intensiven, typischen Marienkäfer-Geruch verströmt. Und das ist eine Substanz, Coccinidin heißt die, die diesen Geruch ausmacht. Der Marienkäfer gibt sie über seine Fußgelenke ab. Man nennt das Reflexbluten. Dann kommt diese orangene Flüssigkeit raus, und es machen eben sehr, sehr viele verschiedene, nicht unbedingt nah miteinander verwandte Marienkäferarten. Und auch dieser charakteristische Duft könnte eine Art Müller‘sche Mimikry sein, dass sie eben durch diesen penetranten Marienkäfer-Geruch zusätzlich zu ihrer schwarz-roten Warntracht noch auf ihre Giftigkeit aufmerksam machen.
Iska Schreglmann
Also Abschreckung ist das eine. Aber es gibt auch das andere, umgekehrte, man möchte jemanden anlocken, die sogenannte Lockmimikry.
Dr. Thassilo Franke
Das wäre dann die dritte Form. Das ist die aggressive, die Peckham‘sche Mimikry, benannt nach dem Ehepaar Elisabeth und George Peckham. Die haben früher an Spinnen gearbeitet, und die haben das sehr ausführlich beschrieben. Aber es ist auch vorher schon Wissenschaftlern bekannt gewesen, dass es das gibt, dass eben Tiere tricksen, um ihrer Beute habhaft zu werden. Ich glaube, das bekannteste Beispiel was jeder kennt, ist dieser Tiefseeanglerfisch, dessen vorderster Rückenflossen-Strahl enorm verlängert ist und der ähnlich wie so eine Angelrute funktioniert und vorne vor dem zähnestarrenden Maul des Fisches dann einen einleuchtenden Köder in die Dunkelheit der Tiefsee hängt und hin und her bewegt. Und wenn dann eben ein kleiner Fisch vorbeikommt und diesen leuchtenden Punkt zieht, dann hält er das für eine leuchtende Qualle oder eine leuchtende Garnele. Und sobald der Fisch da reinbeißen will, dann geht das große Maul von dem Tiefseeangler auf und saugt diesen armen Fisch ein. Dann wird eben der Jäger zum Gejagten und dann eben selbst gefressen. Das wäre jetzt ein Täuschungsmanöver, wo wir von Lockmimikry sprechen. Vorher haben wir jetzt die ganze Zeit über Schreckmimikry gesprochen, wo man abgeschreckt wird. Aber das ist ein Beispiel für Lockmimikry.
Iska Schreglmann
Und weil sie gerade von Ködern erzählt haben, hier auf dem Tisch vor uns liegt ja auch ein Köder, der allerdings als solcher, finde ich, nicht erkennbar ist. Das ist – ja, zwei fingernagelgroß, würde ich mal sagen, oder lang - und da drangebunden ist so etwas wie eine Vogelfeder. Sie können es besser beschreiben…
Dr. Thassilo Franke
Ja, was sie da in der Hand halten, das habe ich erst vor zwei Wochen vor meinem Patenkind bekommen, also meinem Patensohn. Der ist begeisterter Angler, er ist Fliegenfischer. Beim Fliegenfischen ist es ja so, dass man mit Kunstködern arbeitet, die verblüffende Ähnlichkeit mit Wasserinsekten haben, zum Beispiel Köcherfliegen oder Eintagsfliegen. Beim Angeln wird dann dieser Kunstköder knapp über der Oberfläche hin und her bewegt. Und wenn da eine Forelle von unten diesen Köder sieht, dann verwechselt sie es tatsächlich mit einer Eintagsfliege, springt aus dem Wasser, schnappt nach dem Kunstköder und zack, hängt sie an der Angel und ist auf den Trick hereingefallen.
Iska Schreglmann
Und die Menschen ködern aber nicht nur die Tiere, sondern auch sich gegenseitig. Mir fallen gerade diese Phishing-Mails ein, mit denen Betrüger versuchen, zum Beispiel eine Mail - die sieht dann auch täuschend echt aus - einer Bank zu imitieren, um an die Kontodaten von den ahnungslosen Nutzern zu kommen.
Dr. Thassilo Franke
Das ist ein super Beispiel für aggressive Mimikry bei Menschen. Das ist eigentlich klassisch und die sind zum Teil richtig gut. Also, wenn man mal so eine Phishing-Mail aufmacht, die schaut wirklich aus wie von einer Bank. Da muss man zweimal hinschauen, dass man wirklich sieht, dass man hier im Begriff ist, einer aggressiven Attacke eines Verbrechers auf den Leim zu gehen, wenn man da jetzt sein Passwort zum Beispiel eingeben würde.
Iska Schreglmann
Also, wenn man mal darüber nachdenkt, gibt es ja noch viele andere Beispiele, also die ganzen Fake-Accounts auf den Social-Media-Plattformen oder ja, erschreckenderweise sogar habe ich gesehen aufblasbare Panzer, die wie ein Gummiboot aufgeblasen werden. Und dann denkt der Feind quasi, dass da eine große Armee im Hintergrund steht.
Dr. Thassilo Franke
Solche aufblasbaren Panzer, die gehören schon lange zum militärischen Arsenal unterschiedlichster Kräfte. Zum ersten Mal sind sie aufgetaucht gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, von einem Spezialverband, der dreiundzwanzigsten Special Force der US Army. Und da ging es darum, dass diese Special Force vortäuschen wollte, eine große Truppe darzustellen, obwohl sie nur tausend Mann insgesamt hatte, ungefähr, bisschen mehr waren es, glaube ich. Und die haben dann eben aufblasbare Panzer in Position gebracht und haben dann auf die Art und Weise eine Truppenstärke von ungefähr 30.000 vorgetäuscht und haben so die Wehrmacht dort getäuscht am Ende des Krieges. Man nannte die auch Ghost Army, also Geisterarmee, weil sie zum größten Teil nur aus diesen Attrappen bestand. Das ist aber auch ein Beispiel für aggressive Mimikry, da haben Sie ganz recht.
Iska Schreglmann
Wissenschaftler vermuten das auch Viren und andere Krankheitserreger Mimikry betreiben, um unser Immunsystem zu täuschen.
Dr. Thassilo Franke
Ja, was sie da ansprechen, das ist die sogenannte molekulare Mimikry. Hier ist es so, dass Krankheitserreger, auch Viren, Proteine produzieren, die den Proteinen gleichen, die auch die menschliche Körperzelle erzeugt. Und ein gesundes Immunsystem greift ja normalerweise nicht den eigenen Körper an und nimmt auch Abstand davon, eben diese Krankheitserreger zu vernichten und deswegen können die sich besser durchsetzen. Das kann übrigens aber auch zu Problemen führen, weil manchmal ist es dann so, dass das Immunsystem dann stimuliert ist und dann doch körpereigene Zellen attackiert. Und deswegen kann so eine molekulare Mimikry, wenn es ganz blöd läuft, eben auch zu einer Autoimmun-Antwort führen. Und es sind Fälle bekannt, wo auch Covid19-Verläufe vermutlich von diesem Phänomen der molekularen Mimikry betroffen waren.
Iska Schreglmann
Da wird es natürlich brandgefährlich. Jetzt haben wir über verschiedenste Formen der Täuschung gesprochen in unserem Körper. Wir Menschen untereinander, die Tiere gegenüber den anderen Tieren. Aber es gibt ja auch noch die Welt der Pflanzen.
Dr. Thassilo Franke
Bei den Pflanzen gibt es auch sehr schöne Beispiele. Die sind allerdings noch nicht so lange bekannt. Da gibt es zum Beispiel eine Gruppe von Blumen, die alle mit dem gleichen Signal auf sich aufmerksam machen, nämlich schöne rosarote Blütenbüschel, die vor Nektar nur so triefen. Das ist der Bergbaldrian, die Waldwitwenblume oder die Taubenskabiose. Und da ist es natürlich so, wenn ein Schmetterling dann einmal so eine Nektarquelle anfliegt, dann prägt er sich die Gestalt ein und geht da mit Vorliebe genau auf die. Und es heißt, er muss nur einmal kosten und hat dann gleich die ganze Gilde für sich entdeckt und fliegt die dann ab und bestäubt die Blüten. Und da gibt es auch einen Trickser, das ist die Kugelorchis. Das ist eine kleine Orchidee, die auch in den Alpen vorkommt, die auch genauso aussieht, aber die jetzt im Unterschied zu den anderen dreien eben keinen Nektar enthält. Und wenn da dann der Bestäuber hinfliegt, dann geht er leer aus, kriegt weder Pollen und Nektar, aber bestäubt trotzdem diese Kugelorchis.
Iska Schreglmann
Gut für die Pflanzen, weniger gut für den Schmetterling. Wobei, wenn es ab und zu passiert, ist es jetzt auch kein Problem.
Dr. Thassilo Franke
Da ist eben das Verhältnis entscheidend. Es muss natürlich so sein, dass das Modell in dem Fall diese Gilde aus drei rosaroten Puschelblumen, die vor Nektar nur so triefen, häufig ist und der Nachahmer in dem Fall die betrügerische Kugelorchis, die muss selten sein. Und dann fällt es dem Schmetterling gar nicht auf, wenn hin und wieder mal so eine Blüte leer ist. Es ist ja auch so, wenn vor ihm schon ein Artgenosse so eine Blüte abgesammelt hat, dann ist die ja auch leer. Also das fällt dann gar nicht so sehr ins Gewicht.
Iska Schreglmann
Also bei Tricksen und Täuschen muss es auch eine gewisse Balance geben. Ganz herzlichen Dank an Doktor Thassilo Franke.
Dr. Thassilo Franke
Ja, gern geschehen, war mir ein Vergnügen.
Sprecherin
Alles Natur. Iska Schreglmann im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke. Redaktion Bernhard Kastner
Der Einfluss der Eltern auf ihre erwachsenen Kinder ist groß. Von klein auf hat deren Weltsicht ihr Verhalten geprägt. Existentielle Entscheidungen wie die Berufs- und Partnerwahl folgen oft vorgegebenen Mustern und erfüllen unbewusst Wünsche der Eltern. Die Ablösung vom Elternhaus ist ein lebenslanger Prozess. Autorin: Silke Wolfrum (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christoph Jablonka, Christopher Mann
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Sandra Konrad (Psychologin, systemische Familientherapeutin, Buchautorin);
Bettina Isengard (Dr.; Soziologin an der Universität Zürich)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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ZUM PODCAST
Transgenerationale Weitergabe nennen Psychologen das Phänomen der emotionalen Weitergabe von Kriegserlebnissen während des Zweiten Weltkriegs, von dem wohl rund ein Drittel der Kriegsenkel betroffen ist. (BR 2017) Autorin: Daniela Remus
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Christiane Roßbach, Johannes Hitzelberger, Carsten Fabian, Rahel Comtesse, Peter Veit
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Sabine Bode, Journalistin, Köln;
Christina Kanese, Finanzberaterin, Hamburg;
Matthias Lohre, Journalist, Berlin;
Prof. Hartmut Radebold, Altersforscher, Kassel;
Prof. Luise Reddemann, Psychoanalytikerin, Köln
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik „Lethargia (more red)“, Matthias Deger/Andreas Suttner
Take 1 (O-Ton Lohre)
„Es war immer eine bleierne Atmosphäre bei uns zu Hause, weil unser Vater doch die Ruhe haben wollte und weil unsere Mutter doch letztlich auch Ruhe haben wollte und immer Angst hatte, dass unser Vater noch wütend wird.“
Musik kurz freistehend
Take 2 (O-Ton Kanese)
„Warum hatte ich so eine Angst davor, als junges Mädchen ver¬ge¬waltigt zu werden? Natürlich klar, ist das so in der Gesellschaft, pass auf und so, aber es ist eine ganz reale Angst, obwohl nie in irgendeiner Form irgendwas mal ge¬we¬sen ist, ich habe wirklich keine Angst haben müssen, wo man dann auch irgendwie denkt, wo kommt das her?“
Musik endet / Musik „Torture chamber“, Andreas Suttner/Anselm C. Kreuzer
Erzählerin:
Die Finanzexpertin Christina Kanese und der Journalist Matthias Lohre wurden 1973 und 1976 geboren. Ihre Eltern haben den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt. Mit Nächten im Bombenkeller, Todesangst und Panik. In bren¬nen¬den Städten, bei eisiger Kälte, auf der Flucht oder als Flakhelfer.
Erzähler:
Millionen Menschen waren damals diesen Kriegs¬er¬eig¬nissen aus¬ge¬setzt, darunter auch etwa 16,5 Millionen Kinder. Diese Kriegs¬kinder starteten nach 1945 in das Nachkriegsleben.
Musik endet
Werbe-Trailer-Collage, 99233330 Z00 – endet unter dem nachfolgenden Text
Musik „Prophecies“, Anton Batagov, beginnt unter dem nachfolgenden Text
Erzählerin:
Auch wenn Wirtschaftswunder, Vollbeschäftigung, Wohlstand, Fleiß und funktionierende Demo¬kra¬tie eine große Erfolgsgeschichte zu sein schienen, sind doch viele dieser Kriegs¬kinder die Schrecken und Traumata, die sie als passiv Beteiligte des Krieges erfuhren, nie ganz losgeworden. Sie haben sie in sich vergraben, abgekapselt und verdrängt. Und oft un¬be¬wusst an ihre Kinder übertragen.
Erzähler:
Trans¬ge¬ne¬ra¬tio¬nale Weitergabe nennen die Psychologen und Psychotherapeuten dieses Phänomen, das aus der Trauma¬for¬schung bekannt ist. Hierzulande hat es jahrzehntelang nie¬man¬den interessiert. Erst seit wenigen Jahren ändert sich das: Die Generation der Kriegs¬¬en-kel erforscht nun, wie die Kriegser¬leb¬nisse ihrer Eltern das Fa-milienleben geprägt haben:
Musik endet
Take 3 (O-Ton Bode)
„Es gibt Sätze die immer wieder auftauchten: Nummer Eins, ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen. Das Zweite ist: Ich habe Ängste, die sich durch meine Biographie nicht erklären lassen, ich bin ganz normal aufgewachsen. Das sind Ängste, die ich schlecht steuern kann, ich weiß nicht, wo sie her¬kom¬men. Das Dritte ist, nicht so recht Boden unter den Füßen zu haben, das Vier¬te ist, nicht im eigenen Leben angekommen zu sein, gar nicht zu wis¬sen, wo man wirklich zu Hause ist.“
Erzählerin:
So schildert Sabine Bode, was Kriegsenkel an sich wahrnehmen. Die 1947 geborene Journalistin war eine der ersten, die sich gefragt hat, welche Spuren der Zweite Weltkrieg bei den Kriegs¬kindern und deren Kindern hinterlassen hat.
Erzähler:
Dass viele Kin¬der und Jugendliche durch den Zweiten Welt¬krieg seelisch schwer be¬¬schä¬digt und belastet worden seien, wird jetzt sichtbar. Z. B. durch die gehäuften Depressionen und Suizide in der Gene¬ra¬tion der Kriegs¬kinder. Dass viele von ihnen, selbst im hohen Alter, die Kriegs¬er-in¬¬nerungen aber noch immer zu verdrängen versuchen, ist für die Traumaforscherin und Psychoanalytikerin
Luise Reddemann aus Köln durchaus nachvollziehbar. Denn diese Menschen waren damals in jungen Jahren passiv Beteiligte eines Krieges, für den ihre
Eltern¬ge¬ne¬ration politisch verantwortlich war. Das hat in der damaligen Zeit viele von ihnen in psychische Konflikte gestürzt.
Take 5 (O-Ton Reddemann)
„Das andere ist aber auch, dass wir aus der Traumatherapie wissen, dass die Menschen eine Zeit brauchen, vor allem erstmal äußerlich wieder zur Ruhe zu kommen, d.h. wieder in Sicherheit zu sein, nach schlimmen traumatischen Erfahrungen, und dass man sich da dann häufig nicht auseinandersetzen kann mit dem Schlimmen.“
Musik „Prophecies“, Anton Batagov
Erzählerin:
Und genau das tun auch immer mehr Kinder der Kriegskinder. Zu diesen sogenannten Kriegsenkeln gehören etwa 20 Millionen Menschen, die zwischen 1955 und 1975 geboren wurden. Viele von ihnen fühlen sich als unfreiwillige Erben des Zweiten Weltkriegs.
Erzähler:
Manche schrei¬ben auto¬biographische Bücher, wie der Journalist Matthias Lohre, andere arbeiten ihre Familiengeschichte in Thera¬pien auf, wieder andere, wie die Finanzexpertin Christina Kanese, treffen sich in Ge¬sprächsgruppen oder grün¬den Vereine, tauschen sich in Internet-Foren aus oder veranstalten Ta¬gungen zum Thema. Denn viele der sogenannten Baby¬boomer, heute ungefähr zwischen 40 und 60 Jahre alt, blicken zwar auf eine Kind¬heit in Wohlstand und Frieden zurück, beklagen aber gleichzeitig eine emotionale Kälte, Gewalt, Schweigen, Familien¬geheimnisse und diffuse Ängste.
Erzählerin:
Dass das nicht auf die übersteigerte Selbstbeschau einer verwöhnten Generation zurückzuführen ist, bestätigen die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen, die es dazu gibt. Auch Berichte von Psycho¬the¬rapeu¬ten, Psychoanalytikern und Traumaforschern, die mit diesen Menschen arbeiten, bezeugen das.
Musik endet unter dem nachfolgenden O-Ton
Take 6 (O-Ton Bode)
„Das Interessante ist, dass diese Gruppe sich den Namen selbst ge¬ge-ben hat. Das gibt es ja normalerweise nicht, dass plötzlich aus der Gesellschaft Menschen sich zusammentun, und sich ge¬ne¬ra¬tions¬bezogen dann auch noch einen recht originellen Namen geben, nämlich Kriegs¬-enkel. Ich habe den nicht erfunden! Das heißt, es gibt da ganz of¬fen¬-sichtlich Bedarf, sich um etwas zu kümmern, was bislang im Schat¬ten gelegen hat.“
Musik „Angst 1“ und „Angst 3“, László Dobos/Michi Koerner sowie
Atmo Zweiter Weltkrieg beginnen unter dem nachfolgenden Text
Erzählerin:
Die eigene Familiengeschichte nämlich, im Schatten des Zweiten Weltkriegs:
Zitatoren:
– Fast tausend Städte und Orte werden bombardiert, fast die Hälfte aller Häuser dabei zerstört
– 2,5 Millionen Kinder werden ab 1940 im Rahmen der Kinder-landverschickung aus den städtischen Ruinen aufs Land geschickt
– Mindestens 10 Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, sind 1945 aus den sogenannten Ostgebieten auf der Flucht
– Mindestens 1,9 Millionen Frauen und Mädchen werden vergewaltigt, so die Schätzungen der Historiker
– 500.000 Kinder sind nach dem Krieg Vollwaisen
– 20 Millionen Kinder und Jugendliche leben nach dem Krieg als Halbwaisen
Musik und Atmo enden / Musik „Time suspension“, Dru Masters
Erzählerin:
All das hinterlässt Spuren: Wissenschaftler gehen davon aus, dass mindestens ein Drittel der Kriegskinder psychisch schwer belastet und sogar jeder Zehnte regelrecht traumatisiert ist. Für deren Kinder mitunter eine schwere Belastung, die die ganze Kindheit überschattet.
Musik endet
Erzähler:
Auch die Eltern von Matthias Lohre sind Kriegskinder. Der Journalist, 1976 in einem Dorf im Münsterland geboren, hatte schon als kleines Kind das Gefühl, seine Eltern emo¬tional nicht zu erreichen. Deshalb wollte er einfach nur weg und zog nach der Schule so schnell wie möglich fort. Heute lebt er in Berlin.
Take 7 (O-Ton Lohre)
„Meine Eltern waren zwar komisch, seltsam, ich habe sie nicht verstanden, und sie waren wortkarg und eine ganz andere Welt, aber das habe ich darauf geschoben, dass meine Eltern vergleichsweise alt waren. Ich bin das jüngste von fünf Kindern, meine Mutter war 38 als ich zur Welt kam, mein Vater 44.“
Erzählerin:
Doch was auch immer Matthias Lohre in der Folgezeit unternahm, wie sehr er sich anstrengte, ob er Bücher schrieb oder Reportagen, ob er viel Geld verdiente oder eine anspruchsvolle Stelle bekam, er fühlte sich innerlich getrieben und hatte das Gefühl, seine Anstrengungen wären nichts wert:
Take 8 (O-Ton Lohre)
„Das Komische war: Immer wenn ich irgendetwas erreicht hatte, von dem ich vorher gedacht hatte, das wird mich glücklich machen, dann ist das plötzlich zu einem grauen Nichts zerflossen.“
Erzählerin:
Je älter er wurde, desto unglücklicher wurde Matthias Lohre mit dieser Situation. Obwohl er gleichzeitig das dringende Gefühl hatte, er dürfe nicht jammern, ihm ginge es doch gut! Ein Gefühl, das viele Kriegs¬enkel an sich beobachten:
Un¬bewusst ver¬gleichen sie ihr Leben mit dem ihrer Eltern und verbieten sich zu
kla¬gen, weil sie ja keiner exis¬ten¬tiellen Not aus¬ge¬setzt waren und sind.
Erzähler:
Erst als der Vater von Matthias Lohre 2012 bei einem Auto¬unfall ums Leben kommt, fragt sich der Journalist, ob die per¬¬ma¬nente Unzufriedenheit, die Angst, nicht genug zu leisten, etwas mit seinen Eltern zu tun haben könnten. Und erkennt plötzlich Pa¬ral¬lelen:
Take 9 (O-Ton Lohre)
„Kriegskinder wie Kriegsenkel halten ihre Leben aus. Sie versuchen durchzuhalten, wie das die Kriegskinder im Krieg ausgehalten haben und die Kriegsenkel tun das in gewisser Weise auch. Was meine ich mit aushalten? Damit meine ich, dass sie versuchen, Leistung zu bringen, weil sie gemerkt haben, dass Leistung gegenüber den Eltern oder auch in der Schule oder im Job, dass das ihnen die soziale Anerkennung bringt.“
Erzähler:
Heile Welt, Sicherheit, Geborgenheit und Ruhe, danach haben sich viele Kriegskinder gesehnt. Denn genau das haben sie in ihrer Kind¬heit häufig schmerzlich vermisst. Von ihren Eltern und Familien gab es wenig Trost, sie sollten tapfer sein. Diese Eltern hatten mit sich selbst genug zu tun, und auch die NS-Ideologie war noch höchst lebendig, wie die Kölner Psychotherapeutin
Luise Reddemann erklärt, die selbst 1943 geboren wurde:
Take 10 (O-Ton Reddemann)
„Die ganze Nazi-Erziehung, würde ich sagen, die hat ja auf sehr viele Menschen eingewirkt und dieses Härte-Denken, also, dass man keine Gefühle zeigen durfte, dass man auch als Individuum nix galt, ‚Du bist nichts, dein Volk ist alles‘ und ‚hart wie Kruppstahl sein‘, alle diese Sachen, die spielen meines Erachtens eine ganz große Rolle für die Kriegskindergeneration.“
Erzählerin:
Raum für ihre Ängste und Sorgen bekommen die Kriegskinder von der Elterngeneration in der Regel nicht.
Take 11 (O-Ton Radebold)
„Wenn man sich die Situation dieser Kinder während und kurz nach dem Krieg anguckt, so sind sie ja zu einem großen Teil erst einmal verstört, sie sind abgemagert, sie sind hungrig, sie sind schlecht versorgt mit allem.“
Erzähler:
Viele dieser Kinder waren direkt nach dem Kriegsende voller Ängste, sie schreckten nachts auf und konnten sich schlecht konzentrieren, sagt der Psychoanalytiker Hartmut Radebold. Aber schon wenige Jahre später, 1949, haben diese Kriegs¬kinder nichts Auffälliges mehr an sich, das zeigen die Berichte aus einem Kinder¬heim auf der Insel Langeoog. Radebold erklärt das mit psychischen Ab¬wehr¬me¬chanismen:
Take 12 (O-Ton Radebold)
„Sie haben generalisiert: Das haben doch alle erlebt. Sie haben bagatellisiert: Das war doch nicht so schlimm. Sie haben Verkehrung ins Gegenteil, d.h. sie haben die abenteuerlichen Geschichten erzählt, aber nicht Angst, Panik und Kummer, sie haben aufgespalten in Inhalt und Affekt.“
Erzählerin:
Deshalb ist es den Kriegskindern zum überwiegenden Teil gelungen, sich – äußerlich be¬trach¬tet – völlig „normal” im Sinne von unauffällig, weiter zu entwickeln.
Take 13 (O-Ton Radebold)
„Und sie haben sich identifiziert mit den Ansichten der Familie, d. h. was die ideologisch, zum Teil auch noch aus dem Dritten Reich, was die Familie vermittelt hat, das war sozusagen ein Halt, der nicht kritisch hinter¬fragt werden konnte. Mit diesen Abwehrmechanismen haben sie das, was sie erlebt haben, unter einer stabilen seelischen Betondecke ver¬gra¬ben, haben funktioniert. Aber das war natürlich eine Pseudo-, oder eine pathologische Normalität, die sie hatten.“
Erzählerin:
Die Pseudo-Normalität funktionierte, weil der Schrecken abgespalten, beschwiegen und verdrängt wurde. Und weil der emotionale Bezug dazu fehlte, erlaubten es sich die Kriegskinder nicht, über ihre Verluste und Erlebnisse zu trauern, sich ihre Ängste einzugestehen oder ihre Wut. Selbst dann nicht, als sie schon längst erwachsen waren, berufstätig und mit einer eigenen Familie.
Musik “Lethargia (more red)“, Matthias Deger/Andreas Suttner
Erzähler:
All das unausgesprochen Erlebte aber ist es, was die Kriegsenkel in ihren Familien gespürt haben und zum Teil bis heute noch spüren: beklemmende Familienfeste, freudlos und ver¬¬krampft, übertriebenes Spar- und Sicher¬heits¬bedürfnis oder emotionale Kälte beispielsweise. Das alles hat die Kriegsenkel-Generation ver¬unsichert und verursacht gleichzeitig Schuldgefühle. Denn die Kriegsenkel sind sich sehr bewusst, dass sie im Vergleich zu ihren Eltern, äußerlich betrachtet, ein sehr privilegiertes, friedliches Leben führen, ohne Hunger, Angst und Schrecken:
Musik unter dem nachfolgenden O-Ton ausgeblendet
Geräusch Klimaanlage
Take 14 (O-Ton Kanese)
„Auch wenn ich meinen Vater frage, das ist halt ein typisches Kriegskind, wie hast Du denn das erlebt: ‚Ach ja, da kann ich mich gar nicht mehr erinnern‘, also da kommt einfach nicht viel…“
Erzähler:
…erzählt Christina Kanese. Die 1973 geborene Volkswirtin arbeitet heute als selbstständiger Finanz-Coach in Hamburg:
Take 15 (O-Ton Kanese)
„…ansonsten hab ich ein sehr gutes Verhältnis zu meinem Vater, aber ich hab früher immer gedacht, das hängt damit zusammen, dass meine Mutter so früh gestorben ist, und dass er natürlich auch über dieses Thema nicht gerne redet, aber dann hab ich gemerkt, das ist speziell dieses Thema, Krieg…“
Geräusch endet
Erzählerin:
Christina Kanese hatte den Eindruck, sie solle irgendetwas nicht er-fahren. Trotz zahlreicher Gespräche be¬kam sie zur Fa¬milien¬geschichte nicht mehr als ein paar dürre Fakten zusammen: Die Mutter habe als Vier¬¬jährige aus Schlesien fliehen müssen, der Vater sei den üblichen Bom¬¬benangriffen ausgesetzt gewesen. Bei der Finanzexpertin ver¬fes-tigte sich das Gefühl, von ihrer Familiengeschichte ab¬geschnitten zu sein.
Erzähler:
Gleichzeitig litt sie aber unter massiven Ängsten, die sich keiner er¬klä-ren konnte und die ihr Lebensgefühl deutlich beeinträchtigten. Erst als sie von einer Freundin ein Buch zum Thema Kriegsenkel geschenkt bekam, begriff sie beim Lesen, dass auch sie von den Spät¬folgen der elterlichen Kriegserlebnisse betroffen ist:
Geräusch Klimaanlage
Take 16 (O-Ton Kanese)
„Je mehr ich da Licht reingebracht habe, ich für mich mehr erklären konnte, aha, da haben die, meine Mutter, meine Oma, wahrscheinlich richtig schlimme Dinge erlebt, und das für mich auch so eine Erklärung war, warum ich bestimmte Ängste habe, so, die rein objektiv überhaupt nicht erklärbar sind. Warum hatte ich so eine Angst davor, als junges Mädchen ver¬ge¬waltigt zu werden?“
Erzähler:
Eine emotionale Achterbahnfahrt sei die Auseinandersetzung mit dem Thema gewesen, so beschreibt Christina Kanese es heute, aber auch extrem erhellend:
Take 17 (O-Ton Kanese)
„Das war für mich dann so richtig eine Erkenntnis, dass ich dachte, ah, jetzt konnte ich es mir erklären, und dadurch konnte ich es auch ein Stück¬weit so ein bisschen beiseite packen, aha, das kommt da her, und dadurch hab ich auch so ein bisschen Frieden damit auch geschlossen.“
Geräusch endet
Erzählerin:
Heute versteht sie ihre Ängste, hat sie im Griff und tauscht sich mit anderen Kriegs¬enkeln in einer Gesprächsgruppe aus. Und stellt dabei immer wieder fest: Sie ist nicht allein, die familiären Erfahrungen der Kriegskinder-Generation sind sich auf ganz frappierende Weise ähnlich.
Zitatoren-Collage (mit Hall):
Ihr sollt es doch einmal besser haben!
Wir meinen es doch nur gut mit euch!
Sei doch nicht so undankbar!
Was sollen die Nachbarn denken?
Geh bloß kein Risiko ein!
Musik „Prophecies“, Anton Batagov
Erzählerin:
Nachkriegsfamilien¬ge¬schichten ähneln sich. Vieles, was als Eigenart der eigenen Eltern wahr¬¬genommen wurde, ist offenbar keine in¬dividu¬elle Besonderheit, sondern eine der Generation Kriegskinder, so die Erfahrungen der Kriegsenkel Matthias Lohre und Christina Kanese:
Geräusch Klimaanlage
Take 18 (O-Ton Kanese)
„Das ist schon auch ein Tabuthema, da spricht man einfach nicht gerne drüber und auch so ein bisschen so, nee, das lassen wir jetzt hinter uns und wir gucken nach vorne!“
Geräusch endet
Erzähler:
Auch der Journalist Matthias Lohre, Jahrgang 1976, brauchte einige Jahre, um zu begreifen, was das Verhältnis in seiner Familie so beschwert hat und an welchen Punkten er trotzdem die Verhaltensweisen und Ängste seiner Eltern übernommen hat.
Erzählerin:
Kalt, abweisend, unpersönlich und verschlossen, so erlebte Matthias Lohre seinen Vater. Seine Mutter dagegen war in einer dauerhaften und überbordenden Traurigkeit gefangen:
Musik endet unter dem nachfolgenden O-Ton
Take 20 (O-Ton Lohre)
„Ein kleines Beispiel: Als kleines Kind geh ich zum Zahnarzt, meine Mutter kommt mit, und wer am meisten zu leiden scheint, ist meine Mutter. Sie findet es doch ganz schrecklich, dass ich da jetzt auf diesem Zahnarztstuhl bin und leide, und ich als Kind fühle dann den Auftrag, meine Mutter zu trösten.“
Erzähler:
Dass Kriegsenkel bisweilen für die labilen Seelen ihrer Eltern zu¬ständig sind, wie bei Matthias Lohre, ist kein Einzelfall. Aber, dass dieses Gefühl viele Menschen einer ganzen Generation beherrscht, ist schon auffällig. Die Jour¬nalistin
Sabine Bode ist bei ihren Recherchen häufig auf diese Beschreibung gestoßen:
Musik „Time suspension“, Dru Masters
Take 21 (O-Ton Bode)
„Ich habe das Gefühl, und das schon von Anfang an meiner Kindheit, dass ich sozusagen meine Kraft den Eltern geben muss. Ich bin auf der Welt, damit meine Eltern glücklich sind, ich hab dafür zu sorgen.“
Musik endet
Erzählerin:
Die wissenschaftlichen Untersuchungen, die es zur trans¬gene¬ra¬tio¬na¬len Weitergabe von Traumata gibt, zeichnen ein düsteres Bild: Trau¬¬-matisierte Menschen, ob Vietnam-Veteranen oder Holocaust-Über¬le-bende, lei¬den auch noch Jahr¬zehnte später unter sogenannten post-trau¬ma¬ti¬schen Be¬lastungs¬störungen: mit Alb¬träumen, Kon¬zen¬trations-pro¬ble¬men, Panikattacken oder Depres¬sionen.
Erzähler:
Traumata und schwere emo¬tionale Verunsicherungen bleiben ein Teil der Persönlichkeit, wenn sie nicht aufgearbeitet werden und können deshalb an die eigenen Kinder weitergegeben werden. Und das ist es, was die Kriegsenkel beschre¬i¬ben: psychosomatische Störungen, Depressionen, Be¬zie¬hungs¬pro¬ble¬me und Ängste. Der Altersf¬orscher und Psychoanalytiker Hartmut Rade¬bold, selbst ein Kriegs¬kind, hat Kriegsenkel wissenschaftlich befragt:
Take 22 (O-Ton Radebold)
„Jetzt sagen die Befragten: Ihr habt uns erzogen nach Normen und Vorgaben, die ihr uns nicht erklärt habt. Warum müssen wir alles aufessen, was auf dem Teller ist, warum müssen wir sparsam sein, warum, warum, warum…“
Erzählerin:
Die Eltern hätten zwar für finanzielle Sicherheit gesorgt, hätten sie an¬-gehalten etwas zu leisten, fleißig zu sein und diszipliniert, aber emo-tional fühlten sich viele Kriegsenkel von ihren Eltern ab¬ge¬schnitten, so die Ergebnisse von Radebolds Untersuchungen. Er zitiert typische Aussagen:
Take 23 (O-Ton Radebold)
„Wir spüren in euch einen Bereich, wo ihr abgekapselt seid, wo wir euch gefühlsmäßig nicht erreichen können. Da ist irgendwo etwas in euch drin, wir können es noch gar nicht schildern, wo ihr unzugänglich seid, euch abkapselt usw. Es gibt weiterhin keine körperliche Nähe, ihr seid nicht in der Lage uns in den Arm zu nehmen…“
Erzähler:
In der Hälfte der Nachkriegsfamilien, so eine Studie der Universität Kas-sel, wurde nie über die Schrecken des Krieges gesprochen. Offene Gespräche fanden nur in einem Viertel aller Haus¬halte statt. Dabei haben die Kriegskinder ja enorm unterschiedl¬iche Er¬fahrungen gemacht. Manche erlebten Todesangst und Vergewalt¬i¬gung, Flucht und Nächte im Bombenkeller, andere dagegen haben kaum etwas mitgekriegt.
Erzählerin:
So unterschiedlich die Erlebnisse der Kriegs¬kinder, so unterschiedlich ist auch ihr Umgang damit. Manche forderten einen fast schon symbiotischen Zu¬sammenhalt von ihrem Nachwuchs, andere reagierten auf kleinste Abweichungen von dem, was sie für richtig hielten, hysterisch oder gewalttätig und wieder andere übertrugen ihre eigenes Misstrauen, ihre Lebens¬angst auf die Kinder.
Take 24 (O-Ton Radebold)
„Wir haben von euch Verhaltensweisen übernommen, die etwas mit dem Krieg zu tun haben…“
Musik „Prophecies“, Anton Batagov
Erzähler:
So haben es viele Kriegsenkel Hartmut Radebold zu Protokoll ge¬ge¬ben. Dass diese Generation jetzt entdeckt, wie sehr die Kriegs¬er¬lebnisse ihrer Eltern nachwirken, begrüßt der Psychoanalytiker. Denn nur so könnten die psychischen In¬stabilitäten in der Kriegsenkel-Ge¬neration aufgearbeitet werden. Und die seien nicht ausgedacht, sondern tatsächlich existent: Depressionen, Beziehungs-probleme, psychosomatische Beschwerden, Zwänge und Ängste, unter denen auffällig viele Babyboomer leiden.
Erzählerin:
Auch die Journalistin Sabine Bode ist davon überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit dem psychischen Erbe der Kriegskinder und der Kriegsenkel ein ent¬schei¬den¬der Baustein ist, um die NS-Zeit nicht nur historisch-akademisch, son¬dern auch emotional aufzuarbeiten:
Take 25 (O-Ton Bode)
„Die meisten Kriegsenkel haben ja zunächst das Leid ihrer Eltern im Blick, und das kann man haben, wenn es um diese Kriegsschrecken geht in der Kindheit. Wenn Sie anfangen eine Generation weiterzugucken, in die Großeltern¬ge¬ne¬ration, dann entdecken Sie womöglich noch was anderes, nämlich Ver¬strickung und Profitieren vom NS-Regime. Das ist genauso wichtig, denn bestimmte Sachen lösen sich einfach nicht auf, wenn man nur auf die Elterngeneration und deren Kindheitsleid guckt, sondern sie lösen sich wirklich erst auf, wenn man sieht, was da an Familien¬geheimnissen und Familienlegenden war. Und danach ist das Leben bei sehr vielen sehr viel einfacher.“
Musik hoch und endet
Zwei Jahre in eisiger Ödnis: Weil sie das Geld für ihren kranken Sohn benötigt, lässt sich eine indigene Näherin aus Alaska auf eine halsbrecherische Arktis-Expedition mit vier jungen Männern ein. Sie wird zurückgelassen und muss alleine im Eis zurechtkommen. Am Ende ist Ada Blackjack die einzige, die die Expedition auf Wrangel Island überlebt. Autorin: Karin Becker (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Becker
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Christian Jungwirth, Rahel Comtesse, Christian Schuler, Karin Schumacher
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Diane Glancy (Sachbuchautorin und Schriftstellerin)
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Literaturtipps:
H.G. Jones: Ada Blackjack and the Wrangel Island Tragedy, 1921-1923. In: Terrae Incognitae, 31:1, S. 91-102, Routledge 1999;
Diane Glancy: A line of driftwood. The Ada Blackjack Story. Turtle Point Press 2021;
Peggy Caravantes: Marooned in the Arctic. The True Story Of Ada Blackjack, The “Female Robinson Crusoe”. Chicago Review Press 2016;
Jennifer Niven: A True Story of Survival In The Arctic. Hachette Books 2004;
Ada Blackjacks Tagebuch liegt in der Dartmouth Library (Vilhjalmur Stefansson Papers). Ein Bericht, den sie für U.S. Marshal E.R. Jordan 1923 verfasst hat, ist hier zu finden: Inglis Fletcher Papers (#21), East Carolina Manuscript Collection, East Carolina University.
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Die Insel ‚Wrangel Island‘ in der Arktis, 140 Kilometer bis zur sibirischen Küste. Ein Ort - umgeben von Nebel und gefrorenem Meer, bedeckt mit Eis.
Eine Tierfalle im Schnee, darin: ein magerer Fuchs in seinen letzten Atemzügen. Ein paar hundert Meter weiter: Zelte. In einem davon liegt die gefrorene Leiche eines weißen Mannes – in einem anderen sitzt eine 25 Jahre alte Iñupiaq, eine Ureinwohnerin Alaskas, und schreibt auf einer Schreibmaschine.
ZITATOR ADA
“I finished my knitted gloves today and I open last biscuit box. The ice is over little below horizon. I thank the lord Jesus and his father.”
OVERVOICE ADA
“Ich habe heute meine Handschuhe fertiggestrickt und die letzte Plätzchendose aufgemacht. Das Eis reicht bis kurz unter den Horizont. Ich danke dem Herrn Jesus und seinem Vater.“
SPRECHER
Ada Blackjack heißt die schmale Person, die da im August 1923 auf ein Rettungsschiff wartet. Die dicken Schollen um die Insel müssen schmelzen, nur dann hat ein Schiff die Chance durchzukommen. Eine waghalsige Expedition hat sie an diesen Ort gebracht. Vier Männer sind bereits tot – Ada Blackjack ist die einzige Überlebende.
MUSIK m03 (SAGA DOCUMENTARY, CHRONICLES, JACQUELIN, Christophe, FRENCH TRADE, 1:22)
SPRECHER
Gut zwei Jahre zuvor: Vilhjálmur Stefánsson, ein draufgängerischer Polarforscher und Ernährungswissenschaftler, geboren in Kanada, sucht sich die Mannschaft für eine Expedition auf Wrangel Island zusammen. Offizielles Ziel ist es, die Insel mindestens ein Jahr zu bewohnen und sie damit zu kanadischem Staatsgebiet erklären zu können.
Stefánsson ist charismatisch und ehrgeizig, er will mit der Expedition auch seinen Ruhm weiter ausbauen. ((Der Entdecker pflegt die Theorie der ‚freundlichen Arktis‘, die alles zum Leben bietet, wenn man es nur richtig anstellt. )) Lockend mit Abenteuer und dem Versprechen, es gäbe auf der Insel reichlich jagbares Wildfleisch, hat er bald eine junge und reichlich unerfahrene Crew zusammengestellt. Er selbst bleibt zu Hause.
Allan R. Crawford wird zum Leiter erkoren. Der Kanadier ist zwanzig Jahre alt, Geologiestudent und hat keinerlei Vorerfahrung mit Expeditionen. Mit ihm kommen drei Amerikaner: Errol Lorne Knight und Frederick W. Maurer, beide 28, und Milton Galle, der 20 Jahre alte Sekretär von Stefánsson.
OTON 1
“These four explorers needed somebody to cook and so for them. And Ada was a seamstress. She knew how to sew, to repair Mukluks, that the men wore, those heavy boots, and (…) she could speak English and she was available.”
OVERVOICE OTON 1
“Diese vier Entdecker brauchten jemanden zum Kochen. Und Ada war eine Näherin. Sie konnte nähen und Mukluks reparieren, die die Männer trugen, diese schweren Stiefel. Und sie konnte Englisch und stand zur Verfügung.“
SPRECHER
Diane Glancy, Literatin und Sachbuchautorin, hat sich für ein Buchprojekt lange mit der fast vergessenen Geschichte der Ada Blackjack auseinandergesetzt. Geboren wird sie 1898 an der Westküste Alaskas, in einer abgelegenen Siedlung nahe der Goldgräberstadt Nome. Sie ist Tochter einer indigenen Familie von Iñupiat, Ureinwohnern Alaskas. Ihr Vater stirbt früh. Aus Geldnot wächst Ada in einer von Methodisten betriebenen Missionsschule auf. Dort lernt sie Englisch, lernt schreiben und nähen – alles Dinge, die sie als 23-Jährige für die Expedition interessant machen. Ada Blackjack hat freilich eigene Gründe, die Expedition zuzusagen.
OTON 2
“It was poverty and need and maybe a little longing for escape. Because she lived in poverty in Nome, Alaska, probably sleeping sometimes on the street. She had a husband who deserted her. She had two sons who died and another one lived, but she put him in a mission school (…). It was expedient for her to have money (…).”
OVERVOICE OTON 2
„Armut spielte eine große Rolle und vielleicht auch ein wenig die Sehnsucht, zu entkommen. Denn sie lebte in bitterer Not in Nome, Alaska, vermutlich übernachtete sie manchmal auf der Straße. Sie hatte einen Ehemann, der sie verließ. Sie hatte zwei Söhne, die starben. Ein weiterer lebte, doch sie musste ihn in eine Missionsschule geben. Geld war für sie wichtig.“
MUSIK m04 (Son Of The Blacksmith, Viking Adventure, Oberg, Gabriel, 1:38)
SPRECHER
Für Ada Blackjack eröffnet das Expeditions-Honorar von 50 Dollar pro Monat die Chance, ihren Sohn Bennett nach ihrer Heimkehr zu sich zurückzuholen. Aus Geldnot ist er in einem Heim untergebracht. Außerdem hofft sie, mit dem Honorar seine schwere Tuberkulose behandeln lassen zu können.
Und so besteigt sie am 9. September 1921 die ‚Silver Wave‘: das Schiff, das die fünf Leute der Expedition nach Wrangel Island bringt. Weitere Iñupiat, die ihr als Teilnehmer angekündigt waren, springen im letzten Moment ab. Vermutlich ist den Native Americans, erfahren was das Überleben im Eis betrifft, die schlechte Vorbereitung der Expedition nicht entgangen.
Ada Blackjack, selbst nicht bei ihrem eigenen Volk aufgewachsen, ist also mit den vier jungen Männern alleine. Die Crew hat Verpflegung für ein halbes Jahr dabei – dazukommen soll das Fleisch selbst erlegter Tiere. Ein Schiff, das für das Jahr darauf angekündigt ist, soll sie entweder mit Nachschub versorgen oder aber evakuieren.
Kaum am Zielort angelangt, hisst der Expeditionsleiter Allan Crawford den Union Jack und beansprucht die Insel für Kanada. Die Katze der Expedition, Victoria, und die vier Männer beginnen, die Insel in Besitz zu nehmen und ihr Lager aufzuschlagen. Ada hingegen erfasst bei Ankunft ein klammes Gefühl, das sie rückblickend in ihrem Tagebuch beschreibt:
ZITATOR ADA
„When we got to Wrangel Island, the main land looked very large to me, but they said that it was only a small Island. I thought at first that I would turn back, I decided it wouldn’t be fair to the boys so I felt I had to stay.”
OVERVOICE ADA
“Als wir auf Wrangel Island ankamen, sah das Festland für mich sehr groß aus, aber sie sagten es sei nur eine kleine Insel. Ich dachte zuerst, ich würde wieder umdrehen. Ich beschloss, dass das den Jungs gegenüber nicht fair wäre, daher hatte ich das Gefühl, dass ich bleiben musste.“
SPRECHER
Die ‚Silver Wave‘ legt also ohne Ada Blackjack ab und verschwindet am Horizont. In den bald etablierten Inselalltag und ihre Rolle darin findet die junge Frau nur schwer, aus verschiedenen Gründen:
OTON 3
“There's something called Arctic hysteria that some explorers face. When you’re out there in the great nothingness your whole being can sort of collapse on you and you don't know where you are and you are senseless sometimes and she pouted. (…) And sometimes she wouldn't work. She wouldn't sew or wouldn't cook and Lorne Knight told her once (…) if she didn't work, she would not eat. So there was a lot of animosity between them. (…) and they exiled her to her own little tent. (…) and when she was lazy, they said: no wonder your children died. and they would say very hateful things (…). And that didn’t help her attitude, her mind. (…) Another thing is that in native community women are your company and she had no women around her. (…) I think she was trying to treat the men like a community of women. (…) She finally came around and did the work. But she was very temperamental in the beginning and I think they expected her to be like one of the men. And of course she was not, being native and a woman … and young and not used to all of this. And they had camraderie and she was left out of it.”
OVERVOICE OTON 3
“Es gibt ein Phänomen unter Entdeckern, das sich „Arktische Hysterie“ nennt. Wenn Du da draußen im großen Nichts bist kann dir dein ganzes Sein in sich zusammenfallen und du weißt nicht mehr, wo du bist und du wirst unvernünftig. Ada schmollte. Und manchmal verweigerte sie die Arbeit. Sie nähte nicht, kochte nicht, und Lorne Knight drohte ihr einmal, dass wenn sie nicht arbeitete sie auch nichts zu essen bekäme. Zudem leben indigene Frauen eng mit anderen Frauen zusammen, aber es gab keine andere Frau. Ich denke, dass sie versuchte, die Männer wie ihre Gemeinschaft von Frauen zu behandeln. Irgendwann kriegte sie die Kurve und machte ihre Arbeit. Aber sie war anfangs sehr launisch und ich glaube, die Männer hatten erwartet, dass sie sich wie einer von ihnen verhielt. Natürlich tat sie das nicht, als Indigene und als Frau… sie war jung und die Situation für sie völlig neu. Und die Männer hatten Kameradschaft und sie war außen vor.“
MUSIK m05 (The Time That's Left, Viking Adventure, Oberg, Gabriel, 2:00)
SPRECHER
Die Männer verbringen ihre Tage mit Jagen, Holzsammeln, Reparaturen. Außerdem haben sie eine Fotokamera dabei und schreiben Tagebuch – Milton Galle hat sich hierfür sogar eine Schreibmaschine mitgebracht. Ada hat mit all dem zunächst nichts zu tun, sie kocht und näht. Anfangs erlegen die Männer und ihre Jagdhunde ausreichend Fleisch für alle – die ‚Friendly Arctic‘ scheint auf Wrangel Island ihr Gesicht zu zeigen. Die ersten zwölf Monate vergehen ohne größere Ereignisse, so wirkt es jedenfalls im erhaltenen Teil der Expeditionstagebücher. Dann erwarten die fünf das Schiff mit Nachschub.
Doch das Jahr 1922 bringt Wrangel Island einen kalten Sommer, die Insel bleibt von dicken Eisschollen umgeben. Der von Steffánson losgeschickte Schoner namens „Teddy Bear“ bleibt im Eis stecken und muss unverrichteter Dinge umkehren. Vergeblich warten die fünf auf der Insel, während es wieder Winter wird.
ZITATOR ADA
“Around about November they knew the boat wouldn’t come. About the middle of November we moved up to the west of our present camp, about four miles I think, so they wouldn’t have to haul the wood so far. After we arrived in our new camp I started to sewing skins for the two boys, Knight and Crawford, who were going to take a trip to Siberia.”
OVERVOICE ADA
“Ungefähr im November wussten sie, dass das Boot nicht kommen würde. Irgendwann Mitte November verlegten wir unser Lager weiter Richtung Westen, um circa vier Meilen denke ich, so dass sie das Holz nicht so weit schleppen mussten. Nachdem wir in unserem neuen Lager angekommen waren, begann ich mit Fellen zu nähen, weil die zwei Jungs, Knight und Crawford, vorhatten, nach Sibirien zu gehen.“
SPRECHER
Die beiden Männer wollen sich übers Eis bis nach Sibirien durchschlagen und dort per Telegramm Kontakt mit Stefánsson aufnehmen. Vorher feiern die fünf Festsitzenden auf Wrangel Island noch ein wenig ausgelassenes Weihnachtsfest.
ZITATOR ADA
“At Christmas time we had some Salt seal meat and some hard bread and tea for our Christmas dinner. That time when we had dinner I wondered where I would be if I lived until Next Christmas.”
OVERVOICE ADA
“An Weihnachten hatten wir gesalzenes Seehundfleisch und etwas hartes Brot und Tee als Weihnachtsessen. Als wir beim Abendessen saßen fragte ich mich, wo ich sein würde, wenn ich das nächste Weihnachten erleben würde.“
SPRECHER
Die beiden Männer müssen ihre Reise durchs Eis bald abbrechen: Lorne Knight ist den massiven Anstrengungen körperlich nicht mehr gewachsen. Er zeigt Anzeichen von Skorbut, wirkt zusehends angeschlagen. Die Vorräte im Camp werden knapper und knapper – und die jagbaren Tiere auf der Insel rarer. Und so entschließen sich die drei gesunden Männer der Expedition, Wrangel Island gemeinsam zu verlassen und Hilfe zu holen. Zurück bleiben der kranke Lorne Knight, der bald nur noch liegen kann, und Ada Blackjack.
Die junge Iñupiaq ist mit der neuen Situation schlicht überfordert. Nicht nur muss sie sich nun um einen Kranken kümmern und weiter kochen und nähen. Sie ist jetzt auch für den überlebenswichtigen Fleischnachschub verantwortlich.
OTON 4
“When it came time that she had to hunt, the men were looking at her because she was a native woman. She should have known how to hunt. But she said: I was raised in a mission school. I had to depart from my Inuit ways, I didn't know how to hunt. I didn't know how to trap.”
OVERVOICE OTON 4
„Als es soweit war, dass sie jagen sollte, sahen die Männer sie an: sie war indigen, sie erwarteten also, dass sie jagen konnte. Aber sie sagte: Ich bin in einer Missionsschule erzogen worden. Ich musste meine Inuit Kultur verlassen. Ich weiß nicht, wie man jagt. Ich weiß nicht, wie man Fallen aufstellt.“
SPRECHER
Die Männer lassen sie Ende Januar 1923 dennoch zurück und Ada Blackjack, die eine Riesenangst vor Polarbären hat, muss mitten im Eis so schnell wie möglich den Umgang mit Waffen und das Stellen von Tierfallen lernen. Ergiebige Beute wie Bären oder Walrosse macht sie nicht. Zum Überleben bleiben für sie und ihren Patienten vornehmlich ab und an getroffene Enten, Fischöl und das - gerade für einen Kranken - schwer verdauliche Fleisch von Füchsen. In ihrem Tagebuch berichtet Ada Blackjack von ihren ersten Versuchen, einen Fuchs zu fangen. Sie versteckt eine Falle im Schnee - und wartet dann tagelang vergeblich auf Beute, während ihr Patient zusehends hungriger und schwächer wird.
ZITATOR ADA
“I guess I covered them to much and that is the reason why I didn’t get any fox, then I baited it again end just left it on top of the snow didn’t cover it up at all. The next morning I got up and looked out and I saw a fox (….). That was the first one I had caught , and that was on the 22nd of February, 1923. (…) (( In killing them I would take a stick and hit them on the head until I stunned them then I would bend their heads back until I brocke there heck. Then I would take them home and skin them.)) Later in the spring, around April the fox got very scarce, and I couldn’t trap and more at all. After I couldn’t get any more fox, Knight became worse he got very faint every time he moved.”
OVERVOICE ADA
“Ich glaube, ich habe sie zu stark abgedeckt und das ist der Grund warum ich keine Füchse gefangen habe, dann habe ich nochmal einen Köder hineingelegt und ließ die Falle oben auf dem Schnee, ohne sie überhaupt abzudecken. Am nächsten Morgen stand ich auf und sah hinaus und ich sah einen Fuchs. Das war der erste, den ich gefangen habe, und das war am 22. Februar 1923. Später im Frühjahr, ungefähr im April, wurden die Füchse knapp, und ich konnte keine mehr fangen. Als ich keine mehr fangen konnte, ging es Knight schlechter, jede kleinste Bewegung schwächte ihn.“
MUSIK m06 (Hel's Bard, Viking Adventure, Oberg, Gabriel, 0:26)
SPRECHER
Im späten Frühjahr 1923 gibt es auf der Insel kaum mehr jagbare Tiere.
Der kranke Lorne Knight kommt mit seiner wachsenden Todesangst und seiner Abhängigkeit von der jungen Frau schlecht zurecht. Immer wieder, so beschreibt Ada Blackjack es in ihrem Tagebuch, beschimpft er sie wüst und macht ihr ungerechte Vorwürfe.
SPRECHER
Auch Ada Blackjack selbst beginnt die Folgen der Mangelernährung zu spüren. Am 2. April 1923 schreibt sie:
ZITATOR ADA
“(…) Knight wants me to go out to the traps but my eye is very ach so I cannot go out when my eye is that way because in evening I could barly stand the ache of my eye and one side of head. If anything happens to me and my death is known (…) I wish if you please take everything to Bennett that is belong to me. I don’t know how mach I would be glad to get home to folks.”
OVERVOICE ADA
“Knight will, dass ich zu den Fallen gehe, aber mein Auge tut sehr weh. Ich kann nicht rausgehen, wenn mein Auge so ist, am Abend konnte ich kaum mehr stehen, weil mein Auge und eine Seite von meinem Kopf so wehgetan haben. Wenn mir etwas zustößt und mein Tod bekannt wird, dann wünsche ich, dass bitte alles, was mir gehört, zu Bennett gebracht wird. Ich wäre so sehr froh, wenn ich zu meinen Leuten nach Hause kommen könnte.“
SPRECHER
Dass wir ihre damaligen Gedanken in dieser verzweifelten Lage heute erfahren und Ada Blackjacks einzigartige Geschichte dadurch ein Stück weit nacherleben können, ist ihrem Tagebuch zu verdanken. Mit dem Schreiben beginnt sie erst, nachdem die drei Männer das Camp verlassen haben – und die Schreibmaschine von Milton Galle, die sie schon länger fasziniert zu haben scheint, unbenutzt herumsteht. Was bringt sie dazu, ein Tagebuch zu führen?
OTON 5
“After those three men left I just think she wanted the presence of herself. (…) And she had a typewriter before her and she had tried to peck on it once. And (…) he wouldn't let her use it. So once he was gone to Siberia, she went to that typewriter and started pecking, to see how these different letters could make the words that she wanted to make. (…) So that was very difficult when you've never typed on a typewriter before and you have this language that is not really yours - English language - and you have to put it on paper.”
OVERVOICE OTON 5
“Nachdem die drei Männer fort waren, denke ich, wollte sie ihre eigene Gegenwart spüren. Und sie hatte da eine Schreibmaschine vor sich stehen. Sie hatte darauf schon einmal versucht, einen Buchstaben zu tippen und er hatte sie nicht gelassen. Also ging sie jetzt, als er auf dem Weg nach Sibirien war, hin und begann zu tippen, um zu sehen, wie diese verschiedenen Buchstaben zu den Worten wurden, die sie schreiben wollte. Das ist sehr schwierig, wenn Du zuvor noch nie auf einer Schreibmaschine geschrieben hast und dann noch in einer Sprache, die nicht wirklich deine ist – englisch – schreibst.“
SPRECHER
Ada Blackjacks Tagebücher sind teils schwer zu lesen, wegen vieler Tipp- und Schreibfehler – englisch war schließlich nicht ihre Muttersprache, sondern Iñupiaq. Großteils beschreibt sie in knappen, fast teilnahmslos wirkenden Sätzen die erledigten Tätigkeiten und Vorfälle des Tages. Was sie gegessen, genäht, gejagt hat. Wie es dem kranken Lorne Knight ergeht. Ihre fatalistische Sachlichkeit ist für sie wohl auch eine Überlebensstrategie.
Das Tagebuch gibt noch weitere Hinweise, wie sie die Einsamkeit und das Ausgeliefertsein im Eis überstehen konnte. Je bedrohlicher die Situation für sie, desto häufiger erwähnt sie ihren Sohn Bennett. Ihn will sie retten, für ihn lohnt es sich, durchzuhalten. Zudem drückt sie im Tagebuch gerade in besonders aussichtslosen Situationen ihren Glauben an Gott aus.
Die rückblickend hoch problematische Christianisierung indigener Kinder in den Missionsschulen Nordamerikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist auch Ada Blackjack widerfahren. Auf Wrangel Island bietet ihr ihr Glauben an Gott jedoch Rückhalt – so sieht es Diane Glancy, die selbst indigene Cherokee-Wurzeln und über Blackjacks Überleben viel nachgedacht hat.
OTON 6
“I think her faith helped her quite a bit (…) and she was native (…). There's something.. survival through hardship is sort of built in to the native, I think, and especially in the north, where the conditions are so harsh, there is a built in survival mode, or a will to survive through hardship. That maybe the men who had had more comfort in their lives, could not tolerate the suffering of the end (…) It was just the strength of Ada. (…) She was a survivor.”
OVERVOICE OTON 6
“Ich denke, dass ihr Glauben ihr ziemlich viel geholfen hat…. und sie war indigen. Da gibt es sowas…. Extreme Lagen überstehen zu können ist den Ureinwohnern besonders zueigen, gerade im Norden, wo die Bedingungen so hart sind. Es ist wie ein Überlebensmodus, oder ein Wille, große Bedrängnis zu überstehen. Ich denke, vielleicht konnten die Männer, die mehr Komfort in ihrem Leben gewohnt waren, das Leiden am Ende nicht ertragen. Es lag einfach an Adas Stärke. Sie war eine Überlebenskünsterlin.“
MUSIK m05 (The Time That's Left, Viking Adventure, Oberg, Gabriel, 0:57)
SPRECHER
Die drei Männer, die sich nach Sibirien hatten retten wollen, bleiben auf immer spurlos im Eis verschwunden. Wir wissen nicht, wie weit sie gekommen und woran sie gestorben sind. Es gibt bis heute keinen eindeutigen Hinweis zu ihrem Verbleib.
Der skorbutkranke Lorne Knight verbringt über vier Monate, ohne sich auch nur aus seinem Schlafsack bewegen zu können. Zuletzt verliert er seine Zähne und die Fähigkeit zu schlucken. Er stirbt, nur noch Haut und Knochen, am 22.Juni 1923. Auch Ada Blackjack ist zu diesem Zeitpunkt stark geschwächt. Sie vermag es nicht, den bald gefrorenen Leichnam zu bewegen. Die sterblichen Überreste des Lorne Knigth bleiben im Schlafsack liegen, sie selbst zieht in ein anderes Zelt um.
Jetzt ist sie ganz alleine.
SPRECHER
Drei Tage später erlegt sie mit glücklicher Hand einen Seehund – es ist das erste frische Fleisch, das sie in Wochen zu essen bekommt. Es rettet ihr vermutlich das Leben. Langsam bricht der Sommer an, jetzt steigt auch die Zahl der jagbaren Tiere auf der Insel, Ada Blackjack kommt wieder zu Kräften. Mit großer Geschicklichkeit findet sie sich im einsamen Alltag zurecht, baut sich etwa eine Plattform, von der aus sie die gefürchteten Polarbären früh erkennen kann.
Und auch nach einem Rettungsschiff späht sie von dort aus. Denn der Sommer ist die Zeit, in der ein Schiff kommen kann – wenn es denn kommt. Genau beobachtet Ada Blackjack den Stand der Eisschollen um die Insel und notiert ihn mehrmals in ihr Tagebuch. Im August 1923 lebt sie beinahe schon zwei Monate lang völlig alleine auf der Insel, da fällt ihr etwas auf, was sie zuerst gar nicht ernst nehmen kann:
ZITATOR ADA
„I heard a funny noise like a boat whistle but thought it was a duck or something. It was foggy and I couldn’t see so I didn’t think any more about it until the next morning. I took my book after supper, (…) then I went to sleep. The next morning about six o’clock I heard that same noise again and it sounded more like a boat whistle this time so I grabbed my field glasses and went out on top of my raft, and sure enough there was a boat (…).”
OVERVOICE ADA
“Ich hörte ein seltsames Geräusch, wie das Signal von einem Schiff, aber ich dachte, es sei eine Ente oder sonstwas. Es war neblig und ich konnte nichts sehen, daher dachte ich nicht mehr daran. Am nächsten Morgen um circa sechs Uhr hörte ich das gleiche Geräusch wieder und jetzt klang es mehr nach einem Schiffssignal, also griff ich zu meinem Feldstecher und stieg auf mein Floß und tatsächlich, da war ein Schiff.“
MUSIK m03 (SAGA DOCUMENTARY, CHRONICLES, JACQUELIN, Christophe, FRENCH TRADE, 1:38)
SPRECHER
Am 20. August 1923, nach zwei Jahren in menschenfeindlicher, eisiger Ödnis wird Ada Blackjack gerettet. Sie hat den Kampf ums Überleben gewonnen. Die kleine Frau umarmt ihre Retter, die nach eigener Aussage überrascht darüber sind, in welch gutem Zustand sie Ada Blackjack antreffen. An Bord des Schiffes nimmt sie das erste Bad seit langer Zeit. Mit ihr zurück nach Nome in Alaska reisen Fotos der Expedition, die noch vorhandenen Tagebücher, einige Fuchsfelle und die offensichtlich außergewöhnlich zähe Expeditionskatze Victoria.
Zu Hause angekommen, veröffentlicht der Kapitän des Rettungsschiffes, Harold Noice, einen Zeitungsartikel über Ada Blackjack, der einer Lobeshymne gleichkommt. Als „weiblicher Robinson Crusoe“ wird die Iñupiaq von der Öffentlichkeit bald gefeiert. Sie selbst schweigt dazu, der Rummel liegt ihr nicht. Mit ihrem Expeditions-Honorar jedoch kann sie ihren Sohn, wie geplant, zu sich holen und seine Krankheit behandeln lassen. Es mag wie ein ‚Happy End‘ klingen, doch die Geschichte der Ada Blackjack muss ganz erzählt werden. Denn nach dem Ruhm folgen in Zeitungen Anklage und Verachtung.
ZITATOR SCHLAGZEILE 1
“Spurned Eskimo Woman Is Blamed For Arctic Death”
OVERVOICE SCHLAGZEILE 1
„Zurückgewiesene Eskimo Frau wird für Tod in der Arktis schuldig erklärt“
ZITATOR SCHLAGZEILE 2 (andere Stimme)
„Though Man’s Body Was Wasted by Starvation, Ada Blackjack Was Healthy”
OVERVOICE SCHLAGZEILE 2 (andere Stimme)
“Während Männerleiche von Hunger verzehrt war, war Ada Blackjack gesund“
SPRECHER
Kapitän Noice hat bemerkt, dass Adas Geschichte Aufmerksamkeit und Geld bringt - und veröffentlicht im Februar 1924 noch einmal einen Artikel über sie, der eine Reihe sensationslüsterner Zeitungsberichte nach sich zieht. Noice hat sämtliche Tagebücher für sich behalten, und wirft ihr nun vor, der Tod des skorbutkranken Lorne Knight sei ihre
ihre Schuld. Das ließe sich angeblich dessen Tagebüchern entnehmen. Sie habe ihn verhungern lassen, nachdem er sie nicht habe heiraten wollen. Sie selbst hingegen habe ihre Retter ja wohlgenährt empfangen.
MUSIK m07 (Z8030731110, Everywhere forgotten, Jon Mattox, Mattox, Jon, 0:52)
Diese öffentliche Anklage bringt Ada Blackjack schließlich dazu, zu sprechen. Noice‘ Behauptungen will sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie fährt zur Los Angeles Times und bietet von sich aus ein Interview an. Sie schildert darin ihre Erinnerungen und erklärt auch die übers Jahr variierenden Ernährungszustände der Inselbewohner durch die Zu- und Abnahme des Jagdwildes.
Als Harold Noice schließlich dazu gezwungen wird, die Tagebücher herauszugeben, fehlen in Knights Tagebuch Seiten, manche Stellen sind geschwärzt. Noice hat offenbar versucht, alles zu tilgen, was seine Anschuldigungen als Diffamierung offensichtlich macht. Die Eltern des Verstorbenen hatten ohnehin nie an Ada Blackjacks Schuld geglaubt.
AKZENT
SPRECHER
Nach diesem Vorfall verfällt Ada Blackjack wieder in Schweigen. Sie führt ein Leben in bitterer Armut, reiht Gelegenheitsjob an Gelegenheitsjob. In hohem Alter wird sie von einer Zeitung noch einmal zu ihren Erinnerungen befragt. Kein Tag vergehe, antwortet sie, ohne dass sie von ihren schlimmen Erlebnissen auf Wrangel Island verfolgt würde.
OTON 7
“She lived to be 85 years old and the last parts of her life were very grim. She washed dishes in Nome, Alaska. She did whatever she could to survive. She did not have a happy life. But you don't pay attention to happiness, when you're in Alaska and a native, you just keep going.”
OVERVOICE OTON 7
“Sie wurde 85 Jahre alt und die letzten Jahrzehnte ihres Lebens waren sehr düster. Sie wusch Teller in Nome, Alaska… Sie tat was auch immer, um zu überleben. Sie hatte kein glückliches Leben. Aber Glück ist keine Kategorie, wenn du als Indigene in Alaska lebst. Du machst einfach weiter.“
MUSIK m09 (Z8037260108, In the shadows, Alan Jay Reed, Tony Delmonte, Dark business, Reed, Alan Jay; Delmonte, Tony, 0:30)
SPRECHER
Andere schlagen aus Ada Blackjacks Erlebnissen hingegen Profit. Ihre Geschichte wird mehrfach erzählt und verkauft. Manch einer verdient daran, Ada nicht. Sie erhält lediglich 500 Dollar für ihr Tagebuch – das bald in den Archiven verschwindet
Er ist so bekannt, dass er nicht einmal einen Nachnamen braucht: der italienische Maler Raffael (1483 -1520). Bereits seinen Zeitgenossen galt er als "Gott der Malerei". Doch warum wurde gerade er so vergöttert? Autorin: Julie Metzdorf (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Irina Wanka, René Dumont
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Andreas Henning (Kunsthistoriker und Renaissance-Experte, ehem. Kurator Staatsgemäldesammlungen Dresden)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
(Musikeinsatz)
ERZÄHLERIN:
Am 6. April 1520 stirbt in Rom der Maler Raffael Sanzio auch Santi genannt. Er ist gerade 37 Jahre alt, unverheiratet und ohne Kinder. Die Zeitgenossen sind erschüttert. Im Grabspruch heißt es, im Moment seines Todes hätte die Erde vor Trauer gebebt und weil sie fürchtete, über den Verlust selbst zu sterben. Beigesetzt wird Raffael im altehrwürdigen Pantheon.
OT 1 Andreas Henning
Dass Raffael im Pantheon begraben wurde auf eigenen Wunsch, das zeigt die Ausnahmestellung, die er in Rom innehatte und die Zeitgenossen, die seinen Tod beschreiben, bzw. die Begleiterscheinungen seines Todes, das ist auffällig, dass es da schon auch immer um noch eine andere Dimension geht.
ERZÄHLERIN:
Dr. Andreas Henning, Experte für italienische Malerei:
OT 2 Andreas Henning
unglaubliche Es wird ja unmittelbar in den zeitgenössischen Berichten, Tagebucheinträgen, Briefen, Christus-Referenzen deutlich, also es wird verglichen, dass es ein Erdbeben gab, dass der Papst seine Gemächer verlassen musste, weil sich Risse im Bauwerk gezeigt haben, also dass die Erde erschüttert war. Also Überhöhungen, die aber eben auch einen Grund haben müssen, dass Raffael auf seine Zeitgenossen so gewirkt hat.
ERZÄHLERIN:
Die genaue Todesursache ist unklar. Manche Quellen vermuten, er habe sich bei Ausgrabungen des antiken Roms das Sumpffieber zugezogen und interpretieren seinen Tod als Rache des Hades, weil Raffael die alte Stadt dem Vergessen entreißen wollte. Der Kunsthistoriker Giorgio Vasari verbreitet in seiner Biographie des Malers aus dem 16. Jahrhundert das Gerücht, Raffael sei an einer Geschlechtskrankheit gestorben, die er sich bei einer seiner zahlreichen Affären zugezogen haben soll. Doch Vasari kannte Raffael nicht mehr persönlich, hatte aber immerhin mit zahlreichen seiner Kollegen gesprochen. Allerdings weisen andere Quellen explizit auf den sehr sittlichen Lebenswandel Raffaels hin.
Bereits zu Lebzeiten galt er als Gott der Malerei, und diese Verehrung setzt sich über viele Jahrhunderte hindurch fort – anders als etwa Michelangelo und Leonardo, die von der Nachwelt erst im 19. und 20. Jahrhundert in den Malerolymp erhoben wurden.
OT 3 Andreas Henning
(Raffael) (Es) ist dieser Ausnahmekünstler der Themen so formuliert, dass offenkundig jede Generation neu hinschauen kann und für sich darin neue Dinge und Werte und Anregungen entdeckt. Zugleich ist Raffael der Künstler, der in seiner Biografie gezeigt hat, dass man einen Teil der Kunst auch lernen kann. ((Dass man also nicht nur als Genie aus dem Nichts auf den Markt kommt, sondern dass man sich eben durch Perugino durch die Auseinandersetzung mit Leonardo, Michelangelo auch entwickeln kann. … und insofern ist er ein vorbildlicher Künstler auch dafür, wie man Künstler werden kann.))
ERZÄHLERIN:
Geboren wurde Raffael im Jahr 1483, das genaue Datum ist nicht bekannt. Seine Heimatstadt Urbino ist eine kleine Stadt, in der Kunst und Literatur großgeschrieben wurden. Sie liegt in den italienischen Marken etwa auf der Höhe von Florenz. Raffaels Vater arbeitete zunächst als Goldschmied, später als Maler. Doch er starb früh, Raffael soll gerade einmal 11 Jahre alt gewesen sein, seine Mutter hatte er bereits mit 8 Jahren verloren. In der Werkstatt des Malers Perugino machte Raffael eine Ausbildung. Sein Ausnahmetalent zeigte sich früh. Bereits nach wenigen Jahren soll er seinen Meister überflügelt haben.
ERZÄHLERIN:
Mit Anfang 20 ging Raffael nach Florenz, um dort Michelangelo und Leonardo zu studieren und ihnen nachzueifern. Eines seiner frühen Meisterwerke dieser Zeit ist die sogenannte „Pala Baglioni“. Das Bild zeigt die Grablegung Christi:
SPRECHER:
Zwei Männer tragen den Leichnam des Heilands auf einem weißen Leintuch, im Hintergrund ist der Berg Golgatha mit den drei leeren Kreuzen zu sehen, links das Ziel ihres Wegs, die dunkle Grabkammer. Die zahlreichen Figuren um das Geschehen herum sind zutiefst bewegt – körperlich und emotional: Maria Magdalena hat die Hand Christi ergriffen, scheint ihm noch etwas zuzurufen; einer der Jünger hat grollend die Augen zum Himmel erhoben; und seine Mutter Maria ist ohnmächtig zusammengebrochen.
ERZÄHLERIN:
Aus einem eigentlich eher statischen Bildmotiv macht Raffael hier eine dramatische Bilderzählung.
OT 4 Andreas Henning
Raffael ist ja ein Künstler, der unglaublich aufgesogen hat, was in seiner Zeit existierte, um daraus etwas eigenes zu machen und die Grablegung ist ein unglaublich erzählerisches Altarbild geworden, wo man beispielsweise die Schwere des Körpers Christi, der da zu Grabe getragen wird, ganz unmittelbar spüren kann, das sind wirkliche Individuen, Persönlichkeiten, die da diesen Christus tragen und auch eine Last spüren.
SPRECHER
Außerdem gelingt es Raffael hier, zwei Geschichten auf einmal zu erzählen: In dem Bild zeigt er einerseits den Tod Christi als historisches Geschehen. Zugleich zieht er das konkrete Ereignis auf eine allgemeine Ebene: Wir sehen einen von vielen geliebten jungen Verstorbenen; das Unverständnis seiner Zeitgenossen über diesen viel zu frühen Tod und die Qualen seiner Mutter.
ERZÄHLERIN:
In dieser allgemeinen Version kann wohl jeder das Drama des Geschehens nachempfinden. Und zwar nicht nur mit Jesu Mutter mitfühlen, sondern auch mit der Auftraggeberin, Atlanta Baglioni: Ihr eigener Sohn war jung im Kampf umgekommen. Indem er die Gefühle der Umstehenden betont, holt Raffael das Bibelgeschehen in seine eigene Zeit.
OT 5 Andreas Henning
Raffael versucht, christliche Themen, theologische Themen für seine Zeit, für die Menschen verständlich zu machen, also er ringt darum eine Ausdruckskraft zu finden, die nicht nur rein symbolisch ist, die sich nicht nur in Attributen erschöpft, die man lesen kann, wo man ein Wissen heranträgt… sondern sein Ansatz ist, etwas sinnenfällig machen zu wollen.
ERZÄHLERIN:
Sinnfällig im Sinne von: spürbar, für den Betrachter leicht nachvollziehbar. Die Zeitgenossen sind überwältigt von dem Gemälde, von nun an stehen dem jungen Maler Tür und Tor der mächtigsten Häuser offen. Schon bald wird er an den Hof von Papst Julius II. nach Rom berufen. Dort lassen sich die berühmtesten Männer der Zeit von ihm porträtieren, Grafen, Bankiers, Kardinäle, der Papst höchstpersönlich. Sie schätzen ihn nicht nur als Maler, sondern auch als Mensch und Gesprächspartner.
OT 6 Andreas Henning
Ich denke, dass Raffael eine Persönlichkeit war, die sehr interessiert an seiner Zeit an den Neuentwicklungen seiner Zeit war, der auch sehr, sehr viel begriffen hat offenkundig auch mit vielen Beratern, Theologen diskutiert hat… und zugleich muss er aber auch eine extrem soziale Person gewesen sein. Es gibt Berichte, dass wenn er aus seiner Werkstatt zum Papst gegangen ist ein großes Ehrengeleit ihm gegeben wurde, einfach, weil man ihn als Mensch auch so sehr geschätzt und verehrt hat.
ERZÄHLERIN:
Raffael ist gerade einmal Mitte 20, da bekommt er den Auftrag seines Lebens: er soll die sogenannten „Stanzen“, die Privatgemächer des Papstes im Apostolischen Palast ausmalen. Es handelt sich um große, halbkreisförmige Wandfresken, fast 8 Meter breit und 5 Meter hoch. Er beginnt in der Bibliothek des Papstes und malt dort „Die Schule von Athen“:
SPRECHER:
Das Gemälde zeigt einen monumentalen Innenraum mit hohem Tonnengewölbe und Marmorfußboden. Im Zentrum stehen die Philosophen Platon und Aristoteles miteinander ins Gespräch vertieft. Neben ihnen und auf den Stufen zu ihren Füßen stehen, sitzen und liegen die wichtigsten Denker, Wissenschaftler, Mathematiker und Künstler von der Antike bis zur Renaissance: Pythagoras etwa, vor einer Schiefertafel mit einem musiktheoretischen Diagramm darauf; Diogenes, barfuß und in einfacher Kleidung; Heraklit, den Kopf nachdenklich auf die Hand gestützt, mit der anderen Hand schreibend. Insgesamt befinden sich auf dem Bild mehr als 60 Personen.
OT 7 Andreas Henning
Er stellt diese Figuren in den Gruppen so lebendig und im Gespräch, in der Diskussion, im gegenseitigen diskutieren, zeichnen zum Teil so lebendig miteinander in Bezug, dass man als Betrachter unmittelbar daran teilhaben kann. Das ist glaube ich, das Entscheidende, die Teilhabe des Betrachters. Man kann sich hineinversetzen und mitdenken, miterleben. Man ist im Grunde mit Teil dieser Szene, die da dargestellt ist.
ERZÄHLERIN:
Zusammengenommen stehen all die berühmten Denker für die Wahrheit bzw. die Vernunft als eines der höchsten Prinzipien des menschlichen Geistes.
Die ersten Arbeiten gefallen dem Papst so gut, dass er die von anderen Malern gerade erst fertig gestellten Fresken wieder abschlagen lässt, damit Raffael alles ausmalen kann. Eine enorme Aufgabe, die er allein gar nicht hätte stemmen können.
OT 8 Andreas Henning
Raffael … war hochgradig gut organisiert, zumindest ist er einer der ersten Künstler die eine große Werkstatt führen und da auch Arbeitsschritte delegieren, um überhaupt dieses enorme Oeuvre in nur 37 Jahren schaffen zu können; und er ist ein Künstler, der auch sehr wach ist für neue Techniken, neue Medien, denken Sie an den Kupferstich, die Möglichkeit eigene Bildfindungen mit dem Kupferstich zu verbreiten, anders als das Gemälde oder das Fresko, was ja immer nur ein einem Ort ist, aber mit dem Kupferstich, den ich in vielen, vielen Abzügen verbreiten kann das ist ein Medium, das er sofort begriffen hat und seit 1512 Kupferstecher in seinem Atelier beschäftigt hat, um seine Ideen noch weiter zu streuen, also natürlich ein Geschäftsmann, ein guter Organisator, ein Sozialgenie, interessiert an seiner Zeit, fähig zu denken, zu begreifen und natürlich souverän im Umgang mit den künstlerischen Mitteln.
ERZÄHLERIN:
Zusätzlich zur Ausmalung seiner Gemächer ernennt der Papst Raffael auch noch zum leitenden Architekten des Neubaus von Sankt Peter, dem prestigeträchtigsten Bauwerk der damaligen Zeit.
(Musik)
ERZÄHLERIN:
Doch wer war dieser überaus begabte junge Mann wirklich? Was wissen wir über den Menschen Raffael? Eine frühe Gönnerin nennt ihn „rücksichtvoll und liebenswürdig“. Tatsächlich hatte er am Hof von Urbino eine gute Erziehung genossen, verfügte über gewandte Umgangsformen, und wusste sich auch im schwierigen Ambiente des päpstlichen Hofes sicher zu bewegen.
SPRECHER:
Zwei Selbstporträts sind überliefert. Sie zeigen einen jungen Mann mit feinen Gesichtszügen, das Haar halblang, die Augen braun. Er wirkt ruhig, selbstsicher und neugierig.
ERZÄHLERIN:
Über sein Privatleben ist relativ wenig bekannt. Raffael blieb kinderlos. Er war lange mit der Nichte eines Kardinals verlobt, allerdings starb die ihm Zugedachte noch vor der Hochzeit. Spätere Quellen wollen wissen, dass er einen ausufernden Lebensstil pflegte. Eines seiner bevorzugten Modelle – Margherita Luti – soll auch seine Geliebte gewesen sein. Indizien dafür liefert eines seiner schönsten Gemälde:
SPRECHER:
Mit entblößtem Oberkörper sitzt „La Fornarina“ – wie die Bäckerstochter nach dem Beruf ihres Vaters genannt wurde – vor einem Busch. Die Umgebung ist dunkel, das Weiß ihrer Haut scheint vom Mond beleuchtet. Ihre Haare hat die junge Frau mit einem Tuch hochgebunden, vor dem Bauch liegt ein durchsichtiges Stück Stoff. Spannend ist der goldene Reif, den sie am Oberarm trägt: Auf diesen Reif hat Raffael seine Signatur gesetzt. Ein Indiz dafür, dass sie seine Geliebte war – einer völlig Unbeteiligten hätte er kaum seinen Namen auf ihren Schmuck geschrieben.
ERZÄHLERIN:
Andreas Henning hält es zumindest für nicht ganz abwegig, dass Raffael durchaus mehr Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht gemacht hatte als seine langjährige Verlobung und Kinderlosigkeit vielleicht vermuten lassen.
OT 9 Andreas Henning
Logisch, er ist ein Renaissancemensch und er entdeckt die Welt. Und da gehört natürlich nicht nur die Natur, nicht nur die Architektur, die Theologie, sondern gehört natürlich auch der menschliche Körper dazu, auch die Frau. Und insofern finde ich jetzt überhaupt keinen Widerspruch, Raffael auf der einen Seite mit den hochtheologischen Themen auch als Sinnenmensch mir vorzustellen. Das ist im Grunde zwingend sogar - ((sonst hätte er den Menschen in all seiner Persönlichkeit, in seiner Individualität, wie wir ja ihn in seinen Bildern sehen können, in den Porträts, in den Historiendarstellungen oder Altarbildern, das sind ja Mensch, da sind ja fast moderne Menschen haben, die wir sehen. Das geht nur, wenn man in Interesse hat für das Duo, für das Gegenüber, für seine Mitmenschen. … Und dazu gehört der Körper, das ganze Innenleben, die Seele, der Geist, die Persönlichkeit gehört auch dazu. Und insofern, glaube ich, war Raffael sicherlich auch dem Leben zugetan.))
ERZÄHLERIN:
Tatsache ist, dass viele von Raffaels Madonnen so aussehen wie jene römische Bäckerstochter. So auch die Sixtinische Madonna, die Raffael parallel zu den Arbeiten in den Stanzen des Papstes ab 1512 malte. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Altarbild von dem sächsischen Kurfürsten gekauft und befindet sich heute in Dresden.
SPRECHER:
Maria schreitet aufrecht über der mittleren Achse des Bildes über die Wolken, das Jesuskind im Arm, ihr Schleier bauscht sich im Wind und umrundet ihren Kopf, sie schreitet auf den Betrachter zu, in Richtung irdische Welt. Bei aller Schönheit strahlt ihr Gesicht einen tiefen Ernst aus. Zu Füßen der Madonna knien Papst Sixtus II – daher der Name „sixtinische Madonna“ – und die heilige Barbara. Das gesamte Gemälde ist von Gegensätzen durchwirkt: männlich und weiblich, jung und alt, die aktive Geste des Papstes und eine völlig in sich versunkene Barbara.
OT 10 Andreas Henning
Es ist ja nicht nur das klassische … Bildthema Maria mit Heiligen, das ist ein Bild-Thema, was seit 100 Jahren durchläuft und wofür es eine ganz normale Bildlösung gibt, nämlich Maria in der Mitte auf einem Thron, und Raffael hätte es genauso machen können, aber nein, er entscheidet sich für ein Ereignisbild, er entscheidet sich Maria schreiten zu lassen und das Jesuskind zur Erde also zur Inkarnation tragen zu lassen, wenn wir so wollen, haben wir hier ein Weihnachtsbild, nämlich die Geburt Christi und in ihrer Ernsthaftigkeit liegt schon das Wissen, was am Ende dieser Inkarnation passieren wird, nämlich am Lebensende Tod und Passion, Auferstehung Christi.
SPRECHER
Eine in den Wolken schwebende Maria übergibt ihr Kind der Welt, wo es am Kreuz sterben wird. Raffael hat hier die überirdische und die weltliche Sphäre miteinander verbunden – und so einmal mehr einen völlig neuen Bildtypus geschaffen.
ERZÄHLERIN:
Eine ganz eigene Karriere haben die beiden Engelchen unten auf der Brüstung gemacht. Auf Kaffeetassen, Regenschirmen und Kissenbezügen gedruckt sind sie zu den Stars eines jeden Museumsshops geworden.
SPRECHER
Auf dem originalen Gemälde lümmeln sie am unteren Bildrand herum und erinnern eher an irdische Kinder als an himmlische Engel. Einer der beiden stützt gelangweilt sein Kinn in die Hand, der andere hat den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Sie warten. Einerseits darauf, dass Maria den Menschen das Jesuskind übergibt, andererseits aber auch auf den Beginn der Messfeier, während der sich die Hostie in das Fleisch Christi verwandelt.
OT 11 Andreas Henning
Diese Engel sind extrem ungewöhnlich, die gibt es vor Raffael nicht, normalerweise spielen und musizieren die Engel, spielen mit dem Jesuskind. Und hier warten sie und ich glaube, dass das dazu geführt hat, dass sie so offen sind für jegliche Art von Deutung, also hier kann seine Empfindungen reinprojizieren und folglich können diese Engel auch für die verschiedensten Produkte verwendet werden.
ERZÄHLERIN:
Auch nach dem Tod Julius II. bleibt Raffael unter Leo X. päpstlicher Hofkünstler und fertigt beispielsweise die Vorlagen für den Teppichzyklus der Sixtinischen Kapelle.
Leo der X. überträgt ihm außerdem die Oberaufsicht über alle antiken Denkmäler Roms. Fortan leitet Raffael die Ausgrabungen in der Stadt und wirkt so auch als Archäologe. Am wichtigsten aber bleibt die Malerei. Etwa ab 1516 arbeitet er an der Transfiguration.
SPRECHER:
Das fast vier Meter hohe Gemälde zeigt im oberen Teil Christus in weißen Gewändern. In einer mandelförmigen Wolke schwebt er dem Himmel entgegen. Die ausgebreiteten Arme lassen seinen Körper dabei wie ein Kreuz wirken. Flankiert wird er von zwei Propheten mit den Gesetzestafeln in ihren Armen. Unter ihm haben sich drei Apostel zu Boden geworfen, geblendet von der hellen Erscheinung halten sie sich die Augen zu.
Im unteren Teil des Bildes ist die Heilung eines besessenen Knaben zu sehen. Im Gegensatz zu dem streng symmetrisch angeordneten oberen Bildhälfte mit Christus geht es hier chaotisch und ungestüm zu: Die Apostel starren auf einen Knaben, der, von seinen Eltern gehalten, offenbar gerade einen Anfall erleidet. Zwei von ihnen sind in Rot gekleidet und dadurch besonders hervorgehoben, sie deuten mit ihren Händen auf Christus: er ist es, der diesen Knaben heilen wird.
OT 12 Andreas Henning
Ich würde sagen, dass Raffael ein hochinnovativer Künstler ist … Er hat zeitlebens versucht die Bildthemen, die ja oft über Jahrhunderte schon tradiert waren, neu zu begreifen, sinnfällig zu greifen für seine Zeit verständlich zu machen, insbesondere die theologischen Themen, da gehört auch die Transfiguration dazu … wo er die Doppelnatur Christi als Gott und Mensch zugleich sinnfällig macht.
ERZÄHLERIN:
Neben der meisterlichen Ausführung ist Raffaels Stärke vor allem die „idea“, die „invenzione“, wie es in der Renaissance heißt, also die „Bilderfindung“.
SPRECHER:
Ein Porträt, das nur in einem Stich überliefert ist, zeigt Raffael in einen Umhang gewickelt in seinem Atelier auf einer Stufe lagernd. Links neben ihm lieg eine Palette und drei Gefäße, rechts eine noch unberührte Leinwand. Seine Hände – und das ist absolut untypisch für Malerporträts – sind nicht zu sehen, sie sind in den Umhang gewickelt. Gezeigt wird hier nicht die praktische Ausübung der Malerei, sondern die geistige Tätigkeit als wesentliches Element des Schaffensprozesses. Raffael verkörpert hier das Credo der Renaissance: Idee und Erfindung sind Voraussetzung für das künstlerische Schaffen, ja sie sind sogar wichtiger als die handwerkliche Ausführung.))
ERZÄHLERIN:
Die Transfiguration ist Raffaels letztes Bild. Am 6. April 1520 stirbt er mit nur 37 Jahren. Bevor er im Pantheon beigesetzt wird, wird er unter der Transfiguration aufgebahrt, also unter seinem eigenen Bild des gen Himmel aufsteigenden Christus. Die Zeitgenossen interpretieren die Parallelen zwischen Raffaels und dem Leben Christi als Beweis für seine Göttlichkeit. Wie Christus ist auch Raffael an einem Karfreitag gestorben, beide waren etwa im gleichen Alter, kinderlos und unverheiratet. Seither ist sein Ruhm ungebrochen. Hin und wieder trifft man Menschen, die ihn für einen kitschigen Madonnenmaler halten. Aber das liegt nicht an Raffael.
OT 13 Andreas Henning
Also wer bei Raffael nur das Süßliche sieht, der hat nicht hingeschaut. Denn Raffaels Bilder sind vielschichtig, Raffaels Figuren sind Individuen, genauso wie wir uns heute als Ich-Begabte Wesen begreifen, das können wir in diesen Bildern 500 Jahre zurück schon verfolgen, da beginnt das. … Und insofern würde ich sagen, … lasst uns alle zu Raffaels Bildern reisen und die Sachen im Original anschauen, denn man muss sich davorstellen. Man muss da vorgehen, vor- und zurücktreten, um wirklich eine sinnliche Erfahrung dieser Werke zu kommen. Sie sind fürs Auge gemalt. Das ist das Besondere und das großartige bei Raffael. Insofern müssen wir einfach unsere Augen öffnen und sie wahrnehmen.
Fasten gehört zur Evolution des Menschen. Sei es als unfreiwilliger Nahrungsverzicht, dem Hungern. Oder als in der Religion unentbehrliches Ritual für Körper und Kopf. (BR 2019)
Credits
Autor/in dieser Folge: Johannes Marchl
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner, Thomas Loibl, Andreas Neumann, Katja Schild
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Sendung gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Manfred Heim (Kirchenhistoriker, LMU München)
Godehard Brüntrup (Philosoph an der Hochschule für Philosophie, München)
Schwester Helene (Äbtissin im Benediktinerinnen-Kloster Neustift bei Passau)
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Jedem das Seine? Oder allen das Gleiche? In der Philosophie, die sich von Anbeginn mit Fragen der Gerechtigkeit beschäftigt, taucht der Begriff der sozialen Gerechtigkeit erst relativ spät auf. Welche Gedanken und Ideen zum Thema soziale Gerechtigkeit gibt es und wie kann eine Gesellschaft sie erreichen? Autorin: Claudia Heissenberg (BR 2023)
Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Heissenberg
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Johannes Hitzelberger, Caroline Ebner
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Christoph Butterwegge, Armutsforscher und emeritierter Professor für Politikwissenschaft, Universität Köln;
Wilfried Hinsch, Professor für Philosophie, Universität Köln
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John Rawls - Vordenker einer gerechten Gesellschaft
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Literaturtipps:
Wilfried HINSCH, Die gerechte Gesellschaft – Eine philosophische Orientierung.
Kurze, aber umfassende und gut verständliche Abhandlung über die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die Frage, wie sich unser Gerechtigkeitsverständnis entwickelt hat.
Richard WILKINSON und Kate PICKETT, Gleichheit ist Glück – Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind.
Die beiden britischen Wissenschaftler haben eine Fülle an statistischem Material ausgewertet und festgestellt, dass Gesellschaften, die weniger Ungleichheit aufweisen, auch weniger Kindersterblichkeit, weniger Kriminalität, weniger Drogenmissbrauch, weniger Gewalt, weniger Krankheiten etc. haben.
Thomas MORUS (Sir Thomas More), Utopia.
Für alle, die keine Angst vor alten Texten haben (geschrieben wurde das Büchlein 1515) und immer schon mal wissen wollten, wie das Leben in Utopia aussieht.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 (Z8046313101 Tobi Morare: Ghetto Beat 0‘54)
ZITATOR:
Das S in unserer Partei steht für den sozialen Zusammenhalt und für soziale Gerechtigkeit. (CSU)
ZITATORIN:
Gerechte Teilhabe am erwirtschafteten Ertrag ist das Gebot sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Vernunft. (SPD)
ZITATOR:
Deshalb ist es gerecht, dass die Stärkeren einen größeren Beitrag für unser Gemeinwesen leisten als die Schwächeren. (CDU)
ZITATORIN:
Ausuferndes Gewinnstreben und wachsende materielle Ungleichheit zersetzen die Gesellschaft von innen. (Die Linke)
ZITATOR:
Für uns ist das Prinzip der Fairness Voraussetzung und Maßstab der steten Suche nach Gerechtigkeit. (FDP)
ZITATORIN:
Gerechtigkeit meint auch Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. (Die Grünen)
O-TON 1: (Butterwegge)
Die große Mehrheit der Bevölkerung strebt eigentlich danach, dass eine gerechtere Verteilung stattfindet in der Gesellschaft, und deshalb müssen die Parteien selbst dann, wenn sie beim Regierungshandeln davon wenig erkennen lassen, zumindest programmatisch dieses Ziel der sozialen Gerechtigkeit hochhalten.
ERZÄHLERIN:
… sagt Christoph Butterwegge, Armutsforscher und emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.
O-TON 2 (Butterwegge):
Parteien, die sagen würden, wir wollen mehr Ungerechtigkeit und mehr Ungleichheit schaffen, wir wollen das Privatvermögen des reichsten Mannes in der Bundesrepublik, Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, Privatvermögen 41,8 Milliarden Euro, wir wollen das noch vergrößern und wir wollen gleichzeitig dafür sorgen, dass der Paketzusteller, der Fahrradkurier und der Getränkelieferant noch weniger verdienen, so ne Partei würde höchstens von den am meisten Privilegierten unterstützt.
MUSIK 2 (Z8039716115 Louis Edlinger/Tony Delmonte: Stay Calm 0‘48)
ERZÄHLERIN:
Seitdem Menschen über eine gerechte Ordnung von Gesellschaft und Staat nachdenken, geht es um die Frage:
Wie sind Macht und Einfluss, Güter und Einkommen, Lasten und Pflichten zu verteilen? Diese Frage beantwortet allerdings jeder anders. Denn das, was als gerecht oder als ungerecht empfunden wird, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und hängt ab von der persönlichen Situation. Wo die Verantwortung der Gesellschaft beginnt und wie weit sie gehen soll – beurteilen Menschen in den USA zum Beispiel ganz anders als in Skandinavien. Und für einen Linken bedeutet soziale Gerechtigkeit etwas völlig anderes als für einen Liberalen oder Konservativen.
O-TON 3: (Wilfried Hinsch)
Die einen sagen, wir müssen mehr Umverteilung vornehmen, die anderen sagen, nein, nein, wir brauchen mehr Ungleichheit, damit mehr produziert wird, dann gewinnen alle.
ERZÄHLERIN:
Wilfried Hinsch ist Professor für Philosophie und Autor des Buches
„Die gerechte Gesellschaft. Eine philosophische Orientierung“. Darin beschäftigt er sich unter anderem mit der Frage, welche Bedingungen gesellschaftliche Einkommens- und Vermögensverteilungen erfüllen müssen, um als gerecht gelten zu können.
O-TON 4: (Hinsch)
Erstens kann man feststellen, Menschen haben sehr verschiedene Auffassungen, es geht hoch her, wenn angesichts aktueller Probleme über Fragen sozialer Gerechtigkeit gesprochen wird. Denken Sie an diese hohen Extrazahlungen an Top-Manager, also die Emotionen gehen hoch und die Meinungen gehen weit auseinander. Und ich denke auch, dass man philosophisch am Ende keine einhellige Auffassung von sozialer Gerechtigkeit finden wird, so wie man verschiedene Auffassungen davon haben kann, wie man am besten die Gleichberechtigung von Männern und Frauen umsetzt.
ERZÄHLERIN:
Wenn über soziale Gerechtigkeit gestritten wird, geht es nicht allein um Fakten, sondern auch um die eigenen Wertvorstellungen und ethischen Normen. Jedem das Seine? Oder allen das Gleiche?
MUSIK 3 (Z8039716115 Louis Edlinger/Tony Delmonte: Stay Calm 0‘08)
ZITATOR:
Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.
ERZÄHLERIN:
Das ist Artikel 1 in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die nach der Französischen Revolution am 26. August 1789 verkündet wurden. Laut Wilfried Hinsch prägt diese Idee der Gleichheit unsere Vorstellung von einer gerechten Gesellschaft bis heute. Trotzdem vergrößern sich die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten von Jahr zu Jahr. 3,2 Milliarden Menschen mussten 2022 mit weniger als 200 Dollar im Monat auskommen, heißt es im Welternährungsbericht der Vereinten Nationen. Elon Musk, einer der reichsten Menschen der Welt, verfügt über ein Vermögen von über 200 Milliarden Dollar.
Ist das gerecht? Ist es gerecht, dass Frauen in gleicher Position oft weniger verdienen als Männer? Ist es gerecht, dass die soziale Herkunft entscheidend ist für den Schulabschluss? Was bedeutet soziale Gerechtigkeit?
MUSIK 4 (Z80465531001 Caspar: Intro 0‘15)
ZITATOR:
Bedarfsgerechtigkeit
ZITATORIN:
Chancengerechtigkeit
ZITATOR:
Leistungsgerechtigkeit
ZITATORIN:
Verteilungsgerechtigkeit
ZITATOR:
Geschlechtergerechtigkeit
ZITATORIN:
Lohngerechtigkeit
MUSIK 5 (MR027040111 William Byrd: The Woods So Wild. Variations 1‘02)
ERZÄHLERIN:
Bereits 1515, also 174 Jahre vor der Französischen Revolution, verfasste der englische Jurist, Humanist und Politiker Sir Thomas More ein Büchlein mit dem Titel „Von der besten Staatsverfassung und über die neue Insel Utopia“. Darin beschreibt er das Leben auf einer fiktiven Insel, wo es keine Habgier gibt, weil niemand Wert auf persönlichen Besitz legt. „Das Land, was nirgends ist“, so die Übersetzung seiner Wortschöpfung Utopia ist sein Modell für eine gerechte Gesellschaft und zugleich Kritik an den Zuständen und der Politik seiner Zeit. Auf Utopia arbeiten die Menschen, und zwar Männer und Frauen gleichermaßen, nicht länger als sechs Stunden pro Tag, alle Kinder erhalten Schulbildung, es gibt gemeinschaftliche Mahlzeiten, aber weder Geld noch Handel.
ZITATOR:
Ebenso wundern sich die Utopier darüber, dass das Gold, das seiner Natur nach so unnütz ist, jetzt überall in der Welt so hochgeschätzt wird, dass der Mensch selbst viel weniger gilt als das Gold selber, und zwar so viel weniger, dass irgendein Dämlack, geistlos wie ein Holzklotz und ebenso schlecht wie dumm, trotzdem eine Menge kluger und braver Diener hat, allein deshalb, weil er zufällig einen großen Haufen Goldstücke sein Eigen nennt.
MUSIK 6 (Z8046313101 Megan Thee Stallion: Cobra 0‘45)
O-TON 6: (Yvonne)
Es sollte eigentlich keine Armut auf der Welt allgemein geben, weil es gibt so viele reiche Leute auf dieser Welt und die könnten was von ihrem Geld abgeben oder so, damit jeder gleich ist.
O-TON 7: (Bella)
z.B. Altenpfleger oder so, das ist ja eine körperliche sehr anstrengende Arbeit, die werden sogar unterbezahlt, z.B. jetzt Anwälte, die schreiben nur einen Brief und schicken die raus und kriegen dafür 150 Euro oder keine Ahnung wie viel, ich find das gar nicht in Ordnung, ganz ehrlich.
O-TON 8: (Ilayda)
Also die Reichen kriegen halt immer mehr, und die Armen kriegen halt gar nichts, und das merkt man halt auch.
O-TON 9: (Enise)
Gib ihnen doch einfach was ab! Ich verstehe nicht, warum es manchen Menschen einfach so schwerfällt, einfach etwas zu teilen. Nicht jeder hatte dieses Glück, was du hattest, die Chance wie du so viel Geld zu verdienen, dann gib doch einfach was ab. Das sind doch auch Menschen, wir sind doch alle Menschen.
ERZÄHLERIN:
Bella, Enise, Ilayda und Yvonne wissen genau, was es bedeutet, Geldsorgen zu haben – am Ende des Monats, wenn jeder Cent zweimal umgedreht werden muss. Die Designersachen der vier Mädchen, Statussymbole und Sinnbild für den sozialen Aufstieg, sind nicht echt. Die kaufen Enise und Ilayda in den Sommerferien bei Straßenhändlern in der Türkei. Bella und Yvonne fahren fast nie in Urlaub.
Von Fernreisen, dem Führerschein oder gar einem eigenen Auto können sie nur träumen. Auch Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge hat als unehelicher Sohn einer alleinerziehenden Mutter schon früh erfahren, dass manche Menschen gleicher sind als andere, weil das, was man hat, einen Unterschied macht.
O-TON 10: (Butterwegge)
Warum geben Reiche ungern ab? Das ist naheliegend. Durch Reichtum kann man natürlich sich ein schönes Leben machen, man hat dadurch viel mehr Möglichkeiten als je ein Armer hat, und es ist natürlich auch der soziale Status daran geknüpft, man gilt in der Gesellschaft natürlich auch mehr, wenn man reich ist, und deswegen werden die Reichen kaum freiwillig auf den Reichtum verzichten, …
ERZÄHLERIN:
… sagt der Armutsforscher. Und der Philosoph?
O-TON 11: (Hinsch)
Es gibt den Eigennutz, es gibt den Egoismus, es gibt dieses mehr haben wollen für sich selber, wobei dieses mehr haben wollen ja auch diese zwei Punkte hat, diese zwei Aspekte, einerseits will man einfach mehr haben, also mehr Kuchen, weil man möchte noch mehr Kuchen essen, aber manchmal will man auch mehr haben, weil man mehr haben will als die anderen. Es kommt einem gar nicht darauf an, jetzt mehr Kuchen zu haben, aber man will mehr Kuchen haben als der Nachbar.
MUSIK 7 (Z8038700120 Fatima Dunn / Tony Delmonte /Beda Thornton: Thoughts Through The Window (Main) 0‘38)
ZITATOR:
Die Gleichheit und Gerechtigkeit wollen, sind immer die Schwächeren, während die Stärkeren sich über diese Dinge keinen Kummer machen.
ERZÄHLERIN:
… meinte Aristoteles, der vor mehr als 2.000 Jahren die Grundlagen für unser Verständnis von Gerechtigkeit legte. Für den griechischen Philosophen ist sie eine Tugend, die den guten Menschen kennzeichnet. Wer gerecht handelt, tut etwas für andere und denkt nicht nur an sich selbst, strebt also nicht nach persönlichen Vorteilen. Aristoteles unterscheidet dabei:
O-TON 12: (Hinsch)
Die Gerechtigkeit des Umgangs miteinander, die sogenannte kommutative Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit der Verteilung. Von Gütern, Einkommen, Weizen, aber auch Verteilung von Land, Pflichten und dergleichen, aber das Entscheidende war, dass aus einer aristotelischen Perspektive, Gerechtigkeit eine persönliche Tugend ist und dass damit der Fokus der Diskussion im Grunde auf der Frage: Verhalten sich einzelne Personen gerecht oder ungerecht lag.
ERZÄHLERIN:
Ein Unternehmer, der seine Angestellten und Arbeiter nicht ausbeutet, sondern ordentlich entlohnt, handelt also im Sinne von Aristoteles gerecht und tugendhaft. Genauso wie Menschen, die Notleidenden wohltätig unter die Arme greifen. Dass aber nicht nur der Einzelne, sondern der Staat, also die Gemeinschaft aller, als übergeordnete Instanz eingreifen könnte oder sollte, um das Problem der ungleichen Verteilung zu lösen, spielte in philosophischen Überlegungen lange Zeit keine Rolle.
O-TON 13: (Hinsch)
Das eine ist, dass es über weite Strecken der Geschichte, auch bis ins 19. Jahrhundert hinein, doch die vorherrschende Vorstellung gab, besonders verstärkt durch das Christentum, dass Armut im Grunde immer verdiente Armut ist. Also Armut als Strafe Gottes. Und dass es eine ganze Weile brauchte, bis der überwiegende Teil der Bevölkerung und der überwiegende Teil der Politiker zu der Überzeugung kam, dass es unverschuldete Armut gibt.
MUSIK 8 (R0011480005 Etienne Nicolas Méhul: Ouvertüre aus „La Chasse du jeune Henri“ 1‘09)
ERZÄHLERIN:
Einer, der bereits früh erkannte, dass Reichtum und Armut nicht unbedingt auf Verdiensten oder Versäumnissen beruhen, war Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet. Der Philosoph, Mathematiker und liberale Aufklärer setzte sich nicht nur für die Gleichberechtigung von Frauen und die Abschaffung der Sklaverei ein. In seinem 1794 erschienenen „Entwurf eines historischen Gemäldes der Fortschritte des menschlichen Geistes“ fragt sich der Marquis, ob die ungerechten Einkommens- und Vermögensverhältnisse und die Unfähigkeit des Staates, dagegen vorzugehen, eines Tages Vergangenheit sein werden?
ZITATOR:
„Um jener wirklichen Gleichheit, dem letzten Zwecke der Staatskunst, zu weichen, welche nur noch eine solche Ungleichheit bestehen lässt, die im Interesse aller nützlich ist, weil sie die Fortschritte der Zivilisation, des Unterrichts und der Industrie begünstigt, ohne weder Abhängigkeit noch Herabwürdigung, noch Verarmung nach sich zu ziehen?
O-TON 14:
Und dann hat er die Idee gehabt, die im Grunde auch allen unseren Versicherungssystemen, also nicht nur der Sozialversicherung, sondern auch der Gesundheitsversicherung zugrunde liegt, nämlich dass wir uns doch versichern können gegen die Lebensrisiken, vor denen wir stehen. Dass wir soziale Gerechtigkeit als eine Versicherungsangelegenheit betrachten.
ERZÄHLERIN:
Condorcet plädiert für eine Art Pflichtversicherung, in die alle einzahlen. Ausgezahlt wird nur im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall oder frühzeitigem Tod des Ernährers, damit die betroffene Familie nicht verarmt. Damit war der französische Philosoph ein früher Wegbereiter für den Sozialstaat, wie er heute in vielen Ländern besteht. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit taucht in der Philosophie allerdings erst rund 150 Jahre später auf. Mitte des 19. Jahrhundert schreibt der Jesuit Luigi Taparelli d’Azeglio, einer der Begründer der katholischen Soziallehre, angesichts der katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen der armen Bevölkerung während der Industrialisierung erstmals über „giustizia sociale“.
O-TON 15: (Hinsch)
Also Not und Elend derjenigen, die nicht in privilegierten gesellschaftlichen Positionen lebten. Und dann kamen natürlicherweise Forderungen nach größerer Gleichstellung, nach Verhinderung von Verelendung und dergleichen auf und das ist das, was man seitdem mit der Idee der sozialen Gerechtigkeit verbindet. Und diese Idee wurde im Grunde erst mit der großen Wirtschaftskrise Ende der 20er Jahre und mit dem New Deal von Roosevelt in den Vereinigten Staaten wirklich voll erfasst und umgesetzt.
ATMO: Börsenglocke + Börsenatmo
ZITATORIN:
Wall Street in Panic as stocks crash. Billions lost.
MUSIK 9 (Z8035054114 Paul Whiteman & His Orchestra: Sweet Sue, Just You 0‘12)
ZITATOR:
Wallstreet in Panik. Milliardenverluste!
ERZÄHLERIN:
… titelt der „Brooklyn Daily Eagle“ in der Spätausgabe vom 29. Oktober 1929.
MUSIK 10 (Z9457573208 Bix Beiderbecke & His Gang: At The Jazz Band Ball 0‘28)
ZITATORIN: (kurz frei, dann als Atmo unter Erzählerin)
Wallstreet was in a panic today, with no one to guide it out. Stocks broke terrifically without any support whatever.
ERZÄHLERIN:
Es ist der Tag, der in Amerika als Schwarzer Donnerstag und in Europa als Schwarzer Freitag in die Geschichtsbücher eingeht. Der Crash der New Yorker Börse markiert den Beginn der schwersten Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts. Innerhalb weniger Stunden stürzen die Aktienkurse ins Bodenlose. Banken sind zahlungsunfähig, Geschäfte und Fabriken schließen ihre Pforten. Millionen Menschen verlieren ihr Vermögen, ihren Besitz, ihren Arbeitsplatz. Dazu kommt eine verheerende Dürre im Mittleren Westen Amerikas, die viele Landwirte in den Ruin treibt und eine Hungersnot auslöst.
O-TON 16: (Hinsch)
Und diese beiden Ereignisse haben Roosevelt klar vor Augen geführt, dass es Dinge gibt, die sozusagen einzelmenschlich nicht bewältigbar sind und die auch einzelne Wohltätigkeitsorganistionen, Charitys oder christliche Einrichtungen, die sich um notleidende Menschen kümmern, mit denen sie nicht zurechtkommen können, hier muss etwas sehr viel Massiveres geschehen.
ERZÄHLERIN:
Der sogenannte „New Deal“ bezeichnet eine Reihe von Reformen, die die Not der Menschen lindern und die Wirtschaft ankurbeln sollen. Abgesehen von zinsgünstigen Krediten für Landwirte und Unternehmer und der Erhöhung des Spitzensteuersatzes von 25 auf 79 Prozent, werden den Banken riskante Wertpapiergeschäfte untersagt und Einlagensicherungsfonds für Sparguthaben eingerichtet. Zeitweise arbeiten rund sieben Millionen Amerikaner in Jobs, die der Staat geschaffen hat, und fast jeder Fünfte bezieht staatliche Hilfsleistungen. Wie erfolgreich Roosevelts New Deal am Ende tatsächlich war, ist allerdings umstritten.
O-TON 17: (Hinsch)
Es wird aber praktisch von niemanden bezweifelt, dass der New Deal insgesamt es geschafft, hat, erstens den Glauben in die Fähigkeit einer liberalen Demokratie, auch mit schweren Krisen zurechtzukommen, bewiesen hat und zweitens, dass ein wesentliches Element darin besteht, dass der Staat massive wirtschaftliche Unterstützung leistet für große Teile der Bevölkerung.
ERZÄHLERIN:
Die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft korrigierte der New Deal jedoch nicht. Dabei wird längst nicht jede Ungleichheit auch als ungerecht wahrgenommen. Für den Philosophen Wilfried Hinsch ist Ungleichheit in Einkommen und Vermögen zum Beispiel gerechtfertigt, wenn sie nicht nur dem Einzelnen, sondern allen Vorteile bringt. Auch Armutsforscher Butterwegge findet nicht, dass alle gleich viel verdienen und besitzen müssen.
O-TON 18: (Butterwegge)
Also es soll schon Unterschiede in der Gesellschaft geben, aber sie müssen natürlich im Rahmen bleiben, d.h. wenn der Vorstandsvorsitzende 268-mal so viel verdient wie ein Arbeiter, der in seinem Konzern tätig ist, dann hat das mit sozialer Gerechtigkeit nichts mehr zu tun. Wenn der Arzt, sagen wir mal, weil er eine längere Ausbildung hat, weil er mehr Verantwortung trägt, wenn der doppelt so viel verdient, wie die Krankenschwester dann finde ich das akzeptabel.
MUSIK 11 (Z8046363105 Will Dorey: Care About Me 0‘37)
ERZÄHLERIN:
Erst wenn es für Ungleichheit keine zufriedenstellende Begründung gibt, entsteht der Eindruck, das sei ungerecht. Und dabei geht es nicht nur um die Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern auch um die Möglichkeiten, etwas aus seinem Leben zu machen. Für den Philosophen John Rawls muss soziale Gerechtigkeit darum immer auch das Glück der Menschen berücksichtigen, die am schlechtesten gestellt sind. In seinem 1971 erschienenen Buch „A Theory of Justice“ entwickelt der US-Amerikaner die Idee von Gerechtigkeit als Fairness.
O-TON 20: (Hinsch)
Dazu gehört auch diese Idee, dass Ungleichheit rechtfertigungsbedürftig ist. Die Idee, dass wir eine Gesellschaft haben wollen, in der sich Menschen gegenübertreten, die mit Selbstachtung und Selbstvertrauen ihr Leben bestreiten können und miteinander umgehen können.
ERZÄHLERIN:
Soweit die Theorie. Die Realität sieht allerdings anders aus. Dazu ein paar Zahlen aus der Statistik: 2020 schafften 35 Prozent aller deutschen Schüler und Schülerinnen das Abitur. Bei Schülern mit ausländischen Wurzeln waren es 14 Prozent. Also weniger als die Hälfte. Christoph Butterwegge:
O-TON 21: (Butterwegge)
Es ist nicht so, dass ein Kind aus einer Familie des Paketzustellers die gleichen Chancen hat wie das Kind, das aus einer Großunternehmerfamilie kommt, wo eine Villa ist, ist auch ein Weg zum Abitur, zum Studium und zur beruflichen Karriere, und es ist ganz klar, dass da Kinder aus reichen Familien viel bessere Startchancen haben.
ERZÄHLERIN:
In kaum einem anderen westlichen Land sind die Bildungserfolge der Kinder so stark mit dem sozialen Status der Eltern verknüpft wie in Deutschland. Niedriges Einkommen oder ein Migrationshintergrund sind die größten Hindernisse für einen erfolgreichen Schulabschluss.
MUSIK 12 (Z8045759106 Sensorama: New Aged 1‘00)
O-TON 22: (Enise)
Diese allgemeine Bildung, Beispiel, wenn deine Eltern Arzt oder Anwalt oder so sind und du wächst dann in so einer Familie auf, dann wachsen diese Kinder schon meistens disziplinierter auf und wissen schon von Anfang an, lernen ist wichtig oder später was zu erreichen und erfolgreich zu werden oder mit dem Beruf Karriere zu machen, das wissen die schon von Anfang an, dass das wichtig ist, weil die ihre Eltern als Vorbild haben.
ERZÄHLERIN:
Wer nicht über ein akademisches Bildungserbe von Eltern und Großeltern verfügt, hat in der Schule schlechte Karten und braucht auf Chancengleichheit nicht zu hoffen.
O-TON 23: (Bella)
Ich kann vermuten, was es bedeuten könnte, also Chancengerechtigkeit, dass jeder eine Chance verdient, eine gerechte Chance sozusagen, so wie jeder andere Mensch gleichbehandelt wird, so stelle ich mir das vor.
O-TON 24: (Yvonne)
Dass jeder die gleiche Chance hat, das zu machen, was er will und das zu erreichen, was er will, dass jeder, egal jetzt ob Junge oder Mädchen, dass die gleichbehandelt werden, und dass nicht einer besser behandelt wird.
O-TON 25: (Hinsch)
Soziale Gerechtigkeit ist wie viele ethische oder sozial-ethische Ideale eine Frage der Abstufung, also es gibt mehr oder weniger davon, und ganz sicher gibt es auch in Gesellschaften, die wir nicht als himmelschreiend ungerecht betrachten würden, wie die deutsche Gesellschaft, gibt es gleichwohl gravierende Ungerechtigkeiten. Etwa in den Bildungschancen von Menschen, aber auch allgemeiner in den Chancen der Selbstverwirklichung und die Möglichkeiten eigene Lebenspläne zu entwickeln und dann auch zu verfolgen.
O-Ton 26: (Butterwegge)
Wenn der Gegensatz zwischen Arm und Reich so ausgeprägt wie bei uns, dass auf der einen Seite, 150 oder 200 Multimilliardäre existieren und auf der anderen Seite, die Armut sich immer mehr in die Mitte der Gesellschaft hinein ausbreitet, dann gibt es wenig soziale Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit hieße, es muss Umverteilung von oben nach unten geben, damit der Reichtum gerechter verteilt ist und damit mehr Menschen die Möglichkeit haben in dieser reichen, wohlhabenden Gesellschaft gut zu leben und damit natürlich auch ein glücklicheres Leben zu führen.
MUSIK 13 (Z8046012101 Conrad Oleak / Marcel Rainer: Reading The Indictment (full) 1‘12)
ERZÄHLERIN:
Alle Menschen sind gleich. Aber inwiefern? Als politische Zielsetzung und gesellschaftliche Wunschvorstellung wird soziale Gerechtigkeit von nahezu niemandem in Frage gestellt. Trotzdem ist soziale Ungleichheit schon lange ein Merkmal menschlicher Gesellschaften. Und was konkret unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen ist und inwieweit soziale und ökonomische Ungleichheiten gerechtfertigt sind oder von staatlicher Seite abgefedert werden müssen – darüber gehen die Meinungen weit auseinander.
O-TON 27: (Butterwegge)
Es sollte ja in der Gesellschaft ein Diskurs darüber stattfinden, was soziale Gerechtigkeit ist und wie man sie am besten verwirklicht, wenn es darüber nicht unterschiedliche Meinungen gäbe, wäre das ja eine sehr langweilige Gesellschaft, gerade im Kapitalismus ist es nötig, dass man sich darüber klar wird, was sozial gerecht wäre und wie man es vielleicht auch politisch in die Wege leitet. ...Darüber sich zu streiten, sich auseinanderzusetzen, das macht eigentlich Demokratie aus.
In der Spätsteinzeit entstand in Europa die Glockenbecherkultur. Genetiker und Archäologen sind gemeinsam der Frage auf der Spur, wie diese weitläufige Kultur entstanden ist. Autor: Matthias Hennies (BR 2019)
Credits
Autor dieser Folge: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Constanze Fennel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Elisabeth Reuter, Töpferin, Friedland;
Prof. Philipp Stockhammer, LMU München;
Dr. Wolfgang Haak, MPI für Menschheitsgeschichte, Jena;
Dr. Guido Brandt, MPI für Menschheitsgeschichte, Jena;
Prof. Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, Halle
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Atmo 1 Werkstatt 43:35
Schmirgeln, Klopfen, Wasser rauscht
Sprecher
Elisabeth Reuter, Töpferin, sitzt in ihrer Werkstatt an einem alten Tisch und knetet eine Rolle Ton. Trennt ein Stück ab und formt ein Gefäß.
1. O-Ton Reuter 13:20
Geräusche. Ich drehe es auf der Unterlage immer und bearbeite es auf der einen Seite mit den Daumen und auf der anderen Seite mit den restlichen Fingern, also mit beiden Händen gleichzeitig -
Atmo 2 Werkstatt 39:27 unterlegen
MUSIK
Sprecherin / Titel
Glockenbecher – Archäologie und Genetik der Jungsteinzeit. Eine Sendung von Matthias Hennies („Hénnjes“).
Sprecher
Elisabeth Reuter töpfert einen Becher, der in der Jungsteinzeit, im 3. Jahrtausend vor Christus, in ganz Europa verbreitet war. Damals kannten die Menschen die Töpferscheibe noch nicht, auf der sich Tongeschirr viel schneller produzieren lässt. Die Töpferin aus Friedland in Hessen ist Spezialistin für Gefäße aus frühen Jahrtausenden. Im Handumdrehen formt sie ein rundes Schälchen, Basis für einen „Glockenbecher“, der mit jeder neuen Rolle Ton, die sie auf den Rand aufsetzt, größer wird.
2. O-Ton Reuter 17:45
Und damit das Gefäß breiter wird, setze ich das nicht in die Mitte, sondern eher zum Rand hin und drücke es auch noch nach außen. Wir brauchen die Glockenform.
MUSIK
Sprecher
Der „Glockenbecher“ ist ein gutes, gründlich erforschtes Beispiel für eine große Frage der Geschichtswissenschaften: Wie haben sich in der Vergangenheit neue Ideen verbreitet? In einer Epoche, als es noch keine Schrift gab, als die Menschen nicht in großen, gut organisierten Staaten, nicht in dicht bevölkerten Städten lebten: Haben Einwanderer in jenen Zeiten neues Gedankengut eingeführt? Oder verbreitete es sich von Mund zu Mund, durch Reisende oder Händler, als Ideen-Transfer?
Atmo 3, 35:25 (50:50)
Schaben
3. O-Ton Reuter 45:59
Ich bearbeite es noch mal nach, um es zu glätten und oben auseinanderzuziehen-
Sprecher
Das Gefäß erinnert an eine Glocke, die auf dem Kopf steht: Ein voluminöser Bauch, dann ein schmaler Hals, der sich wieder zu einer weiten Mündung öffnet. Es war mit regelmäßigen Linien und Mustern verziert. Die Töpferin demonstriert, wie man sie herstellt: Sie legt behutsam eine Schnur um das weiche, ungebrannte Gefäß.
4. O-Ton Reuter 53:08
Das sind so Kordeln, gedrehte, die kann ich in den Ton eindrücken, muss ich mit gutem Augenmaß arbeiten, ich habe jetzt eine Linie rund um mein Gefäß eingedrückt, das sieht man als leichte schräge Spuren in dieser Linie.
MUSIK
Sprecher
Linie wird unter Linie gesetzt, danach ist der Becher fertig zum Brennen. Etwa acht Stunden später kommt ein fein verziertes, stabiles Gefäß aus dem Feuer. Wozu mag man es im dritten Jahrtausend vor Christus verwendet haben?
4 ½. O-Ton Stockhammer 2’20 neu
Wir wüssten natürlich sehr gern, was es mit denen auf sich hat, gerade mit dieser einheitlichen Form: Es gibt Nahrungsrückstands-Analysen an einigen wenigen dieser Becher, in denen man „Mädesüß“ gefunden hat. Ein mir vorher auch unbekanntes Kraut, aus dem man eine alkoholische Substanz ziehen konnte, vielleicht war der Glockenbecher einfach ein spezifisches Gefäß zum Konsum alkoholischer Getränke, so wie wir in Bayern einen Maßkrug haben.
Sprecher
Für die Archäologie ist etwas Anderes wichtiger, stellt Philipp Stockhammer klar, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München: Dass Glockenbecher gegen Ende der Jungsteinzeit massenhaft als repräsentative Grabbeigaben dienten. Unzählige Exemplare haben sich bis heute erhalten, quer durch Europa, und die Gräber hatten – mit kleinen Abweichungen – immer dieselbe Ausstattung, immer dieselben Beigaben.
5. O-Ton Stockhammer 1‘37
In Mitteleuropa würde das Glockenbechergrab eine Körperbestattung sein, mit angezogenen Beinen, es ist eine so genannte Hockerbestattung, wobei alle Skelette Nord/Süd orientiert waren und die typischen Beigaben waren bei den Männern neben einem Keramikbecher oft ein Kupferdolch und eine so genannte Armschutzplatte, das ist etwas, was man am Arm trägt, damit die Sehne des Bogens, wenn man schießt, nicht den Unterarm verletzt.
MUSIK
Sprecher
Viel weiß man nicht über die Gemeinschaften, die diese Bestattungssitte praktizierten. Die Krieger kämpften offensichtlich mit Pfeil und Bogen, sie nutzten vermutlich schon Pferde als Reittiere. Lebensgrundlage war die Landwirtschaft, die Menschen bearbeiteten Äcker und züchteten Vieh. Siedlungen sind in Mitteleuropa bisher nur selten zu Tage gekommen. Die auf dem gesamten Kontinent verbreiteten, einheitlichen Gräber deuten aber auf ein weit gespanntes Kommunikationsnetzwerk hin, das Bevölkerungsgruppen über große Entfernungen verband. Zugleich lassen sie auf eine ziemlich egalitäre Sozialstruktur schließen, doch mancherorts gab es auch eine wohlhabendere Schicht.
MUSIK aus
5 ½. O-Ton Stockhammer 4:55 neu
Es gibt Gräber auch in Süddeutschland, mit Gold, mit Bernstein – und wir haben auch ein Grab in Süddeutschland, das mit spanischem Silber ausgestattet ist, also Objekte, die klar zeigen, ja, es gab Menschen, die in diesem Netzwerk offensichtlich eine herausragende Position innehatten und denen es möglich war, über dieses Netzwerk aus fremden Regionen Objekte und natürlich auch Wissen zu beziehen.
Sprecher
Entscheidend für die Entwicklung der „Glockenbecher-Kulturen“ war der Einfluss von Steppenhirten, die aus Osteuropa kamen.
6. O-Ton Stockhammer 6:01
Im frühen dritten Jahrtausend wanderten aus der heutigen Ukraine, kann man vielleicht sagen, Steppenhirten nach Mitteleuropa ein, ja, sie kamen bis nach Spanien und wir sehen genetisch bei diesen Einwanderern, dass es vor allem Männer waren. Es ist sehr spannend – wir sehen es am Y-Chromosom, das wird ja auf der männlichen Linie weitergegeben – dass sich das in ganz Europa ausbreitet und auch quasi durchsetzt. Wir wissen nicht, wie friedlich das abgelaufen ist, vor allem, weil zur selben Zeit die männlichen lokalen Linien alle enden.
MUSIK
Sprecher
Friedlich kann es wohl kaum abgegangen sein. Archäologische Belege dafür sind allerdings noch nicht zutage gekommen. Am Erbgut von Skeletten aus Glockenbecher-Gräbern lässt sich nur nachweisen, dass die Steppenhirten einheimische Frauen nahmen und sich mit der mitteleuropäischen Bauernbevölkerung vermischten.
MUSIK aus
7. O-Ton Stockhammer 7:22
Und aus dieser Vermischung ist eben nicht nur genetisch was passiert, sondern auch kulturell was passiert: Und dieses Glockenbecher-Phänomen ist quasi eine kulturelle Bewältigung dieser Einwanderer aus dem Osten.
Sprecher
Mit der Expansion der Männer aus der Steppe verbreiteten sich die Glockenbecher-Kulturen rasant, quasi parallel zum Weg der Einwanderer. Quer durch Europa, von Osten nach Westen zunehmend, gaben die neuen Gemeinschaften ihren Toten die unverwechselbaren Tongefäße mit ins Grab. Offen war bisher jedoch, ob allein die Migranten aus dem Osten die neue Sitte weitergetragen haben oder ob sie auch unabhängig von den Steppenhirten praktiziert wurde.
Ein internationales Forscherteam hat nun Knochen und Zähne von 400 Menschen aus Glockenbecher-Gräbern auf Erbgut der Steppenhirten untersucht, in einer der bisher umfangreichsten Untersuchungen prähistorischer DNA. Archäologen aus ganz Europa holten dafür Skelettreste aus früheren Ausgrabungen aus den Magazinen.
8. O-Ton Haak 8:23
Wir sprechen von Proben aus Portugal, Spanien, Frankreich, den britischen Inseln, dann über Benelux und Mitteleuropa bis hin nach Tschechien, Italien und Ungarn hinein.
Sprecher
Das Projekt eröffnete neue Einblicke in die Veränderungen im Genom der Europäer und illustriert zugleich die großen Fortschritte der Genforschung, erläutert Dr. Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, der als Genetiker daran mitgearbeitet hat.
8 ½. O-Ton Haak 1:32 neu
Ich komme ja noch aus einer Generation, wo man das ganz mühselig aus diesen alten Knochenfunden herausarbeiten musste, das waren ganz langwierige Prozesse, und man hat da mit großem Aufwand ganz wenig Informationen herausbekommen, also nur noch wenige Bruchstücke aus dem Genom, die man dann zusammengestückelt hat, und damals hat man noch alles allein gemacht, man hat alles von A-Z, der Probennahme bis letztlich zur Publikation machen können, das ist heute nicht mehr der Fall.
Sprecher
In den großen Projekten der Paläogenetik arbeiten jetzt Spezialisten in Dutzenden Labors von Harvard über Kopenhagen bis Jena zusammen. Das ist möglich – und oft auch nötig –, weil Millionen von Erbgut-Proben nun parallel, in Massen-Analysen, untersucht werden können.
9. O-Ton Haak 4:09
Da musste man auch sich auf den Hosenboden setzen, schön Hausaufgaben machen, das war ne steile Lernkurve für uns alle, das hat natürlich die gesamte Molekulargenetik betroffen, also nicht nur die alte DNA, sondern die Biologie insgesamt, und da ist es egal, was man sequenziert, ob das jetzt die Hefe ist oder der Löwe aus dem Zoo oder eben prähistorische Menschen, wir sind jetzt in der Lage, mit höchster Auflösung die Dinge anzugehen.
Atmo 4 Labor Brandt 1, 58:50 und MUSIK
Roboter gurgelt, rasselt, brummt
Sprecher
Ein Roboter fährt auf einer Laborbank des Jenaer Forschungsinstituts hin und her. Er pipettiert minimale Mengen Erbgut und Chemikalien in winzige Kanäle in einem blauen Kunststoffklotz. Damit beginnt das erste der drei entscheidenden neuen Verfahren: die „Library Preparation“, der Aufbau einer DNA-Bibliothek. Laborleiter Dr. Guido Brandt erläutert die Hintergründe.
10. O-Ton Brandt 3:38
Ich habe ein DNA-Fragment aus einer Probe und damit ich dieses DNA-Fragment analysieren kann, muss ich es manipulieren. Und das machen wir, indem wir an die beiden Enden dieses DNA-Fragments bekannte DNA-Sequenzen herankleben. Das sind selbst designte Sequenz-Schnipsel, die Sie bei Firmen in Auftrag geben und die synthetisieren synthetische DNA. In diesen „Adaptern“, wie wir sie nennen, sind bestimmte Bereiche enthalten, die dafür verantwortlich sind, dass ich die DNA vervielfältigen kann, dass ich sie später aber auch von Fragmenten einer anderen Probe unterscheiden kann. Man muss sich das so vorstellen wie einen Barcode, wie an der Supermarktkasse einen Strichcode.
Sprecher
Dank dieses “Strichcodes” sind die Proben aus dem Erbgut eines Menschen identifizierbar – und können im nächsten Arbeitsschritt zusammen mit der DNA mehrerer hundert anderer Individuen sequenziert werden. Die „Massive Parallele Sequenzierung“, der zweite große Fortschritt, beruht einer dramatischen Verbesserung der Sequenziermaschinen.
11. O-Ton Brandt 7:30
Die Technik von vor 15 Jahren, die wurde letzten Ende verwendet, um das erste humane Genom zu erzeugen, man hat da zwei Jahrzehnte dran gearbeitet und es hat Millionen von Dollar verschlungen, heute ist es möglich, ein humanes Genom für unter 1000 Dollar in 24 Stunden zu erzeugen. Der große Vorteil ist einfach diese massive parallele Sequenzierung, die es mir erlaubt, viele hundert Individuen auf einmal zu bearbeiten und eben Millionen von DNA-Sequenzen in einem Sequenzierlauf zu erzeugen.
Sprecher
Früher mussten Forscher für die Sequenzierung einen Abschnitt aus einer DNA-Probe auswählen. Dass beim „Next Generation Sequencing“, wie es auch genannt wird, nun Millionen DNA-Sequenzen gleichzeitig bearbeitet werden, vereinfacht insbesondere die Erforschung Alten Erbguts: Nun fällt eine solche Fülle von Daten an, dass es keine Bedeutung mehr hat, wenn einige DNA-Sequenzen nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden nicht mehr intakt sind. Die Paläogenetik erlebt daher einen mächtigen Boom.
MUSIK
Sprecher
Die neue Technik wäre nicht komplett ohne den Entwicklungssprung in der Bioinformatik. Um die gigantischen Datenmengen aus der Parallelen Sequenzierung auswerten zu können, mussten neue Computerprogramme geschrieben und leistungsstarke Rechner angeschafft werden.
12. O-Ton Brandt 22:18 (O-Ton vorn gekürzt!)
Durch das Library Prep werden einfach alle Moleküle, die in meiner Probe drin sind, in eine Library transferiert und damit ist es möglich, alle sofort zu sequenzieren. Und später dann eben am Computer der richtigen Position im Genom zuzuordnen. Es wird dann über bestimmte bio-informatische Algorithmen errechnet, wo ein Sequenzschnipsel im Genom am besten hinpasst.
MUSIK
Sprecher
Den Wissenschaftlern eröffnen sich damit neue Erkenntnis-Möglichkeiten:
Statt vor der Analyse auf gut‘ Glück einen DNA-Abschnitt auszuwählen, können sie jetzt das komplette Erbgut mehrerer Individuen rekonstruieren und danach entscheiden, wo die vielversprechenden Abschnitte liegen: Die Y-Chromosomen für die männlichen Linien etwa, die mitochondriale DNA für die Vererbung auf mütterliche Seite oder Mutationen im Erbgut, wenn es um die Charakterisierung von Bevölkerungsgruppen geht.
MUSIK aus
Sprecher
Im Glockenbecher-Projekt fanden die Genetiker das Erbgut der Steppenhirten in fast allen Skelettresten aus Mittel- und Westeuropa. Nur in den ältesten Proben, die auf etwa 2800 vor Christus datiert werden und aus Spanien stammen, ließ sich keine DNA der Einwanderer feststellen. Für den Archäologen Stockhammer ergibt sich daraus eine klare Schlussfolgerung: Glockenbecher waren auf der iberischen Halbinsel schon vor Ankunft der Einwanderer bekannt. Die neue Bestattungssitte hat sich also nicht nur durch Migration in Europa verbreitet, sondern ist unter iberischen Bevölkerungsgruppen schon vorher weitergetragen worden: als Ideentransfer, sozusagen von Mund zu Mund.
13. O-Ton Stockhammer 11:11& 23:17
Der Impetus kam durch Einwanderer, aber das Glockenbecher-Phänomen an sich ist dann nicht durch großräumige Wanderungen entstanden, sondern durch Kontakt zwischen den Beteiligten. Es war sicher das erste großräumige Phänomen, von dem man zeigen konnte, dass es nicht vor allem durch Migration entstanden ist.
Sprecher
Ausnahme: Die britischen Inseln, die die Einwanderer ab Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus eroberten. Sie löschten die Einheimischen, deren Vorfahren einst Stonehenge erbaut hatten, fast vollständig aus. Und sie brachten die Glockenbecher mit: Auf den britischen Inseln verlaufen Einwanderung und Verbreitung von Glockenbechern eindeutig parallel.
Insgesamt gesehen, liefert die Studie neuen Stoff für einen alten Streit. Lange meinten Altertumswissenschaftler, wo einheitliche Fundensembles zu Tage kamen, hätte auch eine einheitliche Menschengruppe gelebt. So sprach man von einem „Glockenbecher-Volk“.
Oder man meinte, überall, wo eiserne Bratspieße und so genannte „Antennendolche“ ausgegraben wurden, hätten Kelten gewohnt. In den sechziger Jahren kamen Zweifel auf: Kann man tatsächlich aus ähnlichen Objekten schließen, dass ein Volk sie hervorgebracht hat, mit einer übereinstimmenden Signatur des Erbguts? Die Glockenbecher-Untersuchung spricht dagegen.
14. O-Ton Stockhammer 7‘57
Wir haben ja die Gräber der Einwanderer, bevor sie nach Mitteleuropa kamen. Die hatten eben auch Becher, aber die waren keine Glockenbecher, die waren eben ein bisschen anders, die waren schnurverziert. Die hatten keine Kupferdolche, die hatten Steinäxte, die hatten auch Hockerbestattungen, aber nicht Nord-Süd, sondern Ost-West. Und das Spannende ist, das Glockenbecher-Phänomen dreht quasi alle kulturellen Aspekte dieser Steppenhirten in ihr Gegenteil, aber es bleibt ein Dialog, wie eine Dialektik, zwischen dem, was da aus dem Osten in den Westen gekommen ist und dem, was vorher schon im Westen da war.
Sprecher
Die Glockenbecher-Sitte und die Kultur der Einwanderer gehen nicht auf denselben Ursprung zurück, betont Stockhammer, haben sich im Umbruch der massiven, blutigen Einwanderungswelle aber gegenseitig beeinflusst.
Doch die alte Streitfrage ist noch nicht entschieden. Gerade am entscheidenden Resultat der Studie, das den Ideentransfer belegen soll, hat der Genetiker Wolfgang Haak Zweifel. Er hebt hervor: Die Verbreitung von Glockenbechern fällt räumlich und zeitlich zum allergrößten Teil mit der massiven Expansion der Steppenhirten zusammen. Nur die ältesten, auf 2800 vor Christus datierten Glockenbecher aus Spanien passen nicht ins Bild.
15. O-Ton Haak 18:28 (vorn gekürzt!)
Das sind nur diese ersten 300 Jahre, wo das nicht zusammengeht, dann später geht es wirklich 1:1 zusammen, was wir im Rest des Genoms sehen und auch die archäologische Sachkultur, das geht Hand in Hand.
MUSIK
Sprecher
Ist die Datierung der spanischen Funde wirklich zuverlässig? Die Jahreszahl 2800 vor Christus wurde nicht aktuell im Rahmen der Studie ermittelt, sondern lag bereits aus der Ausgrabung vor. Und, so Haak weiter, lassen sich diese Gräber eindeutig der Glockenbecher-Kultur zuordnen? Der Genetiker, der in mehreren internationalen Großprojekten aktiv ist, will das europaweite Phänomen nun noch detaillierter erforschen: mit neuen archäologischen Daten und Erbgut-Analysen von mehreren tausend Individuen.
MUSIK aus
Sprecher
Weitere Untersuchungen bieten sich auch an, weil hinter der neuen Bestattungssitte mehr steht als nur eine andere Grabbeigabe: Die Menschen begannen eines Tages, ihren Toten Glockenbecher ins Grab zu legen, weil sie für sie eine konkrete Bedeutung hatten. Sie waren Ausdruck einer bestimmten Überzeugung, eines Glaubens. Welche Wünsche und Hoffnungen damit verbunden waren, lässt sich nicht rekonstruieren, doch es war eine neue Religion oder eine neue Ideologie. Und sie hatte erstaunlichen Erfolg, verbreitete sich von Ungarn bis Portugal, von Italien bis auf die britischen Inseln. Die Menschen standen trotz der Entfernung miteinander in Verbindung, sie bildeten ein Netzwerk, sagen die Forscher.
16. O-Ton Haak 25:30
Warum hat es immer wieder funktioniert? Da muss es ja ein kulturelles oder soziologisches Konzept gegeben haben, vielleicht auch eine Ideologie, die dann attraktiv war, das war möglicherweise einfach das Wirtschaftsmodell, das gezogen hat, das Gelobte Land, das neue Ding, es ging aufwärts, vorwärts, das ist ein Modell, das man mal prüfen müsste.
Sprecher
Dieses Netzwerk bereitete wahrscheinlich der Innovation den Boden, die eine neue Epoche einläutete: der Herstellung der Bronze, des ersten praktischen Metalls. Mancherorts in Europa hatten Menschen schon vorher Kupfer bearbeitet, aber kupferne Waffen und Werkzeuge sind relativ weich.
Legiert man Kupfer jedoch mit etwas Zinn, wird das Material härter, lässt sich gut bearbeiten und glänzt obendrein wie Gold: Das sind die Vorzüge der Bronze. Bronze ist aber nicht leicht herzustellen, weil Zinnvorkommen in Europa rar sind: Größere Lagerstätten finden sich nur im äußersten Westen Englands, im heutigen Cornwall. Dort ließen sich Menschen der Glockenbecher-Kulturen ab 2450 vor Christus nieder. Viele Archäologen vermuten, dass sie die Kenntnis von der Zinnbronze über den Kontinent verteilten. Philipp Stockhammer:
MUSIK
17. O-Ton Stockhammer 37:22
Gerade das Glockenbecher-Netzwerk war einer der entscheidenden Momente, Wissen auszutauschen: Oh, hier haben wir die Zinnlagerstätten, oh, hier haben wir Kupfer, oh, hier haben wir die neuen metallurgischen Techniken aus dem Orient. Und deshalb war das Glockenbecher-Phänomen eigentlich die entscheidende Triebfeder für die Herausbildung der Bronzezeit in Mitteleuropa, und ich sehe in meinen Forschungen, dass sich in Mitteleuropa eigentlich nur dort die frühe Bronzezeit entwickeln konnte, wo wir vorher auch das Glockenbecher-Phänomen fassen.
MUSIK aus
Atmo 5 XII 56-807, 0:09
Besucher im Museum
Sprecher
Etwa ab 2400 vor Christus entwickelte sich ein Zentrum der frühen Bronze-Herstellung im östlichen Mitteldeutschland. Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle kann eine Fülle einschlägiger archäologischer Funde präsentieren.
18. O-Ton Meller 5:38
Die frühesten Bronze-Objekte, die wir hier haben, kann ich Ihnen zeigen, das sind Dolche…
Atmo 6 Museum XI 57-799, 7:50
Schritte
Sprecher
Professor Harald Meller, Museumsdirektor und Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, ist an mehreren Forschungsprojekten zum Anfang der Bronzezeit in Europa beteiligt. Auch er zieht eine Verbindung zwischen der Glockenbecher-Kultur und der Metallverarbeitung.
19. O-Ton Meller 13:27
Die Fähigkeit, Bronze herzustellen, gibt es schon ganz alt im Vorderen Orient und am Balkan, aber bei uns in Mitteleuropa ist die Bronzeherstellung noch mal erfunden worden, zumindest ist das die Hypothese, durch die Eroberung von Südengland, Glockenbecherleute erobern Südengland, und die entdecken dann in Cornwall das Zusammentreffen von reichen Zinnquellen in den Flüssen und dieses Zinn ermöglicht es natürlich, Bronze herzustellen.
Atmo 6 Museum XI 57-799, 7:50
Schritte
Sprecher
Vor einer Wand-hohen Vitrine, in der auf dunklem Stoff mehrere Reihen bronzener Beilklingen aufgehängt sind, eine wie die andere, wird deutlich, welche Revolution die Entdeckung dieses Materials bedeutete: Sie veränderte die Gesellschaft grundlegend.
20. O-Ton Meller 18:39
Der Bronzeguss ist für uns so wahnsinnig wichtig, weil damit die Menschen zum ersten Mal selbstgeschaffen identische Dinge herstellen. Vorher hast du ein Steinbeil, jedes Beil ist anders, abhängig von der Quelle. Das heißt, ein Fürst lässt 100, 200, 300 Beile gießen, und die sind völlig identisch, die kann er jetzt an die Bauernsöhne verleihen, kann er eine Armee aufstellen.
MUSIK
Sprecher
Ab Ende des dritten Jahrtausends vor Christus herrschten erstmals mächtige Fürsten in einigen Gegenden Mitteleuropas. Aus den Glockenbecher-Kulturen, die kaum Hierarchien kannten, hatte sich eine neue Gesellschaftsstruktur gebildet. Meller spricht dabei übrigens von „Glockenbecherleuten“ – als ob sich die bauchigen Tongefäße doch mit einer genetisch einheitlichen Bevölkerung identifizieren ließen. Über die Frage, ob die Bestattungssitte mit Glockenbechern, die erfolgreiche neue Religion, von Einwanderern verbreitet wurde oder als Idee von Mund zu Mund wanderte, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Es ist bitterkalte Eiszeit. 30.000 Jahre zurück in Europa. Was wissen wir über unsere genetischen Vorfahren? Archäologinnen und Archäologen durchleuchten das Genom und stoßen auf überraschende Erkenntnisse zum Leben der Eiszeit-Menschen, der ersten anatomisch modernen Menschen in Europa. Autorin: Katharina Hübel
Credits
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Jennifer Güzel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. George McGlynn, Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München;
Prof. Dr. Cosimo Posth, Urgeschichte und naturwissenschaftliche Archäologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen;
Prof. Dr. Wilfried Rosendahl, Generaldirektor der Reiss-Engelhorn-Museen und wissenschaftlicher Vorstand des Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie GmbH;
Prof. Dr. Thorsten Uthmeier, Institut für Ur- und Frühgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
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Steinzeit in Bayern. Das Handbuch in zwei Bänden. Hg. Von Thorsten Uthmeier und Doris Mischka. Wbg Theiss. 2023.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
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In the High Valleys - Album: Nanga Parbat (Original Soundtrack) - Komponist: Stephan Micus - Album: Länge: 0'34
Sprecherin:
Der „Mann von Neu-Essing“ ist einer der ersten anatomisch modernen Menschen, die in Europa überhaupt gelebt haben. Menschen, die uns mitgeprägt haben. Können deren Skelette Antworten geben auf die Fragen: Woher stammen wir? Wer sind unsere Vorfahren?
03 OT McGlynn
Funde aus dieser Zeit sind absolute Raritäten.
Sprecherin
Sagt der Wissenschaftler Dr. George McGlynn. Das heutige Nordspanien, Frankreich oder Belgien, beispielsweise, sind Regionen, die vor 34.000 Jahren ebenfalls eisfrei waren und bewohnt von homo sapiens. Zudem waren Teile des heutigen Tschechiens und Österreichs von einzelnen Menschengruppen bewohnt. Jäger und Sammler, die mobil waren und den Tieren hinterher zogen.
04 OT McGlynn
Wir sprechen von einem Zeitpunkt, wo doch viel Vergletscherung war und eine sehr harsche Umgebung. Der Neuessinger Mann ist ein fast vollständig intakter Skelettfund, manche von den anderen Funden sind lediglich einzelne Knochenfunde, ein Kiefer, ein Schädelstück, deshalb ist der Neuessinger Fund auch etwas ganz Besonderes wegen seiner Intaktheit. Man kann schon sagen, die Fundzahl von fünf, sechs Fundplätzen beträgt so um die 35 bis 40 Funde. Das ist ein absoluter Glücksfall, wenn man etwas findet, ganz selten findet man mehrere Teile eines einzelnen Individuums. Und anhand dieser fragmentierten Funde ist man praktisch als Wissenschaftler gezwungen, sehr viel reinzulesen. Aber es ist auch eine Riesenherausforderung.
Sprecherin
Die George McGlynn nicht alleine angeht.
Musik 3
"Baud" - Album: Stator - Länge: 0'5
Sprecherin
Die Archäologie hat im letzten Jahrzehnt durch naturwissenschaftliche Methoden einen Modernisierungsschub bekommen. Archäologen kooperieren mit Chemikern, Genetikern, Informatikern. Denn manchmal trügt der Anschein und erst das Labor verrät die korrekten Daten. Wie beim „Mann von Neu-Essing“, der über viele Jahrzehnte falsch datiert, nämlich viel jünger geschätzt, in den Archiven verschwunden war. Sein Fall ist nun wieder aufgerollt und liefert neue Erkenntnisse über die Menschen in der Eiszeit.
Wind und Schritte
Sprecherin
Wobei mit „Eiszeit“ die letzte Kaltzeit in der Geschichte unseres Planeten gemeint ist.
Durchgängig kalt und eisig war es dabei gar nicht immer, erklärt Prof. Thorsten Uthmeier, der am Institut für Ur- und Frühgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg arbeitet und den Fundort des Mannes von Neu-Essing mit untersucht hat.
OT05 Uthmeier
Im Schnitt ist es so, dass die Jahresmitteltemperaturen bestimmt so zwischen sechs und acht Grad niedriger waren als die heutigen Jahresmittelwerte, mit auch während der Eiszeiten relativ milden Sommern, aber eine kurze Vegetationsperiode und sehr, sehr kalte Winter. Also im Schnitt Temperaturen von minus zwanzig bis minus zehn Grad.
ATMO Schritte auf Schnee / Wintersturm
Sprecherin
Die Temperaturen konnten aber auch auf Minus vierzig Grad fallen, Dauerfrost war angesagt. Und oft gab es Winterstürme. Klima-Archäologen rekonstruieren die Temperaturen der Vergangenheit über Eisbohrkerne, aus Grönland oder der Antarktis. Gigantische Bohrkerne von über 3 Kilometern Länge.
Musik 4
"Baud" - Album: Stator - Länge: 0'55
Sprecherin
Im Eis ist Staub eingeschlossen, außerdem Luft. Noch wichtiger: Sauerstoff, der im gefrorenen Eiszeitwasser konserviert ist. Er kann Chemikern etwas über die damalige Temperatur verraten. Je nachdem, wie viele Neutronen sich in den Sauerstoffatomen befinden. Ihre Anzahl schwankt je nach Außentemperatur. Außerdem geben Knochen-Funde Aufschluss über die eiszeitlichen Lebensbedingungen. Wissenschaftler nennen sie: „Umwelt-Archive“. Über die Knochen bestimmen die Archäologen die Tierarten und wann sie gelebt haben. Damit wissen sie, wovon sich die Menschen damals ernährt haben und bekommen auch eine Vorstellung von den Temperaturen.
07 OT Uthmeier
Hier sind es in der Regel Rentiere, zum Teil auch Pferde, die haben eine große Temperaturtoleranz, die weichen dann vielleicht auf andere Weidegebiete aus. Die können auch niedrigeren Temperaturen widerstehen.
Sprecherin
Kleinere Tiere wie bestimmte Maus- oder Nagerarten hingegen halten extreme Kälte nicht so gut aus. Auch Pflanzen verraten mehr über das Klima und über die Möglichkeiten der Menschen.
OT08 Uthmeier
Wir dürfen uns das nicht so vorstellen, dass das Wälder gewesen sind, sondern in aller Regel sind das so kleine buschartige Gewächse von Nadelgehölzen. Wir wissen, dass die Beschaffung von Brennholz wahrscheinlich eine relativ schwierige Aufgabe gewesen ist. Weil es durchaus Konstruktionen gibt, um mit dem Brennholz besonders ökonomisch umzugehen. Regelrechte Herdkonstruktionen, eine Steinsetzung, die man dann mit einer Steinplatte abgedeckt hat. Und auf diese Art und Weise hatte man eigentlich einen kleinen Ofen und konnte auf diese Weise mit der Erhitzung der Steine ganz ökonomisch mit dem Brennholz umgehen, und das waren meistens nur kleine Zweige.
Sprecherin
Das Eis der kilometerhohen Gletscher bedeckte vor 34.000 Jahren ganz Nordeuropa, aber auch das heutige Nord- und Ostdeutschland, sowie den untersten Zipfel Süddeutschlands. Bayern hingegen – der Lebensraum des Mannes von Neu-Essing - war größtenteils eisfrei. Die Gebiete des heutigen Bodensees, Ammersees, Starnberger Sees und Chiemsees lagen allerdings unter einer über ein Kilometer dicken Eisschicht. Die Landschaft weiter nördlich bestand aus üppigen Steppen, die im Sommer auch schnee- und eisfrei waren und in denen Jäger und Sammler ein gutes Nahrungsangebot finden konnten. Da viel Wasser in den Gletschern gespeichert war, war der Himmel recht wolkenfrei und hell, mit viel Sonnenschein.
OT09 Rosendahl
Damals waren die Tiergruppen, die in großen Herden vorhanden waren, das wichtige Lebenspotenzial.
Sprecherin
Professor Wilfried Rosendahl ist wissenschaftlicher Vorstand des „Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie“, das den „Mann von Neu-Essing“ neu durchleuchtet hat.
Musik 5
"In to the void" - Komponist: Bill Laswell - Album: Filmtracks 2000 - Länge: 0'37
Sprecherin
Weitläufige Gras-Steppen voller Kräuter und Blumen sind der Lebensraum für zahlreiche Herden von Wollhaar-Mammuts, Wild-Pferden, Riesenhirschen oder Moschusochsen. Aber auch für gefährlichere Tiere, die sich heute in Mitteleuropa nicht mehr wohl fühlen würden wie Flusspferde und Wollhaarnashörner; zottelige Höhlenbären, -Löwen, -Hyänen und Säbelzahntiger. Die Menschen zur letzten Kaltzeit hatten – trotz aller Gefahren – also einen reich gedeckten Tisch:
OT10 Rosendahl
Die können Wurzeln essen. Sie können im Herbst Nüsse essen, im Frühjahr Beeren. Sie können frische Blätter essen, aber das limitiert sich natürlich mit dem Vorhandensein von Vegetation. Aber im Frühjahr gibt es eben Pflanzensprösslinge, die sie essen können.
Sprecherin
Löwenzahnblätter, junge Fichtenspitzen. Heilende Kräuter wie Thymian oder Spitzwegerich, Birkenblätter. Als besondere Delikatesse gab es manchmal sogar Honig – und fischen konnten die Menschen vor 34.000 Jahren natürlich auch schon.
Atmo Eiszeit: peitschender Wind
Sprecherin
Der Winter konnte mit Stürmen recht ungemütlich und kalt werden, aber die Jäger und Sammler wussten sich zu helfen – mit Zeltkonstruktionen, Rückzug in Höhlen und natürlich: Feuer.
11 OT Rosendahl
Die Menschen konnten Leder gerben, sie konnten Kleidung herstellen, sie konnten nähen, sie haben Knochenwerkzeuge hergestellt, Steinwerkzeuge hergestellt. Sie haben aus Elfenbein Kunstwerke geschnitzt. Sie haben aus Knochen Flöten gemacht, sie haben sich wahrscheinlich geschminkt. Also sie hatten ein ganz, ganz buntes Leben. Um das tägliche Überleben zu sichern, mussten sie nicht acht Stunden am Tag arbeiten. Man muss sich bewusst machen: Es gibt Eiszeit-Kunstwerke in Südwestfrankreich, da sind in die Felswand hineingepickelt mit Steinwerkzeugen Pferde, die galoppieren über einen Meter Länge, drei, vier Pferde hintereinander. Das machen Sie nicht, wenn Sie täglich jede Sekunde irgendwie am Lebenslimit nagen und gucken müssen, dass Sie überleben, da ist auch Zeit für Muße, für Schönes und für Kreativität.
Sprecherin
Für die Jäger und Sammler vor zehntausenden von Jahren gab es mehr im Leben als nur das Überleben. Das Neu-Essing-Skelett wurde in einer Höhle gefunden, gut vier, fünf Meter unter der Erdoberfläche begraben. Eingefärbt mit Rötel.
12 OT Rosendahl
Also mit einem roten, pulverartigen Ton, das kann rituelle Bedeutung haben. Und wenn ich eine Bestattung habe, dann verrät mir das schon was, dann muss das mit einer Glaubensvorstellung verbunden sein. Dass es nach dem Tod noch was gibt, das zeigt schon mal wie intensiv auch das Gruppenleben war und wie die Gedankenwelt dieser Menschen war.
Sprecherin
Beim Fund von Neu-Essing handelt es sich um die älteste menschliche Bestattung, die Archäologen in Deutschland bislang finden konnten.
MUSIK 6
"Laghetto" - Album: Arlington: Music for Enda Walsh's Play - Komponist und Ausführender: Teho Teardo - Länge: 0'28
Sprecherin
Es ist deshalb ein so wichtiger Fund, weil er ein entscheidendes Puzzle-Teil mehr für die Forscher darstellt. 1913 wurde er von Archäologen ausgegraben – an einem vielschichtigen Fundort in der Nähe von Kelheim in Niederbayern, den inzwischen auch Thorsten Uthmeier mit seinem Team untersucht hat.
13 OT Uthmeier
Wenn man auf dem Kirchplatz in Neu-Essing steht, dann links sieht man den Felsen, wo die Sesselfelsgrotte ist. Da gibt es Fundschichten aus der Zeit der Neandertaler. Da gibt es zehntausende von Steinwerkzeugen. Es gibt die ganze Jagdbeute, es gibt Umweltdaten. Und dann gibt es aber auch Daten aus der Zeit der späteiszeitlichen Jäger und Sammler…
Sprecherin
Ein ganzer Höhlenkomplex. In der so genannten „Mittleren Klause“ war der „Mann von Neu-Essing“ bestattet.
Auch wenn der „Mann von Neu-Essing“ schon 1913 eine Sensation war, als er ausgegraben wurde – die wirkliche Dimension des Fundes ist erst in den letzten Jahren deutlich geworden.
Musik 6
"Baud" - Album: Stator - Länge: 0'28
Sprecherin
Ein großes, interdisziplinäres Archäologenteam beginnt, den Fund nach modernsten Standards zu untersuchen. George McGlynn von der Staatssammlung für Anthropologie und Paläoanatomie München schaut sich zunächst die Knochen an, vermisst sie und prüft ihren Zustand. Da gibt es die nächste Überraschung für die Forscher – die eine bis dahin gültige Annahme über die Eiszeit widerlegt:
15 OT McGlynn
Der Neu-Essinger ist interessanterweise kein großer, robuster, kräftiger Kerl, wie man es vielleicht erwarten würde bei solch widrigen Lebensumständen, allein die Kälte und die Wildtiere. Wir wissen, dass der frühere Mensch, der Homo Sapiens, in Europa und auch in Afrika, wo er herkommt, in Gruppen gelebt hat – er muss in Gruppen gelebt haben...
Sprecherin
Als Gruppe zu funktionieren war der entscheidende Vorteil des Homo sapiens in der Kältezeit.
16 OT McGlynn
Vielleicht 30 Personen, ist jetzt rein spekulativ, aber damit eine kleine Gruppe von Jägern und Sammlern überleben kann, muss es diese Anzahl betragen. Sie haben ganz sicher miteinander gejagt, miteinander gesammelt, einander verteidigt, füreinander gesorgt. Und genau diese Gruppendynamik muss existiert haben, um die Überlebenschancen zu sichern. Ein Einzelkämpfer in so einer Umgebung, das gab es einfach nicht.
Sprecherin
So konnte er auch mit gerade mal ein Meter sechzig und nicht besonders muskulös gesund alt werden. Wie ausgeprägt die Muskeln waren, kann George McGlynn an Veränderungen und Verfärbungen auf der Knochenoberfläche erkennen.
17 OT McGlynn
Unser Neu-Essinger Mann ist eigentlich ein kleiner, grazil gebauter Mann, er hat auch kaum irgendeine nennenswerte Knochenveränderung, was auf Gewalt oder Verletzungen hindeuten würde. Und ist aber trotzdem fast 50 Jahre alt geworden.
Sprecherin
George McGlynn schätzt sein Sterbealter, indem er sich anschaut, wie sehr die Backenzähne und Beckengelenke abgenutzt sind. Demnach ist der Mann von Neu-Essing mit zirka 50 Jahren deutlicher älter geworden als Forscher das bislang für Menschen aus der Eiszeit angenommen haben – mit einem Durchschnittsalter von 30 bis 35 Jahren. Knochen und Zähne des Neu-Essingers sehen mustergültig aus, stellt Archäologe George McGlynn fest.
18 OT McGlynn
Er hatte auch keine so genannten physiologischen Stressmarker. Zum Beispiel, wenn im Kindesalter, wenn sich der Zahnschmelz vom Dauergebiss entwickelt, lang anhaltende Fieber oder Unterernährung oder schwere physiologische Stresse leiden, unterbricht der Körper den Entwicklungsprozess. Und das führt zu einer Verzögerung von dieser Bildung von Zahnschmelz. Diese Verzögerung führt dazu, dass man wellenartige Linien an den Zähnen sieht. Das ist ein Beispiel.
MUSIK 7
"Baud" - Album: Stator - Länge: 0'40
Sprecherin
George McGlynn konnte noch mehr herausfinden: Wo der Mann von Neu-Essing unterwegs war. Mit der so genannten Stronziumanalyse. In Knochen ist unter anderem auch Stronzium enthalten. Je nachdem, welche Nahrung ein Mensch zu sich nimmt, auf welchem Boden die Pflanzen gewachsen sind, die er isst, oder welche Luft er atmet, welche Temperaturen ihn umgeben haben, lagern sich andere Varianten der Elemente im menschlichen Körper ab – auch in Knochen und Zähnen, die Archäologen zehntausende Jahre später noch finden können. Diese chemische Varianz macht sich die Archäologie zu nutze.
19 OT McGlynn
Ich stamme persönlich aus den USA, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Das hat sich in meinen Knochen und meinen Zähnen verfestigt als Baustein und in den Zähnen, was Zahnschmelz wird. Diese werden nicht abgebaut, sie verändern sich nicht, sie sind praktisch amerikanische Zähne. Aber meine Knochen, die bauen sich ständig um. Jeden Tag, jede Minute. Binnen zehn Jahren sind alle Baustoffe in einem Knochen komplett ausgetauscht. Ich habe keine Spur von amerikanischen Knochen in mir. Wenn man meine Zähne und Knochen vergleichen würde auf chemischer Ebene, würde man sofort sehen: Dieser Mensch ist woanders geboren und aufgewachsen als wo er jetzt ist.
Sprecherin:
Archäologen können feststellen, in welcher Gegend ein Mensch gelebt haben muss, indem sie die chemischen Signaturen seiner Zähne und Knochen vergleichen mit Funden aus verschiedenen Regionen. Und wenn die chemische Signatur von Zähnen und Knochen gleich ist, wie beim Mann von Neu-Essing, wissen sie: Er ist zeitlebens in einer ähnlichen Gegend geblieben.
20 OT McGlynn
Allerdings heißt es nicht, dass er sich nicht bewegt hat. Jäger und Sammler haben sich mit den Saisonen sehr stark bewegt, an die Kältezeit, Wärmezeit, sie haben sich auch an die Herden angepasst, an die Bewegung von Tieren.
Sprecherin
Auch wissen die Forscherinnen und Forscher mehr über seinen Speiseplan. Durch die Isotopen-Analyse. Dabei werden erneut chemische Elemente in den Knochen untersucht. Wie zum Beispiel Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff. Sie unterscheiden sich voneinander durch die Anzahl der Neutronen. Diese Varianten eines Elements heißen Isotope.
21 OT McGlynn
Für Ernährung ist es wichtig, eine Isotopie-Karte von der Gegend zu machen. Das heißt, wir nehmen Pflanzen, Tiere, Erdproben, Knochenfunde aus der Zeit. Und wir untersuchen diese zuerst und kriegen für Kohlenstoff eine gewisse so genannte Signatur, was für Wollnashorn, für Mammut, für alle Rothirsche, für Gräser oder Baumrinde spezifisch ist.
Sprecherin
Die Isotopenwerte haben beim Mann von Neu-Essing ergeben, dass er eine Allround-Ernährung hatte: Er nahm Großwild wie Mammuts und Riesenhirsche genauso zu sich wie Hasen oder Eichhörnchen. Auch Schnecken, Raupen, Frösche, Beeren, Gräser, Kräuter und Fisch.
Musik 8
"Laghetto" - Album: Arlington: Music for Enda Walsh's Play - Komponist und Ausführender: Teho Teardo - Länge: 1'15
Sprecherin
Doch wer war der „Mann von Neu-Essing“? Darauf gibt die Genetik Antwort.
22 OT McGlynn
Die übliche Darstellung von Jägern und Sammlern aus dieser Zeit weicht sehr stark ab phänotypisch, wie er ausgesehen hat, von dem, was wir gefunden haben durch die molekulargenetischen Untersuchungen, die in Mainz von meinem Kollegen Burger und Team durchgeführt wurden. Diese Methoden gibt es erst seit vielleicht einem Jahrzehnt. Sein Aussehen ist mit bis zu 98, 99 Prozent dunkelhaarig, mit dunklen Augen, aber auch dunkler Hautfarbe, und die übliche Darstellung von den nordisch ausschauenden Menschen stimmt einfach nicht. Wir sehen, dass diese Wanderung aus der so genannten out of Africa-Theorie mit hundertprozentiger Sicherheit auch zutrifft. Diese Homo-Sapiens-Gruppen sind vor etwa 50.000 Jahren aus Afrika in zwei Wellen nach Europa ausgebreitet.
Sprecherin:
Auch die Vorstellung, davon, wie „Ötzi“ ausgesehen hat, ist übrigens erst 2023 durch die Gen-Analyse korrigiert worden: Auch die berühmte Gletschermumie aus den Südtiroler Alpen hatte dunkle Haut, dunkle Augen, dunkle Haare. Und Ötzi ist rund 30.000 Jahre jünger als der „Mann von Neu-Essing“. Die dunkle Hautfarbe der ersten Menschen in Europa hat sich also viel länger gehalten als bislang angenommen. Auch die Darstellung des Ötzi im Museum muss jetzt korrigiert werden. Dort steht immer noch eine Gestalt mit heller Haut. Die ersten Europäer – sie waren auf jeden Fall dunkelhäutig.
MUSIK 9
"Laghetto" - Album: Arlington: Music for Enda Walsh's Play - Komponist und Ausführender: Teho Teardo - Länge: 0'10
Sprecherin:
Und auf die Archäologinnen und Archäologen warten noch weitere Überraschungen.
Jetzt hat ein Forscherteam von 125 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die bislang umfangreichste Genom-Analyse eiszeitlicher Jäger und Sammler in Europa begonnen: 116 Individuen, die eine Zeitspanne von rund 30.000 Jahren abdecken. Professor Cosimo Posth ist Paläogenetiker an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen und leitet das Projekt. Ihn hat erstaunt, dass die eiszeitlichen Homo Sapiens genetisch längst nicht so einheitlich waren wie bislang angenommen. Es gab ihn nicht: DEN Eiszeit-Menschen. Besonders drastisch zeigt sich das an einem Beispiel. Lange haben sich Archäologen gefragt: Was ist eigentlich mit den ersten Menschen in Europa passiert, als sich die Eispanzer von Norden her weiter ausgebreitet haben, vor 25.000 bis 19.000 Jahren? Als viele Gebiete, auch im heutigen Bayern, unbewohnbar wurden? Eine Theorie war: Sie gingen ins heutige Italien. Das hat sich zwar bewahrheitet. Doch was dann geschehen ist, damit hatte Cosimo Posth nicht gerechnet: Die komplette Bevölkerung starb aus. Die Menschen, die danach im heutigen Italien lebten und nachweisbar zu unseren Vorfahren gehören, haben genetisch nichts mit den aus dem Norden zugewanderten Eiszeitmenschen zu tun.
24 OT Cosimo Posth
Wo ist der Ursprung der Population, die uns mehr als zehn Prozent der DNA gegeben hat?
MUSIK 10
"Laghetto" - Album: Arlington: Music for Enda Walsh's Play - Komponist und Ausführender: Teho Teardo - Länge: 0'28
Sprecherin:
Die Spurensuche geht weiter für die Archäologinnen und Archäologen. Sicher ist: Eiszeitmenschen gehören zu unseren Vorfahren, doch wie sich das genetisch darstellt, stellt sich heute komplexer dar, als jemals zuvor.
Sie sind possierlich, flink und unglaublich fruchtbar. Das müssen sie auch, bedenkt man, wer ihnen alles nachstellt - und: Sie sind nicht überall gern gesehen. Über 40 Mäusearten gibt es weltweit. Autorin: Renate Kiesewetter (BR 2014)
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Kiesewetter
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann, Stefan Wilkening
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Walter Bäumler, Zoologe, Mäuseforscher, Ludwig-Maximilians-Universität München.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK: C1432360 007 (00‘30‘‘)
Zitator:
"Ach", sagte die Maus, "die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe." – "Du mußt nur die Laufrichtung ändern", sagte die Katze und fraß sie.
MUSIK ENDE
Sprecherin:
Die Kleine Fabel von Franz Kafka. Der Schriftsteller hatte zeit seines Lebens Angst vor Mäusen. Und damit war und ist er nicht alleine. Denn Mäuse und Menschen haben seit jeher ein gespaltenes Verhältnis. So beschreibt Francesco Santoianni in seinem Buch "Von Menschen und Mäusen" den Jahrhunderte währenden Kampf gegen die Nagetiere als eindeutige Niederlage des Menschen. Zahlreiche Bekämpfungsarten hat sich der Mensch einfallen lassen, doch es gibt sie immer noch, trotz Katzen, Mausefallen, Gift oder ausräuchern. Und die menschliche Fantasie bringt nach Francesco Santoianni immer wieder neue Horrorszenarien hervor:
MUSIK: M0024267 000 (00‘45‘‘)
Zitator:
Überernährt von den Abfällen einer auf Verschwendung gegründeten Gesellschaft, geschützt in relativ warmen und endlosen Kanalisationssystemen, haben sich Mäuse und Ratten im Herzen sämtlicher Metropolen breitgemacht. Fünfzehn Millionen in Rom, fünfundzwanzig Millionen in New York, zehn Millionen in Neapel ... diese Zahlen tauchen regelmäßig in den Massenmedien auf und nähren atavistische Ängste und Vorstellungen von einem dunklen, bedrohlichen Heer, das nur darauf wartet, alles zu verschlingen und zu zerstören.
MUSIK ENDE
Sprecherin:
'Mus musculus', die Hausmaus … 'so ein kleines putziges Tier', möchte man fast sagen. Der "schlimmste Freund des Menschen", wie Francesco Santoianni die Maus nennt, hatte zumindest in dem berühmten Tierforscher Alfred Edmund Brehm einen Fürsprecher. Seine Beobachtungen aus dem 19. Jahrhundert über die verschiedenen Mäusearten sind anregend und wohlwollend. Aber auch er weiß um die schwierige Beziehung zwischen "heißhungrigen" Mäusen und Menschen:
Zitator:
Die anmutigen und zierlichen Mause sind trotz ihrer schmucken Gestalt und ihres heiteren und guten Wesens arge Feinde des Menschen und werden von ihm mit Ingrimm verfolgt (…) Man kann sich schwerlich ein naschhafteres Geschöpf denken als eine Hausmaus, welche über eine gut gespickte Speisekammer verfügen kann. Sie beweist auf das schlagendste, daß der Sinn des Geschmackes bei ihr vortrefflich entwickelt ist.
Sprecher:
Den ungebetenen nagenden Gästen in Speisekammern, Dachböden und Kellern sei nur das Beste gut genug. Kein Hindernis sei zu groß, kein Winkel zu abgelegen, kein Material zu hart, so Alfred Brehm:
Zitator:
Wo sie etwas Genießbares wittert, weiß sie sich einen Zugang zu verschaffen, und es kommt ihr nicht eben darauf an, mehrere Nächte angestrengt zu arbeiten und selbst feste, starke Türen zu durchnagen. Findet sie viel Nahrung, welche ihr besonders mundet, so trägt sie sich auch noch einen Vorrat davon in ihre Schlupfwinkel und sammelt mit der Hast eines Geizigen an der Vermehrung ihrer Schätze.
MUSIK: Z9383695 016 (00‘55‘‘)
Sprecherin:
Die Hausmaus - bis zu 11 Zentimeter lang mit einem schuppenartigen Schwanz so lang wie der ganze Körper, gerade 20-30 Gramm schwer. "Maus"-grauer oder braungrauer, gedrungener Körper, große Knopfaugen. Spitzes Gesicht. Besonders gut sehen können Hausmäuse und auch andere Mäuse nicht. Viele Arten leben unterirdisch in selbst gebuddelten Höhlengängen, sind nachtaktiv. Ihr Gehör ist deutlich besser ausgestattet, vor allem auch im Ultraschallbereich. Dabei können die Tiere noch Töne von 40.000 Hertz wahrnehmen. Am besten entwickelt aber ist ihr Geruchssinn. In Experimenten fanden Mäuseforscher heraus: Sogar die Geschlechtsreife kann durch Duftstoffe beschleunigt oder verlangsamt werden.
MUSIK ENDE
Sprecher:
Am Geruch erkennen die Tiere auch, ob eine andere Maus zur eigenen Gruppe gehört. Bis zu sechs Stunden lang speichern sie diesen Geruch, danach sind sie einander fremd. Betritt eine fremde Maus das Territorium und fällt bei der Geruchskontrolle durch, gehört sie also nicht zum eigenen Clan, gibt’s Randale und nicht selten einen erbitterten Kampf auf Leben und Tod. Wie aggressiv gerade Feldmäuse dabei vorgehen, veranschaulicht der Münchner Zoologe und Mäuseforscher Dr. Walter Bäumler:
O-Ton Walter Bäumler:
Da gibt es also ein Männchen, und es hat so einen Harem, wenn die Wiesen abgemäht sind im Herbst, sieht man, da ist immer wieder eine Kolonie, also alle 30 Meter sind viele Mauselöcher, da leben mehrere Weibchen, und ein Boss. Der markiert die ganze Kolonie als sein Territorium, und wenn da ein fremdes Männchen kommt, wird es sofort angegriffen. In so einer Wiese fängt man jede Menge schwer verwundete Männchen, die also fürchterliche Narben haben.
Sprecher:
Auch dafür kommen die Nagezähne zum Einsatz. Überhaupt: das Gebiss von Mäusen. … Alle Mäuse, egal ob Hausmaus, Ährenmaus, Schermaus, Feldmaus oder Rötelmaus … haben ein hoch spezialisiertes Gebiss:
O-Ton Walter Bäumler:
Also die zwei namengebenden Nagezähne, mit der starken Schmelzauflage, auf der Vorderseite, die des ermöglichen, dass die Mäuse auch sehr hartes Material, zerlegen können, Aluminium ist kein Problem, dass die sich da durchnagen. Sie können sich durch Stahldrähte, die 2, 3 Millimeter dick ist, können Sie durchnagen. Man kann sie praktisch nur in Glasbehältern halten, sonst büchsen sie aus, nagen sie sich durch.
MUSIK: C1506550 010 (01‘30‘‘)
Sprecherin:
Mäuse bevölkern die Erde seit dem Aussterben der Dinosaurier vor ca. 60 Millionen Jahren. Doch wann und wo wurden sie zum Kulturfolger des Menschen? Das datieren Forscher auf einen Zeitpunkt vor 23 Millionen Jahren, rund ums Kaspische Meer, heutiges russisches Westasien. Ursprünglich folgten die kleinen Nagetiere den Nomaden auf der Suche nach Nahrungsresten. Francesco Santoianni beschreibt in seinem Buch "Von Menschen und Mäusen" die Herkunft und die frühen Wanderrouten der Hausmaus:
Zitator:
Ein Gebiet, das das heutige Kasachstan, Turkmenistan und den Iran umfasst, wurde als die Heimat von Mus musculus identifiziert, von der aus ihr Triumphmarsch begann, der in zwei deutlich erkennbaren Richtungen verlief: eine kontinental (zentraleuropäisch) verlaufende und eine auf die Mittelmeerregionen zielende.
Sprecherin:
Andere Quellen nennen Indien als Ursprungsland. Zumindest sollen Knochenfunde beweisen, dass 4.000 vor Christus die ersten Mäuse in Mitteleuropa ankamen. Als blinde Passagiere folgten sie den Menschen. Auf allen Handelswegen, auf der Seidenstraße, auf den Seefahrten nach Indien, nach Amerika. In den letzten 1.000 Jahren besiedelten sie auf diese Weise dann auch Afrika, Amerika und Australien.
MUSIK: CD701250 003 (00‘50‘‘)
Sprecher:
Die enge Bindung an den Menschen wurde immer wieder in Mythologie, Literatur, Religion und Kunst abgebildet: Dabei findet man Mäuse sowohl als verehrungswürdiges als auch verabscheuungswürdiges Sinnbild. Verehrt hat man sie besonders in fernöstlichen Mythologien. Als Begleiter von Daikoku, dem japanischen Gott des Reichtums, wird eine Maus "prächtig geschmückt" dargestellt. Auch in Sibirien gilt sie als Symbol des Wohlstands. Und in der indischen Provinz Rajasthan werden - wohl einzigartig in der Welt - noch heute Mäuse und Ratten verehrt und geschützt: Im Tempel von Deshnoke, geweiht der Göttin der Sänger und der Mäuse, werden sie reichlich gefüttert.
MUSIK ENDE
Sprecherin:
Auch in den griechischen Tempeln von Apollo Smintheus, dem Gott der Mäuse, hat man die kleinen Nagetiere jahrhundertlang verehrt und sogar gezüchtet. Gingen daraus weiße Mäuse hervor, galt das als Zeichen für kommenden Wohlstand. Über solchen unsinnigen Mäuseaberglauben war der römische Politiker und Schriftsteller Cicero entsetzt: Nähme man das ernst, müsse man um die "Sicherheit der römischen Republik" fürchten, wetterte er. Schließlich hätten Mäuse bei ihm zuhause seine Schrift über den Staat angeknabbert - ebenso wie Epikurs Buch Über die Lebensfreude. Nicht nur Ciceros Ausgabe des griechischen Philosophen fiel der Nagelust zum Opfer, auch alle anderen Schriften waren nicht sicher vor den unermüdlichen Schneidezähnen der Mäuse. Der französische Autor Michel Dansel erkundete in seinem Buch "Nos frères, les rats" ("Unsere Brüder, die Ratten") die Symbolik der Nagetiere und schreibt über ihr Werden und Vergehen:
Zitator:
Die Geschichte der Mäuse ist so eng mit der der Menschheit verbunden, dass sie vielleicht sogar all deren Facetten abdecken kann, die dunklen und die hellen Seiten. Sie kann uns zur Erkenntnis erhabener Wahrheiten inspirieren, uns aber gleichzeitig unser traurigstes und demütigendstes Spiegelbild entgegenhalten: das eines Tieres, das dazu bestimmt ist, zu verschwinden und sich vergeblich durch Dinge und Aufzeichnungen verewigen will, die jedoch selbst vom Zahn der Zeit zernagt werden wie Buchseiten von den Zähnen der Mäuse.
Sprecher:
Sigmund Freud brachte noch eine andere Sicht ins Spiel. Er betont das Schützenswerte eines kleinen Wesens, einer geliebten Person, eines Kindes. Und bedenken wir nicht oft unsere Lieben mit Kosenamen wie "Maus, Mausi, Mäuschen"? (MUSIK: E0007900 104 [00‘15‘‘]) Klein aber schlau wappnet sich auch Micky Mouse, die berühmteste Comic-Maus, gegen ihre riesigen Feinde.
MUSIK ENDE
Sprecherin:
In der biblischen und christlichen Symbolik stehen die Mäuse für die Seele, den Teufel, die Zerstörung, für Sünde und ungezügelte Sexualität. Sie wurden etwa von der katholischen Kirche gerne als Sinnbild für alles Heidnische verwendet, das in Form der Mäuse die christlichen Hostien annagt. Arme verfolgte Nager – ein katholischer Bischof hat sie sogar exkommuniziert. Und es wurden Heilige gegen Mäuseplagen angerufen – wie die Heilige Gertrud. Sie hatte schließlich als Spinnerin die Mäuse von ihrem Spinnrocken vertrieben. Möglicherweise diente diese Geschichte als Vorlage zur Redensart:
Zitator:
Da beißt die Maus kein` Faden ab. …
MUSIK: G0030590 006 (00‘20‘‘)
Sprecher:
Schon im Mittelalter gab es professionelle Mäusefänger. Daran erinnert die Sage vom Rattenfänger in Hameln, der mit seiner Flöte alle Mäuse und Ratten aus ihren Löchern hervorlockte und sie so aus der Stadt hinauslotste.
MUSIK ENDE
Sprecherin:
Schließlich konnten die Nager sich so zahlreich vermehren, dass sie durch die Vernichtung der Ernten oder der Lebensmittel-Vorräte existenzbedrohend wurden. Nur: Wie sollte man ihrer Herr werden? Nachts mit dem Dreschflegel auf die Jagd gehen? Eine antike griechische Anweisung für Bauern riet:
Zitator:
Nimm ein Stück Papier und schreib darauf folgendes: "Ich beschwöre euch, ihr Mäuse, die ihr hier anwesend seid, daß ihr weder mir schadet noch duldet, daß eine andere Maus dies tut. (…) Stecke das Papier auf einen unbehauenen Stein auf dem Felde vor Sonnenaufgang. Sieh zu, daß die beschriebene Seite nach oben zu liegen kommt.
Sprecher:
Eher unwahrscheinlich, dass diese Maßnahme erfolgreich war! … Mäuse ernähren sich als nachtaktive Allesfresser von Wurzeln, Blättern, Samen, Pflanzenstängeln, Obst, Gemüse und Gräsern. Mäuse sind flinke Läufer, manche können auch hervorragend klettern. Andere, wie die Hausmaus, können sehr gut schwimmen. Mäuse kommen also in der Regel überall hin. Dabei sind die kleinen Kulturfolger bei ihren Nahrungsraubzügen auch noch wählerisch, sie bevorzugen eindeutig die kulinarische Vielfalt und Abwechslung. Walter Bäumler:
O-Ton Walter Bäumler:
Früher hat man zum Beispiel Marmelade eingemacht, und hat nur so Zellophanpapier drüber geklebt, wenn da eine Hausmaus drin war, dann hat die das erste Marmeladeglas aufgenagt oben, des Zellophanpapier, bisschen Marmelade herausgenommen, dann ans zweite, dann ans dritte, bis alle geöffnet waren, und dann hat sie wieder beim ersten weitergemacht, so dass man alle Marmeladegläser, obwohl die noch voll waren, ja, vergessen konnte, das konnte man wegwerfen.
Sprecherin:
Denn die Mäuse fressen nicht nur Lebensmittel, sie verunreinigen diese zusätzlich mit ihren Ausscheidungen. Dabei können sie gar nicht anders als möglichst viel zu fressen: Erstaunlicherweise ist der Nahrungsbedarf der Mäuse so groß, weil sie so klein sind:
O-Ton Walter Bäumler:
Da gibt es eine allgemeine bioenergetische Grundregel: Je kleiner ein Tier ist, desto mehr Nahrung benötigt es im Verhältnis zu seinem Gewicht. Eine Maus braucht pro 100 Gramm Mäusegewicht, braucht sieben Mal mehr Kalorien – oder Joule sagt man – wie ein Tier in der Größe eines Menschen.
MUSIK: C1560350 W01 (00‘30‘‘)
Sprecher:
Mäuse vermehren sich rasant: Die Hausmaus zum Beispiel ist das ganze Jahr über fortpflanzungsfähig. Ein Wurf hat zwischen drei und acht Junge, bei bis zu acht Würfen im Jahr macht das die stattliche Zahl von 64 Jungtieren - wohlgemerkt in einem Jahr! Nach nur sechs Wochen sind diese selbst wieder geschlechtsreif, mit einer Tragezeit von drei Wochen.
MUSIK ENDE
Zitator:
Die Mutter schlägt ihr Wochenbett in jedem Winkel auf, welcher ihr eine weiche Unterlage bietet und einigermaßen Sicherheit gewährt. Nicht selten findet man das Nest in ausgehöhltem Brode, in Kohlrüben, Taschen, Todtenköpfen, ja selbst in Mausefallen. Gewöhnlich ist es aus Stroh, Heu, Papier, Federn und anderen weichen Stoffen sorgfältig zusammengeschleppt.
Sprecherin:
Aus Brehm's Thierleben.
Sprecher:
Äußerst geschickt und kunstvoll bastelt zum Beispiel die Ährenmaus das Nest für ihren Nachwuchs. Fast als häkele, stricke und flicke sie unentwegt mit den Grashalmen. Bei uns heimisch in den Getreidefeldern und Forstkulturen des Donauraums bietet sie dem Betrachter ein interessantes Schauspiel. Walter Bäumler:
O-Ton Walter Bäumler:
Die turnt also sehr geschickt und – ja – fast artistisch durch die Grashalme, die hat dort also die Grashalme oben, und hat so einen Greifschwanz, den wickelt sie um die Grashalme durch, lässt sich dann oft auch – ja – hängen, oder wie als Anker, und hangelt sich dann von einem Grashalm zum nächsten. Und das ist eigentlich sehr interessant, das zu sehen, ja, manchmal richtig lustig, wenn die da kopfüber an denGrashalmen hängt.
Sprecherin:
Das kunstvolle Nest der Ährenmaus ist in der Welt der Mäuse eine besondere Kinderstube. Wie bei den Hausmäusen kommen die Jungen blind, taub und nackt zur Welt, bei ihrer Geburt wiegen sie weniger als ein Gramm. Nun werden sie 21 Tage von der Mäusemutter mit Milch gesäugt, stets zärtlich und fürsorglich gepflegt. Bei einigen Arten übernimmt sogar eine andere Muttermaus die Pflege, falls die eigene ums Leben kommt. Alfred Brehm beschrieb den sorgsamen Umgang einer Mäusemutter mit ihren Jungen so:
Zitator:
Bei jeder Bewegung der Mutter ließen sie ein feines, durchdringendes Piepen oder Quietschen hören. (…) Am 18. abends kamen sie zum ersten Male zum Vorschein; als aber die Mutter bemerkte, daß sie beobachtet wurden, nahm sie eine nach der anderen ins Maul und schleppte sie in das Nest. Einzelne kamen jedoch wieder aus einem anderen Loche hervor. Allerliebste Tierchen von der Größe der Zwergmäuse mit ungefähr 3 Zoll langen Schwänzen! (…) Sie saugten noch dann und wann (…), spielten miteinander, jagten und balgten sich auf die gewandteste und unterhaltendste Weise, setzten sich auch wohl zur Abwechslung auf den Rücken der Mutter und ließen sich von derselben herumtragen.
Sprecher:
Der Spieltrieb ist den Mäusen angeboren. Im Spiel werden die Mäusekinder für die Anpassung an die Umwelt trainiert. Und noch etwas - und das haben sie mit den Menschen gemein - zeichnet die kleinen Nager aus: die Neugier. Sie erobern sich nagend ihre Umgebung, nichts bleibt vor ihren Zähnen sicher. Und sie lernen dabei.
MUSIK: C1352870 113 (00‘25‘‘)
Sprecherin:
Dieses Neugier-Verhalten der Maus könnte, neben ihrem possierlichen Aussehen, der Grund dafür sein, warum sie zur Vorlage für die beliebte ARD-Fernsehmaus wurde. Seit Jahrzehnten begeistert die sonntags Kinder und Erwachsene mit ihren "Lach- und Sachgeschichten".
MUSIK: NC015960 036 (01‘10‘‘)
Sprecher:
Seit die echten, biologischen Mäuse dem Homo sapiens folgen, übertragen sie auch immer wieder Krankheiten auf den Menschen. Über Jahrhunderte hinweg gefürchtet war der "Schwarze Tod", die Pest, die unzählige Menschen dahinraffte. Doch auch die Überträger selbst, vor allem Ratten aber auch Mäuse, verendeten in Scharen bei Ausbruch von Seuchen, wie Albert Camus in seinem Roman "Die Pest" dramatisch beschrieb:
Zitator:
Aus den Verschlägen, den Untergeschossen, den Kellern, den Kloaken stiegen sie in langen, wankenden Reihen hervor, taumelten im Licht, drehten sich um sich selber und verendeten in der Nähe der Menschen. Nachts hörte man in den Gängen und den engen Gassen deutlich ihren leisen Todesschrei. Am Morgen fand man sie in den Straßengräben der Vorstädte ausgestreckt, ein bißchen Blut auf der spitzen Schnauze, die einen aufgedunsen und faulig, die anderen steif, mit gesträubten Schnauzhaaren.
MUSIK ENDE
Sprecherin:
Seit Ende des 19. Jahrhunderts weiß man: Die Pest ist eine Infektionskrankheit, verursacht durch das Bakterium Yersinia pestis. Überträger des gefürchteten Erregers sind nicht die Nager direkt, sondern deren Flöhe, die den Bazillus von infizierten Tieren durch Stiche in die Haut auch auf den Menschen übertragen.
Sprecher:
Katastrophen wie die mittelalterlichen Pestepidemien konnten moderne Naturwissenschaft und Medizin eindämmen. Aber auch heute noch können Mäuse und Ratten mit ihrem Urin und Kot Salmonellen oder Virus- und Bakterienerkrankungen beim Menschen auslösen – etwa die Weil‘sche Krankheit, eine Leberkrankheit. Behandelt wird sie mit hochdosierten Antibiotika. In unseren Breiten überträgt die Rötelmaus so genannte 'Hantaviren'. Diese Viren werden auch durch die Ausscheidungen der Maus übertragen. Walter Bäumler:
O-Ton Walter Bäumler:
Typischer Fall ist, jemand räumt sein Gartenhaus auf, da waren Mäuse drin, da ist‘s natürlich recht schmutzig drin, da hat sich einiges angesammelt, man kehrt oder fegt es aus und atmet den Staub ein und infiziert sich damit.
Sprecher:
Die ersten Symptome sind hohes Fieber und heftige Nierenschmerzen. Die Erkrankung ist meldepflichtig und kann durch Labortests nachgewiesen werden. Selten verläuft sie tödlich. Ein Impfstoff ist in der Entwicklung.
MUSIK: M0010586 004 (00‘15‘‘)
Sprecherin:
Mäuse fressen viel, weil sie klein sind. Und sie vermehren sich so zahlreich, weil sie keine lange Lebensdauer haben. Der Zoologe Walter Bäumler:
MUSIK ENDE
O-Ton Walter Bäumler:
Die Lebenszeit der kleinen Säugetiere ist allgemein sehr kurz, erstaunlich kurz. Eine Maus hier, eine einheimische, die erreicht hier kaum das zweite Lebensjahr.
Sprecherin:
Ein Grund für diese kurze Lebensdauer sind der beschleunigte Stoffwechsel und die erhöhte Atemfrequenz der kleinen Nager. Dadurch altern die Tiere auffallend schneller.
Sprecher:
Die meisten Mäuse aber sterben nicht eines natürlichen Todes, sie fallen ihren zahlreichen natürlichen Feinden zum Opfer:
Sprecherin:
Mäusebussard
Sprecher:
Raubfußbussard
Sprecherin:
Schlangen
Sprecher:
Waldeule
Sprecherin:
Schleiereule
Sprecher:
Füchse
Sprecherin:
Steinmarder
Sprecher:
Wiesel
Sprecherin:
Katzen
Sprecher:
Und schließlich der Mensch mit seinen zahlreichen Methoden der Mäusebekämpfung. Aus den Häusern ist die Hausmaus weitgehend vertrieben: Altbauten werden saniert, Neubauten sind weitgehend mäusesicher, Schlupflöcher und Ritzen sind rar geworden. Auch an Kühlschränke und fest geschlossene Dosen in Speisekammern kommen die kleinen Feinschmecker nicht mehr so leicht heran.
Sprecherin:
Wenn spätabends eine Maus über die Gartenterrasse huscht und schnell wieder im Beet verschwindet, dann ist es wohl eher die Feldmaus. Sie ist größer, an die Umwelt besser angepasst und deswegen durchsetzungsfähiger. Hausmäuse sind eher selten geworden, meint Walter Bäumler:
O-Ton Walter Bäumler:
Allerdings einige Refugien hat sie noch behalten, wie die U-Bahn Schächte in München, da ist sie wieder aufgetaucht, aber ansonsten ist sie in den Räumen, in den Wohnungen und Gebäuden also kaum noch anzutreffen. Ich vermute ja, dass die alten Kellergewölbe mit Erdkontakt nicht mehr vorhanden sind, aber in so einem U-Bahn Schacht, da ist der Kontakt zur Erde noch da, und dass dast vielleicht der Grund ist, warum die sich das so zäh halten drin - sehr schwer zu beseitigen sind.
Die Schleiereule ist ein Zivilisationsfolger, der weltweit verbreitet ist und beim Menschen viele, auch widersprüchliche Assoziationen auslöst: Sie gilt als Todesbotin ebenso wie als Schutztier. Ihr lautloser Flug und ihre ausgetüftelte Technik machen sie zu einer sehr erfolgreichen Jägerin. Im Israel-Gaza-Konflikt wurde sie zudem von Schweizer Wissenschaftlern bislang als Friedensbotin eingesetzt: Autorin: Brigitte Kramer
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Schild, Stefan Merki
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Werner Hellwig, ehrenamtlicher Eulenbeauftragter beim Landesbund für Vogel-und Naturschutz, Coburg;
Bernd-Ulrich Rudolph, Leiter der Vogelschutzwarte, Bayerisches Landesamt für Umwelt, Augsburg;
Alexandre Roulin, Schleiereulenexperte Universität Lausanne;
Carmen Pöhl, Freiwillige beim Verein Landschaftsschützer Oberschwaben-Allgäu, Bad Wurzach
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Weiterführende Literatur:
Webseite von Alexandre Roulin mit Forschungsergebnissen und Informationen zum Projekt Owls for Peace im Nahen Osten:
EXTERNER LINK | https://barnowl-research.ch/en
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO 1 Eulen Ruf
SPRECHERIN darüber
So klingt eine verärgerte Schleiereule, die sich bedroht fühlt, wenn jemand den Nistkasten aufmacht - zum Beispiel, um den Nachwuchs zu zählen.
ATMO 1 Eulen Ruf kurz hoch, dann weg
O TON 1 Werner Hellwig, Eulenbeauftragter Landesbund für Vogel- und Naturschutz, Coburg
man merkt schon, sobald man die Scheune betritt, fliegt oftmals die Alteule ab, was nicht weiter tragisch ist, denn sie kommt dann wieder zurück zu ihren jungen Tieren. Die Jungvögel sitzen meist noch irgendwo…So drei, vier, fünf Jungvögel und wie sie dann von denen angeschaut werden – ist schon faszinierend.
ATMO 1 Eulen Ruf kurz hoch, dann weg
SPRECHERIN
Der pensionierte Maschinenbauingenieur Werner Hellwig hat viele Stunden seines Lebens im Büro verbracht. Jetzt ist er ehrenamtlicher Eulenbeauftragter des Landesbundes für Vogel- und Naturschutz im Landkreis Coburg und ist viel draußen. Er wollte „etwas für die Natur“ tun und helfen, damit auch seine zehn Enkel später noch Schleiereulen-Küken in die Augen schauen können.
MUSIK Left behind Z8037642108 (Länge: 1´22´´) unter:
SPRECHERIN darüber
Schleiereulen faszinieren viele Menschen. Sie sind schön. Sie sind still. Sie leben in unserer Nähe. Und sie sind ungewöhnlich – denn wer kennt sonst noch ein nachtaktives Tier, das mehrheitlich weiß ist? Nein, das ist kein Fehler der Natur, das ist Raffinesse. Mehr dazu später.
ATMO 1 Eulen Ruf kurz hoch, dann weg
SPRECHERIN darüber
Schleiereulen – Tyto alba und Tyto guttata, je nach Gefiederfarbe – leben fast überall auf der Erde, außer in kalten, schneebedeckten Regionen, in Gebirgen und ausgedehnten Waldgebieten. Es gibt rund 30 Unterarten: Mediterrane Schleiereule, Madagaskar-Schleiereule, Australien-Schleiereule, Galapagos-Schleiereule, Guinea-Schleiereule … Sie alle haben eine recht große Spannweite von rund einem Meter und brauchen deshalb weite, offene Flächen zum Jagen, idealerweise mit Hecken, Gräben oder Zäunen. Das Besondere an ihnen ist das herzförmig eingerahmte, helle Gesicht mit dunklen, für Eulen recht kleinen Augen.
M Missing fragments (Länge: 2´00´´) Z8035579110
SPRECHERIN
Sie haben keine Federohren wir ihre Verwandten, die Waldohreule oder der Uhu. Diese Federohren sind auch keine Ohren, sondern nur aufgestellte Federn, die vermutlich der Kommunikation dienen. Ohren hat die Schleiereule natürlich schon. Die liegen unsichtbar seitlich am Kopf und helfen neben den Augen bei der Nahrungssuche. Der Gesichts-“Schleier“, also die dichten, kurzen Federn, verstärkt den ankommenden Schall für das Gehör und schirmen zugleich andere Geräusche ab. Er wirkt wie eine Parabolantenne und ist eines der Erfolgsgeheimnisse der Schleiereule. Beim Beuteflug nimmt sie so auch das geringste Geraschel und das leiseste Getrappel wahr.
Atmo Schleiereule
Ihre Nahrung besteht fast ausschließlich aus Mäusen: Feld-, Wühl-, Hausmäuse … aber auch mal aus Spitzmäusen, Maulwürfen oder Fledermäusen. Davon vertilgen die Eulen – sie sind rund 35 Zentimeter groß und wiegen weniger als ein Pfund – eine Menge: drei bis vier Mäuse pro Tag. Deshalb sind Schleiereulen bei den meisten Menschen auch beliebt. Sie sind Kulturfolger: Sie halten den Bauern die Mäuse vom Leib, idealerweise sogar direkt in den Scheunen: Tagsüber ruhen sie im Stehen auf einem Balken und lehnen sich dabei gerne an. In der Dämmerung werden sie aktiv, putzen sich und beginnen dann, nach Beute Ausschau zu halten. In einer Scheune sondieren sie von oben die Lage und lassen sich dann zum Jagen auf den Boden nieder.
In Deutschland ist mit diversen Strukturreformen der Landwirtschaft die gute alte Scheune vielerorts verschwunden – und mit ihr die Mäuse und die Schleiereulen. Deshalb stehen sie auf der Roten Liste der bedrohten Arten.
O TON 2 Werner Hellwig
das Thema ist mit dem Bauernsterben bei uns hier sicherlich genauso wie in anderen Regionen, dass Scheunen gar nicht mehr landwirtschaftlich genutzt werden und auch kein Stroh mehr haben. Ich komme zum Teil in Scheunen rein, die sind ziemlich leergefegt. Da hat die Eule keine Chance, irgendwo auf dem nackten Betonboden zu brüten.
SPRECHERIN
Doch wie kann man ihnen helfen? Indem man zum Beispiel Nistkästen in vor der Witterung geschützten Räumen für sie aufstellt.
O TON 2 Werner Hellwig
Was wir festgestellt haben, ist, wenn Tiere im Umkreis sind, also Schafe, Rinder, dann haben wir eine große Chance, dass die Eule kommt, weil da sind auch die Mäuse dann da, in der Regel. Wenn es irgendwo am Waldrandgebiet ist, das mag die Eule nicht so gerne, dann haben wir eher geringe Chancen, dass die Eule reingeht.
SPRECHERIN
Deutsche Scheunen: zu sauber, zu ordentlich. Trotzdem haben Werner Hellwig und seine Helfer Erfolg. In den 1980er Jahren zählte Hellwigs Vorgänger ganze drei Brutpaare im Landkreis Coburg in Oberfranken, derzeit gibt es im Mittel 20 Brutpaare pro Jahr. Wobei die Zahlen zwischen den Jahren stark schwanken, je nach Größe der Mäusepopulation: 2022 wurden 36 Jungvögel gezählt, 2023 waren es 86. 80 Prozent der Fläche im Landkreis Coburg werden land- und forstwirtschaftlich genutzt, davon 20 Prozent als Dauergrünland: Das ist das Nahrungsgebiet, das die Schleiereule eigentlich braucht.
Doch auch hier: Deutsche Wiesen und Weiden: zu ordentlich, zu eintönig.
O TON 3 Werner Hellwig
Was uns fehlt, sind so ein bisschen die zusammenhängenden Ödland Streifen, wo die Kleinsäuger dann ausreichend Lebensraum haben. Wir haben da Maßnahmen ergriffen vom Landesbund für Vogelschutz, auch in der Richtung, dass wir Flächen aufkaufen oder Flächen anpachten, dass wir da Nahrungsangebot schaffen.
Eulengeräusch
SPRECHERIN darüber
Bernd-Ulrich Rudolph von der Vogelschutzwarte des Bayerischen Landesamts für Umwelt kennt die Problematik. Er ist zuständig für Schutzprogramme und die Dokumentation der Bestände:
O TON 4 Bernd-Ulrich Rudolph
Wir haben ja diesen Flächenverbrauch, den Zuwachs, auf der landwirtschaftlichen Flur vor allem spielt der sich ab. Große Gewerbegebiete und so weiter entstehen um die Siedlungen. Der Verkehr nimmt zu und die Straßendichte nimmt zu. Und das führt dazu, dass zum einen natürlich auch Nahrungsflächen weniger werden und zum anderen die Zahl der Kollisionsopfer steigt.
SPRECHERIN
Kollisionsopfer, weil Eulen gegen Autos, LKWs oder Züge fliegen:
O TON 5 Bernd-Ulrich Rudolph
Eulen fliegen ja niedrig, Die jagen in unter zwei Metern Höhe über dem Boden. Die müssen ja die Mäuse hören und dann schnell zugreifen, wenn sie die orten. Und dabei überqueren sie natürlich vielfach die Straßen, auch Eisenbahnlinien, sodass die Zahl der Eulen unter den Verkehrsopfern oder Kollisionsopfern schon überdurchschnittlich hoch ist.
SPRECHERIN
Die Datenlage der Schleiereule ist in Bayern etwas unklar. Zwischen 1996 und 2016 hat sich die Zahl der Brutpaare schätzungsweise halbiert, es ist aber nicht bekannt, wie viele Paare es Mitte der 90er Jahre gab. Andere Daten aus einer Erhebung zwischen den Jahren 2005 bis 2009 sprechen von rund 1.500 Brutpaaren in Bayern. In den letzten Jahren gehen die Zahlen wieder nach oben, so Rudolph.
SPRECHERIN darüber
Schleiereulen kommen in Franken, in der Donauniederung und in Schwaben vor. Das Alpenvorland oder gar die Alpen sind kein Lebensraum für sie:
O TON 6
Man kann sich die Linie der südlichsten Brutvorkommen in Bayern vorstellen zwischen Augsburg und Landsberg, also die Region Schwabmünchen. Im Unterallgäu gibt es noch Brutpaare. Nördlich von München, im Erdinger und Freisinger Moos, gibt es Brutpaare, aber recht viel weiter nach Süden kommt sie nicht vor, weil eben im Alpenvorland die Winter im Durchschnitt deutlich härter sind mit längeren Schneelagen. Und da die Schleiereule nicht dem Winter ausweicht, also sie bleibt im Brutgebiet, kommt es dann dazu, dass bei längerem Schnee die Vögel verhungern.
SPRECHERIN darüber
Sie verhungern, weil sich die Mäuse unterhalb der Schneedecke bewegen und so für die Eulen unauffindbar sind.
Musik After bombing raid (Länge: 1´37´´) Z8037642103 unter:
SPRECHERIN darüber
Im Nahen Osten gibt es für Schleiereulen genug Fressen, aber sie sterben oft, weil die Bauern systematisch Giftköder gegen Ratten und Mäuse auslegen. Sie vergiften damit auch deren Jäger: Die häufen das Gift im Körper an und sterben nach einer Zeit.
MUSIK 2 hoch
SPRECHERIN darüber
Der Schweizer Biologe Alexandre Roulin [sprich: Rulää] betreibt seit 15 Jahren das Projekt „Owls for Peace“, Eulen für den Frieden – im fruchtbaren Grenzgebiet rund um den Fluss Jordan – im Norden Israels, im Norden Jordaniens und im Westjordanland, das zu den Palästinensischen Gebieten gehört. Es geht um Ökologie, um Frieden und um Schleiereulen.
MUSIK 2 hoch
SPRECHERIN darüber
Einige Eulen nisten in Israel und jagen ihre Beute hauptsächlich in den palästinensischen Autonomiegebieten, wobei sie täglich die Grenzen überfliegen. Es gibt auch „binationale“ Paare. Schleiereulen bleiben ein Leben lang zusammen. Außerhalb der Balz- und Brutzeit gehen sie allerdings ihre eigenen Wege. Landwirte und Schulkinder aus verschiedenen Gemeinden sind an dem Owls for Peace-Projekt beteiligt, lernen sich gegenseitig kennen und sehen die Bedeutung ihres gemeinsamen Naturerbes.
O TON 7 Alexandre Roulin
OVERVOICE
Wir benutzen Schleiereulen, um die Bauern zu motivieren, weniger Gift auf ihren Feldern auszubringen, um Nagetiere zu töten. Wir sagen ihnen, dass die Schleiereulen den Job erledigen können. Sie machen alle das Gleiche: israelische Bauern, palästinensische und jordanischen Bauern.
SPRECHERIN
Die Nagetierpopulationen steigen in der Region rasant an, sie können ganze Ernten zerstören.
O TON 8 Alexandre Roulin
OVERVOICE
Wir haben Erfolg, weil wir weder über Politik noch über Religion sprechen. Wir bringen die Menschen aus diesen drei Gemeinschaften an einen Tisch, um über einen gemeinsamen Feind zu sprechen. Und der gemeinsame Feind sind die Nagetiere.
SPRECHERIN
Umweltschutz wurde zu Wissenschaftsdiplomatie.
O TON 9 Alexandre Roulin
OVERVOICE
Und was mir in all den Jahren aufgefallen ist, ist, dass die Juden und die Araber Freunde sein können. Die Leute, mit denen wir arbeiten, sind Freunde! Und das ist eine Inspiration, von unten, von den Bauern, nach oben, zu den Anführern
M Somber secrets (Länge: 0´44´´) Z8035579107 unter:
SPRECHERIN
In Israel kauften und montierten die Bauern die Nistkästen selbst, bislang rund 5.000. In Jordanien stehen drei bis vierhundert Kästen, in den Palästinensischen Gebieten rund 200. Die hat die Stiftung von Roulin gekauft und Menschen dafür bezahlt, sie anzubringen – mit israelischem und internationalem Geld. Jetzt hat Israel die Unterstützung eingestellt, wegen des Krieges. Die Situation ist schwierig. Momentan denken alle an die Menschen, nicht an die Eulen:
O TON 10 Alexandre Roulin
OVERVOICE
In der Vergangenheit hat das Projekt immer überlebt, auch wenn sich die politische Situation wirklich von einem Tag auf den anderen geändert hat. Wir denken, dass das Projekt mehr denn je gebraucht wird.
SPRECHERIN
Auch mit den Palästinensern steht Roulin in Kontakt:
O TON 11 Alexandre Roulin
OVERVOICE
Das Leben im Westjordanland wird zum Albtraum. Deshalb suche ich jetzt nach Geld, Geld aus der Schweiz, einem neutralen Land. Mir ist klar: Sie brauchen Hoffnung.
SPRECHERIN
In den Palästinensischen Gebieten und in Jordanien hatten es Schleiereulen noch nie leicht:
O TON 12 Alexandre Roulin
OVERVOICE
Es gibt noch ein anderes Problem in der arabischen Welt. Dort haben sie Angst vor Schleiereulen. Sie sind ein schlechtes Omen für sie. Wir müssen den Menschen beibringen, dass die Schleiereulen nicht die Feinde, sondern die Verbündeten sind. Sie haben einen sehr starken Aberglauben, wie wir übrigens früher in Europa auch, genau dasselbe.
Cumulonimbus (b) C1601420103 (Länge: 0´25´´) unter:
SPRECHERIN
In Spanien dachte man lange, Schleiereulen flögen in die Kirchen, um dort das Öl aus den Kerzen zu trinken. Deshalb wurden sie verjagt. In Deutschland dachte man, eine tote, an die Scheunenwand genagelte Schleiereule schütze vor Blitz und Feuer.
M Morgentau Z8015897125 (Länge: 0´53´´) unter:
Dabei sind Schleiereulen friedfertige Wesen, zumindest im eigenen Nest: Alexandre Roulin hat herausgefunden, dass Küken komplexe Verhaltensmuster haben: Während der Wartezeit auf die Eltern klären die Küken untereinander, welches die nächste Beute bekommen soll. Roulin sagt, sie streiten nicht, sie verhandeln. Das beweist die absolute Ruhe im Nest, wenn die Eltern eine Maus bringen: Die Küken haben schon vorher entschieden, wer gefüttert wird. Roulin ist wohl einer der erfahrensten Schleiereulen-Experten der Welt. Seit mehr als 40 Jahren untersucht er sie. Das hat etwas mit Faszination für dieses außergewöhnliche Tier zu tun:
O TON 13 Alexandre Roulin
OVERVOICE
Es gibt diese Variation in den Farben rot-weiß, eine sehr deutliche Variation.
MUSIK Left behind Z8037642108 (Länge: 0´50´´) unter:
SPRECHERIN
Tyto alba ist mehrheitlich hell, Tyto guttata ist eher gelblich-rostfarben. Die hellen Schleiereulen leben auf der iberischen Halbinsel und auf den britischen Inseln. Dort haben sie die letzte Eiszeit überlebt. Dann, nach der Schmelze, haben sie den Rest Europas wieder besiedelt, vor rund 100.000 Jahren. Bei dieser Wanderung nach Norden und Osten ist ihr Gefieder mutiert und hat rötliche Töne angenommen. … Es gibt also erst seit der Eiszeit zwei Farbvarianten. Derzeit kann man in Bayern beobachten, wie sich die beiden vermischen. Es kommt zu neuen Farbabstufungen.
O TON 14 Alexandre Roulin
OVERVOICE
Dieser Vogel ist kosmopolitisch. Wir finden ihn nahezu überall auf dem Planeten. Wenn Sie beispielsweise die Farbe untersuchen, sagen wir in Deutschland, in Spanien, in der Schweiz, dann kann man versuchen zu prüfen, ob das, was man hier findet, auch in den USA, in Südamerika oder in Afrika zu finden ist. Man kann die Studien an einem anderen Ort machen, sie einfach wiederholen.
SPRECHERIN:
Zudem gibt das Brutverhalten Auskunft über Umwelteinflüsse:
O TON 15 Alexandre Roulin
OVERVOICE
Die Populationsgröße schwankt sehr stark. Die Gelegegröße, also die Anzahl der Küken, die sie produzieren, schwankt von Jahr zu Jahr. Das ist interessant, denn man kann die Auswirkungen von Schwankungen im Lebensraum, in der Umwelt, im Klima und so weiter auf die Brutparameter sehr gut untersuchen. Bei einer Art, die immer stabil ist und immer fünf Eier legt, weiß man nicht, welchen Einfluss die Natur hat. Liegt viel Schnee, gibt es eine hohe Sterblichkeit. Gibt es viele Mäuse, gibt es viele Schleiereulen.
SPRECHERIN
Ein Gelege besteht normalerweise aus vier bis sieben Eiern. Die Eltern legen sie nicht in schwer zugängliche, hohle Bäume, sondern bevorzugt in Kästen, und die Küken bleiben zwei Monate lang im Nest: Viel Zeit zum Forschen. Und viel Stress für die Eltern. Bei großen Gelegen müssen die schon mal ein Dutzend Mäuse pro Tag ins Nest bringen. Dabei hilft ihnen ihre ausgetüftelte Jagd-Technik … beziehungsweise ihre Jagd-Techniken:
M Shimmering night C1568800108 (Länge: 1´08´´) unter:
SPRECHERIN darüber
Schleiereulen praktizieren einerseits die so genannte Ansitzjagd: Sie warten und lauschen auf einem Ast oder Pfosten, bis sich eine Maus bemerkbar macht. Dann greifen sie sie im steilen Sturzflug. Das ist energiesparend, aber zeitraubend.
MUSIK 3 hoch
SPRECHERIN darüber
Dann gibt es auch den Pirschflug, bei dem sie in geringer Höhe die Landschaft abfliegen und Beute orten. Das ist meist ergiebiger, verbraucht aber mehr Energie.
MUSIK 3 hoch
SPRECHERIN darüber
Zudem beherrschen sie noch den sogenannten Rüttelflug, wie ihn auch andere Raubvögel wie der Falke anwenden: Die Schleiereule verharrt dabei in der Luft wie ein Helikopter und sondiert das Gelände unter ihr. Dabei kann sie den Standort einer Maus genau festlegen und diese dann treffsicher erbeuten.
MUSIK 3 hoch, etwas stehen lassen
SPRECHERIN darüber
Und warum flitzt die Maus nicht weg, wenn sie in der dunklen Nacht ein weißes Ungetüm über sich sieht?
MUSIK 3 weg
O TON 16 Alexandre Roulin
OVERVOICE
Wir haben entdeckt, dass das weiße Gefieder das Licht des Mondes reflektiert. Wenn die Beutetiere dann dieses Licht sehen, wirkt es wie eine Taschenlampe, oder ein Scheinwerfer. Sie geraten in Panik und erstarren. Und je länger sie unbeweglich bleiben, desto mehr Zeit haben die Jäger, um ihre Beute zu fangen.
O TON 17 Alexandre Roulin
OVERVOICE
Und mit dem GPS haben wir herausgefunden, dass die weißen Vögel, nicht die roten, das absichtlich bei Vollmond tun. Die weißen Schleiereulen positionieren sich dem Mond gegenüber. Und bei Neumond, also mit wenig Licht, jagen sie nicht mit dem Mond vor ihnen.
M Year of famine NC015960037 (Länge: 0´35´´) unter:
SPRECHERIN
Zu diesem Schreckgespenst-Effekt kommt noch die absolute Lautlosigkeit der Schleiereulen. Die dichten, kammartig gezähnten Ränder der vordersten Schwinge und der dichte, weiche Flaum an der Oberseite der Schwingen schlucken jegliche Strömungsgeräusche während des Fliegens.
TRENNER/MUSIK 1 hoch, etwas stehen lassen
SPRECHERIN darüber
Faszinierend! Das findet auch Carmen Pöhl, die sich wie Werner Hellwig als Freiwilige im Eulenschutz engagiert. Nicht in Coburg, sondern im nördlichen Allgäu, in Oberschwaben:
MUSIK Left behind Z8037642108 (Länge: 0´48´´) unter:
Eine „strukturreiche, kleinteilige“ Landschaft nennt die Ärztin ihre Heimat, mit Wiesen, Hecken, Bächen und mehreren geschützten Feuchtgebieten, in denen verschiedene Eulenarten leben.
Vor etwa drei Jahren fand Carmen Pöhl bei einer Radtour eine tote Sumpfohreule auf dem Weg, „ein wunderschönes, perfektes Tier“, wie sie sagt. Sumpfohreulen sind nicht sesshafte Vögel, sie brüten am Boden und sind in Deutschland sehr selten und stark bedroht. Ihnen zu helfen ist für Laien schwierig. Bei Schleiereulen, den sesshaften Kulturfolgern, ist das leichter:
O TON 18 Carmen Pöhl
Dieser Kontakt dann auch zu dieser toten Sumpfohreule, und auch der Fakt, dass bei uns immer wieder Gewölle am Boden lagen, haben mir dann doch klar gemacht, dass es hier Eulen gibt. Und ich kam dann auf die Idee, dass ich die unterstützen sollte.
Ich habe dann zuerst begonnen, bei den Nachbarn zu fragen, die Scheunen haben, ob sie vielleicht nicht einen Kasten aufhängen wollen. Leider habe ich dann erleben müssen, dass die Nachbarn die Idee nicht gut fanden. Die hatten sich tatsächlich Sorge gemacht, dass so eine Eule dann auch Dreck machen könnte.
SPRECHERIN darüber
Carmen Pöhl konnte tatsächlich etwas bewegen. Dank eines Artikels in der Schwäbischen Zeitung bekam sie Anrufe von sechs Lesern und Leserinnen, die auch gerne einen Schleiereulenkasten aufhängen wollen.
G Schleiereule
SPRECHERIN darüber
Schleiereulen sind weit verbreitete Wildtiere, die die Nähe des Menschen suchen und in unserem Kollektivgedächtnis ihren Platz haben. Deshalb kann man sie als Botschafter ihrer Artgenossen bezeichnen, der anderen rund 200 Eulenarten, die es gibt.
O TON 20 Carmen Pöhl
Ich finde an allen Eulen besonders, dass sie so stille Jäger sind, dass man ihnen nachsagt, dass sie besonders weise sind. Sie sind ja auch in unserer Geschichte und auch in unseren Märchen immer wieder aufgetaucht. Ja, es sind wunderbare Tiere. Kunstwerke der Natur.
M Missing fragments (Länge: 1´00´´) Z8035579110 unter:
SPRECHERIN
Ja, das sind Eulen, Kunstwerke der Natur. Wegen ihrer Effizienz bei der grenzübergreifenden Mäusejagd erleben sie im Nahen Osten gerade einen Imagewandel: weg von der Unheilsbotin, hin zur Friedenstaube. In Mitteleuropa nagelt sie zum Schutz vor Blitz und Feuer wohl niemand mehr an das Scheunentor, aber unsere intensive Landnutzung macht ihnen zu schaffen. Wenn wir sie weiterhin um uns haben wollen, müssen wir unseren Lebensraum mit ihnen teilen. Wir müssen dafür sorgen, dass es weite offene Flächen gibt, auf denen sie Nagetiere und kleine Säugetiere finden. Und sie brauchen geschützte Nistplätze, wo sie ihre Brut ungestört aufziehen können. Eigentlich nicht viel.
Wenn nichts mehr geht, dann bleibt die Hoffnung. Sie stirbt bekanntlich zuletzt. Hoffnung gibt Kraft und hält am Leben. Doch die Hoffnung hat auch eine Kehrseite: dann nämlich, wenn sie träge und faul macht. Autorin: Karin Lamsfuß (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling und Stefan Merki
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Giovanni Maio, Medizinethiker Uni Freiburg;
Dr. Claus Eurich, Philosoph und emeritierter Ethik-Professor;
Wolfgang Jacobs, Theologe und Krankenhausseelsorger
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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MUSIK 1 (Z8000712 117 Carrie Newcomer: A Whole Lot Of Hope 0’40)
O-Ton 1 Maio:
Der hoffende Mensch ist derjenige, der weiß, dass die Zukunft offen ist.
O-Ton 2 Jacobs:
Hoffnung ist etwas, was die Leute brauchen, um sich am Leben zu halten.
O-Ton 3 Maio:
Der hoffende Mensch ist zugleich auch der, der im Hoffen immer zugleich auch bangt.
O-Ton 4 Eurich:
Hoffnung ist die Erwartung auf eine Zukunft, die möglicherweise besser ist als die Gegenwart und als die Vergangenheit.
O-Ton 5 Jacobs:
Die Erwartung, dass etwas Wünschenswertes eintritt, ohne die Gewissheit zu haben, dass es eintreten wird.
Sprecherin:
Die Hoffnung ist ein seltsames Ding: Kaum ein Tag vergeht, oft kaum eine Stunde, ohne dass Menschen nicht irgendetwas Zukünftiges erhoffen: Banales wie etwa, dass sie den Zug noch erwischen, die Kinder gute Noten bekommen, sich Oma über den Kuchen freut, die Aktienkurse steigen. Und Bedeutsames wie etwa, dass sie ihren Job behalten, die Ehe lange hält oder ein geliebter Mensch wieder gesund wird.
Der Mensch schreibt ständig Geschichten mit offenem Ausgang weiter – natürlich in der Hoffnung, dass diese glücken bzw. gelingen. Doch, das wird der Hoffnung im Kern nicht gerecht. Und so spielt das Leben auch nicht.
MUSIK 2 (Z8028426 102 Tindersticks: The Amputees 0’27)
Sprecherin:
Er war ein Sonnyboy. Kitesurfer. Sonnengebleichte, blonde Haare, braun gebrannt. Verena verliebte sich sofort in ihn. Nach dem Studium heirateten beide. Und hofften auf ein tolles, aktives, gemeinsames Leben.
O-Ton 7 Verena:
Und dann irgendwann dieser Dienstag-Abend war, wo wir zu dritt bei dem Arzt saßen, also mein Mann, sein Vater und ich, und der Arzt dann sagte: „Ich muss Ihnen die Mitteilung machen: Ja, Sie haben Multiple Sklerose“!
Und dann steht man da auf einmal und denkt: Das Leben ist jetzt erst mal zu Ende. Ich war 33 und er war 29.
MUSIK 3 (Z8028007 110 Max Richter: Hope strings eternal 0’27)
Sprecherin:
Es gab keine Hoffnung auf Heilung, maximal darauf, dass die Krankheit einen milden Verlauf nehmen würde. Zwei Jahre lang sah es so aus, als würde sich diese Hoffnung erfüllen. Kaum Symptome. Beide lernten mit der Krankheit zu leben.
O-Ton 8 Verena:
Und dann kam wirklich der totale Hammerschub, weil es ihn dann nicht nur am linken Bein getroffen hatte, sondern an der ganzen rechten Körperhälfte, die war dann quasi wie gelähmt. - So! Und das war wirklich der Punkt, wo unser Leben auf den Nullpunkt gesetzt worden ist. Es ist die Frage: wird er sich überhaupt irgendwie rühren können? Oder ist er jetzt irgendwie so’ n Schwerstpflegefall?
Sprecherin:
Alle Hoffnung war zerstört. Und nun?
MUSIK 4 (C1637800 101 Martin Tingvall: Hope 0’42)
Sprecherin:
Die Philosophie gibt hier nur wenige Antworten. Nur ganz wenige philosophische Werke - wie etwa „das Prinzip Hoffnung“ des deutschen Philosophen Ernst Bloch - beschäftigen sich mit der Hoffnung.
Dabei geht es bei diesem Thema eigentlich um eine ganz grundlegende philosophische Frage: Wie kann Leben gelingen – mit all seinen Wünschen und Sehnsüchten auf der einen Seite und der Möglichkeit des Scheiterns dieser Wünsche auf der anderen Seite?
O-Ton 9 Eurich:
Da schwingt dann natürlich auch immer Hoffnung mit. Und da handelt es sich dann aber um eine andere Dimension von Leben und Lebensorientierung, die nicht nur mit Haus und Partnerschaft und so was zu tun hat. Sondern da betreten wir wirklich den tiefen Boden des Seins.
Sprecherin:
Dr. Claus Eurich, Philosoph und emeritierter Professor für Ethik.
Zitator:
Hoffnung ist der Regenbogen über dem herabstürzenden Bach des Lebens. …
Sprecherin:
Meinte Friedrich Nietzsche.
Hoffnung ist vor allem dort wichtig, wo der Mensch nicht mehr handeln kann. Weil es nicht in seiner Macht liegt. Oder weil alles getan ist. Dann hilft nur noch die Hoffnung. Oder das Gebet. Hoffnung im tieferen Sinne ist also keine Gier nach kurzfristiger Wunscherfüllung, sondern eine Grundhaltung zum Leben mit all seinen Widrigkeiten und Unwägbarkeiten.
O-Ton 10 Maio:
Wenn man sich fixiert auf eine ganz bestimmte Form der Zukunft, dann hoffe ich nicht. Dann erwarte ich etwas. Wenn diese Erwartung nicht eintritt, dann verzweifle ich.
Sprecherin:
Giovanni Maio, (sprich: Ma-jo) Professor für Medizinethik an der Uni Freiburg. Er hat ein Buch geschrieben über die „Kunst des Hoffens“ bei schwerer Krankheit.
Er sagt: Wirkliche Hoffnung entspringt einer Haltung jenseits von vordergründigem Optimismus, von „alles wird gut“. Sie ist eher verortet im den inneren Sphären der Zuversicht, des Vertrauens:
O-Ton 11 Maio:
Am Anfang hofft man auf etwas ganz Bestimmtes. Und das ist ganz natürlich, dass man hofft, dass man nicht krank ist. Und hofft, dass es heilbar sein wird. Das ist ganz normal und nachvollziehbar. Aber wir haben zwei verschiedene Formen von Hoffnung: die eine Hoffnung, die sagt „Ich hoffe, dass …“ und die andere Hoffnung, die da sagt: „Ich bleibe dennoch hoffend“.
Zitator:
Trotzdem! Dennoch! Jetzt erst recht!
Sprecherin:
Das ist die wahre Sprache der Hoffnung. Diese Hoffnung ist nicht auf ein bestimmtes Ziel fixiert. Sie geht tiefer.
Zitator:
Die Hoffnung hilft uns leben …
Sprecherin:
Sagte schon Johann Wolfgang von Goethe
MUSIK 5 (C1594660 107 Hadar Noiberg: Hope 0’25)
Sprecherin:
Verena und ihr Mann wussten: Der letzte Krankheitsschub hatte alles verändert. Seine Beine funktionierten nicht mehr. Also musste eine barrierefreie Wohnung her. Denn Treppensteigen war unmöglich geworden. Autofahren auch. Wie ihr Alltag künftig aussehen könnte, das wussten beide nicht.
O-Ton 12 Verena:
Als er im Krankenhaus war und es wirklich gerade so schlimm war, dann saß er da im Rollstuhl und sagte: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr“. Und wir beide dann geheult haben wie die Schlosshunde und nicht mehr weiterwussten, und alles war schwarz.
MUSIK 6 (C1594660 107 Hadar Noiberg: Hope 0’22)
Sprecherin:
In Grenzsituationen wie einer schweren Erkrankung zeigt sich der Charakter der stärkenden Seite der Hoffnung besonders. Weil es hier um das kostbarste Gut geht: um die Unversehrtheit des Körpers. Um das Leben. Natürlich hofft jeder zunächst auf Heilung. Doch was ist, wenn das nicht klappt? Bleibt die Heilung aus, ist alles hoffnungslos.
O-Ton 13 Maio:
Wenn man am Anfang die Hoffnung reduziert auf ‚Ich will unbedingt Heilung, wenn nicht, dann ist alles sinnlos‘. Das ist Ausdruck nicht nur von Hoffnungslosigkeit, sondern es ist Ausdruck von Ungeduld, es ist auch Ausdruck von fehlender Klarsichtigkeit. Der Hoffende sieht ganz klar. Und er glaubt daran, dass er innere Ressourcen hat, um auch das Vergebliche so anzugehen, dass keine Sinnlosigkeit eintritt.
Sprecherin:
Die Hoffnung hat unzählige Gesichter. Mal ist sie zaghaft, mal ist sie stark. Sie keimt auf, sie wird wieder zerstört. Sie verändert sich stetig. Immer aber ist sie im Fluss.
O-Ton 14 Maio
Hoffnung hat drei Elemente: Sie ist einerseits Erkenntnis: zu erkennen, wie bedrohlich die Zukunft ist; zugleich ist sie aber auch ein Gestimmtsein, im Sinne des Offenbleibens bezogen auf die Zukunft. Und sie ist drittens Phantasie. Die Bereitschaft, die Zukunft wirklich als offen anzuerkennen und daran zu glauben, dass sich Dinge ereignen, die einem doch Kraft geben können.
MUSIK 7 (MR036260 104 Edmar Castaneda & Gregoire Maret: Hope 0’41)
Sprecherin:
Hoffen ist also: wissen, dass nichts sicher ist. Und trotzdem vertrauen, dass genügend Ressourcen da sind, um Herausforderungen zu meistern.
So bewegt sich die konkrete Hoffnung weg von der Fixierung auf ein bestimmtes Ziel hin zu einem grundsätzlichen Vertrauen. Also nicht:
Zitator:
Alles wird gut!
Sprecherin:
Sondern:
Zitator:
Auch wenn es nicht gut wird, wird es einen Weg geben, damit umzugehen.
O-Ton 15 Verena:
Also ich habe gemerkt: Natürlich kommen dann manchmal so Ängste hoch: Ach, wenn’s doch so bleibt, was machen wir denn dann? Und dann habe ich gedacht: Damit setzt du dich auseinander, wenn’s so ist, und in dem Moment, wo noch die Hoffnung besteht, dass es wieder besser wird, hältst du dran fest.
Zitator:
Die Hoffnung mag eintreffen oder nicht, so hat sie doch das Gute, dass sie die Furcht verdrängt.
Sprecherin:
Meinte der deutsche Schriftsteller Jean Paul im 18. Jahrhundert.
MUSIK 8 (Z8028982 103 Ed Hogston: Memories 0’30)
Sprecherin:
Wolfgang Jacobs ist Theologe, ehemaliger Pfarrer und hat lange als Krankenhausseelsorger gearbeitet. 14 Jahre lang hat er täglich Gespräche geführt mit Menschen, die hofften und die bangten. Aber niemand, so erinnert er sich, hatte die naive Hoffnung, dass alles wieder gut werden möge.
O-Ton 16 Jacobs:
Bei Menschen, die einen Bezug zur Religion oder Spiritualität haben, war das die Hoffnung darauf, dass eine Gottheit oder eine Macht oder eine Kraft ihnen so etwas gibt wie die Zuversicht, dass das, was ihnen da widerfährt, sowohl ne Form von Sinn hat, als auch etwas ist, das nicht ganz aussichtslos ist.
Zitator:
Durch ein unerklärliches Phänomen haben viele Leute Hoffnungen, ohne Glauben zu besitzen.
Sprecherin:
… sagte der französische Philosoph Honoré de Balzac. Und weiter heißt es in dem Zitat:
Zitator:
Die Hoffnung stellt die Blüte des Wunsches dar, der Glaube ist die Frucht der Gewissheit.
Sprecherin:
Gläubige Menschen tun sich manchmal leichter mit der Hoffnung. Sie legen ihr Leben in Gottes Hand und fühlen sich auch in schwierigen Lebenslagen beschützt und getragen. Als würde eine höhere Macht gut für sie sorgen – so beschreiben viele ihr Gefühl. Die Hoffnung trägt und stärkt also.
Aber ihre Kraft wird auch manchmal missbraucht. Etwa, um aussichtslose Therapien durchzusetzen. Oder um die eigene Hilflosigkeit nicht zugeben zu müssen, so Medizinethiker Giovanni Maio:
O-Ton 17 Maio:
Wenn die Medizin glaubt, sie kann nur dann Hoffnung vermitteln, wenn sie Heilung verspricht, dann ist sie oft sehr vollmundig. Und dann macht sie oft auch Therapien, die im Grunde nicht immer sinnvoll sind. Weil sie meint, nur so Hoffnung vermitteln zu können, stattdessen müsste man sich wirklich intensiv mit dem Patienten beschäftigen und über sein Bangen reden und auf diese Weise tiefer zu denken und zu erkennen, woran einem wirklich liegt. Und inwiefern man das, woran einem liegt, immer noch verwirklichen kann. Auch im Zustand der Unheilbarkeit.
Zitator:
Die Hoffnung stirbt zuletzt!
Sprecherin:
Lautet eins der vielleicht meistzitierten deutschen Sprichwörter …
MUSIK 9 (Z8025975 102 Christopher Dierks: Hope 1’00)
Sprecherin:
Der Mensch braucht Hoffnung zum Leben. Zum Überleben. Gerade in schwierigsten Zeiten. Die Frage ist jedoch: Worauf genau bezieht sich die Hoffnung?
O-Ton 18 Jacobs:
Ich glaube, Hoffnung braucht als Basis das Gefühl von Geborgenheit. Gut im Leben zu sein sozusagen. Sich aufgehoben fühlen. Worin auch immer. Das kann religiös, das kann spirituell sein, das kann auch Philosophisches sein. Aber eine Basis zu haben, worin ich mich aufgehoben und geborgen fühle. Das ist, glaube ich, das Zentrale für Hoffnung.
Sprecherin:
Hoffnung kann aber auch zur Zumutung werden. Nämlich dann, wenn sie zur Verpflichtung wird. Wenn Angst, Verzweiflung und Mutlosigkeit keinen Platz finden und stattdessen immer nur Hoffnung verbreitet werden soll.
O-Ton 19 Verena:
Das Allerschlimmste war, alleine auf weiter Flur die Optimismus-Frau zu spielen. Das heißt, diese Zuversicht auszustrahlen: für mich, für ihn und dann auch noch für seine ganze Familie. Ich sag mal so: Es war ein bisschen so, als wenn ich alleine wie Jeanne d’Arc vor so nem Heer von Leuten stehe, die mich alle attackieren mit diesen Ängsten – es gab gar keine Alternative, außer: Ich muss jetzt diese Zuversicht ausstrahlen – auch für mich selber.
Sprecherin:
Der Theologe und Krankenhausseelsorger hält diesen „Zwang zur Hoffnung“ für fatal:
O-Ton 20 Jacobs:
Weil die Angehörigen dann meinen: indem sie so was wie Zuversicht und Hoffnung verbreiten, „du schaffst das schon“, würde dem Patienten auch noch mal geholfen. Das Fatale ist: Ich habe dann häufig erlebt, dass Patienten, wenn ich mit ihnen gesprochen habe – ohne die Angehörigen – gesagt haben: „Ja, die meinen immer noch, es würde gehen. Aber ich weiß ja, dass es nicht mehr geht. Aber ich will denen auch nicht die Hoffnung nehmen. Also es ist etwas, wo ganz paradoxe Geschichten ablaufen.
Sprecherin:
„Ein Spiel mit der Hoffnung“ nennt Wolfgang Jacobs das. Ein Spiel, indem sich alle Beteiligten etwas vormachen. Ein Spiel, das das vielleicht Wichtigste in dem Augenblick verhindert: nämlich sich mit dem auseinanderzusetzen, was ist.
MUSIK 10 (Z8026958 125 Glimmer of hope c 0’55)
Sprecherin:
Tiefe Hoffnung wirkt kraftspendend und falsche Hoffnung zerstörerisch. Der Nährboden wahrer Hoffnung ist Geborgenheit oder spirituelle Verortung – ganz gleich, wie sie aussieht.
Hoffnung kann aber auch fadenscheiniges Mittel zum Zweck sein: Um eine Fassade aufrecht zu halten. Oder um sich selbst zu beruhigen. Oder vor der Realität zu fliehen.
Zitator:
Wer sich von der Hoffnung nährt, ist stets in der Schwebe und lebt nicht.
Sprecherin:
Das meinte schon vor fast 500 Jahren der niederländische Theologe und Humanist Erasmus von Rotterdam. Friedrich Nietzsche formuliert es noch zugespitzter:
Zitator:
Sie ist in Wahrheit das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.
Sprecherin:
Hoffnung, die quält, Hoffnung, die wirkliches Leben verhindert: Diese Hoffnung kann wie ein Kleber sein. Ein Kleber, der Menschen an etwas festhalten lässt, das ihnen nicht guttut: Sie hoffen:
Zitator:
… dass der schreckliche Nachbar endlich freundlich wird …
Sprecherin:
… dass der Verflossene endlich zurückkehrt …
Zitator:
… dass der selbstherrliche Chef endlich mal ein Lob ausspricht …
Sprecherin:
Falsche Hoffnungen: Diese Hoffnungen sind toxisch. Sie halten gefangen in einer Phantasie, die wahrscheinlich niemals Wirklichkeit wird.
Zitator:
Nichts ist leichter als Selbstbetrug. Denn was ein Mensch wahrhaben möchte, hält er auch für wahr.
Sprecherin:
Fand der griechische Redner Demosthenes schon 300 Jahre vor Christus.
Hoffnung als Illusion. Als Flucht vor der Realität. Und als willkommene Ausrede, die Hände in den Schoß zu legen.
Hoffnung wird in dem Moment missbraucht, wenn sie an die Stelle der Handlung tritt. Und unbedingt notwendige Schritte verhindert.
MUSIK 11 (Z8028982 105 Ed Hogston: Wandering 0’40 / im Hintergrund gleichzeitig MUSIK 12 Z9507313 208 Plan B: Hope in hell 0‘25)
Sprecherin:
Spätsommer 2019: 11.000 internationale Wissenschaftler erklären den „Klima-Notfall“. Und warnen:
Zitator:
Sollten die Menschen ihr Verhalten nicht radikal ändern, wird unermessliches Leid auf sie zukommen!
Sprecherin:
Am gleichen Tag verkündet der Tagesschau-Sprecher:
Zitator:
Die Deutschen sind nach einer aktuellen großen Studie, dem „Glücksatlas“ zufrieden wie noch nie.
Sprecherin:
Wie geht das zusammen? Die Menschheit fährt - lapidar ausgedrückt - ihren Planeten gerade vor die Wand - und die Deutschen sind glücklich und zuversichtlich wie noch nie? Hat ihnen die vermeintliche Hoffnung, dass doch noch alles gut werden möge, vielleicht einen bösen Streich gespielt?
Der Philosoph Claus Eurich nennt dies in Anlehnung an den Theologen Karl Barth:
Zitator:
Billige Hoffnung
O-Ton 21 Eurich:
Billige Hoffnung, das wäre die, die nicht wirklich in die Analyse von Situationen hineingeht. Die auch nicht in das Nachspüren in sich selbst reingeht, also die Selbstreflektion in der Tiefe wirklich fehlt. Und die dann in so Sprüchen mündet wie „Es wird schon alles gut werden“. Und: „Die Dinge werden sich schon fügen“. Das ist eine Hoffnung, wo man auch sagen könnte: Die gründet auch schlicht in fehlender Erkenntnis! Oder in fehlender Information.
Sprecherin:
Billige Hoffnung beschwichtigt kurzfristig. Und sie lähmt langfristig. Sie verhindert, die wirklich wichtigen Schritte zu tun.
Zitator:
Hoffnung statt Handeln.
Sprecherin:
Die billige Hoffnung ist die destruktive Seite der Hoffnung. Die dunkle Schwester der …
Zitator:
Tätigen Hoffnung
Sprecherin:
Tätige Hoffnung schaut hin, analysiert klar und handelt.
O-Ton 22 Maio:
Deswegen ist der hoffende Mensch immer ein Mensch, der sich engagiert für seine Zukunft. Der hoffende Mensch ist eben nicht der Fatalist, der dann schicksalsergeben die Zukunft einfach abwartet, sondern es ist derjenige, der an die Zukunft glaubt und deswegen sie gestalten möchte!
Sprecherin:
Sagt Medizinethiker Giovanni Maio.
Billige Hoffnung ist fatal, und tätige Hoffnung dringend nötig. Wahrscheinlich war es in der Menschheitsgeschichte noch nie nötiger, dringender und wichtiger, als in der tätigen Hoffnung zu leben, findet Claus Eurich:
O-Ton 23 Eurich:
Tätige Hoffnung hat auch keine Gewissheit, dass sich etwas so ereignen wird, wie wir es brauchen oder wir es ersehnen, aber sie spürt, dass sie einen Beitrag leisten muss. Das heißt, das ist dann ein partnerschaftliches Verhältnis, in dem wir selber eine tragende Rolle haben.
Und in einem partnerschaftlichen Verhältnis gibt es nie nur das Nehmen. Da gibt es immer auch die Notwendigkeit des Gebens.
Zitator:
Es ist besser ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.
Sprecherin:
Dieses Zitat ist mehr als 2.000 Jahre alt und stammt von Konfuzius.
Tätige Hoffnung als Aufwachen aus der Lethargie, der Saturiertheit, der Selbstbezogenheit.
O-Ton 24 Eurich:
Es geht hier um die Menschheit, und es geht hier um die Schöpfung. Wir haben diese Erde erhalten, auf der wir uns entwickeln konnten, entwickeln durften, haben sie halt gnadenlos ausgebeutet, getreten, misshandelt und sind jetzt kurz davor, selber im Staub zu liegen. Wenn wir überhaupt noch eine Möglichkeit haben wollen, eine Chance haben wollen, dann stehen wir jetzt in einer Bringschuld. Dann sind wir jetzt einfach dran zu geben, zurückzugeben.
MUSIK 13 (Z8028982 104 Ed Hogston: Free forever 0’53)
Sprecherin:
Menschen gehen wieder auf die Straße, vor allem junge Menschen. Schüler protestieren Seite an Seite mit Eltern, Großeltern und Wissenschaftlern.
Claus Eurich befürchtet: Ohne radikale Umkehr wird es nicht gelingen.
O-Ton 26 Eurich:
Umkehr bedeutet, unseren Bezug zum Leben auf vollkommen neue Füße zu stellen. Und uns neu in der Lebenseinheit zu erkennen, zu sehen, und uns entsprechend zu verhalten. Nach meiner Auffassung ist dies nicht nur eine Aufgabe, sondern es wäre ein evolutionärer Schritt. Der mit dem gegenwärtigen Bewusstsein und dem gegenwärtigen Ich-Bezug auf allen Ebenen – vom Egozentrismus bis zum Anthropozentrismus – in keiner Weise angegangen werden kann.
Sprecherin:
Gier, Machtstreben, Lethargie – all das steht dem radikalen Wandel im Weg. Ein wenig Kosmetik hier, ein kleines Schräubchen dort, an dem gedreht wird. Vielleicht heißt Hoffnung in Anbetracht dieses übermächtigen Gegenwindes auch Hoffnung auf ein Wunder?
O-Ton 27 Eurich:
Und damit ist auch klar, dass wir ohne ein Entgegenkommen dessen, was wir das ‚Schicksal‘ nennen, wohl keine wirkliche Zukunft haben. Ein älterer priesterlicher Freund, den ich mal besucht habe - wir saßen abends zusammen, und er konnte immer ganz genau spüren, wo ich mental bin. Und dann merkte er mir auch ein bisschen die Niedergeschlagenheit an. Und er sagte: „Claus, ich glaube, du glaubst gar nicht mehr an Wunder! Wunder sind nämlich sicher“. Und dann kam noch der Satz hinterher: „Wunder aber wollen angestoßen werden!“
Sprecherin:
Immer wieder gab es Kippeffekte in der Menschheitsgeschichte. Wo einzelne Menschen etwas angestoßen haben, das zu einem ganzen Systemwechsel führte. Es lohnt sich also immer zu hoffen. Tätig zu hoffen.
MUSIK 14 (Z8028007 110 Max Richter: Hope strings eternal 0’30)
Sprecherin:
Verena und ihr MS-kranker Mann haben den Umzug in eine neue, barrierefreie Wohnung nun hinter sich. Er ist noch immer sehr eingeschränkt, geht am Rollator oder fährt im Rollstuhl. Die Hoffnung auf Heilung haben beide aufgegeben. Die Krankheit wird unaufhaltsam voranschreiten:
O-Ton 29 Verena
Aufgeben gilt nicht! Das ist wahrscheinlich tatsächlich das Erfolgsgeheimnis unserer Beziehung. Dass wir beide uns nicht unterkriegen lassen und beide festhalten an diesem „Es wird irgendwie weitergehen, wir schaffen das zusammen!“
MUSIK 15 (Z8000712 117 Carrie Newcomer: A Whole Lot Of Hope 0’40)
Sprecherin:
Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit. Beides kann gleichzeitig nebeneinander existieren. Das kleine helle Fünkchen im großen dunklen Meer.
Das hat auch Krankenhausseelsorger Wolfgang Jacobs ganz oft erlebt. Es erfordert aber: nicht an falschen Hoffnungen und Pseudo-Optimismus festzuhalten, sondern sich dem Unausweichlichen zu stellen.
O-Ton 30 Jacobs:
Das ist Wahrhaftigkeit. Und ich glaube, dass in dieser Wahrhaftigkeit auch ne Menge Kraft steckt.
O-Ton 31 Eurich:
Ich glaube, das ist der Punkt, um den es geht: Tue, was du kannst - und nicht nur aus einer geistigen Überzeugung, sondern aus einer Herzensenergie heraus! Und dann auch einfach hoffend im Leben stehen, dass uns etwas entgegenkommt, mit dem wir im Moment noch nicht rechnen und das wir auch noch nicht sehen können. Was immer das sei!
Kurztext:Am Anfang stand eine "große Idee", der Traum einer modernen griechischen Nation von gleicher Bedeutung wie das antike Byzanz. Vom ersehnten Großgriechenland blieb das bekannte Land mit der Hauptstadt Athen. Autor: Martin Trauner (BR 2016)
Credits
Autor dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Sven Hussok
Technik: Christiane Schmidbauer
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Ioannis Zelepos, Byzantinist, LMU München
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MUSIK: C118397 006 (00‘07‘‘)
ZITATOR:
Provisorische Verfassung Griechenlands ...
MUSIK: C112782 016 (00‘19‘‘)
ERZÄHLERIN:
Epidauros auf der Peloponnes. Heute bekannt durch das bestens erhaltene antike Theater, in das 14.000 Zuschauer passen. Vor gut 200 Jahren Schauplatz für ein anderes Spektakel.
O-TON Ioannis Zelepos:
Am 1. Januar 1822 - der Krieg war noch nicht ein Jahr - da ist schon eine Verfassung erlassen worden.
MUSIK: C118397 006 (00‘07‘‘)
ZITATOR:
Im Namen der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit ...
MUSIK: C112782 016 (00‘19‘‘)
ERZÄHLERIN:
67 griechische Revolutionäre sind nach Epidauros gekommen, um gemeinsam an einer Verfassung zu arbeiten. Mit im Gepäck haben sie eine Idee: ein freies, unabhängiges Griechenland.
MUSIK: C118397 015 (00‘27‘‘)
ZITATOR:
... Da die griechische Nation unter der schaudervollen osmanischen Herrschaft das höchst drückende und beispiellose Joch der Tyrannei nicht zu ertragen vermochte und es mit großer Aufopferung abgeschüttelt hat, so verkündigt sie heute durch ihre legitimen, in einer Nationalversammlung zusammengetretenen Repräsentanten vor dem Angesicht Gottes und der Menschheit ihre politische Existenz und Unabhängigkeit.
MUSIK: C112782 016 (00‘19‘‘)
O-TON Ioannis Zelepos:
Das ist die erste Revolutionsverfassung - davor gab's so Lokalverfassungen -, aber die erste, die wirklich den Vertretungsanspruch der Nation, also für den gesamten Aufstand auch erhebt -
MUSIK: C156186 001 (00‘32‘‘)
ERZÄHLERIN:
Sagt Ioannis Zelepos. Professor für Byzantinistik. Der Münchner Künstler Ludwig Schwanthaler verewigt Jahre später den heroischen Augenblick in einem Gemälde: Männer in griechischer Volkstracht mit Krummschwertern präsentieren feierlich ihren Verfassungsentwurf. Einziges Manko: Schwanthaler war nicht dabei. Aber die Szenerie passt halt so gut: Die Wiedergeburt Griechenlands in den antiken Überresten von Epidauros, vor dorischer Säulenkulisse ...
MUSIK ENDE
O-TON Ioannis Zelepos:
Die Örtlichkeit eignet sich gut für eine – also parlamentsartige Versammlung. Das ist ein Punkt. Und der zweite Punkt ist, dass die Argolis, wo das liegt, eigentlich dann das das Zentrum der Aufständischen schon relativ früh war. Also das heißt: Da kontrollierten Sie halt das Gebiet, und das Verwaltungszentrum – es gab noch keine – in diesem ersten Jahr – keine Hauptstadt – es war dann da auch schon.
ERZÄHLERIN:
Noch war Griechenland im Jahr 1822 weit entfernt davon, ein eigener, unabhängiger Staat zu sein. Die Aufständischen hatten zwar große Teile der Peloponnes und Mittelgriechenland unter ihre Kontrolle gebracht. Aber: Die europäischen Großmächte verweigerten einem neuen Staat ihre Anerkennung, und auch die Osmanen gaben sich noch lange nicht geschlagen.
MUSIK: C118397 015 (00‘07‘‘)
ZITATOR:
Alle Griechen sind gleich vor dem Gesetze, ohne irgend eine Ausnahme, oder Stufe, oder Klasse, oder Ansehen.
MUSIK: C112782 016 (00‘33‘‘)
ERZÄHLERIN:
Die Aufständischen präsentieren in Epidauros einen fortschrittlichen Verfassungsentwurf, ganz im Sinne der Aufklärung und der französischen Revolution. Einerseits, weil sie dadurch auf schnelle Akzeptanz durch europäische Intellektuelle hoffen, andererseits ist man sich der antiken Tradition bewusst und wählt als künftige Staatsform die Demokratie. Zwar legen sie von Anfang an fest, dass die herrschende Religion im griechischem Staate die der morgenländischen orthodoxen Kirche Christi sei, aber:
MUSIK: C118397 015 (00‘56‘‘)
ZITATOR:
Es duldet jedoch die Regierung von Griechenland jede andere Religion und die heiligen Gebräuche einer jeden derselben werden ungehindert ausgeübt.
ERZÄHLERIN:
Und man legt, nach Jahrhunderte langer Fremdherrschaft unter dem Halbmond auf rotem Tuch, die neuen Farben des Staates fest:
ZITATOR:
Die Farben der Nationalkokarde, der Flaggen des Meeres und der Fahnen des festen Landes werden so bestimmt: weiß und blau.
ERZÄHLERIN:
Das erste Dokument, in dem die griechischen Farben weiß und blau bestimmt werden. Und: Obwohl sich das Gerücht hartnäckig hält – es ist keine bayerische Erfindung ...
O-TON Ioannis Zelepos:
Und übrigens auch dadurch das erste offizielle Dokument dieser Art, wo sich die Aufständischen auch als Hellenen bezeichnen.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN:
Hellenen. Oder Griechen. Das Volk an der Ägäis nannte sich seit Jahrhunderten nicht mehr so. Seit den Zeiten des byzantinischen Reiches bezeichneten sie sich als "Rhomäer", als "Römer".
O-TON Ioannis Zelepos:
Das bezog sich auch auf das christliche Bekenntnis vor allem, was ein wichtiges Identitätsmerkmal war, dass man also Christ war, orthodoxer Christ vor allen Dingen. Während in diesem alten Sprachgebrauch Hellene eigentlich ein Synonym war für einen Heiden, also Nichtchristen. Aber das änderte sich dann im 18. Jahrhundert und wurde zu einer Selbstbezeichnung.
ERZÄHLERIN:
In der Verfassung von Epidauros nennt man sich nun Hellene. Und freier Hellene ist man nur, wenn man an den orthodoxen Christus glaubt und in Griechenland geboren wurde. Nur: Wo liegt eigentlich dieses Land der Hellenen, wo liegt Griechenland?
MUSIK: C112782 016 (00‘20‘‘)
ZITATOR:
Und an dem Ufer steh ich lange Tage
Das Land der Griechen mit der Seele suchend.
Und gegen meine Seufzer bringt die Welle
Nur dumpfe Töne brausend mir herüber ...
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN:
Johann Wolfgang von Goethe lässt seine Iphigenie auf der Insel Tauris sehnsuchtsvoll nach Griechenland blicken. Wo ihr gelobtes Land ist, weiß sie nicht. Das antike Tauris, so vermutete man früher, könne die Halbinsel Krim im schwarzen Meer gewesen sein. Und wie der Iphigenie in ihrem Exil ging es im 19. Jahrhundert vielen Griechen: Sie lebten als Kaufleute oder Gelehrte über halb Europa verteilt: als sogenannte Diaspora-Griechen ...
O-TON Ioannis Zelepos:
Im weiteren Raum des östlichen Mittelmeers, aber auch am Schwarzen Meer; im Nordosten Anatoliens, im Kaukasusraum, auf der Krim. Natürlich gab es auch ganz bedeutende Diaspora-Händlerkolonien in Mitteleuropa. Also das verteilt sich einigermaßen schon so dieses Siedlungsgebiet.
ERZÄHLERIN:
Aber auch im griechischen Kernland um die Ägäis lebten nicht nur christlich orthodoxe Griechen, sondern auch Katholiken, Juden und Muslime. Heute würde man sagen, das Land war multiethnisch und multikonfessionell. Und in diesem heterogenen Umfeld soll ein griechischer Staat entstehen? Ioannis Zelepos von der Universität München:
O-TON Ioannis Zelepos:
Also einen griechischen Staat in dem Sinne gab es ja eigentlich vor dem 19. Jahrhundert gar nicht. Und als der Unabhängigkeitskrieg begann, war der größte Teil dieses Gebietes eigentlich unter – gehörte zum Osmanischen Reich unter osmanischer Kontrolle. Ein ganz kleiner Teil gehörte zu Venedig noch. Das sind die Inseln ganz im Westen da im Ionischen Meer , fast am Eingang zur Adria. Aber eigentlich gehörte das zum Osmanischen Reich und zwar schon sehr viele Jahrhunderte auch: Denn die Osmanen hatten das Byzantinische Reich erobert im 15. Jahrhundert.
ERZÄHLERIN:
1453 fiel Konstantinopel in die Hände der Osmanen. Das war das Ende von Byzanz, vom Oströmischen Reich. Doch es kam nicht zu einem massenhaften Exodus der griechischsprachigen Bevölkerung. Schnell arrangierte sich die Orthodoxe Kirche mit den neuen Machthabern und beließ ihren Sitz in Konstantinopel. Der Patriarch war nach islamischem Recht nun nicht nur geistliches Oberhaupt, sondern auch der weltliche Führer des Millet-i-Rum, der "römischen Religionsgemeinschaft". Nochmals zur Erinnerung: Die Griechen hießen ja damals Römer.
MUSIK: C112782 004 (00‘52‘‘)
ZITATOR (Geografia Neoteriki):
Unter den Türken könnten die heutigen Griechen sehr glücklich leben, wegen vieler guter Dinge, die sie anderswo entbehren müssen.
ERZÄHLERIN:
1791, also nach über 300 Jahren osmanischer Herrschaft, beschreibt ein griechischer Geograph die Zustände im Land:
ZITATOR (Geografia Neoteriki):
Die Griechen könnten sehr glücklich leben, wenn zwei Dinge fehlen würden: das eine ist beiden gemein, das andere aber ist nur den Herrschenden zu eigen: Wenn der religiöse Hass fehlen würde, den die Griechen gegen die Türken und die Türken gegen diese hegen. Das andere ist die despotische Regierung ...
ERZÄHLERIN:
Über Jahrhunderte hatte das Millet-i-Rum-System ganz gut funktioniert. Und viele Griechen hatten sich trotz fremder Besatzung mit dem Sultan arrangiert ...
MUSIK ENDE
O-TON Ioannis Zelepos:
Das kann man eigentlich tatsächlich auch sagen. Es gab ja Eliten, die sich im Osmanischen Reich dann nicht nur finanziell sozusagen gut behaupten konnten, sondern auch in hohe Staatsämter gekommen waren. Auch die Amtskirche, also der hohe Klerus, der war bestens vernetzt eigentlich mit der Sultansherrschaft. Und eigentlich kann man tatsächlich sagen, dass auch in dem Gebiet, wo der Aufstand stattfand, in den Jahrzehnten vorher eigentlich ein Wirtschaftsaufschwung stattfand. Denen ging es sogar eher besser als hundert Jahre zuvor. Aber ...
ERZÄHLERIN:
Aber trotzdem wächst die Unzufriedenheit. Das untergehende Osmanische Reich lässt immer höhere Steuern eintreiben und auch die Glaubenskonflikte zwischen Muslimen und Christen nehmen zu. Die einfache Bevölkerung auf dem Land bekommt von dem Wirtschaftsaufschwung wenig mit.
O-TON Ioannis Zelepos:
Die Idee, dass man doch jetzt mit einem eigenen Staat weiter kommt, besser vorankommt, die griff dann um sich.
ERZÄHLERIN:
Sagt Ioannis Zelepos, Verfasser einer "Kleinen Geschichte Griechenlands".
O-TON Ioannis Zelepos:
Ganz starke Impulse für diese Bewegung kommen eigentlich aus dem Bereich dieser Diaspora-Gemeinden: namentlich aus Paris, aus Wien, aus Odessa. Da bildeten sich so die ersten Zentren. Da gibt es dann ein intellektuelles Milieu sozusagen von Griechen, die diese Idee aufgreifen, dass man sich organisiert, dass man einen Aufstand organisiert.
MUSIK: priv. CD „Tin Ora Pou Axionomai“ aus „I Ellada Tou Riga“ (01‘22‘‘)
ZITATOR (Ioannis Makrygiannis):
Die Gegend, wo ich geboren bin, ist bei Lidoriki, ein Dorf in der Gegend von Lidoriki, genannt Avoriti, fünf Hütten.
ERZÄHLERIN:
Ioannis Makrygiannis, geboren 1797 in einem kleinen Ort in Mittelgriechenland, beginnt mit 32 Jahren, seine Erinnerungen aufzuschreiben.
ZITATOR (Ioannis Makrygiannis):
Ich kann ein wenig schreiben, obwohl ich niemals in die Schule gegangen bin, da ich nie die Gelegenheit dazu hatte.
ERZÄHLERIN:
Makrygiannis durchläuft den griechischen Unabhängigkeitskrieg von Anfang bis zum Ende in allerlei Posten. Als Guerillero, als General und als Politiker. Er kommt aus einfachsten Verhältnissen.
ZITATOR (Ioannis Makrygiannis):
Meine Eltern waren sehr arm; an ihrer Armut war die Raubgier der ortsansässigen Türken schuld ...
ERZÄHLERIN:
Schon als Jugendlicher gelangt er mit einem selbst aufgezogenen Getreidehandel zu Geld. Er kauft sich ein silberbeschlagenes Gewehr und andere Waffen. Und er kommt in Kontakt mit neuen, geheimnisvollen Kreisen …
ZITATOR: (Ioannis Makrygiannis)
Ich hatte einen Freund, einen Priester. Und ich war eng mit ihm befreundet, und er war besser zu mir als zu seinen eigenen Kindern. Er wollte mich in das Geheimnis der Hetaireia einweihen
ERZÄHLERIN:
Das Geheimnis der Hetaireia?
O-TON Ioannis Zelepos:
Die Gesellschaft der Freunde oder auf Griechisch: Filiki Hetaireia.
MUSIK: C112782 016 (00‘58‘‘)
ERZÄHLERIN:
Die Gesellschaft der Freunde wurde weit weg von Griechenland 1814 im russischen Odessa gegründet. Von einigen Diaspora-Griechen. Ein Geheimbund in Anlehnung an die Freimaurerlogen. Einziges Ziel der Filiki Hetaireia: Befreiung des Vaterlands. Viele Mitglieder hatten die verschwörerischen Freunde wohl nicht, aber:
O-TON Ioannis Zelepos:
Sie konnten doch den Eindruck vermitteln an ihre Adressaten, dass da eine große Organisation ist. Und dann verbreiteten sie auch das Gerücht, dass dahinter eigentlich der Zar von Russland sogar steht. Das heißt, wer da angeworben wurde, der hatte dann das Gefühl, aha, wir haben hier so eine Organisation. Das mochte gar nicht stimmen n Wahrheit, aber das führte dazu, dass dann doch die Bereitschaft, so einen Aufstand zu machen, anstieg.
+ MUSIK: C112782 015 (00‘12‘‘)
ZITATOR: (Ioannis Makrygiannis)
Ich überlegte mir alles und hielt mir alles vor Augen: Tod, Gefahren und Kämpfe, die ich alle für die Freiheit meines Vaterlandes und meiner Religion erdulden werde.
MUSIK: priv. CD „O Thourios Tou Riga“ aus „I Ellada Tou Riga“ (00‘51‘‘)
ZITATOR (Rigas Thourios):
Wie lange, meine Helden, sollen wir in Fesseln leben, allein wie Löwen auf Kämmen und Gipfeln ...
ERZÄHLERIN:
Das Revolutionslied "Thourios" von Rigas Velestinlis. Er war einer der Vordenker des griechischen Aufstandes.
ZITATOR (Rigas Thourios):
… Lieber eine Stunde in Freiheit leben als 40 Jahre in Sklaverei!
ERZÄHLERIN:
Den Beginn des Aufstandes auf der Peloponnes am 25. März 1821 erlebt Rigas Velestinlis nicht mehr. 1797 wurde er von den Osmanen wegen seiner revolutionären Schriften hingerichtet.
ZITATOR (Rigas Thourios):
Allein nur mein Leichnam wird sterben, mein Geist wird mich überleben, denn er hat schon alle Herzen der Griechen durchdrungen.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN:
Ob der griechische Aufstand wirklich genau am 25. März 1821 begonnen hat, mag bezweifelt werden. Aber es ist der christliche Feiertag "Mariä Verkündigung" und so hat das Datum durchaus symbolischen Charakter. Es war ein Aufstand der Christen gegen ihre muslimischen Besatzer.
O-TON Ioannis Zelepos:
Man dachte eigentlich sogar an einen allgemeinen Aufstand gegen den Sultan, zumindest in dem von orthodoxen Christen bewohnten Teil des osmanischen Reiches, slso sogar im heutigen Bulgarien, Serbien, Rumänien. Man dachte, dass das also eine viel, viel größere Angelegenheit werden würde. Und so hat ja auch der erste Anbeginn dieses Aufstandes nicht in Griechenland stattgefunden, sondern im heutigen Rumänien.
ERZÄHLERIN:
Die Unruhen in Rumänien werden vom Sultan schnell niedergeschlagen. Aber in Griechenland entbrennt ein mehrjähriger Krieg, mit Massakern auf osmanischer und griechischer Seite. Zwar gelingt es den Griechen relativ schnell, die Osmanen zu vertreiben. Aber nun geraten die griechischen Aufständischen in einen Bürgerkrieg: Uneins, wie die Machtverteilung im neuen Staat aussehen soll, kämpfen alte Eliten gegen neue Machthaber, kämpfen Insulaner gegen Festland-Griechen. Und kein Frieden in Sicht. Weder im Inneren noch im Äußeren.
O-TON Ioannis Zelepos:
Dann kam zwei, drei Jahre später dieses Expeditionskorps aus Ägypten. Ägypten gehörte noch nominell zum Osmanischen Reich, war aber formal unabhängig, und die Ägypter die schickten da also wirklich eine modern ausgerüstete Armee. Das war die Absprache: Der Sultan versprach den Khediven in Ägypten: Wenn ihr uns helft, bekommt ihr die Insel Kreta und die Peloponnes. Und – also gegen die konnten die schon nicht mehr sehr viel ausrichten die Aufständischen.
ERZÄHLERIN:
Im Februar 1825 landet das ägyptische Heer auf der Peloponnes. Ein Jahr später stehen sie vor Athen und belagern die Akropolis. Die Griechische Revolution scheint am Ende.
MUSIK: C112782 012 (00‘55‘‘)
ZITATOR (Aufruf der Philhellenen):
Noch steht die griechische Nation aufrecht! Noch kämpft sie tapfer und unermüdet für Dinge, die dem Menschen überhaupt das Heiligste und Teuerste sind, und ewig bleiben werden!
ERZÄHLERIN:
Münchner Philhellenen rufen zu Spenden für den griechischen Unabhängigkeitskrieg auf. Schon von Anfang an begleiten Philhellenen aus ganz Europa die Revolutionäre mit wohlwollenden Publikationen und Geldgaben.
ZITATOR (Aufruf der Philhellenen):
Trotz aller erlittenen Drangsale, trotz all dem glänzen die Unglücklichen dennoch durch Taten, die dem Heroismus des alten Hellas in nichts nachstehen! Hoffen wir getrost, dass die neuen Hellenen, mit der Hilfe Gottes, sich vom Joch der Türken befreien werden, wie ihre großen Vorfahren sich vom Druck der Perser befreit haben.
ERZÄHLERIN:
Eigentlich saßen die Philhellenen einem Missverständnis auf (MUSIK ENDE): Die europäischen Griechenfreunde hofften auf die Wiedergeburt des antiken Griechenlands mit einem glänzenden Athen als Hauptstadt, die Revolutionäre allerdings dachten wohl mehr an einen christlich-orthodoxen Staat mit dem Zentrum Konstantinopel: Doch davon ist man weit entfernt: Athen ist noch ein kleines Bauerndorf mit einer alten Akropolis. Und Konstantinopel heißt Istanbul. Aber den Philhellenen gelingt es, den griechischen Aufstand einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen und sie zu mobilisieren. Viele junge Männer aus Deutschland und England melden sich als Freiwillige für den Krieg gegen die Türken.
O-TON Ioannis Zelepos:
Ja, und das führte letztlich dazu auch – oder hing damit zusammen, dass dann wirklich die europäischen Großmächte eingriffen. Und zwar nicht nur diplomatisch, sondern auch militärisch. Und das ist eigentlich dann der Schlüssel dafür gewesen, dass dieser eigentlich militärisch schon gescheiterte Aufstand dann letztlich politisch zum Erfolg wurde. Also konkret: England, Frankreich und Russland.
ERZÄHLERIN:
Eigentlich hegen Engländer, Franzosen und Russen völlig unterschiedliche Interessen in Griechenland. Jeder von ihnen will sich seinen Einfluss im künftigen Staate Griechenland sichern. Doch gegen die ägyptische Invasionsflotte schließen sie sich zusammen. Mit einem gemeinsamen Geschwader vernichten sie die Flotte von Ibrahim Pascha. Am 20. Oktober 1827 in Navarino. Es war die letzte Seeschlacht des Segelschiffzeitalters. David Urquhart, schottischer Reisender und natürlich Philhellene, wird Augenzeuge:
MUSIK: C118397 003 (00‘44‘‘)
ZITATOR (David Urquhart):
Man hörte noch bis Sonnenuntergang ein unregelmäßiges Kanonenfeuer mit geringen Unterbrechungen. Der Wind hatte sich gelegt und ein Vorhang von Rauch verhüllte den Schauplatz, auf den alle Aufmerksamkeit gewendet war. Aber als die Sonne sank, als die Nacht ihren dunklen Mantel ausbreitete, da glänzte hell die Flamme von elf brennenden Schiffen durch das Leichentuch der Wolken und spiegelte sich in den Wellen. Das war ein denkwürdiger Tag für Griechenland, ja für Europa.
ERZÄHLERIN:
Griechenland ist von den Osmanen befreit, aber immer noch nicht einig und immer noch kein von den Großmächten anerkannter Staat (MUSIK ENDE). Während England, Frankreich und Russland in Hinterzimmern über das Schicksal Griechenlands verhandeln, wählt eine hellenische Nationalversammlung den ersten Regenten: Ioannis Kapodistrias. Ein erfahrener Diplomat und ehemaliger Staatssekretär in russischen Diensten. Der stand Anfangs der griechischen Unabhängigkeitsbewegung skeptisch gegenüber, doch nun beginnt er mit großem Elan, Griechenland zu modernisieren.
O-TON Ioannis Zelepos:
Ein bekanntes Beispiel ist der Kartoffelanbau: Die Kartoffel, die war völlig unbekannt in Griechenland, die wurde von Kapodistrias eingeführt. Das ist wichtig. Überhaupt hat er die Landwirtschaft gefördert, er hat sogar eine Landwirtschaftsschule gegründet, eine eigene Währung, Grundlagen eigentlich der staatlichen Verwaltung.
ERZÄHLERIN:
Doch Kapodistrias scheitert an seinen Landsleuten. Als Modernisierungsdiktator wird er empfunden, als Tyrann. Nach vier Jahren Regentschaft kommt es im äußersten Süden der Peloponnes, auf der Mani, zu einer Revolte gegen Kapodistrias. Er lässt den Aufstand niederschlagen und verhaftet den Anführer. Aus Rache wird Kapodistrias von dessen Familie ermordet.
O-TON Ioannis Zelepos:
Aber trotz allem kann man schon sagen, dass Kapodistrias in vieler Hinsicht wirklich Grundlagen gelegt hat. Vieles davon wurde dann ein paar Jahre später umgesetzt auch, als die Unabhängigkeit beschlossen wurde, von den Bayern.
MUSIK: C112782 004 (01‘10‘‘)
ZITATOR (Ioannis Makrogyannis):
Heute wird das Vaterland neu geboren, es steht von den Toten auf, da es so lange verloren und ausgelöscht war.
ERZÄHLERIN:
Während Griechenland nach dem Tod von Kapodistrias wieder in Anarchie und Bürgerkrieg verfallen war, einigten sich Russland, Frankreich und England darauf, eine Erbmonarchie einzurichten.
ZITATOR: (Ioannis Makrogyannis)
Heute werden die Kämpfer wieder zum Leben erweckt, die Politiker, der Klerus, die Soldaten, weil unser König eingetroffen ist, den wir mit Gottes Hilfe bekommen haben.
ERZÄHLERIN:
Der König, der am 6. Februar 1833 in der griechischen Hauptstadt Nafplio eintrifft: Er ist ein Wittelsbacher. Es kommt der noch minderjährige Otto, Sohn vom bayerischen König Ludwig I. Ioannis Makrygiannis, Freiheitskämpfer der ersten Stunde, begrüßt ihn:
ZITATOR (Ioannis Makrogyannis):
Und ich sagte zum König: "Wir haben die Pflicht, Dich zu hören und dich mit unserem Leben zu beschützen und Deine Majestät soll Deine Gerechtigkeit über unser Unglück breiten. Es lebe der König und unsere Wohltäter, die Mächte." Dann ging ich.
MUSIK ENDE
ERZÄHLERIN:
Otto will - ganz im Sinne seines Vaters - aus dem neu entstandenen Griechenland ein Musterkönigreich bauen. Immer das antike Griechenland im Blick, aber natürlich mit einem Herrscher von Gottes Gnaden. Er bestimmt Athen als Hauptstadt, lässt sie von seinen Architekten neu errichten. Er lässt die von Kapodistrias initiierten Reformen durchführen, gründet eine Universität und führt sogar das bayerische Reinheitsgebot für Bier ein. - Und trotzdem: Auch er scheitert nach immerhin 30-jähriger Regentschaft am griechischen Freiheitswillen (MUSIK: priv. CD „Greek Folk Tune” aus „Greek Enlightenment“ [00‘40’‘]). - Philhellene blieb er.
O-TON Ioannis Zelepos:
Ich hab gelesen, dass der, als der nachher ins Exil geschickt wurde, dass er also nicht nur immer in griechischer Tracht auch alltäglich sich bewegt hat, sondern auch Griechisch gesprochen hat. Also der war ganz ohne Zweifel auch ein griechischer Patriot.
ERZÄHLERIN:
Das war also die Gründung des modernen Griechenlands. Zur Ruhe gekommen sind die Griechen in ihrem neuen Staat damit zwar noch lange nicht …
ZITATOR:
… aber das ist ein anderes Drama.
Hebräisch ist eine der ältesten und gleichzeitig jüngsten Sprachen der Welt. Über Jahrhunderte als Sakralsprache verwendet, wird sie im 19.Jahrhundert als alltäglichen Umgangssprache wieder belebt. Modernes Hebräisch: Wie aus der Sakralsprache Ivrit wurde. Autorin: Ulrike Beck
Credits
Autorin dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Jerzy May
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Michael Brenner, Historiker, Inhaber des Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München;
Daphna Uriel, Dozentin für Modernes Hebräisch am Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München
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In diesem Podcast gehen wir auf eine Reise: Von 2015 bis Heute. Und sehen: Diese Nacht hat einen Riss in der Gesellschaft hinterlassen. Damals wurden mehr als 600 Frauen Opfer von sexuellen Straftaten. Die Täter: Meist Männer aus Nordafrika. Dieses Täterprofil hat Debatten über Integration, Flucht und Sicherheit verändert. Bis heute. Was haben wir in Sachen Migration und Asyl gelernt, ignoriert und verpasst seit der Kölner Silvesternacht 2015? Wir reden über Ängste und Angstmacher, Täter und Opfer, die AfD und über ein kleines Dorf in der Eifel, Marmagen. Wir hören die Geschichten derer, die von der Nacht nicht losgelassen werden. So wie uns alle die Silvesternacht 2015 bis heute nicht loslässt.
ZUM PODCAST
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik: C1028320014 Kol Nidrei 1‘12
Zitator
Wenn Moses heute zurückkäme und um ein Stück Brot bäte, verstünde man ihn.
Erzählerin
Das behauptet David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident des 1948 gegründeten Staates Israel.
Musikakzent
Erzähler
Hebräisch ist im Laufe des 1.Jahrtausends v. Chr. entstanden - als Sprache, in der die heiligen Schriften des Judentums verfasst wurden. Bis heute ist das Hebräische die globale liturgische Sprache für das Judentum geblieben, die Sprache fürs Gebet.
Erzählerin
Dass diese Sprache als lebendige Sprache die Jahrtausende überdauern wird und erfolgreich ins alltägliche Leben zurückgeholt wird, danach sieht es ab dem zweiten Jahrhundert nach Christus nicht aus.
Denn nachdem die Römer Jerusalem und den Zweiten Tempel bereits zerstört hatten, verhängt 135 n.Chr. Kaiser Hadrian ein Ansiedlungsverbot für Juden in Jerusalem.
Erzähler
Damit beginnt die Zeit des Exils, in der Juden auf der ganzen Welt verstreut leben. Fast zweitausend Jahre lang spricht niemand mehr hebräisch, um ein Brot zu kaufen oder sich zu unterhalten.
Erzählerin
Dennoch stirbt die Sprache nicht aus, sondern wird als Mittelhebräisch von gebildeten Juden weiterhin benutzt. Wie der Historiker Michael Brenner erklärt. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München:
1.O-Ton (Brenner ab 2:16)
Hebräisch war eine Sprache, die im Alltag durchaus vorhanden war, aber eben zum einen im Gebet und zum anderen im Studium. (…) Und so muss man sich vorstellen, dass viele Juden über viele Jahrhunderte hinweg - und das betrifft vor allem die Männer, weil die studiert haben - durchaus mit dem Hebräischen vertraut waren. Und das sieht man auch daran, dass sich auch im Mittelalter manchmal Juden, die auf der einen Seite in Ägypten und dann in Polen lebten oder sagen wir mal in Deutschland lebten, dass die sich auch Geschäftsbriefe auf Hebräisch schreiben konnten. Wenn das die einzige Sprache war, die sie miteinander verband.
Erzähler
In der Zeit der Diaspora beginnen Juden in den jeweiligen Ländern des Exils neue Sprachen zu entwickeln. Die bekannteste davon ist Jiddisch.
2.O-Ton (Brenner ab ca. 5:00)
Das heißt, der Großteil der Juden etwa um 1900 sprach Jiddisch, denn die meisten Juden lebten in Osteuropa. Ihre Wurzeln waren aber in Deutschland, und man nahm sozusagen bei der Vertreibung aus den deutschen Territorien am Ende des Mittelalters zu Beginn der Neuzeit die deutsche Sprache mit. Aber sie blieb auf dem Stand des etwa vierzehnten, fünfzehnten Jahrhunderts stehen und entwickelte sich weiter, aber mit dem eben Einsprengseln Hebräisch und slawische Sprachen, sodass die jiddische Sprache entstand, die auch in hebräischen Buchstaben geschrieben wird.
Erzählerin
Ähnlich ist es mit den Juden, die am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts aus Spanien und Portugal vertrieben werden und sich in Nordafrika, in der heutigen Türkei oder auf dem Balkan niederlassen. Auch sie entwickeln eine eigene Sprache: das Judäo-Spanisch bzw. Ladino.
Musik: Z8015143113 Julitschka 1‘07
Erzähler
Die Idee, die hebräische Sprache neu zu beleben, entsteht in der Zeit der Aufklärung. Bereits 1771 beginnt der deutsch-jüdische Philosoph Moses Mendelssohn in Berlin, die Psalmen und die fünf Bücher Mose ins Deutsche zu übersetzen.
Erzählerin
Mendelssohn besteht darauf, dass seine Übersetzung der Tora ab 1780 auch in hebräischen Buchstaben gedruckt und ausführlich auf Hebräisch kommentiert wird. Wenige Jahre später legen Mendelssohns Schüler den Grundstein für eine säkulare Dichtung auf Hebräisch. Indem sie die erste kontinuierlich erscheinende Zeitschrift gründen, die unter dem Titel „Hameassef“, „Der Sammler“ in Berlin und Königsberg erscheint.
Musikakzent
Erzähler
Dass Hebräisch nicht nur die Zweit- oder Drittsprache von gebildeten jüdischen Männern bleibt, das macht sich der Sprachwissenschaftler Eliezer Ben Yehuda ein Jahrhundert später zur Lebensaufgabe. Er gilt als der Vater des modernen Hebräisch, dem Ivrit.
Musikakzent
Erzählerin
1858 im russischen Zarenreich, im heutigen Litauen als Eliezer Perlman geboren, begeistert er sich schon während seiner Schulzeit für jüdische Aufklärungsliteratur. Die er auf Hebräisch liest. Bald benennt er sich um in Eliezer Ben Yehuda. Neben seiner Liebe zur jüdischen Literatur und Sprache begeistert ihn der aufkommende Zionismus.
Erzähler
Also der jüdische Nationalismus, der davon ausgeht, dass die Juden nicht nur eine religiöse Gemeinschaft sind, sondern auch eine politische. Und insofern genau wie andere Völker auch den Anspruch haben, einen eigenen Staat zu bilden.
Erzählerin
Die Frage nach einer eigenen Nation wird 1881 nach dem Attentat auf den russischen Zaren Alexander II. existentiell. Denn die Schuld an dem Attentat wird „den Juden“ angelastet. In der Folge kommt es ab 1881 zu einer Welle von Pogromen in Russland und Polen.
Musik: C1028320025 Der jiddische Fidler 0‘33
Erzähler
Eliezer Ben-Yehuda ist einer der ersten von rund 30.000 osteuropäischen Juden, die wegen der antisemitischen Übergriffe in Russland und Polen mit der sogenannten ersten Aliyah nach Palästina auswandern.
Erzählerin
1881 verlässt er Russland und lässt sich in Jerusalem nieder. Angetrieben von seinem Ziel: Ivrit, also ein modernes Hebräisch, als Umgangssprache für das Leben in einem neuen säkularen jüdischen Staat zu etablieren.
3.O-Ton (Brenner ab 6:16)
Eliezer Ben Yehuda war ein Hebräisch Enthusiast und ein früher Zionist, der sagte: Wir sollten uns in unserer alten Heimat wieder ansiedeln, vor allem auch, weil wir dazu gezwungen werden aufgrund des Antisemitismus, der Pogrome in Russland. Und der sagte wir brauchen auch unsere alte Sprache wieder. Und zwar nicht nur als Sprache fürs Studium und als Sprache für das Gebet, sondern als gesprochene Sprache. Und er machte sich daran, ein hebräisches Lexikon zu schreiben und die hebräische Sprache in dem Sinn wiederzubeleben, dass er eben Ausdrücke kreierte, die im modernen Hebräisch nicht existierten. Denn viele Begriffe des neunzehnten Jahrhunderts existierten natürlich in der Bibel und demnach im biblischen Hebräisch nicht. Also musste man diese Begriffe neu schaffen und diese Sprache wiederbeleben als Alltagssprache.
Erzähler
Ben-Yehudar macht sich in Jerusalem an die Aufgabe, mit Ivrit eine Sprache zu schaffen, die sich einerseits in Schriftbild und Morphologie am biblischen Hebräisch orientiert und für die gleichzeitig ein zeitgemäßes Vokabular kreiert werden muss, damit sie überhaupt als Alltagssprache taugt.
4.O-Ton (Brenner 7:42)
Ja, das war gar nicht so einfach, denn so ein richtiges Beispiel dafür gab es nicht. Sodass er erstmal versuchte, aus den existierenden Worten - im Hebräischen zum Beispiel haben die Verben jeweils eine Wortwurzel, die meistens aus drei Buchstaben besteht - dass er versuchte, aus diesen bestehenden Wurzeln neue Worte zu schaffen. Und das andere war, dass er dann in manchen Fällen eben auch versuchte, aus europäischen Sprachbeständen - Deutsch, Französisch, Englisch auch wiederum neue Worte zu schaffen. Und so entstand also ein neues Vokabular - einmal aufbauend auf dem alten biblischen Hebräisch und auf der anderen Seite aufbauend, auf modernen europäischen Sprachen.
Musik: Z8015897108 Kirkja 0‘25
Erzählerin
Es entstehen Vokabeln wie „sabon“ für Seife, das vom französischen „savon“ kommt. Oder iton, in dem das deutsche Wort Zeitung steckt, weil das hebräische „et“ übersetzt Zeit bedeutet. Im Laufe der Jahre werden zig Lehnwörter fester Bestandteil des Ivrit-Vokabulars.
Erzähler
Darunter auch viele deutsche, wie Daphna Uriel ausführt. Sie ist Dozentin für Modernes Hebräisch und unterrichtet Studierende am Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur der LMU München.
5.O-Ton (Uriel ab 26:51)
Vor allem in Disziplinen wie Architektur, Bau, Maschinen. Wir haben Kugellager, wir haben Installator (…) wir haben Zimmer bis heute ist genutzt „Zimmer frei“. (…) Es gibt Schilder mit Zimmer frei - das schreibt man auf Hebräisch. Es gibt Schalter, Stecker, alle diese Sachen sagen wir auf Hebräisch.
Erzählerin
Und Vokabeln, die bis heute in der hebräischen Verbform durchkonjugiert werden, wie Michael Brenner veranschaulicht:
6.O-Ton (Brenner ab ca. 9:00)
Zum Beispiel das Wort Spritzen also mit Wasser spritzen. Also Le ha spritz, hu Spratz und so weiter kommt alles von Spritzen aber wird dann hebräisch durchkonjugiert. Und es gibt natürlich auch Worte wie Fernseher, der erstmal wörtlich übersetzt wurde wie im Deutschen auch. Aber was die Leute verwenden - heute und seit vielen Jahrzehnten - ist der englische Begriff Televizija - also kein Mensch, sagt Fernseher, auf Hebräisch übersetzt.
Erzähler
1881 sind längst nicht alle diese Worte Bestandteil des Ivrit-Vokabulars, denn Ben-Yehuda muss die Sprache erst erschaffen, die sich so schnell wie möglich als alltagstauglich etablieren soll. Um dieses Ziel schneller zu erreichen, benutzt er seine Familie als Übungsfeld.
Erzählerin
Die Devise im Hause Ben-Yehuda lautet: Rak Ivrit - nur Hebräisch. Seiner Familie mutet er damit sehr viel zu, denn außer ihnen spricht zu dieser Zeit niemand Hebräisch auf der Straße. Michael Brenner:
7.O-Ton (Brenner ab 11:18)
Sein Sohn hat Memoiren veröffentlicht, geschrieben, und da spricht er unter anderem darüber, wie er als Kind von seinem Vater angehalten wurde, er dürfe nur Hebräisch sprechen. Nun hatte der arme Junge aber keine anderen Kinder, mit denen er Hebräisch sprechen konnte. Und auch mit der Mutter, also im Haushalt, dürfte nur Hebräisch gesprochen werden. Aber es gab noch nicht für alles Worte. Der Vater kreierte sozusagen gerade das hebräische Wörterbuch, und die Mutter sagte dann manchmal so Sätze wie ja, bring mir das und gibt mir das. Und ich gebe dir das, weil sie nicht wusste, was die Worte dafür waren.
Musik: C1028320020 Doina 0‘21
Erzähler
Ben-Yehudas ältester Sohn Ben-Zion, der sich später Itamar Ben-Avi nennt, gilt als das erste Kind, dass nach fast 2000 Jahren wieder mit Hebräisch als Muttersprache aufgewachsen ist. Wenn auch zu einem hohen Preis für die ganze Familie. Daphna Uriel:
8.O-Ton (Daphna ab ca. 11:40)
Die wurden aus der Gemeinde in Jerusalem ausgeschlossen, weil die Gemeinde in Jerusalem war orthodox. Und die Orthodoxen meinten man dürfe kein Hebräisch sprechen, weil das ist die heilige Sprache, das ist nicht für Alltag gemeint. Ich denke, er wurde berühmt, auch weil er so ein Fanatiker war. Aber auch wegen seiner zweiten Frau. Das war die Schwester seiner ersten Frau. Sie kam aus Russland und die war richtig die Motor hinter ihm. Die war eine sehr starke Frau, hat viele Spende gesammelt, damit er konnte einfach setzen und das Wörterbuch schreiben.
Erzählerin
1891 stirbt Ben-Yehudas erste Frau Debora an Tuberkulose. Kurz darauf heiratet Eliezer Deboras Schwester Paula. Eine jüdische Journalistin und Autorin, die sich in Jerusalem angekommen Hemda nennt.
Musikak: C1028320024 Kinneret 0‘59
Erzähler
Trotz aller Anfeindungen und Schicksalsschläge arbeitet Ben-Yehuda unermüdlich weiter an seinem Ziel, in Palästina eine säkulare jüdische Nation zu errichten, in deren Mittelpunkt die hebräische Sprache steht. Nach seiner Überzeugung die einzige Sprache, die alle Juden emotional und historisch miteinander verbindet.
Erzählerin
Er gibt Zeitungen in modernem Hebräisch heraus, gründet die Akademie für hebräische Sprache und arbeitet fieberhaft an seinem Gesamtwörterbuch der hebräischen Sprache, dessen erste sechs Bände 1910 erscheinen.
Erzähler
Er schafft die theoretischen Grundlagen für ein neues Hebräisch, das bis auf seine Familie und wenige andere aber praktisch niemand in Palästina spricht. Das bedeutet, dass er die jüdische Bevölkerung in Palästina dazu bringen muss, Ivrit zu lernen, um sich bald in dieser Sprache zu verständigen. Doch wie soll das gehen? Michael Brenner:
9.O-Ton (Brenner ab 15:06)
Ja, das war kein einfaches Unternehmen. Und der Begründer der zionistischen politischen Bewegung, Theodor Herzl, war selber kein Anhänger der Wiederbelebung des Hebräischen.
(…) Er sagte: Ja, wir können ja nicht mal ein Bahnticket in hebräischer Sprache kaufen. Wie sollen wir denn Hebräisch im Alltag sprechen? (…) Und das war eine große Herausforderung, die letztlich nur gelingen konnte, weil viele der osteuropäischen Zionisten, die eben wie Ben Yehuda aus Russland oder Polen kamen, auch die Notwendigkeit sahen: Eine Sprache muss in diesem Staat gesprochen werden, die alle Juden miteinander verbindet. Und dann wurde das teilweise auch mit Gewalt durchgesetzt. Es gab sogenannte Brigaden für die hebräische Sprache, die dann auch schonmal Leute, die in Tel Aviv am Strand entlang gegangen sind und jiddisch gesprochen haben, angehalten und sagten: Sprecht Hebräisch, kein Jiddisch, also da war man auch sehr streng.
Erzählerin
Bei der Mammutaufgabe, Hebräisch als gesprochene Alltagssprache zu etablieren, ist Ben-Yehuda nicht allein. Es sind die zionistischen Einwanderer, die - genau wie er - ab 1882 wegen der Pogrome in Russland aus Osteuropa nach Palästina kommen. Und die Voraussetzungen schaffen, dass diese Herausforderung gelingt.
Erzähler
Denn die Neueinwanderer gründen landwirtschaftliche Siedlungen und errichten Schulen, in denen ausschließlich auf Hebräisch unterrichtet wird. Als erste hebräische Schule der Neuzeit nimmt 1886 die Grundschule Havv in der Siedlung Rishon LeZion den Unterricht auf.
Erzählerin
Es entstehen immer mehr Schulen, Kindergärten und ab 1905 werden in Jaffa auch die ersten High-School-Klassen auf Hebräisch unterrichtet. Es sind die Kinder, die zu Hause das Neuerlernte ihren Eltern beibringen. Und zwar über viele Jahrzehnte:
10.O-Ton (Brenner ab 17:36)
Denn die meisten ihrer Eltern waren noch in den 60er-Jahren Einwanderer, die aus den verschiedenen Ländern kamen, und die Kinder bekamen es in der Schule. Aber schwierig war es tatsächlich, vor allem zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, diese hebräischen Schulen in Israel durchzusetzen. Gefördert wurden sie nämlich oft von Geldgebern aus Europa, aus Frankreich, aus Deutschland. Und zum Beispiel gab es den Hilfsverein deutscher Juden, der eine Schule in Haifa eingesetzt hat. Einmal gab es einen richtigen Sprachenstreit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Geldgeber aus Deutschland drangen darauf, dass die Unterrichtssprache Deutsch sei in Haifa. Während die Lehrer dann einen Streik ankündigten, sagten, wir wollen Hebräisch unterrichten. Letztlich haben Sie das dann auch gewonnen.
Erzähler
Die „Gesellschaft zur Hilfe für deutsche Juden“ besteht 1913 darauf, dass in der geplanten Ingenieursschule, dem späteren Technion in Haifa, der Unterricht auf Deutsch abgehalten wird. Da - so die Argumentation - das notwendige technische und wissenschaftliche Vokabular auf Ivrit noch zu dürftig sei.
Musik: C1028320020 Doina 0‘38
Erzählerin
Dabei macht schon zu Beginn des 20.Jahrhunderts die Wiederbelebung der Sprache deutliche Fortschritte. Auch, weil die erste Generation der Kinder, die in den Schulen Hebräisch gelernt hat, erwachsen ist. Und nun mit ihren eigenen Kindern hebräisch spricht. Damit wächst eine neue Generation von Muttersprachlern auf, die das moderne Hebräisch daheim, statt in der Schule lernt.
Erzähler
Als 1909 die erste hebräische Stadt Tel Aviv gegründet wird, ist Ivrit als Alltagssprache nicht nur auf den Straßen und in den Cafés zu hören, sondern wird dort auch als Verwaltungssprache verwendet. Sämtliche Straßenschilder und öffentliche Ankündigungen werden auf Hebräisch geschrieben.
Erzählerin
Diejenigen, die noch kein Hebräisch sprechen, werden nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in der Zeit des Britischen Mandats dazu angehalten, in der Öffentlichkeit ausschließlich Ivrit zu sprechen. Durch die Kampagne „Jude, spreche Hebräisch“, die Ben-Yehudas Sohn Itamar Ben-Avi 1919 ins Leben ruft.
Erzähler
Die freiwilligen Wächter der sogenannten Legion der Verteidiger der Sprache kennen dabei kein Pardon. Auch nicht für den Nationalpoeten Chajim Nachman Bialik, wie Daphna Uriel erzählt:
11.O-Ton [Daphna ab ca.13:50]
Einmal folgten die Bialik auf die Straße. Sie haben gehört, dass er jiddisch gesprochen hat, und (…) es gab (…) einen Prozess: „Warum haben Sie Jiddisch auf die Straße gesprochen?“ Und Bialik hat sich verteidigen, und am Ende wurde er freigesprochen. Weil und warum? Weil am Ende des Gespräches hat er ein Fluch auf Hebräisch gesagt auf diesen Mann, der ihn verfolgte. Und deswegen wurde er freigesprochen, weil er Hebräisch doch benutzt hat.
Erzählerin
Nur einen Monat vor seinem Tod gelingt es Eliezer Ben-Yehuda, 1922 den Hochkommissar des britischen Mandats für Palästina davon zu überzeugen, dass Hebräisch neben Arabisch und Englisch zur dritten offiziellen Amtssprache erhoben wird. Dazu wäre es nicht gekommen, hätte es fünf Jahre früher nicht eine wegweisende Deklaration gegeben. Michael Brenner:
12.O-Ton (Brenner ab 19:25)
Ja, das hängt natürlich auch mit den Versprechen der Briten zusammen, die schon 1917 in der Balfour-Deklaration gegeben wurden, nämlich den Juden eine nationale Heimstätte - es hieß nicht Staat - aber nationale Heimstätte in Palästina zu geben. Und zu diesem Nationalen gehört natürlich auch die Sprache. Und man war tatsächlich sehr stolz darauf, auf der Seite der aus Europa eingewanderten Juden, dass nun etwa auf den Briefmarken oder auf den Geldscheinen, also auf allen offiziellen Symbolen, auch Hebräisch verwendet wurde und etwa auf den Briefmarken das Wort Eretz Israel zumindest abgekürzt also das Land Israel in hebräischen Buchstaben auch erscheinen durfte.
Erzähler
1948 wird Hebräisch neben Arabisch endgültig zur Amtssprache des neu gegründeten Staates Israel. Dass es gelungen ist, Hebräisch als antike Bildungssprache nach Jahrtausenden als Alltagssprache wiederzubeleben, ist eine einzigartige kulturelle Leistung.
13.O-Ton (Brenner ab 20:42)
Man kann das in der Tat nicht mit dem Griechischen vergleichen, denn das biblische Hebräisch und das moderne Hebräisch sind zumindest so miteinander verwandt, dass jeder Israeli jede Israelin heute ganz gut die Bibel verstehen kann. Während natürlich, wenn jetzt König David auferstehen würde, er wahrscheinlich nicht jedem Wort folgen könnte, das in Israel gesprochen würde. Und Ben Yehuda und seine Nachkommen haben es geschafft, eine moderne Sprache zu schaffen, die im Alltag völlig kompatibel ist und trotzdem die Wurzel des biblischen Hebräisch zu bewahren und in diese Sprache zu integrieren.
Erzählerin
Ivrit bedeutet übersetzt nichts anderes als „hebräisch“. Als Ausdruck einer Sprache, mit der es gelungen ist, im Laufe der Jahrtausende einen historischen Bogen zwischen völlig verschiedenen Zeitaltern zu spannen.
Musik: C1028320024 Kinneret 0‘52
Erzähler
Es ist daher kein Zufall, dass die Bezeichnung Ivrit für das heute gesprochene Hebräisch sich auf ein lange zurückliegendes Ereignis in der biblischen Geschichte bezieht: den Turmbau zu Babel. Daphna Uriel:
14. O-Ton (Daphna ab ca. 37:00)
Ivrit kommt eigentlich von Ever, war ein so mythologische Figur in der Bibel. Der war so diese Uralt-Vater von vielen Nationen in der Region. Und die Geschichte mit Ever ist, dass er war so eine gute Mann und hat verweigert mitzumachen mit dem Bau von Turm von Babel. Und deswegen wurde er und seine Nachkommen nicht bestraft und ihre Sprache hat sich nicht verwirrt.
1923 ging in Deutschland die erste Radiosendung über den Äther - ohne einen einzigen journalistischen Wortbeitrag, ohne Kommentar oder Reportage, aber schon mit einem "Werbeblock". (BR 2020) Autor: Michael Marek
Credits
Autor/in dieser Folge: Michael Marek
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Chrostopher Mann
Technik: Peter Preuss
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Es sprachen: Bernhard Kastner im Gespräch mit dem Biologen Dr. Thassilo Franke
Technik: Mars13 / Peter Riegel
Redaktion: Iska Schreglmann
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Interviewpartner/innen:
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Tierwanderungen geben der Wissenschaft bis heute Rätsel auf. Wieso begeben sich jedes Jahr Millionen Gazellen, Störche, Kröten oder Wale auf Wanderschaft? Woher wissen sie, dass es Zeit ist, und wie finden sie ihren Weg? (BR 2020) Autorin: Claudia Heissenberg
Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Heissenberg
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Manfred Niekisch (Dr.; Professor; Experte für Tierschutz und ehemaliger Direktor des Frankfurter Zoos);
Andrea Flack (Dr.; Biologin am Max-Planck-Institut für Verhaltensforschung in Radolfzell);
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In der Zeit des Nationalsozialismus gingen viele Wissenschaftler ins Exil in die Türkei. Die türkische Regierung hatte Reformen angestoßen, das Land brauchte westliches Know-how. Ausgebürgerten Wissenschaftlern wurde in ihren Pass "heimatlos" gestempelt. 'Haymatloz' wurde später ein Synonym für Exilanten im Türkischen. Autorin: Claudia Steiner (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Christian Baumann, Peter Veit
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Elisabeth Weber-Belling, Tochter des Bildhauers Rudolf Belling;
Burcu Dogramaci, Professorin für Kunstgeschichte an der LMU München;
Sabine Mangold-Will, apl.-Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal;
Sabine Hillebrecht, Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1: „Sarilsam“ - C1438820106 – 23 Sek
O-TON 1 (Belling, 25.05)
Für mich – ich bin da geboren worden. Und ich bin da aufgewachsen. Für mich war es Heimat, und für meine Mutter war es auch Heimat, und für meinen Vater wurde es zur Heimat.
SPRECHER 1
…sagt Elisabeth Weber-Belling. Sie wurde 1943 in Istanbul geboren und verbrachte ihre gesamte Kindheit und Jugend am Bosporus.
MUSIK 2: „Dialoge“ von Heinrich Hartl – M0009164 000 – 51 Sek
SPRECHER 1
Ihr Vater, der Berliner Bildhauer Rudolf Belling, verließ das nationalsozialistische Deutschland und emigrierte am 6. Januar 1937 in die Türkei – wie viele andere kritische und verfolgte Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle. Rudolf Belling, der für seine abstrakte Skulptur „Dreiklang“ bekannt ist, hatte viel für Gewerkschaften gearbeitet. Einige seiner Arbeiten wurden von den Nazis gepriesen, andere diffamiert.
So wurde seine Bronze-Skulptur des Boxers Max Schmeling 1937 in der Großen Deutschen Kunstausstellung im Münchner Haus der Kunst gezeigt – einer von Adolf Hitler kuratierten Schau. Gleichzeitig aber fanden sich Bellings Arbeiten in der Ausstellung „Entartete Kunst“. Elisabeth Weber-Belling:
O-TON 2 (Belling, 3.11)
Die Aufträge fielen weg, freies Arbeiten war nicht mehr möglich, seine Arbeiten wurden diffamiert. (…) Also, wenn sie ihn gekannt hätten, mit seinem Temperament und (…) mit seinem kühlen Überlegen. Er zog den Hut und sagte: ‚Dann war es dann erst Mal‘. Erstmal vielleicht für zwei Jahre, denn er hatte ja erst mal einen Zweijahresvertrag.
SPRECHER 1
Die meisten Experten blieben nur für einige Jahre in der Türkei, Belling aber lebte und arbeitete viele Jahre in Istanbul. Er war neugierig auf das Land und die Menschen, sagt seine Tochter.
O-TON 3 (Belling, 0.35)
Als das Angebot aus der Türkei kam (…) da hat er sofort zugesagt. Er bekam ja das Angebot, mit einer blutjungen Generation zusammenzuarbeiten. Die Chance hatte er bis dahin in der Heimat nicht gehabt.
MUSIK 3: „Rast Peşrev“ - C1575380305 – 1:13 Min
O-TON 4 (gesprochen von Dr. Ergün Özsoy)
Dünyada her şey için, medeniyet için, hayat için, başarı için, en hakiki mürşit bilimdir, fendir."
SPRECHER 2
"Für alles auf der Welt - für die Zivilisation, das Leben, den Erfolg - ist Wissen und Wissenschaft der wahre Leitfaden."
SPRECHER 1
Ein Zitat des Gründers der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk. Die 1923 gegründete Türkei befand sich damals im Umbruch. Atatürk, erster Präsident der Türkei, brach mit der osmanischen Vergangenheit und wollte einen modernen Staat aufbauen. So wurden zum Beispiel 1926 das Schweizer Zivilgesetzbuch und das italienische Strafgesetzbuch übernommen. 1928 wurde der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen. Im selben Jahr wurde die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet ersetzt. Atatürk wollte westliches Know-how ins Land holen, sagt Burcu Dogramaci. Sie ist Professorin für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
O-TON 5 (Dogramaci, 5.45)
Hintergrund war, dass nach der Gründung der türkischen Republik 1923 sehr schnell klar war, dass es einen Cut zum Osmanischen Reich geben soll. Das heißt: Wissenschaft, Bildung, Kultur sollte ganz neu formiert, aufgebaut werden. Und dafür entledigten sich dann auch die Ministerien teils sehr rasch und rüde dem (…) wissenschaftlichen Personal, was bis dato beschäftigt war, zum Beispiel Architekten, die gelehrt hatten, die aber schon in der Zeit des Osmanischen Reiches lehrten.
SPRECHER 1
Die Regierung suchte deshalb bereits seit Mitte der 1920er-Jahre Hilfe bei der Modernisierung des Landes. Einige Experten kamen schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in die Türkei, andere erst, als es in Deutschland für sie unerträglich, schwierig oder gefährlich wurde, sagt die Historikerin Sabine Mangold-Will. Sie ist außerplanmäßige Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der der Bergischen Universität Wuppertal.
O-TON 6 (Mangold, 8.40)
Dann hat man angefangen zu sagen: Ja, also, um auf den modernsten Stand der Wissenschaft zu kommen, wollen wir, (…) Berater aus dem Ausland haben. Das war auch umstritten, weil (…) es gab so eine Erinnerung an (…) semi-koloniale Situationen aus dem Osmanischen Reich, also heißt: (…) Hat man zu viele ausländische Berater, gibt man sich ja auch in deren Hand. Und deswegen schafft man dann ein (…) System, das sagt: Wir (…) wollen die einladen. Wo die herkommen, ist uns völlig egal. Wir brauchen (…) die besten Leute, und wir machen ein Vertragssystem, das vorsieht: A: dass sie innerhalb kürzester Zeit Türkisch lernen müssen. Und B: dass sie nur begrenzt da sind. Das heißt, es werden ohnehin nur Fünf-Jahres-Verträge ausgeschrieben, oder man macht von vornherein klar, dass diese Berater nur vorübergehend kommen sollen.
SPRECHER 1
So kamen zwischen 1933 und 1945 neben dem Bildhauer Belling unter anderem der Stadtplaner Gustav Oelsner, der Architekt Bruno Taut, der Mediziner Albert Eckstein, der Botaniker Leo Brauner und der Sozialdemokrat und spätere Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter in die Türkei. Insgesamt lebten zeitweise etwa 1.000 Deutsche in der Türkei – Professoren aus verschiedenen Fachbereichen, wissenschaftliche Mitarbeiter, Experten und Künstler mit ihren Familien. Nicht alle waren Juden. Manche waren Sozialdemokraten, andere Kommunisten, oder sie hatten sich wie Belling für Gewerkschaften engagiert. Sabine Mangold-Will:
O-TON 7 (Mangold, 10.54)
Die stehen auf der Straße und sind einfach zufällig da, weil sie eben entlassen worden sind. Und das heißt, bei denen besteht auch eine große Bereitschaft zu gehen. Denn die Türkei fragt vorher zum Beispiel auch … in Frankreich an. Und da lehnen viele Wissenschaftler es einfach ab zu kommen, weil das nicht attraktiv ist. Also um das einfach mal zugespitzt und krass zu sagen. (…) Wer wollte 1933 schon in die Türkei? Ankara war ein Nest, das noch gar nicht gebaut war. Und Istanbul, ja, kann man machen. Muss man aber halt eine besondere Affinität irgendwie auch dafür haben. Warum sollte man dort hingehen? (…) Also da brauchte es einfach mehr, um zu sagen, das nehme ich jetzt auf mich, das mach ich. Ich ziehe auch mit Kind und Kegel um (...) das sind einfach Dinge, wo man sieht, dass das gar nicht so einfach war, Leute aus Europa zu bekommen. Und deswegen war es der Türkei, um das klar zu sagen, völlig egal, was für eine politische oder konfessionelle Ausrichtung die Menschen hatten. Und außerdem war es so, dass diese jüdischen Wissenschaftler von den Türken zunächst einmal nicht als Juden wahrgenommen worden sind, sondern als deutsche Wissenschaftler. Und das ist der entscheidende Punkt.
MUSIK 4: „Anne ermittelt“ - Z8022370117 – 1:25 Min
SPRECHER 1
Grundlage für die Arbeit in der Türkei war der 1927 geschlossene deutsch-türkische Niederlassungsvertrag. Allerdings waren eben nur etablierte Experten und Wissenschaftler erwünscht. Deutsche aus anderen Berufsgruppen bekamen in der Regel keine Arbeits- und damit auch keine Aufenthaltserlaubnis. Bereits seit 1932 galten in dem Land Berufsbeschränkungen zum Beispiel für Handwerker.
Forscher und Wissenschaftler dagegen waren gefragt. Oft lief die Anwerbung über Empfehlungen zum Beispiel über den Pathologen Philipp Schwartz. Schwartz wurde als jüdischer Professor aufgrund des am 7. April 1933 erlassenen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen und ging zunächst nach Zürich. Dort gründete er die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland und nahm Kontakt mit der Türkei auf. Er vermittelte zahlreiche Wissenschaftler und arbeitete selbst viele Jahre als Pathologe an der Universität Istanbul. Auch der Schweizer Pädagoge Albert Malche beriet die türkische Regierung – er schlug vor allem jüdische und politisch verfolgte deutsche Gelehrte zur Berufung an den Universitäten vor. Aber es gab auch zahlreiche andere Kontakte und Empfehlungen, sagt die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci.
O-TON 8 (Dogramaci, 3.33)
Das Unterrichtsministerium in Ankara war auf der Suche nach Experten aus dem Ausland, die eben auch teils Professuren übernehmen sollten. Und es gab einen Ministerialbeamten im Unterrichtsministerium, der hieß Cevat Dursunoğlu, der selbst in Berlin studiert hatte, also auch Deutsch sprechen konnte, sich sehr gut auskannte und tatsächlich sowohl Personen empfohlen hat als auch die Verhandlungen übernommen hat. Und dann war es eben so, dass auch schon Personen, die in der Türkei tätig waren oder gute Kontakte hatten, empfohlen haben.
MUSIK 5: „Eviç Taksim“ - M0039046108 – 39 Sek
SPRECHER 1
Gejagt von den Nationalsozialisten, gefragt in der Türkei: Für viele Deutsche bedeutete ein Vertrag in der Türkei zunächst einmal Sicherheit für sich und ihre Familien. Oft empfandendie Exil-Familien deshalb auch lange nach ihrem Aufenthalt eine tiefe Verbundenheit mit der Türkei und eine große Dankbarkeit, sagt Sabine Hillebrecht.
Sie arbeitet am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und hatte im Jahr 2000 an einer Ausstellung des Vereins Aktives Museum in Berlin mit dem Namen „Haymatloz“ mitgewirkt:
O-TON 9 (Hillebrecht, 7.05)
Wenn man jetzt mal guckt, was in Deutschland passierte, war das ja eine unglaublich privilegierte Situation. Der Status einer türkischen Universität war natürlich im wissenschaftlichen Bereich nicht so groß wie zuvor der Status an einer deutschen Universität wissenschaftlich tätig zu sein. Aber ganz abgesehen davon: Sie hatten feste Arbeitsverträge. Sie hatten Umzugskosten, die ihnen erstattet wurden. Sie wurden sehr, sehr gastfreundlich aufgenommen. Sie (…) konnten zum Teil auch Bedingungen stellen, was Übersetzung anging, was Mitarbeiterstab anging. Also, da gab es eigentlich gar keine Frage. Das war ein unglaubliches Glück, dort tätig zu werden.
MUSIK 6: „Rast Peşrev“ - C1575380305 – 53 Sek
SPRECHER 1
Der Architekt und Stadtplaner Martin Wagner schrieb zum Beispiel in einem Brief, er empfinde die Zeit in der Türkei wie in einem „Wartesaal erster Klasse“. Viele Wissenschaftler brachten Mitarbeiter, Hausangestellte sowie ihre Frauen und Kinder mit in die Türkei. Je nach Familie, nach Hintergrund, nach Wohnort war das Leben der Exil-Kinder sehr unterschiedlich. Elisabeth Weber-Belling wuchs zum Beispiel mit fünf Sprachen auf: Deutsch und Französisch, ihr Vater hatte eine belgische Mutter, Italienisch, ihre Mutter war eine in Istanbul geborene Italienerin, Griechisch, die Sprache des Hauspersonals der Familie Belling, und Türkisch, das sie im Alltag und beim Spielen auf der Straße lernte. Istanbul war damals zwar schon eine große Stadt, dennoch hatte sie als Kind viele Freiheiten.
O-TON 10 (Belling, 26.54)
Also von (…) der Möglichkeit her, mich zu bewegen, vieles zu erleben als Kind, sei es die Insel, sei es das Schwarze Meer, sei es den Bosporus, sei es Ferien in dem alten Polonezköy, das damals noch wirklich ein verwunschenes Dorf war. (…) Großzügig vom Elternhaus her, (…) frei, sehr selbständig. Also, ich denke schon so an meine ersten Schritte am Taksim Platz, in dem Taksim-Park. Mit drei, mit vier Jahren konnte man alleine mit Freunden dort spielen. Und wenn es fünf Uhr wurde oder halb sechs, dann rief unsere Aphrodite oben vom vierten Stock: ‚Kommt ihr jetzt nach Hause‘ - und dann gingen wir – ja, ist ja heute nicht mehr vorzustellen, Istanbul war ja auch weniger bevölkert damals.
SPRECHER 1
Viele Kinder gingen auf die deutsche oder österreichische Schule, andere besuchten türkische Schulen oder hatten Privatlehrer und -Lehrerinnen. In Ankara gab es zum Beispiel auch eine Botschaftsschule. Sabine Hillebrecht.
O-TON 11 (Hillebrecht, 20.22)
Das war ja die deutsche Schule, wo eben die Botschaftsangehörigen der Reichsdeutschen ihre Kinder hinschickten. Das wollte man ja jetzt auch nicht so gerne, sich dem da anschließen. (…) Und es hat sich dann relativ schnell so herausgestellt, dass man eine Privatlehrerin gefunden hat, die eine Zeit lang in Deutschland auch studiert hatte, in Augsburg - alle möglichen Dinge: Mathematik, Physik und so ein unglaubliches Wissen hatte. Die Frau Kudrit. Und die wurde engagiert und dorthin wurden die Kinder geschickt. Und das eben über die ganze Zeit bis 1945. Also es gibt Kinder, die eigentlich ihr ganzes Schulleben dort verbracht haben.
MUSIK 7: „Anne ermittelt“ – Z8022370117 - 1 Min.
SPRECHER 1
Zwischen 1933 und 1945 lebten in der Türkei aber nicht nur entlassene und verfolgte Wissenschaftler, sondern auch Diplomaten und Nationalsozialisten.
In türkischen Städten bildeten sich unterschiedliche Gruppen heraus. Reichsdeutsche und Nationalsozialisten wurden die Kolonie A genannt, kritische, verfolgte oder unliebsame Wissenschaftler und Künstler nannten sich Kolonie B. Es kam vor, dass jüdische Emigranten mit nationalsozialistischen Wissenschaftlern zusammenarbeiten mussten. 1939 wollte das Reichserziehungsministerium einen Überblick darüber bekommen, wie viele Juden und Nicht-Nationalsozialisten an türkischen Universitäten lehrten, zur Erfassung wurde ein Vertreter entsandt. Zwischen den beiden Gruppen gab es Kontakte, aber auch Berührungsängste, sagt Sabine Hillebrecht:
O-TON 12 (Hillebrecht, 5.36)
Aus gutem Grund. Also die Verfolgten wollten auch nicht ausgespitzelt werden. Es gab ja schließlich auch eine Auslandsorganisation der NSDAP, die auch als langer Arm des Deutschen Reiches dort hineinregierte in die Situation und man womöglich aufgefordert wurde, seinen deutschen Pass an der deutschen Botschaft abzugeben oder dort einbestellt wurde. Also das war ja nicht ungefährlich.
SPRECHER 1
Verfolgte Wissenschaftler, die ausgebürgert wurden, bekamen von den türkischen Behörden in ihren Pass den Begriff "heimatloz" gestempelt. Der Begriff 'haymatloz' – geschrieben mit y und z - ging in die türkische Sprache ein. Im türkischen Wörterbuch wird der Begriff mit „heimatlos“, „unstet umherziehend“ und „staatenlos“ übersetzt. Die Historikerin Sabine Mangold-Will.
O-TON 13 (Mangold, 29.13)
Und das wird dann richtig dramatisch, weil der türkische Staat formal eigentlich einen Staatenlosen nicht in seinem Staat akzeptiert. (…) Da gibt es dann auch wirklich Situationen, wo die Leute entscheiden müssen: Trete ich jetzt zum Islam über? Lass‘ ich mich naturalisieren? Wandere ich weiter? Oder: Wird mein Vertrag trotz alledem, weil ich eben ein hohes Renommee habe, also weiterhin anerkannt und verlängert. Und ich kann bleiben, trotz dieses Eintrages im Pass.
MUSIK 8: „Taksim & Mahur Pesrev“ – NC078310117 - 32 Sek
SPRECHER 1
Das Exil in der Türkei veränderte nicht nur das Wissen, die Methoden, die Verwaltungs- und Universitätslandschaft in der Türkei, sondern prägte umgekehrt auch die deutschen Wissenschaftler. So baute der Architekt Bruno Taut, der in Istanbul an der Akademie der Schönen Künste lehrte, 1938 in den Hügeln des europäischen Bosporus-Viertels Ortaköy ein ganz besonderes Haus. Burcu Dogramci:
O-TON 14 (Dogramaci, 16.29)
Und da ist sehr schön zu sehen, dass diese Erfahrung Istanbul sich wirklich eingeschrieben hat in seinen Entwurf. Also, wir sehen da eine Synthese aus seiner Zeit in Japan, Berliner Referenzen, aber auch ist sehr gut ablesbar das Studium osmanischer Wohnhäuser. Er hat sich sehr viel Architektur angesehen und hat dann einen tatsächlich eher so fantastisch-utopischen Bau geschaffen, der jetzt keiner einzelnen, nationalen Stil-Richtung zuzuordnen ist, aber wo eben dieses exiliert sein Ausdruck findet, ja, in einem eher Miteinander von verschiedenen Erinnerungsmomenten. Und da würde ich sagen: Gäbe es das Türkei-Erlebnis nicht. wäre wahrscheinlich dieser Bau, auch gerade mit Blick auf den Bosporus, auf die asiatische Seite, nie so entstanden.
SPRECHER 1
Auch wenn viele Experten große Freiheiten in Bezug auf ihre Arbeit hatten, gab es doch auch klare Erwartungen an sie. Sie sollten schnell Türkisch lernen, Lehrbücher schreiben und türkische Wissenschaftler und Künstler ausbilden. Das veränderte nach Meinung der Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci auch ihre eigene Arbeit.
O-TON 15 (Dogramaci, 11.32)
Zum Beispiel Rudolf Belling - der ja vor allem bekannt ist für seine abstrakten Arbeiten der späten 10er, frühen 20er Jahre, für seinen ‚Dreiklang‘ zum Beispiel, eine Skulptur - hat in der Türkei vor allem Staatsbildhauer ausgebildet, das heißt figurativ arbeitend und selbst auch teilweise sogar arbeitet. Aber es gab später dann auch wieder freie Arbeiten. Aber da ist ein ziemlicher Wandel zu beobachten in der eigenen Kunstauffassung. Und das hängt sicherlich auch mit der Erwartung zusammen, die an ihn herangetragen wurde.
SPRECHER 1
Staatspräsident Ismet Inönü, der nach dem Tod von Atatürk das Land führte, ließ sich von Belling ein repräsentatives Standbild anfertigen. Belling lebte und lehrte lange in Istanbul und kehrte erst 1966, im Alter von 80 Jahren nach Deutschland zurück. Ein Grund war sicher, dass Istanbul die Heimat seiner zweiten Frau war. Ein anderer, dass er in Istanbul von Anfang an gut vernetzt, anerkannt und beliebt war. Elisabeth Weber-Belling sagt, ihr Vater habe das Leben in der Türkei einfach geliebt
O-TON 16 (Belling, 52.29)
Er fühlte sich von seiner Tätigkeit her, von seiner Arbeit, sei es an der Akademie oder auch an der Technischen Universität, von der türkischen Gesellschaft viel mehr aufgenommen als von der deutschen Kolonie. Da kamen kaum Fragen, Interessen (…) Die Türken ja, die haben ihn bei der Arbeit beobachtet. Die interessierten sich für sein Leben und für seine Arbeit und für seine Entwicklung und für (…) dieses Kardinalthema raumhaltige Kunst. Ja, das war für die ein Denkanstoß par excellence, für die Deutschen kaum. Das ist, finde ich, auch sehr interessant, (…) dass die türkische Gesellschaft da viel engagierter war.
MUSIK 9:
„Nocturne“ von Marco Dreckkötter – M0077716Z00 - 44 Sek
SPRECHER 1
1944 brauch die Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab und forderte deutsche Staatsangehörige zum Verlassen des Landes auf. Wer nicht abreisen konnte oder wollte, wurde - mit wenigen Ausnahmen – in Zentralanatolien interniert. Die Deutsche Schule in Istanbul wurde geschlossen. Erst im Februar 1945 trat die Türkei auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein. Viele Deutsche lebten bis Ende 1945 in den Internierungslagern Kirșehir, Yozgat und Çorum. Die Familie Belling konnte in Istanbul bleiben:
O-TON 17 (Belling, 21.02)
Es kam ein Telegramm aus Ankara vom Kultusministerium an den Statthalter von Istanbul, Lütfi Kırdar hieß der. Und meine Mutter wurde zu ihm gerufen und als sie kam, schwenkt er ihr also ein Telegramm entgegen. Er sagte: „Ihr müsst euch keine Sorgen machen“. Ihr könnt frei in der Türkei, also in Istanbul natürlich vor allem, euch bewegen. Meinen Eltern wurden die Pässe nicht entzogen, es drohte keine Rückschickung und mein Vater konnte also bei vollem Gehalt weiterarbeiten. Das war natürlich ja, die Ausnahme. Ich habe (…) einen Brief von meiner Mutter an mich entdeckt, wo sie schreibt. Dieses Glück hatten nur eine Handvoll Familien. (…) Ja, und so blieben wir also frei, und mein Vater konnte (…) seine letzte Arbeit für den Ismet Inönü zu Ende führen. (…) Der Ismat Pasa muss ihn sehr gemocht haben. (…) Vielleicht hat er auch so ein kleines bisschen die Flügel über ihn gehalten.
MUSIK 10:
„Traurigkeit“ von W.A. Mozart - C5123770106 - 1:10 Min
SPRECHER 1
Für viele war die Türkei nur eine Zwischenstation – nach dem Krieg wanderten die meisten Wissenschaftler weiter in die USA oder nach England, einige kehrten nach Deutschland zurück. Das Wirken der deutschen Wissenschaftler in der Türkei aber wirkte lange nach, sie bildeten Generationen von Medizinern, Stadtplanern und Bildhauern aus. Und auch wenn nur wenige Forscher nach 1945 in der Türkei blieben, die Verbundenheit mit dem Land war groß. 1986 wurde in Anwesenheit des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am Eingang der Universität von Istanbul eine Gedenktafel für die deutschen Emigranten enthüllt. Darauf steht:
SPRECHER 2
„In Dankbarkeit dem türkischen Volk, das von 1933 bis 1945 unter der Führung von Staatspräsident Atatürk und seinen akademischen Institutionen deutschen Hochschullehrern Zuflucht gewährte.“
Die schönste und traurigste Liebesgeschichte der Welt - zwischen einem charismatischen Gelehrten und einer klugen, hübschen jungen Frau. Ihre Briefe sind Weltliteratur, ihre tragische Liebe rührt bis heute. Autorin: Katalin Fischer (BR 2018)
Credits
Autorin dieser Folge: Katalin Fischer
Regie: Petra Hermann-Boeck
Es sprachen: Katja Amberger, Martin Umbach, Hemma Michel, Christoph Jablonka
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Petra Hermann-Boeck, Andrea Bräu
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Am Anfang war der Kuss. Aber was für einer! Er gab den Auftakt zu einer legendären großen Liebe. Nun ist es leider die Art von großen Lieben, dass sie unglücklich enden. Zumindest werden sie nur dann berühmt - Unglück ist nun mal poetischer als Glück.
SPRECHER:
Die Protagonisten: außergewöhnlicher, kluger, schöner Mann, außergewöhnliche, kluge, schöne Frau, ein böser Onkel, drei grausame Mordgesellen. Und obwohl sie fast tausend Jahre alt ist, ist diese Geschichte heute noch so lebendig und anrührend, wie nur die Wahrheit sein kann.
SPRECHERIN:
Pierre Abaelard ist 38, der schönste Mann von Paris, charismatisch, erfolgreich, berühmt. Er ist Philosoph und Theologe, doch seine Haltung zu Ethik und Religion ist ganz anders, als vorgeschrieben - denn er appelliert an die Vernunft
SPRECHER
Der Glaubenssatz des Hl. Augustinus schrieb vor: „Credo ut intelligam“, „Ich glaube, um zu verstehen“. Abaelard kehrt den Spruch um: „Nihil credendum, nisi prius intellectum“, nichts sei zu glauben, was man nicht zuvor verstanden habe. Eine ungeheuerliche, eine ketzerische Anmaßung! Anstatt bedingungslosen Gehorsams fordert Abaelard zu eigenständigem Denken auf.
SPRECHER:
Abaelard wird zum Anführer der jungen Rebellen des Denkens – und zum Staatsfeind Nummer eins der Konservativen. Bereits nach kurzer Lehrzeit unterrichtet er selbst und hat an der Domschule von Paris bald den größten Zustrom an Studenten.
SPRECHERIN:
Was zur Folge hat, dass auch das Maß des Hasses gegen ihn wächst. Immer wieder kehrt im Leben des Pierre Abaelard dasselbe Muster wieder: er besiegt seine Lehrer und Widersacher durch Scharfsinn, wird dafür verteufelt, angeklagt, verurteilt. Und zieht die Studenten magisch an, begeistert sie - und das Spiel beginnt von neuem.
1. O-Ton: Peter Adamson
„Was man mindestens über Abaelard wissen muss, ist, dass er wirklich einen Höhepunkt in der mittelalterlichen Philosophie repräsentiert. Er übernimmt Ideen aus der Antike, zum Beispiel von Aristoteles, aus der aristotelischen Logik, und setzt sie ein, damit er den christlichen Glauben dann verteidigen kann und erklären kann.“
SPRECHER:
sagt Peter Adamson, Professor für spätantike Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
SPRECHERIN:
Großer Wirbel um Abaelard. Ganz Paris ist entzückt. Bald ist er der berühmteste Magister des Abendlandes. Doch das allein hätte ihn vielleicht noch nicht für alle Zeiten ins kollektive Weltbewußtsein eingeschrieben, wäre da nicht die Geschichte mit Heloise gewesen.
SPRECHER:
Trotz seiner 38 Jahre ist der smarte Gelehrte noch jungfräulich. Prostituierte mag er nicht, für Damen der Gesellschaft hat er keine Zeit und mit bürgerlichen Frauen keine gemeinsame Sprache. Begierde, Leidenschaft, Liebe sind ihm unbekannte Größen, sie schlummern in den Tiefen seiner Seele. Bis sie eines Tages erweckt werden. Mit eben jenem ersten Kuss.
SPRECHERIN:
1117. Täglich pilgert ein riesiger Strom von Studenten in Abaleards Vorlesungen. Heloise ist 16 oder 17, sie wohnt gleich nebenan und bekommt den ganzen Aufruhr mit. Sie ist eine Waise, erzogen im Kloster und seit kurzem bei ihrem Onkel Fulbert, dem Subdiakon von Notre Dame. Schon früh fiel sie wegen ihrer außergewöhnlichen Gelehrigkeit auf – Latein, Griechisch, Hebräisch, Philosophie und Theologie –, alles sog sie in sich auf. Sie ist hübsch und geistreich, wie Abaelard, und wie er, eine starke Persönlichkeit.
Insgesamt also - sexy! Die beiden sind füreinander geschaffen. Onkel Fulbert, der das nicht ahnen kann, will den Gelehrten als Hauslehrer für Heloise engagieren - und Abaelard findet das ziemlich gut!
ZITATOR:
„Die Liebe zu Heloise durchglühte mich. So vereinbarte ich mit Fulbert, dass er mich in seinem Hause aufnehme. Fulbert kam ans Ziel seiner Wünsche: mein Geld für sich und meine Gelehrsamkeit für seine Nichte. Ich kann es wohl kurz machen: der Hausgemeinschaft folgte die Herzensgemeinschaft! Während der Unterrichtsstunden hatten wir vollauf Zeit für unsere Liebe, und der Küsse waren mehr als der Sprüche. Meine Hand hatte oft mehr an ihrem Busen zu suchen als im Buch, und statt in den wissenschaftlichen Textbüchern zu lesen, lasen wir sehnsuchtsvoll eins in des anderen Auge. Es war eine innige Liebe, süßer als der feinste Balsam!“
SPRECHERIN:
Für Abaelard erschließt sich eine neue Welt. Er lernt noch größeren Genuss kennen, als die Philosophie!
ZITATOR:
„In unserer Gier genossen wir alle Stufen der Liebe, und was die Liebe sich Ausgefallenes denken konnte, trieben wir. Je weniger wir solche Freuden bisher genossen hatten, um so glühender gaben wir uns ihnen hin – und kein Überdruss kam uns an.“
SPRECHERIN:
Heloise liebt ihn mit der ganzen Innigkeit ihres Herzens. Sie schreibt ihm im Laufe ihres Lebens mehrere wundervolle Briefe. Peter Adamson:
2. O-Ton: Adamson
„Es gibt nicht so viele Denkerinnen im Mittelalter wie Heloise. Es gibt schon mehr weibliche Denkerinnen, als man vielleicht meint, aber selten ist es, dass wir eine Autorin haben, wo wir so einen starken Eindruck haben, wie ihre Persönlichkeit war, und da erfahren wir sogar viel über ihr Leben.“
SPRECHERIN:
Viele Liebende idealisierten den Geliebten - schreibt sie in einem ihrer Briefe - und müssten eines Tages ihren Irrtum erkennen.
ZITATORIN:
„Was aber Anderen der Irrtum, verschaffte mir die offenkundige Wahrheit. Was die anderen von ihrem Mann nur meinen, das wußte ich, das wußte die Welt. Die Wahrheit meiner Liebe zu dir gründete in ihrer Irrtumslosigkeit. Welcher König oder Philosoph hätte sich mit dir vergleichen können? Welche Stadt, welches Dorf wollte dich nicht haben? Alle Frauen, verheiratet oder nicht, wollten dich sehen, wenn du öffentlich auftratst, und sie reckten den Hals, wenn du abtratest.
Alle verzehrten sich nach dir in leidenschaftlicher Gier, wenn du fern warst, und ihr Blut ging schneller, warst du zugegen. Welche Königin oder Fürstin neidete mir nicht meine Wonne und mein Bett?“
SPRECHERIN:
Und die Straßen hallen wider von Liedern mit Heloises Namen - Liebende im Liebesrausch.
SPRECHER:
Onkel Fulbert glaubt lange Zeit nicht an das Gerede über eine Affäre der beiden. Da stellt Heloise eines Tages – voller Freude, wie sie schreibt – fest, dass sie schwanger ist. Abaelard bringt sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu seiner Schwester in die Bretagne, denn Onkel Fulbert tobt, wie erwartet. Beruhigt sich aber, als Abaelard ihm verspricht, Heloise zu heiraten. Nur möge der Onkel die Sache bitte diskret behandeln, seiner Karriere zuliebe. Abaelard ist kein Priester und nicht dem Zölibat verpflichtet, dennoch gilt der Ehestand für eine theologische Laufbahn als hinderlich. Onkel Fulbert verspricht alles.
SPRECHERIN:
Doch da kommt Widerstand von unerwarteter Seite: Heloise will nicht! Sie sorgt sich um Abaelards Karriere, will auch eigentlich lieber Geliebte bleiben. In gelehrten Worten erläutert sie die Vorzüge der Ehelosigkeit: Ein Philosoph sollte seine Kraft und Zeit nicht an eine Ehe verschwenden. Was sei schon die Ehe? fragt sie mit rhetorischer Bravour. Nichts, lediglich der „Stand des gesellschaftlich anerkannten Geschlechtsverkehrs!“ Zugleich verteidigt sie auch die Rechte der Frauen auf Eigenständigkeit – die sollte nicht von Vätern oder Männern abhängen. Und das zu Beginn des 12. Jahrhunderts! Bravo Heloise!
SPRECHER:
Ihr Sohn kommt zur Welt, Astrolabius, der Sternengreifer. Er bleibt Abaelards Schwester anvertraut, schlägt später selbst eine geistliche Laufbahn ein, kommt aber im Leben der beiden Liebenden nicht mehr vor – im Mittlelalter nichts Außergewöhnliches.
SPRECHERIN:
Nach der Entbindung fährt Heloise nach Paris. Sie muss sich letztlich beugen - die Hochzeit findet im kleinsten Familienkreis statt.
SPRECHER.
Onkel Fulbert ist befriedigt, die Frischvermählten kehren jeder in seine eigene Behausung zurück.
SPRECHERIN:
Happy End? Still und leise?
SPRECHER:
Leider nein. Die Katastrophe kommt noch.
Onkel Fulbert hält sich nicht an sein Versprechen und posaunt die Kunde von der Eheschließung aus. Heloise widerspricht ihm öffentlich, streitet die Hochzeit ab, worauf sie von ihrem Onkel gehörig vermöbelt wird. Abaelard will die Geliebte in Sicherheit wissen, er bringt sie in das Kloster, in dem sie aufgewachsen war.
SPRECHERIN:
Ein verhängnisvoller Fehler. Denn Fulbert glaubt nun, dass er sich Heloises entledigen will. Er ist erzürnt und plant eine Tat von unendlicher Grausamkeit: er heuert drei Mörder an, die Abaelard nachts in seinem Haus überfallen - und entmannen.
Es ist so grauenvoll dass man gar nicht genau hindenken darf. Der Schwerverletzte überlebt mit Mühe.
ZITATOR:
Welche Scham ergriff mich! Welcher Kummer über Heloises Pein peinigte mich! Welche verzweifelte Wehmut erfüllte sie über meinen Kummer! Die Trennung unserer Körper verschmolz unsere Seelen, und die Liebe, der die Möglichkeit entzogen war, flammte grenzenlos auf.“
SPRECHERIN:
Ganz Paris ist auf den Beinen, alle sind entsetzt.
Die gesamte Weiblichkeit ist in Tränen aufgelöst, als hätte jede einzelne von ihnen ihren Mann verloren. Die Empörung unter den Studenten, aber auch in Kreisen der Geistlichkeit ist groß, die Öffentlichkeit steht zu Abaelard. Zwei der Verbrecher werden gestellt, sie werden geblendet und ebenfalls entmannt. Der Bischof enthebt Fulbert seines Amtes und lässt seinen Besitz beschlagnahmen.
SPRECHER:
Heloise stürzt in tödliche Verzweiflung.
ZITATORIN:
„Herzliebster, du weißt es, alle, alle wissen es, was ich in dir verloren. Ohne Zaudern brächte ich mein altes Gewand, mein altes Herz zum Opfer, um aller Welt zu zeigen, wie ich dein eigen sei, mit Leib und Seele. Mir war es immer der Inbegriff aller Süße, deine Geliebte zu heißen, ja - bitte zürne nicht! – deine Schlafbuhle, deine Dirne! Herr Gott, sei du mein Zeuge, wenn der Kaiser käme, der Beherrscher der ganzen Welt, mich zu ehelichen, wenn er mir dabei die ganze Erde verschriebe zum ewigen Besitz, ich möchte lieber deine Dirne heißen, als seine Kaiserin!“
3. O-Ton: Adamson
„Offensichtlich, dass sie sehr schlau war, das ist wahrscheinlich, was Abaelards Interesse an ihr geweckt hat. In dem Briefwechsel selbst scheint sie ihre eigenen philosophischen Ideen zu haben, zum Beispiel betont sie sehr, wie paradox es ist, dass man Schlechtes aus guter Absicht machen kann. In dem Fall hat sie alles aus Liebe zu Abaelard gemacht, und das ist alles so schlecht ausgegangen.“
SPRECHERIN:
Jahrzehnte später, als Äbtissin, beklagt sie immer noch die verlorene Liebe und Leidenschaft:
ZITATORIN:
„Die Liebesfreuden, die wir zusammen genossen, sie brachten uns so viel Süße! Ich kann sie nicht verurteilen, ich kann sie kaum aus meinen Gedanken verdrängen. Ich kann gehen, wohin ich will, immer tanzen die lockenden Bilder vor meinen Augen. Nicht einmal im Schlaf komme ich von diesen Bildern los, sogar mitten im Hochamt drängen sich die wollüstigen Fantasiegebilde vor und fangen meine arme arme Seele so ganz und gar ein! Aus reinem Herzen sollte ich beten, stattdessen verspüre ich immer und immer die Verlockungen der Sinnlichkeit.“
SPRECHER:
Der Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloise gehört zu den schönsten Schätzen der Liebesliteratur.
SPRECHERIN:
Ihr ganzes Leben lang bedrängt die leidenschaftliche Heloise den Geliebten mit glühenden Worten.
SPRECHER:
Er kann dem nichts Entsprechendes entgegensetzen, seine Briefe versuchen, geistigen Trost, geistliche Anleitung zu spenden. Und dennoch – unverkennbar schimmert auch in ihnen der Glanz der Liebe durch - auch Abaelard liebt Heloise auf dem Grund seines gebrochenen Herzens, bis zu seinem Lebensende.
SPRECHERIN:
Beide gehen ins Kloster. Beide machen weiterhin Karriere. Heloise in stiller Geradlinigkeit, Abaleard auf einer Achterbahnfahrt aus Erfolgen und Abstürzen.
Heloise wird Äbtissin und durch ihre Schriften berühmt, Abaelard bleibt, was er war, ein glühender Verfechter der kritischen Vernunft, mittels derer althergebrachte religiöse Vorstellungen angezweifelt werden dürften. Womit er - fünfhundert Jahre früher - bereits den Geist der Aufklärung vorwegnimmt. Und sich weiterhin unendlicher Liebe und unendlichem Hass aussetzt.
SPRECHER:
Eine seiner Schriften behandelt die göttliche Dreieinigkeit. Seine Gegner werfen ihm vor, drei Göttern zu huldigen.
SPRECHERIN:
Was ausgemachter Blödsinn ist. Abaelard definiert lediglich die Dreieinigkeit als drei Aspekte Gottes: Macht, Weisheit und Gnade plus Liebe.
SPRECHER:
Seine Fürsprecher und seine Feinde geraten sich darüber in die Haare, zuletzt siegt die Missgunst: 1121 wird Abaelard wegen Gotteslästerung vor ein Konzil in Soissons zitiert. Seine Fans fordern, er solle sich selbst verteidigen dürfen - die Gegner lehnen das ab. Wenn Abaelard redet - so ihr Argument -, sei er unwiderstehlich, seine Überzeugungskraft unschlagbar.
Was also tun? Ganz einfach: das Konzil verurteilt ihn, ohne ihn anzuhören. Mit eigenen Händen muss er seine Schrift ins Feuer werfen, anschließend wird er in ein abgelegenes Kloster gesperrt.
Bald jedoch tritt dort ein neuer Abt die Führung an und erlaubt Abaelard, sich eine eigene Klause zu errichten. Nur von einem Burschen begleitet zieht er in die Einöde und baut sich eine Laubhütte.
SPRECHERIN:
Und es passiert wieder: als Studenten hören, dass Abaelard wieder unterrichten darf, strömen sie in Scharen zu ihm.
SPRECHER:
Als Dank für seine Vorlesungen bebauen die Studenten Äcker, bauen ihm ein Gebetshaus, das er nach dem Heiligen Geist Paraklete benennt. Drei Jahre währt das stille Glück.
SPRECHERIN:
Abaleard schätzt alle Weisheit, so auch die der Philosophen der Antike oder des Judentums.
ZITATOR:
„Gott schenkt seine Liebe allen Völkern, auch Juden und Heiden!“
SPRECHERIN:
sagt er und leitet damit als erster den Dialog der Religionen ein – auch ein früher Bezug zur Aufklärung. Andersgläubige sollten nicht durch Gewalt, sondern allenfalls durch Argumente bekehrt werden. Also wieder einmal: man soll doch bitte die Theologie mit Vernunft angehen.
SPRECHERIN:
Gott, wie ketzerisch!
Die Kirchenväter drohen wieder mit Anklage, und Abaelard wird – vielleicht als Strafe, vielleicht auch zu seiner Rettung – von seinem Vorgesetzten in ein abgelegenes Kloster geschickt. Es ist schlimmer als ein Gefängnis. Die Mönche dort versuchen mindestens zweimal, Abaelard zu ermorden: einmal füllen sie seinen Becher mit vergiftetem Messwein, ein anderes Mal mischen sie Gift in sein Essen. Purer Zufall, dass ein Anderer aus seinem Teller ißt - und stirbt. Elf Jahre lang leidet Abaelard in dieser Hölle.
SPRECHER:
Nach zwei Jahren allerdings - ein kurzes Intermezzo des Glücks. Das Nonnenkloster in Argenteuil, dessen Priorin Heloise mittlerweile ist, wird aufgelöst, die Schwestern stehen heimatlos da. Als er das hört, macht sich Abaelard unverzüglich auf den Weg. Es sind über 500 Kilometer, die er zu Pferde zurücklegt - die Reise dauert gute vier Wochen -, um seiner ehemaligen Geliebten zu helfen. Er schenkt den Nonnen die Paraklete, seinen einzigen Besitz. Das Wiedersehen mit Heloise ist schmerzlich-schön.
SPRECHERIN:
In seinen Memoiren vermerkt er:
ZITATOR:
„Die Klatschmäuler sagten, dass ich immer noch in den Fesseln der Sinneslust liege, darum könnte ich das Fernsein von meiner einstigen Geliebten nur schwer verschmerzen - wenn überhaupt.“
SPRECHER:
Und Heloise, in einem ihrer herzzerreißenden Briefe:
ZITATORIN:
„Dich verlieren heißt mein eigenes Leben verlieren.
Ich wäre weiß Gott ohne Zaudern auf dein Geheiß in die Hölle dir vorausgeeilt oder doch nachgestürzt. Ich war doch nicht mehr Herr meines Selbst! In dir, nur noch in dir war es - und ist es! Ist es jetzt mehr als je! Ist mein Selbst nicht bei dir, so ist es nirgends, und ohne dich hat es keinen Sinn und kein Wesen.“
SPRECHERIN:
Der nächste Absturz des Pierre Abaelard folgt schon bald. Sein Postulat, alle Dogmen der Religion müssten einer vernunftmäßigen Erklärung zugänglich sein, bringt ihm wieder eine Anklage ein. Sein Widersacher, der eifrige Wachhund des Klerus, Bernhard von Clairvaux, nimmt die Jagd auf den Rebellen auf.
Religion und kritische Vernunft? Hah! Ketzerei! Gottlosigkeit!
SPRECHER:
Abaelard bittet diesmal selbst um ein Konzil, um sich zu verteidigen. Der Erzbischof von Sens ist dazu bereit und lädt auch Bernhard zur Disputation ein. Doch der lehnt ab, er wagt es nicht. Gegen Abaelard fühle er sich wie „ein reines Kind“, sagt er. Stattdessen stachelt er andere Kirchenfürsten an, Abaelard zu vernichten.
SPRECHERIN:
1140 wird das Konzil von Sens einberufen. Eine Riesenshow! Der König rückt mit dem gesamten Hofstaat heran, alle Größen der Geistlichkeit kommen, Prunk, Aufruhr. Abaelard, mutig und kämpferisch wie eh und je, geißelt den Klerus: (die Unmoral der Priester, den Ablasshandel, die Lügen um falsche Wunder.)
SPRECHER:
Da er weiß, dass er keine Chance hat, verkündet er sogleich, dass er sich nur dem Richtspruch des Papstes unterwerfen werde - und verlässt die Stadt. Die verblüffte Geistlichkeit bleibt ratlos zurück. Doch da der scharfsinnige Angeklagte nicht mehr da ist, wagt es Bernhard nun, gegen ihn zu sprechen - und erreicht die Verurteilung.
SPRECHERIN:
Abaleard schafft es nicht mehr zum Papst. Gebrochen, krank und verarmt muss er in Cluny einkehren, um sich zu erholen. Und während er dort ist, bestätigt Papst Innozenz II. das Urteil von Sens. Abaleard wird verbannt und zu ewigem Schweigen verdammt. Endlich! Der Rebell, der Freidenker, der Revolutionär ist erledigt!
SPRECHER:
Als der Abt von Cluny, der freundliche Petrus Venerabilis, sieht, wie sich Abaleards Zustand verschlechtert, schickt er ihn zur Erholung nach Chalons. Dort schreibt er noch einige Hymnen von unsterblicher Schönheit für Heloise. Und stirbt, 63 jährig. Seine letzten Worte: „Ich weiß es nicht.“
SPRECHERIN:
Heloise überlebte den Geliebten um 22 Jahre und bat darum, mit ihm in der Paraklete begraben zu werden.
SPRECHER:
Die Echtheit einiger ihrer Briefe zieht man in Zweifel. Dennoch - sie sind ein literarischer Schatz. Und erzählen so viel über sie, zum Beispiel,
5. O-Ton: Adamson
„dass sie es bereut, dass sie nicht mehr zusammen mit Abaelard sein kann. Dass sie Nonne geworden ist, also das ist nicht wirklich, was sie wollte. Und dass eine Frau über die Jahrhunderte hinweg mit uns so reden kann über ihre Gefühle und über ihre eigene Einstellungen, das ist wirklich einmalig. Ich bin eigentlich schon überzeugt, dass der Briefwechsel authentisch ist.“
SPRECHERIN:
Während der französischen Revolution wurde das Grab in der Paraklete aufgebrochen und geplündert, doch brachte man 1817 die - vermuteten - Überreste von Abaelad und Heloise nach Paris. Dort liegen sie nun, endlich wieder vereint, auf dem Friedhof Père Lachaise. Viele Jahre lang pilgerten Liebende aus aller Welt dorthin, um Blumen auf ihr Grab zu legen.
Mikroplastik ist winzig und überall: Durch Wind und Wasser verteilen sich die kleinen Teile schnell und können auch an entlegene Orte der Erde gelangen. Die Langzeitwirkungen sind bisher kaum erforscht. Autorin: Claudia Steiner (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Amberger, Florian Schwarz
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Christian Laforsch (Professor; Tierökologe von der Universität Bayreuth);
Julia Schwaiger (Dr.; Leiterin des Referats Aquatische Ökotoxikologie und mikrobielle Ökologie am Bayerischen Landesamt für Umwelt im oberbayerischen Wielenbach);
Katharina Istel (Referentin für nachhaltigen Konsum beim Naturschutzbund Deutschland, NABU)
Linktipps:
Mehr Wissenswertes zum Thema Mikroplastik finden Sie auf BR 24:
BR 24 | WAS MIKROPLASTIK MIT UNSERER GESUNDHEIT MACHT
Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
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Ohne Aggression geht es kaum noch vorwärts. Das Verkehrsgeschehen scheint jegliche Moral auszuhebeln. Jeder kämpft gegen jeden. Alle fühlen sich im Recht. Auf der Straße verwandeln sich brave Bürger schnell in asoziale Egoisten. Autorin: Justina Schreiber (BR 2020)
Credits
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Amberger, Jennifer Güzel
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Wolfgang Fastenmeier (Dr.; Professor, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie);
Peter Pytlik (Stellvertretender der Gewerkschaft der Polizei in Bayern);
Angela Mauss-Hanke (Psychoanalytikerin)
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Ohne Photosynthese gäbe es weder Pflanzen oder Algen noch Sauerstoff - entscheidende Grundlagen irdischen Lebens. Dieses faszinierende pflanzliche Solarkraftwerk ist so komplex, dass es technisch noch nicht komplett nachgebaut werden konnte. Autorin: Renate Ell (BR 2021)
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Autor/in dieser Folge: Renate Ell
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Peter Weiß
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Hans-Henning Kunz (Professor, Dr.; Lehrstuhl für Biochemie und Physiologie der Pflanzen, Ludwig-Maximilians-Universität München);
Thorsten Grams (Professor, Dr.; Lehrstuhl Ökophysiologie der Pflanzen, TU München);
Thomas Hannappel (Professor, Dr.; Fachgebiet Grundlagen von Energiematerialien, TU Ilmenau)
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"Intuition ist Vernunft, die es eilig hat", sagt ein Sprichwort. Welche Prozesse ablaufen, wenn wir unserem Bauchgefühl vertrauen, versuchen Wissenschaftler zu enträtseln. Ein Schlüssel ist das Erfahrungswissen. Autorin: Dorit Kreissl (BR 2017)
Credits
Autorin dieser Folge: Dorit Kreissl
Regie: Dorit Kreissl
Es sprachen: Detlef Kügow, Anne Isabelle Zils, Heinz Peter
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. Regina Obermayr-Breitfuß, Psychologin, Intuitionsforscherin, Coaching;
Prof. Gerd Gigerenzer, Psychologe, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Literaturtipps:
Gerd Gigerenzer: "Bauchentscheidungen", C. Bertelsmann Verlag München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, 2007.
Daniel Kahnemann: "Schnelles Denken, langsames Denken", Siedler-Verlag München 2012 in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzer: Thorsten Schmidt.
Regina Obermayr-Breitfuß: "Intuition, Theorie und praktische Anwendung", Verlag: Books on Demand; Auflage: 1. Aufl. (Februar 2005).
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO Brand
MUSIK Wach 89243140 Z00
ZITATORIN:
Feuerwehrmänner dringen in ein Haus ein, in dem die Küche brennt. Kaum haben sie mit den Löscharbeiten begonnen, schreit der Zugführer "Raus hier", ohne zu wissen, warum. In dem Moment, als der letzte Feuerwehrmann den Raum verlassen hat, stürzt die Decke ein. Erst später wird dem Zugführer bewusst, dass das Feuer ungewöhnlich leise und seine Ohren ungewöhnlich heiß gewesen waren. Er hatte keine Ahnung, was nicht stimmte, aber er wusste, dass etwas nicht stimmte, und tat intuitiv das Richtige.
O-Ton 1 Gigerenzer
Intuition ist gefühltes Wissen, was folgende Eigenschaften hat: Man spürt sehr schnell was man tun sollte, kann es aber nicht erklären: und dennoch leiten intuitive Entscheidungen vieles in unserem beruflichen, aber auch privaten Leben.
ERZÄHLER:
Professor Gerd Gigerenzer, Psychologe und Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.
O-Ton 2 Breitfuß
Intuition definiere ich als ein geistiges Wissen, das auf ganz natürliche Weise im Menschen da ist und wo der Mensch, wenn er möchte, selbst einen Zugang dazu findet. Es ist kein psychisches Wissen, sondern ein geistiges Wissen. ..Jedes Baby bringt das mit auf die Erde, das ist auf ganz natürliche Weise vorhanden.
Musik aus
ERZÄHLER:
Die österreichische Psychologin Regina Obermayr-Breitfuß. Sie forscht seit rund 30 Jahren zum Thema Intuition:
O-Ton 3 Breitfuß
Intuition vermag einen erweiterten Erkenntnisprozess in einem Menschen. Diese vertieften Aha-Erlebnisse, wo ich größere Komplexitäten in einem wesentlichen Punkt erfassen kann; worum es wirklich geht, zu sagen, ich treffe damit den Nagel auf den Kopf oder ich erfasse den Kern in einem Augenblick.
ERZÄHLER:
Intuition ist lebensnotwendig, sie trifft den "Nagel auf den Kopf". Aber warum kann man intuitive Entscheidungen kaum erklären. Gerd Gigerenzer:
O-Ton 4 Gigerenzer
Viele Bereiche unseres Gehirns sind der Sprache nicht mächtig, dennoch findet sich dort sehr viel Information, die dort gespeichert ist. Wenn wir also nur dem Recht geben, was wir sprachlich begründen können, dann würden wir sehr viel verlieren.
ERZÄHLER:
Aber auch Sprache funktioniert intuitiv: ein vierjähriges Kind befolgt mühelos grammatikalische Regeln, obwohl es sie noch gar nicht kennt. Und im Baby-Alter spielt non-verbale Kommunikation eine große Rolle.
O-Ton 5 Breitfuß
Das Baby ist direkt mit der Intuition verbunden. Ich sag dann den Müttern immer: das Baby spürt bis ins Schlafzimmer, das spürt alles in der Familie, im gesamten Umfeld, kann das natürlich nicht in Worten ausdrücken und gibt entsprechende Signale. Die sind verschieden, und eine Mutter braucht eine gute Intuition um herauszufinden – das ist auch so ein Aha-Erlebnis, also das und das meint jetzt das Baby. Aber die Mutter kann davon ausgehen, dass sie, wenn sie das Baby anschaut, auch direkt verbunden ist mit dem intuitiven Wissen.
MUSIK Intuition Z9338823 215
ERZÄHLER:
Intuition kommt vom lateinischen Wort "intueri" - das heißt "ansehen", "erkennen", "betrachten", wobei es viele unterschiedliche Interpretationen dieses "Betrachtens" gibt. Es gibt keine einheitliche Definition von Intuition,
Musik aus
sondern viele verschiedene Theorien dazu. Um zwei davon soll es im Folgenden gehen:
O-Ton 6 Gigerenzer
Intuition ist Erfahrungswissen, das man aber nicht begründen kann, das heißt man erlernt gute Intuition in einem Bereich.
ERZÄHLER:
so definiert es Professor Gigerenzer. Er hat mehrere Bücher zum Thema geschrieben - eines davon: "Bauchentscheidungen - Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition" wurde zum viel zitierten Standardwerk. In ihm analysiert der Forscher, wie Intuition funktioniert und macht das an folgendem Beispiel deutlich:
O-Ton 7 Gigerenzer
Ich habe in den USA mit Drogenfahndern gearbeitet, deren Aufgabe es ist, an einem großen internationalen Flughafen Drogenkuriere zu erkennen. …Wie kann man aus einer Menge von hunderttausenden Menschen den einen Drogenkurier entdecken? …Ich habe einmal einen gefragt, warum hast Du diese Frau hier herausgeholt und nicht irgendeinen anderen, und er sagte: Ich kann es selbst nicht erklären. Ich spür nur, das da was nicht stimmt. Wie hat dieser Drogenfahnder gelernt hinzusehen? Nun, er ist zehn Jahre mit einem erfahrenen Kollegen mitgelaufen. Der erfahrene Kollege hat ihm am Anfang gesagt: Schau mal, siehst Du den Mann da hinten. Und der junge Kollege hat 50 Männer gesehen und erst langsam hat er gelernt zu sehen. Es war aber nie in Sprache. Er konnte es nie erklären.
ERZÄHLER:
Der Drogenfahnder hat auf gespeichertes Wissen zurückgegriffen und seine Schlüsse aus sogenannten "Faustregeln" gezogen. Gigerenzer verwendet den Begriff synonym mit dem wissenschaftlichen Ausdruck "Heuristik". Eine Faustregel ist eine einfache Denkstrategie für effiziente Problemlösungen, die auf die wichtigsten Informationen zurückgreift, und so schnelles Handeln ermöglicht.
O-Ton 8 Gigerenzer
Sie können, wie die meisten Menschen, zwischen einem echten Lächeln und einem aufgesetzten Lächeln wahrscheinlich unterscheiden. .. Das kann man wissenschaftlich herausfinden, nämlich: bei einem aufgesetzten Lächeln, da bewegen sich die Muskeln im Mundbereich, beim echten Lächeln gehen die Augenbrauen nach oben. Und das verstehen Menschen; diese Regel aber, sie ist intuitiv... das ist sozusagen die Kunst, auf das Wesentliche zu achten und das schnell herauszufiltern und den ganzen Rest zu ignorieren. Vieles in unserem Leben sind Faustregeln, die können bewusst sein, aber auch unbewusst. Wenn sie unbewusst sind, dann spricht man von Intuition.
ERZÄHLER:
Die Faustregeln sind in der Umwelt und im evolvierten Gehirn verankert. Es stellt uns Fähigkeiten zur Verfügung, so der Psychologe, die sich im Lauf von Jahrtausenden entwickelt haben.
Zu den evolvierten Fähigkeiten gehören Sprache, Wiedererkennung, Gedächtnis, Nachahmung, Emotionen oder etwa die simple Fähigkeit, ein Objekt mit den Augen zu verfolgen, wie beim Fangen eines Balls. Bei der Blickheuristik fixiert der Läufer den Ball und passt seine Laufgeschwindigkeit so an, dass der Blickwinkel konstant bleibt. Das alles läuft automatisch, intuitiv ab. Würde er stattdessen die
Wurfgeschwindigkeit des Balls berechnen, würde er ihn wohl nie fangen. Auch die Problemlösung im nächsten Beispiel, erfolgt buchstäblich in der Luft.
O-Ton 9 Gigerenzer
Ich hatte einen Freund, der hatte zwei Freundinnen, eine zu viel. Dann hat er eine Checklist gemacht, eine Rechnung, hat alles aufgeschrieben, was dafür und dagegen spricht, und als er das Ergebnis sah, spürte er, das ist falsch und er hat sich für die andere entschieden. Das können Sie viel schneller und einfacher haben, als lange Pro- und Kontra-Listen zu schreiben. Wenn Sie in einer solchen Situation sind, dann nehmen sie eine Münze und werfen Sie sie in die Luft. Und während sie noch dreht, werden Sie wahrscheinlich spüren, was nicht aufkommen darf.
MUSIK Wach 89243140Z00
ERZÄHLER:
Im Hintergrund hören Sie Karlheinz Stockhausen mit dem Titel "Wach" aus "17 Texte intuitiver Musik für kommende Zeiten". Der Komponist prägte in den 60er-Jahren den Begriff "intuitive Musik". Eine Musik, die aus dem Augenblick heraus entsteht.
MUSIK hoch
ERZÄHLER:
Wie wichtig sind Augenblicks-Entscheidungen in unserem Leben? Liegt man mit ihnen immer richtig?
Musik aus
ZITATOR KAHNEMAN:
"Das Vertrauen, das wir in unsere intuitiven Überzeugungen und Präferenzen setzen, ist in der Regel gerechtfertigt. Aber nicht immer. Wir sind oft selbst dann von ihrer Richtigkeit überzeugt, wenn wir irren."
ERZÄHLER:
analysiert der israelisch-amerikanische Nobelpreisträger und Psychologe Daniel Kahneman.
In seinem Buch "Schnelles Denken, langsames Denken" beschreibt er, wie Bauchentscheidungen zu verzerrtem Denken, voreiligen Schlüssen, falschen Ergebnissen und Vorurteilen führen können. Faustregeln vereinfachen, so Kahneman, sie lassen relevante Fakten oft außen vor, wie bei diesem Aufgabe, das er Versuchsteilnehmern stellte:
MUSIK Taschenrechner Z9369244 003
ZITATORIN:
Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1 Euro 10.
Der Schläger kostet einen Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?
Musik aus
ERZÄHLER:
Die schnelle intuitive Antwort: der Ball kostet zehn Cent. Das ist falsch. Die richtige Antwort erfordert ein längeres Nachdenken: Der Ball kostet 5 Cent. Und der Schläger einen Euro fünf Cent.
Kahneman geht von zwei Systemen aus: Das bewusste System unseres Verstandes stellt komplizierte Berechnungen an, wägt ab, es ist mühsam und zeitaufwendig. Das unbewusste System arbeitet automatisch, es ist schnell und mühelos.
Dieses mühelose, intuitive System spielt dem Gedächtnis manchmal einen Streich, es gaukelt ihm etwas vor, schreibt Kahneman …
ZITATOR KAHNEMAN:
…"David Stenbill, Monica Bigoutski, Shana Tirana. Ich habe diese Namen gerade erfunden. Wenn Sie irgendeinem davon in den nächsten Minuten begegnen, werden Sie sich wahrscheinlich daran erinnern, wo Sie die Namen zum ersten Mal gesehen haben."
ERZÄHLER:
Den Versuchsteilnehmern begegnen die erfundenen Namen einige Zeit später in einer Liste wieder, auf der Prominente und Unbekannte aufgeführt sind. Die Probanden erhalten die Aufgabe, die Prominenten auf der Liste herauszufiltern.
ZITATOR KAHNEMAN:
"Es besteht eine erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass Sie David Stenbill als einen Prominenten identifi zieren werden, auch wenn Sie nicht wissen werden, ob Ihnen dieser Name in Zusammenhang mit Kinofilmen, Sport oder Politik begegnet ist. Der Psychologe Larry Jacobs, der diese Gedächtnistäuschung als Erster im Labor nachgewiesen hat, gab ihr den Titel "Über Nacht berühmt werden."
ERZÄHLER:
David Stenbill wird über Nacht berühmt, weil uns sein Name vertraut ist. Hier führt die Faustregel: "Halte Dich an das, was Du kennst" in die Irre. Misstraue dem Vertrauten, es kann in die Manipulation führen, warnt Daniel Kahneman:
ZITATOR KAHNEMAN:
"Eine zuverlässige Methode, Menschen dazu zu bringen, falschen Aussagen zu glauben, ist häufiges Wiederholen, weil Vertrautheit sich nicht leicht von Wahrheit unterscheiden lässt. Auch autoritäre Institutionen und Marketing-Spezialisten wissen das seit jeher."
ERZÄHLER:
Intuition kann ebenso zu Vorurteilen führen, wir fallen auf Stereotype herein. Kahneman, der 2002 als bislang einziger Psychologe den Wirtschafts-Nobelpreis für seine "Neue Erwartungstheorie" erhielt, hat dafür dieses Beispiel parat:
MUSIK Taschenrechner Z9369244 003
ZITATORIN:
"Eine Person wurde von einem Nachbarn wie folgt beschrieben: 'Steve ist sehr scheu und verschlossen, immer hilfsbereit, aber kaum an anderen oder an der Wirklichkeit interessiert. Als sanftmütiger und ordentlicher Mensch hat er ein Bedürfnis nach Ordnung und Struktur und eine Passion für Details'. Ist Steve eher Bibliothekar oder Landwirt?".
Musik aus
ERZÄHLER:
Steve ist das Stereotyp eines Bibliothekars, also tippen die meisten auf diesen Beruf. Kahneman kontert mit Statistik und verweist darauf, dass in den USA auf jeden männlichen Bibliothekar zwanzig Landwirte kommen, folglich dürfte es mehr sanftmütige und ordentliche Landwirte geben.
Vertrauen wir unserem Bauchgefühl, kann es passieren, dass wir nach Sympathie und Antipathie urteilen. Zugeben würden wir das freilich nicht, im Gegenteil, sagt Kahneman, wir rationalisieren die intuitive Entscheidung im Nachhinein:
ZITAT KAHNEMAN:
"Sie mögen nicht wissen, dass Sie ein Projekt optimistisch einschätzen, weil etwas an dessen Leiterin Sie an ihre geliebte Schwester erinnert, oder dass Sie eine Person unsympathisch finden, die entfernt Ihrem Zahnarzt ähnlich sieht. Doch wenn man Sie nach einer Erklärung fragt, werden Sie Ihr Gedächtnis nach plausiblen Gründen durchforsten und mit Sicherheit einige finden. Außerdem werden Sie die Geschichte glauben, die Sie erfunden haben."
MUSIK Sanzhi Pod city Z8005259 106
ERZÄHLER:
Einen vollkommen anderen Erklärungs-Ansatz vertritt die Linzer Psychologin Regina Obermayr-Breitfuß. Intuition orientiert sich ihrer Meinung nach nicht an Sympathie und Antipathie. Sie führt den Begriff "Instinkt" in die Debatte ein:
O-Ton 10 Breitfuß
Intuition und Instinkt ist so verschieden wie Apfelstrudel und Wiener Schnitzel.
Der Instinkt orientiert sich nach dem Lust- und Unlustprinzip, nach Sympathie und nach Antipathie. Wenn man das vom Körperbild her sehen kann, ist es sozusagen die ganze Region
Musik aus
des unteren Menschen, die Bauchregion. Die Intuition orientiert sich überhaupt nicht nach Lust oder Unlust-Prinzip, ob mir ein Mensch sympathisch ist oder nicht, sondern die Intuition ist eine Erkenntnis, wo es um das tiefe innere Wissen geht und nicht nur um Sympathie und Antipathie. Sie ist auch frei von jeder soziokulturellen Prägung.
ERZÄHLER:
Die Autorin des Buches "Intuition: Theorie und praktische Anwendung", forscht seit Jahrzehnten auch interkulturell über Intuition, unter anderem in Österreich, Kalifornien, Hawaii, England und West Samoa:
O-Ton 11 Breitfuß
Es gibt Kulturen, die haben so ein absolutes Grundvertrauen zum intuitiven Wissen. Wenn eine Person von innen her etwas spürt, dass sie das überhaupt nicht in Zweifel zieht. In unserer Kultur, also in der westlichen Kultur ist das überhaupt nicht selbstverständlich, weil wir ja durch ganz andere Entwicklungs-stadien gegangen sind….Zum Beispiel in Western Samoa, da habe ich einige Monate gelebt und ich durfte da bei einer Art Gemeinderats-Sitzung dabei sein, ist es selbstverständlich, dass zwei, drei Personen einfach das, was sie intuitiv wahrnehmen an Wissen in die Runde bringen. Das würde niemand in Zweifel ziehen oder komisch finden. Das ist ganz klar neben allen anderen Wahrnehmungen, die im Raum sind, wird das hinzugezogen.
ERZÄHLER:
Wir brauchen Intuition, sie garantiert unser Überleben, schützt uns vor Gefahren, sagt die Psychologin. Und wir können den Zugang zu unserer inneren Stimme regelrecht üben:
O-Ton 12 Breitfuß
Wie kann man den Zugang lernen? …Die Intuition antwortet nicht auf Fragen "warum ist das so, woher kenn ich das, wieso ist das so" - also da antwortet immer die Logik. Die Intuition antwortet aber auf Fragen, die offen gestellt werden, wie zum Beispiel "was weiß ich über diesen Sachverhalt" oder "Was weiß ich über meine Verantwortung". Dann bekomm ich Antwort.
MUSIK Thames town Z8005259 103
ERZÄHLER:
Die Intuition spielt bei Unternehmens-Entscheidungen eine wesentliche größere Rolle als bekannt ist, sagt Gerd Gigerenzer, Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Das liege zum einen daran, dass die Intuition im westlichen Kulturkreis nicht die Wertschätzung bekommt, die sie verdient.
Es werde viel mehr Wert darauf gelegt, dass Entscheidungen zähl- und messbar sind,
Musik aus
auf Fakten und nicht auf einer unerklärlichen Weisheit beruhen. Zum anderen hätten viele Unternehmen und Behörden Angst zuzugeben, sich aus dem Bauch heraus entschieden zu haben.
O-Ton 14 Gigerenzer
Ich habe mit großen Unternehmen gearbeitet und die Entscheider vom Abteilungs-leiter bis in den Vorstand hinein gefragt, wie häufig ist eine wichtige berufliche Entscheidung am Ende eine Bauchentscheidung. Nach Aussagen der Führungskräfte etwa 50 Prozent, also jede zweite. Die gleichen Führungskräfte würden das in der Öffentlichkeit nie zugeben, denn man hat Angst. Bei einer Bauchentscheidung muss man die Verantwortung selbst tragen und wir leben in einer Gesellschaft, wo immer weniger Menschen Verantwortung tragen möchten und sie immer mehr delegiert wird.
ERZÄHLER:
Intuition hat nichts Mystisches an sich. Sie ist weder eine hellseherische Gabe noch eine göttliche Eingebung, kein sechster Sinn, auch keine Willkür und…
O-Ton 15 Gigerenzer
Und es ist auch nichts, was nur Frauen haben. Wir Männer haben auch Intuitionen. Nur Frauen sind oft ehrlicher und trauen sich mehr, das zuzugeben.
ERZÄHLER:
Das Stereotyp, Frauen seien intuitiver als Männer, speist sich auch aus dem jahrhundertealten Denken: Männer sind logisch, Frauen gefühlsbetont, also intuitiv. Wie es wirklich um die männliche Intuition bestellt ist, erfragte 2005 eine wissenschaftliche Studie:
MUSIK Working on it CD976560 002
ZITATORIN:
Über 15.000 Männer und Frauen nahmen am Experiment des britischen Psychologen Richard Wiseman teil. Er legte ihnen Fotos von Paaren vor, auf denen sie echtes von falschem Lächeln unterscheiden mussten. Vor dem Test mussten sie ihre eigene Intuitionsfähigkeit einschätzen: 77 Prozent der Frauen werteten sie als sehr hoch, bei den Männern waren es nur 58 Prozent. Das Testergebnis fiel knapp zugunsten der Männer aus: 72 Prozent erkannten das echte Lächeln, bei den Frauen waren es 71 Prozent.
Musik aus
ERZÄHLER:
Der Mensch wird pro Sekunde von Millionen Sinneseindrücken überflutet. Mehr als 40 Eindrücke auf einmal, sagen Experten, kann er gar nicht bewältigen. Ein Grund für eine weitere intuitive Strategie, die nach dem Prinzip funktioniert: "Weniger ist mehr".
Menschen verlassen sich bei ihren Urteilen oft auf einen einzigen guten Grund, ignorieren alle anderen Fakten, nach dem Motto: "Take the best, ignore the rest". Kann das funktionieren? Gerd Gigerenzer:
O-Ton 16 Gigerenzer
Eine Bauchentscheidung kann natürlich eine sehr gute oder auch eine sehr schlechte Entscheidung sein. Das ist genau so, wenn Sie sich etwas ausrechnen, können sie damit gut oder auch richtig daneben liegen... Also wenn Sie ins Kasino gehen und Roulette spielen, dann können Sie sich ausrechnen, wieviel Sie verlieren werden auf lange Sicht hin. Da brauchen Sie keine Intuition. Aber wenn es darum geht, den richtigen Partner fürs Leben zu finden, oder andere Dinge mit hochgradiger Ungewissheit, wo Überraschungen passieren, da reichen Berechnungen nicht aus und es ist eine Illusion daran zu glauben.
ERZÄHLER:
Die Linzer Psychologin Regina Obermayr-Breitfuß meint hingegen: Intuition versagt nie.
O-Ton 17 Breitfuß
Nie! Sie versagt nie. Sie ist Tag und Nacht gegenwärtig. Ich kann auch einen intuitiven Traum bekommen, das heißt ein ganz klares Wissen: Ich steh in der Früh auf und weiß die Lösung. Große Erfindungen sind oft über intuitive Träume gekommen, weil wir in der Nacht auch mit dem Geistigen verbunden sind, wenn wir das zulassen. Und wenn mir die Intuition etwas mitteilt, dann kann ich mich hundert Prozent darauf verlassen. Sie täuscht mich nie. Sie versagt nie.
O-Ton 18 Gigerenzer
Wenn Sie in einem Gebiet wenig Erfahrung haben, dann sollten Sie sich nicht auf ihre Intuition verlassen. Wenn Sie viel Erfahrung haben, dann eher schon.
O-Ton 19 Breitfuß
Wir können Dinge wissen, die wir nie gelernt haben, niemals. Ganz große Erfindungen, ganz große Pioniere bestätigen das immer, dass sie das nicht irgendwo vorher gelernt, gehört, gelesen oder gesehen haben. Also das ganz Neue, das wirklich ganz Neue kommt über die Intuition auf die Erde.
MUSIK Intuition Z9338823 215
ERZÄHLER:
Vernunft und Bauchgefühl erscheinen als Gegensätze. Dabei werden alle Entscheidungen im Gehirn getroffen, die einen bewusst, analytisch, die anderen unbewusst. Beide sind wichtig. In unserer Gesellschaft wird die rationale Entscheidung allerdings höher bewertet,
Musik aus
O-Ton 20 Gigerenzer
Einstein hat einmal gesagt: "der intuitive Geist ist ein Geschenk und der rationale Geist ist sein Diener. Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, in der der Diener zum Herrn geworden ist und man das Geschenk vergessen hat".
Eigentlich sollten sie höchstens zwei Jahre dableiben, arbeiten und wieder gehen - "Gastarbeiter" eben. Dass sie "Türkentum und Nationalgefühl hochhalten" war das Erste, was im umfangreichen Verfahren getestet wurde, das die deutsche und die türkische Regierung im Jahr 1961 mit dem "Anwerbeabkommen" beschlossen hatten. Aber wie bemerkte der Schriftsteller Max Frisch einmal: "Wir riefen Arbeiter, und es kamen Menschen". Bettina Weiz erzählt die Geschichte von dieser "Menschwerdung". (BR 2011)
Credits
Autorin dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Bettina Weiz
Es sprachen: Ruth Geiersberger
Redaktion: Brigitte Reimer
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO (Nähen) darauf
ERZÄHLERIN:
Anzüge, Westen, Herrenhemden auf Maß: All das näht der Schneider Ethem Kocer bis in die 60er Jahre hinein in seinem Heimatdorf mitten in der Türkei.
Musik: C127867/007
ERZÄHLERIN:
Sein Geschäft läuft auf Pump: Er borgt sich Stoffe und Nähseide von Großhändlern, gibt wiederum seinen Kunden Kredit.
1. Zsp. / Ethem Kocer
„Im Jahr zweimal zahlen die dann. Die Bauern, wann Getreide verkauft ist.“
Nochmal ATMO (Nähmaschine). Darauf
2. Zsp. / Ethem Kocer
„64 es hat nicht geregnet. Leider kein Getreide geworden. Wir haben dann Zuckerrübenernte gewartet. Hat auch nicht geworden: wenn es nicht regnet, dann wird der net. Dann hab ich pleite gemacht.“
ERZÄHLERIN:
Da beschließt er, nach Deutschland zu reisen.
Musik aus
3. Zsp. / Ethem Kocer
„Ja ohne zu denken! Ohne zu denken. Einfach kommen und arbeiten, etwas Geld machen, wieder zurückgehen.“
Musik: CD54790/006
ERZÄHLERIN:
400 Kilometer weiter östlich in der Türkei lebt zur gleichen Zeit Makbule Kurnaz in einem Bauernhaus mit Garten, zwei Kühen, Katzen, Hunden und Hühnern. Ihr Vater fährt jeden Morgen mit dem Motorrad in eine Zuckerfabrik und arbeitet dort als Aufseher.
Musik aus
4. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Eine Diktatore. Wie Pascha. Wie Harem Pascha..
ERZÄHLERIN:
Er hat nacheinander drei Frauen und fünf Kinder, das älteste ist ein Sohn, der einzige Junge in der Familie.
5. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Deswegen meine Vater wollte, der ist nach Deutschland zum Studieren gehen. Er ist Jahre 70 nach Deutschland gekommen, hat dort gearbeitet. Hat gleich deutsche Frau gefunden, Auto gekauft, ganz elegant angezogen, „aha„, hab ich mir gedacht, „Deutschland ist gut wie hier“. Lacht.
ERZÄHLERIN:
Als er so hübsche Fotos aus München schickt, ist Makbule 21 - und verliebt.
6. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Jemand wollte mit mir heiraten, Vater hat nicht erlaubt. Bei uns Anatolien solche Geschichte viele. Ich darf nicht in meine Herz wer ist, Vater hat entschieden, dass ich mit jemande unbedingt heiraten müssen. Ich wollte nicht, hat Vater gesagt, „ja, meine Tochter, du kannst auch gehen. Entweder heiraten oder Deutschland gehen“. Ich hab gesagt „dann gehe ich Deutschland. Bitte, bitte, bitte schick mich nach Deutschland“.
Musik: C127867/13
ERZÄHLERIN:
Geldnot, der Wunsch nach Qualifikation, das Streben nach Freiheit von strikten Familienoberhäuptern, vielleicht Abenteuerlust: Die persönlichen Gründe, weshalb sich seit den 60er Jahren weit über eine Millionen Menschen aus der Türkei auf den Weg nach Deutschland gemacht haben, sind vielfältig. Alle hoffen auf ein besseres Leben.
Kreuzblende zu: 6108376
7. Zsp. / Ethem Kocer
„Vor uns von Italiener, Griechen, Spanier sind gekommen.“
ERZÄHLERIN:
… um Berge abzuschürfen, Elektroschalter zu montieren oder Autos zusammenzuschrauben. Seit Mitte der 50er Jahre hatten deren Regierungen mit der Bundesrepublik sogenannte Anwerbeverträge geschlossen. Ein bewährtes Vorgehen, erklärt der Historiker Christoph Rass von der Universität Osnabrück.
Musik aus
8. Zsp. / Christoph Rass
„Die Anwerbeverträge sind als Institution entstanden schon nach dem I. Weltkrieg, mit einem Anwerbevertrag, den Frankreich und Polen im Jahr 1919 geschlossen haben, und seitdem entwickelt sich diese Institution auf der internationalen Bühne, wird vor allem in Westeuropa genutzt, auch Deutschland ist Ende der 30er Jahre schon über einen solchen Vertrag beispielsweise mit Italien verbunden.“
ERZÄHLERIN:
Die Anwerbeverträge regeln, dass und wie das deutsche Arbeitsamt in einem fremden Staat Leute rekrutiert. Auch die türkische Regierung möchte einen solchen Vertrag abschließen.
9. Zsp. / Christoph Rass
„Die Türkei selbst hat im Rahmen ihrer Wirtschaftsentwicklungspläne begonnen, sehr stark auf den Export von Arbeitskraft zu setzen.“
Musik: CD54790/006
ERZÄHLERIN:
Denn die Wirtschaft kriselt. Die Regierung ist schwach. 1960 putscht das Militär. Die anderen NATO-Staaten schauen besorgt auf das Mitglied am strategisch wichtigen Südost-Ende des „Eisernen Vorhangs“. Es herrscht Kalter Krieg. Seit 1959 stationieren die USA in der Türkei Mittelstreckenraketen. Atomwaffen.
MUSIK AUS
ERZÄHLERIN:
Es trifft sich, dass viele bundesdeutsche Firmen Arbeitskräfte suchen - wegen der neu eingeführten Fünftagewoche, weil die Ausbildungen länger werden, weil die geburtenschwachen Kriegsjahrgänge ins Berufsleben einsteigen. Wegen der Mauer ist der Strom von Übersiedlern aus der DDR abgeebbt.
10. Zsp. / Christoph Rass
„Zugleich hat aber Deutschland, als auf diplomatischem Wege angetragen wurde, ob die Anwerbung von Arbeitskräften in der Türkei in Frage käme, zunächst reserviert reagiert. Denn man hat einen internen Grundsatz verfolgt: keine Arbeitskräfte aus sogenannten „nichteuropäischen Staaten„ anzuwerben, und hier wertete man die Türkei als einen nicht-europäischen Staat. Man hat sich auf deutscher Seite immer überlegt, was man der deutschen Gesellschaft zumuten kann an fremdländischen ArbeitnehmerInnen. Und das zählte zu den Motiven, die Deutschland dazu bewogen hat, keinen Anwerbevertrag abzuschließen, sondern auf dem diplomatisch niedriger angesiedelten Wege des Notenwechsels eine Anwerbevereinbarung abzuschließen.“
ERZÄHLERIN:
Viele Regelungen der Vereinbarung vom 30. Oktober 1961 sind anders als in den Verträgen etwa mit Italien, Griechenland oder Spanien.
11. Zsp. / Christoph Rass
„Während es also in der Regel bei Anwerbeverträgen so war, dass die Arbeitsverträge im Prinzip immer wieder verlängert werden konnten, war es so, dass bei der 1. Fassung des deutsch-türkischen Abkommens eine Höchstverweildauer von 2 Jahren eingeplant war. Dass kein Familiennachzug vorgesehen war.“
ERZÄHLERIN:
Das Folge-Abkommen von 1964 hebt diese Einschränkungen teilweise auf. Aber das Ziel bleibt:
12. Zsp. / Christoph Rass
„Man wollte auf jeden Fall sicherstellen, dass es nicht zu einer Niederlassung türkischer ArbeitnehmerInnen in Deutschland kommt.“
ATMO (Nähen). Darauf
ERZÄHLERIN:
Anfang der 60er Jahre sitzt der türkische Schneider Ethem Kocer im Zug, erst nach Istanbul, dann quer durch Bulgarien, Jugoslawien und Österreich bis München. Im Sechserabteil, zwei Nächte und drei Tage lang.
13. Zsp. / Ethem Kocer
„Natürlich! Sitzend schlafen. Der Zug ist angekommen. Gleis 11.
15. Zsp. / Ethem Kocer
„Mich dann mein Freund abgeholt. Er war schon Deutschland, hier Jura studiert, und die wollten dann Export aufmachen.“
ERZÄHLERIN:
Statt als Gastarbeiter nach der Anwerbevereinbarung ist Ethem Kocer mit eigenen Kontakten eingereist.
16. Zsp. / Ethem Kocer
„Ich war so eilig, ich wollte da unbedingt hingehen! Als Tourist bin ich gekommen, als Tourist hab ich dann normal Pass bekommen. Mit 800 Mark durfte man ausreisen. Hab ich dann von Bank 800 Mark Devisen gekauft in der Türkei, als Tourist darfst du dann 3 Monate bleiben mit das Geld damals.“
ERZÄHLERIN:
Aus dem Export-Geschäft des Freundes wird nichts. Einen Arbeitsvertrag darf er als Tourist auch nicht unterschreiben. (Da meldet er sich - das geht - als landwirtschaftlicher Helfer in Niederbayern.
17. Zsp. / Ethem Kocer
„Ich hab mein Chancen versucht, irgendwie hier. Und dann von Ergolding, also 3 Monat später wollte Anmeldung machen in München. Haben sie mir dann net erlaubt, also mein Pass haben sie dann zurück stempelt,) ich musste wieder nach Türkei.“
MUSIK: C54790/006
ERZÄHLERIN:
Wäre er nicht auf eigene Faust gekommen, sondern mit Hilfe der Anwerbevereinbarung, hätte er mehr Sicherheit gehabt. Christoph Rass.
18. Zsp. / Christoph Rass
„Anwerbeverträge minimieren die Risiken und die Kosten der Migration für alle Beteiligten. Die beteiligten Staaten erhalten Zugriff auf Migrationsströme und können versuchen, diese in gewissen Grenzen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Und die MigrantInnen selbst erhalten vielfältige Hilfestellungen und vor allen Dingen verbriefte Bedingungen in den Arbeitsverträgen, dass ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeiter, die im Rahmen einer solchen Anwerbung auf den Arbeitsmarkt kommen, gleich behandelt werden wie inländische Arbeitnehmer.“
Musik aus
ERZÄHLERIN:
Makbule Kurnaz geht 1971 den offiziellen Weg. Sie bewirbt sich erst in der Hauptstadt ihrer Provinz, bekommt dann einen Termin im fernen Istanbul. Ihre erste große Reise. Der Vater und sie logieren bei Bekannten und im Hotel und besuchen immer wieder die Außenstelle des deutschen Arbeitsamtes.
19. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Eine Woche lang Untersuchung gemacht, von Kopf bis Fuß, alles, alles. Blut, Urin, alles. Viele Menschen, allererste mal war ich alleine, Vater war draußen, ich war drin, kontrollieren, eines immer hat mich gestört, dass ich ganz nackig müssen.“
20. Zsp. / Christoph Rass
„Grade diese Gesundheitsuntersuchungen, die auch sehr intime Bereiche berührt haben, die sind als ganz massive Eingriffe in die Intimsphäre der ArbeiterInnen empfunden worden vielfach, und das hat die Wahrnehmung und die Geschichte dieser Anwerbung sehr geprägt.“
ERZÄHLERIN:
Augen, Gebiss, Geschlechtsorgane: Makbule Kurnaz wird durch und durch getestet - und für zu leicht befunden.
21. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Hat gesagt, „gesundheitlich haben Sie Probleme„. - „Was denn?„ - „Blutarm. Wenig Blut im Körper, und Sie sind schlank wie 50„. Ich muss unbedingt 50 sein, ich war 48, ganz dünn, junge Mädchen.“
ERZÄHLERIN:
Sie reisen wieder zurück in ihre Provinz - und der Vater sucht zwischen Istanbul, Ankara und dem Schwarzen Meer nach frischem Blut.
22. Zsp. / Makbule Kurnaz
„In Samsun Blutspende gefunden, von eine Militär habe ich eine Blut bekommen. Mehr wie Pfund, Kilo hat gesagt, Vater hat das gezahlt, Blut gegeben, hat mit der Ernährung bisschen besser: Honig, Butter, Milchprodukte, Joghurt und so.“
ERZÄHLERIN:
Ein Jahr vergeht. Makbule Kurnaz, die keinen Schulabschluss hat, macht einen Schneiderkurs:
23. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Nochmal nach Istanbul gefahren, „Oh, hat gesagt, ok, gesundheitlich ok, die Zeugnis hilft was, aber wir haben eine Angebot, dass Sie vielleicht mal, wenn Sie gescheit sind, nach eine elektrische Firma, egal, Grundig, Saba, irgendwo, Siemens braucht dringend mehr Leute, junge Frauen unter 25.„ Da hab ich Glück. Da hab ich gesagt „Vati, ich kann das machen“. In eine Zimmer, 20 Mädchen, wie Universität Prüfung, haben wir Prüfung gemacht. Irgendwelche Farbe, Linie, mit die Figuren, jetzt wie Kinder, Puzzle und so was, habe ich alles perfekt gemacht, null Fehler und geschafft. Ok, hab ich gleich von der Siemens die Einladung bekommen, in 2 Tage, hat er uns noch 10 Wörter gegeben: „ja, nein, ok, falsch, richtig“ - so was, die muss mer auswendig wissen, dann hat alles geklappt, hat gesagt „ok, Sie sind die Erste für Siemens, Mitarbeitervertrag wird 1 Jahre.“
MUSIK: Z9382937/010
ERZÄHLERIN:
Wie viele angeworbene Türkinnen in den 70er Jahren kommt Makbule Kurnaz mit dem Flugzeug nach Deutschland. Eine freundliche Dolmetscherin und ein Bus stehen schon bereit, und im Bunker unter dem Münchner Hauptbahnhof, dem Ersten, was frisch Angeworbene nach ihrer Ankunft zu sehen bekommen, gibt es Brote, Wurst und Käse.
24. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Mit Vertrag ich bin garantiert, holte mich jemand, gibt immer mit Programm, geführt. Ok. Angekommen, dort abgeholt, mit Liste, so wie Tourist-Organisation.“
Musik aus
ERZÄHLERIN:
Sie kommt in ein Wohnheim direkt gegenüber vom Werkstor, teilt das Zimmer mit den Stockbetten und die Küche mit drei anderen Frauen. „Mädchen“, sagt sie.
25. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Mädchenwohnheim. Unter Kontrolle gekommen. Haben wir Vertrag, auch Heim-Vertrag, durften wir nicht irgendwann von Wohnheim weggehen, 4 Jahre alleine dort gewohnt. Bis 10 Uhr muss man zurückkommen. Pförtner sitzt da.“
ERZÄHLERIN:
Mit der Arbeit kommt sie klar. Ihre Vorarbeiterin ist selbst Türkin.
Der Bruder, der auch in München lebt, nimmt sie in die Disco mit und Weihnachten mit zum Urlaub ins Heimatdorf. Seine Verlobte – eine Deutsche - ist auch dabei. Das gefällt dem Vater nicht. Er verstößt seinen Sohn.
MUSIKAKZENT: C54780/006
ERZÄHLERIN:
Makbule Kurnaz fasst den Entschluss ihres Lebens: sie bleibt in Deutschland.
26. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Ich wollte nur ein Jahr, aber doch: Mein Bruder da, mir alles gefallen, ich bleibe. Dann hab ich Vertragverlängerung unbefristet bekommen. Von Siemens. Natürlich von der Kreisverwaltung wird auch verlängert, alles hab ich, längere Jahre bekommen. Dann bin ich geblieben. Voll zufrieden.“
Musik aus
27. Zsp. / Christoph Rass
„Tatsächlich zeigen alle Beispiele, die wir kennen, dass Anwerbeprozesse nie rein temporär bleiben. Der größte Teil der ArbeitnehmerInnen, die während der Anwerbephase, also zwischen 1955 und 73, nach Deutschland gekommen sind, haben Deutschland wieder verlassen. Aber es sind eben auch etwa 4 Millionen ArbeitnehmerInnen und ihre Familien in Deutschland zurückgeblieben und haben sich für einen längerfristigen Verbleib, gar für die Niederlassung, für eine Einwanderung, entschlossen.“
ATMO (Nähen). Darauf
ERZÄHLERIN:
Auch Ethem Kocer, der türkische Schneider, kommt wieder - und bleibt. Er hat in Deutschland sofort seine Liebe gefunden.
28. Zsp. / Ethem Kocer
„Sonntag bin ich gekommen, Montag hab ich dann mein deutsche Frau kennengelernt. Deutsche. Wir haben da Kaffee gemacht, Kaffee und Kuchen, dort habe ich sie kennengelernt.“
ERZÄHLERIN:
Vier Monate nach seiner Rückkehr in die Türkei findet sein Münchner Freund eine Arbeit für ihn als Trambahnschienenputzer. Ethem Kocer erhält eine Aufenthaltsgenehmigung und setzt sich ein zweites Mal in den Zug nach Deutschland.
29. Zsp. / Ethem Kocer
„So weitergegangen, also Freundschaft, und dann - 71 geheiratet wir sind dann.“
ERZÄHLERIN:
Sie bauen sich ein Haus im Vorort Gröbenzell. Er gründet sein eigenes Schneider-Unternehmen.
MUSIK: Z9382937/010
ERZÄHLERIN:
Viele Arbeitskräfte aus der Türkei kommen und gehen. Manche arbeiten ein Jahr in Deutschland, um das Geld für ein Moped zusammenzubekommen und gehen dann zurück, kehren später aber wieder, etwa um auf ein neues Hausdach hinzuarbeiten, retour in die Türkei und so fort. Im Herbst 1973 ist es damit aus. Die Ölkrise macht den Westeuropäern Angst. Und rechtfertigt die Anwerbestopps, die die Regierungen der klassischen Zielländer für ausländische Arbeitskräfte erlassen: Frankreich, Schweiz, Großbritannien, Schweden, auch die Bundesrepublik. Die Folgen der Stopps sind unerwartet: Es kommen mehr Menschen.
Musik aus
30. Zsp. / Christoph Rass
„Als die Anwerbung ausgesetzt wird, da entscheiden sich ganz viele MigrantInnen, zunächst mal in Deutschland zu bleiben. Denn sie wissen: wenn sie jetzt das Land verlassen, ihre Arbeitsstellen aufgeben, dann können sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zurückkehren. Und dann beginnen sie, sehr massiv ihre Familie nachzuholen, und das ist dieser Peak in den Statistiken, der sich nach dem Anwerbestopp zeigt, das ist das Nachwandern der Familienangehörigen, der Kinder, nach Deutschland.“
MUSIK: CD54790/006
ERZÄHLERIN:
Vier Jahre lebt Makbule Kurnaz im Mädchenwohnheim ihrer Firma. 1976 zieht sie in ihre eigene Wohnung. Sie könnte frei und unabhängig leben – doch …
31. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Hat die Familie Angst bekommen, dass ich mit einem deutschen Mann heirate. Weil Bruder mit deutscher Frau, ich bin in Türkei gegangen, natürlich mit der Familie Entscheidung, jemanden kennengelernt, ich wollte nicht. Ja, nein. In diese Urlaub bin ich weggegangen. Nächste Urlaub wieder: derselbe Mann. Hab ich entschiede, dass ich doch mit ihm heirate. Alleine geht nicht.“
ERZÄHLERIN:
Im folgenden Urlaub heiratet sie ihn und lädt ihn nach Deutschland ein: Familienzusammenführung. Zweieinhalb Jahre lang darf er nicht arbeiten. Weil gleich ein Kind kommt, kümmert er sich, und sie verdient das Geld.
Musik aus
32. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Wir haben 2 Kind bekommen, natürlich... Aber war NICHT wie ich mir vorstellen, solche Familie. Leider.“
ERZÄHLERIN:
Hauptgrund für das Scheitern der Ehe: das Leben im fremden Land. Ihr gefällt es, ihm nicht.
33. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Wollte nicht, vom 1. Tag hat gesagt „ich will Deutschland nicht, ich bleibe nicht, ich mage nicht“, habe ich gekämpft, mit Arbeit, mit Kinder, mit Mann, mit Leben, mit Haushalt.... Er ist wieder zurückgegangen.“
34. Zsp. / Makbule Kurnaz)
„Ich bleibe hier! Vom 1. Jahr habe ich entschieden, dass ich bis Lebenende da bleibe.“
ERZÄHLERIN:
Die Klarheit und Eindeutigkeit dieser Entscheidung hat ihr geholfen, sich zu integrieren.
35. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Hab ich mir gedacht, „ah, muss ich hier mich konzentrieren, muss ich alles machen, für mich Zukunft, mehr gute Sachen machen“. Ich konnte nicht viel Deutsch in 1 Jahre, ja, 73, dann Kurs hab ich gemacht 3 Monate, Sprachkurs.“
Atmo (Nähen) Darauf
ERZÄHLERIN:
Auch der Schneider Ethem Kocer bemüht sich um gesellschaftliche Anerkennung, sobald er sicher ist, dass er in Deutschland bleiben wird.
r macht einen Schneiderkurs, denn wie bei vielen Zuwanderern wird sein türkisches Diplom nicht anerkannt. Er legt die Meisterprüfung ab. Er nimmt die deutsche Staatsbürgerschaft an.
MUSIK: M0021386/003
ERZÄHLERIN:
Ethem Kocer und Makbule Kurnaz kämpfen am Lebensabend, mit Spätfolgen ihrer Einwanderung. Die Erwerbsbiographie des Schneiders passt schlecht ins Schema der deutschen Sozialversicherung: Er kam erst mit über 30 nach Deutschland und war 17 Jahre lang selbständig, zahlte nur 10 Jahre als Angestellter in die Rentenkasse ein.
36. Zsp. / Ethem Kocer
„Mein eigenen Rente 660 Euro. Kann man net leben. Witwengeld bekomme ich. Mit dem kann ich dann leben.“
ERZÄHLERIN:
Der Einschnitt in Makbule Kurnaz’ Erwerbsbiographie ist, dass sie ihren Job kündigt, als ihr Mann in die Türkei geht.
Musik aus
37. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Den Fehler hab ich gemacht, aber hab ich neue Beruf gelernt, in eine Geschäft Kasse gemacht, erstemal Schlecker, dann verbessert bissle bei Plus, dann Kaufhof eingestellt.“
ERZÄHLERIN:
Viel verdient sie nicht und bringt davon auch noch ihre Kinder durch. Wegen des Stress’ an der Kasse geht sie in Frührente. Auch Ethem Kocer hat sich mit 63 die Hände beim Nähen verschlissen. Zugewanderte Türken bekommen mehr als doppelt so häufig wie alteingesessene Deutsche Erwerbsunfähigkeitsrente –
sie haben meist die anstrengenden Jobs übernommen, die die anderen nicht wollten. Nun verbreitet sich Altersarmut.
Dass arme Alte zurückkehren, widerspricht den ursprünglichen Hoffnungen, die Länder wie die Türkei in die Anwerbeverträge gesetzt hatten, nämlich Devisen, Qualifikation und Entlastung des Arbeitsmarktes.
Wobei sich die Hoffnungen in gewissen Grenzen schon immer auch erfüllen, erklärt der Historiker Christoph Rass.
39. Zsp. / Christoph Rass
„Gerade der Rückfluss von Devisen aus Lohnersparnissen ist für viele Länder ein wichtiger Aspekt in ihrer Handels- und vor allem Leistungsbilanz gewesen, die Qualifikation hat sich in geringerem Maß erfüllt, denn es zeigt bei den Rückwanderern, dass gerade die besonders gut Qualifizierten vielfach im Ausland verbleiben. Und natürlich die Entlastung des Arbeitsmarktes: das leidet unter einem Interessenkonflikt, denn die Abwanderungsländer wollen in der Regel die am schlechtesten Qualifizierten, die tendenziell arbeitslos sind, ins Ausland entsenden, während die Anwerbestaaten die am besten Qualifizierten für ihre Arbeitsmärkte haben wollen.“
ERZÄHLERIN:
Anwerbeverträge gibt es bis heute, besonders außerhalb Europas. Aber auch in Deutschland sind sie wieder salonfähig, seit Ingenieure und Facharbeiter fehlen.
40. Zsp. / Christoph Rass
„Die Verführung eines Anwerbevertrages ist immer, dass die Möglichkeit gegeben zu sein scheint, Arbeitskräfte temporär und bedarfsgerecht auf einen Arbeitsmarkt zu holen. Als Konjunkturpuffer. „Ich nehm’ mir jetzt aus dem Ausland Arbeitskräfte herein, und wenn wir sie nicht mehr brauchen, dann werden sie alle wieder verschwinden“, für einen großen Teil wird das immer so verlaufen, aber für einen kleineren Teil wird immer aus der temporären Präsenz immer der Wunsch nach Einwanderung, nach Niederlassung, und auch der Integration resultieren. Das muss man von Anfang an berücksichtigen. Und genau das hat die Bundesrepublik - wie manch anderes europäische Land im übrigen auch - nicht getan.“
MUSIK: M0021386/003
ERZÄHLERIN:
Kleine Rente und kaputte Gesundheit hin, zerrüttete Familien und Witwerschaft her: Makbule Kurnaz und Ethem Kocer machen das Beste aus ihrem Leben. In einem städtischen Alten- und Service-Zentrum treffen sie Gleichgesinnte zum Deutschlernen, Malen und Tanzen, fahren mit der Nostalgiebahn nach Bayerischzell.
41. Zsp. / Ethem Kocer
„So geht das Leben.“ lacht nett, aber kurz.
Musik aus
ATMO (Nähmaschine). Darauf
ERZÄHLERIN:
Seine Nähmaschine - Industrie-Nähmaschine! - hütet Ethem Kocer gut.
42. Zsp. / Ethem Kocer
„Zuletzt hab ich geschneidert - ja, meine Bekannten Kleid gemacht z.B..... er geht im Flur ...die Kleider sind glaub ich hier.“... Rascheln:
ERZÄHLERIN:
Seide knistert, Pailletten funkeln.
43. Zsp. /Ethem Kocer
„Ihre Sohn heiraten, deswegen haben wir dann da vorbereitet.“
ERZÄHLERIN:
Das Kleid ist für Makbule Kurnaz. Im Alter haben die beiden zueinandergefunden. Die Fotos ihrer Kinder stehen auch auf seiner Kommode.
45. Zsp. / Makbule Kurnaz
„Hier geboren, hier aufgewachsen, gut studiert, älterer Sohn Computer-Fachmann, seine Frau Sekretärin, junge Sohn beim Amt Sicherheit, alles ok. Ihre Leben auch gut, jetzt junge Sohn will mit Deutsche - halbe deutsche, halbe türkische - Mädchen heiraten, wir sind voll glücklich. Hammer deutsche Kultur mehr wie türkische Kultur.“
MUSIK: M0021386/003
Sie lebten abgeschottet von der restlichen Bevölkerung, denn eine dauerhafte Einwanderung war nicht erwünscht: Die sogenannten Vertragsarbeiter aus Vietnam, Mosambik, Angola, Polen oder Ungarn, die den Mangel an Arbeitskräften in der DDR ausgleichen sollten. Wie erging es ihnen nach der Wende? Autorin: Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Dorothea Anzinger, Jerzy May
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Ann-Judith Rabenschlag Karpe, Historikerin, Universität Stockholm;
Birgit Weyhe, Illustratorin des Comic-Buches “Madgermanes”;
Thach Nguyen, ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter;
Tamara Hentschel, DDR-Wohnheim-Betreuerin, Bürgerrechtlerin
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK Motivated work Z8034318 119 0.44 Min.
SPRECHERIN
Im April 1980 beschließen die Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Sozialistischen Republik Vietnam einen Staatsvertrag.
ZITATOR
Geleitet vom Wunsch zur Vertiefung der brüderlichen Zusammenarbeit (…) haben die Regierungen (…) folgendes vereinbart: Die Regierung der DDR gewährleistet vietnamesischen Facharbeitern (…) für die Dauer von jeweils vier Jahren die Aufnahme einer Beschäftigung in Betrieben (…) der Deutschen Demokratischen Republik.
SPRECHERIN
Der Grund ist einfach, sagt die Historikerin Ann-Judith Rabenschlag Karpe. Sie hat an der Universität Stockholm ihre Dissertation über Vertragsarbeit in der DDR geschrieben.
01 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Der Grund ist in der DDR genau derselbe wie in Westdeutschland und in ganz vielen anderen europäischen Staaten. Es besteht schlicht und ergreifend ein Arbeitskräftemangel.
SPRECHERIN
Aber anders als die Bundesrepublik, wo die Fachkräfte vor allem aus der Türkei und Italien kommen, wirbt die DDR Arbeitskräfte aus sozialistischen Staaten an.
02 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Die DDR schließt die ersten Verträge mit Polen und Ungarn. Und dann, im Laufe der 70er Jahre erweitert sich der geografische Fokus und man wirbt in Afrika, in Lateinamerika, in Asien an. Und dann die größten Gruppen kommen aus Mosambik und Vietnam.
MUSIK Königskinder Z8038689 103 0.55 Min.
SPRECHERIN
Anfangs sind es sehr wenige. Die große Mehrheit kommt erst in den 1980er Jahren in die DDR.
03 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Es beginnt mit sehr kleinen Zahlen Anfang der 60er Jahre mit ein paar 100 polnischen Arbeitern. Und Ende der 80er Jahre sind wir dann bei gut 90.000.
SPRECHERIN
Die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern übernehmen größtenteils unbeliebte Tätigkeiten in der DDR.
04 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Das sind Arbeiten, die physisch anstrengend sind, im Schichtdienst, mit Nachtdiensten verbunden, am Fließband, Arbeitsplätze, an denen man Lärm ausgesetzt ist, unangenehmen Gerüchen, und so weiter. Also alle Arbeitsfelder, die für jemanden, der sich zwischen mehreren Jobs entscheiden kann, nicht die erste Wahl sind.
SPRECHERIN
Die vielen unbesetzten Stellen sind ein Problem für die Planwirtschaft der DDR. Die Maschinen sind nicht ausgelastet, die Norm kann nicht erfüllt werden. Eigentlich hätte in vielen Betrieben Tag und Nacht gearbeitet werden müssen, aber die Leute fehlen.
05 O-TON (Hentschel)
Am Anfang hat man versucht, die DDR-Bürger für das Schichtsystem zu gewinnen, das ist aber nicht so gelaufen, wie man sich das vorgestellt hat, so dass man dann Arbeitskräfte in den sozialistischen Bruderländern angeworben hat.
SPRECHERIN
Tamara Hentschel betreut damals Arbeitskräfte aus Vietnam. Sie erklärt, wie alles funktioniert und hilft bei Sprachproblemen.
MUSIK Work in progress red 2 Z803431827 0.31 Min.
SPRECHERIN
Viele der vietnamesischen Arbeitskräfte, insbesondere die Frauen, arbeiten in der Textilindustrie. Hentschels Vietnamesinnen zum Beispiel im Betrieb „Herrenbekleidung Fortschritt“. Im Akkord schneidern sie Hosen und Hemden.
06 O-TON (Hentschel)
Wo man nicht mit gerechnet hatte, war, dass die Vietnamesen sehr geschickt sind und auch die Norm gebrochen haben, dadurch gab es dann auch sehr viele Konflikte, also in der Textilindustrie war das so, sehr viele Konflikte mit den deutschen Arbeitskräften.
SPRECHERIN
Denn wer die Norm übererfüllt, also ein Normbrecher ist, setzt die Kollegen unter Druck, ebenfalls schneller zu arbeiten. Anders als die Frauen werden die Männer aus Vietnam oft auf dem Bau eingesetzt. Hier kommt es ebenfalls zu Problemen.
07 O-TON (Hentschel)
Im Baugewerbe gab´s ganz viele Unfälle, weil die Vietnamesen im Gegensatz zu deutschen Bauarbeitern und mosambikanischen Bauarbeitern sehr klein und schmächtig waren, und da gab es sehr viele Unfälle, die darauf zurückzuführen waren, dass die Arbeit einfach mal viel zu schwer war.
MUSIK Needle and twin Z8019017 122 1.11 Min.
SPRECHERIN
Schwere Arbeit, von der sie sich kaum erholen können, denn die Wohnverhältnisse sind beengt. Die Vertragsarbeiter leben, nach Geschlechtern getrennt, in Wohnheimen.
08 O-TON (Hentschel)
Zum Beispiel ne Dreiraumwohnung mit neun Personen in drei verschiedenen Schichten mit einer Küche und einem Bad. Und, ich weiß nicht, ob das im Westteil so bekannt ist, diese Badzellen, hat man dazu gesagt, das waren so ungefähr fünf Quadratmeter: ne Badewanne, ein Waschbecken, ne Toilette. Es gab keine Waschmaschine, also für die neun Personen musste alles mit der Hand gewaschen werden und dann in der Wohnung auch getrocknet werden. Und die Küche war meistens ein Durchgangszimmer zu einem anderen Zimmer, wo andere wiederum geschlafen hatten, weil sie Nachtschicht hatten. Und dann wurde versucht, mit zusätzlichen Kochplatten in den Zimmern dann zu kochen, was verboten war, und das war so meine Tätigkeit, aufzupassen wegen Brandschutz und Hygiene und so weiter.
SPRECHERIN
Das Leben in den Wohnheimen ist streng geregelt.
MUSIK Dark Tunnel Z8023930 109 0.30 Min.
ZITATOR
Heimordnung für das Betriebswohnheim „Insel“ des VEB Papierfabrik Dreiwerden. (…) Zur konsequenten Durchsetzung der Prinzipien von Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Disziplin sind nachstehend aufgeführte Festlegungen einzuhalten. Die Zimmerzuweisung wird durch den Gruppenleiter getroffen. Ein selbständiges Umziehen in andere Zimmer (…) ist nicht statthaft. Es ist nicht gestattet, die Zimmereinrichtung auszuwechseln.
SPRECHERIN
Um 22 Uhr werden die Wohnheime geschlossen. Nur Schichtarbeitende dürfen dann noch ein- und ausgehen. Übernachtungen müssen genehmigt werden. Das gilt auch für Ehepaare. Denn die leben meist nicht zusammen, sondern sind ebenfalls nach Geschlecht getrennt untergebracht. Auch Kontakte zur deutschen Bevölkerung sind nicht erwünscht.
09 O-TON (Hentschel)
Also erstmal waren sie ja im Wohnheim isoliert, die Bevölkerung rundrum war nicht informiert über den Einsatz. Warum sind die hier? Wer sind die überhaupt? Und persönliche Kontakte, wenn die nicht im Arbeitsprozess erfolgt sind, haben die eigentlich nicht stattgefunden.
MUSIK Motivated Work Z8034318 119 0.50 Min.
SPRECHERIN
Integration ist ohnehin nicht vorgesehen. Die Arbeitskräfte sollen vier oder fünf Jahre in der DDR bleiben, um zu arbeiten, und dann in ihr Heimatland zurückkehren. Dennoch kommt es immer wieder zu Kontakten zur DDR-Bevölkerung, auch zu Freundschaften und Liebesbeziehungen. Und mancherorts entsteht ein Austausch, der einträglich ist für beide Seiten. Hentschels Vietnamesinnen und Vietnamesen etwa schneidern bald Kleidung für DDR-Bürgerinnen und Bürger. Ein inoffizieller Nebenjob.
10 O-TON (Hentschel)
Die wollten die fünf Jahre nutzen, um so viel wie möglich Geld zu verdienen, damit sie ihre Familien zuhause unterstützen konnten. Und nach und nach haben Vietnamesen in den Wohnheimen dann pro Bettenplatz dann eine Nähmaschine aufgestellt und haben für die DDR-Bevölkerung Jeanshosen, Jacken, Röcke und so weiter genäht, alles nach Maß.
MUSIK People of Iraq M0007510 036 0.32 Min.
SPRECHERIN
In Vietnam kommt damals jede Hilfe recht. 1975 war der Vietnam-Krieg zu Ende gegangen, nach mehr als 20 Jahren Gräueltaten und Verwüstungen. Das Land ist traumatisiert. Die Wirtschaft liegt am Boden. Geld können die Vertragsarbeiter nicht überweisen, denn die DDR-Mark ist nicht konvertibel, kann also nicht in andere Währungen umgetauscht werden. Deshalb schicken sie Waren nach Hause, erinnert sich der ehemalige Vertragsarbeiter Thach Nguyen.
11 O-TON (Nguyen)
Also Zucker, Seife, Ersatzteile für Fahrräder, für Motorräder, Kakao und gute Bekleidungen.
SPRECHERIN
Vor allem Fahrräder sind sehr beliebt. Die sind in der DDR allerdings Mangelware.
12 O-TON (Nguyen)
Ich hab nie in der DDR ein Fahrrad kaufen können. Wenn Fahrrad da ist, ist sofort weg. Wenn irgendwas da ist, dann sind schon so viele Vietnamesen da vor dem Laden.
MUSIK Needle and twin Z8019017 122 0.58 Min.
SPRECHERIN
Thach Nguyen hatte sich in Vietnam für die Vertragsarbeit bewerben müssen. Nur die Besten dürfen in die DDR. Für ihn war es deshalb eine Auszeichnung, ausgewählt zu werden. Es gilt den Sozialismus aufzubauen, zuhause und in den Bruderländern.
13 O-TON (Nguyen)
Man arbeitete für die Sache des Sozialismus, das ist so zu dieser Zeit, und die DDR stand damals an der Spitze, so muss man sagen. Also jeder ist stolz und freut sich, in die DDR kommen zu dürfen.
SPRECHERIN
Er kannte die DDR bereits, weil er in den 1970ern an der TU Dresden studiert hatte. Danach war er nach Vietnam zurückgekehrt, um in einem Forschungsinstitut für Bauwesen zu arbeiten. Ende der 1980er kommt er als Vertragsarbeiter dann erneut in die DDR. Er wird Gruppenleiter und Dolmetscher auf dem Bau, weil er bereits gut Deutsch spricht. Anders als seine Kollegen, die kaum Zeit haben und Gelegenheit bekommen, die deutsche Sprache zu lernen.
14 O-TON (Nguyen)
Bei uns durfte jeder nur acht Wochen Deutsch lernen, danach gleich arbeiten. Einige bekamen zwar Ausbildung, aber wenige. Wir waren eine Gruppe von 200, nur 15 bekommen eine Ausbildung als Schweißer, die anderen müssen sofort arbeiten.
MUSIK Dark Tunnel Z8023930 109 0.32 Min.
SPRECHERIN
Das erzeugt viel Frust. Statt neue Fähigkeiten zu erwerben, müssen viele einfache Hilfstätigkeiten übernehmen. Sie schleppen Dachziegel oder sortieren Schrauben am Fließband. Und das, obwohl viele von ihnen top ausgebildet sind. Thach Nguyen bekommt als Gruppenleiter den Frust deutlich zu spüren.
15 O-TON (Nguyen)
Manche Leute stellen auch Fragen wie: Warum bin ich hier als ungelernte Arbeitskraft, warum bekomme ich Lohnstufe vier, obwohl ich Bauingenieur bin zum Beispiel. Das bedeutet, zuhause hat man ihnen nicht gut genug erklärt.
MUSIK Success means work © Z8034319 118 0.38 Min.
SPRECHERIN
Die hohen Erwartungen kamen nicht von ungefähr. Denn die SED, also die Einheitspartei der DDR, hatte die Vertragsarbeit nach außen hin anders dargestellt.
16 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Wir bieten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem sozialistischen Ausland die Möglichkeit, sich hier bei uns weiter zu qualifizieren. Wir bieten ihnen die Möglichkeit, in einer hochindustrialisierten Gesellschaft auch technische Fähigkeiten zu erlernen und sich aber auch ideologisch weiterzuentwickeln. Und dann, so ist der Gedanke, dann können die Arbeiter zurückkehren in ihre Heimatländer und dort beim Aufbau junger Industrien helfen und auch den Geist des Sozialismus verbreiten. Das ist sozusagen die offizielle Sprechweise der SED.
MUSIK Structure ryhtme M0010659 003 0.18 Min.
SPRECHERIN
Frustriert sind nicht nur vietnamesische Arbeitskräfte, sondern auch viele Arbeitskräfte aus Mosambik. Sie waren nach den Vietnamesen die zweitgrößte Gruppe Vertragsarbeiter. Einen von ihnen lernt die Illustratorin Birgit Weyhe eher zufällig kennen. Auch er ist tief enttäuscht.
17 O-TON (Weyhe)
Weil er eben dachte, er bekommt eine Ausbildung in der DDR und dann aber kein Mitspracherecht hatte, sondern in Karl-Marx-Stadt an der Stanzmaschine in der Fabrik stand über Jahre. Und als er eben zurück musste nach der Wende auch damit nichts anfangen konnte, weil es eben Industrie in der Form gar nicht gab, wo er diese eine Handbewegung, die er an der Stanzmaschine gemacht hat, hätte nutzen können. Er war sehr frustriert, dass auch die Familie enttäuscht war, dass er nichts mitgebracht hat.
MUSIK Structure ryhtme M0010659 003 0.27 Min.
SPRECHERIN
Birgit Weyhe lebt heute in Hamburg, ist aber in Ostafrika aufgewachsen, und hat oft ihren Bruder in Mosambik besucht – sie kennt also Land und Leute. Sie war überrascht und auch ein wenig beschämt, dass sie nichts wusste von den mosambikanischen Arbeitskräften in der DDR. Sie beginnt zu recherchieren und spricht in Mosambik mit insgesamt 20 ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern.
18 O-TON (Weyhe)
Was alle einheitlich gesagt haben, ist, dass es hieß, sie könnten eben in die DDR, könnten da arbeiten und würden eine Ausbildung kriegen. Und das hat sich für die wenigsten erfüllt. Also manche konnten dann wenigstens einen Führerschein machen, was ihnen ein bisschen was gebracht hat. Aber das waren wirklich Ausnahmen.
SPRECHERIN
Birgit Weyhe zeichnet einen Comic. Das Buch erscheint 2016 und heißt „Madgermanes“. So nennen sich die mosambikanischen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, die in der Hauptstadt Maputo auf die Straße gehen und protestieren.
MUSIK Anxious Z8037642 105 0.19 Min.
SPRECHERIN
Denn während ihres Aufenthaltes in der DDR bekamen sie nur einen Teil der Löhne ausgezahlt. Der Rest wurde einbehalten.
20 O-TON (Weyhe)
Manchmal waren es 60 Prozent, manchmal 50, die ihnen abgezogen wurde, weil es hieß, das Geld bekommt ihr, wenn ihr zurückkommt. Das kommt auf ein Konto, und wenn ihr zurück nach Mosambik kommt, dann habt ihr dieses ganze Geld und könnt damit dann euch ein neues Leben aufbauen und profitiert davon und eure Familien.
SPRECHERIN
Eine schöne Vorstellung – die sich für die meisten allerdings nicht erfüllte.
MUSIK Needle and twin Z8019017 122 0.27 Min.
21 O-TON (Weyhe)
Was die Vertragsarbeiter nicht wussten, ist, dass die beiden Länder untereinander einen Deal geschlossen hatten, dass mit diesen Löhnen die Devisen-Schulden Mosambiks abgezahlt werden. Das heißt, Mosambik hat eben Waffen eingekauft bei der DDR gegen Devisen und konnte diese Schulden nicht zurückzahlen, weil es eben ein Land war, was gerade unabhängig geworden ist und direkt in den Bürgerkrieg gegangen ist, woher sollten die Devisen kommen.
SPRECHERIN
Einen solchen Deal hatte die DDR nicht nur mit Mosambik, sondern auch mit anderen sozialistischen Staaten.
22 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Viele der Entsendestaaten waren bei der DDR verschuldet. Und diese Abkommen waren dann eine Möglichkeit, diese Schulden teilweise zu tilgen. Also jeder Arbeiter, der beispielsweise dann aus Mosambik nach Berlin geschickt wurde, um dort in einem volkseigenen Betrieb zu arbeiten, dessen Arbeitsleistung wurde teils in Form eines Gehaltes an den Arbeiter ausgezahlt und teils lief das Geld direkt in die Kasse der DDR zur Tilgung der Staatsschulden, was natürlich das individuelle Gehalt des Arbeitnehmers runtergedrückt hat.
SPRECHERIN
Neben dem eher niedrigen Verdienst erlebten viele Mosambikaner auch Anfeindungen. Bekannt sind heute vor allem die rechtsextremen Anschläge in den 1990ern, also nach der Wende. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen. Aber auch schon vor der Wende gab es Übergriffe.
24 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Wir wissen aus Stasiakten und Polizeiakten, dass es auch schon lange vor dem Mauerfall in der DDR zu rassistischen Übergriffen kam, also gewalttätigen Übergriffen. Die wurden aber totgeschwiegen und tabuisiert. Das hat natürlich mit dem ideologischen Hintergrund zu tun. Laut SED-Regime war Rassismus ein Symptom kapitalistischer Systeme.
MUSIK Motivated work red 2 Z8034318 121 0.35 Mon.
SPRECHERIN
Das sind die Schattenseiten der Vertragsarbeit in der DDR. Und dennoch berichten viele auch von positiven Erfahrungen. Vom Zusammenhalt untereinander und in den Betrieben. Und von langanhaltenden Freundschaften und Menschen, die in der DDR eine Art Ersatzfamilie waren.
25 O-TON (Weyhe)
Ich habe mit einer gesprochen, die hat immer noch zu Omi und Opi Kontakt. Das war ein Ehepaar, was sie ganz am Anfang kennengelernt hat und die sie jede Woche eingeladen hat zu Kaffee und Kuchen und die so ihr Anker waren. Die waren wirklich wie Omi und Opi für sie. Und die telefonieren immer noch und sind ganz eng.
SPRECHERIN
Auch Thach Ngyuen erinnert sich im Großen und Ganzen gerne an die Zeit.
MUSIK Buddelkastenfreunde Z8038689 116 0.55 Min.
26 O-TON (Ngyuen)
Wenn man sich heute trifft, also die ehemaligen Vertragsarbeiter, die erzählen immer noch von dem schönen Leben damals in der DDR. Denn sie müssen sich vorstellen, in Vietnam waren wir sehr arm, haben nicht genug zu essen, auf einmal haben sie genug zu essen, also Hühner, Brot, Fleisch, ein sauberes Bett, Warmwasser zum Beispiel.
SPRECHERIN
Und, was ihm ganz wichtig ist: Viele Familien profitieren, auch seine eigene.
27 O-TON (Nguyen)
Man muss auch so sagen: Mit den Abkommen hat man auch sehr vielen Familien in Vietnam geholfen. Die Leute, die hier waren, die können Waren nach Hause schicken, die können ihre Familien zuhause unterstützen. Und nach der Wende, die die hiergeblieben sind oder die hinzugekommen sind, die dürfen dann ihre Familie herholen, wie ich zum Beispiel.
SPRECHERIN
Seine Tochter hat in Deutschland mit einem Notendurchschnitt von 1,0 Abitur gemacht und anschließend promoviert. Sein Sohn studiert Musik in der Schweiz.
28 O-TON (Nguyen)
Das ist das, was ich diesem Land zu verdanken habe.
MUSIK Anxious Z8037642 102 0.31 Min.
SPRECHERIN
Das ist die heutige Perspektive, mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wende. 1989, also nach dem Mauerfall, beginnt erst einmal eine sehr schwierige Zeit für die Vertragsarbeiter. Vor allem, weil ihr rechtlicher Status unklar ist.
29 O-TON (Rabenschlag Karpe)
Die Arbeitsmigranten befinden sich in einem juristischen Vakuum, weil ihre Aufenthaltsgenehmigung an den Arbeitsvertrag geknüpft gewesen war. Und dieser Arbeitsvertrag war aber vom Staat der DDR geschlossen worden. Und den gab es ja nun nicht mehr. Also war der Arbeitsvertrag nicht mehr gültig. Damit also auch die Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr.
SPRECHERIN
Einige Herkunftsländer holen ihre Arbeitskräfte deshalb bald nach Hause.
30 O-TON (Hentschel)
Wie zum Beispiel Kuba, Nordkorea, China. Aber Mosambik, Angola, Vietnam haben ihre Leute nicht zurückgeholt. In Afrika war Bürgerkrieg und Vietnam stand kurz vor dem wirtschaftlichen Aus.
MUSIK Königskinder Z8038689 103 0.43 Min
SPRECHERIN
Rund 90.000 Vertragsarbeiter leben zur Zeit des Mauerfalls in der DDR. Die Mehrheit kommt aus Vietnam. Teilweise sind sie erst ein paar Monate zuvor eingereist. Ein Großteil der Vertragskräfte kehrt zur Wendezeit in die Heimat zurück – einige bekommen eine ordentliche Abfindung, andere werden massiv zur Ausreise gedrängt. In Deutschland bleiben letztlich
rund 20.000 Menschen aus Vietnam, 3000 aus Mosambik und 200 aus Angola. Ihre Situation ist oft äußerst prekär: Viele sprechen erst wenig deutsch und in den Wohnheimen können sie häufig nicht bleiben.
31 O-TON (Hentschel)
Weil die Unterbringung war nicht für Arbeitslose, weil die ja alle arbeitslos geworden sind. Die wenigen Wohnheime, die es noch gab, haben gleich nach der Wende 120 D-Mark gekostet, also für ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Schrank.
SPRECHERIN
Geld, das erst mal verdient werden muss. Manche verkaufen Zigaretten auf der Straße, andere gründen kleine Imbisse oder Blumenläden. Oft im rechtlichen Graubereich. Denn ihr Status ist lange unklar und sie müssen jederzeit damit rechnen, abgeschoben zu werden. Oft wissen auch die Behörden nicht so genau, wie mit ihnen verfahren werden soll. Tamara Hentschel gründet deshalb eine Beratungsstelle für ehemalige Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter.
32 O-TON (Hentschel)
Als wir dann als Beratungsstelle angefangen haben, war für uns erst mal wichtig, sie zu informieren über ihre Rechte. Dass sie Leistungen beziehen dürfen und Arbeitserlaubnis kriegen müssen und so weiter.
SPRECHERIN
Sie engagiert sich mit anderen, dass der rechtliche Status endlich geregelt wird. Sieben Jahre dauert das, dann gibt es Klarheit.
MUSIK Motivated work Z8034318 119 0.32 Min.
33 O-TON (Rabenschlag Karpe)
1997 wird es dann möglich für diese ehemaligen Arbeitsmigranten, sich formal um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik zu bewerben.
SPRECHERIN
Was bei den meisten auch genehmigt wird. Aus den ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern, die im Rahmen der sozialistischen Bruderhilfe in die DDR kamen, werden nun also Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland.
Marie Luise Kaschnitz ist eine der bedeutendsten Dichterinnen der Nachkriegsjahre. Sie beschreibt die Trümmer des Zweiten Weltkrieges, beschäftigt sich immer wieder mit dem eigenen Ich, ist eng befreundet mit Ingeborg Bachmann und Theodor W. Adorno. Als sie 1974 stirbt, hinterlässt sie ein vielschichtiges Werk. Doch heute scheint sie fast vergessen. Autorin: Juliane Ziegler (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Juliane Ziegler
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Stefan Wilkening, Katja Bürkle
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Brigitte Raitz, Germanistin und Kuratorin zweier Ausstellungen über Marie Luise Kaschnitz
Literaturhinweise:
Kaschnitz, Marie Luise: Gesammelte Werke in 7 Bänden. Hrsg.: Christian Büttrich. Frankfurt am Main: Insel-Verlag, 1981-1989.
Kaschnitz, Marie Luise: Das dicke Kind und andere Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.
Kaschnitz, Marie Luise: Liebe beginnt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984.
Kaschnitz, Marie Luise: Das dicke Kind. Prosa, Gedichte und Gespräche. Ausgewählt von Christian Büttrich. der Hörverlag, 2001. (CD)
Raitz, Brigitte: „Ein Wörterbuch anlegen". Marie Luise Kaschnitz zum 100. Geburtstag. Marbacher Magazin 95/2001: Marbach am Neckar, 2001.
von Gersdorff, Dagmar: Marie Luise Kaschnitz. Eine Biographie. Frankfurt am Main und Leipzig: Suhrkamp, 1992.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATORIN: KASCHNITZ/DAS DICKE KIND
Wie es dasaß in seinem haarigen Lodenmantel, glich es einer fetten Raupe, und wie eine Raupe hatte es auch gegessen, und wie eine Raupe witterte es jetzt wieder herum. Jetzt bekommst du nichts mehr, dachte ich, von einer sonderbaren Rachsucht erfüllt. Aber dann ging ich doch hinaus und holte Brot und Wurst, und das Kind starrte darauf mit seinem dumpfen Gesicht, und dann fing es an zu essen, wie eine Raupe frisst, langsam und stetig, wie aus einem inneren Zwang heraus, und ich betrachtete es feindlich und stumm.
SPRECHER
Dann geht das träge Raupen-Mädchen hinaus, zum zugefrorenen See, wo die ältere Schwester Pirouetten dreht. Anmutig und schön. Das dicke Kind jedoch bricht im Eis ein. Alles beobachtet von der Erzählerin - auf sie übt das Kind eine seltsame Anziehung aus.
Dieser Text von 1952 gilt als eine der bekanntesten Kurzgeschichten von Marie Luise Kaschnitz. Die Ludwigsburger Germanistin Brigitte Raitz sagt:
O-TON (1) RAITZ
Das Besondere ist - dass Kaschnitz praktisch sich selbst als Kind und auch ihre damalige große Eifersucht auf die ältere Schwester Lonja thematisiert. Also es ist so’ne Verwandlung, also am Übergang vom Kind zum Jugendlichen. Und das hat sie öfters thematisiert.
O-TON (2)
Interview: Marie Luise Kaschnitz mit Horst Bienek, 1961, Hessischer Rundfunk
Ja, das dicke Kind bin ich selbst. Die Schwester ist meine Schwester Lonja, der See ist der Jungfernsee bei Potsdam. Wir haben dort in der Nähe gewohnt. Wir sind viel Schlittschuh gelaufen und ich bin auch einmal eingebrochen, aber - wie das dicke Kind - nur einen Meter tief. Ich war auch ein braves, schläfriges, viel essendes Kind, aber eben eines mit vielen Ängsten und eines, das bei jeder Gelegenheit zu heulen anfing.
SPRECHER
… erklärt Marie Luise Kaschnitz in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk 1961. In vielen ihrer Texte verarbeitet sie selbst Erlebtes, die teils auch bitteren Erfahrungen aus der Kindheit. Immer wieder beschäftigt sich mit ihrem früheren Ich. Sie, die Schriftstellerin, sagt, sie könne gar nichts neu erfinden, sie sei eine ewige Autobiografin.
Geboren wird Marie Luise Freiin von Holzing-Berstett am 31. Januar 1901 in Karlsruhe. Als sie ein Jahr alt ist, ziehen sie - die Eltern entstammen beide adeligen Familien - nach Potsdam, später nach Berlin, wo der Vater Flügeladjutant unter Wilhelm II. wird. Nach zwei Mädchen hatte die Mutter bei der Geburt von Marie Luise auf einen Jungen gehofft. Sie verbirgt ihre Enttäuschung nicht. Erst drei Jahre später kommt der ersehnte Sohn auf die Welt.
O-TON (3) RAITZ
Es war eine große Distanz zwischen den Kindern und den Eltern und sie hat darunter doch sehr gelitten und hat vor allem die Zuwendung der Mutter vermisst.
SPRECHER
… sagt Brigitte Raitz. Die Germanistin hat zwei Ausstellungen über Marie Luise Kaschnitz kuratiert.
O-TON (4) RAITZ
Sie hat aber auf die Dauer gesehen viel profitiert von diesem Elternhaus, denn beide Eltern waren musisch sehr interessiert. Die Mutter war sogar ausgebildete Sängerin und hat offensichtlich hervorragend Klavier gespielt, hat auch den Kindern ein Puppentheater eingerichtet und ist mit den Kindern ganz früh in Berlin in Konzerte, in Theateraufführungen, in die Oper gegangen.
SPRECHER
Marie Luise und ihre Geschwister wachsen behütet, streng erzogen und großbürgerlich auf. Gespielt wird mit der Tochter des Kaisers.
Bis 1917 bleiben die Holzing-Berstetts in Berlin. Dann ziehen sie nach Bollschweil bei Freiburg. Dorthin wird Marie Luise Kaschnitz ihr gesamtes Leben über zurückkehren, der Ort wird immer wieder in ihrer Arbeit auftauchen. 1922 beginnt sie eine Lehre als Buchhändlerin in Weimar. Ihr Interesse an Kultur ist groß. Es zieht sie aber eher zum Bauhaus als ins Goethehaus, lieber Szene als Hochkultur.
1924 geht Marie Luise für ihre erste Stelle nach München. Hier lernt sie Guido (Aussprache: Gu-ido) Kaschnitz von Weinberg kennen, einen Archäologen aus Wien. Kurz darauf treffen sie sich in Rom wieder - sie arbeitet in einem Antiquariat, er am Deutschen Archäologischen Institut. Sie heiraten bald und bleiben in Rom. Von da an trägt Marie Luise die einst hüftlangen dunklen Haare kurz, Guido gefällt es so besser. Auf Fotografien blickt sie freundlich und interessiert, aber meist ernst in die Kamera. Die Augen groß, die Brauen markant. Später trägt sie oft Perlen um den Hals.
1928 kommt Tochter Iris Costanza (italienische Schreibweise, ohne vorderes „n“) auf die Welt. Für ihr Kind schreibt sie eines ihrer bekanntesten Gedichte, Am Strande:
ZITATORIN
Heute sah ich wieder dich am Strand
Schaum der Wellen dir zu Füßen trieb
Mit dem Finger grubst du in den Sand
Zeichen ein, von denen keines blieb.
Ganz versunken warst du in dein Spiel
Mit der ewigen Vergänglichkeit
Welle kam und Stern und Kreis zerfiel
Welle ging und du warst neu bereit.
Lachend hast du dich zu mir gewandt
Ahntest nicht den Schmerz, den ich erfuhr
Denn die schönste Welle zog zum Strand
Und sie löschte deiner Füße Spur.
SPRECHER
Schon als Jugendliche schreibt Kaschnitz kurze Texte, von nun an veröffentlicht sie Prosa und Gedichte, arbeitet an Romanen - aus der jungen Buchhändlerin wird eine Autorin. Rückblickend wird Marie Luise Kaschnitz diese Zeit in Rom als das Glück schlechthin bezeichnen. Das zeigt sich auch in ihrer Arbeit: Die Ewige Stadt und Italien sind immer wieder Gegenstand ihrer Texte. Einen weiteren Schwerpunkt legt sie auf menschliche Beziehungen und persönliche Konflikte - etwa schwierige Verhältnisse unter Geschwistern, Verrat oder Schuld.
Die Natur und die Antike sind weitere Motive in ihren Erzählungen und Gedichten zu jener Zeit. Angeregt durch das Umfeld in Italien und den Beruf ihres Mannes interessiert sich Kaschnitz jetzt sehr für griechische und römische Mythologie. Sie geht mit Guido auf viele Studienreisen: nach Griechenland, Sizilien, Nordafrika. Doch die Rollen zwischen ihnen sind klar verteilt:
O-TON (5) Kaschnitz/Interview Bienek, 1961
Ich musste dafür sorgen, dass mein Mann möglichst gut arbeiten konnte und dass er und unser Kind möglichst glücklich waren. Trotzdem habe ich auch damals immer gearbeitet und meine eigene Gedanken- und Ideenwelt gehabt. Ich glaube, dass mein Mann eher froh darüber war. Eine Frau, die am Diwan sitzt und auf den Mann wartet, hätte ihn verrückt gemacht.
SPRECHER
Die Priorität liegt auf Familie und Haushalt, geschrieben wird nebenbei:
O-TON (6) RAITZ
Das hätte sie eher als ein Laster betrachtet und als völlig unwichtig, und sie hat auch viel, schreibt sie, heimlich geschrieben. Und wenn sie unterwegs war, ist sie ins Café und hat dort geschrieben, oder auf Zugreisen auf den Knien - also sie hat es sehr heruntergespielt.
SPRECHER
… so Brigitte Raitz.
Die Ehe mit Guido bezeichnet Marie Luise Kaschnitz als harmonisch, liebevoll, eng. So eng, dass sie später von großen Schuldgefühlen ihrem Kind gegenüber berichtet, Tochter Iris sei als Dritte im Bunde zu kurz gekommen.
Doch: Die große Leidenschaft Guidos für seinen Beruf, sein Ehrgeiz und Arbeitspensum führen zeitweise auch zu Missstimmung. Marie Luise kämpft mit Unsicherheiten.
O-TON (7) RAITZ
An ihn kann sie nicht heranreichen, an ihn, an seine Intelligenz, an sein Wissen, an seine Fähigkeiten auf wissenschaftlichem Gebiet.
SPRECHER
Kaschnitz arbeitet an einem Roman: Liebe beginnt erscheint 1933. Im Fokus steht ein junges Paar, das eine Reise nach Süditalien unternimmt. Die Parallelen zu den Eheleuten Kaschnitz sind klar zu erkennen. Feste Rollenmuster, Unterlegenheitsgefühle, Neid und letztlich der Umgang damit innerhalb ihrer Beziehung - das sind die Themen des Buchs. In der Öffentlichkeit wird der Roman jedoch kaum beachtet.
Anfang der Dreißiger Jahre geht die Familie nach Deutschland, lebt in Bollschweil, Königsberg, Marburg. Durch die Arbeit als Archäologe gibt Guido stets den jeweiligen Wohnort vor, Marie Luise und Tochter Iris ziehen mit. Ihr Mann ist es aber auch, der sie immer wieder zum Schreiben animiert, an ihr Talent glaubt, erklärt Kaschnitz-Expertin Raitz:
O-TON (8) RAITZ
Dass sie überhaupt geschrieben hat und so weit gekommen ist, das hatte er eigentlich in Gang gesetzt, er hat sie sehr bestärkt und hat sie immer unterstützt, dass sie, wenn sie enttäuscht war oder so, dass sie net die Flügel hängen lässt.
SPRECHER
Doch Motivation und Bestätigung kommen dann auch von außen: 1934 gewinnt Marie Luise Kaschnitz einen Lyrik-Wettbewerb der renommierten Zeitschrift Die Dame. Vom Preisgeld kauft sie sich ihr erstes eigenes Auto, einen Opel.
Anfang der Vierziger Jahre arbeitet Kaschnitz an einer Biographie des Malers Gustave Courbet und bezeichnet dieses Buch als einen Übergang zu einer neuen Epoche. Motive aus Natur und Antike verschwinden aus ihren Texten, sie beschäftigt sich jetzt stärker mit der Gegenwart.
Die Gegenwart: das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg. Das gesellschaftliche Klima und die Bedrohung, die von den Nationalsozialisten ausgeht, nimmt Kaschnitz aufmerksam wahr. Im November 1938 notiert Kaschnitz in ihrem Tagebuch:
ZITATORIN
In Bollschweil. Tage der tiefsten Niedergeschlagenheit, Scham und Trauer.
SPRECHER
Die Kriegsjahre verbringt die Familie teils in Frankfurt am Main, teils im nahe gelegenen Kronberg. Neben Bollschweil und Rom wird Frankfurt der dritte Ort von zentraler Bedeutung in Kaschnitz’ Leben und Werk. Dort lebt die Familie ab 1941. Noch heute prangt am Hauseingang im Frankfurter Westend eine kleine Gedenktafel zu Ehren der prominenten Bewohnerin - bis zum Tod von Marie Luise Kaschnitz bleibt dies ihr Wohnsitz.
Aber wie haben sie und Guido sich in jener Zeit positioniert?
ZITATORIN
Ja, danach fragen jetzt alle, nach dem Engagement, aber ich kann diese Frage in einem Sie befriedigenden Sinn kaum beantworten. In der Nazizeit war ich zwar ‚dagegen‘ und habe ein paar Unannehmlichkeiten gehabt, aber ich war doch viel zu feig, um wirklich etwas zu tun. Mich als ‚engagiert‘ zu bezeichnen wäre nichts als Angeberei.
SPRECHER
… äußert sich Marie Luise Kaschnitz 1971 in einer Befragung von Schüler*innen.
Sie schreibt weiter, arbeitet an der Courbet-Biographie. Unauffällig, unverfänglich. Politische Aussagen macht sie keine. Dem Begriff der Inneren Emigration begegnet Marie Luise Kaschnitz jedoch kritisch, wie hier in dem 1973 erschienenen Text ihres Buches Orte:
ZITATORIN
Und worin soll sie denn bestanden haben, unsere sogenannte innere Emigration? Darin, dass wir ausländische Sender abhörten, zusammensaßen und auf die Regierung schalten, ab und zu einem Juden auf der Straße die Hand gaben, auch dann, wenn es jemand sah? Nicht heimlich im Keller Flugblätter gedruckt, nicht nachts verteilt, nicht widerständlerischen Bünden angehört, von denen man wusste, dass es sie gab, es so genau aber nicht wissen wollte. Lieber überleben, lieber noch da sein, weiterarbeiten, wenn erst der Spuk vorüber war. Wir sind keine Politiker, wir sind keine Helden, wir taten etwas Anderes.
SPRECHER
Guido geht seiner wissenschaftlichen Arbeit als Archäologe nach, soweit möglich, sie ihrem Beruf als Schriftstellerin: Marie Luise Kaschnitz fängt die Stimmungen nach dem Krieg in ihrer Lyrik ein, fasst ihr Entsetzen in Worte. Sie beschreibt Ruinen und Zerstörung, Wohnungsnot, Leid. Ihr Gedicht-Band Totentanz bringt ihr die Bezeichnung Trümmerdichterin ein.
O-TON (9) RAITZ
Berühmt wurde sie nach ’45 in der deutschen Literatur zunächst für diese großen Zyklen, die das unmittelbare Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit thematisieren: Rückkehr nach Frankfurt ist vielleicht das berühmteste. Oder dann Die große Wanderschaft, die großen Flüchtlingszüge, der Hunger, das Elend, auch das grausame Verhalten zum Teil.
SPRECHER
Nach dem Krieg arbeitet sie in der Redaktion der neuen Zeitschrift Die Wandlung mit, übernimmt das Literatur-Ressort und empfiehlt Dichter*innen wie Paul Celan oder Gabriele Wohmann. Kaschnitz ist Mitglied des PEN-Clubs, tauscht sich mit Autor*innen der Gruppe 47 aus, schreibt viel, Gedichte und Essays. Das Papier ist knapp, mit Guido streitet sie um jedes Blatt, berichtet sie einem Freund. Sie pflegt einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Theodor W. Adorno und seine Frau sind enge Freunde, sie wohnen in der Frankfurter Nachbarschaft.
Und dann, 1952, geht es wieder nach Rom! Guido wird Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts. Insgesamt verbringt Marie Luise Kaschnitz über zehn Jahre ihres Lebens in Rom, als ihre Herzlandschaft bezeichnet sie die Stadt. Es sind wohl die Gegensätze, die Kaschnitz so faszinieren: hier die sichtbare Vergangenheit, dort die lärmende Metropole; Schwermut neben Vitalität, unfassbare Schönheit neben sozialer Armut. Briefe aus dieser Zeit zeigen, wie gut es ihr in Italien geht. Später blickt sie zurück:
O-TON (10) Kaschnitz/Interview Bienek, 1961
Rom hat mich gewiss auch künstlerisch beeinflusst. Man lernt dort Geschichte und lernt, sich gegen die Geschichte zu wehren. Ich glaube, dass man vor allem sehen lernt. Man hat viele Impulse durch Augenfreuden, und weil das Leben sich zum großen Teil draußen, nicht in den Häusern abspielt, erfährt man auch viel von den Menschen, viel mehr als hier.
((SPRECHER
In Rom ist Kaschnitz Teil eines deutschsprachigen Autoren- und Intellektuellen-Kreises und genießt das Leben in Italien. Sie lernt Ingeborg Bachmann kennen, mit der sie zeitlebens eng befreundet bleibt. Daneben trifft sie sich mit Kollegen wie Gustav René Hocke, Hermann Kesten, später auch mit Max Frisch und Luise Rinser. Als sensibel wird sie beschrieben, mit einem Gespür für besondere Situationen und Stimmungen. Eine Menschenfischerin sei sie, so Kaschnitz über sich selbst.))
O-TON (11) RAITZ
Sie war eine ungeheuer gute Beobachterin und Zuhörerin und sie hat vieles aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz vor allem in die Erzählungen übernommen. Und sie beschreibt sehr genau, psychologisch korrekt, sehr psychologisch oft. Aber nie irgendwie verschwommen oder verrätselt, sie hat einen sehr direkten Stil, wenn man das sagen kann. Sie lässt oft die Handelnden erzählen, aber sehr oft, sicher Dreiviertel davon sind in der Ich-Form.
SPRECHER
So auch die Kurzgeschichte Das dicke Kind, mit der Marie Luise Kaschnitz viel Aufmerksamkeit erlangt.
Die Erzählerin, voller Abscheu diesem trägen Kind gegenüber, folgt ihm dennoch neugierig nach draußen:
ZITATORIN
Ich muß doch sehen, wie diese Raupe Schlittschuh läuft, dachte ich. Ich muß doch sehen, wie sich dieser Fettkloß auf dem Eise bewegt. Und ich beschleunigte meine Schritte, um das Kind nicht aus den Augen zu verlieren.
SPRECHER
Dann, der Schreck: Das Kind bricht im Eis ein. Doch es gelingt ihm, sich selbst zu retten. Alles beobachtet von der Ich-Erzählerin:
ZITATORIN
Und das war ein langer Kampf, ein schreckliches Ringen um Befreiung und Verwandlung, wie das Aufbrechen einer Schale oder eines Gespinstes, dem ich zusah, und jetzt hatte ich dem Kinde wohl helfen mögen, aber ich wusste, ich brauche ihm nicht mehr zu helfen - ich hatte es erkannt . . .
SPRECHER
Denn die Erzählerin ist selbst das Kind. Marie Luise Kaschnitz hält sich einen Spiegel vor und verarbeitet ihre eigenen Erfahrungen aus der Kindheit. Dabei bewegt sich der Text zwischen Realität und Fiktion. 1961 bekennt sie:
O-TON (12) Kaschnitz/Interview Bienek, 1961
Ich halte die Geschichte Das dicke Kind für meine stärkste Erzählung, weil sie am kühnsten und am grausamsten ist. So grausam zu sein, konnte mir nur gelingen, weil das Objekt dieser Grausamkeit ich selber war.
SPRECHER
Hart und schonungslos gegenüber dem eigenen Ich, der eigenen Vergangenheit.
Anderen Menschen hingegen begegnet sie aufgeschlossen und wohlwollend. Sie pflegt ihr großes Netzwerk von unterschiedlichen Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wissenschaft. Immer wieder fördert sie junge Talente, etwa die Schriftstellerin Ingrid Bachér.
1952 wird ihr erstes Hörspiel gesendet, bis in die Siebziger Jahre folgen rund zwanzig weitere. Kaschnitz sagt, großes Vergnügen bereite ihr dabei die Arbeit am Dialog, der freie Umgang mit Ort und Zeit.
Drei Jahre später, 1955, der Höhepunkt ihres Schaffens: Sie erhält den Georg-Büchner-Preis, viele weitere Auszeichnungen folgen. Spätestens jetzt hat Marie Luise Kaschnitz einen festen Platz in der literarischen Szene im Nachkriegsdeutschland.
Dann ein großer Schicksalsschlag für sie: 1958 stirbt Guido. Zwei Jahre zuvor wurde bei ihm ein Hirntumor entdeckt, die Zeit bis zu seinem Tod ist zermürbend.
ZITATORIN: KASCHNITZ/Dein Schweigen, meine Stimme
Du entfernst dich so schnell
Dein Schweigen
Meine Stimme
Dein Ruhen
Mein Gehen
Dein Allesvorüber
Mein Immernochda
SPRECHER
Das Ende dieser glücklichen Beziehung stürzt sie in eine Krise, die auch in ihrem Werk als Zäsur zu erkennen ist. Viele Gedichte aus dieser Zeit haben den Tod, Trauer, Vergänglichkeit und Verlust zum Thema. Halt findet sie in der Familie, bei ihren Freunden, im Austausch mit Kolleg*innen. Langsam tastet sie sich ins Leben zurück. Ihr Interesse am Zeitgeschehen und an jüngster Geschichte wächst. Früher habe sie sich oft Guidos Meinung angeschlossen, berichtet Germanistin Brigitte Raitz:
O-TON (13) RAITZ
Sie hat sich erst nach seinem Tod politisch geäußert. Und dazu sagt sie: Der Liebe - das war so ihr Name für ihn - der Liebe hätte jetzt sicher den Kopf geschüttelt oder die Stirn gerunzelt.
SPRECHER
Zwischen Aufarbeitung der Nazi-Zeit, Wirtschaftswunder und Mauerbau taucht nun häufiger Gesellschaftskritik in ihren Texten auf. Sie hofft auf Veränderung und Aufbruch, wird politisch:
O-TON (14) RAITZ
Nicht nach außen, also sie tritt nicht mit Reden auf oder politischen Äußerungen wie vielleicht Walser oder Grass oder so Leute. Sie besucht zum Beispiel 1964 als eine der ganz wenigen Schriftsteller und Schriftstellerinnen den Auschwitzprozess in Frankfurt und macht Notizen darüber. Und sie hat in Frankfurt (lacht) mit großer Sympathie den Häuserkampf der Studenten verfolgt. Ist wohl auch bei manchen Demonstrationen mitgelaufen und sie hat auch später immer vor ihrem Angst vor Atomschlag, vor der Umweltzerstörung gesprochen.
SPRECHER
Viele ihrer Texte sind zeitlos. Und doch sind die Romane und Essays, Kurzgeschichten und Gedichte jüngeren Leser*innen heute kaum noch bekannt.
Gefragt, in welcher literarischen Form sie sich selbst am deutlichsten verwirklichen könne, antwortet Marie Luise Kaschnitz:
O-TON (15) Kaschnitz/Interview Bienek, 1961
Ich glaube, im Gedicht. Ich will aber noch mehr und anderes sagen, als sich im Gedicht ausdrücken lässt. Die Kritik hat mich die längste Zeit nur als Lyrikerin gesehen. Tatsächlich setze ich mich mit Vorliebe zwischen alle Stühle insofern, als man meine Gedichte episch, meine Prosa lyrisch und meine dramatischen Versuche sowohl episch wie lyrisch nennt.
SPRECHER
Im Herbst 1974 soll Marie Luise Kaschnitz die Frankfurter Buchmesse mit einem Vortrag eröffnen. Der Titel: Rettung durch Phantasie, ein Plädoyer für die Lyrik. Dazu kommt es nicht mehr. Sie stirbt nach einem Badeunfall am 10. Oktober in Rom ((- in ihren Notizheften noch viele unverarbeitete Ideen)).
Viele Erdbebenkatastrophen würden weniger dramatisch ausfallen, wenn der Baubestand besser wäre. Wissenschaftler und Experten arbeiten an neuen Strategien für die gefährdeten Megacities der Welt. Autorin: Dagmar Röhrlich (BR 2016)
Credits
Autorin dieser Folge: Dagmar Röhrlich
Regie: Dagmar Röhrlich
Es sprachen: Dagmar Röhrlich, Lars Schmidtke
Technik: Lewlin Rektenwald
Redaktion: Sabine Straßer, Bernhard Kastner
Im Interview:
Tom Heaton (California Institute of Technology in Pasadena, CA);
Martin Voss (Freie Universität Berlin);
Jonathan Stewart (Universität von Kalifornien, Los Angeles, CA);
Lothar Stempniewski (Karlsruher Institut für Technologie KIT);
Hans Joachim Blass (Karlsruher Institut für Technologie, KIT);
Carmen Sandhaas (Karlsruher Institut für Technologie KIT);
Leonardo Seeber (Lamont-Doherty Earth Observatory in Palisades, NY);
Werner Trieselmann (Center for Disaster Management and Risk - Reduction Technology in Potsdam)
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Dass die Erde ein bewegter Planet ist, hat sich noch nicht lange im Bewusstsein ihrer menschlichen Bewohner verankert. Dass sie um die Sonne kreist - das ist seit der früheren Neuzeit bekannt. Autorin: Christiane Neukirch (BR 2013)
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Martin Trauner, Andreas Mangold
Es sprachen: Sabine Kastius, Wolfgang Pregler
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
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Isaac Newton brachte mit seinen Erkenntnissen Mathematik wie Physik maßgeblich voran. Doch der englische Universalgelehrte war auch schwierig, er lag mit Freunden und Kollegen ständig im Streit. Autor: Lukas Grasberger (BR 2019)
Credits
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Irina Wanka, Stefan Merki, Carsten Fabian
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Florian Freistetter, Physiker und Autor „Newton – Wie ein Arschloch das Universum neu erfand";
Thomas Udem, Prof., Max-Planck-Institut für Quantenoptik;
Stefan Zieme, Wissenschaftshistoriker und Physiker, HU Berlin;
Stefan Geier, Astronom, Grantecan, La Palma
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
ZITATOR
„Ich weiß nicht, wie ich der Welt erscheinen mag; aber mir selbst komme ich nur wie ein Bub vor, der am Strand spielt und sich damit vergnügt, ein noch glatteres Kieselsteinchen oder eine noch schönere Muschel als gewöhnlich zu finden - während das große Meer der Wahrheit gänzlich unerforscht vor mir liegt."
SPRECHERIN
Sätze, die so bescheiden wie weise klingen. Überliefert sind diese Sätze von Sir Isaac Newton, dem bereits wohlhabenden und anerkannten englischen Naturforscher und Philosophen, am Ende seines Lebens. Doch Isaac Newton, dieser strahlende Stern, Fixpunkt und Orientierung für Generationen nachgeborener Naturwissenschaftler, hatte auch eine dunkle Seite: Streitsucht, Egoismus und die Unfähigkeit, Kritik zu ertragen, standen Zeit seines Lebens seiner intellektuellen Brillanz entgegen.
MUSIK kurz hoch
SPRECHERIN
Der zwiespältige Charakter des 1643 geborenen Isaac Newton könnte in einer Kindheit begründet liegen, in der die unbeschwerten Momente am Strand wohl nicht die prägenden waren, mutmaßt der Physiker Florian Freistetter, der 2017 eine Biografie über Isaac Newton veröffentlicht hat.
Musik aus
O-Ton 1 Florian Freistetter, Autor „Newton: Wie ein Arschloch das Universum neu erfand“
„...Man kann nur mit den biografischen Daten arbeiten, die´s gibt: Und da hat Newton tatsächlich eine schwierige Kindheit gehabt. Newton hat auch in seinen Tagebüchern geschrieben, wie schwer es für ihn war, mit seinem Stiefvater und seiner Mutter klarzukommen.“
Musik
SPRECHERIN
Er habe Mutter und Stiefvater Smith bedroht, sie samt ihrem Haus anzuzünden, notierte der junge Newton in seinem Tagebuch. Dieser Furor dürfte auch damit zu tun gehabt haben, dass seine Mutter und sein Stiefvater Isaac Newton zur Großmutter abgeschoben hatten. Ein traumatisches Erlebnis für das Kind sieht darin der US-Wissenschaftshistoriker Richard. S. Westfall. Wahrscheinlich sei es diese Abwesenheit an elterlicher Zuwendung gewesen, schreibt Westfall in seiner Newton-Biografie, welche ihn zu einer extrem neurotischen Persönlichkeit gemacht habe, die sich – zumindest in ihren mittleren Jahren – permanent am Rande des Nervenzusammenbruchs bewegt habe.
MUSIK
SPRECHERIN
Nach dem Tod des Stiefvaters kam der nunmehr zehnjährige Isaac zurück in sein Elternhaus im mittelenglischen Dorf Woolsthorpe. Die zweifache Witwe Newton – Isaacs Vater war bereits vor seiner Geburt gestorben – hoffte, der Sohn würde das familieneigene Bauerngut übernehmen. Doch längst hatte ein anderes Erbe das Interesse des Buben geweckt: Sein Stiefvater, ein Dorfpfarrer, hatte eine umfangreiche Hausbibliothek hinterlassen. Der kleine Isaac zog sich gerne in die Welt der Bücher zurück. Und während andere Kinder gemeinsam im Wald herumtobten, grübelte Isaac Newton über Konstruktionszeichnungen, entwarf eine Windmühle, die auch tatsächlich gebaut wurde, oder ließ - allein in seinem Zimmer – eine Maus eine Tretmühle antreiben.
O-Ton 2 Freistetter
„Man kann das schon so ein bisschen vergleichen auch mit diesem Klischee des sozial unfähigen Nerds, das ja heute immer noch in der Welt existiert“
SPRECHERIN
...sagt der Newton-Biograf Florian Freistetter. Als Naturwissenschaftler hält er wenig von allzu psychologisierenden Deutungen – zumal nach so langer Zeit. Vielmehr habe ein Zusammenspiel an äußeren Umständen und innerem Entdeckerdrang Isaac Newtons Lebensweg in eine bestimmte Richtung gelenkt.
O-Ton 3 Freistetter
„Diese große Neugier. Dass das dann noch durch die Isolation seines familiären Hintergunds vielleicht noch verstärkt wird. (…) Solche Charaktere, die vielleicht aus welchen Gründen auch immer ein bisschen Probleme haben mit der Gesellschaft, ein bisschen Probleme haben, sich anzupassen, die vielleicht eher
allein sein wollen, ihr Ding machen: Die finden in der Wissenschaft, damals vermutlich, und heute immer noch, so ne Art geschützten Raum. Weil´s im Wissenschaftsbetrieb eben vor allem darauf ankommt, was man weiß.“
SPRECHERIN
Der geschützte Raum, in dem Isaac Newton seine weitreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse ausbrüten konnte, sollte wiederum für mehrere Jahre ein Zimmer in seinem Elternhaus werden. Zwar durfte er – auf die Intervention eines Onkels hin – eine weiterführende Schule besuchen. Zwar absolvierte Newton die darauffolgenden drei Jahre ein Studium in Cambridge - doch bereits 1665 wurden Studenten wie angehende Akademiker in Zwangsurlaub geschickt. Die große Pest wütete - und der frisch gebackene Bachelor Newton kehrte in die ländliche Abgeschiedenheit seines Elternhauses zurück. Dort schloss er die Fensterläden, bohrte ein Loch hinein - und setzte ein Prisma so in den eindringenden Lichtstrahl, dass die Farben an der gegenüberliegenden Wand erschienen.
MUSIK
ZITATOR
„Es war zuerst eine sehr angenehme Unterhaltung, die lebhaften und kräftigen Farben zu betrachten, die dadurch hervorgebracht wurden. Als ich sie aber nach einiger Zeit sorgfältiger beobachtete, erstaunte ich, dass ihre Form länglich war. Ich hätte erwartet, dass sie kreisförmig wäre Beim Nachmessen fand ich, dass dieses farbige Bild fünfmal länger war als breit. In mir erwachte das lebhafteste Verlangen, die Ursache dieses enormen Missverhältnisses zu entdecken.“
SPRECHERIN
...erinnert sich Isaac Newton ein paar Jahre später in seiner „Neuen Theorie über das Licht und die Farben“. Die Abhandlung enthält die Beweisführung, dass das weiße Licht – anders als bis dahin vermutet - aus einer Mischung von farbigem Licht besteht. Diese Erkenntnisse aus der Optik sollten später in Newtons gleichnamiges Hauptwerk zu diesem Thema einfließen. Besonders umstritten darin war die so genannte Teilchen-Theorie, erklärt der Münchner Physik-Professor Thomas Udem.
O-Ton 4 Prof. Thomas Udem, Max-Planck-Institut für Quantenoptik
„Newton war der Meinung, dass Licht aus Teilchen besteht. Er hat die „Korpuskeln“ genannt – und hat auch zum ersten Mal erklärt, dass weißes Licht zusammengesetzt ist aus farbigem Licht. (…) Und er hat sich das so erklärt, dass es verschieden große Korpuskeln gibt, die zu verschiedenen Farben gehören. Und das Gegenprogramm zu dieser Theorie sozusagen war die Wellentheorie. Also einige Leute haben geglaubt, dass Licht aus Wellen besteht – und nicht aus Teilchen, die durch die Gegend fliegen. Und das war quasi ein zwei, drei Jahrhunderte andauernder Disput“
SPRECHERIN
Nicht hinreichend erklären konnte Isaac Newton mit seiner Teilchen-Theorie, dass sich zwei Lichtquellen unter bestimmten Bedingungen gegenseitig auslöschen - oder dass sich Licht in zwei Strahlen unterschiedlicher Polarisation aufspalten kann. Dies gelang erst dem englischen Augenarzt und Physiker Thomas Young. Aufgrund seiner Erkenntnisse setzte sich erst nach 1800 die Sichtweise durch, dass das Licht aus Wellen bestehe.
O-Ton 5 Udem
„Es hat dann noch sehr lange gedauert, bis sich die Wellentheorie über den Newton hinweggesetzt hat, und sehr stark etabliert hat. Der Grund war einfach Newtons unglaubliche Autorität.“
SPRECHERIN
Welle – oder doch Teilchen? Endgültig entschieden scheint die Fragestellung, die Isaac Newton aufs Tapet der optischen Physik brachte, aber bis heute nicht. Thomas Udem:
O-Ton 6 Udem
„Ironischerweise muss man sagen, dass die Quantentheorie das wieder umgeworfen hat. Und die Quantentheorie beschreibt das Licht jetzt quasi als so ein Hybrid. Das ist quasi gleichzeitig ne Welle und ein Teilchen. Also man hat jetzt quasi einen Kompromiss gefunden...“ (lacht)
SPRECHERIN
Zu Kompromissen war Isaac Newton seinerzeit nicht bereit: Er ging seinem Erkenntnisdrang nach, koste es, was es wolle – auch um den Preis der eigenen Gesundheit, sagt der Buchautor Florian Freistetter.
O-Ton 7 Freistetter Teil 1
„Jedes Mittel war Newton recht, um mehr über die Welt herauszufinden. Er war dabei rücksichtslos gegen andere – er war aber genauso rücksichtslos gegenüber sich selbst. Er hat eben auch vor Selbstversuchen nicht zurückgeschreckt: Eines der Dinge, die er herauszufinden wollte, war, wie das Auge funktioniert. Und Newton hat die Frage interessiert: Was passiert, wenn der Augapfel sich verformt? Wie ändert das den Sinneseindruck? Das wusste man nicht, Newton wollte das wissen – also hat er das einfach ausprobiert.
MUSIK
SPRECHERIN
Mit einem Versuch, dessen Imitation man nicht empfehlen kann... Aber er zeigt beispielhaft, wie Newtons Erkenntnisdrang jegliche natürliche Vorsicht, Furcht und Panik überlagert.
O-Ton 7 Freistetter Teil 2
Und zwar, indem er sich so ne dicke, stumpfe Nadel am Augapfel vorbei quasi ins Auge gestochen hat. Und dann von hinten mit dieser Nadel gegen seinen Augapfel gedrückt hat, um zu sehen, was passiert.“
ZITATOR
„Es erschienen einige weiße, dunkle, farbige Kreise, die am deutlichsten waren, wenn ich mein Auge weiter mit der Haarnadelspitze rieb. Wenn ich hingegen Auge und Haarnadel stillhielt, aber weiter auf das Auge drückte, verblassten die Kreise und verschwanden oft, bis ich Auge oder Haarnadel wieder bewegte.“
MUSIK
SPRECHERIN
Trotz der Hartnäckigkeit dabei, Dinge experimentell zu erkunden, verlor sich Isaac Newton nie in Details, behielt stets den großen Zusammenhang im Blick. Hier ein theoretisches Problem – dort die praktische Lösung:
Für Newton zwei Seiten derselben Medaille. So wurden zu seiner Zeit Teleskope zur Betrachtung von Sternen populär. Üblicherweise waren es Linsenteleskope, mit denen die Beobachter dabei gen Himmel blickten. Das Vergnügen dabei wurde indes getrübt durch störende, farbige Säume am Rande des Blickfelds. Diese Aberrationen traten auf, da die Linse die einzelnen Farben des Lichts unterschiedlich stark bricht. Ein Problem, das Isaac Newton wohl bekannt war, sagt der Physiker und Wissenschaftshistoriker Stefan Zieme.
O-Ton 8 Stefan Zieme, Physiker und Wissenschaftshistoriker, HU Berlin
„Das Newton-Teleskop trägt noch immer seinen Namen und ist ja von ihm 1668 bei der Royal Society vorgestellt worden.
SPRECHERIN
Das Prinzip des Newton-Teleskops ist so einfach wie bestechend: Das Licht wird durch zwei Spiegel durch den Tubus - die Röhre des Teleskops gelenkt. Teleskope, die das Licht nicht brechen, sondern mit Hilfe von Spiegeln reflektieren, sind heute weltweit im Einsatz, erklärt Stefan Geier, der als Astronom am Observatorium „Roque de los muchachos“ auf der Kanareninsel La Palma arbeitet.
O-Ton 9 Stefan Geier, Astronom am Observatorium Roque de los muchachos“
„Am Ende vor dem Tubus ist eben der so genannte Hauptspiegel, der das Licht auffängt und reflektiert. Und weiter oben im Tubus sitzt dann der so genannte
Sekundärspiegel drin, der das Licht dann aus dem Tubus rausreflektiert – und dort sitzt dann das Okular, wo man dann quasi durchschaut.“
SPRECHERIN
Die großen Teleskope am Observatorium der Kanareninsel beruhen auf Weiterentwicklungen des von Newton genutzten Prinzips: Für den Physiker wie für den Astronomen Stefan Geier ist und bleibt Isaac Newton eine wichtige Referenz.
O-Ton 10 Geier
„Die ganze Himmelsmechanik - die Umläufe der Planeten im Sonnensystem – lässt sich sehr gut mit der Newtonschen Mechanik erklären. Auf der Erde haben wir die Anziehungskraft, die uns am Boden hält – und die ist wunderbar durch´s Newtonsche Gravitationsgesetz beschrieben. Auf der Erde funktioniert das wunderbar...die ganzen alltäglichen Dinge. Selbst die Statik von Gebäuden – das alles funktioniert nach den Gesetzen der Newtonschen Physik.“
O-Ton 11 Udem
„F gleich M x A. Kraft gleich Masse mal Beschleunigung...“
MUSIK
SPRECHERIN
...fasst der Physikprofessor Thomas Udem das wohl bekannteste der drei Newtonschen Bewegungsgesetze in eine Formel. Grundlegende Gesetze zur Bewegung, die sowohl am Himmel, wie auch auf der Erde gültig sind: Damit bricht Newton mit der traditionellen, auf Aristoteles zurückgehenden Lehre.
ATMO APFEL FÄLLT AUF WIESE
O-Ton 12 Freistetter
„Damals war´s durchaus noch normal, sich vorzustellen: Es gibt halt Kräfte, Physikgesetze, die auf der Erde wirken. Es gibt andere Gesetze, die im Himmel wirken. Und die haben erst einmal nix miteinander zu tun.
Und was Newton gezeigt hat– und was wirklich seine große Leistung war, war zu zeigen, dass es wirklich so etwas wie universelle Gesetze gibt: Also ein Gesetz, eine Regel, eine Kraft, die überall gilt, die die gleichen Phänomene am Himmel wie auf der Erde beeinflusst. Das hat er aufgrund dieses Vergleichs: Also der Apfel, der von der Erde angezogen wird, Mond am Himmel – und allen Gedanken, die daraus gefolgt sind, abgeleitet.“
SPRECHERIN
Da ist er endlich, der mythenumrankte Apfel - dessen Fall vom Baum Isaac Newton auf die Erdanziehungskraft gebracht haben soll. Newton selbst nährte diese Legende, indem er dem Autoren seiner Memoiren, William Stukeley, von der inspirierenden Kraft der Obstbäume im Garten erzählte. Dass Newton mit dem Apfel quasi der Erkenntnisblitz getroffen hat – diese populäre Variante der Geschichte hält Florian Freistetter für Unsinn: Auf seiner Professur für Mathematik, die Isaac Newton 1669 in Cambridge antrat, habe er seine Theorie zur Gravitation über Jahre hinweg entwickelt. Die Anekdote vom Apfel nährt außerdem das Bild vom genialischen Wissenschaftler, der alleine in seiner Kammer oder der Einsamkeit der Natur zu seinen Erkenntnissen gelangt. Auch das ist falsch, sagt der Wissenschaftshistoriker Stefan Zieme. Er beschäftigt sich an der Berliner Humboldt-Universität mit der Kultur- und Wissensgeschichte von Astronomie, Mathematik und Physik. Newton hatte gleichsam ein globales Informations-Netzwerk, erklärt Thomas Zieme.
O-Ton 13 Stefan Zieme
„Alle haben ne Abhängigkeit, und bewegen sich in nem Netz von Personen: Das sieht man auch an der „Principia“. Das Werk entsteht ja nicht aus der Luft.
Newton beschreibt zum Beispiel, wie sich die Gezeiten überall auf der Welt verhalten. Wie ändern sich Pegelstände im Golf von Tomkin? Das ist irgendwo im südchinesischen Meer. Er kennt überall Leute. Er kennt Arthur Storer zum Beispiel, der in Amerika wahrscheinlich Baumwollplantagen besessen hat, und Arthur Storer schickt Newton astronomische Daten von der Beobachtung eines Kometen.(...) Die braucht er auch für seine Naturphilosophie, um Erklärungen für seinen mathematischen Kosmos zu finden. Das heißt, diese Daten können ihm nur zur Verfügung stehen, weil es eben auch ein expansorisches Verhalten des Britsh Empires gibt.“
MUSIK
SPRECHERIN
Um an Messwerte für die „Principia“ zu gelangen, an Daten, die sein Hauptwerk über die „Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie“ untermauern, ging Isaac Newton absolut skrupellos vor. Seinem Kollegen Robert Hooke, der ihn in der Frage der Planetenbewegung erst auf die richtige Spur brachte, verweigerte Newton jede Anerkennung. Noch schlimmer erging es John Flamsteed – ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter Isaac Newtons in Sachen Mechanik. Der Hofastronom Flamsteed beobachtete im Gegensatz zum Theoretiker Newton ständig die Sterne, und führte darüber akribisch Buch. Ein wahrer Schatz an Daten, auf die Newton sofort und umfassend zugreifen wollte.
O-Ton 14 Freistetter
„Und Flamsteed wollte ihm die nicht direkt geben. Newton hat das aber nicht
akzeptiert, der wollte die Daten sofort haben, und hat gesagt, frei übersetzt:
Flamsteed, du hörst auf mit dem, was du jetzt machst du beobachtest für mich, du gibst mir meine Daten, und alles andere ist mir egal. (…) Newton hat sich, mit seinen Kontakten, die er zum Königshaus gehabt hat, zu einer Art Oberaufseher der Sternwarte ernennen lassen.
Er hat dann Flamsteed unter Androhung der Verhaftung wegen Landesverrates gezwungen, seine Daten rauszugeben, hat Daten dann auch geklaut... Im Wesentlichen läufts darauf hinaus, dass Newton das Lebenswerk von Flamsteed, diesen Katalog, ruiniert hat.“
SPRECHERIN
Bekannter als der Streit mit Flamsteed ist die Auseinandersetzung Isaac Newtons mit dem deutschen Mathematiker und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz. Diese sollte als „Prioritätsstreit“ in die Wissenschaftsgeschichte eingehen.
MUSIK
ZITATOR 1 Leibniz
„Ich denke, es wäre ein lächerliches Schauspiel, wenn Gelehrte, die höhere Grundsätze vertreten als andere Menschen, sich wie Fischweiber gegenseitig beschimpften."
SPRECHERIN
...schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz im Jahr 1700, der Nachstellungen durch Newton bereits überdrüssig. Wer hat nun die mathematische Methode der Infinitesimalrechnung wirklich erfunden?
Eine Methode, mit der man zum Beispiel Flächeninhalte oder Volumeninhalte
mathematisch exakt berechnen kann, auch wenn die Umrandung oder Oberfläche beliebig komplex ist. Ebenso kann man mit dieser Methode die Krümmung oder Neigung beliebig komplexer Oberflächen exakt berechnen.
Für Isaac Newton war dieses Verfahren mehr als graue Theorie – es war sein wissenschaftliches Handwerkszeug.
O-Ton 15 Udem
„Für die Newtonsche Mechanik ist die Infinitesimalrechnung quasi maßgebend. Also ohne die kann man diese Theorien quasi gar nicht aufstellen.
Das heißt, er musste quasi erst seine Mathematik erfinden, bevor er seine Theorien machen konnte.“
SPRECHERIN
Mehrere Jahrzehnte tüftelte Isaac Newton an der Infinitesimalrechnung – seiner dritten großen Theorie neben derjenigen des Lichts und der Gravitationstheorie. Während sein Widersacher Leibniz die Überlegungen zum so genannten Calculus bereits im Jahr 1684 veröffentlichte, hielt Newton seine Erkenntnisse unter Verschluss.
O-Ton 16 Freistetter
„Erst später, als Newton dann schon sehr berühmt war, Präsident der Royal Society...also wirklich ein einflussreicher Mann war. Erst dann hat Newton diesen Priotitätsstreit wieder aufflammen lassen, hat Leibniz beschuldigt er hätte plagiiert, er hätte abgeschrieben...Selbst als Leibniz schon tot war, (...) hat Newton nochmal Veröffentlichungen geschrieben und nochmal quasi auf den toten Leibniz nachgetreten. Heute wissen wir: Newton war der Erste der das herausgefunden
hat, aber Leibniz war der, der diese Mathematik wirklich auf eine Weise formuliert
hat, die wirklich praktisch war. Also wenn wir heute Infinitesimalrechung betreiben, dann tun wir das so, wie Leibniz das damals entwickelt hat. Newtons Methode war
nicht so leicht anwendbar, weil er sich keine Gedanken über die Öffentlichkeitsarbeit, über die Wirkung, über die Einsatzfähigkeit seiner Arbeit gemacht hat.“
SPRECHERIN
Isaac Newton formulierte sogar absichtlich kompliziert, um sich nur mit echten Kennern der Materie auseinandersetzen zu müssen. Kritik, womöglich aus unberufenem Munde, fasste Newton als Beleidigung auf; Diskussionen mit Laien galten ihm als verschwendete Lebenszeit. Der Berliner Physiker Stefan Zieme konstatiert...
O-Ton 17 Zieme
„...dass Newton oftmals nicht daran interessiert war, minutiös alle seine Dinge zu erklären und sich in Debatten zu äußern, sondern eher diese Zeit für sich allein haben wollte. Vermutlich auch, um andere Interessen zu verfolgen:
Um alchemische Experimente zu machen...“
MUSIK
SPRECHERIN
Naturforscher wie Newton gelangten zwar nach und nach an mehr Wissen, wie und warum sich Dinge bewegen. Woraus aber diese Dinge genau bestanden, lag für sie weitgehend im Dunkeln. Wie andere Wissenschaftler bediente sich auch Newton noch der Alchemie, um den „Stein der Weisen“ zu finden, der normales Metall in Gold verwandeln könnte.
Vielleicht fühlte er sich deswegen 1695 bemüßigt, dem englischen Königshaus einen Rat zu übersenden, wie die Münzen des Empire fälschungssicher produziert werden können. Im Jahr darauf wurde Isaac Newton – wohl mit Hilfe von Beziehungen - zum Chef der Münzprägeanstalt ernannt. Doch statt sich auf diesem lukrativen Posten einen gemütlichen Lebensabend zu gönnen, peitschte er eine komplette Neuprägung der britischen Währung durch. Isaac Newton konnte auch in diesem Amt, das er bis zu seinem Tod innehatte, nicht aus seiner Haut. Dies zeigte sich besonders bei seiner Jagd auf die berüchtigten Falschmünzer.
O-Ton 18 Freistetter
„Er hat da wirklich alles getan, er hat tagelang Leute verhört. Und am Ende sind die Leute zum Tode verurteilt worden. Natürlich haben viele dann auch Newton Petitionen geschrieben, Briefe geschrieben, ob man sie nicht vielleicht verschonen kann – was Newton aber komplett egal war. Jeden den er geschnappt hat:
Die sind dann zum Tode verurteilt worden: Also auch da war er so rücksichtslos und hartnäckig, wie er in seiner wissenschaftlichen Arbeit war.“
MUSIK
SPRECHERIN
Von seinen Pflichten als Professor war Isaac Newton bereits 1701 zurückgetreten. Die wissenschaftliche Tätigkeit stellte er aber keineswegs ein:
Newton wirkte bis zu seinem Tod im Jahr 1727 als Präsident der Wissenschaftler-Vereinigung Royal Society. Das herrschaftliche Haus, das er in London bewohnte, beherbergte ein kleines Observatorium. Dort widmet sich der so unverträgliche wie tief religiöse Einzelgänger, der nie geheiratet hat, weiter seinen Studien – und wachte akribisch über sein wissenschaftliches Erbe.
Newtons Vermächtnis für die Nachwelt ist umfangreich – und zum großen Teil immer noch für Forscher wie Praktiker relevant: Die Beschreibung der Schwerkraft, die neue Theorie des Lichts, die Entwicklung des Spiegelteleskops, wie wir es heute kennen: Der Wert von Isaac Newtons Werk für die Wissenschaft ist so unermesslich wie unbestritten.
Vielfraße sind scheue Einzelgänger, die rund um den Polarkreis leben. Sie sind die größten der marderartigen Raubtiere und extrem geschickte Jäger. Jahrhundertelang wurden sie wegen ihres Fells gejagt, heute sind sie geschützt. Autorin: Brigitte Kramer (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Xenia Tiling, Friedrich Schloffer, Gudrun Skupin
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Eva Andersson (Biologin, Tierpark Nordens Ark, Schweden);
Thomas Kaindl (Tierpfleger, Tierpark Hellabrunn, München);
Doris Döppes (Paläontologin, Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim)
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ATMO 1 Vielfraß knurrt
SPRECHERIN drüber
Ganz schön wütend …
ATMO 1 hoch
SPRECHERIN
… und ziemlich nah klingt dieser Vielfraß. Da möchte man nicht direkt dabeisein … lieber gemütlich von daheim aus zuhören, wie ein Mitarbeiter der amerikanischen Wolverine Foundation (sprich: Wulwerien) diesen wilden Burschen aufgenommen hat. Die Szene spielte sich in den tief verschneiten Cabinet-Mountains ab, einer Bergkette, die zu den Rocky Mountains gehört und zwischen Idaho und Montana im Norden der USA verläuft.
ATMO 1 hoch
SPRECHERIN
Das ist richtige Wildnis. Die Kabinett-Berge gehören zu den so genannten Streetless Areas der USA: Gebiete ohne Straßen. BLENDE ATMO 1 / ATMO 2 Vielfraß knurrt, schnüffelt, tapst herum Und hier gibt es sie noch, neben Pumas, Grizzlybären und Wölfen: Die Vielfraße, Wolverines auf Englisch, Gulo gulo auf Lateinisch.
ATMO 2 hoch
SPRECHERIN
Gebiete ohne Straßen bedeutet Gebiete ohne Menschen. Zu Gesicht bekommt man sie deshalb so gut wie nie, weder im Norden der USA, noch in Kanada, Russland oder Skandinavien, wo sie auch leben. Vielfraße sind Einzelgänger. Und sie sind bestens angepasst an die harte Wildnis des Nordens.
ATMO 2 hoch etwas stehen lassen, dann BLENDE MUSIK 1 ruhig, etwas düster
SPRECHERIN
Vielfraße sind unglaublich kräftig und ausdauernd. Und sie sind geschickt und schlau. Sie sind etwa so groß wie Bärenjunge, mit denen sie aus der Ferne verwechselt werden können. Schaut man sich Fotos, Zeichnungen oder Videos aber genauer an, stellt man aber fest: Vielfraße haben nichts Niedliches an sich. Sie haben ein dichtes, langes, dunkles Fell, einen buschigen Schwanz, auffallend große Pfoten, einen kleinen, gedrungenen Kopf mit kleinen Ohren und Augen und stumpfer Schnauze. Sie haben starke Zähne und sehr starke Kiefer. Vom Kopf bis zum Hinterteil können sie einen Meter lang werden, dazu kommen dann nochmal rund 20 Zentimeter Schwanz dazu. Normalerweise wiegen sie um die 15 Kilo.
BLENDE MUSIK 1 / ATMO 3 Vielfraß aufgeregt.
SPRECHERIN
Vielfraße gehören zu den marderartigen Tieren, sind also mit unseren Mardern verwandt, nur viel größer. Auch sie sind nervöse Schnüffler, bewegen sich schnell, werden aufgeregt, wenn ihre Nase etwas entdeckt hat.
ATMO 3 etwas stehen lassen, dann BLENDE ATMO 4 Vielfraß frisst Karibu
SPRECHERIN
… zum Beispiel ein unter einer Lawine begrabenes Karibu – tiefgefroren.
ATMO 4 hoch
SPRECHERIN
Vielfraße halten keinen Winterschlaf. Sie sind das ganze Jahr aktiv, ja sie bevorzugen sogar geschlossene Schneedecken, denn dank ihrer breiten Pfoten können sie sich darauf wie in Schneeschuhen fortbewegen, in einem galoppierenden, sehr leichtfüßig wirkenden Lauf. Sie sinken nicht ein! Und mit den kräftigen Pfoten können sie im tiefen Schnee nach Nahrung graben, denn ihre Spürnase verrät ihnen schon aus großer Distanz, wo ein Happen vergraben liegt – erfrorene Karibus oder Rentiere zum Bespiel. Die steinharten Kadaver zerlegen sie dann mit ihren überaus kräftigen Kiefern.
BLENDE ATMO 4 hoch / MUSIK 1
SPRECHERIN
Karibus und Rentiere sind mit den Hirschen verwandt und leben rund um den Polarkreis in halbwilder Haltung. Das heißt, die Herden bewegen sich frei, werden aber mehrmals im Jahr von ihren Besitzern eingefangen, um Schlachttiere auszusuchen oder um junge und kranke Tiere zu versorgen.
SPRECHERIN
… und hier tritt der Vielfraß, der auch lebende Tiere erlegen kann, in Konflikt mit den Menschen. Vielfraße bringen sich auf Ästen in Position und stürzen sich dann von oben auf vorbeiziehende Rentiere oder Karibus, die viel größer sind als sie. Oder sie töten die Huftiere nach ermüdenden Verfolgungsjagden über die verschneite, offene Tundra durch einen ATMO 4 kurz hoch gezielten-Biss-ins-Genick.
MUSIK 1
SPRECHERIN
Die meisten Menschen mögen die Vielfraße nicht. Jahrhundertelang haben sie sie gejagt, mit Fallen, Speeren oder Gewehren, weil sie Tiere fressen, an denen auch der Mensch Interesse hat. Und wegen ihres dichten, warmen Pelzes.
MUSIK 1
SPRECHERIN
Heute sind Vielfraße vom Aussterben bedroht und stehen deshalb unter Schutz. Der Konflikt mit dem Menschen scheint gelöst zu sein, zumindest in Schweden, wie Eva Andersson vom Tierpark Nordens Ark weiß:
O-TON 1 Eva Andersson
In Scandinavia, the wolverine its like a ...
SPRECHERIN: OV-weiblich
In Skandinavien hat der Vielfraß den Ruf eines zerstörerischen Teufels. Besonders das Samen-Volk, das Rentiere züchtet, will ihn nicht in seinem Lebensraum haben. Aber die schwedische Regierung zahlt den Leuten in ihren Dörfern Geld, damit sie die Fleischfresser in ihrer Gegend tolerieren.
SPRECHERIN
Andersson schätzt, dass es in Schweden und Norwegen noch rund tausend Vielfraße gibt, in Finnland leben rund 300 Tiere. Sie laufen in den nördlichen, unbewaldeten und gebirgigen Landesteilen über die Grenzen hinweg weit herum, auf der Suche nach Futter oder Geschlechtspartnern.
O-TON 2 Eva Andersson
Now, the have moved for the south ...
SPRECHERIN: OV-weiblich
Jetzt ziehen sie auch nach Süden, in die Wälder.
Das ist gut für die Samen, dann gibt es keine Konflikte. Wahrscheinlich sind sie einfach nach Süden gezogen, weil wir sie gelassen haben. Und wohl auch wegen des Futters. Sie fressen ja auch Aas und folgen gerne Wolfsrudeln, von denen sie die Reste fressen. Vielfraße sind immer in Bewegung, sie laufen sehr viel. 30 Kilometer am Tag, das ist für sie ganz normal.
SPRECHERIN
Dementsprechend gedrungen und muskulös ist ihr Körper. Sie gehören neben Luchsen, Bären und Wölfen zu den vier großen Fleischfressern des Nordens. Gibt es in einem Landstrich Wölfe, überleben dort die Vielfraße leichter. Die beiden sind zwar nicht verwandt – obwohl der englische Name Wolverine, „kleiner Wolf“, darauf schließen ließe –, aber Vielfraße und Wölfe gehören immerhin beide zur Überfamilie der hundeartigen Raubtiere, im Gegensatz zu den Raubkatzen. Eva Andersson:
O-TON 3 Eva Andersson
I mean woolfs hunt in packs …
SPRECHERIN: OV-weiblich
Wölfe jagen im Rudel, so können sie viele Rentiere auf einmal erlegen. Vielfraße reißen nur eins, sie jagen allein. Aber sie treiben die Rentier- oder Schafherden auseinander. Und wenn sie dabei die Gelegenheit haben, mehrere Rentiere zum Beispiel zu erlegen, dann nehmen sie das Fleisch mit. Sie sind ja sehr aktive Tiere, das heißt, sie brauchen eine Menge Energie. Sie verstecken das Fleisch dann, für spätere Zeiten, man weiß ja nie, wann man wieder an Futter kommt. Im Winter sind sie gute Jäger, weil sie über den Schnee laufen können. Aber im Sommer ist es nicht so einfach. Sie verstecken das Fleisch dann, zerkleinern die Rentiere und vergraben die Teile im Schnee oder in der Erde.
SPRECHERIN
Vielfraße können in den Herden also auch großen Schaden anrichten.
Bei den Samen, dem indigenen Volk Nordeuropas, das von der Rentierzucht lebt, sind deshalb viele Legenden um das „böse“ Tier entstanden, die heute alle Schweden kennen:
O-TON 4 Eva Andersson
In Sweden we call them …
SPRECHERIN: OV-weiblich
In Schweden heißt er Järv (sprich: Sherrew), das bedeutet furchtlos, oder mutig. Wir haben viele Vielfraß-Legenden. Eine besagt zum Beispiel, dass wenn eine Bärin vier Junge bekommt, dann ist das vierte ein Mörder-Bär. Damit ist der Vielfraß gemeint.
SPRECHERIN
Obwohl Vielfraße in Nordeuropa heimisch sind, ist ihr Image in Skandinavien bis heute eher von Legenden als von echten Erlebnissen mit den Tieren geprägt.
O-TON 5 Eva Andersson
Scandinavian people is normaly in the nature al lot ...
SPRECHERIN: OV-weiblich
Skandinavier verbringen eigentlich viel Zeit in der Natur, aber die Vielfraße meiden die Menschen. Um Skigebiete oder Gegenden, wo die Leute mit Schneemobilen unterwegs sein, machen sie einen großen Bogen. Das heißt, fast niemand hat sie je in echt gesehen, und auf Fotos wirken sie oft größer, als sie sind. Und weil sie so große Pfoten haben, denken viele, da war der Schneemann unterwegs (lacht). Ja, das ist auch eine Legende: Der Vielfraß ist vielleicht der Schneemann.
SPRECHERIN
Die Pfotenabdrücke lassen also auf eine falsche Körpergröße schließen. Die schwedische Biologin Eva Andersson ist im Zoo Nordens Ark für Vielfraße zuständig. Und sie leitet im Europäisches Erhaltungszuchtprogramm die Zucht der Vielfraße in Gefangenschaft. Genetische Vielfalt und Arterhalt stehen dabei im Vordergrund. 140 Vielfraße leben derzeit in europäischen Zoos.
In Gefangenschaft können sie bis zu 20 Jahre alt werden, in der Wildnis sterben sie deutlich früher. Bei Besuchern sorgen sie immer wieder für Überraschungen:
O-TON 6 Eva Andersson
Some people think there are bear pups ...
SPRECHERIN: OV-weiblich
Manche halten sie für Bärenjunge, wenn sie sie zum ersten Mal in echt sehen. Sie können nicht fassen, wie klein sie sind. Die Pfleger gehen problemlos zu ihnen ins Gehege, viele halten sie ja für gefährlich und denken, sie können dich töten. Sie haben einen wirklich schlechten Ruf! Dabei sind sie normalerweise freundlich und überhaupt nicht aggressiv. Neugierig, ja, das sind sie.
SPRECHERIN
… und gelehrig, wie Eva Andersson weiß:
O-TON 6a Eva Andersson
A lot of zoos around Europe …
SPRECHERIN: OV-weiblich
Viele Zoos trainieren mit ihnen. Sie lernen, ihre Pfoten herzuzeigen, oder ihr Maul zu öffnen. Manche lassen sich sogar Spritzen geben, wenn sie geimpft werden müssen oder für Blutproben.
MUSIK 3 stehen lassen / Neuer Aspekt
SPRECHERIN
Auch Lena und Mo sind neugierig und gelehrig. Das Vielfraß-Pärchen lebt im Münchner Tierpark Hellabrunn. Bislang ohne Nachwuchs. Die Fortpflanzung der Tiere ist ungewöhnlich, auch ein Zeichen der Anpassung an Extrembedingungen: Die Paarung ist im Hochsommer, das befruchtete Ei ruht dann wochenlang im Uterus, es entwickelt sich erst am Winteranfang.
Ein bis drei kleine Vielfraße kommen dann im März oder April zur Welt, ihre ersten Lebensmonate fallen also mit der warmen Jahreszeit zusammen. Die Weibchen tragen nur alle zwei Jahre Junge aus und ziehen den Nachwuchs alleine auf. Die können deshalb recht lang bei der Mutter bleiben, ein bis eineinhalb Jahre. In Hellabrunn hat die Zucht leider noch nicht geklappt, obwohl sich Lena und Mo schon mehrmals gepaart haben.
BLENDE MUSIK 3 / ATMO 5 Gehege Regen
Heute steht ihnen der Sinn nach etwas Anderem. Es ist ja auch Winter – keine Paarungszeit. Am Vormittag sind sie besonders aktiv, wie Tierpfleger Thomas Kaindl erzählt. Es sind schöne Tiere. Imposant ist ihr langes, dichtes Fell. Und nein, Vielfraße sind nicht niedlich. Aber sie sind in ihrer Emsigkeit sehr sympathisch. Kein Vergleich zu den benachbarten Raubkatzen, die meistens nur irgendwo herumliegen und Energie sparen.
ATMO 5
BLENDE MUSIK 3 / ATMO 5 Gehege Regen
SPRECHERIN
… der strömende Regen scheint sie null zu stören. Die Tropfen perlen einfach an ihrem dunkelbraunen Fell ab.
ATMO 5 hoch
O-TON 7 Thomas Kaindl
Sie sind sehr gesellig untereinander, wir haben hier ein sehr harmonisches, ein sehr junges Pärchen auch, mit acht Jahren, was sehr viel miteinander macht. Die auch sehr viel miteinander spielen, wo‘s auch immer wieder Reibereien gibt, wie bei uns Menschen auch, sag i mal. Die den ganzen Tag auch immer wieder beschäftigt sind, Futter zu suchen. Die Nase ist stark in Beanspruchung den ganzen Tag, a di Pfoten, weil sie sehr viel mit den Pfoten machen, das heißt sie tasten ab, wie ist der Boden, buddeln sehr viel, des sieht ma auch hier, wenn man von außen schaut. Diese ganzen Löcher die hier sind, des ham alles die Vielfraße g‘macht. Des machen die wirklich in Nullkommanix.
ATMO 5 hoch
SPRECHERIN
Wir stehen außen am Maschendraht, ganz nah dran. Das Mikrofon hat einen großen Windschutz aus langhaarigem Kunstfell.
Einer der beiden Vielfraße kommt im Gehege heran und beäugt und beschnüffelt die Situation von der anderen Seite des Maschenzauns. Das haarige Mikro scheint er irgendwie interessant zu finden.
O-TON 8 Thomas Kaindl
Der ist natürlich jetzt neugierig, weil hier jemand steht und schaut, und i hab ja vorher s‘Gehege a saubergmacht, wir müssen auch die Kotstellen reinigen, weil die natürlich sehr viel Kot machen, weil sie an hohen Stoffwechsel haben, die sind sehr aktiv, das heißt, da kommen andere Gerüche rein und die schauen natürlich, was i g‘macht hab. Wir füttern sehr viele Knochen und die Knochenstücke bleiben über, und die verbuddeln se. Hin und wieder räumen wir halt wieder was raus und da schaut er halt, ob ma net alle g‘fundn ham, ob ma a paar vergessen ham, dann buddelt er‘s wieder aus, wenn er weiß, dass ich drin war und sucht wieder an neuen Platz.
ATMO 5 hoch
SPRECHERIN
Haben Vielfraße also einen Ordnungssinn, oder wollen sie ihre Vorräte vielleicht vor Thomas Kaindl verstecken?
O-TON 9 Thomas Kaindl
Das liegt immer im Auge des Betrachters (lacht) ….
ATMO 5 hoch
SPRECHERIN
Thomas Kaindl geht jeden Tag zu Lena und Mo ins Gehege, zum Saubermachen, zum Füttern und zur Unterhaltung. Denn für einen Vielfraß gibt es nichts Schlimmeres als sich zu langweilen. Kaindl lässt sich immer wieder was Neues einfallen:
O-TON 10 Thomas Kaindl
Mia ham verschiedenste Gerüche, Lebkuchen und Nelkengewürz da fahren alle Raubtiere sehr stark drauf ab, auch n Parfüm, wir haben mittlerweile ne halbe Parfümerie bei uns hinten, wo uns die Leut schenken, wo se nimmer brauchen, des verstreuen ma im Gehege, da reiben sie sich dran, da wird dann drüber markiert, oder ganz klassisch an Karton, wo dann a bissl a Futter mit drin ist, mia ham so Lochkugeln, wo‘s Futter rausfällt, mir hängen an den Bäumen mal was auf …
ATMO 5 hoch
SPRECHERIN
Und jetzt muss Thomas Kaindl – er muss es ja wissen – die Frage nach dem Namen beantworten. Heißen Vielfraße so, weil sie viel fressen?
O-TON 11 Thomas Kaindl
Also der Name hat nix mit der Ernährung zu tun, das ist eine falsche Übersetzung. Des kommt aus dem Skandinavischen, Viel Frett, das heißt eigentlich Felsenkatze, man hat‘s mit Vielfraß übersetzt. Aber sie fressen schon relativ viel, also, die ham ein Körpergewicht, der große Mann, der Mo, wiegt so 16 Kilo und sie kriegen schon ein bis zwei Kilo. Wenn ma des umrechnet: Der Tiger wiegt 170 Kilo und bekommt am Tag so 7 bis 8 Kilo. Im Vergleich zum Körpergewicht fressen die dann deutlich mehr wie a große Katze. Aber jetzt kein Vielfraß in dem Sinn, dass sie bis zum Zerplatzen fressen.
ATMO 5 hoch
SPRECHERIN
Vielfraße fressen also auch in Gefangenschaft nicht mehr, als sie brauchen. Ihren verfressenen Ruf haben sie wohl auch aus dem Nachschlagewerk „Brehms Tierleben“, erstmals erschienen in den 1860er Jahren. BLENDE ATMO 5 / ATMO 4 hoch Zum Vielfraß schreibt der Naturforscher und Zoologe Alfred Brehm Folgendes:
ZITATOR drüber
„Der Name Vielfraß wurde mir, als ich sie zum ersten Mal füttern sah, urplötzlich verständlich. Winselnd, heulend, knurrend, kläffend, zähnefletschend und sich gegenseitig mit Ohrfeigen und anderweitigen Freundschaftsbezeugungen bedenkend, rennen sie wie toll und unsinnig im Käfig umher, gierig nach dem Fleisch blickend. Der unstillbare Blutdurst der Marder scheint bei ihnen in Fressgier umgewandelt zu sein.“
ATMO 4 kurz hoch, dann BLENDE MUSIK 1
((SPRECHERIN
Es stimmt schon: Zurückhaltend hört sich das nicht an. Auch sein wissenschaftlicher Name Gulo gulo verweist auf das lateinische Gula, Genusssucht. Aber Fressgier, Blutdurst oder gar Völlerei sind nichts als menschliche Phantasien.
Der Schweizer Naturforscher Conrad Gessner hat in seinem Werk Historia animalium Mitte des 16. Jahrhunderts auch zum Vielfraß einen Eintrag verfasst, in dem er berichtet, das Tier fresse sich erst voll, dann zwänge es sich zwischen eng nebeneinanderstehenden Bäumen durch, um den Darminhalt möglichst rasch wieder loszuwerden und um danach weiter zu fressen. Auch vor menschlichen Leichen mache der Gierschlund nicht Halt, heißt es.))
BLENDE MUSIK 1 / MUSIK 2 Neuer Aspekt
SPRECHERIN
Woher hat Brehm ((Gessner)) seine Erkenntnisse? Vielleicht hat er die Tiere beobachtet, als sie noch in Mitteleuropa gelebt haben? Wohl kaum. Denn der Vielfraß ist bei uns viel, viel früher verschwunden. Knochenfunde belegen, dass es einmal viele Vielfraße in Mitteleuropa gegeben hat, und zwar während der letzten Eiszeit, der Würm-Eiszeit. Reste von 188 Exemplaren wurden bis jetzt gefunden, in den Alpenländern und in Belgien, Spanien, Ungarn und Kroatien, in der Slowakei und in Slowenien. Sie zeigen, dass die Tiere damals etwa 15 Prozent größer waren als heute. Auch in Bayern gab es Vielfraße, ihre Reste wurden in der Zoolithenhöhle und der Moggaster Höhle bei Forchheim in Oberfranken entdeckt und in den Weinberghöhlen bei Rennertshofen im oberbayerischen Landkreis Neuburg-Schrobenhausen. Die meisten Vielfraß-Knochen stammen aus der Zeit um 18.000 vor Christus, andere vom Ende der Kälteperiode, um 14 bis 10.000 vor Christus.
MUSIK 2 hoch
Doch warum leben heute keine Vielfraße mehr in Mitteleuropa? Das Klima spielt wohl eine wichtige Rolle. Es war kalt damals in Mitteleuropa – genau richtig für den Vielfraß. Auch Rentiere lebten bei uns, und an die war der Vielfraß schon damals gebunden. Eine Theorie lautet, dass mit dem Rückzug der Beutetiere nach Nordeuropa am Ende der Eiszeit auch der Vielfraß verschwand. Er ist ihnen nachgewandert.
MUSIK 2 hoch
Eine andere Theorie vertritt die Wiener Paläontologin Doris Döppes:
O-TON 12 Doris Döppes
Die Interpretation geht jetzt in die Richtung, dass der Vielfraß rund um die Alpen, sag ich jetzt mal groß, Mitteleuropa, ausgestorben ist, nämlich, dass es verschiedene Unterarten waren und der heutige Vielfraß nicht aus den Alpen kam, sondern dass die dort ausgestorben sind, dieser Genpool, und die neue Einwanderung über Nordamerika beziehungsweise Asien kam. Die haben auch den gleichen Genpool. Also zirkumpolar ist der Vielfraß ein Genpool.
SPRECHERIN
Doris Döppes hat insgesamt acht Vielfraß-Skelette gefunden. Das erste sozusagen aus Versehen, während sie in der Salzofenhöhle in der Steiermark nach Resten von Höhlenbären suchte:
O-TON 13 Doris Döppes
Die liegt auf 2.500 Meter Seehöhe, aber es war nicht möglich an das Material der Höhlenbären dieser Höhle zu kommen, die Knochen waren verschollen. Aber es wurde ein fast vollständiges Vielfraßskelett gefunden. Das ist ein Schachtfund. Also das Tier dürfte in einen Schacht gefallen sein und dort verendet. Ein Unfall. Sicher angezogen von toten Tieren. Und er ist ja sehr neugierig.
SPRECHERIN
Döppes hat das Skelett genau untersucht und sich dann im Laufe der Jahre auf den Eiszeit-Vielfraß spezialisiert:
O-TON 14 Doris Döppes
Er wird auch oft übersehen, wenn man die Knochen durchsieht. Er hat aber sehr typische Merkmale an den Knochen. Manchmal hab ich neue Knochen gefunden, die zum Vielfraß gehören, manche waren aber auch falsch bestimmt. Er kann leicht verwechselt werden mit dem Wolf.
SPRECHERIN:
Oder mit dem Bären ...
O-TON 14a Doris Döppes
... es sind ja beides Raubtiere, beide sind Allesfresser im Großen und Ganzen und dadurch sind sich die im Körperaufbau ähnlich. Und das Spannende war eben, dass in Unterkiefer auffallend war, zu den heute lebenden Vielfraßen, dass der letzte Molar, also der zweite Molar fehlte.
SPRECHERIN:
Er hatte einen Backenzahn weniger als seine heutigen Artgenossen. Ein Indiz dafür, warum die eiszeitlichen Vielfraße ausgestorben sind? Konnte er nicht so gut kauen, oder bestimmte Nahrung nicht gut kauen?
O-Ton 15 Doris Döppes
Für die pflanzliche Ernährung sind breite Zähne und mehr Zähne, sagen wir auch so, von Vorteil. Und der Vielfraß hat ein typisches Raubtiergebiss, also mit einer Brechstange wie man‘s vom Löwen vielleicht kennt, teilweise auch vom Hund, und auch von der Hyäne. Die Hyäne ist angepasst an Knochen-Zerbrechen und das ist auch beim Vielfraß sichtbar. Der Vielfraß hat eine sehr starke Beißkraft im hinteren Bereich.
SPRECHERIN
Auf die Frage, ob das Gebiss mit dem Aussterben zu tun hat, gibt es noch keine schlüssige Antwort. Wie auch bei vielen anderen Eiszeit-Säugetieren:
O-TON 16 Doris Döppes
Er gehört zur damaligen Fauna, zu dieser Kältefauna. Wie das Mammut, Wollnashorn, Höhlenlöwe, Höhlenbär, Rentier, Pferd. Ja, manche sind ausgestorben zu unterschiedlichen Zeiten, der Höhlenbär ist ausgestorben, der Höhlenlöwe, die Höhlenhyäne, das Mammut, Riesenhirsch ist ausgestorben. Manche sind noch da wie zum Beispiel der Wolf. Hirsch hat‘s damals gegeben und gibt‘s heute auch noch. Aber Moschusochse gibt‘s auch noch, das Pferd mehr oder weniger, das Rentier, der Vielfraß…
SPRECHERIN
Könnte er nicht wieder zurückkommen, so wie auch Wölfe oder Bären wieder in Mitteleuropa leben?
O-Ton 17 Doris Döppes
Also er braucht geschlossene Wälder und die sind in Europa einfach nicht vorhanden. Und wenn man sieht, was jetzt mit Luchs, Wolf etc. oder auch Rothirsch in Europa abgeht, macht‘s keinen Sinn und ist auch nicht zielführend. Eventuell wandert er von selber, so wie ein Wolf oder ein Bär oder ein Luchs. Aber der Fall ist überhaupt nicht gegeben. Also es gibt überhaupt keine Tendenzen, dass der Vielfraß hier südlich abwandert aus Skandinavien oder auch nicht vom Osten rein, von Russland.
SPRECHERIN
Vielleicht kommt er doch irgendwann zurück, wenn Europa mehr Wildnis zulässt und grüne Korridore heimischen Säugetieren mehr Bewegungsfreiheit ermöglichen? Bis dahin können wir ihn leider nur im Tierpark erleben, den rauen Gesellen aus dem Norden.
Die Amsel ist ursprünglich ein Waldvogel, der im Winter in den Süden zieht. Inzwischen lebt sie aber auch in den Städten und bleibt im Winter hier. Den Menschen macht sie viel Freude, vor allem durch ihre variantenreichen Sangeskünste. Autorin: Brigitte Kohn (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen:Julia Fischer, Thomas Birnstiel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Manfred Siering, Naturschützer, Vorsitzender der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern e.V.
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Birkhead, Tim: Die Sinne der Vögel oder wie es ist, ein Vogel zu sein: Springer; 2. Aufl. 2018.
Burkhard, Stephan: Die Amsel. Die neue Brehm-Bücherei Bd. 95. Westarp Wissenschaften, Hohenwarssleben 1999.
Hume, Rob: Die Vögel Europas. Kosmos 2023.
Jonsson, Lars: Wintervögel. Franckh Kosmos Verlag 2016.
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Unter dem Motto „Same place, same time" ruft Dawn Chorus deshalb alle bisherigen Teilnehmenden dazu auf, im Mai 2024 an denselben Ort zurückzukehren und wieder bei Dawn Chorus mitzumachen.
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Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling, Hemma Michel, Peter Veit
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Csaba Olay, Philosoph, Eötvös Loránd Universität Budapest;
Dr. Ludger Hagedorn, Philosoph, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien;
Dr. Georg Hauptfeld, Historiker, Edition Konturen Verlag, Wien
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Literaturtipps:
Heller, Agnes: Eine kurze Geschichte meiner Philosophie. Edition Konturen, Wien 2017.
Hauptfeld, Georg: Der Wert des Zufalls. Agnes Heller über ihr Leben und ihre Zeit. Edition Konturen, Wien 2018.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Atmo (Tagesschau Jingle dann Ausschnitt 2. Mai 1989)
„Ungarn hat heute damit begonnen, die seit 40 Jahren zu Österreich bestehenden Grenzbefestigungen abzubauen. Auf mehreren Kilometern wurden elektrische Signalanlagen demontiert und Stacheldraht niedergerissen.”
MUSIK 1: Z8035223303 John Frizell: Frank’s Parents 0‘37
Sprecherin:
Am 2. Mai 1989 beginnt Ungarn als erstes osteuropäisches Land, den sogenannten ‚Eisernen Vorhang‘, Stück für Stück zu öffnen. Was danach folgt ist allgemein bekannt: Tausende Flüchtlinge verlassen über Ungarn die DDR. Nach und nach löst sich ein Land nach dem anderen aus der sowjetischen Umklammerung. Freies Umherreisen zwischen Ost und West ist wieder möglich. Und davon machen auch viele Emigranten Gebrauch, die Jahrzehnte vorher in den Westen geflohen waren. So wie die ungarische Philosophin Agnes Heller.
Take 1 (O-Ton Hagedorn)
Sie liebte das Land, sie liebte die Sprache. Ich bin eine ungarische Jüdin und ich liebe die ungarische Sprache! Ist der Satz, den sie immer wieder gesagt hat, das war wichtig für sie.
MUSIK 2: Z8035223304 John Frizell: The Blackouts 0‘37
Sprecherin:
Agnes Heller kehrt voller Freude und Enthusiasmus nach jahrzehntelangem Exil zurück nach Ungarn, erzählt Ludger Hagedorn, Mitarbeiter am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Und begleitet in den kommenden Jahrzehnten kritisch und meinungsstark die Entwicklung der ungarischen Gesellschaft. Für viele Intellektuelle wird sie so zur Grande Dame der ungarischen Philosophie, für viele Konservative und Rechte dagegen wird sie eine verhasste politische Kommentatorin.
Take 2 (O-Ton A. Heller)
Das ist meine wichtigste Geschichte, die einzige kontinuierliche Geschichte, ich habe sehr viele Geschichten, ich kann schreiben die Geschichte meiner politischen Engagements, die Geschichte meiner Lieben, sehr viele Geschichten hat man doch …
Sprecherin:
Erzählt Agnes Heller 2017 in einem Interview mit Ludger Hagedorn im Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.
Take 3 (O-Ton A. Heller)
Aber das ist die einzige kontinuierliche Geschichte, das ist meine Lebensgeschichte, das ist wichtigste Sache in meinem Leben, dass ich eine Philosophin geworden bin und auch geblieben bin!
MUSIK 3: ZE002570106 Bela Bartok (Corinna Simon): Spottlied 0‘20
Sprecherin:
1929 wird Agnes Heller in Budapest geboren, als Tochter assimilierter jüdischer Eltern. Ihr Vater ist Rechtsanwalt, die Mutter Hutmacherin. Kultur, deutsche und ungarische Literatur, Philosophie und Musik sind wichtig im Hause Heller, auch wenn es der Familie finanziell nicht besonders gut geht. Agnes Heller ist ein wissbegieriges Kind, spricht und liest Deutsch und Ungarisch, schreibt Geschichten und diskutiert mit ihrem Vater stundenlang über Politik, schreibt sie in ihren Erinnerungen Der Wert des Zufalls:
Zitatorin:
„Meine Kindheit war sehr glücklich, meine Eltern verstanden sich wunderbar. Wir waren wirklich arm, es kam vor, dass wir kein Mittagessen hatten. Gehen lernte ich sehr langsam, als ich ein Jahr alt war, konnte ich noch immer nicht richtig laufen. Sprechen konnte ich schon mit neun Monaten, und seither habe ich damit nicht mehr aufgehört.” (S. 11 Zufall)
MUSIK 4: Z803522330 John Frizell: Edgewood Arsenal 0‘35
Sprecherin:
Ungarn ist damals ein wirtschaftlich erschöpftes und politisch zerstrittenes Land: Nach dem Ersten Weltkrieg, den es an der Seite von Österreich verloren hat, sind rund zwei Drittel seines Territoriums durch die Friedensverträge verloren. Millionen von Ungarn leben in den angrenzenden Ländern. Die kommunistische Räterepublik wird von einer rechten Regierung abgelöst, die diese Folgen rückgängig machen will und sich deshalb mit den Nationalsozialisten verbündet.
Atmo (Musik aus Wochenschau G0028030Z00 Deutsch Wochenschau-Fanfaren von 1945)
Sprecherin:
Aber das Bündnis endet 1944. Weil die Ungarn, die, Zitat „ jüdische Frage” nicht im Sinne der Nationalsozialisten lösen, marschiert die Wehrmacht ins Land.
Agnes Heller, mittlerweile 15 Jahre alt, lebt mit ihrer Familie im Budapester Ghetto, als der Vater von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert wird. Dort stirbt er Anfang 1945. Agnes und ihre Mutter sollen mitten in Budapest am Ufer der Donau mit Tausenden anderer ungarischer Juden erschossen werden. Aber durch glückliche Umstände und Zufälle, gelingt ihr gemeinsam mit ihrer Mutter die Flucht - und das Überleben bis zum Eintreffen der Roten Armee.
MUSIK 5: R0103330W01 Bela Bartok: Bilder aus Ungarn für Orchester, Sz 97 0‘39
Sprecherin:
Nach der Befreiung engagiert sich Agnes Heller zunächst bei den Zionisten, wo sie István Hermann kennen- und lieben lernt. 1948 wird sie ihn mit 19 Jahren heiraten. Kurz davor hat sie begonnen in Budapest Chemie und Physik zu studieren. Aber nachdem sie durch ihren späteren Ehemann eine Philosophievorlesung gehört hat, wech¬selt sie begeistert zur Philosophie. Ihr Lehrer und Mentor ist der ungarische Marxist und Philosoph György oder Georg Lukács.
Zitatorin:
„Zu jener Zeit war ich noch nicht ganz bei mir, eher ein philosophischer Embryo. Als achtzehnjährige Universitätsstudentin schrieb ich Seminararbeiten unter anderem über Kant, Hegel und Spinoza. Zum Glück sind sie nicht erhalten.” (S. 16 Philosophie)
Sprecherin:
So selbstironisch beschreibt Agnes Heller Jahrzehnte später in Eine kleine Geschichte meiner Philosophie ihren Einstieg in die Welt der Philosophie, die sie durch György Lukács kennenlernt.
Zitatorin:
„Seine Schülerin zu werden war das größte Glück meines Lebens. Ohne ihn wäre ich nie Philosophin geworden, sondern wäre bei meinem ursprünglichen Vorhaben geblieben, Chemie zu studieren.” (S. 17 Philosophie)
Sprecherin:
Agnes Heller ist, wie viele ihrer Zeitgenossen in ganz Europa, zutiefst davon überzeugt, dass der Kommunismus die richtige Antwort auf die Erfahrung des Holocaust und der nationalsozialistischen Ver¬wüstung Europas ist.
Take 4 (O-Ton Heller)
Wir lebten nach dem Krieg in einer Illusion, wir wollten doch die Erlösung. Nach diesem Krieg mit unseren Erlebnissen, ob es der Holocaust war oder nur der Zweite Weltkrieg gewesen war, wir hatten unsere Toten, wir hatten unsere Wunden. Alle von uns wollten die Erlösung, alle!
MUSIK 6: Z9358598008 Moby: Scream Pilots 0‘35
Sprecherin:
Aber die Hoffnung auf Erlösung durch den Kommunismus nach marxistisch-leninistischem Vorbild hält nicht lange an.
Und als 1956 die Rote Armee die ungarische Revolution mit Panzern blutig niedergewalzt, werden auch Intellektuelle wie Lukács und Heller, die sich den Demonstranten und Reformern angeschlossen hatten, verhört, kurzfristig verhaftet, aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen und als Universitätsdozenten entlassen. Säuberungen durchziehen das Land, viele Demonstranten werden zum Tode verurteilt. Agnes Heller verliert ihre Stelle als Assistentin von Lukács und muss fünf Jahre lang als Lehrerin an einer Schule arbeiten. In dieser Zeit geht auch ihre Ehe mit István Hermann in die Brüche. Der Vater ihrer Tochter Zsuzsa, die 1952 geboren wird, plädiert dafür, sich mit dem Regime zu arrangieren. Für Agnes Heller unmöglich. Nicht nur politisch geht sie einen anderen Weg, auch privat: Sie lernt ihren zweiten Ehemann, den Historiker Ferenc Fehér kennen, mit dem sie bis zu dessen Tod zusammenlebt. 1963 heiraten sie, 1964 wird ihr Sohn György geboren.
Take 5 (O-Ton Hauptfeld)
Ich seh es so, dass sie von großen idealistischen Hoffnungen der Revolution 1956 Schritt für Schritt von einem orthodoxen Marxismus weggegangen ist, dann in den 70er Jahren noch gehofft hat, dass eine neue Linke eine bessere Art von Marxismus entwickeln kann und sich dann in den späten 80er und 90er Jahren sich endgültig davon verabschiedet hat.
Sprecherin.
So zeichnet Georg Hauptfeld, Geschäftsführer des Verlags Edition Konturen in Wien, der seit Jahren die Bücher von Agnes Heller publiziert, ihren intellektuellen Werdegang skizzenhaft nach.
Als die ungarische Regierung in den 60er Jahren Lukács und auch Agnes Heller rehabilitiert, geht sie zurück an die Universität und wird Teil der sogenannten ‚Budapester Schule‘, bis heute die einflussreichste Strömung ungarischer Philosophen.
Take 6 (O-Ton Olay)
Die Budapester Schule ist eine Schule bestehend aus den engeren Schülern von Georg Lukács, der wichtigste Philosoph ungarischer Abstammung ist, und Lukács selber hat (…) vier Denker als die Budapester Schule bezeichnet, das ist Agnes Heller, Michael Vajda, der zweite Ehemann von Heller Ferenc Fehér und György Márkus.
Sprecherin:
Erklärt Csaba Olay, Professor für Philosophie an der Eötvös Loránd Universität in Budapest.
Take 7 (O-Ton Olay)
Diese Leute, alle geboren in den 20er und 30er sammelten sich um Lucács herum und bemühten sich um eine Renaissance des Marxismus. (…) Es war ganz klar, dass diese Formel Renaissance des Marxismus und Rückkehr zu den Quellen gegen einen starren Stalinismus gerichtet war, aber was das theoretisch bedeuten sollte, das war viel weniger deutlich.
MUSIK 7: Z8035223312 John Frizell: Laurel Canyon 0‘30
Sprecherin:
Das Eintreten für eine Renaissance des Marxismus, das Suchen nach Reformen ohne das linke Gesellschaftsmodell völlig aufzugeben, hatte keine Chance in Ungarn. Genauso wenig wie in den anderen Ostblock-Staaten zur Zeit des Kalten Kriegs.
Die Intellektuellen der Budapester Schule wurden zu Dissidenten im eigenen Land, mit Publikations- und Lehrverboten. Schließlich konnte Agnes Heller emigrieren, 1977 nach Australien, wo sie eine Professur für Soziologie innehatte, knapp zehn Jahre später erhielt sie einen Ruf auf den Lehrstuhl von Hannah-Arendt in New York.
MUSIKENDE
Sprecherin:
Das Denken von Agnes Heller war und ist untrennbar verwoben mit ihrer Biographie: Als Jüdin von den Nationalsozialisten verfolgt, als abweichende Denkerin zur Dissidentin in Ungarn geworden, ein Star der Neuen Linken in Westeuropa und den USA. Und in ihren späten Jahren die Ikone der Demokraten gegen die europa- und demokratiefeindliche Politik Viktor Orbans. Diese gegensätzlichen Erfahrungen haben ihr philosophisches Denken grund¬legend geprägt, so Csaba Olay:
Take 8 (O-Ton Olay)
Ich würde das so auf den Punkt bringen, dass wir zwei Hauptthemen bei Agnes Heller finden: Einmal die Ethik, in einem weiten Sinne (…) und zum zweiten die Theorie der Moderne. (…) Und man kann sagen, dass die tragische Erfahrung des Holocaust und des real existierenden Sozialismus eben beide Fragen motivieren können. Und Agnes Heller hat selber kurz und bündig ihr Denken so charakterisiert: Sie suchte Antworten auf die Katastrophen ihres Jahrhunderts!
Sprecherin:
Und das heißt, sie wollte diese Katastrophen des 20. Jahrhunderts verstehen, sagt Ludger Hagedorn:
Take 9 (O-Ton Hagedorn)
Verstehen heißt für sie, einen Umgang damit finden, Erklärungen zu finden, vor allem Erklärungen zu finden, wie solche Systeme funktionieren konnten, nicht aber, wie sie immer gesagt hat, die Menschen, die daran beteiligt waren, zu hassen.
Sprecherin:
Das Feld, auf dem sie diese totalitären Systeme intellektuell durchdringen und verstehen wollte, waren die philosophischen Teildisziplinen Ethik und Moral¬philosophie. In drei Bänden hat Agnes Heller ihre Überlegungen dazu ausgearbeitet.
Take 10 (O-Ton Heller)
Im ersten Buch beschäftige ich mich mit den Traditionen ethischer Themen, mit Absichten und Konsequenzen, was man in Frage stellen kann, was ist gut was ist böse usw. Im zweiten Buch, (…) was in den verschiedenen Situationen ein Vorbild tat oder tun kann und im dritten Buch, das ist Ethik der Persönlichkeit.
Sprecherin:
Der Philosoph Csaba Olay, der zehn Jahre lang mit ihr in Budapest an der Universität zusammengearbeitet hat, ordnet Hellers Ansatz philosophiehistorisch so ein:
Take 11 (O- Ton Olay)
Es ist keine politische Ethik oder keine Ethik für überindividuelle Entitäten oder Größen.
Und es ist auch ein weiteres Verständnis von moralischen Phänomenen, in dem Sinne, dass sich Heller nicht nur fragt, was ist (…) das Grundprinzip der Ethik, sondern auch solche Fragen stellt, wie ethische Forderungen in ein gutes, gelingendes Leben einpassen? Wie man ein gerechter Mensch wird?
Sprecherin:
Dreh- und Angelpunkt in Hellers Philosophie ist der Begriff der Freiheit. Nach Hellers Lesart bedeutet Freiheit, sich zu entscheiden und frei zu wählen. Und zwar als existentielle Möglichkeit zu handeln, die jedem Menschen zukommt, unabhängig von Bildung, Herkunft oder Geschlecht. Jede und jeder hat immer die Wahl! Davon ist die Philosophin überzeugt, selbst in Umständen und Situationen, die äußerlich unfrei erscheinen. Als Beispiel verweist sie auf ihre eigene Erfahrung: Als sie 1944 am Ufer der Donau steht, darauf wartend von den ungarischen Faschisten erschossen zu werden, habe sie sich entschieden, kurz vor ihrer Erschießung in die Donau zu springen. Eine solche Entscheidung treffen zu können, mache die individuelle Freiheit aus, selbst in Unfreiheit.
MUSIK 8: Z8035223304 John Frizell: The Blackouts 0‘29
Sprecherin:
Aber Agnes Heller hat diesen Freiheitsbegriff nicht zum Bestandteil eines philosophischen Systems gemacht, wie es beispielsweise Spinoza, Kant oder Hegel getan haben. Komplexe und v.a. systematische Theoriegebäude hat sie abgelehnt, sie führten zwangsläufig zu einem totalitaristischen Anspruch, so ihr Vorbehalt, erklärt Philosoph Ludger Hagedorn, vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen.
Take 12 (O-Ton Hagedorn)
Das ist für sie ein Impuls, der ein philosophischer Impuls gewesen ist, sich nicht einem -ismus zu verschreiben. Sie hatte ja große Schwierigkeiten mit den -ismen hat sie immer gesagt, sogar mit dem Feminismus, der ihr von allen vielleicht noch der sympathischste war und der Humanismus auch. Selbst diese -ismen wollte sie nicht unterschreiben. Wenn du in einem -ismus bist, dann musst du alles unterschreiben oder alles glauben, was die Menschen glauben, die in einem -ismus sind, so hat sie das öfter formuliert.
MUSIK 9: Z8035223321 John Frizell: Fake It 0‘53
Sprecherin:
Aber nicht nur Hellers Skepsis gegenüber allumfassenden Welt¬er-klärungssystemen hat dazu geführt, dass sie ihr Denken nicht als philosophisches System angelegt hat, sondern auch die Tatsache, dass sie jegliche Art von Metaphysik ablehnte. Eine Welt hinter der sinnlich Erfahrbaren anzunehmen und damit die letzten Fragen nach Sinn und Zweck des menschlichen Lebens beantworten zu können, verneinte sie.
Zitatorin:
„Gewöhnlich verlassen sich Philosophen bei der Ausarbeitung ihrer Systeme auf eine Grundlage, ein Fundament, auf unbezweifelbare Prinzipien, zum Beispiel den höchsten Gott oder die höchste Wahrheit, und demonstrieren daran ihren Entwurf. Der Trick dabei ist, dass da Ergebnis der Demonstration bereits vorausgesetzt wird, bevor das Verfahren beginnt. ” (S. 80 Philosophie)
Sprecherin:
Und deshalb sei sie zu der Einsicht gelangt, dass moderne Philosophinnen und Philosophen diesen grundlegenden Welterklärungsansatz nicht mehr erfüllen könnten. Selbst von ihrem Lieblingsphilosophen Immanuel Kant hat sie sich in dieser Hinsicht deutlich distanziert:
Take 13 (O-Ton Heller)
Ich bin doch ein moderner Mensch, moderne Frau das heißt Metaphysik kann ich nicht annehmen. Dass es zwei verschiedene Welten sind, die Welt der Natur und die Welt der Freiheit, das kann man heute nicht mehr annehmen, das tut mir leid, Kant konnte es annehmen wir können es nicht!
Sprecherin:
Und das bedeutet, die Kantische Aufforderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, vollkommen ernst zu nehmen so ihr Verleger Georg Hauptfeld. Und zwar individuell, auf allen Ebenen des mensch-lichen Zusammenlebens.
Take 14 (O-Ton Hauptfeld)
Es gibt bei ihr keinen Bezug außerhalb dieser Welt, es gibt da keinen Gott, den man fragen kann, wie man handeln soll, sondern man muss sich das unbedingt selber fragen.
Sprecherin:
Das bedeutet für Agnes Heller aber nicht, dass alles beliebig ist, dass jedes Verhalten gleichermaßen zu rechtfertigen sei. Oder, dass es lediglich subjektive Wahrheiten geben könnte.
Im Gegenteil, so der Budapester Philosoph Csaba Olay, Agnes Heller hat sehr konkrete Vorstellungen davon, was den einzelnen Menschen zu einem gerechten und guten Menschen macht.
Take 15 (O-Ton Olay)
Die Auszeichnung eines guten Menschen liegt in der existentiellen Selbstwahl. Es liegt darin, dass jemand sich entschließt, ein guter, ein gerechter Mensch zu werden, und das ist das Konzept, was Agnes Heller im Anschluss an Kierkegaard (…) ausführt.
Sprecherin:
Jeder Mensch könne sich entscheiden, ob er gut oder böse sein wolle. Dazu bedürfe es keiner theoretischen Erkenntnisse, sondern vielmehr einer ethisch-moralischen Praxis das Gute tun zu wollen, so Agnes Heller:
Take 16 (O-Ton Heller)
Es gibt gute Menschen in allen Gesellschaften und auf diesen guten Menschen stütze ich meine Ethik.
MUSIK 10: CD603370024 Polish Military Orchestra: National Anthem Of Hungary 0‘23
Zitatorin:
„Der Fall des Eisernen Vorhangs erfüllte mich mit Freude. Endlich änderte sich das Antlitz der Welt, die Eiszeit, die mein Leben viel zu lang geprägt hatte war vorbei. Wir fühlten uns auf der Seite der Wahrheit gegen ein System voller Lügen und Verfälschung der Realität.” (S. 171 Zufall)
Sprecherin:
1989 macht Ungarn als erstes osteuropäisches Land seine Grenzen nach Westen auf und beschleunigt damit den Niedergang der sowjetischen Herrschaft über Osteuropa.
MUSIK 11: Z8035223306 John Frizell: Studio Z 0‘36
Agnes Heller nutzt diese Möglichkeit und reist neugierig nach Ungarn, das erste Mal seit ihrer Emigration nach Australien. Und ist voller Hoffnung und Vorfreude, weil sie davon überzeugt ist, dass ihr Heimatland jetzt endlich demokratisch, frei und rechtsstaatlich werde. Heller sucht in Budapest eine Wohnung, bekommt eine Stelle als Philosophieprofessorin an der Eötvös Loránd Universität in Budapest und pendelt in den nächsten 20 Jahren zwischen ihrer Professur in New York und der in Budapest hin und her. 2009 zieht sie komplett nach Budapest und begleitet dort meinungsstark und furchtlos die politische Entwicklung Ungarns und Europas.
Zitatorin:
„Die Regierungen nach der Systemwende und auch wir glaubten, das größte Bedürfnis der Menschen sei die Freiheit, sei ein Rechtsstaat, es würde genügen, liberal-demokratische Institutionen zu schaffen. Doch den Menschen war Wohlstand wichtiger als Demokratie. Sie hatten keine Ahnung, dass sie ihre Zukunft selbst in die Hand hätten nehmen können. Das Ergebnis war Orbán und der Orbánismus.” (S. 173, Zufall)
Sprecherin:
In Ungarn machte sie sich dadurch viele Feinde, vor allem seit Viktor Orbán dort das Sagen hatte.
Take 17 (O-Ton Hagedorn)
Agnes Heller war eine Symbolfigur in Ungarn auch gerade im Ungarn der letzten 15-20 Jahre, hatte häufig auch unter politischen Angriffen und Attacken zu leiden und hat versucht, sie weitestgehend zu ignorieren, denen nicht allzu viel Bedeutung beizumessen.
Sprecherin:
Agnes Heller wurde antisemitisch verunglimpft, nicht nur privat, sondern auch auf den Titelseiten der regierungsnahen Tageszeitung. Man warf ihr vor, korrupt zu sein und beschimpfte sie als vom Ausland finanzierte Kritikerin der Regierung. Aber Agnes Heller, mittlerweile über 80 Jahre alt, ließ sich nicht einschüchtern. Sie lebte unverdrossen weiter in Budapest, gab Interviews, lehrte an der Universität, reiste auf Kongresse, hielt Vorträge, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und lud einmal pro Monat in ein Szene-Restaurant im jüdischen Viertel, um über Philosophie und Politik zu diskutieren.
Take 18 (O-Ton Olay)
Zusammenfassend würde ich sagen, dass sie eine sehr liebenswürdige Person war, unbestreitbar war und ist sie die international am meisten bekannte Philosophin von Ungarn, das ist eine Tatsache, mit Büchern, die in über 30 Sprachen übersetzt wurden, das ist einfach nicht zu leugnen.
Sprecherin:
Alle, die sie kennenlernen durften, wie Csaba Olay, waren von ihrer Energie, ihrem Mut und ihrer gedanklichen Schnelligkeit, selbst im hohen Alter, maximal beeindruckt. Auch Ludger Hagedorn:
Take 19 (O-Ton Hagedorn)
Das hat Agnes Heller ganz deutlich ausgezeichnet, diese Distanz, die sie zu ihrem eigenen Denken immer hatte. Und die sie auch geschafft hat glaubhaft zu machen, gerade auch in Gesprächen, wenn man ihr begegnet ist, das hatte immer so einen Witz und eine Schnelligkeit, eine Verve, mit der sie das artikuliert hat, dass man gesehen hat, wie ernst ihr das war und dass ihr das auch gelungen ist diese Distanz zu sich selber zu haben.
Sprecherin:
Dennoch ist Agnes Heller mit ihrer Philosophie, die sie immer wieder selbstkritisch hinterfragt, revidiert und verändert hat, in der intel¬lek-tuellen Welt weitaus weniger präsent, als mit ihrem politischen Denken. Georg Hauptfeld, ihr Wiener Verleger, ist der Ansicht, dass sie unterschätzt wird, eben deshalb, weil sie die herkömmlichen Spielregeln der akademischen Philosophie nicht wirklich eingehalten habe:
Take 20 (O-Ton Hauptfeld)
Sie war in der akademischen Welt in vieler Hinsicht ein Quer- und Andersdenkender, die nicht wirklich akzeptiert wurde in vielen akademischen Kreisen. Und sie hat auch andererseits viele Philosophen nicht sehr geschätzt, Habermas, Foucault und Derrida waren für sie ganz große Philosophen, aber sonst war sie in der akademischen Welt nicht wirklich akzeptiert.
MUSIK 12: Z8035223320 John Frizell: Frank’s Business Perspective 0‘32
Sprecherin:
Zeit ihres Lebens ging Agnes Heller jeden Morgen Schwimmen. So auch am 19. Juli 2019.
Die mittlerweile 90jährige Philosophin verbrachte den Sommer am Balaton, dem Plattensee, schwamm auf den See und kehrte nicht zurück.
Take 21 (O-Ton Hauptfeld)
Das letzte, was man von ihr weiß, ist, dass sie zu ihrer Freundin, die gesagt hat sie will umkehren, gesagt hat, das Wasser ist heute so schön, ich schwimme noch eine Weile.
MUSIKENDE
Eine Weltgemeinschaft in Frieden und Gerechtigkeit, ohne Diskriminierung und Ausbeutung, ohne Hierarchien und Grenzen. Diese Utopie hat der Philosoph und Reformer Kang Youwei um 1900 in China niedergeschrieben. Seiner Zeit weit voraus schuf er eine Philosophie, die zum Weltfrieden führen sollte. Autor: Thomas Grasberger (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Friedrich Schloffer
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Thomas Heberer (Professor für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg-Essen)
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Musik: M0007510001 Imperial city 1‘00
Erzähler
Als der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Dezember 2018 zum Staatsbesuch in die Volksrepublik China reiste, stand auf dem Programm auch ein Besuch der Sichuan-Universität in Chengdu. In seiner Rede appellierte Steinmeier an die Studierenden:
Zitator
„Nutzen Sie das, wofür Generationen gekämpft haben – eine globale Ordnung, die Frieden und Zusammenarbeit erst möglich macht!“
Erzähler
In einer Zeit, in der nationale Egoismen und Konflikte weltweit auf dem Vormarsch sind, erinnert der deutsche Bundespräsident also an das Gemeinsame. Und zitiert einen chinesischen Gelehrten namens Kang Youwei, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Schrift verfasst hat.
Das „Datongshu“, die Utopie einer „Großen Gemeinschaft“,
Zitator
„die die Grenzen von Nation, Rasse, Geschlecht und Hierarchie überwindet.“
Erzählerin:
Den Studierenden der Sichuan-Universität dürfte der Name Kang Youwei geläufig gewesen sein. Schließlich gilt er als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des modernen China. Manche sehen in ihm gar den „Martin Luther der konfuzianischen Lehre“. Und Chinas Parteichef Xi Jinping lobt Kang immer wieder als einen fortschrittlichen Denker.
ZSP 1 aktuell in China 0,20
In China ist Kang Youwei und sein Begriff des "Datong" Gegenstand der permanenten Auseinandersetzung über ein neues Wertesystem, ein innerchinesisches Wertesystem, aber auch ein globales Wertesystem. Nur bei uns spielt diese Debatte in China keine Rolle, weil sie auch gar nicht bekannt ist.
Erzähler:
Deshalb hat Thomas Heberer, Professor für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg-Essen, die Schrift von Kang Youwei neu herausgegeben: „Datongshu“ - „Das Buch von der Großen Gemeinschaft“ sucht Antworten auf höchst aktuelle Fragen.
Erzählerin:
Wie werden wir in Zukunft zusammenleben? In Frieden und Gerechtigkeit? Oder im Chaos?
Musik: CD603340003 Waves 0‘25
Die Menschheit ist zur Schicksalsgemeinschaft geworden. Größere Konflikte könnten schnell unsere letzten sein. Die globalen Probleme gemeinsam zu lösen, ist heute also eine Überlebensfrage.
Erzähler:
Kang Youwei hat das bereits vor mehr als 100 Jahren erkannt. Und seine Anleitung zum Weltfrieden geschrieben. Inspiriert wurde er zu dieser Utopie schon in jungen Jahren. Kang las ein Buch über die „Schlacht bei Sedan“, die im deutsch-französischen Krieg 1870/71 stattfand. Diese Lektüre erschütterte den jungen Mann sehr; das „große Leid der Welt“ verfolgte ihn bis in seine Träume, sagt Thomas Heberer.
ZSP 2 Sedan 0,16
Diese Brutalität dieser Schlacht, und die vielen Soldaten, die dort gestorben sind, haben in ihm ein bestimmtes Nachdenken hervorgerufen, dass man eigentlich Friede in der Welt braucht und dafür sorgen muss, dass Kriege abgeschafft werden. Das war wohl ein Schlüsselerlebnis.
Musik: CD603340008 Song oft he dragon and phoenix 0‘42
Erzählerin:
Geboren 1858 in einem Dorf in der südchinesischen Provinz Guangdong, wächst Kang Youwei in einer angesehenen Familie von gelehrten Beamten auf. Es versteht sich von selbst, dass auch er eine klassisch-konfuzianische Erziehung genießen und die Beamten-Laufbahn einschlagen soll.
Erzähler:
Doch das enge Korsett des alten Konfuzianismus, mit seinem starren Pauken und auswendigen Herunterbeten von Texten, passt dem jungen Kang gar nicht. Er zieht sich zurück und studiert die großen Philosophien des Ostens, den Taoismus und den Buddhismus.
ZSP 3 Visionär 0,32
Er hat diese verschiedenen religiösen und philosophischen Komponenten Chinas alle studiert, weil er als junger Mann auf der Suche war nach einer Vision. Und um auf der Suche nach einer Vision zu sein, ist es ganz wichtig, dass man sich mit den ganzen Geistesströmungen über die Geschichte hinweg auseinandersetzt. Und auch kritisch. Er hat sich ja selbst als ein Visionär begriffen, der die Mission vom Himmel erhalten habe, praktisch eine Utopie zu verfassen für die Menschheit.
Musik: Z9316499107 Through the bamboo forest 0‘32
Erzähler:
China steckte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer tiefen Krise. Das Land war in einem desaströsen Zustand, rückständig, politisch verkrustet, gedemütigt und schikaniert von ausländischen Mächten. Nach einer Reihe militärischer Niederlagen gegen England, Frankreich, Japan und Russland war klar: China brauchte ein umfassendes gesellschaftlich-politisches Reformprogramm und eine weitreichende Vision.
Erzählerin:
Kang Youwei sollte zu einem Vordenker dieses Reformprojekts werden. Er schlug zum Beispiel vor, den Konfuzianismus als Kirche neu zu organisieren und zur Staatsreligion zu machen.
ZSP 4 Staatsreligion 0,36
Diese Idee kam ihm von Europa: Der Staat in Europa zuständig für Recht und Ordnung, und die Kirche für die Moral. Das war bei uns getrennt. In China gab es keine Kirche, da war der Staat für alles zuständig, für die Moral und für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung. Und dass er wahrscheinlich gesehen hat, das funktioniert besser in Europa. Und wir brauchen eine Institution, die identitätsstiftend wirkt, Sinn gibt. Und auf der anderen Seite auch diese Moralerziehung wahrnehmen kann. Dass der Staat sich auf die Aufgaben konzentrieren kann, die eigentlich seine Kernaufgaben sind, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung.
Erzähler:
Kangs Idee einer konfuzianischen Staatsreligion wird auch heute wieder ernsthaft diskutiert in China, sagt Ostasienexperte Thomas Heberer. Zu Lebzeiten jedoch wurde Kang Youwei dafür von jungen Intellektuellen kritisiert, dass er die alte Lehre reformieren wollte. Konfuzius war für Kang nämlich keineswegs jener Reaktionär, der für die Rückständigkeit Chinas verantwortlich war. Man müsse ihn halt nur als Reformer lesen und verstehen, meinte Kang Youwei.
Musik: Z9458720002 The eternal vow 0‘35
Erzählerin:
Kangs politischen Reformideen stießen im ausgehenden 19. Jahrhunderts für kurze Zeit auf allerhöchstes Interesse. Der Kaiser selbst begeisterte sich dafür. Aber dieser Kaiser Guangxu war politisch schwach. Und so folgte auf den kurzen Frühling der 100-Tage-Reform bald eine neue Eiszeit. Die konservativen, reform-feindlichen Kräfte am Hof setzten sich durch und schlugen unerbittlich zurück.
ZSP 5 Exil 0,28
Und sie haben diese Reformer verhaftet. Kang Youwei und Liang Qichao ist es gelungen, nach Japan zu fliehen; die meisten anderen sind hingerichtet worden. Darunter ein Bruder Kang Youweis. Er war dann bis zur Revolution 1911/12, Ende der Kaiserdynastie, nicht mehr in China, sondern in Japan und hat auch andere Länder bereist, vor allem Länder, in denen Auslandschinesen gelebt haben, um zu werben für sein Reformprogramm für die Zukunft Chinas.
Erzählerin:
Kang Youwei bereiste fast alle Kontinente, war in über 60 Ländern, allein elf Mal in Deutschland. Als er in München sein erstes Bier trank, war er nachhaltig begeistert - vom Geschmack, den Trinksitten und von den großen Gläsern.
Erzähler:
Erstaunlicher mag erscheinen, dass Kang auch das damalige politische System Deutschlands gut fand. Das konstitutionelle Kaiserreich erschien ihm offenbar fortschrittlich, verglichen mit dem damaligen China. Für die Zukunft jedoch waren Parlamentarismus und Demokratie für Kang die erstrebenswerten politischen Ziele. Weltweit.
Musik: Z8030896105 Genetics (reduced) 0‘38
Erzählerin:
Denn Kang dachte nie nur an China, sondern immer an die ganze Menschheit. Vor diesem Hintergrund schrieb er 1902 einen ersten Entwurf von „Datongshu“. Intellektuell beeinflusst war seine Utopie nicht nur von alten östlichen Traditionen, sondern auch von modernen westlichen Denkern wie Immanuel Kant oder Karl Marx. Dazu kommen noch Gedanken des Darwinismus und vieler japanischer Wissenschaftler, sagt Thomas Heberer.
Kangs Kosmos ist ein Sammelsurium von Ideen unterschiedlicher Epochen und Weltgegenden.
ZSP 6 Einflüsse 0,15
Und auf diese Weise hat er eine Utopie für die Menschheit entwickelt. Und das finde ich doch etwas Besonderes, weil Chinesen auch heute sich in der Regel primär befassen mit der Entwicklung Chinas, und relativ selten mit der Entwicklung der Menschheit. Wo soll die Menschheit hin?
Erzähler:
Für Kang steht das Ziel fest: Zum Datong soll die Menschheit eines fernen Tages gelangen. Dieses Datong, sagt Thomas Heberer, könne man übersetzen mit „Große Gemeinschaft“ oder „Große Harmonie“. Im Grunde ist es eine uralte Idee vom paradiesischen Zustand des Friedens, die die ganze philosophische und politische Geschichte Chinas durchzieht. Bis heute.
Musik: CD603340015 Wang Ji 0‘43
Erzähler:
Kang Youwei beschreibt seinen Fahrplan zum Weltfrieden in zehn Einzelschritten. Er beginnt mit dem Leiden der Welt und der Fähigkeit des Menschen zum Mitleiden.
Erzählerin:
“Ren“ - das chinesische Wort für (Mit-)Menschlichkeit - ist ein zentraler Begriff in Kangs konfuzianisch geprägter Utopie.
In einem ersten Schritt seien die großen und kleinen Egoismen zu überwinden, zugunsten einer staatsbürgerlichen Gesinnung. Aber dabei darf es nicht bleiben. Deshalb erklärt Kang im zweiten Teil des Buches:
Zitator:
Wie man die nationalen Grenzen abschafft und die Welt zur Einheit bringt
Erzählerin:
So etwas geht natürlich nicht von heute auf morgen. Kang Youwei denkt in langen Zeiträumen. Und bedient sich dabei der alten konfuzianischen Vorstellung von den drei Zeitaltern. Sie sind die Generallinie auf dem Weg zur „Großen Gemeinschaft“.
Erzähler:
Im ersten „Zeitalter der Unordnung“ gibt es noch Einzelstaaten, die ihre nationalen Egoismen durchboxen. Chaos und Krieg herrschen auf der Welt, aber es kommt zu ersten Bündnissen und internationalen Konferenzen. Voraussetzung für den künftigen Frieden ist eine konsequente weltweite Abrüstung.
Erzählerin:
Im zweiten „Zeitalter der Festigung des Friedens und der Gleichheit“ entwickelt sich die Weltgemeinschaft dann weiter. Neue Gemeinschaftsstaaten, Gemeinschaftsregierungen und Parlamente werden gegründet. Erste Territorien werden einer Gemeinschaftsregierung unterstellt.
Erzähler:
Im dritten „Zeitalter des ständigen Friedens und der völligen Gleichheit“ wird die "Großen Gemeinschaft dann vollendet. Staaten und Grenzen sind abgeschafft, es gibt nur noch den Weltstaat. Und die Erde wird von einer Gemeinschaftsregierung verwaltet. Keine Monarchen mehr, keine Präsidenten oder Geschäftsführer. Nur noch Gesetze, die von Parlamentariern erlassen werden; die Exekutive erledigen dann Verwaltungsbeauftragte. Und alle wichtigen Angelegenheiten werden durch Mehrheitsbeschluss entschieden.
Musik: CD603340018 Azalea 0‘9
Zitator:
Wie man die Klassenschranken abschafft und alle Menschen gleichstellt.
Erzähler:
Auf dem Weg zum irdischen Paradies müssen auch Stände, Privilegien und Hierarchien abgeschafft werden. Mit dieser rechtlichen Gleichheit aller Menschen geht er weit über den traditionellen Konfuzianismus hinaus. Dessen streng hierarchisches Denken ersetzt Kang Youwei durch seine Reformidee einer konfuzianischen Staatskirche, meint Thomas Heberer. In dieser sind grundsätzlich alle gleich. Herausgehoben werden nur diejenigen, die sich durch ihr Verhalten Meriten verdienen. Ein Prinzip, das die heutige chinesische Führung mit dem sozialen Kreditsystem bereits wieder aufgegriffen hat.
Musik: Z8024906103 Without you 0‘28
Erzähler:
Das problematischste Kapitel in Kang Youweis „Datongshu“ behandelt die Abschaffung der Rassenschranken. Kang ist hier ganz ein Kind des 19. Jahrhunderts, in dem Darwinismus und biologisches Denken weit verbreitet sind. Kang ist zwar alles andere als ein Rassist. Doch in Kategorien der Rasse zu denken, ist damals ganz normal gewesen.
Erzählerin:
Nach reiflicher Überlegung hat Herausgeber Thomas Heberer entschieden, dieses Kapitel nicht ganz herauszunehmen. Auch wenn manches in heutigen Ohren seltsam klingt, etwa, wenn Kang zur Überwindung des Rassismus vorschlägt, die Weltbevölkerung durch Vermischung praktisch zu Weißen zu machen.
ZSP 7 Rassen 0,32
Und dass man vielleicht nachdenken kann, ob man nicht durch ständige Vermischung die Rassen soweit angleicht, dass es keine Diskriminierung mehr gibt. Das ist ein gewagtes Vorhaben, weil das kann auch sehr leicht in Totalitarismus umschlagen. Heute würde man sagen, ja warum kann man das nicht, indem man die ganze Diskriminierung beseitigt und die Menschen aufklärt, dass Schwarze, Weiße, Gelbe, Braune gleichberechtigt sind. Und dass es keine Unterschiede, Rassenunterschiede gibt, sondern nur im Kopf, und nicht in der Realität.
Musik: C1454340013 Mandarin 0‘15
Zitator:
Das Recht des Menschen auf Unabhängigkeit ist ihm vom Himmel übertragen worden, und auch den Frauen stehen gleiche Rechte zu.
Erzählerin:
Man beachte das Jahr, in dem Kang Youwei das postuliert hat. 1902 war die völlige Gleichstellung der Frau durchaus noch eine revolutionäre Idee, nicht nur in China. Und auch heute ist diese Forderung nur in den allerwenigsten Weltgegenden tatsächlich verwirklicht. Die Schranken zwischen den Geschlechtern müssen abgeschafft werden, schreibt Kang. Ebenso die traditionelle Form der Ehe. Der Gelehrte fordert stattdessen eine Art Versuchs-Ehe auf Zeit. Wenn einer der Partner nach einem Jahr erkenne, dass man nicht zusammenpasst, könne man sich wieder trennen. Ohne Scheidung und großes Trara!
Erzähler
Noch moderner erscheint Kangs Haltung zu sexuellen Beziehungen. Auch da war er seiner Zeit weit voraus. Die Akzeptanz von Homosexualität etwa erschien ihm als eine natürliche Selbstverständlichkeit.
Zitator:
„Was hat es für einen Sinn, Gebote und Verbote auf geschlechtlichem Gebiet zu erlassen? Wälle und Deiche werden doch durchbrochen, wenn sich die Natur ihr Recht verschafft und die Flut hereinbricht.”
Erzähler:
Ist erst einmal das Zeitalter der Großen Gemeinschaft angebrochen, schreibt Kang, brauche die Gesellschaft ohnehin keine Strafen und Gerichte mehr. In jenem Zeitalter werde dann auch sexuelle Freizügigkeit herrschen. Zumindest für Erwachsene ab dem 20. Lebensjahr.
Musik: Faces of Asia 2 C1454340030 0‘10
Zitator:
Wie man familiäre Schranken abschafft und wie die Menschheit ein „Volk des Himmels“ wird
Erzähler:
Auch das ein revolutionärer Gedanke! Denn in China war das Korsett der traditionellen Familie zu Kangs Zeiten noch besonders eng. Ganz oben thronte der Patriarch, der Älteste der Sippe, der alles bestimmte. Männer, die es sich leisten konnten, durften sogar mehrere Ehefrauen haben. Ganz am unteren Ende der Hierarchie standen die Schwiegertöchter. Absoluter Gehorsam gegenüber den Höheren und Älteren war gefordert. Ein starres System also, zu dessen entschiedenen Kritikern Kang Youwei zählte.
Musik: C1454340031 Faces of Asia 3 0‘11
Zitator:
Wie man durch eine gemeinschaftliche Regelung der Erwerbsverhältnisse einen einheitlichen Lebensstandard schafft
Erzähler:
Kang Youweis Vision der weltweiten „Großen Gemeinschaft“ basiert auf konkreten ökonomischen Vorstellungen. Wobei im Wirtschaftsteil seiner Utopie ganz deutlich Ideen von Karl Marx durchscheinen. Die Industrieproduktion vergesellschaften, das Privateigentum an Produktionsmitteln abschaffen – und stattdessen Planwirtschaft! Dass diese im 20. Jahrhundert im Systemvergleich krachend scheitern würde, konnte Kang noch nicht wissen.
Erzählerin:
Eines aber war ihm klar: Herrschen weiterhin Ungleichheit und Unterernährung, wird ein friedliches Zusammenleben der Menschen langfristig nicht möglich sein. Daher Kangs Forderung nach gemeinschaftlicher Agrarwirtschaft und gemeinsamen Bodenbesitz. Eine Idee, die in China in den vergangenen 2.500 Jahren immer wieder auftauchte, sagt Thomas Heberer:
ZSP 8 Bodenreform 0,24
Weil man gesehen hat, immer wenn der Boden wieder in Privateigentum übergeht, dann verarmt ein großer Teil der Landbevölkerung, es gibt Aufstände, Rebellion. Und jede neue Dynastie hat den Boden neu an die Bauern verteilt, gleichmäßig. Und diese Idee wollte Kang auch in China wieder realisieren: Gemeineigentum an Boden und jeder kriegt eben sein eigenes Stück Land, das er bewirtschaften kann, für die Verbesserung der Lebensbedingungen.
Erzähler:
Wie aber wird ein Weltstaat eines Tages aussehen, der nach den Prinzipien Frieden und Gleichheit regiert wird? Es muss in jedem Fall eine einheitliche Weltsprache geben, schreibt Kang Youwei. Und ein einheitliches und gerechtes Verwaltungssystem. Dazu wird die Welt in Planquadrate eingeteilt.
Zitator:
„Jedes Planquadrat wird ein gemeinschaftliches Selbstverwaltungsgebiet; es richtet Gemeinschaftsinstitutionen ein und verwaltet die Landwirtschaft, die Industrie und den Handel in öffentlicher Regie."
Erzähler
Die alltäglichen Probleme werden also nicht von oben, von der Weltregierung gelöst, sondern von den Menschen vor Ort.
ZSP 9 unten nach oben 0,28
Das kann nur auf der lokalen Ebene entschieden werden und deswegen war die Idee grundsätzlich erstmal im Allgemeinen gut zu sagen: Unten gibt es starke Autonomie, Selbstverwaltung. Aber es gibt eine Weltregierung, die eben die globalen Probleme lösen muss. Und die sollen sich auch nicht ins Gehege kommen, dafür gibt es Parlamente, die stufenweise nach oben gehen, und wo immer Vertreter der einzelnen Planquadrate dann der Großregion und so weiter sitzen, die mitentscheiden, wie die Weltregierung agieren soll.
Erzähler:
Ein föderaler, demokratischer Weltstaat, der dauerhaft Frieden und Gleichheit bringt. Diese menschenfreundliche Vision ist vermutlich ein Projekt für die fernere Zukunft! Aber der Utopist Kang Youwei geht sogar noch weiter. Er fordert eine Ausdehnung der allumfassenden Güte und Liebe - auf alle Lebewesen. Tiere zu schlachten und zu essen? Für Kang ist das ein Zeichen von ethischer Rückständigkeit. Und in Zukunft nicht mehr denkbar.
Zitator:
"Die Menschen werden einmal den Fleischgenuss verabscheuen, wie sie auch das Schlachten von Haustieren abgeschafft haben. Die Haustiere werden dann als Dienerschaft betrachtet; man wird sie nutzbringend einsetzen, aber auch pflegen und Zuneigung zu ihnen gewinnen."
Musik: C1454340013 Mandarin 0‘30
Erzähler:
Die Fesseln des Leidens abzustreifen, und den Menschen materiell und sozial zu einer höheren Glücksstufe zu verhelfen, im Einklang mit allen Lebewesen!
Erzählerin:
Es ist ein großes Projekt, das Kang Youwei da skizziert. Trotz vieler Details ist seine Utopie aber keine konkrete Handlungsanweisung, meint Herausgeber Thomas Heberer. Das „Datongshu“ ist mehr als Impuls gedacht – als Denkanstoß.
ZSP 10 Anregung 0,30
Ihm war auch klar, dass man das nicht eins zu eins umsetzen kann. Und dass es zu seinen Lebzeiten sowieso nicht mehr geht, sondern dass es einen Diskurs mit dem Westen auslösen sollte, dass man überhaupt die Fragen mal diskutiert. Dass er vielleicht Anregungen geben wollte. Man legt ein Programm vor und sagt: So, jetzt sagt mal bitte, was ihr dazu meint. Und ihr könnt andere Ideen einbringen. So entwickeln wir das weiter. Ich glaube, als Anregung gedacht und nicht als ein Ziel, das alle jetzt gemeinsam Schritt für Schritt erreichen müssen.
Erzähler
Als Kang Youwei 1927 im ostchinesischen Qingdao stirbt, hat er das Manuskript seines Buches längst fertiggestellt, aber nicht veröffentlicht. Erst 1935 wird das Datongshu der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Erzählerin:
Zur Zeit der Kulturrevolution in den 1960er und 70er Jahre war Kang als reaktionärer Konfuzianer verpönt. Sein Grab wurde zerstört, seine Schriften verboten. Erst seit den 1980er Jahren sind Texte wie das „Datongshu“ in Chinas Buchläden wieder erhältlich.
Erzähler
Heute gibt es nicht nur ein Kang-Youwei-Museum in Qingdao, sondern vor allem eine höchst lebendige Diskussion der Ideen des großen Reformers und Philosophen. Bis hinauf in die obersten Etagen der Partei- und Staatsführung.
Erzählerin:
Was aber kann der Rest der Welt von Kang-Youwei und seiner Utopie heute lernen? Zum einen, meint Thomas Heberer, sind viele Forderungen Kangs immer noch unerfüllt. Etwa die Gleichberechtigung der Frau, die Abschaffung von Hunger und Krieg. Und zum anderen zeige das Beispiel Kang Youweis, dass nicht nur der Westen aufgeklärte Geister hervorbringt.
ZSP 11 chinesische Aufklärung 0,19
Es entsteht immer der Eindruck, die Chinesen sind ein homogenes Konglomerat, oben entscheidet der Führer. Und sonst sind sie keine Querdenker, keine Freidenker, sondern machen, was der Staat sagt. Und das ist so nicht richtig. Denn es gibt eine lebhafte Diskussion in China und es gab die schon immer in der chinesischen Geschichte.
Musik: CD433040112 Desert Cappriccio 0‘56
Erzähler:
Diese Ideen-Geschichte und ihre Denker gilt es zu entdecken. Für einen Dialog der Kulturen auf Augenhöhe.
Damit wir künftig nicht nur über machtpolitische Gegensätze und ökonomische Bedrohungen sprechen, sondern über gemeinsame Werte und Ziele der gesamten Menschheit.
Erzählerin:
Höchstwahrscheinlich hatte Bundespräsident Steinmeier dieses globale Miteinander im Sinn, als er im Dezember 2018 den großen Philosophen Kang Youwei zitierte und an die Studierenden der Sichuan-Universität appellierte:
Zitator:
„Die Zukunft, die vor Ihnen liegt, wird kein Einzelner, kein Volk, keine Nation für sich allein gewinnen. Die Zukunft wird nicht im Kampf Jeder gegen Jeden liegen.“
Angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche verlieren die Romantiker den Glauben an die nüchterne Vernunft und stellen ihr das Gefühl entgegen: Sie schwärmen für die Natur, feiern die Dunkelheit und ergründen mystische Welten. Autorin: Hanna Dragon (BR 2019)
Credits
Autor/in dieser Folge: Hanna Dragon
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Wolfgang Pregler
Technik: Robin Auld
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Christian Begemann (Professor; LMU)
Linktipp:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
SPRECHERIN
Die thüringer Universitätsstadt Jena im Jahr 1799. Im Haus des 32-jährigen Sprachforscher August Wilhelm Schlegel versammeln sich junge, aufbegehrende Intellektuelle. Und bilden eine Art Wohngemeinschaft.
Unter ihnen: Augusts jüngerer Bruder Friedrich, Altphilologe. Dann: Der Naturphilosoph Friedrich Wilhelm Schelling, verliebt in Caroline, die gebildete Gattin des Gastgebers. Der 22-jährige, streng gläubige Medizinstudent und Dichter Clemens Brentano, der für die acht Jahre ältere Schriftstellerin Sophie Mereau schwärmt. Der charismatische Bergbaustudent Friedrich von Hardenberg alias Novalis, 27, dem Goethe das Zeug zum „geistigen Imperator“ bescheinigt. Und der Sprachkünstler Ludwig Tieck, der 30 Jahre später an August Wilhelm Schlegel schreiben wird:
MUSIK ENDET
ZITATOR
Jene schöne Zeit in Jena ist (…) eine der glänzendsten und heitersten Perioden meines Lebens. Du und Dein Bruder Friedrich, Schelling mit uns, wir alle jung und aufstrebend, Novalis-Hardenberg, der oft zu uns herüber kam: diese Geister bildeten ununterbrochen ein Fest von Witz, Laune und Philosophie.
SPRECHERIN
Die Jenaer Freunde philosophieren miteinander beim Mittagessen, kultivieren gemeinsame Spaziergänge durch die Natur, tragen einander ihre unveröffentlichten Texte vor, besprechen die Artikel, die sie für die programmatische Zeitschrift „Athenäum“ schreiben, hinterfragen die traditionelle Rolle der Frau. Und verspotten die Verse des an der Jenaer Universität lehrenden Dichterfürsten Schiller, der sie vor dem „unendlichen Fall in bodenlose Tiefe“ warnt.
MUSIK
Die Romantiker lassen ihrer Phantasie freien Lauf in einer Zeit der politischen Umstürze. Die Revolution in Frankreich hatten die deutschen Intellektuellen anfangs noch als Durchbruch der Freiheit gefeiert. Doch die Erhebung des Volkes schlug um in Gewaltexzesse. Seit der Machtübernahme Napoleons herrscht in Europa Krieg. Aus Sicht der Romantiker habe die Vernunft, das grundlegende Prinzip der Revolution, den Kontinent in den Abgrund geführt.
SPRECHERIN
Auch gesellschaftliche Umbrüche prägen die Zeit um 1800. Die allmählich einsetzende Industrialisierung fördert Landflucht, Verstädterung und soziale Missstände. Die Romantiker bezweifeln, dass der Fortschritt immer das Bessere mit sich bringe. Und kritisieren die Gesellschaft, in der sich alles zunehmend ums Geld dreht.
MUSIK endet
Romantik: Was bedeutete dieser Begriff damals? Christian Begemann vom Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwigs-Maximilian-Universität in München:
ZUSPIELUNG 1:
Im 18. Jahrhundert wird „romantisch“ im Sinne von „romanhaft“ verstanden. Und das ist kein Kompliment. Denn der Roman hat ein ganz schlechtes Ansehen.
Er ist, wenn man an den Barockroman denkt, eine Abfolge von kuriosen Ereignissen und Geschichten. Und der Begriff des Romantischen, der ist erstmal auf das Abenteuerliche hin ausgerichtet und ändert sich dann erst im Zuge der romantischen Bewegung selber. (0:29)
MUSIK
ZITATOR
Die Welt muss romantisiert werden.
SPRECHERIN
Fordert Novalis, der Erfinder der berühmten „blauen Blume“, dem Symbol der romantischen Sehnsucht. Und liefert die vielleicht schönste Definition der Romantik:
ZITATOR
Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.
MUSIK ENDET
SPRECHERIN
Die Romantiker sehnen sich nach dem Geheimnisvollen, Unerklärlichen. Denn: Die Aufklärung hat viele Mythen entzaubert. Germanistikprofessor Christian Begemann:
ZUSPIELUNG 2:
Mit der Aufklärung, überhaupt mit dem ganzen Schub der Verwissenschaftlichung in der Neuzeit - so sehen es jedenfalls die Romantiker - tritt eine Trennung von der Natur ein. Die Natur wird unterworfen, sie wird ausgebeutet, sie wird auch in der
Wissenschaft beobachtet oder im Experiment dazu gezwungen, uns wie ein Angeklagter auf der Folter Antwort zu erstatten, und damit ist die Natur nichts mehr, was uns auf Augenhöhe gegenübersteht, sondern sie ist nur noch ein Objekt
MUSIK
SPRECHERIN
Die Romantiker wollen die mythische Einheit des Menschen mit der Natur wiederherstellen. Durch Poesie. Josef von Eichdorff: Die Wünschelrute.
ZITATOR
Schläft ein Lied in allen Dingen
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
SPRECHERIN
Das dichterische Zauberwort „romantisiert“ die Welt.
MUSIK endet
Dieser Vorstellung folgend bringt Friedrich Schlegel, der theoretische Kopf des Jenaer Kreises, das Programm der Romantik auf den Punkt. In dem berühmten 116. Athenäums-Fragment heißt es:
ZITATOR
Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie.
SPRECHERIN
Mit „progressiv“ meint der Theoretiker Schlegel: Der mythische Zustand der Harmonie, das Absolute, lässt sich mit Worten nicht erfassen. Der Dichter kann sich diesem Ziel nur „progressiv“, also Schritt für Schritt nähern. Das Werk wird somit nie vollendet; das Fragment wird zu einer neuen literarischen Gattung.
Den Begriff „Universalpoesie“ erklärt Schlegel folgendermaßen:
ZITATOR
Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen.
SPRECHERIN
In romantischen Romanen und Erzählungen werden Gedichte vorgetragen, Lieder gesungen und Bilder beschrieben: Eine Vorwegnahme des Wagnerschen Gesamtkunstwerks, das alle Künste vereinigt. Die „progressive Universalpoesie“ soll nach Schlegel das ganze Leben durchdringen: Das Leben wird zum Kunstevent.
MUSIK
SPRECHERIN
Der Heidelberger Dichter Joseph von Eichendorff verwirklicht diese Vorstellung in seiner Märchennovelle „Aus dem Leben eines Taugenichts.“
ZITATOR
Fahre zu, Ich mag nicht fragen, Wo die Fahrt zu Ende geht.
SPRECHERIN
Das ist das Lebensmotto des jungen Müllerssohns, den das Klappern des Mühlrades an das trostlose Einerlei des bürgerlichen Alltags erinnert. Er folgt seiner Sehnsucht, und zieht in die Ferne. Wandern: Ein typisches Motiv der Romantik, das die Sehnsucht nach dem Absoluten versinnbildlicht.
Der Taugenichts - ein Abbild des mittelalterlichen fahrenden Gesellen - spielt Geige und überlässt sich diversen Genüssen und Liebeleien. Eine Zeit lang wird er sesshaft als Zolleinnehmer, sitzt da…
ZITATOR
im prächtigen roten Schlafrock mit gelben Punkten,
SPRECHERIN
und raucht seine Pfeife. Er will finanziell für seine Zukunft vorsorgen: Ein Gedanke, den er schnell wieder verwirft.
ZITATOR
Die Kartoffeln, und anderes Gemüse, das ich in meinem kleinen Gärtchen fand, warf ich hinaus und bebaute es ganz mit den auserlesensten Blumen.
SPRECHERIN
Und dann macht er sich wieder auf den Weg.
ZUSPIELUNG 3:
Man könnte sagen, das ist fast eine Künstlererzählung, nur, dass der Taugenichts eben gar kein Künstler ist. Das heißt: alles wird ihm zur Kunst. Das Leben selber wird ihm zur Kunst. Er ist die poetische Existenz, die man realisieren will. (0:14)
SPRECHERIN
Der Taugenichts heiratet am Ende seine große Liebe und bekommt obendrauf ein Schloss geschenkt.
ZITATOR
(…) und von fern schallte immerfort Musik herüber, und Leuchkugeln flogen vom Schloß durch die stille Nacht über die Gärten (…) - und es war alles, alles gut!
SPRECHERIN
Dass ideale Traumwelten und Realität auseinanderklaffen ist den Romantikern bewusst. Um das deutlich zu machen, greifen sie auf eine weitere Erfindung Schlegels zurück: Die romantische Ironie, die alles Gesagte in einem Schwebezustand belässt. Professor Begemann:
ZUSPIELUNG 4:
Die romantische Ironie ist das, was das Gesagte immer relativiert und zurücknimmt. Und immer deutlich macht: „Also, nehmt es nicht wörtlich!“ (0:11)
SPRECHERIN
Ludwig Tieck ist ein Meister der romantischen Ironie. Er bringt das Spiel im Spiel auf die Bühne. In dem Stück „Der gestiefelte Kater“, in dem er den Theatergeschmack der Berliner Bildungsbürger aufs Korn nimmt, verschachtelt er mehrere Spielebenen ineinander: Die auf der Bühne von Schauspieler dargestellten, sich selbst als aufgeklärt bezeichnenden Zuschauer, lehnen das bevorstehenden Stück über eine Märchenfigur ab. Als sie ungehalten werden, muss sich der Autor, ebenfalls eine Figur im Stück, vor ihnen rechtfertigen.
ZITATOR
Ich wollte einen Versuch machen, durch Laune, wenn sie mir gelungen ist, (…) durch wirkliche Possen zu belustigen, da uns unsere neuen Stücke so selten zum Lachen Gelegenheit geben.
SPRECHERIN
Der Autor ist permanent gezwungen, auf die Wünsche des Publikums einzugehen, dem eine „vernünftige Illusion“ fehlt. Die Schauspieler fallen stets aus ihren Rollen und kommentieren die misslingende Aufführung. Was gehört nun zum Stück? Was ist Wirklichkeit? Wilhelm Tieck setzt hier das um, was Schlegel in der Theorie einfordert: Im Sinne der „Universalpoesie“ reflektiert die Literatur sich selbst.
Und präsentiert sich augenzwinkernd als „nur Literatur“: Der Autor erhebt sich über sein Werk.
SPRECHERIN
Die Romantiker gehen sehr ironisch mit der Kunst um. Die gleichzeitig einen sehr hohen sakralen Stellenwert einnimmt. Denn: Seit der Aufklärung und der Säkularisierung der Gesellschaft bietet der christliche Glaube nicht mehr ausreichend Halt.
ZUSPIELUNG 5:
Wenn man zum Beispiel an die Bilder von Caspar David Friedrich denkt, die Kirchenruinen, das ist auch der Zustand des Glaubens, der Zustand des Christentums, das ist eigentlich ruiniert. Und die Romantiker versuchen, dagegen wieder etwas, wie einen neuen Glauben, eine neue Mythologie zu setzen. (0:19)
SPRECHERIN
Und sie erheben die Kunst zur Religion. Josef von Eichendorff über die Rolle des Dichters:
ZITATOR
Ihm ist's verlieh‘n, aus den verworrnen Tagen,
Die um die andern sich wie Kerker dichten,
Zum blauen Himmel sich emporzurichten,
In Freudigkeit: Hier bin ich, Herr! zu sagen.
ZUSPIELUNG 6:
Der Dichter wird enorm überhöht gegenüber den Wissenschaftlern, vor allem den Philistern, also den Normalbürgern, die allein um ihren Lebensunterhalt herum kreisen, oder die rationalistisch an die Wirklichkeit herangehen, die auf die Ökonomie ausgerichtet sind. Und der Dichter ist der Einzige, der noch eine
Ahnung davon hat, worum es eigentlich geht. Deswegen hat er einen besonderen Zugang zu tieferen Quellen des Wissens und der Weisheit und stilisiert sich dann gerne als Seher und Prophet (0:34)
MUSIK
ZITATOR
Wo keine Götter sind, walten die Gespenster.
SPRECHERIN
Sagt Novalis. In den „Hymnen an die Nacht“, dem Inbegriff der todesverliebten, mystischen Romantik, arbeitet er ein persönliches, spirituelles Erlebnis auf. Die künstlerische Umsetzung verleiht ihm nach dem Tod seiner jungen Geliebten, der er kraft seines Willens „nachsterben“ wollte, einen neuen Lebensantrieb.
ZITATOR
Einst, da ich bitt‘re Tränen vergoß, da in Schmerz aufgelöst meine Hoffnung zerrann, und ich einsam stand am dürren Hügel (…)
SPRECHERIN
In der dritten Hymne steht das lyrische Ich, eingehüllt in die Dunkelheit der Nacht, am Grab der Geliebten und betrauert ihren Tod. Friedhof, Grab, Einsamkeit und Liebesleid: Typisch Romantik.
Die schmerzhafte Erfahrung wendet sich ins Positive, als sich das lyrische Ich seinen eigenen Tod,
ZITATOR
den Schlummer des Himmels,
SPRECHERIN
imaginiert, und sich in der Vorstellung des Losgelöstseins vom Irdischen mit seiner Geliebten vereinigt.
ZITATOR
An ihrem Halse weint‘ ich dem neuen Leben entzückende Tränen.
SPRECHERIN
Das lyrische Ich gewinnt die Erkenntnis, dass am Ende des irdischen Lebens das ewige Bündnis mit seiner Geliebten stehen wird.
ZITATOR
… seitdem fühl‘ ich ewigen, unwandelbaren Glauben an den Himmel der Nacht und sein Licht, die Geliebte.
SPRECHERIN
Die Nacht: Ein zentrales Thema der Romantik. Ihre Dunkelheit steht im Gegensatz zum Licht der Aufklärung. Sie ist ein Projektionsraum unerschöpflicher Phantasien. Josef von Eichendorff:
ZITATOR
Es war, als hätt‘ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst
Die Luft ging durch die Felder
Die Ähren wogten sacht
Es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus
MUSIK ENDET
SPRECHERIN
Nach Haus: Also zurück in den mythischen Zustand der Harmonie, das Ziel der romantischen Sehnsucht. Für den grundgläubigen Katholiken Eichendorff ist es die Rückkehr zu Gott.
Nachdem sich der Jenaer Kreis nach kurzer Zeit zerstreut hat, gehen die Romantiker auf der Suche nach ihren Idealen unterschiedliche Wege.
Sie konvertieren, wie Wilhelm Schlegel, zum Katholizismus, der traditionellen Form der Religion. Oder: Sie wenden sich der Vergangenheit zu, verklären das Mittelalter, erforschen die germanische Mythologie. Ludwig Tieck bearbeitet den Stoff der Nibelungensage. Clemens Brentano schreibt ein Gedicht über die Lore Lay – die Zauberin,
ZITATOR
„so schön und feine“,
SPRECHERIN
die einer alten Legende nach mit ihrem Gesang Rheinschiffer ins Verderben stürzt.
ZITATOR
Und brachte viel zu Schanden
Der Männer rings umher,
Aus ihren Liebesbanden
War keine Rettung mehr.
SPRECHERIN
Andere Romantiker werden zu Patrioten. Während Napoleon das Land besetzt hält, suchen sie nach dem, was das deutsche Volk ausmacht. Die Gebrüder Grimm editieren ihre Sammlung von mündlich überlieferten Volksmärchen.
Achim von Arnim und Clemens Brentano veröffentlichen die volkstümliche Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“.
ZUSPIELUNG 7:
Das hängt mit dem Außendruck zusammen, dass man versucht, etwas zu finden, was eine Gemeinsamkeit, ein Band stiftet gegenüber der napoleonischen Fremdherrschaft. Und das Volk wird da eine ein bisschen unbehaglich stimmende, mythisch verklärte Größe (0:19)
ZITATOR
Wir träumen von Reisen durch das Weltall: Ist denn das Weltall nicht in uns?
SPRECHERIN
Fragt sich Novalis. In der Phase der Spätromantik, also ab etwa 1815, wird der Romantiker zum Seelenergründer. Zum Vorläufer des heutigen Psychoanalikers. Bergwerke, in denen das Innere erschürft wird, werden mit ihrer Symbolkraft zu einem beliebten Motiv.
Der Jurist E.T.A. Hoffmann lebt in Berlin, wo sich in privaten Salons bürgerlich-adelige Intellektuelle versammeln. Tagsüber spricht er Recht. Danach widmet er sich dem Schreiben seiner schaurigen Geschichten.
MUSIK
Im „Der Sandmann“ wird die volkstümliche Figur, die Träume schenkt, ins Schreckliche verzerrt: Der Sandmann streut den Kindern Sand in die Augen, damit sie ihnen aus dem Kopf herausspringen. Mit dieser Beute nährt der böse Kobold dann seine Jungen.
Diese traumatisierende Vorstellung verfolgt den Protagonisten Nathanel sein leben lang. Er bringt sie mit dem Alchemisten, der ihn in seiner Kindheit misshandelt hat, in Verbindung.
Später glaubt er diesen in der Figur eines Wetterglashändler zu erkennen und steigert sich dadurch immer mehr in eine Paranoia. Auf der Seite der Vernunft, des klaren Verstandes steht Clara, seine Verlobte. Sie hält seine Visionen für innere Bilder, die er nach außen verlegt.
MUSIK ENDET
ZUSPIELUNG 8:
Gespenstisch ist, das wir uns keinen Reim darauf machen können, was hier wirklich geschieht, hat er Recht, gibt es da einen geheimnisvollen Advokaten, Alchemisten, Wetterglashändler der sich sozusagen immer durch sein Leben hindurchzieht? Oder hat Clara Recht, die sagt, das ist einfach ein Wahnsystem. Wir wissen es nicht. Das ist die Geburtstunde einer bestimmten Gattung der Literatur, nämlich der phantastischen Literatur, die genau damit spielen wird, dass wir als Leser nicht wissen: Woran sollen wir uns halten? Und das verwirrt unser Realitätsverständnis ganz erheblich. (0:38)
SPRECHERIN
Zu Nathanaels Pathologie gehört, dass er sich in die Automate Olimpia verliebt, künstliche Intelligenz, von Menschenhand erschaffen, wie Mary Shalleys Frankenstein. Eine für diese Epoche typische Auseinandersetzung mit dem mechanistischen Denken des Rationalismus und seinen Folgen.
„Ach, ach!“ Das ist alles, was Olimpia sagen kann: Ein ideales Gegenüber für den narzistischen Helden. Seine Gedichte, die Clara nicht würdigt, finden offenbar Zuspruch bei seiner neuen Geliebten. Nathanael glaubt, dank seines „poetischen Gemüts“ als einziger ihr wahres Wesen zu erkennen.
ZITATOR
Sie spricht wenig Worte, das ist wahr; aber diese wenigen Worte erscheinen als echte Hieroglyphe der inneren Welt voll Liebe und hoher Erkenntnis des geistigen Lebens in der Aschauung des ewigen Jenseites. Doch für alles das habt ihr keinen Sinn und alles sind verlorne Worte.
SPRECHERIN
Eine doppelte Kritik: An den Philistern, die keinen Sinn für das Eigentliche haben. Und an dem sich selbst feiernden romantischen Künstler.
E.T.A. Hoffmann zählt zu den letzten großen Dichtern der Romantik. Während diese Epoche in den 1830er Jahren allmählich verblasst, schreibt Josef von Eichendorff noch seine großen Gedichte. Gleichzeitig treten andere, zum Teil politisch motivierte Strömunge auf - Biedermeier, Junges Deutschland und Vormärz. Heinrich Heine verfasst die polemische Schrift „Die romantische Schule“. Eine erste zusammenfassende Darstellung der Romantik. Und gleichzeitig: Ihr Verriss.
ZITATOR
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! sein sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.
SPRECHERIN
Wie Heine gehen auch andere Romantiker zu sich selber auf Distanz. Zum Beispiel Ludwig Tieck, eine der Gründungsfiguren der Romantik.
ZUSPIELUNG 9:
Tieck hat in der frühen Erzählung „Der blonde Eckberg“ eine Formel der Romantik geprägt, das Wort „Waldeinsamkeit.“
MUSIK
Und das Wort findet sich in gefühlt 150 Texten der Romantik wieder, weil es genau so einen neuralgischen Punkt trifft: Der Wald, die Natur, die Dunkelheit.
Und in seinen letzten Jahren als Schriftsteller, 1839, publiziert Tieck eine Erzählung, die heißt „Waldeinsamkeit.“ Und das geht davon aus, dass das Wort auf einmal in einer Immobilienanzeige erscheint: Ein schönes Haus mit angrenzender Waldeinsamkeit günstig zu verkaufen. Da ist die Romantik auf die Immobilienanzeige gekommen.
Das ist der ultimative Verbrauch von einst ganz emphatisch besetzten romantischen Vokabeln, die jetzt einfach sich totgelaufen haben. Die in den allgemeinen Wortschatz übergegangen sind. (0:58)
MUSIK endet
Weltraum-Reiseberichte gibt es seit Jahrtausenden. Was früher reine Fiktion war, ist mittlerweile oft real. Wie hat sich das Verhältnis von uns Menschen zum Weltraum entwickelt und wie weit reicht unser Blick ins All mittlerweile? Von Christian Schiffer (BR 2022)
Credits
Autor dieser Folge: Christian Schiffer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christian Baumann und Sven Hussock
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER
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Wie bedeutend ist Bayern als Weltraummacht? Ist in der bayerischen Seele praktisch schon angelegt, dass man stets nach unendlichen Weiten strebt? Commander Söder ist beileibe nicht der erste Bayer, der mit Bavaria One ins All will...
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Die Legionen Roms waren Jahrhunderte lang die gefürchtetste Armee der Welt. Doch die Legionäre waren mehr als nur Soldaten. Sie brachten auch kulturellen, technischen und zivilisatorischen Fortschritt. Autor: Robert Grantner (BR 2019)
Credits
Autor dieser Folge: Robert Grantner
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Julia Fischerz, Johannes Hitzelberger
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Oliver Stoll, Universität Passau
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MUSIK
ERZÄHLERIN:
Die römischen Legionen. Bis heute eilt ihnen ihr Ruf voraus: die größte Militärmacht, die die Welt je gesehen hat. Eine perfekt abgestimmte Einheit, taktisch flexibel und intensiv ausgebildet für den Kampf. Schlacht um Schlacht ringen sie ihre Gegner nieder, walzen sich förmlich über sie hinweg. Es sind die Legionäre, die das Imperium Romanum überhaupt erst möglich machen und über Jahrhunderte seine Einheit sichern.
Doch für Professor Oliver Stoll von der Universität Passau waren die römischen Legionen weit mehr, als nur das.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Eigenartigerweise sieht man häufig nur das Militärische und die scheinbar perfekte Maschine, die da funktioniert, aber es ist schon so, dass die Soldaten einen großen Teil ihres Lebens nicht im Krieg verbracht haben und dass es da ganz viele eigentlich eher zivile Tätigkeiten gegeben hat, die von ihnen ausgeführt worden sind. Und das ist auch ein gutes Zeichen dafür, wie hoch das Potenzial dieser Militäreinheiten gewesen ist auch als Kulturträger! Oder als Faktor, der zu einer langfristigen Veränderung in den Provinzen beigetragen hat.
ERZÄHLERIN:
Viele Legionäre sind nicht nur Soldaten. Es gibt unter ihnen eine große Anzahl an Spezialisten. Sie sind befreit vom täglichen Militärdienst in den Lagern und zuständig für die unterschiedlichsten Berufe. Der Jurist Tarruntenus Paternus schreibt im zweiten Jahrhundert:
ZITATOR
„Der Status gewisser Leute garantiert ihnen Befreiung von beschwerlichen Tätigkeiten; in diese Kategorie gehören Feldmesser […] Erdarbeiter für den Grabenbau, Hufschmiede, Architekten, Schiffssteuerleute, Schiffbauer […] Glasmacher, Schmiede, […] Bronzearbeiter, Helmmacher, Wagenbauer, Schindelmacher, Schwertschmiede, Wasserbautechniker, […] Klempner, Grobschmiede, Maurer, Kalkbrenner, Holzfäller und Köhler[…]“
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Also die Liste geht unendlich weiter. Man sieht daran, wie vielfältig die Beschäftigungsmöglichkeiten waren. Und das Militär ist in dieser Hinsicht eine Art technische Kaderschmiede gewesen, denn es gab auch Auszubildende, die in diesen Berufen im Militär ausgebildet worden sind.
ERZÄHLERIN:
Das Ergebnis dieser Kaderschmiede ist ein perfekt funktionierendes Imperium, das sich in seiner Hochphase über drei Kontinente erstreckt. Es sind nicht zuletzt die Legionäre, die diesen Siegeszug auch durch ihre technischen Fähigkeiten und durch administrative Tätigkeiten möglich machen. Denn in den einzelnen Provinzen ist dafür relativ wenig ziviles Personal vorhanden. Und so leisten die Soldaten auch Schreibarbeiten, kümmern sich um die innere Sicherheit, oder fungieren als eine Art Wirtschaftspolizei, die Zölle und Tribute erhebt und eintreibt.
Wie weitreichend diese Tätigkeiten sein konnten, zeigen Dienstpläne, die in Form von Papyri erhalten geblieben sind.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Wir haben einen Dienstplan einer Einheit die in Mösia stationiert gewesen ist, Provinz im heutigen Bulgarien. Diese Einheit hat Leute weggeschickt, die in Gallien, also im heutigen Frankreich, Kleidung zu besorgen hatten, oder Pferde. Oder sie waren in Mienen oder Steinbrüchen als Aufsichtspersonal unterwegs. Also eine beträchtliche Menge der Leute waren unterwegs, oder sie mussten Latrinen putzen, oder die Thermenanlage putzen,
oder die Rüstung des Zenturio aufpolieren. Also all das ist in verschiedensten Dienstplänen abzulesen. Und man bekommt einen lebhaften Eindruck, wie das Leben ausgeschaut hat.
ERZÄHLERIN:
Reisen über so weite Strecken sind möglich, weil das Straßennetz im Imperium Romanum auf für uns kaum vorstellbare Art und Weise ausgebaut ist. Mehr als 100.000 Kilometer Straße verbinden abgelegenste Provinzen miteinander und machen einen Austausch in vielerlei Hinsicht möglich. Bei dieser infrastrukturellen Durchdringung der Provinzen spielt das Militär eine entscheidende Rolle.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Als Bauherren sozusagen, denn die Legionen haben im Auftrag der Kaiser Straßen gebaut, aber nicht nur Straßen, sondern alles, was dazu gehört. Also auch Brücken, Aquädukte, also die ganzen technischen Anlagen sind von Legionären gebaut worden.
ERZÄHLERIN:
Dazu ein Zitat von Cassius Dio aus dem Buch „Der Adler Roms - Carnuntum und die Armee der Cäsaren“, herausgegeben vom Archäologischen Museum Carnuntinum:
ZITATOR
„Die Flüsse werden von den Römern ohne große Mühe überblickt, da die Soldaten ständig das Brückenbauen üben wie sonst eine Kriegsmaßnahme, sowohl an der Donau, am Rhein als auch am Euphrat.“
ERZÄHLERIN:
Diese hervorragende Ausbildung der Legionäre bleibt auch den Feinden nicht verborgen.
Um sich dieses enorme technische Wissen anzueignen und für die eigenen Völker nutzbar zu machen, werden immer wieder römische Soldaten gezielt entführt.
Ärzte, Handwerker, Architekten, Bauern – sie alle werden systematisch gejagt, um sie in der eigenen infrastrukturellen Entwicklung zu nutzen.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Römischen Soldaten reisten weit. Sie sind keineswegs stets an einem Ort stationiert, sondern durchlaufen in ihrer Karriere oft viele verschiedene Einsatzgebiete. So wie Lukius Numerius Felix, ein Zenturio, der unter anderem in Regensburg stationiert war. Doch bei weitem nicht nur, wie eine Grabinschrift, die seine Frau ihm zu Ehren setzen ließ, im spanischen Tarragona belegt.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Und dieser Lukius Numerus Felix war eben zuletzt Zenturio in der siebten Legion, das ist die, die in Spanien stationiert war. Aber vorher in Britannien, in Bosra in Syrien, in Mainz und dann eben, als allererster Posten, den er gehabt hat, war er Zenturio in der Legio Tertia Italica, also die dritte italienische Legion. Das ist die Regensburger Hauslegion.
ERZÄHLERIN:
Im Imperium Romanum ist also das Militär der Hauptfaktor für Mobilität und Migration. Und damit verbunden auch für den Austausch unterschiedlichster Kulturen und Völker. In der Provinz Rätien, die große Teile des heutigen Bayern umschloss, sind ca. 12 bis 15 Tausend Mann stationiert.
Während die Legionäre, beispielsweise die, die in Regensburg stehen, größtenteils aus Italien kommen, gilt das für den großen Teil der Hilfstruppen, der sogenannten Auxilien, nicht. Sie kommen oft aus ganz unterschiedlichen Regionen des Imperium Romanum.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Kultureller Schmelztiegel Militär ist auf jeden Fall richtig. Wir haben in Bayern, also Rätien, Truppeneinheiten aus Syrien, Straubing, wir haben Batawa, die aus dem Niederrheingebiet kommen, Daker, die aus dem heutigen Bulgarien kommen – also ein buntes Gemisch von Soldaten, die durch den Militärdienst einerseits so eine gemeinsame Identität bekommen.
ERZÄHLERIN:
Vor Ort kommt es zu einem regen Austausch zwischen den römischen Soldaten, den Hilfstruppen und den Einheimischen. Auch, was die zwischenmenschlichen Beziehungen betrifft – mit Konsequenzen sogar bis heute. Zum Beispiel in Straubing:
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Da gibt es eine sogenannte Kanatena Kohorte, die ab dem frühen 2. Jahrhundert stationiert gewesen ist. Kanatena ist das heutige Kanawat in Syrien, die sind dort ursprünglich dort rekrutiert worden. Syrische Truppen sind häufig Spezialisten für Bogenschützeneinheiten, manchmal auch beritten. Und die waren in dem Fall eben auch lange Zeit in Straubing stationiert. Sodass man fast davon ausgehen kann, dass der ein oder andere Straubinger syrisches Blut in sich hat.
ERZÄHLERIN:
Und das, obwohl die Soldaten rein militärrechtlich gar nicht in der Lage sind, eine Familie zu gründen. Bis in das dritte Jahrhundert hinein herrscht nämlich ein Heiratsverbot für die normalen Soldaten, d.h. man muss bei einer Dienstzeit von 20-25 Jahren auf eine reguläre Ehe verzichten.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Man konnte natürlich nicht davon ausgehen, dass die 25 Jahre zölibatär leben. Das wäre fern der Realität gewesen, aber die durften eben keine rechtmäßigen Ehen führen, sondern nur Konkubinate. Wo kamen die Frauen her? Zum Teil haben die Männer sie aus ihren Regionen mitgebracht, zum Teil haben sie sie vor Ort kennengelernt und zum Teil sind die Frauen auch mitgezogen aus vorher innegehabten Provinzen.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Um die Kastelle der Römer herum bilden sich schnell große Zivilsiedlungen, wo die Familien der Soldaten lebten, aber auch die einheimische Bevölkerung, mit der ein reger Austausch besteht. Und Soldaten haben Geld. An drei Tagen im Jahr wird ausgezahlt: jeweils 75 Dinare, eine beträchtliche Summe für die damalige Zeit, wobei ein Teil davon als Spareinlage bei der Einheit verbleibt; auch werden Abzüge vom Sold vorgenommen: für Ausrüstung, Essen, religiöse Feste, oder Kleidung. Aber es bleibt genügend übrig, um die Soldaten zu einem Motor für die heimische Wirtschaft zu machen. Langfristig floriert die gesamte Region um das Lager herum. Alleine die Versorgung des Militärs muss gesichert werden – eine Legion benötigte ca. 2500 Tonnen Getreide pro Jahr . Das geht nur mit einer hochmodernen Landwirtschaft und entsprechendem Handelswesen, so Oliver Stoll von der Universität Passau.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Interprovinziell hat da sicherlich ein Handel stattgefunden, aber eben auch über den Limes hinaus! Denn Getreide ist mit Sicherheit auch hier im Donauraum mit den im Vorlimesraum siedelnden Germanen verhandelt worden.
Wir wissen zum Beispiel, dass die Hermanduren, ein romfreundlicher Stamm, über die Donau kommen durfte, um bis nach Augsburg hinein Handel zu betreiben. Und die haben eben auch Getreide und Landwirtschaftsprodukte verkauft.
ERZÄHLERIN:
Der Handel in den Siedlungen um die Kastelle herum beinhaltet auch Waren von weit her. Pfeffer, Kürbisse und sogar Melonen. Rückschlüsse über die Ernährung der Soldaten in den Lagern liefern vor allem Latrinen. Sie sind, im wahrsten Sinne des Wortes, echte Fundgruben. So belegt die Analyse von Ausgrabungsfunden aus einer Latrine im ehemaligen Kastell Alphen aan den Rijn in Holland eine ganz erstaunliche Produktvielfalt, die der Ausscheider zu sich genommen hat.
Bei paläobotanischen Untersuchungen stellt sich heraus, dass der Zenturio – natürlich weitaus wohlhabender als der normale Soldat – unter anderem Oliven, Feigen, Trauben und sogar Pfirsiche gegessen hat. Selbst exotische Südfrüchte werden also über weite Strecken hinweg transportiert.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Natürlich sind auch diese landwirtschaftlichen Produkte Kulturerbe. Man braucht nur an den Wein zu denken, aber auch viele Kräuter, die uns geblieben sind, wie Mangold, Portulak, Dill, Koriander, Sellerie, Walnuss und Esskastanie, Karotten und Pastinaken. Und nicht zu vergessen auch der Spargel beispielsweise, der von den Römer mitgebracht worden ist bzw. hier heimisch gemacht worden ist.
ERZÄHLERIN:
Vergleicht man beispielsweise tierische Knochenfunde aus der Zeit der Römer sowohl mit Funden aus vorrömischer Zeit als auch mit solchen aus dem Mittelalter, dann stellt man fest, dass die Rinder und Pferde der Römer weitaus größer waren.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
In manchen Gegenden ist die Größe römischer Rinder erst wieder mit Einführung der künstlichen Besamung erreicht worden. Und das ist ja bekanntermaßen noch nicht lange her,das man das wieder eingeführt hat.
ERZÄHLERIN:
Neueste Funde aus Regensburg-Großprüfening legen sogar nahe, dass die römischen Soldaten auch den Grundstein für den Siegeszug des bayerischen Bieres gelegt haben könnten. Dort wurde eine Darrenanlage ausgegraben, wo man Spelzgetreide hinbrachte, um es vom Spelz zu trennen und zu rösten. Zusammen mit der gefundenen Brunnenanlage wird das Ganze als die vielleicht erste Brauerei Bayerns interpretiert. Besondere Bierliebhaber waren die Bataver, die in Weißenburg und wohl auch in Passau stationiert waren.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Die tranken nicht so gerne Wein, sondern Bier! Und wir haben auch da Zeugnisse aus England, wo die auch stationiert waren, ein Brief eines Decurio an seinen Kommandanten: bitte schick uns doch Bier! Uns ist das Bier ausgegangen! Und hier haben wir doch relativ zunehmend Belege dafür, dass diese germanischen Einheiten möglicherwiese auch bei uns hier getrunken und produziert haben und vielleicht auch eine Rolle dabei spielen, dass das Bier heute so stark ist in Bayern, wie es heute ebenso ist.
ERZÄHLERIN:
Zeit, um das gebraute Bier oder auch den Wein zu trinken, bleibt den Soldaten relativ wenig. Zwar sind Kampfhandlungen eher die Ausnahme, dafür wird aber umso mehr trainiert und geübt. Die Qualität dieser militärischen Großmacht hängt sicherlich zu einem großen Teil mit ihrer ständigen Aus- und Weiterbildung zusammen. Wer also nicht gerade anderweitigen Dienst zu tun hat, der übt Fechten oder Speerwerfen, baut Übungslager oder tut vor allem eines immer wieder: Marschieren! Marschieren spielt eine große Rolle im römischen Militär. 25km in voller Ausrüstung, d.h. mit 30 bis 40 kg sind keine Seltenheit. Und mindestens zweimal im Monat wird eine große Marschübung durchgeführt. Auch um die neuen Rekruten in den verschiedenen Marschformationen zu schulen und sie damit auf mögliche Einsätze vorzubereiten.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Die römischen Legionäre und Auxiliare waren körperlich fit in der Regel. Natürlich bringt der Dienst Gefahren mit, auch in der Ausbildung kann man sich die Knochen brechen. Es gibt einen Brief aus Ägypten, wo ein Soldat seinem Vater schreibt, er habe sich solange nicht melden können, weil die ganze Einheit eine Fischvergiftung gehabt hätte. Also das gibt es auch. Aber die medizinische Versorgung im Militär war hervorragend, weil die Soldaten ein wertvolles Gut waren. Und in der Antike gab es wohl nirgends so ein gut organisiertes Sanitätswesen wie im römischen Militär. Man kann sagen, dass die ersten Krankenhäuser Europas im Umfeld der römischen Legionslager entstehen.
ERZÄHLERIN:
Viele Arztbestecke aus der Antike sind fast eins zu eins noch heute im Einsatz: Skalpelle, Knochenheber, Knochenhammer oder Venenklemmen. Es geht darum, die wertvollen römischen Soldaten so lange wie möglich dienstfähig zu erhalten. So wird unter Kaiser Augustus das Sanitätswesen fest in die Berufsarmee integriert. Es gibt Ärzte, oft Griechen, aber auch Sanitäter, die die Verwundeten direkt auf dem Feld behandeln können.
ERZÄHLERIN:
Auch auf die Hygiene wird im römischen Militär sehr geachtet. Die Thermenanlagen, die meist ziemlich bald nach Errichtung eines neuen Kastells erbaut werden, spielen dabei eine große Rolle.
Bad Gögging, Wiesbaden oder Baden Baden waren alle einst solche Badeanlagen für die römischen Soldaten. Aber auch Wasserklos tragen dazu bei, dass Infektionskrankheiten eingedämmt werden.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Ein zentrales Thema für die Soldaten des römischen Militärs ist die Religion. Die Einsätze sind gefährlich, nur etwa die Hälfte erlebt nach der Dienstzeit den Veteranenstatus, und so sucht man den Schutz der Götter. Und davon gibt es viele. Nicht nur die berühmten 12 Staatsgottheiten Jupiter, Juno, Minerva, Vesta, Ceres, Diana, Venus, Mars, Mercurius, Neptun, Vulcanus oder Apollo.
Die Religion des römischen Heeres ist ein komplexes Gebilde: Zum einen gibt es die offizielle und streng reglementierte Heeresreligion, mit dem für alle verbindlichen Kaiserkult und den zu verehrenden Staatsgöttern. Daneben gibt es aber auch militärische Kultphänomene, die sich speziell aus den Bedürfnissen der Soldaten entwickelt haben, wie die Verehrung der eigenen Standarte.
Zum anderen gibt es aber auch die erstaunlich vielfältige Privatreligion jedes einzelnen Soldaten. Dazu Oliver Stoll von der Universität Passau.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Jeder Soldat konnte grundsätzlich den Gott verehren, der ihm genehm war, von dem er sich Schutz erhofft hat. Und das hat er auch getan. Das waren zum Teil mitgebrachte Gottheiten aus der Heimat oder einem vorherigen Dienstort. Oder es waren Götter von vor Ort, oder Götter die er an einem besonderen Dienstort brauchte, zum Beispiel die Steinmetze haben gerne Herkules angerufen, weil er der Schutzgott der Steinmetze war. Oder Benefiziarier haben auch gern Jupiter angerufen, oder Merkur, den Gott der Kaufleute.
ERZÄHLERIN:
Diese Religionsfreiheit zeugt von einer großen Toleranz gegenüber anderen Kulturen und deren Bräuchen, Sitten und Kulten. Das Militär ist auch hier wieder ein Kulturträger. So überrascht es nicht, dass sich die Religionen vor Ort in den Provinzen vermischen. Ein Zeugnis dafür wurde bei Ausgrabungen in Regensburg-Ziegetsdorf entdeckt. Der dort gefundene Tempel ist schon in seiner Bauweise eine Besonderheit. Er ist nämlich nicht nach römischer Bauart konzipiert, sondern nach gallorömischer Art. Seine architektonischen Wurzeln liegen also in Frankreich und sind keltisch. Doch nicht nur die Architektur, sondern auch die Ausstattung dieses Tempels zeugt von einer multikulturellen und multireligiösen Nutzung.
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Man sieht, wo die Leute überall hergekommen sind, die in so einem Heiligtum diesen Gott verehrt haben. Und dann sieht man, dass da die Soldaten einen Gott verehren, der mit dem Namen Merkur versehen wird, der aber vielleicht bei den Einheimischen ganz anders geheißen hat. Das ist die sogenannte Interpretatio Romana, also die Römer interpretieren auch die einheimischen Götter mit ihren eigenen, um sich eine Vorstellung zu machen. Ob die jetzt richtig ist oder nicht. Also auch die Tempelanlagen, die Kultanlagen sind multikulturelle Schmelztiegel, an denen wir Leute verschiedenster Herkunft fassen können.
ERZÄHLERIN:
Religionskriege, wie wir sie später erleben, sind der Antike fremd. Doch die Toleranz der Römer hat eine klare Grenze:
O-Ton Prof. Oliver Stoll
Wenn man nicht bereit ist für den Kaiser zu opfern. Das konnten die Römer nicht verstehen, dass man das nicht tut. Also bei allen das einende Element, das von absoluter Bedeutung gewesen ist: der Kaiserkult. Das ist ein Punkt, wo die Toleranz dann aufhört.
ERZÄHLERIN:
Besonders deutlich tritt dieser Konflikt zum Vorschein, als eine neue Religion entsteht, deren Anhänger sich weigern einen anderen Gott als den ihrigen zu ehren: das Christentum.
MUSIK
Etwa dreihundert Jahre nach Christus beginnt der langsame Verfall der römischen Legionen. Es finden sich nicht mehr genügend römische Bürger, die sich als Legionäre rekrutieren lassen, und so sind die Kaiser wie Diokletian oder Konstantin gezwungen ausländische Söldner anzumieten. Der innere Zusammenhalt nimmt ab, bald schon wird das Wort „Barbar“ als Synonym für „Soldat“ benutzt. Zwar sind diese Barbaren auch gute Soldaten, doch sie sind bei weitem nicht so loyal gegenüber Rom wie es die ursprünglichen Legionäre waren. Der Niedergang des Imperiums spiegelt sich auch in seinem Militär: Als Rom eines Tages geplündert wird, sind unter den Eindringlingen auch etliche Barbaren, die Jahre zuvor noch in der römischen Legion gedient haben.
MUSIK
Unsere "Augen im All" sehen die Welt bunter als wir: im Röntgenlicht, in Gamma- oder Infrarotstrahlung. Seit mehr als 50 Jahren schicken wir sie los, um hinter den Schutzfilter unserer Atmosphäre zu blicken. Die ersten Missionen waren ein einziges Abenteuer - die heutigen aber auch. Autorin: Sophie Stigler (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Sophie Stigler
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Katja Schild, Frank Manhold
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Iska Schreglmann
Interviewpartner/innen:
Paolo Ferri, früherer Leiter des Missionsbetriebs am ESOC, dem Satellitenkontrollzentrum der europäischen Weltraumorganisation ESA;
Antonella Nota, frühere wissenschaftliche Esa-Projektleiterin Hubble und James Webb;
Steven Finkelstein, Astronom an der University of Texas in Austin
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BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Wissenschaftsjahr 2023: Das Universum
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Ganz Bayern hat Licht und Strom - vor gut hundert Jahren eine Zukunftsvision, die auf heftigen Widerstand stieß. Aber Bauingenieur Oskar von Miller ließ sich nicht beirren und setzte vor allem auf Wasserkraft. Autorin: Iska Schreglmann (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Iska Schreglmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Martin Fogt, Hemma Michel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Sie holen Drohnen vom Himmel, erschnüffeln gefährliche Landminen und unterstützen Kranke und Behinderte - Tiere sind in einigen Jobs besser als wir Menschen. Deshalb sind sie zu unverzichtbaren Helfern geworden. Autorin: Maike Brzoska (BR 2020)
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Schild
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Lena Fiebig, Tierärztin, Epidemiologin und Mitarbeiterin der Organisation Apopo;
Stefan Schulz, Professor an der TU Braunschweig;
Kathrin Wachholz, Krankenschwester an der Berliner Klinik für Psychiatrie und Neurologie des Theodor Wenzel Werks und Fachkraft für Tiergestützte Intervention;
Sandra Wesenberg, Sozialpädagogin und Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin; Herbert Boger, Falkner
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
01 ATMO (Rattentraining)
Vogelgezwitscher, exotische Naturgeräusche
SPRECHERIN
Eine hügelige, etwas trockene Landschaft in Tansania. Auf einer Wiese groß wie ein Fußballfeld sind mehrere längliche Rechtecke abgesteckt. Am Rand eine Trainerin in blauer Arbeitskleidung und mit einer langen Leine in der Hand. Am anderen Ende der Leine – eine Ratte.
ATMO kurz hochziehen
… Stück für Stück sucht die Ratte den Boden ab. Die Nase mit den langen Härchen schnuppert mal hierhin, mal dorthin. Dann stoppt die Ratte und gräbt mit ihren kleinen Vorderpfoten in der Erde. Sie hat die Sprengstoffattrappe gefunden. Test bestanden! Zur Belohnung bekommt sie von ihrer Trainerin ein Stück Banane.
02 O-TON (Fiebig)_NEU
Dieses ganze Training findet in Tansania statt in Kooperation mit der dortigen Universität, der Sokoine Universität für Agriculture, und dort schließen wir das Traninig mit ner internen Prüfung ab, und dann sind die Ratten fertig für den Einsatz.
SPRECHERIN
Lena Fiebig ist Tierärztin und Epidemiologin. Sie arbeitet für ‚Apopo‘; die belgische Organisation nutzt Ratten für humanitäre Zwecke und hat auf ihrer Homepage Videos vom Rattentraining veröffentlicht. Die Tiere werden etwa darauf konditioniert, Landminen aufzuspüren. Denn die sind für die Bevölkerung in Afrika und Teilen Asiens ein großes Problem. Immer wieder kommt es zu Verletzungen und auch zu Todesfällen:
03 O-TON (Fiebig)_NEU
Und neben dieser Explosionsgefahr ist es auch ganz besonders weitreichend, dass die Bevölkerung ja häufig um diese Minen weiß oder Gerüchte weiß und deswegen diese Gebiete natürlich meidet. Und dadurch ist der Zugang zu Wasser versperrt, Felder werden nicht bewirtschaftet und Verkehrswege können nicht genutzt werden, also Kinder zum Beispiel müssen viel weitere Wege zur Schule wählen. Und das bremst natürlich die ganze wirtschaftliche Entwicklung.
Marking time M0010622003 unter folgendem: (Dauer: 1´03´´)
SPRECHERIN
Mindestens neun Monate werden die Ratten für diese Aufgabe trainiert. Zum Einsatz kommt die in Afrika heimische Riesenhamsterratte. Bis zu anderthalb Kilo kann sie auf die Waage bringen – ein echtes Schwergewicht im Vergleich zu unseren Ratten. Aber immer noch leicht genug, dass der Sprengstoff im Boden nicht detoniert, wenn sie drauftritt. Das macht die Riesenhamsterratte zum idealen Spürtier:
04 O-TON (Schulz)
Sie können also Gerüche sehr gut wahrnehmen. Und bei diesen afrikanischen Ratten hat sich halt herausgestellt, dass es da besonders gut ist.
SPRECHERIN
Der Chemiker Stefan Schulz. Er ist Professor am Institut für Organische Chemie der Technischen Universität Braunschweig. Die Ratten sind auf den Sprengstoff konditioniert und damit sehr viel effektiver als Metalldetektoren, die bei jedem Stück Blech im Boden Alarm schlagen. Ist die Ratte fündig geworden, kommt ein Räumungsteam zum Einsatz. Die Mine wird kontrolliert gesprengt.
M Marking time weg
05 ATMO (Explosion)
Mann zählt laut in fremder Sprache, Mine explodiert.
SPRECHERIN
Mehr als 100.000 Landminen sind auf diese Weise in afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Ländern seit den 1990ern beseitigt worden. Der große Erfolg rührt auch daher, dass Sprengstoffe für die Ratten relativ leicht zu erschnüffeln sind:
06 O-TON (Schulz)
Sie haben verschiedene Minenhersteller, die verschiedene Sprengstoffe benutzen, aber das ist ein überschaubares Gebiet, darauf kann man sie relativ gut trainieren.
M Marking time M0010622003 unter folgendem: (Dauer: 0´27´´)
SPRECHERIN
Anders ist das bei Krankheiten wie der Tuberkulose. Aber auch dafür nutzt man die Apopo-Ratten inzwischen mit Erfolg. Die Ratten können anhand des ausgehusteten Auswurfs erschnüffeln, ob ein Patient mit Tuberkulose-Bakterien infiziert ist oder nicht. Das ist schwieriger als Minen zu finden, weil jeder Patient anders riecht und auch etwas Anderes gegessen hat:
M Marking time weg
07 O-TON (Schulz)
Die Variation zwischen den Proben ist erheblich höher als zwischen diesen Sprengstoffproben.
SPRECHERIN
Schulz ist eigentlich Grundlagenforscher, arbeitet bei diesem Thema aber mit Apopo zusammen. Die Frage, die sein Team interessiert, ist: Was macht den Geruch der Tuberkulose-infizierten Proben genau aus?
08 O-TON (Schulz)
Welche Stoffe das eigentlich sind, die die Ratten erkennen? Wir sind also an der chemischen Natur dieser Duftstoffe interessiert.
SPRECHERIN
Tuberkulose ist eine bakterielle Infektionskrankheit, die vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern immer noch viele Todesopfer fordert:
09 O-TON (Fiebig)_NEU
Tuberkulose gilt als die tödlichste Infektionskrankheit weltweit. Das ist die Weltgesundheitsorganisation, die diese Zahlen bereitstellt, und die schätzt, dass jedes Jahr etwa 10 Millionen Menschen an Tuberkulose erkranken und 1,5 Millionen Menschen sterben jedes Jahr. Und das sind etwa 4000 Menschen pro Tag.
M Marking time M0010622003 unter folgendem: (Dauer: 0´52´´)
SPRECHERIN
Eigentlich ist Tuberkulose gut behandelbar – aber man muss die Krankheit erkennen, und zwar möglichst in einem frühen Stadium. In Deutschland würde man eine genetische Analyse des Auswurfs eines Patienten machen. Diese sehr zuverlässige, aber auch sehr kostspielige Methode steht in Afrika vielerorts nicht zur Verfügung. Deshalb hat Apopo mehrere Labore eingerichtet, in denen sie die Auswurf-Proben von Patienten mithilfe der Ratten zweitchecken. Auf diese Weise werden etwa 40 Prozent mehr Tuberkulose-Infektionen entdeckt. Im Vergleich zu den anderen Diagnostiken erschnüffelt eine Ratte die Krankheit relativ zuverlässig, kostengünstig – und äußerst schnell:
M Marking time weg
10 O-TON (Fiebig)_NEU
Die schafft ohne Weiteres 200 oder mehr Proben pro Tag.
M Besides C1570290102 als Trenner – mit Tiergeräuschen (Dauer: 0´05´´)
SPRECHERIN
Die Mitarbeiter von Apopo nennen ihre Tiere inzwischen liebevoll ‚HeroRats‘ – ‚Heldenratten‘. Weil sie schon vielen Menschen das Leben gerettet haben. So wie auch andere Tiere, die für uns im Einsatz sind. Hunde finden Verletzte unter den Trümmern eingestürzter Häuser oder unter Massen von Schnee. Pferde oder Esel tragen Lasten in unwegsames Gelände. Vögel sichern den Luftraum an Flughäfen oder vertreiben Krähen, die Saatkörner von den Feldern picken.
M All you got C1595050114 unter folgendem: (Dauer: 0´51´´)
Und zunehmend helfen Tiere auch Menschen, die in schweren Krisen stecken:
11 O-TON (Luca)
Ich war am Anfang auf der Geschlossenen Station, hatte ziemlich harte Depressionen unter anderem, ich hab sofort ne Panikattacke bekommen, sobald es irgendwie aus den Türen der Station rausging.
SPRECHERIN
Mehrere Wochen hat die Patientin, nennen wir sie Luca, ihr Zimmer kaum verlassen. Sie wollte niemanden sehen, nicht mit Ärzten sprechen – und vor allem nichts erklären müssen:
12 O-TON (Luca)
Ich bin halt hierher gekommen nach nem Suizidversuch und ja, hatte halt so ein bisschen abgeschlossen mit der Welt, sag ich mal so. Ich wollte einfach nicht mit Menschen drüber reden, weil ich erstens wusste, dass sie mich nicht wirklich verstehen werden können. Und ich halt auch gar niemanden mehr etwas erklären wollte, ich war halt einfach so, ich will halt einfach nicht mehr, ich wollte nichts mehr verbessern.
M All you got weg
SPRECHERIN
Deshalb hat sie sich anfangs auch den Therapien verweigert, zumindest den herkömmlichen, wie der Gesprächs- oder Ergotherapie.
In der Berliner Klinik für Psychiatrie und Neurologie des Theodor Wenzel Werks gibt es aber noch ein besonderes Angebot – die Hundetherapie:
13 ATMO (Interaktion Milka und Luca)
Milka, nicht ganz so weit, da komm ich nicht mit. Milka, schau mal hier, schau mal hier.
SPRECHERIN
Milka hat ein braunes Fell und wackelt mit dem ganzen Körper, wenn sie sich freut. Um die Labradordame kennenzulernen, hat Luca sogar ihre Angst, die Station zu verlassen, überwunden:
14 O-TON (Luca)
Quasi meine ersten Gänge außerhalb der Station waren dann, dass ich gesagt hab; Ich probier erst mal von der Station zum Büro zu laufen, weil ich halt dann wusste, okay, ich sehe Milka. Und das war das Erste, worauf ich mich auch so ein bisschen wieder freuen konnte, in einer Zeit, wo ich dachte, ist eh alles egal und ich freu mich auf gar nichts eigentlich mehr.
M All you got C1595050114 unter folgendem: (Dauer: 0´44´´)
SPRECHERIN
Von der Station zum Büro von Kathrin Wachholz – die ersten Schritte waren gemacht. Wachholz ist Krankenschwester und Fachkraft für Tiergestützte Intervention. Sie bietet die Hunde-Therapie in der Klinik an. Ein bis zwei Mal pro Woche trifft sie mit Milka ihre Patientinnen und Patienten. Oft sind das junge Menschen, die in einer schweren depressiven Krise stecken, manchmal auch noch Angst- oder Panikstörungen haben, zum Beispiel Angst haben vor Leuten zu sprechen oder in den Supermarkt zu gehen. Manche sind so niedergeschlagen, dass sie kaum aus dem Bett kommen. Aber Milka schafft es oft, sie für einen Moment aus ihrer Lethargie zu holen:
M All you got C1595050114 weg
15 O-TON (Wachholz)
Es geht schon los, dass wir jemandem, der morgens überhaupt nicht hochkommt, sagen; Okay, wir treffen uns morgen um neun mit Milka, bis dahin haben Sie sich bitte angezogen, gefrühstückt, Zähne geputzt und dann gehen wir mit ihr raus. Und das ist für viele ne Motivation, diese Schritte zu machen.
SPRECHERIN
In der Hunde-Therapie geht es vor allem darum, die positiven Ressourcen zu fördern, erklärt Wachholz:
16 O-TON (Wachholz)
Ich weiß in der Regel vom Arzt die Diagnose Depression, und wir sprechen aber nicht über die Symptome und die vielen kranken Seiten, sondern eher über die gesunden Anteile. Was bist du für ein Mensch, gehst du viel raus oder bist du eher introvertiert, spielst du gern Schach mit deinem Freund? Oder bist du gerne in der Gruppe unterwegs? Und dann gucken wir, dass wir über Milka da drankommen. Das ist bei den Patienten ganz unterschiedlich, ganz individuell, weil jeder hat auch einen anderen Bezug zum Hund.
SPRECHERIN
Manche fangen an, sich mit Milka wieder mehr zu bewegen oder sie treffen beim Spaziergang mit ihr andere Patienten. Auch Luca hat so schon einige Leute auf dem Klinikgelände kennengelernt. Sie ist auch deshalb so gern mit Milka unterwegs, weil man einem Hund nichts erklären muss:
17 O-TON (Luca)
Das ist eben das Besondere an Tieren, man muss denen nicht irgendwie seine Lebensgeschichte erzählen oder man wird nicht verurteilt, je nachdem, ob man jetzt ein sehr ängstlicher, introvertierter Mensch ist oder nicht. Die kommen mit so einer Ehrlichkeit auf einen zu, dass man denen einfach glaubt, wenn sie einem zeigen, dass sie einen gern dahaben.
SPRECHERIN
Vielen Patientinnen und Patienten in schweren Krisen fällt es zunächst leichter, sich auf ein Tier einzulassen als auf einen Menschen. Das hat Wachholz immer wieder festgestellt:
18 O-TON (Wachholz)
Viele Menschen, die bei uns Hilfe suchen, haben in frühester Kindheit so ne Bindungs- und Beziehungsstörung erlebt zu den Eltern. Und die haben grundsätzlich auch Probleme mit anderen Menschen, Bindungen und Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, aus Angst, dass die abgebrochen werden könnten. Mit dem Hund ist das was Anderes, da haben die weniger Probleme. Wahrscheinlich weil sie weniger Angst haben enttäuscht zu werden.
SPRECHERIN
Je nach Problemen arbeitet Wachholz in der Hunde-Therapie mit Nah- und Fernzielen:
19 O-TON (Wachholz)
Nahziel wäre zum Beispiel: erst mal pünktlich zum Termin kommen. Aufstehen, anziehen, sich pflegen. Fällt vielen Depressiven schwer. Und ein Fernziel wäre dann – mit Angsterkrankung – dass man zusammen bei Edeka einkaufen geht.
SPRECHERIN
Milka begleitet manche auch zu schwierigen Gesprächen. Luca beispielsweise hatte anfangs große Angst vor der Oberarzt-Visite. Aber mit der Labradorhündin an ihrer Seite ging es:
20 O-TON (Luca)
Dass ich halt nicht immer diese Menschen, diese Riesenschar von Menschen anschauen muss, die mich dann anstarrt und mir irgendwelche Fragen stellt, dass ich halt einfach sie angucken kann und während ich sie streichel, ich meine Bedürfnisse äußere und die Fragen beantworte und das ging dann halt viel, viel leichter, weil die Konzentration dann nicht nur komplett auf mich war und das macht jedes Setting einfach ein bisschen lustiger, wenn da ein Hund mit dabei ist, da ist die Konzentration nicht ganz so krass auf einen, man fühlt sich nicht so, als ob man vor einer Jury aussagt irgendwie.
M All you got C1595050114 unter folgendem: (Dauer: 0´28´´)
SPRECHERIN
Luca hat seit ihrer Einlieferung in der Klinik große Fortschritte gemacht, auch dank Milka. Mittlerweile nimmt die junge Frau auch an anderen Therapien teil:
21 O-TON (Wachholz)
Die Tiergestützte Intervention kann niemals für sich alleinstehen, also die bewirkt keine Wunder, aber sie kann Brücken bauen, Türen öffnen, sie kann begleiten, Mut machen und Menschen durchaus auch mal zeigen, wie es ist, wieder Freude zu spüren.
M All you got weg
M Besides C1570290102 als Trenner – mit Tiergeräuschen (Dauer: 0´05´´)
SPRECHERIN
Tiere kommen in der Arbeit mit Menschen immer häufiger zum Einsatz. Gleichzeitig wird die Mensch-Tier-Beziehung immer mehr erforscht. Etwa seit der Jahrtausendwende kann man diesen Trend beobachten, sagt die Sozialpädagogin Sandra Wesenberg. Sie ist Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin und Autorin des Buches „Tiere in der Sozialen Arbeit“:
22 O-TON (Wesenberg)
In Jugendwohngruppen, also im Bereich von stationärer Kinder- und Jugendhilfe, aber auch in Kitas, in Schulen, in Seniorenheimen, in Gefängnissen, in Psychiatrien. Überall da quasi, wo auch Sozialarbeiter tätig sind, sind heute auch Tiere anzutreffen.
SPRECHERIN
Wobei mit „tiergestützt“ vor allem Hunde, Pferde und Kleintiere wie Hamster oder Meerschweinchen gemeint sind:
23 O-TON (Wesenberg)
Es sind sehr häufig Hunde, die eingesetzt werden. Es gibt einzelne Studien auch zum Bereich der Arbeit mit Kleintieren. Es gibt ein paar pädagogische Angebote, die sich im Nutztierbereich bewegen, also die beispielsweise auf Bauernhöfen angesiedelt sind. Und es gibt noch den breiten Bereich von pferdegestützten Interventionen.
SPRECHERIN
Allerdings eignet sich nicht jedes Tier für die Arbeit mit Menschen. Robust sollte es auf jeden Fall sein, wenn es zum Beispiel in Kitas oder Seniorenheimen auf viele streichelwütige Menschen trifft:
24 O-TON (Wachholz)
Ein Tier, das in der TGI arbeitet, sollte Merkmale mitbringen wie: Relativ dickes Fell, ne gute Angstfreiheit und Aggressionsfreiheit, ne Menschenfreude, also mit nem scheuen Tier oder mit nem Tier, das Angst hat, brauchst du nicht anfangen zu arbeiten.
SPRECHERIN
Zu überdreht darf das Tier auch nicht sein. …:
Fortsetzung O-TON 24 (Wachholz)
… Und das sind eben auch Persönlichkeitsmerkmale, die kannst du auch in der Hundetherapie-Ausbildung nicht anerziehen.
M Besides C1570290102 als Trenner – mit Tiergeräuschen (Dauer: 0´05´´)
M Macro Molecular M0010586009 unter folgendem: (Dauer: 0´24´´)
SPRECHERIN
Milka wurde als Welpe gezielt für die Arbeit in der Psychiatrie ausgewählt. Wir Menschen können in vielerlei Hinsicht von dem Zusammensein mit Tieren profitieren. Eine der ersten und zugleich eindrücklichsten Studien, die das belegt hat, stammt aus den 1980er Jahren von einem Forscherteam um die US-Wissenschaftlerin Erika Friedman:
M Macro Molecular weg
25 O-TON (Wesenberg)
Die untersucht haben, inwiefern Patientinnen, Patienten im Krankenhaus nach nem Herzinfarkt überleben oder nicht? Was beeinflusst, ob Patientinnen, Patienten das kommende Jahr überleben? Und haben festgestellt, dass es neben ner guten sozialen Integration, also, dass jemand in nem sozialen Umfeld lebt, von Angehörigen beispielsweise unterstützt wird, dass neben diesem Faktor die Haltung von Haustieren, insbesondere von Hunden und Katzen, mit ner erhöhten Überlebenswahrscheinlichkeit verknüpft war.
M Macro Molecular M0010586009 unter folgendem: (Dauer: 0´30´´)
SPRECHERIN
Die Studie hat auch deshalb für so viel Aufsehen gesorgt, weil die Tierhaltung gar nicht im Fokus der breit angelegten Studie stand. Vielmehr wurden viele unterschiedliche Faktoren abgefragt. Das Ergebnis hat damals viele überrascht. Es gab seitdem viele Folgestudien, die genauer wissen wollten, wie der positive Effekt zustande kommt. Hundehalter bewegen sich mehr, lernen schnell andere Hundebesitzer kennen – das ist klar. Aber auch schon das bloße Zusammensein mit einem Haustier kann das Stresslevel senken:
M Macro Molecular weg
26 O-TON (Wesenberg)
Das heißt, es gibt im physiologischen Bereich Hinweise darauf, dass sich bestimmte Stressparameter im Zusammensein mit Tieren reduzieren, also das sind Herzfrequenz, aber auch so was wie Cortisol-Spiegel, der vermindert wird im Zusammensein mit Tieren. Es sind andere Parameter, die man gemessen hat in den letzten Jahren, das sind Oxytocin, also Oxytocin ist ein klassisches Bindungshormon, was vor allem in der Mutter-Kind-Bindung ausgeschüttet wird und was verknüpft ist mit Entspannungseffekten, mit Effekten von Wohlbefinden, dass dieses Hormon auch im Zusammensein mit Tieren ausgeschüttet werden kann. Insbesondere wenn es eigene vertraute Haustiere sind.
M Besides C1570290102 als Trenner – mit Tiergeräuschen (Dauer: 0´05´´)
SPRECHERIN
Voraussetzung für die positiven Effekte ist, dass man eine gewisse Affinität zu Tieren hat. Wer Hunde oder Katzen nicht besonders mag, wird vermutlich auch nicht von ihnen profitieren. Das ist anders bei den Tieren von Herbert Boger. Von ihnen profitieren sehr viele Menschen – meist ohne es zu wissen:
27 ATMO (Falkenlaut)
SPRECHERIN
Flughafen Hamburg. Hoch oben in der Luft zieht ein großer Falke seine Kreise. Er ist in Lauerstellung, hält Ausschau nach geeigneter Beute, bevor er zur Jagd ansetzt. „Anwarter“ heißt diese Technik:
28 O-TON (Boger)
Das heißt, der Vogel steigt so auf 100, 150, vielleicht auch 200 Meter und dadurch können die Möwen und Krähen ihn relativ weit sehen und können das auch nicht kalkulieren, ab wann er dann einen Jagdflug macht. Und das verunsichert sie und deswegen nehmen sie dann schon mal Reißaus vorher.
SPRECHERIN
Zwei bis drei Mal pro Woche ist der Falkner Herbert Boger mit seinen großen Greifvögeln auf dem Flughafengelände. Etwas abseits der Start- und Landebahnen lässt er sie während des regulären Flugverkehrs fliegen. Zum Einsatz kommen Falken und ‚Harris`s Hawks‘, das sind Wüstenbussarde. Die Vögel nutzen unterschiedliche Techniken, um Beute zu machen:
29 O-TON (Boger)
Der eine ist dann so der reine Verfolgungsflieger, der dann immer so den Krähen oder Möwen hinterher fliegt. Oder eben der Anwarter, der nur in die Luft steigt und von oben eben einen Jagdflug macht. Oder eben der Harris`s Hawk, der über ne kurze Distanz jagt.
SPRECHERIN
Durch die Kombination der Jagdtechniken vertreibt er Möwen, Krähen und andere ungebetene Gäste auf dem Flughafengelände besonders effektiv. Das ist wichtig, denn wenn Vögel mit Flugzeugen zusammenstoßen, kann das übel enden. Der sogenannte Vogelschlag ist allgemein gefürchtet:
30 O-TON (Boger)
Vogelschlag heißt immer, irgendwie nen Kontakt mit dem Flugzeug an irgendeiner Stelle.
SPRECHERIN
Vor allem Triebwerke und Sensoren sind störanfällig. Ein Vogelschlag kann sogar zum Absturz einer Maschine führen. (Einen tödlichen Unfall gab es zuletzt 2012 in Mecklenburg-Vorpommern. Da war ein Fischadler mit einer Maschine der Bundeswehr zusammengestoßen. Zwei Menschen starben.)* Allerdings sind solche Unglücke extrem selten.
31 O-TON (Boger)
Aber es kann dann schon sein, dass es zu einem Startabbruch kommt oder die Maschine dann so beschädigt ist, dass man eigentlich letztendlich sagen kann; Okay, sie muss den nächsten Flughafen anfliegen, um dann zur Reparatur zu kommen, also das kann schon passieren.
M Echomotion Z8021443115 unter: (Dauer: 1´00´´)
SPRECHERIN
Anderthalb bis zweitausend Vogelschläge werden dem Verband für biologische Flugsicherheit pro Jahr gemeldet. (Aber nur gut ein Dutzend Flugabbrüche gab es in den vergangenen Jahren.)* Bei den Millionen Starts und Landungen ist das sehr wenig. Das liegt auch daran, dass die Vertreibung von Möwen und Krähen mithilfe ihrer natürlichen Fressfeinde sehr erfolgreich ist. Hamburg war deutschlandweit der erste Flughafen, der auf die biologische Vogelvergrämung gesetzt hat. Inzwischen nutzen etwa 30 Prozent der Verkehrsflughäfen und fast alle militärischen Flugplätze hierzulande diese Technik.
32 ATMO (Falkengeschrei)
SPRECHERIN
Bis zu 200 Stundenkilometer schnell sind Falken im Sturzflug. Beute machen sie am Hamburger Flughafen trotzdem selten. Weil Boger ihre Jagd immer schnell beendet. Seinen Falken lockt er mit einem Federspiel zu sich zurück:
M Echomotion weg
33 O-TON (Boger)
Das ist so ne Beuteattrappe, und da landet der Falke dann drauf, und da nehm ich ihn dann wieder ab und dann geht’s wieder weiter.
SPRECHERIN
Boger muss darauf achten, dass seine Vögel nicht zu lange an einem Ort sind. Sonst verlieren Möwen und Krähen den Respekt vor ihren vermeintlichen Fressfeinden:
34 O-TON (Boger)
Also wenn der Vogel erst mal ne Stunde oder so auf dem Flughafen rumsteht und nicht seine Technik im Prinzip ausnutzen kann, dann werden die Krähen mutig und sagen: Ja, was will der hier? Den vertreiben wir mal, weil die Krähen sind da meinetwegen mit hundert Stück, und da hat der einzelne Vogel kaum ne Chance. Dann treiben die den aus dem Flughafengelände raus, und dann sind sie die Sieger. Das heißt, es ist ein kurzer Überraschungsflug und dadurch ist dieser Effekt der Vergrämung viel größer.
SPRECHERIN
Beute machen darf Bogers Vogel also nicht. Aber ein Stück Taubenfleisch bekommt sein Falke trotzdem:
35 O-TON (Boger)
Die kleine Belohnung muss im Prinzip auch sein, auch wenn der keine Beute gemacht hat, die Beute wäre ja sonst seine Belohnung. Wenn er keine Beute gemacht hat, holt der sich die Belohnung quasi bei mir ab.
M All you got C1595050114 unter folgendem: (Dauer: 0´26´´)
SPRECHERIN
Am Ende zahlt sich ihr Einsatz also nicht nur für uns Menschen aus, sondern auch für die Tiere: Der Falke und die Minen-schnüffelnde Hamsterratte werden mit Leckereien belohnt und Therapiehund Milka genießt die Streicheleinheiten und Zuwendung ihrer menschlichen Patienten.
Die Hundenase ist ein echtes Hochleistungsorgan. Hunde verfolgen Wild, spüren Verschüttete auf, erschnüffeln Drogen oder Sprengstoff und können sogar Krankheiten am Geruch erkennen. Ihre Nasenlöcher nehmen unabhängig voneinander Gerüche wahr. Doch nicht nur das macht die Hundenase so besonders. (BR 2021) Autorin: Claudia Steiner
Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Werner Härtl
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Christoph Lipp (Polizeihundestaffel München);
Carola Fischer-Tenhagen (Dr.; Tiermedizinerin, Privatdozentin an der Freien Universität Berlin);
Juliane Bräuer (Dr.; Biologin, Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena)
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik 1 „Curious Tension“ – Z8034434106 – 41 Sek +
ATMO 1 (Polizeihundestaffel, Take 5, 1.10 / Schnüffeln)
SPRECHER
Hank schnüffelt was.
ATMO 1 (Schnüffeln)
SPRECHER
Wenn der belgische Schäferhund der Münchner Polizeihundestaffel eine Spur verfolgt, zieht er bis zu 300 Mal pro Minute durch die Nase Luft ein und stößt sie wieder aus. Hunde verfolgen Wild, spüren Verschüttete auf, erschnüffeln Drogen oder Sprengstoff. Weil sie so hoch empfindliche Nasen haben, werden sie gerne bei der Jagd, beim Retten von Verschütteten, beim Zoll oder eben auch von der Polizei eingesetzt. Hanks Herrchen, Christoph Lipp, ist Polizist und arbeitet bei der Hundestaffel der Münchner Polizei:
O-TON 1 (Lipp, 1, 1.27)
Ich glaube Rauschgifthunde, Sprengstoffhunde, auch Leichenhunde, Brandmittelspürhunde oder Alpin-Suchhunde hat bestimmt jeder schon mal gehört. Das ist auch bei uns so: Jeder Hund bei uns hat eine Spezialausbildung. Der Hank zum Beispiel ist ein Sprengstoffsuchhund. Dann haben wir natürlich Rauschgifthunde, Banknotenhunde und einen Leichensuchhund. Zusätzlich haben wir noch ein paar Spezialisten, das sind die Personensuchhunde, so landläufig auch ganz gern als Mantrailer bekannt.
SPRECHER
Mantrailer suchen einen bestimmten Menschen. Sie kommen zum Einsatz, wenn etwa eine verwirrte Person aus einem Seniorenheim weggelaufen ist. Vor der Suche wird dem Hund eine Geruchsprobe des Gesuchten vorgehalten, zum Beispiel ein Kleidungsstück. Der Hund soll dann die spezifische Spur finden und ihr folgen.
ATMO (Bellen, Jaulen)
SPRECHER
Hank ist ein ziemlich verschmuster Polizeihund.
Er will gestreichelt werden, schmiegt sich an, ist verspielt, aber sobald er mit Christoph Lipp trainiert, ist der Rüde wie ausgewechselt. Er ist aufmerksam, fokussiert und hochkonzentriert:
O-TON 2 (Lipp, 1, 9.31)
Er kann ganz stark unterscheiden zwischen: wir befinden uns jetzt in einem Ruhemodus und einem Spaßmodus und jetzt geht es ernsthaft zur Sache. Und dann werden sie den Hund auch nicht wiedererkennen. (…) Da ist dann Schluss mit: Ich freue mich jetzt mal so riesig.
SPRECHER
Auf dem Gelände der Polizeihundestaffel in München trainieren die Hundeführer regelmäßig mit ihren Hunden. Fuß, Platz, Bring, Steh, Aus, Hier – sind nur einige der Kommandos, die die Tiere befolgen können müssen. Sie lernen auch, wie man zum Beispiel Einbrecher verbellt.
ATMO 2 (Lipp, 4, 6.52) (Polizei kommen sie raus, sonst kommt der Diensthund, Hank bellt)
SPRECHER
Oder üben eben – wie im Fall von Hank – die Suche nach Sprengstoff:
O-TON 3 (Lipp, 3, 0.08)
Das ist ein militärischer Sprengstoff, PETN. Man sieht: Es schaut aus wie ein bisschen Knetmasse. Das ist sehr handhabungssicher, da müssen wir uns keine Gedanken machen, dass uns was passiert. (Redet mit dem Hund …)
SPRECHER
Zur Demonstration versteckt Christoph Lipp die Plastiktüte mit dem Sprengstoff in einer Garage. Er legt den Beutel in eine Metallschublade – Hank ist ein Stück weit entfernt und sieht nicht, wo sich der Sprengstoff befindet. Dann macht sich Hank auf die Suche. Er läuft durch den Raum und schnüffelt:
O-TON 4 (Lipp, 4, 17.15 )
Haben Sie das Verhalten vom Hund gerade gemerkt, als er in diese Geruchswolke reingekommen ist. Der ganze Hund verändert sich, wird wesentlich aufgeregter und dann zum Schluss, wenn er es lokalisiert hat - ruhiger. ….
SPRECHER
Wie versteinert steht Hank vor der Schublade. Seine feuchte Nase ist ein paar Zentimeter von dem Sprengstoff entfernt. Seine Muskeln sind angespannt, er bewegt sich keinen Millimeter – bis er das Kommando von Christoph Lipp hört:
O-TON 5 (…weiter von O-Ton 4)
O.k. … Und er soll gar nicht versuchen, in diese Schublade reinzukommen oder sonst was. Er soll nur zeigen: Da ist es. (…) Wir nennen das Ganze „Einfrieren“, das hat man, glaube ich, ganz schön gesehen. Selbst die Rute ist komplett ruhig. Also der ganze Hund ist ruhig und zeigt nur noch mit der Nase.
Musik 2 „dogstep“ - Z9509547103 – 15 Sek. + Hunde-Atmo
SPRECHER
Was macht Hundenasen so außergewöhnlich? Hunde gehören mit ihrer feinen Nase zu den Makrosmatikern. Der Geruchssinn von Makrosmatikern ist sehr gut entwickelt und spielt eine große Rolle innerhalb der Sinne. Auch Mäuse und Ratten gehören zu den Tieren, die sich vor allem über ihren Geruchssinn orientieren, so Carola Fischer-Tenhagen. Die promovierte Tiermedizinerin ist Privatdozentin an der Freien Universität Berlin:
O-TON 6 (Tenhagen, 1, 8.40 / 8.20)
Es gibt ja dieses doch relativ bekannte Projekt, wo in Afrika Ratten eingesetzt werden. Das sind spezielle Ratten, also so Riesenratten, um Sprengstoff zu schnüffeln. Also die versuchen auch in Angola, die Minenfreiheit dort mit den Ratten zu erarbeiten. / Also tatsächlich sind Ratten sogar besser als Hunde, und Mäuse sind auch sehr, sehr gut. Und warum arbeiten wir nicht so viel mit Ratten? Wir arbeiten ja mit Ratten, auch als Riechtiere, aber ich glaube, dass uns der Hund einfach viel sympathischer ist zum Trainieren
ATMO (Schnüffeln)
SPRECHER
Die Anatomie der Hundenase ist besonders gut geeignet, um Gerüche aufzunehmen. Hunde saugen beim Schnüffeln die Luft mit hoher Frequenz in die Nasenlöcher ein. Ihre Nasenlöcher können unabhängig voneinander Gerüche wahrnehmen. Sie riechen also „stereo“. So können sie sich mit ihrer Nase räumlich orientieren und zum Beispiel erkennen, in welche Richtung ein Gesuchter gelaufen ist.
Um diese räumliche Orientierung zu bestätigen, haben Forscher in den USA bei einer Studie eine solche Such-Situation nachgestellt, sagt Juliane Bräuer. Die promovierte Biologin leitet die Hundestudien am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena:
O-TON 7 (Bräuer, 1, 7.29)
Die Forscher wollten wissen, wie der Hund jetzt herausbekommt, ob der Mensch da von links nach rechts oder von rechts nach links gelaufen ist. (…) Die haben nämlich mit Teppichquardern gearbeitet und haben also immer Teile der Spur einfach weggenommen, und haben festgestellt: Der Hund braucht fünf Fußtapsen sozusagen, um zu wissen, in welche Richtung er gehen muss. Mit fünf schafft er das schon und dann macht er das offensichtlich über die Konzentration, weil die Konzentration ja sozusagen Richtung Mensch dann zunimmt.
Musik 3 – „Curious tension“ – Z8034434106 - 51 Sek
SPRECHER
Hunde haben verschachtelte Nasengänge mit einer sehr großen Riechschleimhaut. Bei einem mittelgroßen Hund ist die Schleimhaut etwa 100 Quadratzentimeter groß und damit zehnmal so groß wie bei einem erwachsenen Menschen. Auf dieser Schleimhaut befinden sich Riechzellen. Auch das Riechhirn ist bei Hunden recht groß. Zum Vergleich: Bei Hunden ist das Riechhirn im Verhältnis zum Gesamthirn 40-mal größer als bei Menschen. Entwicklungsgeschichtlich gesehen gehört das Riechhirn zu den ältesten Teilen des Gehirns.
Das Zusammenspiel zwischen ihrer hoch entwickelten Nase und dem Gehirn ermöglicht es Hunden, Gerüche sehr gut wahrzunehmen und im Fall von ausgebildeten Hunden, spezifische Gerüche anzuzeigen, sagt Carola Fischer-Tenhagen:
O-TON 8 (Tenhagen, 1, 3.16)
Das heißt, wenn diese eingeatmete Luft jetzt (…) über diese Riechzellen gleitet, heften die Moleküle an bestimmte Rezeptoren. Das kann man sich so wie ein Schlüssel-Schloss-Prinzip vorstellen. Und dann, wenn eben diese Kombination von dem gewünschten Geruch da sind, dann kommt so eine Erregung in den Riechzellen, die gleichzeitig eine Verbindung zu dem Riechhirn haben, also eine sehr direkte Verbindung. Und dann kommt es eben zu der Wahrnehmung des Geruchs. Und wenn der Hund dann eben das auch gelernt hat, also das ist eine Konditionierung, (…) dann kann er eben ein bestimmtes Verhalten auf diesen Geruch zeigen, nämlich seinem Herrchen Bescheid sagen: ‚He du, ich hab‘ da was gerochen.‘
SPRECHER
Die Geruchsmoleküle werden sowohl beim Einsaugen als auch beim Ausströmen der Luft über die Riechschleimhaut geleitet, sodass die Geruchsmoleküle gleich zwei Mal die Möglichkeit haben, an einen Rezeptor zu gelangen.
ATMO Bellen /Winseln +
Musik 4: „dogstep“ – Z9509547103 – 35 Sek
SPRECHER
Bei der Polizei werden gerne deutsche und belgische Schäferhunde, aber auch Riesenschnauzer eingesetzt, grundsätzlich haben aber auch andere Hunderassen sehr gute Nasen. Selbst Möpse mit ihren platten Nasen haben bei Tests sehr gut abgeschnitten. Polizeihunde müssen nicht nur verschiedenste Kommandos lernen, so dass sie beim Einsatz aufs Wort folgen, sie müssen auch trainieren, dass es eben auf einen spezifischen Geruch ankommt und diesen dann dem Hundeführer anzeigen. Die Ausbildung dauert ein bis zwei Jahre, sagt Hundeführer Christoph Lipp:
O-TON 9 (Lipp, 1, 11.27)
Alle unsere Hunde sind nach einem Belohnungsprinzip ausgebildet, im Endeffekt das Pawlow’sche-Prinzip. Erst mal Klicker beigebracht. Da muss man ausholen, der Klicker ist halt einfach ein Instrument, mit dem ich den Hund erst einmal beibringe. Immer wenn dieses Geräusch erfolgt, passiert was Gutes für dich.
SPRECHER
Der russische Wissenschaftler Iwan Petrowitsch Pawlow hatte Anfang des 20. Jahrhunderts Lernprozesse wie die Konditionierung erforscht. Er stellte fest, dass man Hunde dazu bringen kann, dass sie mit Speichelfluss reagieren, wenn man einen Glockenton erklingen lässt. Diese Reaktion ist ein erlernter Prozess, denn normalerweise reagieren Hunde nur beim Anblick von Futter mit Speichelfluss. Dieses Belohnungsprinzip nutzen auch die Hundeführer der Polizei:
O-TON 10 (Lipp, 1, 11.27 …weiter)
Pawlow hat das eben mit Futter gemacht. Wir haben das Ganze mit Futter und einem Spielzeug noch zusätzlich verknüpft. Das heißt, je nach Hund und je nach Situation möchte ich, dass der Hund sich richtig, richtig freut. Und er steht mehr aufs Spiel. Dann nehme ich das Spielzeug, ist er eher von der Sorte: Ich stehe aber mehr auf Futter. Dann kann ich natürlich so arbeiten, oder ich kann auch so arbeiten, indem ich sage, beim Spielen wird er zu aufgeregt. Dann kann ich das Ganze bisschen dosieren und sagen: Jetzt kriegst du nur ein Futterstückchen, da freust du dich zwar auch, aber das ist nicht das höchste der Belohnungen für dich. Also, da muss man so ein bisschen Fingerspitzengefühl walten lassen, wann man welche Belohnung wählt.
ATMO 3 (Lipp, 4, 7.42, Ja super machst du das ….)
+ ATMO Hund winselt
SPRECHER
Für die Polizeiarbeit sind Hunde so wertvoll, weil sie Gerüche differenzieren und einzelne Geruchselemente herausriechen können. Christoph Lipp vergleicht das mit Essensgeruch:
O-TON 11 (Lipp, 1, 16.22)
Wenn Sie nach Hause kommen, und der Mann hat einen Schweinebraten gekocht. Dann machen Sie die Tür auf und sagen: Oh, es riecht nach Schweinebraten. Sie haben so eine Gesamtduftwolke einfach vor sich. Und der Hund würde zur Tür hereinkommen. Und der riecht den Gesamtgeruch und kann zwischendrin noch raus riechen. Da ist Pfeffer, da ist vielleicht ein bisschen Knoblauch noch mit drin. Und das macht die Hundenase für uns eben auch in der Spezialsuche so wertvoll, weil sonst könnte ich ja rein theoretisch einfach nur einen Duftstoff nehmen, der stärker riecht wie das, was der Hund suchen soll, um es zu überdecken. Und das funktioniert halt einfach nicht.
SPRECHER
Das heißt, wer denkt, er könnte den Geruch von zum Beispiel Cannabis mit stark riechenden Gewürzen überdecken, scheitert bei einer Kontrolle an den empfindlichen Supernasen.
Musik 5: „Gangsta luv“ – Z9376301004 -12 Sek + Atmos Hund
SPRECHER
Hunde können auf alle möglichen Gerüche trainiert werden, nicht nur auf Cannabis, Kokain oder Heroin, Sprengstoff oder Falschgeld, sondern auch auf bestimmte Krankheiten. Zumindest deutet einiges darauf hin, sagt die Tierärztin Fischer-Tenhagen:
O-TON 12 (Tenhagen, 1, 9.42)
Also es gibt Hinweise dafür, dass das funktioniert. Und da sind wir bei verschiedenen Krebserkrankungen. (…) Dann diverse Viruserkrankungen. Das ist ja jetzt mit Corona ganz aktuell gewesen, dass schnell Berichte kamen, dass Hunde Coronaviren erkennen können.
SPRECHER
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover und der Bundeswehr haben herausgefunden, dass speziell ausgebildete Spürhunde aktive Corona-Speichelproben identifizieren können. Nach einem nur siebentägigen Training konnten die Spürhunde Corona anzeigen – was sie allerdings genau riechen, ist unklar. Es wird vermutet, dass die Hunde Veränderungen im Stoffwechsel riechen, die durch eine Infektion ausgelöst werden. Doch das sind nicht die einzigen Einsatzmöglichkeiten in der Medizin, weiß die Forscherin:
O-TON 13 (Tenhagen; 1, 10.02)
Und dann gibt es auch gewisse Bakterien-Erkrankungen, die der Hund erschnüffeln kann. Dann gibt es ja Diabetes-Anzeige-Hunde, wobei bei diesen Diabetes-Anzeige-Hunden genauso wie diesen Epilepsie-Anzeige Hunden nicht 100-Prozent klar ist, ob es tatsächlich der Geruch ist (…) oder auch andere Veränderung, die (…) Menschen kurz vor einem Anfall haben. Dass sie die spüren, was ja eigentlich egal ist. Hauptsache, der Hund zeigt es an.
Musik 6: „Surgery“ – C1576650112 – 39 Sek
SPRECHER
Forscher der Universität Neapel Federico II haben herausgefunden, dass Hunde sogar Gefühle riechen können. Dafür mussten sich Hundebesitzer verschiedene Videos anschauen, währenddessen wurden Geruchsproben genommen.
Wenn die Besitzer einen angsteinflößenden Film angesehen hatten, reagierten die Hunde auf die Geruchsprobe angespannt. Ihre Herzfrequenz erhöhte sich. Schauten sich die Besitzer dagegen einen schönen Film an, reagierten die Hunde auf die Geruchsprobe entspannt.
Musik aus.
SPRECHER
Damit die Hundenase gut funktioniert, muss sie immer feucht sein. Bei hohen Temperaturen riechen Hunde schlechter, sagt die Berliner Tierärztin:
O-TON 14 (Tenhagen, 1, 14.55)
Diese Geruchsmoleküle müssen sich schon auch ausbreiten können, und dafür braucht es eben eine gewisse Luftfeuchtigkeit. Und das wissen wir auch. (…) Die Riechschleimhaut muss feucht sein, um diese Gerüche dann eben auch transportieren zu können.
SPRECHER
Und auch wenn der Wind aus der falschen Richtung kommt, ist es für Hunde schwieriger, einer Spur zu folgen. Um überhaupt riechen zu können, müssen Hunde ihre Nase ‚aufmachen‘, also aktiv schnüffeln.
Bei normaler Atmung erreichen nur etwa zwei Prozent der in der Luft enthaltenen Duftstoffe die Riechzellen, unter anderem weil dann auch Luft durch das Maul strömt. Das heißt, es scheint, als könnten Hunde ihre Nase an- und abschalten. Juliane Bräuer:
O-TON 15 (Bräuer, 1, 11.35)
Einer Sache, der ich jetzt so ein bisschen auf der Spur bin, ist die Frage, wie gut Hunde eigentlich riechen, wenn sie nicht schnüffeln. Und es gibt da auch Anatomen, die sagen: Ein Hund kann überhaupt nichts riechen, wenn er zum Beispiel hechelt, weil wenn er hechelt, geht die Luft durch den Mund (…) und wird nicht durch die Nase gedrückt und die Nasenschleimhaut kann das schlecht aufnehmen und deshalb kann der relativ schlecht riechen.
SPRECHER
In einer der Studien von Juliane Bräuer mussten Hunde ihren Besitzer suchen. Dabei fiel auf, dass einige Hunde erst einmal offenbar keine Spur aufgenommen haben.
(O-TON 16 (Bräuer, 1, 11.35 weiter… )
Und tatsächlich in unserer Studie mit den Besitzern, da gab es Hunde, die sind sofort los und haben den Besitzer gesucht und dann gab es Hunde – eingeschlossen mein eigener - der 20 Meter vom Besitzer entfernt saß und einfach offensichtlich die Nase nicht aufgemacht hat, also eben nicht geschnüffelt hat und gar nicht mitgekriegt hat, dass der Besitzer ganz nah war.
ATMO Wald + ATMO Schnüffeln
SPRECHER
Hunde setzen ihre Nase ein, wenn sie zum Beispiel bei einem Spaziergang im Wald eine Spur wittern – ganz normal. Aber die echte Riecharbeit ist für Hunde ein Knochenjob. Nach einem „Riech“-Einsatz, also zum Beispiel bei der Suche nach Verschütteten oder nach Sprengstoff, sind die Tiere richtig erschöpft, sagt Hunde-Expertin Carola Fischer-Tenhagen:
O-TON 17 (Tenhagen, 1, 23.28)
Ja, es ist sehr anstrengend. Ja, also das sieht man auch immer schön. Sie können gerne mit ihrem Hund drei Stunden spazieren gehen (… ) und er wird sich zehn Minuten hinlegen und dann wieder sagen: Okay, jetzt spielen wir wieder was. Aber wenn sie mit dem Hund 20 Minuten Nasenarbeit machen, dann ist er für den Tag auch zufrieden. (…) Es erfordert eine unglaubliche Konzentration.
SPRECHER
Auch Polizeihund Hank ist nach Einsätzen erschöpft, erzählt Christoph Lipp:
O-TON 18 (Lipp, 4, 13.47)
Die Nasenatmung geht beim Hund, in der Spezialsuche und vor allem in der Feinsuche, steigt die an bis auf ungefähr 300 Mal ein- und ausatmen durch die Nase und Gerüche aufnehmen in der Minute. Und das ist halt schon immens. Da gibt es auch eine Studie von der Bundeswehr: So 20 bis 25 Minuten Spezialsuche sind vergleichbar, wie wenn ein Mensch einen Marathon laufen würde. Also die sind da tatsächlich dann auch erst mal richtig geschafft danach.
SPRECHER
Dass Hunde gut riechen können, ist unumstritten. Doch was im Hundekopf vorgeht, wenn sie eine Spur wittern, ist noch relativ unerforscht. Inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass Hunde eine Vorstellung von dem Objekt oder der Person haben, deren Spur sie folgen. Diese Frage interessiert auch die Biologin Bräuer. Sie befasste sich in zwei Studien damit, ob Hunde bei der Aufnahme einer Geruchsspur eine sogenannte mentale Repräsentation des Zielobjekts besitzen, also ob sie wissen, was sie am Ende der Spur erwartet:
O-TON 20 (Bräuer, 1)
Und was wir gemacht haben in der ersten Studie, wir haben ein Spielzeug genommen, ein Spielzeug, das der Hund wirklich mochte, (…) und dann haben wir dieses Spielzeug, zum Beispiel einen Ball den Boden lang gerollert durch drei Räume durch und haben es dann hinter einer von vier Barrieren versteckt und dann haben wir den Hund das Spielzeug suchen lassen, und in dem entscheidenden Experiment oder in der entscheidenden Bedingung haben wir dieses Spielzeug ausgetauscht, und zwar mit einem anderen Spielzeug, das der Hund ebenso mochte. Und da haben wir geschaut, wie der Hund die Spur verfolgt und was er macht, wenn er sozusagen das Falsche findet, …und die Idee war: Würde der Hund überrascht sein, wenn das Spielzeug sozusagen ersetzt worden war oder eben nicht. Und wenn er überrascht ist, dann spricht es dafür, dass er eben genau dieses Spielzeug, also eben den Ball gesucht hat und auch erwartet hat, diesen Ball am Ende der Spur zu sehen.
SPRECHER
Es zeigte sich, dass Hunde zögerten, das am Ende der Spur versteckte Spielzeug zu bringen, wenn es nicht der Geruchsspur entsprach. Das deutet darauf hin, dass Hunde wissen, was sie riechen und überrascht reagieren, wenn sie zum Beispiel der Spur eines Balles folgen und am Ende aber nicht ihren Ball, sondern ihr Plüschtier finden. Viele Hunde suchten bei dem Versuch deshalb weiter nach dem „richtigen“ Objekt. Allerdings verschwand dieser „Überraschungseffekt“ in den nachfolgenden Durchgängen. Warum, ist unklar.
Ein Grund könnte sein, dass die Hunde, egal welches Spielzeug sie apportiert hatten, durch Spielen belohnt wurden, oder auch daran, dass es im Raum noch nach den Spielzeugen der voran gegangenen Testdurchgänge roch, so Bräuer. In einer zweiten Studie untersuchte die Forscherin, deren Fachgebiet die vergleichende Psychologie ist, eine ähnliche Situation:
O-TON 21 (Bräuer, 1, 4.04)
In dieser Studie haben die Hunde ihren Besitzer gesucht, und wir hatten in der kritischen Bedingung wieder den Besitzer ausgetauscht: Das heißt, sie haben jetzt vielleicht die Spur von Frauchen in der Nase gehabt, und am Ende der Spur war Herrchen. Und auch da haben wir gesehen, dass sie viel, viel aktiver waren in der Bedingung, wo der Besitzer oder die Besitzerin ersetzt worden war, obwohl klar ist, dass sie beide genauso doll mögen (…) wenn die ersetzt waren, haben sie den jeweils anderen gesucht und das spricht eben dafür, dass wirklich was in ihrem Kopf vorgeht, was darüber hinausgeht, dass sie einfach nur denken: ‚Gute Spur, gute Spur, muss ich hinterher“.
SPRECHER
In vielen Bereichen sind Menschen Tieren in kognitiven Dingen weit überlegen. Doch in Bezug auf Gerüche ist es umgekehrt. Das macht die Forschung extrem schwierig, betont Juliane Bräuer:
O-TON 22 (Bräuer, 1, 27.42)
Wir testen ansonsten meistens Fähigkeiten, wo wir Menschen den Tieren eindeutig überlegen sind, und das ist dann auch relativ einfach, sich einen Test auszudenken, aber wenn der Hund mir jetzt überlegen ist, dann ist das was ganz Anderes.
SPRECHER
Für Forscher gibt es deshalb noch viele offene Fragen.
O-Ton 23 (Bräuer, 1, 5.19)
Wir wissen relativ gut natürlich die Anatomie. Wir wissen auch relativ gut, was Hunde so riechen können, und auch, wie man sie dafür trainiert. Aber wir wissen ganz wenig darüber, (…) was sie denken, wenn sie riechen, und das ist auch das, was extrem schwer zu erforschen ist. Und das ist uns genau bei (…) den beiden Studien richtig aufgefallen. Man muss sich verstellen, wie das ist, wenn man so eine tolle Nase hat, also, wenn man einen Raum betritt und dann gibt es da eben verschiedene Gerüche, also richtig, richtig viele verschiedene Gerüche, und der Hund kann die ja potentiell wahrscheinlich alle wahrnehmen oder die meisten davon und dann wie wählt er aus, wie wählt er aus, was relevant ist und wie verarbeitet er das alles. Das sind so die Fragen, die mich interessieren, aber wir stehen da wirklich sehr am Anfang.
Musik 7 „Curious Tension“ – Z8034434106 – 30 Sek
+ ATMO (Schnüffeln + Knurren)
SPRECHER
Die ältesten Freunde des Menschen leben in einer Geruchswelt, die uns nicht zugänglich ist. Noch wissen wir viel zu wenig über die Supernasen. Klar ist jedoch: Selbst in hochtechnisierten Zeiten ist die leistungsfähige Nase von Hunden in vielen Bereichen unverzichtbar.
Musik und Atmo aus.
Der Mensch als kommunizierendes, politisch handelndes Wesen braucht die Öffentlichkeit. Demokratie ist ohne debattenfreudige Öffentlichkeit nicht vorstellbar. Philosophische Gedanken über die Beziehung Mensch und Öffentlichkeit. Autorin: Beate Meierfrankenfeld (BR 2018)
Credits
Autorin dieser Folge: Beate Meierfrankenfeld
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Christiane Roßbach, Stefan Wilkening, Hemma Michel
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
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"Pauperismus" nannten Zeitgenossen die Massenarmut, die zwischen 1750 und 1850 in den deutschen Staaten um sich griff in Folge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche, die mit dem Beginn der Industrialisierung einhergingen. Autorin: Renate Eichmeier (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Irina Wanka, Friedrich Schloffer
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Karl Borromäus Murr (Dr.; Leiter d. Staatlichen Textil- u. Industriemuseums Augsburg)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER:
Zerlumpte Kinder, die betteln, niedrige Hütten aus Lehm und Baumzweigen, nass und feucht, ohne Kamin, voller Rauch und Dunst, eine magre Kuh, karge Felder … Gebe man einem der kleinen bettelnden Mädchen eine Silbermünze, dann sei dies mehr als sie in mehreren Wochen mit Flachsspinnen verdienen könne.
ERZÄHLERIN:
Anfang der 1840er Jahre beschrieb der junge Journalist Georg Weerth die Armut in der Senne, einer Heidelandschaft in der Region Ostwestfalen-Lippe. Die Menschen dort hatten über Generationen hauptsächlich vom Flachsspinnen und Leinenweben gelebt. Vom nahegelegenen Bielefeld aus, einem Zentrum des Leinenhandels, wurden ihre Produkte verkauft. Und nicht nur von dort gab es Berichte über die zunehmende Armut.
SPRECHER:
Aus allen Gauen Deutschlands gebe es seit einigen Jahren Klagen übersteigende Armut, Nahrungslosigkeit, Verarmung ganzer Bezirke und auch über die Unzulänglichkeit der Almosen, die gegeben werden, um das Leid zu lindern.
ERZÄHLERIN:
Schrieb ein anonymer Autor 1844 in einem Essay in der "Deutschen Vierteljahres Schrift" – und:
SPRECHER:
Das rasch um sich greifende Übel, der Pauperismus, sei nichts Vorübergehendes – etwa hervorgerufen durch ein Stocken des Handels oder eine Missernte, die Klagen würden seit Jahren immer häufiger und dringender, mit einem Wort: der Notstand wachse und wachse.
O1 Murr 36''
Pauperismus ist Massenarmut und zwar in einem Ausmaß, dass die Schere zwischen der wachsenden Bevölkerung und den zur Verfügung stehenden Ressourcen, also Arbeitsplätze, aber auch Nahrung - die Schere geht immer weiter auseinander, so dass plötzlich viel mehr Menschen der Armut verfallen, ans Existenzminimum gelangen, ja Hungertod sterben, Tausende. Das ist also wirklich dramatisch und das ist ein neues Phänomen, das in Deutschland so in den 1820er, 30er, 40er Jahren voll durchschlägt.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In vielen Gebieten Europas grassierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder Hungersnöte. Auch in Deutschland waren ganze Landstriche betroffen. Breite Bevölkerungsmassen verarmten, lebten am Existenzminimum, hungerten. Aufstände drohten. Wie konnte es dazu kommen?
O2 Murr 9''
Wirtschaftlich befinden wir uns in einer Übergangsphase. Der allererste Faktor ist nach wie vor die Agrargesellschaft, die Landwirtschaft. Die meisten Menschen wohnen nach wie vor auf dem Land.
ERZÄHLERIN:
Und die Menschen auf dem Lande wurden mehr – seit Mitte des 18. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung stark und kontinuierlich. Die Landwirtschaft konnte hier nicht mithalten, die Lebensmittel waren knapp, die Preise stiegen …
Die deutschen Länder, seit 1815 lose vereint im Deutschen Bund, suchten nach Abhilfe. Sie wollten die Landwirtschaft modernisieren, die Produktivität steigern. Dafür mussten die alten feudalen Strukturen, die noch aus dem Mittelalter stammten, überwunden werden. Das hatte allerdings schwerwiegende Folgen für die Bauern. Denn in jenen feudalen Strukturen standen sie in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Grundherren, hatten oft den Status von Leibeigenen ohne persönliche Freiheiten und mussten Frondienste und Abgaben leisten. Dafür bekamen sie allerdings im Gegenzug Hilfe von den Grundherren bei Ernteausfällen, Bränden, Schulden. Diese Strukturen sollten nun aufgebrochen werden. Die deutschen Staaten leiteten Reformen ein, die von der Geschichtsschreibung als "Bauernbefreiung" bezeichnet werden. Der Prozess zog sich über Jahrzehnte hin, lief regional unterschiedlich und ziemlich chaotisch ab. In der Regel bekamen jedenfalls die Bauern persönliche Freiheiten, durften Beruf, Aufenthaltsort, Ehepartner selbst wählen und wurden vom Frondienst befreit, teilweise bekamen sie auch die Höfe, die sie bewirtschafteten, als Eigentum übertragen. Soweit die Vorteile. Aber das Ganze war auch mit existenziellen Nöten verbunden: Denn die Bauern mussten ihre Grundherren entschädigen, sie verschuldeten sich und verloren nicht selten Haus und Hof. Sprich: Sie wurden zwar frei, aber arm. Sie hatten nichts mehr und mussten sich als Landarbeiter verdingen. Später analysierte der Historiker Friedrich Knapp die Zwiespältigkeit der sogenannten "Bauernbefreiung".
SPRECHER:
Das herrschaftliche Gut sei in eine neue Stufe seines Daseins getreten: die Bauern müssten nicht mehr geschützt werden, die Gutsherren, die durch die Entschädigungen bereits Land dazugewonnen hätten, könnten nun auch noch die unabhängig gewordenen Bauernhöfe aufkaufen und hätten zudem Landarbeiter zur Verfügung, die eben keine Landwirte mehr wären, sondern nur Arbeiter, die nicht dauerhaft blieben.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In ländlichen Gewerbegebieten wie Nordböhmen, Sachsen oder Schlesien versuchten viele Bauern, sich durch zusätzliche Heimarbeit den Lebensunterhalt zu sichern. Mit arbeitsintensiver Handarbeit am Spinnrad oder am Webstuhl produzierten sie zuhause Stoffe und Garne, die dann von sogenannten Verlegern überregional vertrieben wurden.
O3 Murr 22''
Früher war der Verleger sozusagen der Vorgänger des Unternehmers, der eine sogenannte Heimindustrie organisiert hat, dass meinetwegen Handweber oder Spinner, die Textilproduktion, das Textilgewerbe, dass die Aufträge bekommt. Der Verleger sorgt dann für den Verkauf der Waren und verdient auch am meisten, hat zugleich diese Heimindustrie unter seinem Gängelband.
ERZÄHLERIN:
Das Verlagssystem, das vor allem die Textilindustrie betraf, hielt die Bauern und Heimarbeiter in Armut - denn es waren nicht sie, die wirklich vom Verkauf der hergestellten Waren profitierten, sondern der Verleger. Verglichen mit England war die Heimarbeit in Deutschland ohnehin veraltet. Schon seit mehreren Jahrzehnten lief in England die Industrialisierung auf Hochtouren. Grundherrschaft war schon früh abgeschafft, eine Infrastruktur aufgebaut, freier Handel möglich gemacht worden. Der Einsatz von mechanischen Webstühlen und Spinnmaschinen war dort schon längst die Regel, während in Deutschland erst vereinzelt Manufakturen entstanden, in denen Teilprozesse mechanisiert waren, die meiste Arbeit aber noch mit der Hand gemacht werden musste. Zunächst durften die Engländer aber wegen der sogenannten Kontinentalsperre nicht auf das europäische Festland exportieren. So konnte die rückständige deutsche Heimindustrie mangels Konkurrenz erstmal gedeihen. Als aber 1815 die Kontinentalsperre aufgehoben wurde, fluteten die englischen Industrieprodukte den deutschen Markt. Die Heimindustrie stürzte in eine tiefe Krise. Und mit ihr die Heimarbeiter.
O4 Murr 28''
In Deutschland ging ja die Industrialisierung fast eine Generation später los im Vergleich zu England, d.h. es mussten Hand-Weber und Spinner konkurrieren mit Maschinen-Produkten aus England, das konnte nicht gutgehen. Gerade die wirklich krassen Beispiele der schlesischen Weber, die sich ja wiederholt erhoben hatten, die sind ein Zeugnis, dass hier Wettbewerbe einfach nicht mehr gegen die Industrie bestanden oder gewonnen werden konnten.
ERZÄHLERIN:
Mittellose Heimarbeiter, verarmte Bauern und Landarbeiter, Arbeitslose – die armen Massen auf dem Land: Auf der Suche nach Arbeit zogen sie in die Städte und landeten oft in den Armenvierteln. Zwar waren die Zünfte mit ihren strikten Arbeitsregelungen in Auflösung begriffen, vielerorts wurde Gewerbefreiheit eingeführt, so dass prinzipiell ein Job als Handwerker möglich war. Doch der Markt war überschwemmt mit Arbeitssuchenden. Miserabel bezahlte Jobs, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alkoholismus, Kriminalität, Bettelei waren die Folge.
O5 Murr 14'' Kürzungsmöglichkeit
Oft haben sich die Handwerkerzahlen verdoppelt in diesen Jahren. Und so viel Nachfrage gab es gar nicht. Die Konzessionierungen mussten eingeschränkt werden. Es waren einfach viel zu viele Menschen für viel zu wenig Arbeit vorhanden.
MUSIK
SPRECHER:
Kinder, halbnackt, die in der Hütte kauern, ein kranker Großvater auf einem Strohlager. Sein Sohn, der Bauer, kann seine Familie nicht mehr ernähren. Eine Missernte habe es gegeben, so der Bauer, er habe keine Vorräte mehr. Der Leinen-Handel liege darnieder. England betreibe ihn mit großem Erfolg. Das Garnspinnen bringe nicht mehr genug Geld zum Überleben.
ERZÄHLERIN:
Wie viele der zeitgenössischen Journalisten thematisierte auch der Journalist Georg Weerth die Gründe für die Massenverarmung in seinem Artikel über die Senne, der ostwestfälischen Heidelandschaft nahe Bielefeld. Und er stellte in seinem Artikel dem Bauern die Frage, die viele seiner Zeitgenossen beschäftigte und die implizit den Armen die Schuld für ihre Misere gab.
SPRECHER:
Warum, zum Teufel, habe er auch so viele Kinder?
ERZÄHLERIN:
Zwischen 1816 und 1864 stieg die Einwohnerzahl im Deutschen Bund um über 50 Prozent: von 30 Millionen auf 46 Millionen. Über die Ursachen gibt es bis heute in der Wissenschaft Debatten. Diskutiert werden: bessere medizinische Versorgung, geringere Säuglingssterblichkeit, ausbleibende Seuchen wie Pest oder Cholera, Verbesserungen in der Landwirtschaft, dadurch insgesamt bessere Versorgung mit Lebensmitteln. In Sachsen verdoppelte sich die Bevölkerung, in Preußen wuchs sie um über 80 Prozent, im süddeutschen Raum um etwa ein Drittel. In der Öffentlichkeit machte sich die Angst vor einer Überbevölkerung breit und die Angst, die Menschen nicht mehr ernähren zu können. Auch wenn sich die Landwirtschaft zwischen 1750 und 1850 entscheidend verbessert hat.
O6 Murr 16''
Die Produktivität konnte gesteigert werden: von der berühmten Dreifelderwirtschaft, wo ja immer ein Drittel brachlag, wurde eine intensivere Bewirtschaftung aller Flächen mit eben Fruchtfolgenwechsel eingeleitet. Dadurch konnten viel mehr Leute ernährt werden.
Erzählerin:
Aber dann war ein Sättigungsgrad erreicht.
O7 Murr 5''
Ab den ja 1810er, 20er Jahren. Das konnte nicht weiterwachsen. Die Bevölkerung wuchs aber weiter.
ERZÄHLERIN:
Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Engländer Thomas Robert Malthus Furore gemacht mit seinem "Essay on the Principle of Population". Darin stellt er die These auf:
SPRECHER:
Die Lebensmittelproduktion wachse linear, die Bevölkerung aber vermehre sich exponentiell, Lebensmittelproduktion und -nachfrage klafften also immer weiter auseinander, Hunger und Armut seien die Folge.
ERZÄHLERIN:
Robert Malthus wurde auch in Deutschland intensiv rezipiert. Hatte man früher Hungersnöte als gottgegeben hingenommen, entbrannte nun eine öffentliche Diskussion um das nicht zu übersehende Phänomen der massenhaften Verarmung, wofür sich den 1820er Jahren der Begriff "Pauperismus" durchsetzte: übernommen aus dem Englischen, abgeleitet vom Lateinischen "pauper", arm.
O8 Murr 37''
Der Pauperismus ist nicht nur ein Phänomen auf der sozialen-wirtschaftlichen Ebene, sondern ein Phänomen auch einer neuen Wahrnehmung der Not und auch eine Wahrnehmung der menschgemachten Not. Früher war es Schicksal, heute war es sozusagen vom Menschen gemacht. Und es gibt ganz viele Quellen eigentlich von Schriftstellern, von staatlichen Beamten, die sozusagen in die Landschaft gehen und Beobachtungen anstellen. Und alle versuchen natürlich die Not sich zu erklären, weil es war in dieser Massierung ein neues Phänomen.
ERZÄHLERIN:
Die Massenarmut beunruhigte die staatlichen Obrigkeiten und das aufstrebende Bürgertum gleichermaßen.
SPRECHER:
Die Reichen hätten Angst und wollten sich um jeden Preis gegen die Gefahren sichern, die sie von dem wachsenden Elend der Armen befürchteten.
ERZÄHLERIN:
Schrieb zu jener Zeit der Historiker Friedrich Bülau.
SPRECHER:
Wenn die Reichen es den Armen erleichtern würden, durch eigene Anstrengung zu mehr Wohlfahrt zu kommen, sei allen geholfen. Die Reichen aber handelten nur auf Kosten der Armen, glaubten, sich durch Verbote vor der Gefahr schützen zu können, die von den Armen ausgeht, verstärkten aber im Grunde genommen die Gefahr dadurch.
ERZÄHLERIN:
Die Angst vor Aufständen war groß, vor einem Heer der Armen, das außer Kontrolle gerät. Schließlich hatte die Französische Revolution 1789 hatte das feudalistische Europa in seinen Grundfesten erschüttert, aller Welt die Macht der Massen vor Augen geführt, ein über Jahrhunderte bestehendes monarchisches Herrschaftssystem hinweggefegt. Die sogenannte Pauperismus-Literatur entstand: Essays, Aufsätze, Stellungnahmen, Analysen, Polemiken. Kritische Stimmen führten wirtschaftlich-strukturelle Gründe an: die Konkurrenz durch die englischen Industrieprodukte, die chaotisch ablaufende Bauernbefreiung, zu hohe Steuern, die von den Armen verlangt würden … Journalisten wie Georg Weerth oder Wilhelm Wolff, die beide Karl Marx, Friedrich Engels und der aufkommenden kommunistischen Bewegung nahestanden, ergriffen die Partei der Armen.
Auf konservativ-bürgerlicher Seite dominierten dagegen Furcht vor Unruhen und Schuldzuweisungen an die Armen: zu viele Kinder, mangelnde Selbstdisziplin, mangelnder Arbeitswille …Und:
O9 Murr 19''
Es gab Stimmen, auch Jeremias Gotthelf zum Beispiel, der Schriftsteller, die alle sozusagen fast apokalyptisch wurden, vor einem Ausbrechen, vor einem Politisch-Werden, vor einem Massenprotest und gewaltsamen Umsturz dieser verelenden Proletarier warnten.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
Die Armen selbst hatten keine Stimme, die gehört wurde. Sie mußten versuchen zu überleben. Kamen dann noch Naturkatastrophen hinzu, spitzte sich ihre Situation lebensbedrohlich zu. 1815 brach in Indonesien der Vulkan Tambora aus. Die Ernte in Europa fiel fast komplett aus. Es folgten katastrophale Hungersnöte.
1816/17 waren allein in Köln 18 bis 19 Tausend Menschen auf öffentliche Unterstützung angewiesen. Das war ein Drittel der Einwohner. Doch auch in Jahren ohne außergewöhnliche Krisen brauchten 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung Hilfe – nicht nur in Köln, auch in anderen großen Städten wie Hamburg, Barmen, Elberfeld. 1830 soll jeder vierte Berliner Unterstützung bekommen haben. Auf dem Land in Preußen waren Schätzungen zufolge etwa 50 Prozent der Menschen eigentumslos, also auf Lohnarbeit angewiesen, auf Erwerbsmöglichkeiten, die oft fehlten.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In den 1840er Jahren erreichte die Krise ihren Höhepunkt. Missernten und Kartoffelfäule führten zu einer dramatischen Verknappung und explosionsartigen Verteuerung der Grundnahrungsmittel. Zeitweise konnten sich die meisten nicht einmal mehr Kartoffeln leisten.
O11 Murr 27''
Es gibt ganz viele Regionen in Deutschland, die betroffen waren, stark der deutsche Südwesten, aber auch Westdeutschland, Hessen, der Nordwesten, Bielefeld, diese Region war sehr stark betroffen. Schlesien, berühmt ist ja der schlesische Weber-Aufstand 1844. Und auch das Erzgebirge, das heißt: es war schon flächig sehr verteilt und gleichermaßen in Städten und auf dem Land.
ERZÄHLERIN:
Die Kommunen, die zuständig waren für die Armenversorgung, waren überfordert, Unruhen und Tumulte die Folge: In Berlin kam es zu der sogenannten "Kartoffel-Revolution", in Bayern zu "Bierkrawallen" … Oft begannen die Proteste auf den Märkten, wo den Händlern Waren weggenommen wurden. Dutzende, oft Hunderte schlossen sich zusammen, bewaffneten sich mit Knüppeln, plünderten Läden und Getreidespeicher, blockierten den Abtransport von zum Export bestimmten Gütern, zogen übers Land, requirierten gewaltsam Nahrungsmittel. Allein 1847 gab es etwa 200 solcher Aufstände in den Ländern des Deutschen Bundes, mehr als die Hälfte davon in Preußen. Es waren Ausbrüche ohne politische Zielsetzung, auch ohne eine überregionale Vernetzung.
Die Regierungen reagierten teils mit Einsatz von Polizei und Militär, teils boten sie Hilfen an: Geld für Kredite, Saatkartoffeln, Getreide aus Militärmagazinen … Aber nachhaltige Konzepte für den Umgang mit den Hungerkrisen und der zunehmenden Massenverelendung fehlten. Die Länder des Deutschen Bundes griffen in erster Linie zu Verboten wie Bettlerverordnungen und Eherechtsbeschränkungen, um die Armen unter Kontrolle zu halten.
O12 Murr 51''
Wichtig ist zu wissen, dass Armut lange Zeit kein Gegenstandsbereich staatlicher Fürsorge gewesen ist, sondern dass für die Armen die jeweilige Gemeinde, die Kommune aufzukommen hatte. Das heißt, wenn jetzt die Armut steigt, wenn der Hunger wächst, dann werden die Kommunen viel restriktiver. Es wurde peinlichst darauf geachtet, dass nicht zu viele, die eben sich nicht selbst ernähren können, heiraten dürfen.
ERZÄHLERIN:
Preußen war das einzige Land des Deutschen Bundes, in dem es volle Freiheit der Eheschließung gab, obwohl auch in Berlin die Situation in den Armenvierteln katastrophal war: drängende Enge in den Wohnungen, mangelnde Hygiene, Krankheiten … Suppenküchen wurden gegründet, Wärmestuben, Sparvereine, Brotvereine: Das waren aber nur Tropfen auf den heißen Stein. Viele kehrten Deutschland den Rücken. 1844 schrieb ein Journalist:
SPRECHER:
Die Leute würden sagen, dass es ihnen gleichgültig sei, wo sie den Hungertod sterben, hier in Deutschland oder in Nord- und Südamerika.
O13 Murr 22''
Wenn man im Bereich der Antworten auf diesen Pauperismus noch mal weiter denkt, dann muss man eben auch an Massenauswanderung denken, die auch eine Rolle gespielt hat. Und das steigt bis Mitte des 19. Jahrhunderts bis auf fast eine halbe Million Menschen, die vor allem in die USA auswandern. Und das entspannt die Situation.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbesserte sich die Situation der Menschen. 1834 hatten die Staaten des Deutschen Bundes den Zollverein gegründet. Zollschranken wurden abgebaut. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde forciert, ein gemeinsames Verkehrssystem ausgebaut: ein Netz von Straßen, Wasserstraßen und vor allem von Eisenbahnlinien, jenem neuen Transportmittel, das neue Produktionsstandorte und Märkte erschloss und Massentransporte zu moderaten Preisen möglich machte. Ab den 1870er Jahren lief die Industrialisierung in Deutschland auf Hochtouren. Fabriken wurden gebaut. Industriezentren entwickelten sich. Arbeitsplätze entstanden.
Die heterogene Gruppe der frühindustriellen Armen verschwand. Das Industrieproletariat trat auf die gesellschaftliche Bühne, die Massen der Arbeiter und Arbeiterinnen, die unter rechtlich nicht geregelten Bedingungen in den Fabriken malochten. Sie wurden als einheitliche Gruppe wahrgenommen: als Arbeiterklasse, die sich zu einer politischen Bewegung formierte und zu einem neuen Machtfaktor in der internationalen Politik wurde.
Ein kleiner Junge stürzt vom Dach eines Hauses und ist sofort tot. Doch eine Naturwissenschaftlerin, die mit dem Jungen befreundet war, glaubt nicht an einen Unfall. Schriftsteller Peter Høeg. erzählt in seinem Buch nicht nur einen Umweltkrimi sondern gibt auch noch tiefe Einblicke in Themen und die Kultur der Inuit. Autorin: Mira Alexandra Schnoor (BR 2010)
Credits
Autorin dieser Folge: Mira Alexandra Schnoor
Regie: Petra Hermann-Boeck, Andreas Wutz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Christiane Roßbach, Rainer Buck
Technik: Sieglinde Hermann
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Harze sind die Wundsekrete von Pflanzen. Menschen nutzen sie auf vielfältige Weise -zum Beispiel in der Medizin, der Technik und der Malerei. Und sie stellen künstliche Harze her, etwa Klebstoffe und Lacke. (BR 2019) Autor: Hellmuth Nordwig
Credits
Autor/in dieser Folge: Hellmuth Nordwig
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Susanne Schroeder, Andreas Neumann
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Ehrentraud Bayer, Botanischer Garten, München;
Prof. Rolf Mülhaupt, Makromolekulare Chemie, Universität Freiburg;
Dr. Patrick Dietemann, Doerner-Institut München;
Dr. Johann Seibert, Apotheker, Teisendorf
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK
ATMO 1 Schritte Botanischer Garten
SPRECHER:
Der Botanische Garten in München-Nymphenburg ist schon mehr als hundert Jahre alt. Und der nordamerikanische Baum, auf den Ehrentraud Bayer zielstrebig zusteuert, hat auch schon Jahrzehnte auf dem Buckel. Die wissenschaftliche Leiterin des Gartens darf ausnahmsweise, was für Besucher streng verboten ist - sie zückt ein kleines Taschenmesser …:
O-Ton 1: Bayer
Wir stehen jetzt hier an der Balsamtanne. Die bildet das Harz direkt unter der Rinde, und dann gibt es hier zum Beispiel solche Blasen. Und wenn ich so eine Blase aufschneide ... Sehen Sie? Man sticht da rein, und dann tritt das Harz hervor. Es ist etwas mühsam, das einzusammeln. Aber es lohnt sich, Sie können mal daran riechen. Es ist absolut aromatisch, wirklich ganz toll.
SPRECHER:
Eine Träne Harz läuft die glatte Rinde hinunter. Ausgesprochen wohlriechend. Wer jetzt aber den Fehler macht, hineinzufassen, hat für lange Zeit klebrige Finger. Denn sie klebt, diese Flüssigkeit, die mal Harz, mal Terpentin genannt wird - und die mitunter auch Balsam oder Pech heißt.
Sie besteht aus einer Mischung ganz verschiedener Stoffe, die je nach Pflanzenart wiederum sehr unterschiedlich ist. Eine Gemeinsamkeit aber gibt es: In Wasser lösen sich die Harze nicht. Man kann also auch nicht einfach abwaschen, was der Baum von sich gibt, wenn er verletzt wird. Etwa, wenn wir einen Ast absägen, wenn Vögel den Stamm anbohren oder wenn Insektenlarven versuchen, im Holz Gänge zu graben. Für den Baum ist das wichtig. Ihm dient das Harz nämlich dazu …:
O-Ton 2: Bayer
… Fraßfeinde abzuwehren. Das funktioniert bei den einen besser, bei den anderen schlechter. Aber es sind Fraßfeinde. Es sind auch Pilze, die abgewehrt werden, oder Bakterien. Also dazu dient es.
SPRECHER:
Wer sich an der Rinde oder dem Holz gütlich tun will, den verklebt der Baum also kurzerhand. Mit der Zeit wird das Harz immer fester - Insekten und ihre Larven haben dann immer schlechtere Chancen, lebend wieder herauszukommen. Oft sieht man sie in Harztränen eingeschlossen. Dann hat die Pflanze den Zweikampf mit dem "Fraßfeind" gewonnen. Manchmal verliert sie ihn aber auch. Zum Beispiel ein tropischer Baum, der mit dem Weihrauchbaum verwandt ist: Bei dieser Pflanze ist das Harz auch in den Blättern - und auf diese Blätter haben es bestimmte Käferlarven abgesehen:
O-Ton 3: Bayer
Und wenn die Käferlarven unvorsichtig sind und an einer falschen Stelle das Blatt anfressen, dann schießt momentan aus dem Harzkanal, der in dem Blatt ist, offensichtlich eine beachtliche Menge an diesem Harz hervor und verklebt diese Larven. Dann gibt es aber wieder Käferlarven, die sind schlau, und die beißen in dem Blatt zuerst den Harzkanal durch, sodass der keinen Druck mehr hat und nicht mehr das Harz ausschießen kann. Das ist eine sehr interessante Entwicklung, finde ich.
SPRECHER:
Harze sind für viele Pflanzen eine wichtige Waffe in diesem Wettrüsten der Natur. Nicht nur für Bäume: Hopfen harzt aus speziellen Drüsenhaaren, beim Hanf, auch bekannt als Cannabis, scheiden die weiblichen Blüten ein Harz aus - es ist recht beliebt, weil es die Rauschdroge THC enthält. Und es gibt sogar ein Tier, das harzt: die Lackschildlaus, Lieferantin des Schelllacks, aus dem früher Schallplatten hergestellt wurden. In unseren Breiten sind aber vor allem die Nadelgehölze als Harzlieferanten bekannt: Bei Tannen steckt das Harz in der Rinde. Bei Kiefern, Fichten und Lärchen im Holz. Bei Bedarf befördern es diese Bäume über eigene Harzkanäle nach außen:
O-Ton 4: Bayer
Im Prinzip sind die Harze für die Pflanze dazu da, zum Beispiel Wunden zu verschließen. Also wenn jetzt ein Ast abgehackt wird bei so einer Fichte oder Kiefer auch, dann tritt das Harz aus, und zwar wird es dann auch zum Teil vermehrt produziert und an den Ort der Verwundung transportiert. Dann tritt das Harz aus und bildet sozusagen einen Wundverschluss. Und dadurch, dass es mit der Zeit verhärtet, ist es eigentlich eine optimale Methode.
MUSIKAKZENT
O-Ton 5: Bayer
Dass Harze eingesetzt werden, auch beim Menschen, medizinisch, das ist ja auch bei uns der Fall. Ich weiß das nur von meiner Mutter, die erzählt hat, dass ihr Großvater wiederum, wenn man irgendwie eine Verwundung hatte, ein aufgeschürftes Knie, dann kam darauf eine Paste, die aus Honig und Kiefernharz gemischt war. Und das war einfach ein Wundverschluss. Und so werden verschiedene Harze auch in verschiedenen Naturvölkern immer noch verwendet. Und wahrscheinlich ist es gar nicht das Schlechteste.
SPRECHER:
... erzählt Ehrentraud Bayer. Inzwischen sind wir im Gewächshaus des Botanischen Gartens angekommen und stehen vor dem Guajakbaum aus Südamerika. Eher ein Strauch, größer wird er bei uns nicht. Aber er hat es in sich: In seiner Heimat wäre er fast ausgerottet worden, wegen seiner angeblichen medizinischen Wirkung. "Franzosenholz" heißt der Guajakbaum auch - eine Anspielung auf die "französische Krankheit", die Syphilis. Ob sie durch das Harz des Guajakbaums wirklich behandelt werden kann, das ist aus heutiger Sicht ungewiss.
SPRECHERIN:
Heute wird Guajakharz wird in der Medizin ganz woanders verwendet, erklärt Hans Seibert, Apotheker aus Teisendorf:
O-Ton 6: Seibert
Das brauchen wir, um einen Blutnachweis im Stuhl zu führen. Denn wenn dieses Harz mit Hämoglobin zusammenkommt, zusätzlich mit Wasserstoffperoxid, ändert sich die Farbe dieses Harzes, wird eine Blaufärbung erreicht. Und damit habe ich einen Nachweis für Blutvorkommen im Faeces, im Stuhl.
SPRECHERIN:
Ein Besuch in der Markt-Apotheke der Ortschaft im Rupertiwinkel zeigt, dass die Harze in der Medizin auch sonst eine wichtige Rolle spielen.
Atmo 2 - Klappern 1-1:05
SPRECHERIN:
In kleinen Plastikdosen hat Hans Seibert verschiedene Harze vorrätig, um daraus Medikamente zu machen.
Harte Stücke, zum Beispiel Kiefern- und Fichtenharz, das er selbst gefunden hat. Und in einem Glas eine zähe Masse, die aussieht wie Honig:
O-Ton 7: Seibert
Lärchenharz, aus dem Baum heraus gewonnen, wird ja in Österreich in riesigen Lärchenwäldern produziert, indem man die Bäume anbohrt und dann dieses heraustretende Harz sammelt, Und wir können es zur Weiterverarbeitung nutzen.
SPRECHERIN:
Zum Beispiel für eine sogenannte Zugsalbe, ein traditionelles Rezept der Volksmedizin. Wenn ein Tier oder Mensch sich einen Schiefer einzieht, der nicht herauszubekommen ist, dann streichen Bauern gerne diese Salbe darauf. Das enthaltene Harz reizt die Haut. Dadurch schwillt die Stelle etwas an und der Schiefer lässt sich schließlich herausdrücken. Hans Seibert ist einer der wenigen Apotheker, die eine solche Zugsalbe noch herstellen;
wobei die Nachfrage nach dieser traditionellen Zugsalbe heute nicht mehr allzu groß ist. Ein paar Kilogramm pro Jahr stellt Hans Seibert noch her …:
O-Ton 9: Seibert
Heute greift man schon eher auf pharmazeutische Salben dann auch zurück vor allen Dingen, weil die ja auch Nachweise erbringen, Studien gemacht haben, die wir mit unserer Pechsalbe nicht machen können. Aber wir machen es halt im Rahmen der Volksmedizin und dürfen das in der Apotheke auch herstellen.
SPRECHERIN:
Sehr aromatisch riecht es hier, im Labor der Apotheke in Teisendorf. Genau wie im Botanischen Garten. Denn Harze enthalten auch Geruchsstoffe, die leicht verdunsten. Ätherische Öle sagt der Fachmann dazu. Sie lassen sich aus dem Harz gewinnen, mit Hilfe von Wasserdampf:
O-Ton 10: Seibert
Es funktioniert so: Das Harz wird in einen Behälter gegeben, der wird erhitzt. Und dieser Dampf trägt das ätherische Öl mit sich. Und wenn der abgekühlt wird, der Dampf, dann trennen sie sich wieder. Der Dampf bildet Wasser, und der Rest ist ätherisches Öl. Und ich hab mein Terpentinöl.
SPRECHERIN:
Es ist heute vor allem als Pinselreiniger bekannt. Doch auch dieses Terpentinöl haben Menschen in der Volksmedizin verwendet.
Nicht nur für entspannende Badezusätze, die es nach wie vor mit Lärchen- oder Tannennadelduft gibt. Früher gab es Terpentinöl sogar zu trinken. Angeblich sollte es gegen Magenkrankheiten helfen. Doch davon rät Hans Seibert dringend ab.
So spielt das Terpentinöl hauptsächlich in der Tiermedizin noch eine gewisse Rolle. Aber das duftende Öl ist ja nicht der einzige Anteil von Harz. Bei der Destillation bleibt nämlich auch noch ein fester Rückstand. Und der ist ganz ohne Zweifel nützlich - wenn auch für eine ganz andere Verwendung.
MUSIK (Geigenstück oder Cello)
SPRECHERIN:
Kolophonium heißt das, was vom Harz übrigbleibt, wenn man die ätherischen Öle abgetrennt hat. Es ist unerlässlich für das Spiel von Streichinstrumenten.
Die Haare des Bogens werden damit eingerieben, damit er auf der Saite zunächst haftet und dann, bei seitlichem Druck, gleichmäßig darüber gleitet. Nur dank dieses festen Anteils von Harz kann der Musiker einen sauberen Geigen-, Bratschen- oder Celloton hervorbringen.
MUSIK
SPRECHERIN:
Aber es gibt auch noch ganz andere Anwendungen für Kolophonium, die ein Technik-Fachmann parat hat: Rolf Mülhaupt. Er ist Professor für "Makromolekulare Chemie" an der Universität Freiburg. Kennt sich also aus mit großen Molekülen, aus denen eben auch die Harze bestehen:
O-Ton 12: Mülhaupt
Kolophonium und andere Naturharze haben sehr viele Anwendungen. Also, wenn Sie Lacke, Klebstoffe machen, haben Sie nicht nur eine Harzkomponente,
sondern oft zehn, 20 verschiedene Füllstoffe. Und da sind Komponenten drin, die zum Beispiel die Klebrigkeit, die Haftung erhöhen. Und da hat man dann häufig auch Naturprodukte mit im Einsatz.
SPRECHERIN:
Lacke und Klebstoffe: Das sind zwei technische Anwendungen von Harzen. Bekannt sind zum Beispiel die Epoxidharze. Sie werden in der Regel als zwei flüssige Komponenten ausgeliefert. Erst wenn man beide genau im richtigen Verhältnis zusammenbringt, wird die Mischung hart - gerade so schnell, dass man zum Beispiel eine Schramme am Auto ausbessern oder eine Lackschicht auftragen kann, wenn man sich beeilt. Epoxidharze werden im Labor hergestellt. Den Begriff Kunstharze mag Rolf Mülhaupt trotzdem nicht. Für ihn als Chemiker gibt es so etwas eigentlich nicht:
O-Ton 13: Mülhaupt
Der Name Harz und Kunststoff und Polymer und Makromolekül wird oft synonym gebraucht. Es hat also durchaus Überlappungen. Ja, man kann nicht zwischen Kunststoff und Harz unterscheiden. Das kennen Sie alles aus der Natur. Ein Baum hat auch Harze. Das waren ganz früher Harze, die irgendwo dann an Luft gehärtet wurden. Und das hat man in der Technik dann übernommen. Aber im Prinzip ist die Bedeutung gleich. Und die Trennlinie existiert nicht.
SPRECHERIN:
Darum könnte man auf den ersten Blick auch Kautschuk zu den Harzen zählen. Jene milchige Flüssigkeit, die der Kautschukbaum absondert. Auch er besteht aus großen Molekülen. Fachleute betrachten ihn dennoch nicht als Harz. Denn er wird nicht richtig hart, bleibt weich wie Gummi, den man aus ihm herstellt. Aber es gibt ja jede Menge echte Harze, die mit der Zeit hart werden und mit denen Chemiker einiges anfangen können.
In der Technik haben Harze viele Vorteile. Vor allem: Sie sind ziemlich stabil. Egal ob es heiß ist oder kalt, sie bleiben in Form. Und weder in Wasser lösen sie sich auf noch sind sie sonst leicht zu zerstören. Inzwischen ist das ein großer Nachteil für die Umwelt, in der solche Produkte kaum abgebaut werden. Aber in vielen Bereichen schätzen wir genau diese Eigenschaft von technischen Harzen.
Atmo 3 - Bohren Zahnarzt (Archiv)
Zum Beispiel beim Zahnarzt:
O-Ton 15: Mülhaupt
Was macht der Zahnarzt? Er hat ein Harz und das ist gefüllt mit Quarzmehl zum Beispiel oder anderen Füllstoffen. Und er hat eine Blaulichtlampe. Was er jetzt macht: Er füllt das in ihre Zahnlücke, belichtet das. Und da ist eine Verbindung drin, die zerfällt und dann eine Reaktion auslöst, die zum Härten von diesem Material führt, das dann fest wird und die gewünschten Eigenschaften hat.
SPRECHERIN:
Auch der Schiffbau ist ohne Harze undenkbar. Die Römer konnten halb Europa auch deswegen so schnell erobern, weil sie auf Donau und Rhein wendige Kriegsschiffe im Einsatz hatten - und weil die mit Baumpech abgedichtet waren.
Heute verwenden Bootsbauer stattdessen spezielle Epoxidharze. Dass sie leicht sind, ist ein weiterer Vorteil, der bei Flugzeugen und Autos wichtig ist. Hier werden inzwischen viele Teile aus sogenannten Verbundmaterialien hergestellt: zum Beispiel aus einem Gewebe aus Carbonfasern, das mit Harzen verklebt und in Form gebracht wird.
MUSIKAKZENT
Atmo 4 - Alte Pinakothek 10:30
SPRECHERIN:
Von den modernen Hightech-Anwendungen noch einmal weit zurück in die Vergangenheit. Auch Künstler nutzen Harze, und das war schon vor 650 Jahren so. Rogier van der Weyden zum Beispiel, einer der wichtigsten Vertreter der Altniederländischen Malerei. Seinen Columba-Altar, den er im Jahr 1455 fertiggestellt hat, kann man in der Alten Pinakothek in München bestaunen:
O-Ton 16: Dietemann
Es ist lebendig, es ist wahnsinnig detailliert. Die Gesichter sind ganz klar, Porträts teilweise. Also es ist wahnsinnig gut gemalt und es wirkt ganz frisch. Und diese Malerei ist nicht nur qualitativ natürlich supertoll, sondern als Chemiker muss ich sagen, es ist auch recht stabil.
SPRECHERIN:
Frische, lebendige Farben nach so langer Zeit - das ist erstaunlich. Auch für den Chemiker Patrick Dietemann. Er arbeitet am Doerner-Institut, einer Forschungseinrichtung der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Sein Spezialgebiet sind die Bindemittel. Also das, was den Farbstoff, der eigentlich ein festes Pulver ist, zusammenhält und daraus eine Art Paste macht, die der Maler auf den Untergrund pinseln kann. Bindemittel gibt es verschiedene: zum Beispiel eine Emulsion aus Ei und Öl bei der Tempera-Malerei. Oder eben solche, die neben Öl auch Harz enthalten. In einem Kellerraum des Instituts hat Patrick Dietemann eine ganze Sammlung davon:
O-Ton 17: Dietemann
Hier ist unsere Schatzkammer mit allen unseren gesammelten Materialien. Wir haben hier natürlich sehr viele Pigmente, und da bin ich als Bindemittelchemiker dann immer neidisch, weil das so schön bunt ist. Meine Welt ist hier die andere Seite des Raums, wo es eigentlich nur zwischen gelb, braun und schwarz variiert, aber eben sehr viele unterschiedliche Materialien da sind. Wir haben viele Harze, wir haben aber auch Teere, Peche, Öle und alles Mögliche, was in der Kunst noch so verwendet wurde.
MUSIK
SPRECHERIN:
Etwa ab dem Mittelalter haben Maler sich neben der Temperatechnik auch der Ölmalerei zugewandt. Dabei werden die Farbstoffe in bestimmten Ölen verteilt, die nach einiger Zeit erstarren, zum Beispiel Leinöl. Kocht man ein solches Öl vorher mit einem Harz auf, wird die Farbe schneller fest - nicht erst nach Tagen, sondern schon nach ein paar Stunden. Das bedeutet:
Der Maler kann rascher die nächste Schicht auftragen. Das könnte ein Grund dafür sein, dass die Ölmalerei rasch wichtig geworden ist. Auch glänzen die Farben mehr, sie erscheinen durchsichtiger, und Farbübergänge lassen sich stufenlos gestalten. Das erläutert Patrick Dietemann an Hand eines der berühmtesten Werke der Pinakothek: des "Selbstbildnisses im Pelzrock" von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1500. Frontal schaut der Künstler dem Betrachter direkt in die Augen
O-Ton 18: Dietemann
Wenn man die Haare oder eben auch den Pelz sieht, dann sind das natürlich einzelne Pinselstriche, die Haare, und das ist natürlich Absicht. Aber da im Stoff vor dem Gesicht, da sieht man eben keine abrupten Farbübergänge. Also das ist quasi wie ein Foto mit so feinen Übergängen, dass man das gar nicht sieht.
Und das wird eben erreicht über das Vermischen der Farben ineinander und über eine erhöhte Transparenz der Schichten, sodass man auch so gut durchsehen kann, dass da
eben keine harten Kontraste sichtbar werden außer da, wo es gewünscht ist künstlerisch. Und das ist typisch für diese Art von Ölmalerei.
SPRECHERIN:
Kolophonium, Mastix, Dammar, Drachenblut - welches Harz hat ein Maler verwendet? Diese Frage stellt sich spätestens, wenn ein Werk restauriert werden muss. Dann wollen die Fachleute der Original-Rezeptur möglichst nahekommen. Schriftliche Aufzeichnungen der Künstler gibt es aber nicht immer, und wenn, kann man sich darauf nicht unbedingt verlassen. Zum Beispiel wurden unter dem Begriff "Straßburger Terpentin" je nach Ort und Zeit höchst unterschiedliche Gemische verstanden - das zeigt die Sammlung historischer Bindemittel. Hier ist also das ganze Arsenal der modernen analytischen Chemie gefragt. Aber immer im Dienst der Kunst, das ist Patrick Dietemann wichtig.
MUSIKAKZENT
SPRECHER:
Zurück im Botanischen Garten in München. Im Gewächshaus hat Ehrentraud Bayer einige tropische Baumarten gezeigt, die ganz verschiedene berühmte Harze liefern:
Kopál, Weihrauch, Myrrhe, Perubalsam, und auch das Drachenblut, das Maler gerne wegen seiner rötlichen Färbung verwenden. Nun geht es noch einmal nach draußen: zu einem unscheinbaren Strauch aus der Familie der Pistaziengewächse. Im östlichen Mittelmeerraum wird er größer als hier, dort kann er richtige Bäume bilden. Sein Harz heißt Mastix, vom lateinischen Wort für kauen:
O-Ton 20: Bayer
Weil man das Harz auch als Kaugummi verwenden kann. Übrigens auch Harze von unserer Waldkiefer kann man, wenn's gerade so die richtige Konsistenz hat, also wenn's nicht zu fest ist, und auch nicht zu klebrig, sonst bleibt es immer in den Zähnen kleben, kann man das kauen. Ich habe das als Kind des Öfteren gemacht. Kaugummi und so war irgendwie nicht drin. Da hat man halt das Harz gekaut, und es schmeckt nicht schlecht. Schmeckt eben schön harzig.
SPRECHER:
Auch die Basis von richtigen Kaugummis ist ein Harz.
Das vom Mastixstrauch riecht sehr gut und wird zum Beispiel zum Ankleben von falschen Wimpern und Bärten verwendet. Außerdem ist es eines der teuersten Harze. Das liegt an der aufwändigen Gewinnung, die zum Beispiel auf der griechischen Insel Chios noch genauso passiert wie in der Antike.ü
O-Ton 21: Bayer
Der Baum wird angeritzt, und unten drunter werden entweder Blätter aufgelegt oder Platten aufgelegt, oder Kalk wird zum Teil gestreut, und da sammelt man das. Das Harz tritt dann in kleinen Tröpfchen aus, und dieses Harz muss man dann einsammeln mühsam. Ich glaube, ein Kilogramm hat 85 Euro gekostet von diesem Harz früher. Um ein Kilogramm von diesem Mastixharz zu gewinnen, muss man zehn große Bäume anritzen und das Harz mühsam Tröpfchen für Tröpfchen aufsammeln. Also kein Wunder, dass das so teuer ist.
SPRECHER:
Und wenn sich die Harzsammler die Finger verkleben, können sie mit Wasser und Seife nicht viel ausrichten. Aber die Griechen haben da einen Geheimtipp, wie man die klebrige Masse doch wegbekommt. Harze sind nämlich fettlöslich. Man muss die Stelle also einölen, zum Beispiel Olivenöl eine Weile einwirken lassen - und dann mit einem Tuch abwischen. Wahrscheinlich ist auch das ein Rezept aus der Antike. Denn mit Harzen haben Menschen schon lange Erfahrung, da ist sich Ehrentraud Bayer sicher:
O-Ton 22: Bayer
Es ist halt so, dass es nicht in allen Pflanzenfamilien auftritt, aber doch in diversen Pflanzenfamilien, und der Mensch es immer schon irgendwie genutzt hat. Entweder als Klebstoff oder um zum Beispiel auch Schiffe wasserfest zu machen. Oder er hat's halt medizinisch genutzt als Pflaster, oder er hat's eben zu Räucherungen verwendet, um böse Geister auszutreiben oder um unbewusst vielleicht auch die Luft etwas zu verbessern. Also das Harz begleitet die Menschheit schon sehr lange.
Viele Berufstätige machen die eigenen vier Wände zum Büro; ersetzen persönliche Kontakte durch virtuelle Meetings. Aber sorgt das für selbstbestimmtes Arbeiten? Oder isoliert es uns und macht uns krank und unzufrieden? Autor: Martin Schramm
Credits
Autor/in dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Rahel Comtesse, Johannes Hitzelberger
Technik: Robin Auld
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Bettina Kubicek, Arbeits- und Organisationspsychologie, Uni Graz;
Martin Zeschke, Arbeits- und Organisationspsychologie, TU Chemnitz;
Prof. Michael Kastner, Arbeitspsychologe und Arbeitsmediziner
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ZUM PODCAST
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK „Radar“; ZEIT: 01:07
SPRECHER
„Homeoffice sorgt für ungestörtes, konzentriertes Arbeiten...“
SPRECHERIN
„Homeoffice führt zu Überlastung und macht einsam...“
SPRECHER
„Dank Homeoffice lassen sich Job und Familie besser vereinbaren...“
SPRECHERIN
„Homeoffice führt zur Selbstausbeutung und Stress durch Dauer-Erreichbarkeit...“
SPRECHER
Im Homeoffice zu arbeiten, die eigenen vier Wände zum Büro zu machen, persönliche Kontakte durch virtuelle Meetings, Chats und Emails zu ersetzen, kann offenbar vieles bewirken: Es kann uns entlasten und für Wohlbefinden sorgen.
SPRECHERIN
…. aber auch belasten, isolieren und krank machen.
SPRECHER
Vor allem während der Corona - Pandemie fielen die Bilanzen in Sachen Homeoffice recht durchwachsen aus.
SPRECHERIN
Arbeitspsychologen wie Martin Zeschke warnen allerdings vor voreiligen Schlüssen:
MUSIK ENDE
01-O-TON Zeschke Pandemie und heute
„Also Homeoffice heute ist was anderes als Homeoffice zu Beginn der Pandemie. Zu Beginn der Pandemie wurden die Beschäftigten und die Führungskräfte gezwungen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, und die meisten mussten fünf Tage die Woche von zuhause aus arbeiten. Freiwillig und unfreiwillig war eigentlich egal. Es gab Verordnungen, die kamen nicht von den Unternehmen oder den Organisationen, sondern die kamen vom Staat. Und dann hatten sich da alle daran zu halten. Und Organisationen, die das nicht wollten, die hatten es sehr schwer.“
SPRECHER
Vieles von dem, was Menschen während der Pandemie im Homeoffice erlebt haben, hatte außerdem nichts mit dem Homeoffice selbst zu tun.
SPRECHERIN
Es war vielmehr der Ausnahmesituation in der Pandemie geschuldet: Wir konnten unsere Freunde, Verwandte und Bekannte nicht mehr treffen. Hatten krasse Zusatzbelastungen, weil Kinder parallel zuhause versorgt werden mussten, weil Kitas und Schulen geschlossen waren usw.
SPRECHER
Homeoffice war also keine Abwechslung mehr zum Arbeiten im Büro, es wurde vielmehr zur „Zwangsveranstaltung“:
02-O-TON Zeschke Zwang
„Ein gezwungenes „Ich-muss-von-Zuhause-aus-arbeiten“, teilweise mit einer technischen Ausstattung oder mit einer völlig inadäquaten, ergonomischen Ausstattung, die dazu führt, dass ich körperlich und psychisch mich schlechter fühle als vorher, das heißt, wenn ich dazu gezwungen bin, an fünf Tagen die Woche in der Küche zu arbeiten, wo ich vielleicht an einem kleinen Tisch gemeinsam mit meinen zwei Kindern mich irgendwie dran quetsche, weil mir sonst die Möglichkeiten fehlen, brauche ich mich nicht wundern, dass es mir dann nicht besser geht, als wenn ich ins Büro gehen dürfte, während meine Kinder im Kindergarten oder in der Schule sind.“
SPRECHERIN
Ganz anders in Zeiten ohne Pandemie. Hier beobachten Arbeitspsychologen durchaus positive Effekte:
SPRECHER
Menschen, die freiwillig ein bis zwei Tage von zuhause aus arbeiten, haben beispielsweise häufig weniger Krankheitstage, sind leistungsfähiger, zeigen subjektiv höheres Wohlbefinden - und berichten davon, Familie und Beruf besser unter einen Hut zu bringen:
03-O-TON Zeschke Nachpandemisch
„Wenn ich zum Beispiel eine Fahrt von über 45 Minuten ins Büro habe, mit Zug oder mit Auto im Fernverkehr oder im Stau stehe und so weiter, dann fällt das weg. Und dann ist es natürlich positiv. Wenn ich im Homeoffice arbeite, dass ich mir diesen Stress nicht antun muss, dann sind es teilweise zwei Stunden am Tag, die ich für andere Sachen verwenden kann. - Wenn allerdings mein Fahrradweg zur Arbeit wegfällt, der mich jeden Morgen und jeden Abend eine halbe Stunde aktiviert, und stattdessen bleibe ich zu Hause und mache gar nichts, sondern falle aus dem Bett an den Schreibtisch. Dann ist es wieder etwas negatives. Das heißt, hier kommt es, klassische Psychologen-Antwort, ganz klar darauf an was mach ich draus? Wie gestalte ich das? - Und da gibt es nicht die eine Antwort.“
MUSIK privat Take 009 „Dusty Rain“; Album: The Mind of Tesla; Label: B00P4D49MS – CD Baby; Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino: ZEIT: 00:34
SPRECHER
Natürlich lässt sich nicht jeder Job im Homeoffice erledigen: Dachdecker und Maschinenbauer, Pflegepersonal und Kassenkräfte - eher schwierig.
SPRECHERIN
Versicherungsangestellte und Banker - Designer, Architekten und Journalisten - schon eher.
SPRECHER
Doch Routinen konzentriert abzuarbeiten ist das eine. Wie aber sieht es aus, wenn es darum geht innovative Lösungen im Team zu entwickeln?
MUSIK ENDE
04-O-TON Zeschke Kreativität
„Was wichtig ist, ist, dass es verschiedene Studien gibt, die sich angeschaut haben, dass Menschen, die in Präsenz miteinander zusammenarbeiten, zum Beispiel deutlich kreativer sind. Wenn es um Kreativität geht, neue Ideen zu generieren oder auch zügig miteinander zu kommunizieren, Ideen hin und her zu werfen und sofort auf das zu reagieren, was die anderen sagen, dann haben wir eigentlich ein einheitliches Studienbild was da sagt: Trefft euch in Person!
SPRECHER
Denn produktive, kreative Zusammenarbeit setzt Vertrauen voraus. - Egal ob im Büro oder im Homeoffice.
SPRECHERIN
Aufbauen lässt sich Vertrauen aber meist nur im direkten Kontakt - nicht über digitale Medien.
MUSIK C1546820 101 „Radar“; ZEIT: 01:17
SPRECHER
Klar sind Videokonferenzen praktisch: Sie bringen im Extremfall Mitarbeitende verstreut über den ganzen Erdball an einen gemeinsamen, virtuellen Tisch - und machen so Konferenzen möglich, die aus rein organisatorischen Gründen sonst nicht oder nur sehr schwer stattfinden würden.
SPRECHERIN
Doch wer sich über digitale Medien austauscht, egal ob per Email, Chat oder via Headset und Videokamera - kommuniziert durch eine Art „Filter“. Entscheidende Informationen gehen verloren - selbst bei Videocalls.
SPRECHER
Ich sehe die anderen zwar - aber eben nur ausschnittsweise - vielleicht nur ihre Gesichter - nicht aber ihre Körperhaltung.
SPRECHERIN
Die gezückte Augenbraue, der minimal nach unten gezogene Mundwinkel - auf Spielkarten-großen Kacheln auf dem Bildschirm geht all das schnell unter.
SPRECHER
Ich höre zwar Stimmen - aber eben oft technisch verzerrt - mal mehr, mal weniger verständlich. Und kann so oft keine feinen Nuancen und Schwankungen wahrnehmen, die aber bedeutsam sein können.
SPRECHERIN
Und ich kann mein Gegenüber nicht anfassen, nicht riechen, eben nicht mit allen Sinnen wahrnehmen.
05-O-TON Zeschke Überforderung
“Und selbst wenn ich einen Videocall habe, gibt es ja trotzdem Beschäftigte, die dann die Kamera ausstellen. Und dann kann ich die auch nicht sehen. Und oftmals ist ja auch das Zusammenspiel zwischen dem, was gesagt wird und wie es gesagt wird extrem entscheidend. (Wenn mir jemand schreibt ich kann die Aufgabe gern übernehmen, dann kann das heißen nee, eigentlich übernimmt die Aufgabe. Übernimmt die Person diese Aufgabe gerade überhaupt nicht gerne. Aber im Chat kommt es dann vielleicht nicht rüber, weil ich lese nur das, was da tatsächlich drinsteht.) Und das ist, glaube ich, auch für viele Führungskräfte ein Problem. Wenn Beschäftigte nicht proaktiv kommunizieren und sagen ich bin gerade überfordert, dann haben sie das früher vielleicht gesehen, weil die Person in ihrem Büro saß und auch überfordert aussah. Aber im Homeoffice kann ich das natürlich besser verstecken.“
SPRECHERIN
Sprich: All das, was wir ansonsten im Büro in der Firma sehen und beobachten, fällt beim mobilen Arbeiten zuhause weg.
SPRECHER
Wer komplett ins Home-Office abtaucht, fast nur noch virtuell kommuniziert, kappt also eine entscheidende Ader zur Außenwelt, erläutert die Arbeits- und Organisationspsychologin Bettina Kubicek:
06-TON Kubitschek Beobachtung!
„Wir wissen aus Studien, dass Wissensaustausch vor allem mit Personen stattfindet, die uns körperlich physisch nahe sind. Das heißt mit der Kollegin, die neben mir sitzt, weil ich schnell eine Rückfrage stellen kann, weil sie vielleicht auch sieht, wie ich eine Aufgabe erledige. Sozusagen die Wissensvermittlung oder Wissensweitergabe erfolgt nicht immer nur explizit verbal, sondern zum Teil auch implizit über Beobachtung. Und das ist im Homeoffice und bei virtueller Kommunikation erschwert, beziehungsweise scheinen wir so eine Tendenz zu haben, unser Wissen lieber mit Personen teilen zu wollen, die uns auch physisch nahe sind. Und das ist dann im Homeoffice ebenfalls erschwert.“
SPRECHERIN
Doch all das sind natürlich keine Argumente gegen Homeoffice an sich, gegen digitale Medien an sich. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, ein Gespür, ein kritisches Bewusstsein dafür zu entwickeln, wann welches Medium, und wann Präsenz angemessen ist.
SPRECHER
Da gibt es u.a. den schönen Spruch „Dieses Meeting hätte eine E-Mail sein können.“ Sprich: Eine E-Mail, die völlig ausreicht, sollte eben auch eine E-Mail bleiben - und nicht zu einem Präsenz-Meeting aufgeblasen werden, bei dem Mitarbeitende dann das Gefühl bekommen, ihre Zeit zu verschwenden.
MUSIK C151496 003 „The splendour“; ZEIT: 0:15
SPRECHERIN
Wann schreibe ich eine E-Mail? Wann reicht eine Nachricht im Chat? Wann sollte ich jemanden anrufen?
SPRECHER
Wann ist eine Videokonferenz sinnvoll - und wann sollte es eben wirklich ein Präsenz-Meeting sein?
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Als Faustformel gilt: Je sachlicher und unkritischer eine Botschaft ist, desto reduzierter und weniger „reichhaltig “ kann der gewählte Kanal sein.
SPRECHER
Geht es um persönliche, kritische oder eben auch bedeutsame Nachrichten, ist hingegen ein „reichhaltiges“ Medium angebracht. - Martin Zeschke:
07-O-TON Zeschke
„Was will ich denn mit einem Lob beispielsweise bezwecken? Will ich es einfach nur gesagt haben, dann reicht es, wenn ich das in den Firmen-Chat schreibe. Wenn ich allerdings ein Meeting einberufe und sage: Hey, wir haben heute etwas zu feiern. Hier gibt es ein neues Projekt, was wir an Land gezogen haben, und diese beiden Personen, die hier neben mir stehen, die haben das bewirkt, und ich möchte jetzt eine große Runde Applaus. Und jetzt kriegt ihr dann noch einen alkoholfreien Sekt und Orangensaft. Und das macht natürlich was damit. Das heißt, ich sollte mir Gedanken darüber machen: Nicht nur was will ich kommunizieren, sondern auch wie will ich's kommunizieren?“
MUSIK privat Take 009 „Dusty Rain“; Album: The Mind of Tesla; Label: B00P4D49MS – CD Baby; Interpret: Kim Merlino; Komponist: Kim Merlino: ZEIT: 01:09
SPRECHERIN
Wenn Mitarbeiter nur noch im Homeoffice sitzen, geht meist eine weitere ganz entscheidende Zutat für ein erfolgreiches Unternehmen verloren: „informelle Kommunikation.“
SPRECHER
Zufällige Begegnungen als „Geburtshelfer“ für neue Ideen, für „soziale Lösungen“.
SPRECHERIN
Der spontane Plausch vor der Kaffeemaschine oder in der Teeküche, - ein reger Umschlagplatz für den neusten Tritsch und Tratsch.
SPRECHER
Zuhause im Homeoffice fehlt meist die Antenne, um diesen „betrieblichen Flurfunk“ zu empfangen.
SPRECHERIN
Geht dieser informelle Austausch aber verloren, geht auch der „sozialer Kitt“ eines Unternehmens verloren, - und damit der Zusammenhalt eines Teams: das soziale Klima leidet.
SPRECHER
Und noch etwas geht verloren: kleine, gemeinsame Regelbrüche, also verschwörerische Verstöße gegen die Regeln einer Organisation, die sich dem Kontrollblick der Vorgesetzten entziehen.
SPRECHERIN
Brüche, die in der Praxis dem Unternehmen nicht schaden - sondern, ganz im Gegenteil, dessen Existenz sichern.
MUSIK ENDE
08-O-TON Zeschke Regelnverletzen
“Es gibt die schöne Beobachtung oder die schöne Theorie, dass wenn alle Beschäftigten Dienst nach Vorschrift machen würden, dass jede Organisation zusammenbricht, weil Arbeit eigentlich nur funktioniert, indem Personen ihren gesunden Menschenverstand verwenden, der oftmals eben gegen Vorschriften verstößt. Im Homeoffice fällt es schwerer. Im Homeoffice haben wir einen größeren Grad an Formalität. Zum Beispiel eben die Videocalls, die deutlich zielgerichteter sind, sehr sachorientierter und eben weniger informell.“
SPRECHERIN
Videocalls sind daher denkbar ungeeignet für „Regelbrüche“. Dafür braucht es geschützte informelle Freiräume, eben z.B. Teeküchen und Kantinen mit entsprechendem Flurfunk.
SPRECHER
Dort sorgt auch gemeinsames „Auskotzen“ und „Ablästern“ für Druckausgleich - und schweißt Teams ungemein zusammen.
09-O-TON Zeschke Auskotzen
„Beim sich Auskotzen kommt es darauf an, was der Inhalt des Auskotzens ist. Also es gibt das sogenannte Venting Behaviour, also, dass ich einfach mal alles rauslasse, was mich gerade beschäftigt. Das werde ich nicht im Firmenchat machen, wo alle mitlesen können. Die Online-Kommunikation fördert eine gewisse Seite von uns, die eben ein professionelles Gesicht wahrt. Das heißt, dieses Auskotzen fällt relativ stark weg, und auch Konflikte werden selten offener ausgetragen, als das zum Beispiel in einem Meeting wäre, wo ich weiß, das wird jetzt auch nicht alles mitgeschrieben, was ich hier sage und es ist nicht für die Nachwelt oder für einen Screenshot verfügbar, sondern das ist mündlich geäußert in einem definierten Rahmen, in dem eine gewisse Anzahl an Personen ist, wo ich vielleicht auch eher mal sagen kann: Boah, das geht mir gerade gegen den Strich. Ich mache da nicht mit. Folgende Meinung habe ich dazu.“
SPRECHERIN
Es wurden auch bereits Versuche unternommen, solche informellen Freiräume ersatzweise rein virtuell bereitzustellen, um „unbeobachtete Momente“ zu ermöglichen.
SPRECHER
Also die „geschlossene Tür“ oder den „Tratsch in der Teeküche“ beispielsweise durch ein virtuelles Meeting zu ersetzen, in dem sich dann alle Beteiligten ganz „spontan“ vor einem „virtuellen Wasserspender“ versammeln und austauschen.
SPRECHERIN
In der Praxis haben sich derartige Angebote nicht wirklich bewährt:
SPRECHER
Spontanität lässt sich eben nicht einfach „herstellen“ bzw. „verordnen.“
MUSIK C151496 003 „The splendour“; ZEIT: 00:17
SPRECHERIN
Wenn das Büro ins Zuhause wandert, verzeichnen Stressforscher wie Michael Kastner einen durchgängigen Effekt: die sogenannte „Entgrenzung.“ Und damit letztlich die Herausforderung, Privates und Berufliches klar zu trennen:
MUSIK ENDE
10-O-TON Kastner Entgrenzung
„Früher hatten wir die Arbeitsbereiche Privates und Zuhause voneinander abgegrenzt. Wir hatten zum Beispiel feste Arbeitszeiten von acht bis fünf oder so. Und dann ging ich nach Hause. Und dann war ich eben zu Hause und habe mich nicht mehr um den Job gekümmert. Hier geht das alles durcheinander. Man hat zwar die höhere Flexibilität, aber es entsteht ein stärkerer Wechsel zwischen Privat und Arbeit. Und es scheint auch ein Befund durchgängig zu sein, dass oft die Leute ein schlechtes Gewissen haben. Ich habe mich jetzt heute so und so oft ablenken lassen. Und dann kann ich nicht mehr abends in Ruhe noch ein Fernsehstück angucken oder so, sondern setze mich dann doch noch einmal dran“.
SPRECHER
Sprich: Gerade für sehr engagierte Arbeitnehmer ist es oft eine Herausforderung im Homeoffice noch klar zu trennen: Hier Job - dort Privatleben. Die Grenzen lösen sich auf.
SPRECHERIN
Vor allem wenn Arbeitnehmer dann noch das Gefühl haben, permanent erreichbar sein zu müssen - bzw. sich selbst unter Druck setzen:
SPRECHER
Also schon am Frühstückstisch den Laptop aufklappen und Mails schreiben, sich keine klaren Ruhepausen gönnen, und notfalls auch kurz vor Mitternacht noch aufgelaufene Anfragen abarbeiten - um zu zeigen: „Ich bin da!“ - Martin Zeschke:
11-O-TON Zeschke „interessierte Selbstgefährdung“
„Das liegt daran, dass das Homeoffice immer noch diesen Ruch hat, zur Faulheit zur verführen. Und dass die Menschen ja nicht arbeiten, die von Zuhause aus arbeiten. Dass dem nicht so ist, prinzipiell, wissen wir jetzt aus den Studien. Gleichzeitig haben die Beschäftigten im Homeoffice eine höhere Erreichbarkeits-Erwartung. Also sie gehen subjektiv davon aus, dass sie schneller auf Anrufe reagieren müssen, schneller auf E-Mails reagieren müssen, weil sonst die Kolleginnen und Kollegen oder die Führungskraft denkt: der oder die Person sitzt auf der faulen Haut.“
SPRECHERIN
Und dann fängt die Führungskraft womöglich an, ihr Personal aus der Ferne zu überwachen. Sichtet beispielsweise Spuren, die Mitarbeitende in Dokumenten hinterlassen -
SPRECHER
- verletzt so aber nicht nur schnell Datenschutzbestimmungen, sondern setzt auch einen fatalen Kreislauf in Gang:
12-O-TON Zeschke Kreislauf
„Wenn ich das Gefühl habe, eine beschäftigte Person zieht sich zurück, und ich reagiere mit Überwachung. Dann wird es dazu führen, dass die Person sich überwacht fühlt, dass sie kein Vertrauen empfindet und es ist sich erst recht zurückzieht. Warum sollte ich noch Personen vertrauen, die mich überwacht? Und dann wird es dazu führen, dass die Organisation natürlich die selbsterfüllende Prophezeiung hat. Ah ja, ich wusste es. Doch die Person zieht sich zurück, die arbeitet nicht. Jetzt überwache ich noch mehr. Und dann kann ich eigentlich die Uhr danach stellen, dass diese Person irgendwann kündigen wird oder zumindest nur noch Dienst nach Vorschrift macht.“
SPRECHERIN
Statt eine „Mißtrauenskultur“ zu befördern, wären klare Absprachen und Transparenz in Sachen Erreichbarkeit gefragt.
SPRECHER
Und qualifiziertes Führungspersonal, das beispielsweise auf „Empowering Leadership“ setzt:
13-O-TON Zeschke Ziel statt Weg
„Was wichtig ist zu beachten im Homeoffice ist, dass man nicht den Weg kontrolliert, sondern das Ziel. Das braucht eine andere Führung als die Arbeit im Büro. Das heißt, ich befähige meine Beschäftigten dazu, die Ziele, die sie gesetzt haben oder die Organisation gesetzt haben oder die alle gemeinsam gesetzt haben, zu erreichen, indem ich ihnen die Fähigkeiten gebe oder sie frage, was sie brauchen, um diese Ziele zu erreichen. Und dann lasse ich Ihnen die Freiheit dazu. Also ich habe ja als Organisation diese Menschen angestellt, weil sie diese Tätigkeit ausführen können. Ich weiß, dass meine Beschäftigten das können. Also sollte ich sie dazu befähigen und nicht permanent dahinterstehen.“
MUSIK C1546820 101 „Radar“; ZEIT: 00:29
SPRECHERIN
Arbeiten im Homeoffice steckt also voller Chancen - aber auch voller Fallstricke.
SPRECHER
Es kann uns Freiheiten ermöglichen und entlasten - und uns doch zugleich belasten.
SPRECHERIN
Es kann ermöglichen, Beruf und Privatleben besser auszutarieren - und gleichzeitig Konflikte anheizen.
SPRECHER
Für den Arbeitspsychologen Michael Kastner steht daher fest: die Mischung macht's.
MUSIK ENDE
14-O-TON Kastner Balance
„Es gilt, eine vernünftige Balance zu finden zwischen Face-to-Face-Kommunikation, wo man wirklich von Angesicht zu Angesicht gegenüber steht oder sitzt. Und dann eben Screen-to-Screen Kommunikation. Da muss man halt je nach Job, je nach Situation, je nach Organisation eine vernünftige Balance finden, die dann eben reicht von kompletter Zeit in der Firma bis zu kompletter Zeit zu Hause über verschiedene Mischungsverhältnisse. Wobei wir sagen im Schnitt nach unseren Erfahrungen, wir sind damit vielen Organisationen zu Gange, scheint sich so ganz gut herauszustellen, so zwei Tage zu Hause und drei Tage doch in der Firma.“
MUSIK C1546820 101 „Radar“; ZEIT: 01:06
SPRECHERIN
Dabei will beides gut gestaltet sein: das Arbeiten im Homeoffice, aber auch die Rückkehr ins Büro.
SPRECHER
Denn am Ende geht es um weit mehr, also nur um die Frage, ob Menschen zuhause oder in der Firma arbeiten.
SPRECHERIN
Es geht darum, ob es Unternehmen, Führungskräften und Teams gelingt eine Arbeitswelt zu gestalten, in der wir von den Vorteilen digitaler Medien profitieren - zugleich aber auch das „soziale Rauschen“ des Flurfunks kultivieren.
SPRECHER
Eine Arbeitswelt, in der Mitarbeitende nicht zu Befehlsempfängern degradiert werden, sondern die sie selbst mitgestalten, - weil Chefs ihnen vertrauen und sie wertschätzen.
SPRECHERIN
Eine Welt, in der Platz für Spontanes und Kreatives bleibt - und in der Mitarbeitende auch Freiräume haben, vorausschauend, verantwortungsbewusst Regeln zu brechen - weil davon am Ende alle profitieren können.
MUSIK ENDE
Die Jagd nach unbekannten Pflanzen und Tieren war ihre Leidenschaft. In Europa und Australien sammelte und konservierte die Naturforscherin Amalie Dietrich zahllose für die Wissenschaft neue Arten. Auf Verlangen ihres Auftraggebers sendete sie sogar Schädel und Skelette der australischen Eingeborenen nach Deutschland. Autorin: Claudia Heissenberg (BR 2022)
Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Heissenberg
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Frank Manhold
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Birgit Scheps-Bretschneider, Kustodin am Grassi-Museum in Leipzig;
Renate Hücking, Sachbuchautorin
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ATMO 1 + 2:
Federkiel auf Papier und Urwaldgeräusche
ZITATORIN:
Meine liebe Charitas (sprich: Caritas). Mit einem wahrhaft feierlichen Gefühl rüstete ich mich für meine erste Sammeltour im neuen Erdteil. Neu ist ja alles, und eine Fülle von Material wächst einem hier entgegen, dass man geradezu in Verlegenheit gerät, wo man zuerst zugreifen soll. Mir wird manchmal ganz Angst, wenn ich mich zwischen üppigen Schlingpflanzen, Farnen und Gesträuch hindurch arbeiten muss. Große Orchideen hängen an fast unsichtbaren Fäden von den Bäumen herunter, sie sind so wunderbar geformt, sie haben so schöne Farben und sehen mich so geheimnisvoll an, dass meine Hand sie nur mit einer gewissen Scheu pflückt, als seien es lebendige Wesen, die mir Vorwürfe machen, dass ich ihr ruhiges Dasein störe.
MUSIK : Z9318366102 Snake 1‘21
ERZÄHLERIN:
Auf der Suche nach lohnenswerten Neuentdeckungen durchstreifte Amalie Dietrich zu Fuß und unter großen Strapazen halb Europa und Australien, das damals noch Neuholland hieß. Mehr als 50 Tier- und Pflanzenarten tragen ihren Namen: Zum Beispiel die Alge Sargassum Amaliae, der Sonnentau Drosera dietrichiana oder die Wespe Odynerus Dietrichianus. Dabei hat Amalie Dietrich nie studiert und war in Botanik und Zoologie eine Autodidaktin. Und die einzige Frau, die Mitte des 19. Jahrhunderts als Naturforscherin zu Ruhm und Ehren kam – und nahezu in Vergessenheit geriet. Doch ihre unermüdliche Sammelleidenschaft hatte auch eine dunkle Seite.
O-TON 1: (Birgit Scheps-Bretschneider)
Die Amalie-Dietrich-Sammlung enthielt also auch ursprünglich acht Skelette und natürlich stellte sich auch da die Frage, wie ist sie dazu gekommen, warum war das so? Als Frau natürlich, das hat dann nochmal so einen besonderen Beigeschmack.
ERZÄHLERIN:
Dr. Birgit Scheps-Bretschneider betreut im Grassi Museum für Völkerkunde in Leipzig die Abteilung Ozeanien. Mit Amalie Dietrich beschäftigt sich die Kustodin seit 1978. Sie kennt ihre Sammlungen, ihre Reisen und alle Facetten ihres ungewöhnlichen Lebens.
Musik: Dream time 0‘54
Auch den kurzen Absatz, den der englische Anthropologe Henry Ling Roth in einem Buch über „Die Entdeckung und Besiedelung von Port Mackay, Queensland“ geschrieben hat.
ZITATOR:
„Das berühmte Hamburger Godeffroy Museum hatte in der Jahren 1863 bis 1873 eine Sammlerin an der Küste, die diverse vergebliche Versuche unternahm, einheimische Siedler zu überreden, einen Aborigine zu erschießen, damit sie das Skelett nach Hamburg schicken kann.“
ERZÄHLERIN:
Henry Ling Roth kam zwar erst fünf Jahre nach Amalie Dietrichs Abreise nach Australien und sein Buch erschien sogar fast vier Jahrzehnte nach den geschilderten Ereignissen, aber die Legende, dass die deutsche Naturforscherin über Leichen ging, war damit in der Welt.
O-TON 2:
Diese Geschichte ist einfach so grauselig, dass man sie also immer wieder auch gern kolportiert, aber auf der anderen Seite denke ich, wenn man historische Persönlichkeiten betrachtet, muss man immer auch ganzheitlich schauen, auf die Zeit und die Umstände, die die Menschen dazu gebracht haben, bestimmte Dinge zu tun, Dinge, die wir heute verurteilen und die wir nicht gutheißen, die aber unter Umständen in der Zeit üblich waren und auch nicht als schlimm empfunden wurden, und ich denke, wichtig ist auch immer, die Auftraggeber zu beschreiben. Die Menschen dazu gebracht haben, eben woanders Tote zu sammeln zum Beispiel.
Musik: Drei Fantasiestücke für Klavier
ERZÄHLERIN:
Es war der reiche Hamburger Reeder Johan Cesar Godeffroy, der Amalie Dietrich beauftragte, die Flora und Fauna im australischen Queensland zu erkunden und Exponate für sein Privatmuseum zu sammeln, das er mit Tieren, Pflanzen, Waffen und Gebrauchsgegenständen aus aller Welt bestücken wollte. Für die damals 42 Jahre alte Naturforscherin, die aus einfachen Verhältnissen stammt, geht damit ein Lebenstraum in Erfüllung. Sie beginnt direkt, eifrig Englisch zu lernen und nimmt Schießunterricht, um für die abenteuerliche Reise ans andere Ende der Welt gewappnet zu sein. Im Museum wird sie in Präparationstechniken unterwiesen.
ATMO 3: Ozean (Wellenschlag), Möwen
ERZÄHLERIN:
Am 17.Mai 1863 verlässt Amalie Dietrich als einzige Passagierin der ersten Klasse auf dem Segelschiff „La Rochelle“ den Hamburger Hafen. Im Gepäck hat sie Lupe, Mikroskop, 2 Kisten Gift, 100 Gläser mit Stöpseln, Insektennadeln, Spiritus und Seidenpapier, dazu ein englisches Wörterbuch sowie die wichtigsten Werke zur Pflanzenkunde. In den kommenden zehn Jahren sammelt sie mehr als 20.000 Pflanzenarten, außerdem Insekten, Vögel, Fische, Säugetiere – darunter zahllose für die Wissenschaft neue Arten. Auch das erste Exemplar der giftigen Taipan-Schlange findet sich in den Kisten, die sie nach Deutschland schickt. Es ist die größte Sammlung, die jemals eine Einzelperson zusammen trägt.
O-TON 3: (Renate Hücking)
Sie hat Massen an Flora und Fauna nach Hamburg gebracht. Ihre Sammlungen, die hier im Museum waren, waren Forschungsgegenstände und keiner, der was über die australische Flora und Fauna schreiben wollte, kam an diesen Sammlungen vorbei, aber man hat sich nie wissenschaftlich mit ihr als Forscherin, als Naturkundlerin auseinander gesetzt und das, denke ich, hat was damit zu tun, dass sie eben Frau war, und dass sie Autodidaktin war und dass man sie nicht ernst genommen hat als Wissenschaftlerin.
ERZÄHLERIN:
Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, die regelmäßig Berichte über ihre Forschungsreisen veröffentlichten, sei Amalie Dietrich immer eine reine Sammlerin geblieben, sagt Renate Hücking, die der Naturkundlerin in ihrem Buch „Pflanzenjäger“ ein Kapitel gewidmet hat. So lassen sich Fiktion und Fakten im Leben der Amalie Dietrich, die zwar Unmengen an Material, aber nichts Schriftliches hinterließ, nur schwer unterscheiden.
O-TON 4: (Hücking)
Sie wäre wirklich eine Fußnote in der Geschichte der Naturwissenschaft oder der Naturkunde geblieben, wenn nicht ihre Tochter ein unheimlich populäres Buch über sie geschrieben hätte: Amalie Dietrich - ein Leben, ist 1909 erschienen und es ist meiner Meinung nach eine sehr gelungene Mischung aus Dichtung und Wahrheit, also das ist alles mit Vorsicht zu genießen, es gibt ein paar Originalgeschichten, das sind Briefe, die ihr Auftraggeber an sie nach Australien geschickt hat, also sie war tatsächlich da, also das ist alles verbürgt, ....ansonsten ist die Quellenlage ziemlich dünn.
ATMO 1: (Feder auf Papier)
ZITATOR:
Hamburg, 3. Januar 1864. Frau Amalie Dietrich. Sie schrieben uns, dass Sie schon tüchtig sammeln, darüber freuen wir uns. Über das Sammeln der Schmetterlinge möchten wir bemerken, dass Sie dieselben in Tüten schicken können. Selbst die größten Nachtfalter, wenn Sie ihnen die Flügel zusammenklappen, können Sie ruhig in dieser Weise absenden.
MUSIK: Frühling red. 1‘12
ERZÄHLERIN:
Dass Amalie Dietrich eines Tages die Natur im fernen Australien erforschen würde, war ihr nicht in die Wiege gelegt. Geboren wird sie am 26. Mai 1821 als Concordia Amalie Nelle im sächsischen Städtchen Siebenlehn. Der Vater ist Beutler von Beruf. Er stellt, wie der Name schon sagt, Beutel her: Taschen, Geldbörsen, Bälle und andere Dinge aus Leder, die die Familie auf Märkten in der Umgebung verkauft. Die Schule besucht Amalie nur vier Jahre lang, lernt aber fleißig und liest wissbegierig alles, was sie in die Finger bekommt. Schon bald lästern die Leute, sie rede wie ein Buch. Und schütteln verständnislos den Kopf, als sie erfahren, dass die arme Handwerkertochter den Heiratsantrag eines reichen Mehlhändlers abgelehnt hat. Doch Amalie und ihre beste Freundin haben sich geschworen, dass sie „niemals heiraten, es sei denn, es käme einer, der hoch über ihnen stände.“ Diesen Mann trifft die 24-jährige an einem schönen Herbsttag im Wald, in dem sie mit der Mutter Pilze sammelt.
O-TON 5: (Hücking)
Wilhelm Dietrich, ein Naturkundler, der ihr einfach das Einmaleins der Botanik beigebracht hat, mit dem ist sie durch die Wälder gezogen, mit dem hat sie gelernt, Pflanzen zu unterscheiden, an welchen Merkmalen unterscheidet man Pflanzen, von dem hat sie gelernt, wie pflege ich das, was ich da abpflücke, wie presse ich das, und wie behandele ich es, dass es nicht schimmelig wird. Also von ihm hat sie ungeheuer viel gelernt
Musik: Organic fractures 0‘36
ERZÄHLERIN:
Amalie, die sich laut ihrer Tochter Charitas direkt in den Mann mit dem vornehmen Gesicht und den klugen blauen Augen verliebt, setzt gegen den Willen der Eltern die Hochzeit durch. Die Aussteuer verwendet das junge Ehepaar für die Einrichtung einer botanischen Werkstatt. Tagsüber streifen sie gemeinsam durch die Natur und sammeln Blumen, Gräser, Kräuter, Farne und Moose, die abends gepresst und zum Trocknen ausgelegt werden.
O-TON 6: (Scheps)
Sie hat sich auch relativ wenig um Konventionen geschert, also die Kleinstadtgesellschaft ist ja auch immer so auf permanenter Lauer und Beobachtung, man hört also auch heute noch, wenn man in Siebenlehn fragt, ja, die war dann verheiratet und wohnte im Forsthof, und man soll es nicht glauben, sie hat dann im Wäscheschrank nicht die Wäsche aufbewahrt, sondern dort lagen die Herbarien und die Tierpräparate drin.
ERZÄHLERIN:
Im Winter wird die Ausbeute geordnet und zu Herbarien zusammengestellt, die die Eheleute an Apotheker, Lehranstalten und Privatpersonen verkaufen. Der Verdienst reicht gerade für das Nötigste, denn die Geschäfte laufen schleppend. 1848 kommt Tochter Charitas zur Welt.
ZITATORIN:
Jedes Mal, wenn ich Charitas in fremde Hände geben muss, frage ich mich wieder und wieder: Was ist meine erste Pflicht? Soll ich meinem Mann die Gehilfin oder soll ich dem Kind die Mutter sein? Wilhelm sagt - und das sehe ich auch ein – wir müssen reisen, das hängt notwendig mit dem Beruf zusammen.
Musik: Morgentau 1‘03
ERZÄHLERIN:
Oft ist das Ehepaar mehrere Wochen unterwegs, um Material für die Herbarien zu sammeln. Die schweren Körbe muss Amalie schleppen, denn Wilhelm Dietrich fühlt sich dafür zu schwach. Als die junge Ehefrau durch Zufall erfährt, dass ihr Mann eine Affäre mit dem Dienstmädchen hat, bricht für sie eine Welt zusammen. Enttäuscht und zutiefst gekränkt besorgt sie sich einen Reisepass und flieht mit Charitas zu ihrem Bruder Karl nach Bukarest. Aber das Leben in der Großstadt, der Luxus und die strengen Regeln im Haus der eleganten Schwägerin gefallen Amalie nicht. Sie findet eine Anstellung bei einem Ehepaar in den Karpaten und ist froh wieder in der Natur zu sein. Regelmäßig schickt sie dem treulosen Gatten das gesammelte Material und kehrt nach einem Jahr wieder nach Siebenlehn zurück.
O-TON 7: (Hücking)
Und dann fingen die Jahre an, wo ihr Mann, ich sag mal träge geworden ist und lieber zuhause saß, der Herr Naturforscher, als dass er selber noch in der Natur forschte, und das waren die Jahre, wo sie dann alleine durch halb Europa gezogen ist
MUSIK: Chirping the forest und Föhnsturm 0‘42
ERZÄHLERIN:
Ihre einsamen Wanderungen führen Amalie Dietrich bis in die Alpen und an die holländische Nordseeküste, wo sie Algen und Seetang sammeln soll. Immerhin hat sie mittlerweile einen Hund an ihrer Seite. Hektor ist nicht nur ein treuer Begleiter, sondern hilft ihr auch, den Wagen mit den Pflanzen zu ziehen. Trotzdem zehren die langen Fußmärsche bei Wind und Wetter an ihrer Gesundheit. Ausgelaugt und an Typhus erkrankt wird Amalie am Strand von Den Haag ohnmächtig und muss vier Wochen lang das Bett hüten. Als sie schließlich wieder zuhause eintrifft, ist die Tür verschlossen und Wilhelm Dietrich verschwunden.
O-TON 8: (Hücking)
Nun war der Ehemann weg, sie allein erziehende Mutter ...und hat sich dann wohl zum ersten Mal in ihrem Leben eine Bahnfahrkarte gekauft und ist nach Hamburg gefahren ... und sie hatte einen Kontakt da und der hat sich die Sachen angeguckt und war begeistert von ihren Herbarien und hat gesagt, du ich kenn da jemand, der sich für Naturkunde interessiert
ERZÄHLERIN:
Johan Cesar Godeffroy, der Fürst der Südsee, wirft die ärmliche Frau aus Sachsen, die um eine Anstellung als Feldforscherin bittet, kurzerhand aus dem Büro. Aber Amalie Dietrich lässt nicht locker, und als sie mit zahlreichen Empfehlungsschreiben der namhaftesten Wissenschaftler ein zweites Mal bei ihm vorspricht, bekommt sie ihren Vertrag und hat zum ersten Mal ein festes Einkommen, mit dem sie die Ausbildung ihrer Tochter bezahlt. Dafür wird sie zehn Jahre lang in den Jahren 1863 bis 1873 die Nordostküste Australiens erforschen und Material für das Museum zusammentragen.
ATMO 1: Feder auf Papier
ZITATOR:
Hamburg, den 20.1.1865. Unser Museum zieht immer mehr Beachtung auf sich, und es ist der wissenschaftlichen Welt wohl bekannt, wie viel Amalie Dietrich zu dessen steter Ausdehnung beiträgt. Wir freuen uns, dass Sie nördlicher gehen wollen und möchten Sie nochmals bitten, nicht nur Skelette von dort vorkommenden großen Säugetieren, sondern auch möglichst Skelette und Schädel von den Eingeborenen sowie auch deren Waffen und Geräte zu senden. Diese Sachen sind sehr wichtig für die Völkerkunde.
MUSIK: Mundunkala the creator 0‘40
ERZÄHLERIN:
Im 19. Jahrhundert begann man in der Anthropologie die Evolution zu erforschen. Wissenschaftler stellten sich die Frage, wie sich der Mensch aus dem Tier entwickelt hat und warum die Menschen in verschiedenen Teilen der Welt so unterschiedlich sind. Einige vermuteten, dass die Ureinwohner von Australien der sogenannte missing link sein könnten, der den Übergang vom Affen zum Menschen darstellen soll. Dr. Birgit Scheps-Bretschneider vom Völkerkundemuseum Leipzig:
O-TON 9: (Scheps)
Und so wurden also die Gebeine von Menschen aus aller Welt zu sehr gefragten Forschungsobjekten, in Deutschland gab es in Berlin den berühmten Mediziner Rudolf Virchow, der also sehr extensiv menschliche Gebeine gesammelt hat an der Charité, um dann solche Vergleiche vornehmen zu können, er kannte den Reeder Johan Cesar Godeffroy, und er hat dann über viele Jahre gedrängt, auch Gebeine aus Australien haben zu wollen.
ERZÄHLERIN:
Es gab damals einen weltweiten, lukrativen Handel mit menschlichen Gebeinen. Wissenschaftler wie Virchow konnten vom Schreibtisch aus, Skelette von Afrikanern, Asiaten und Australiern bestellen und wurden prompt beliefert. Wie man an die menschlichen Gebeine gelangt war, interessierte im 19. Jahrhundert niemanden.
ATMO 4: Schreibmaschine
ZITATOR:
Angel of the black death
ERZÄHLERIN:
Titelte im November 1991 das Newsweek-Magazin “The Bulletin” mit einem Bild von Amalie Dietrich.
ZITATOR:
„Diese Frau stiftete im 19. Jahrhundert dazu an, Aborigines für wissenschaftliche Untersuchungen zu töten. Schockierende neue Beweise zeigen, sie war nicht die einzige.“
MUSIK: Kokopelli Dreaming 0‘36
ERZÄHLERIN:
War Amalie Dietrich wirklich der Todesengel der Aborigines? Eine kaltblütige, skrupellose Frau, die den Auftrag erteilte, Menschen zu töten? Birgit Scheps-Bretschneider ist der Geschichte nachgegangen und hat vor Ort in Australien nach Beweisen gesucht. Unter anderem in der Familienchronik der Familie Archer. Auf deren Farm soll die Naturforscherin, so das Gerücht, nach einem Auftragskiller gesucht haben.
O-TON 10:
In dieser Chronik findet sich also gar kein Hinweis darauf, dass Amalie Dietrich auf dieser Farm gewesen ist, also dort ist alles Mögliche geschildert, wie viele Schafe man geschoren hat, was in der Familie geschehen ist, also so ein Besuch wäre auch dort mit Sicherheit festgehalten worden, und die Gebeine, die sie nach Europa geschickt hat, sind ja auch erst einige Jahre später an einem ganz anderen Ort gesammelt worden.
ERZÄHLERIN:
Wie Amalie Dietrich in den Besitz der acht Aborigines-Skelette kam, wird sich wohl nie mehr klären lassen. Aber egal, ob sie die Gebeine der Toten in der Wildnis gefunden oder durch Tauschhandel erworben hat, ob sie dafür Gräber geplündert oder sogar Menschen hat töten lassen - die Geschichte wirft auch ein Licht auf den umstrittenen Sammeleifer und zweifelhafte Anschaffungspraktiken europäischer Naturkundemuseen. Die Gebeine, die Amalie Dietrich von Australien nach Hamburg schickte, gelangten 1885 nach Leipzig und fielen dort im 2. Weltkrieg einem Museumsbrand zum Opfer.
O-TON 11: (Scheps)
Ich arbeite ja auch sehr intensiv an der Rückführung menschlicher Gebeine in ihre Herkunftsgemeinschaften, zu ihren Familien, und ich weiß also auch, welche emotionalen Schmerzen es für die Menschen bedeutet bis heute, wenn Tote verschwunden sind und nicht bestattet werden können in dem Land, wo sie hingehören
MUSIK: Calm fluctuations 0‘50
ERZÄHLERIN:
Birgit Scheps-Bretschneider plädiert trotzdem dafür, Amalie Dietrich nicht zu dämonisieren, sondern anzuerkennen, was sie geleistet hat. Denn heute helfen ihre Sammlungen den australischen Ureinwohnern dabei, ihre Geschichte und Kultur zu rekonstruieren. Mehr als 40.000 Herbarienblätter der Pflanzenjägerin geben Wissenschaftlern Auskunft darüber, welche Gewächse an bestimmten Orten heimisch waren, bevor die Siedler den Regenwald für große Zuckerrohrplantagen und Ananasfelder abholzten.
O-TON 12:
Und man weiß ja, dass heute auch viel renaturiert wird, und das hilft dann auch dabei, wenn man sich entschließt in einem Nationalpark z.B. wieder Pflanzen dort auszubringen, die ursprünglich mal dort gewesen sind. Also das sind sehr, sehr interessante Projekte, die ohne Amalie Dietrichs Arbeit sozusagen in dieser Form überhaupt nicht machbar wären.
ATMO 2: Urwaldgeräusche
ZITATORIN:
Und doch all diese Sammlungen geben nur einen armseligen Begriff von dieser Märchenpracht. Es gehört eben eins zum anderen. Diese Pflanzenwelt ist belebt durch eine farben- und formenreiche Tierwelt. Wenn ich das herrliche Material einpacke, stelle ich mir immer vor, wie Herr Schmelz alles im Museum ausstellt. Schade, dass man den schönen Tieren und Pflanzen nicht etwas von ihrem Drum und Dran mitgeben kann. Losgelöst aus der märchenhaften Umgebung kann alles nicht so wirken, wie es sollte.
MUSIK: Talking to my father 1‘23
ERZÄHLERIN:
Nach zehn Jahren in der Fremde kehrt Amalie Dietrich 1873 nach Deutschland zurück und beginnt ihre Sammlungen zu ordnen. Sie ist 52 Jahre alt, ihr Gesicht von der Sonne gegerbt und faltig, umrahmt von dünnen, weißen Haaren. Sie bezieht im Museum ein Zimmerchen und besucht regelmäßig naturwissenschaftliche Vorlesungen an der Hamburger Universität. Als die Firma Godeffroy 1879 Konkurs anmeldet, wird das Museum verkauft, und Amalie Dietrich verbringt ihren Lebensabend im städtischen Altersheim. Sie stirbt im Alter von 69 Jahren an einer Lungenentzündung im Haus ihrer Tochter Charitas.
O-TON 13: (Scheps)
Sie hatte ja ein sehr schweres Leben, hat sich immer durchgekämpft durch die Widrigkeiten, die ihr natürlich auch die damals existierende Männergesellschaft gesetzt hat, und für Amalie Dietrich würde ich mir wünschen, dass man ihre wissenschaftliche Leistung würdigt und dass man sie vielleicht weniger benutzt, um Politik zu machen.
Der Begriff Manufaktur steht heutzutage für Handwerk und Wertarbeit. Aber Manufakturen waren eine Randerscheinung in der Wirtschaftsgeschichte - man könnte in ihnen die Tech-Startups des 18. Jahrhundert sehen. Autor: Christian Sachsinger (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Christian Sachsinger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Irina Wanka, Stefan Wilkening, Florian Schwarz
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Reinhold Reith, Historiker;
Stefan Gorissen, Professor für Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Atmo Versailles
Sprecherin:
Das französische Schloss Versailles ist ein Touristenmagnet ohnegleichen. Wer es aber schafft, am Morgen als einer der ersten in der langen Schlange vor den goldenen Toren zu stehen und sich beeilt, schnell in den ersten Stock zu gelangen, bevor alle anderen dort sind, dem bietet sich ein besonderes Schauspiel: der Spiegelsaal präsentiert sein Farbenspiel – so wie es der Hausherr Ludwig der 14., besser bekannt als der Sonnenkönig, vor über 300 Jahren genießen konnte.
Musik 1: Sonata Nr. 1
von Marc-Antoine Charpentier – 1:13 Min.
Sprecher 2:
Der Spiegelsaal des Schlosses Versailles bei Paris ist noch heute ein beeindruckendes handwerkliches Meisterstück. Der Raum misst über 70 Meter in der Länge und gut 10 Meter in der Breite. Auf der einen Seite gewähren 17 Fenster einen einzigartigen Ausblick auf den prunkvollen Schloss-Park. Gegenüber an der Innenwand des Saals stehen 17 Spiegel – jeder zusammengesetzt aus über 350 Teilstücken. Die riesigen Spiegel holen den Park nun optisch in den Saal. Am Abend reflektierten die glatten Flächen den Schein von hunderten von Kerzen, die dort bei Bällen entzündet wurden.
Sprecherin:
Noch heute bringt der Spiegelsaal Besucher zum Staunen. Im ausgehenden 17. Jahrhundert führte er den Gästen des Sonnenkönigs beim Betreten dessen Reichtum und Macht schlagartig vor Augen. Es gab nichts Vergleichbares.
Musik aus.
Atmo Glaserei – Glas wird zerschnitten
Sprecher 1:
Spiegelglas war im 17. Jahrhundert ein teures Luxusprodukt. Es herzustellen war kompliziert und nur wenige Handwerker beherrschten die Technik. Diese Experten lebten fast alle in Venedig, die venezianische Republik hatte damals das Monopol für die Herstellung von Spiegeln. Versailles war jedoch das Zentrum Frankreichs und für die Dekoration des Schlosses kamen nur in Frankreich hergestellte Produkte in Frage. Also gründete Jean-Baptiste Colbert – der Finanzminister – eine eigene königliche Spiegel-Manufaktur und warb dafür in Venedig kurzerhand einige der Spezialisten ab. Es war ein Affront. Erzählungen zufolge sandte die Regierung der Venezianischen Republik Agenten nach Frankreich. Sie sollten jene Männer, die Colbert abgeworben hatte, vergiften, um das Spiegel-Monopol Venedigs zu verteidigen.
Sprecherin:
Der Plan misslang offenbar, denn sonst gäbe es den Spiegelsaal womöglich gar nicht. Und die Manufaktur arbeitete, lange nachdem der ursprüngliche Auftrag erledigt war, erfolgreich weiter. Das Unternehmen gibt es bis heute. Die damalige Compagnie des Grandes Glaces verlagerte die Produktion später in das nordfranzösische Dorf Saint-Gobain. Heute ist die Saint-Gobain-Gruppe ein internationaler Konzern mit zig Milliarden Euro Umsatz und weit über 100.000 Mitarbeitern – auch in Deutschland.
Musik 2: „La Dauphine für Cembalo G-Dur/g-Moll“ von Rameau - M0005340009 – Länge: 33 Sekunden
Sprecher 1:
Saint Gobain und der Spiegelsaal - ein Beispiel für Manufakturen, wie sie in Europa im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert immer häufiger vorkommen.
Sprecherin:
Doch was macht diese Betriebsform aus? Und warum entsteht sie überhaupt? Der Historiker Prof. Reinhold Reith versucht es anhand eine einfachen Beispiels zu erklären:
O-Ton 1 (10:20)
Wenn wir eine Kutsche produzieren, ist das möglich, indem mehrere Handwerker daran beteiligt sind und die Arbeit dazu in verschiedenen Werkstätten verrichtet wird. (…) Wenn wir jetzt diese Arbeitsprozesse in einem Raum oder in einem Gebäude zusammenfassen, dann spricht man von der kooperativen Arbeitsteilung und das Gebäude wird als Manufaktur bezeichnet.
Sprecherin:
Es ist produktiver, wenn sich etwa ein Radmacher, ein Schreiner und ein Sattler zusammentun und gemeinsam die Kutsche bauen, als wenn jeder für sich im eigenen Atelier vor sich hin werkelt und man am Ende feststellt, dass die Einzelteile nicht richtig zusammenpassen. Zumal die Karossen immer ausgefeiltere Konstruktionen werden.
Sprecher 1
Es braucht also Experten, Spezialisten, die zudem in der Lage sind, an einem Ort gemeinsam aufeinander abgestimmt zu arbeiten.
Manufakturen werden dabei zu Stätten, an denen High-Tech entsteht. Das gilt für die Herstellung riesiger Spiegel in Frankreich, das gilt aber auch für die Strumpfproduktion.
O-Ton 2
(17:30) Durch den sogenannten Strumpfwirkerstuhl gewinnt die Strumpfwirkerei einen hohen Produktivitätsfortschritt. 19:20 Das sind mehrere Nadeln, die da bewegt werden können. Durch den Strumpfwirkerstuhl steigt die Produktivität. Was gelingt ist, dass diese Strümpfe gleichförmig hergestellt werden können. Und die Hugenotten sind in dieser Technologie sehr versiert und sie bringen diese Technologie mit in die deutschen Territorien, wo sie sich niederlassen.
Sprecherin:
Und damit sind wir wieder bei Ludwig dem 14. Der Sonnenkönig von Versailles hatte die Hugenotten, wie Frankreichs Protestanten genannt wurden, wegen ihres Glaubens aus dem Land gejagt. Viele von ihnen gingen nach Deutschland und mit ihnen kam viel wertvolles Know-How, auch nach Bayern, etwa nach Erlangen.
O-Ton 3 Reith
Vor allem in Erlangen ist dann bekannt für die Strumpfproduktion im 18. Jahrhundert und ist eine der wichtigsten Standorte überhaupt.
ATMO Strumpfwirken / Handkulierstuhl
Sprecher 1
Das Strumpfwirken ist eine viel effizientere Technik, als das Stricken der Strümpfe. Man braucht dazu aber nicht nur einen Satz Nadeln, sondern den bereits erwähnten Strumpfwirkerstuhl, eine hochkomplexe Maschine, bestehend aus mehreren tausend Einzelteilen. Er sieht ein wenig aus wie ein übergroßes Klavier, in das oben unzählige Fäden hineinlaufen, die dann zu einem feinmaschigen Strumpf verwoben werden. Kein Vergleich mit rauhen, kratzigen Wollsocken.
Sprecherin:
In Erlangen wird diese Technik in den Manufakturen immer weiter verfeinert, die Stadt widmet sich völlig diesem Wirtschaftszweig. …
Zeitweise sind in Erlangen 3000 Menschen mit der Herstellung von Strümpfen beschäftigt, bei gerade einmal rund 9000 Einwohnern. Angeblich klappern in jeder Ecke der Stadt Strumpfwirkerstühle. Wie das damals geklungen haben muss, kann man heute noch im Esche-Museum im sächsischen Limbach-Oberfrohna hören.
Atmo aus.
Musik 3: „1. Satz aus: L'Omphale. Suite für Orchester e-Moll“ von Telemann, (take 001 Ouvertüre) Länge: 1:01 Min.
Sprecher 1
Manufakturen entstehen meist da, wo es um hochwertige Waren geht, die kompliziert herzustellen sind. Häufig sind es Luxusprodukte, die sich nur die Fürsten und Könige leisten können und wollen. Das gilt in erster Linie für Porzellan, damals auch weißes Gold genannt.
Die hauchdünnen Teller, Tassen und Kannen waren aufwändig bemalt; sie sind der Stolz vieler Herrscherhäuser. Man kann damit bei Banketten Stil und Reichtum demonstrieren. Denn die Herstellung ist teuer, sie geschieht in eigenen Manufakturen, also staatlich geförderten Unternehmen.
So gründet 1710 August der Starke, Kurfürst von Sachsen, die erste europäische Porzellanmanufaktur. Ein Projekt, das dem Fürsten nur Verluste beschert. Ganz ähnlich die Ludwigsburg Porzellanmanufaktur, die ebenfalls ständig bezuschusst werden muss.
Sprecherin:
Andere Branchen sind dagegen deutlich rentabler, wie der Stoffdruck. Manche Betriebe schaffen hier einen steilen wirtschaftlichen Aufstieg. Der Historiker Reinhold Reith:
O-Ton 4 Reith
4:30 Diese bedruckten Baumwolltuche sind der meistgehandelte Gegenstand im 18 Jhd. Da geht´s um das Drucken, da geht´s um die Farben, da geht´s um das Design. Da geht´s auch um die Technik, wie wird gedruckt, wie werden die Farben aufgebracht. Da geht´s um großen zentralisierten Betrieben mit mehreren hundert Arbeitskräften.
Sprecher 1:
Bedruckte Baumwolle, man nennt das damals Kattun - vom Englischen Cotton - übt eine große Faszination auf die Menschen aus. Sie wird zur bevorzugten Oberbekleidung von Frauen der unteren und mittleren Schichten der Gesellschaft. Die Stoffe zeigen wiederholende Muster, die an Blumen oder Blätter erinnern und etwas Leichtes, Spielerisches haben. Kein Wunder, dass diese Stoffe bald die aus dicken Maschen gestrickten, einfarbigen Wollkleider verdrängen.
Angetrieben wird dieser Kattun-Boom von Unternehmerpersönlichkeiten, die mit ihren Manufakturen nun gute Geschäfte machen.
Sprecherin:
Einer von ihnen ist Johann Heinrich Schüle, ein ehrgeiziger Kaufmannsgehilfe, der das Potenzial des Baumwolldrucks früh erkennt. Er reist 1755 nach Hamburg, wo die Technik schon weiter fortgeschritten ist, und schaut sich alles genau an. Glanz und Raffinesse bekommen die Stoffe erst, wenn sie nach dem Druck noch per Hand an den richtigen Stellen nachkoloriert werden. Berichten zufolge sitzt Schüle mit seiner Frau und seiner Tochter oft bis in die Morgenstunden an den Stoffen, um sie „einzumalen“, wie diese Arbeit damals genannt wird. Aber die Mühe lohnt, Schüles Stoffe finden reißenden Absatz und bald kann er sich mehrere Einmalerinnen leisten, die ihm die mühselige Arbeit abnehmen. 1763 errichtet der findige Kattunexperte eine erste Fabrik. Seine Stoffe liefert er mittlerweile nach ganz Europa. Ein Augenzeuge, der Schüles Fabrik besichtigen durfte, schildert die Abläufe dort so:
Musik 4: Fantasia Nr. 1 F-Dur von Bach, Carl Philipp Emanuel, Länge: 36 Sekunden
Sprecher 2:
„Die einfarbigen Muster werden mit großen Kupferplatten abgedruckt, wozu zwey besondere Kupferstecher gehalten werden. Die vielfarbigen Muster aber hat man noch nicht in Platten versucht, sondern man besinet sich hölzerner Formen, wozu eine besondere Innung von Modelschneidern ist, die zum Theile recht gut arbeiten. Es war mit Vergnügen anzusehen, mit welcher Fertig- und Genauigkeit die Drucker bey den verschiedenen aufeinanderfolgenden Formen die rechte Stelle wieder trafen.“
Sprecherin:
Schüle engagiert in seiner Manufaktur viele Experten, er wirbt hochqualifizierte Drucker aus London ab und engagiert eine renommierte Zeichnerin aus Hamburg.
Mit Geschick und Durchsetzungsvermögen schafft er es, als einfacher Bürger ein Firmenimperium aufzubauen. Sein wirtschaftlicher Einfluss wird so groß, dass ihn der Kaiser 1772 in den Adelsstand erhebt. Doch zu diesem Zeitpunkt geht die Phase der Manufakturen in Europa schon fast zu Ende.
Musik 5: 5. Satz aus: Triosonate Nr. 3 a-Moll, BuxWV 254 von Buxtehude., take 109. Länge: 1:10 Minuten
Sprecher 1:
Drehen wir die Zeit noch einmal gut 100 Jahre zurück, um genauer zu beleuchten, warum Manufakturen als neue Betriebsform überhaupt aufkommen.
Ein wesentlicher Grund ist, dass der Staat interessiert ist an der Entstehung von Manufakturen – und zwar nicht nur an solchen, die Porzellan oder Spiegel produzieren. Denn Mitte des 17. Jahrhunderts muss die Wirtschaft unbedingt wieder in Schwung kommen. Nach dem 30-jährigen Krieg gilt es im deutschen Reich Aufbauarbeit zu leisten. Weite Landstriche sind von den langen Kämpfen verwüstet und entvölkert. Die Gesellschaft soll, nun da wieder Frieden herrscht, wachsen. Um die Menschen in Lohn und Brot zu bringen, fördert der Staat eben auch Manufakturen. Privates Unternehmertum ist dabei zunächst gar nicht vorgesehen. Manufakturen wie die von Johann Heinrich Schüle, entstehen erst später. Doch auch sie passen den Herrschern ins Konzept.
Denn der sogenannte „Kameralismus“ als Staatswirtschaftslehre dominiert das Denken und Planen deutscher Regierungen und vor allem ihrer Finanzminister.
O-Ton 5 Reith
(33:45) Man kann das mit dem Begriff aktive Handelsbilanz umreißen(…) 35:00 Dass man eben bestimmte Produkte nicht mehr einführen muss, sondern im eigenen Land produzieren kann, um möglicherweise sogar exportieren könne. Gedacht ist das Ganze von der Kamera, der fürstlichen Schatzkammer, die dann über die Steuern einen Überschuss erzielen kann.
Sprecher 1:
Wobei dieser Ehrgeiz, Export-Weltmeister zu werden, damals noch keine deutsche Eigenschaft ist, sondern eine zutiefst französische.
Musik 6: „Sonata Nr. 1“ (vgl. Musik Nr. 1) , Länge: 1:26 Min
Sprecherin:
Ludwig der 14. hat einen immensen Finanzbedarf. Um den Adel des Landes an sich zu binden, baut er das kleine Versailler Jagdschloss seines Vaters zum pompösen Machtzentrum aus. Der Glanz und die Anziehungskraft des Hofes sollen so groß werden, dass sich dem kein Fürst und kein Kardinal mehr entziehen kann. Es gibt viele Posten und Titel in Versailles, der Beamtenapparat wird dabei immer gewaltiger und teurer. Außerdem führt der Sonnenkönig eine Reihe von kostspieligen Kriegen, um die Grenzen zu festigen oder auszudehnen, die sogenannten Reunionskriege. Das alles muss finanziert werden. Finanzminister Colbert betreibt deshalb die Wirtschaftspolitik des Merkantilismus. Im Lateinischen ist der „mercator“ der Kaufmann oder Händler, also einer der etwas anzubieten und zu verkaufen hat.
Und so geht es Colbert darum, die produktiven Kräfte im Inland zu fördern. Staatliche Manufakturen sollen Porzellan, Spiegel, Seide oder feines Tuch herstellen und zwar mehr als im Inland gebraucht wird, um es möglichst in andere Länder verkaufen zu können. Die Gewinne und die Steuern sollen dem König wieder mehr Spielraum bei seinen Projekten verschaffen.
Musik aus
Sprecher 1:
Ob die neuen Produktionsbetriebe indes für die Menschen immer ein Segen sind, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Arbeitsbedingungen jedenfalls sind es oft genug nicht. Zwar werden die Spezialisten, von deren Wissen und Können die Produktion abhängt, meist sehr gut entlohnt. Doch in den Manufakturen arbeiten mit zunehmender Größe auch immer mehr einfache Arbeiter und Arbeiterinnen. Und die beziehen ein klägliches Gehalt für eine Kräfte zehrende Tätigkeit, wie zum Beispiel in der Schülschen Manufaktur in Augsburg.
Musik 7: „Unwucht für 4 Klarinetten“ – Länge: 20 Sek
Sprecher 2:
„Es arbeiteten damals daselbst ohngefähr 350 Personen, und unter denselben viel Weiber und Kinder. Die Arbeiter kommen im Sommer täglich früh um 6 Uhr und arbeiten bis abends um 8 Uhr, doch werden sie nicht nach der Zeit, sondern nach den Stücken bezahlt.“
Sprecherin:
Es sieht so aus, als würden solche Betriebe das Zeitalter der Industrialisierung einläuten. Ist die Manufaktur also eine Übergangserscheinung zwischen einer rein handwerklich geprägten Zeit und der kapitalistisch geprägten Wirtschaft des 19. Jahrhunderts … mit Fabriken, in denen Menschen nur noch einzelne stupide Handgriffe verrichten? Lange Zeit wurde das in der Wissenschaft so gesehen, gestützt auch von der Theorie Karl Marx. Im Band 1 des „Kapital“ heißt es:
Musik 8: „Unwucht für 4 Klarinetten“ – Länge: 23 Sek
Sprecher 2:
„Die auf Teilung der Arbeit beruhende Kooperation schafft sich ihre klassische Form in der Manufaktur. Als charakteristische Form des kapitalistischen Produktionsprozesses herrscht sie vor während der eigentlichen Manufakturperiode, die rau angeschlagen von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts währt.“
Sprecher 1:
Doch ganz so eindeutig ist die Entwicklung nicht. Die weit verbreitete Vorstellung, dass Manufakturen die Vorläufer der modernen Fabriken waren, wird von mehreren Historikern inzwischen bezweifelt, so etwa vom Historiker Prof. Stefan Gorissen. Er lehrt an der Universität Bielefeld.
O-Ton 6 Gorißen
(10:00) Von der Qualifikation her ist die Manufaktur. deutlich näher am Handwerk. Der Maschineneinsatz und das Vorgeben eines Arbeitsrhythmus durch Maschinen spielt in der Manufaktur keine Rolle. Das ist geradezu das Charakteristikum der Manufaktur im Unterschied zur Fabrik. Häufig gibt es qualifizierte Arbeitskräfte, die den Teilprozess selbständig durchführen müssen.
Sprecherin:
… wie eben jene Handwerker, die die Räder oder den Innenraum einer Kutsche herstellen – und zwar jeweils als Ganzes.
Es geht also häufig gerade nicht um Arbeitsteilung, wie später in den Fabriken, wo die Arbeitsprozesse so aufgeteilt werden, dass nur noch einzelne Handgriffe übrigbleiben, die man ohne große Kenntnisse ausführen kann. Auch wenn große Manufakturen, wie jene in Augsburg oder in Saint Gobain viele ungelernte Kräfte beschäftigen, stehen im Zentrum die Experten, ohne die die Baumwolldrucke nicht schön und die Spiegel nicht richtig glatt werden. Manufakturen drehten sich um Know-How, um Präzision und um Qualität.
O-Ton 7 Gorißen
(11:15) Ein entscheidender Grund, eine Manufaktur zu gründen, ist, dass man sehr genaue Kontrolle über den Arbeitsprozess und über die Arbeitskräfte haben möchte. Da wo es darauf ankommt, den Produktionsprozess genau zu steuern, da lohnt es sich eine Manufaktur zu gründen.
(11:45) Ein berühmtes Beispiel ist die Seidenproduktion, also das Abhaspeln der Seidenfäden aus diesem Kokon der Seidenraupe, ist ein Prozess, bei dem man festgestellt hat, dass die Qualität des gewonnenen Garns sehr stark davon abhängt wie genau im Detail dieser Prozess durchgeführt wird.
Sprecherin:
Womöglich spielt eine andere Betriebsform als Wegbereiter für arbeitsteilige Fabriken eine viel wichtigere Rolle: die Verlage. Was heute nur noch aus dem Buchgeschäft bekannt ist, war vor gut 200 Jahren eine weit verbreitete betriebliche Organisationsform. Stefan Gorißen:
O-Ton 8 Gorißen
(2:30) Das heißt, man hat einen Kaufmann – einen Verleger –, der die Arbeitsprozesse anleitet und eine Vielzahl von Gewerbetreibenden meist auf dem platten Lande anleitet, Produkte herzustellen. Oft arbeitsteilig und meist im Nebenerwerb. Die nutzen arbeitsarme Zeiten, z.B. den Winter, um Gewerbeprodukte herzustellen.
Musik 9: „Bachmachine für 4 Klarinetten“ – 48 Sek.
Sprecher 1:
So werden zu Hause Wollfäden gesponnen oder einfache Stoffe gewoben, die fertigen Waren dann eingesammelt, womöglich noch weiterverarbeitet, etwa zu Kleidung und dann als Massenware verkauft. Die Serienproduktion, wie sie später in den Fabriken läuft, hat ihren Vorläufer also eher in den Verlagen, als in den Manufakturen. Die Verleger sorgen dafür, dass die Teilarbeitsschritte am Ende zusammenlaufen, und sie übernehmen die Vermarktung im großen Stil.
Während die Manufaktur oft auf Qualität ausgerichtet ist, geht es bei den Verlagen dagegen oft um Quantität. Die Bedeutung der Verlage für die Wirtschaft ist dabei schon von den reinen Zahlen her viel größer, als die der Manufakturen:
O-Ton 9 Gorißen
Man kann schätzen so um 1800 in Deutschland. vor Beginn des Industriezeitalters gibt es im Handwerk 1,3 Mio. Beschäftigte, im Verlagswesen etwa 1 Mio. und in Manufakturen 100.000.
Sprecher 1:
Die Manufakturen sind also eher eine Randerscheinung in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands und Europas.
Musik 10: „Unwucht für 4 Klarinetten“ – Länge: 1:07 Min
Sprecherin:
Auch von Johann Heinrich Schüles riesigem Kattun-Betrieb ist nicht mehr viel übrig. Nur noch der historische Hauptbau, der ein wenig an ein kleines Barockschlösschen erinnert, steht noch. An den Seiten sind für die Hochschule Augsburg neue Seitenflügel aus Glas angebaut worden.
Aber obwohl die Manufakturen im Prinzip völlig verschwunden sind und als Betriebsform bald gar keine Rolle mehr spielen - als Begriff haben sie das 18. Jahrhundert überdauert. Sie gelten bis heute als Markenzeichen und das zu Recht, wie Reinhold Reith findet.
O-Ton 10 Reith:
39:45 Wir sehen häufig in der Werbung, dass da von Manufaktur gesprochen wird. (…) Es ist ein sehr positiv besetzter Begriff. Er steht für Qualitätsarbeit, für hohe Präzision, er steht für das Design der Produkte. Ich glaube es trifft diese Produktionsform schon.
Musik aus.
Die US-Präsidentenwahl zählt zu den kompliziertesten und langwierigsten Wahlsystemen der westlichen Demokratien: von den Vorwahlen mit den Grabenkämpfen unter Demokraten und Republikanern bis hin zum "Election Day", bei dem Präsident oder Präsidentin vom Volk nur indirekt gewählt wird. Autor: Florian Kummert (BR 2020)
Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann, Christian Schuler
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Michael Hochgeschwender (Professor; LMU München);
Jesse Wegmann (Journalist und Autor "Let The Poeple Pick The President")
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Ob Energiesparlampe oder Leuchtdiode: Auf künstliche Lichtquellen will im Alltag niemand verzichten. Feuerschein war das erste künstliche Licht. Nach Gasglühlicht und Glühlampe revolutionierte die Erfindung der LED-Technologie die Lichttechnik. Was waren die Meilensteine in der Geschichte des künstlichen Lichts? (BR 2021) Autorin: Katrin Kellermann
Credits
Autorin dieser Folge: Katrin Kellermann
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Beate Himmelstoß, Rahel Comtesse
Technik: Christine Frey
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Dr. rer. nat. Cornelius Neumann, Leitung der Abteilung Lichttechnik, KIT Karlsruhe;
Manfred Beck, Lichtdesigner, Agentur mbeam München;
Maria Meßner M.A., Archäologisches Museum Frankfurt;
Dr. Frank Dittmann, Kurator Deutsches Museum
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Musik 1
"Jd21" - Komponist und Ausführender: Ryuichi Sakamoto - Album: Derrida - Länge: 0'4
ZUSP 1 Manfred Beck 00:31
„Das ist unser Atelier, unsere Werkstatt, nenn ich es mal. Hier bauen wir verschiedene Lichtquellen, probieren, kann ich Licht biegen? Das ist aus speziellem Material, ein spezieller PVC, der biegbar ist, um Licht biegbar zu machen… und das ist auch spannend, wir haben hier warm und kalt, was passiert mit Lichtobjekten, wenn die Lichtfarbe, Kelvin, sich ändern.“
Musik 2
"Jd21" - Komponist und Ausführender: Ryuichi Sakamoto - Album: Derrida - Länge: 0'4
Musik 3
"One Last Bar, Then Joe Can Sing - Coda" - Album: Farewell To Philosophy - Komponist: Gavin Bryars - Länge: 0'36
SPRECHERIN
Manfred Beck ist ein renommierter Lichtkünstler. In seiner Agentur im Münchner Glockenbachviertel sucht er nach Ideen, tüftelt an der Technik, baut Lampen und Modelle. Hochsaison für ihn und sein Team ist im Herbst und im Winter, in der dunkelsten Zeit des Jahres. Mit seinen Installationen setzt er Licht-Akzente. Der gelernte Grafikdesigner weiß, wie stark das künstliche Licht auf unsere Psyche und unser Wohlbefinden wirkt. Seine Intention ist es:
ZUSP 2 Manfred Beck 00:23
„In geschlossenen Räumen eine schöne Stimmung geben, Licht berührt uns alle. Im öffentlichen Raum ist es ähnlich, aber da geht es auch oft um Entzerrungen zu machen, schöne Lichtpunkte zu schaffen, Lichtzeichen zu schaffen, wo die Leute einfach im Winter hin marschieren können und sich das anschauen und erfreuen, fotografieren.“
SPRECHERIN
Manche seiner Installationen sind kurzlebig, wie die so genannte Licht-Dusche, andere, wie die Beleuchtung am Münchner Promenadeplatz sind mittlerweile fest installiert.
Musik 4
"One Last Bar, Then Joe Can Sing - Coda" - Album: Farewell To Philosophy - Komponist: Gavin Bryars - Länge: 0'31
SPRECHERIN
Der Platz erstrahlt unter 54 überdimensional großen Lichtkugeln, die in Bäumen zu schweben scheinen. 60 000 glitzernde Lichtpunkte erhellen die Winternächte. Die LED-Lampen verbrauchen wenig Energie und können ihre Lichtfarbe und Helligkeit beliebig ändern. Für den Lichtkünstler aber gilt:
ZUSP 3 Manfred Beck 00:17
„Gutes Licht muss nicht hochtechnisch sein, speziell für den Privatbereich. Also: Grundsätzlich liebe ich Kerzen auch noch, ich mag zum Beispiel keine Kerzen, die aus LED sind und dann so tun als ob, da ist eine echte Kerze immer noch besser, am liebsten habe ich offenes Feuer, hihi.“
SPRECHER:
Das Feuer ist der Ursprung des künstlichen Lichts. Auch heute sagt man umgangssprachlich noch, dass Licht „brennt“. Mit Lehm oder Steinen eingefasste Feuerstellen gibt es bereits in der Steinzeit.
Musik 5
"Le Monde ouvre les yeux" - Album: Handia (Original M0'47otion Picture Soundtrack) - Komponist: Pascal Handia - Länge: 0'47
SPRECHER
Ergänzend zum Lichtschein des Herd- oder Lagerfeuers stellt man damals so genannte Kienspäne auf. Das sind Stücke von leicht brennbarem Holz mit hohem Harzgehalt, meist Kiefer. Ein erster technischer Eingriff ist der Bau von Fackeln: Dazu wird ein Holzscheit mit hell brennendem Material - meist Harz oder Pech - angereichert und am Ende keulenförmig verdickt. Zwar wissen die Forschenden heute nicht viel über die Entwicklung des künstlichen Lichts in der Vorzeit. Einige wichtige Funde gibt es aber, wie Maria Meßner vom archäologischen Museum in Frankfurt erklärt:
ZUSP 4 Maria Meßner 00:39
„Im Südwesten Frankreichs, und zwar in der Dordogne, hat man in Höhlen zahlreiche Schalenlampen oder schalenförmige Lampen aus Kalkstein gefunden. Und in den Vertiefungen konnte man – durch naturwissenschaftliche Untersuchungen - tierische Fette und Reste von schwimmenden Dochten tatsächlich auch feststellen, also Moose, Flechten oder ähnlichen Pflanzen, die als Docht dienten. Diese ersten tragbaren Lampen, die stammen aus der Zeit dieser bekannten Höhlenmalereien, also Lascaux, also aus der jüngeren Altsteinzeit und diese Schalenlampen sind die ersten tragbaren Lichtquellen, die wir heute belegen können.“
Musik 6
"Le Monde ouvre les yeux" - Album: Handia (Original M0'47otion Picture Soundtrack) - Komponist: Pascal Handia - Länge: 0'43
SPRECHER:
Der Docht stellt einen Meilenstein in der Geschichte des künstlichen Lichts dar. Dennoch bleibt die Leuchtkraft der ersten Schalenlampen schwach: sie sind weniger hell als Kerzenschein. Um eine dunkle Höhle einigermaßen zu beleuchten, müssen viele einzelne Lampen, dazu noch Kienspäne und Fackeln aufgestellt werden. Neben tierischen kommen später noch pflanzliche Fette und Öle als Brennstoffe dazu, das Prinzip dieser Lampen bleibt aber Jahrtausende lang unverändert. Auch in der Antike sind sie die wichtigste Lichtquelle:
ZUSP 5 Maria Meßner 00:35
„Ganz ein wichtiger Ort für solche Befunde ist Pompeij, denn dort hat man in Schränken, die in den Atrien, also in den Innenhöfen, standen, Lampen gefunden. Man findet die Lampen aber auch als Beigaben für die Toten in den Gräben, wir finden sie in Militärlagern, in Tempeln, in Bädern, also diese Schalenlampe ist unglaublich breit genutzt worden und hatte auch jede Menge verschiedene Erscheinungsformen, von Luxusartikel bis hin zur ganz einfachen zweckmäßigen Öllampe.“
SPRECHER:
Öllampen sind kulturgeschichtlich älter als Kerzen. Und vor allem Bienenwachskerzen sind teuer und bleiben daher lange dem Adel und dem Großbürgertum vorbehalten. Mit Kerzen, Öllampen, Fackeln und Kienspänen soll Licht in dunkle Innenräume kommen, aber auch die Idee, in den Nächten eine Art Straßenbeleuchtung aufzustellen, gibt es schon in der Antike, etwa 300 nach Christus:
ZUSP 6 Maria Meßner 00:43
„In Antiochia am Orontes, das ist heute Antakya in der Türkei, hatte es schon Straßenbeleuchtung. Jedenfalls berichten das sehr viele antike Autoren. Einer davon ist Ammianus Marcellinus. Der schreibt, dass Antiochia eine Stadt sei, wo, und jetzt zitiere ich, die Helligkeit der Lichter in der Nacht gewöhnlich dem Glanz des Tages gleicht, womit aber diese Straßen von Antiochia beleuchtet waren, berichtet er nicht, es könnten Fackeln gewesen sein, es könnten Öllampen gewesen sein, aber auch schon eine Form von einer Laterne, die gab es bei den Römern auch schon, um - wie heute ja auch - eine Flamme davor zu schützen, dass sie durch Wind ausgeht.“
SPRECHER:
Gewiss ist, dass die Menschen Jahrtausende lang nur schwache Funzeln zur Verfügung haben. Es bleibt ihnen nichts Anderes übrig, als ihren Lebensrhythmus dem natürlichen Wechsel von Tag und Nacht anzupassen.
Musik 7:
"Rorschach" - Komponist: Loscil - Album: Plume - Länge: 0'51
SPRECHERIN:
Erst Ende des 18. Jahrhunderts kommt Schwung in die Beleuchtungstechnik:
SPRECHER:
Zum einen baut der Schweizer Aimé Argand (arʹgã, aˌmi / Arr'ga (a=nasal), A'mi) den nach ihm benannten Rundbrenner. Durch den speziellen Runddocht wird das Öl vollständig verbrannt. Und die Flamme, die jetzt mehr Sauerstoff bekommt, leuchtet heller und rußt weniger als bei bisherigen Öllampen. Zudem brennt sie dauerhafter, da sie durch einen Glaszylinder geschützt ist. So verzehnfacht sich die von der Argand-Lampe abgegebene Lichtmenge. Als Brennstoff dient zunächst aus Rapssamen gewonnenes Rüböl, später Petroleum.
Musik 8
"Postcard From Heaven" - Album: Postcard From Heaven - Ausführende: Susan Allen, Marilu Donovan, Jillian Risigari-Gai & Jaclyn Urlik - Komponist: John Cage - Länge: 1'07
SPRECHERIN:
Zum anderen erfindet der Apotheker Jan Pieter Minckelaers eine neue Energie zur Lichterzeugung. Er entdeckt, dass man aus Steinkohle ein brennbares leuchtendes Gas erzeugen kann. Um die Lampen mit dem neuen flüssigen Brennstoff, dem so genannten Leuchtgas, zu versorgen, entsteht in vielen Städten eine Industrie aus Gasanstalten und Gasometer. Der Gasbrenner löst Öllampen und Kerzen ab.
Die Flamme ist nun nicht mehr an einen Docht als Brennstelle gebunden, sondern kann in jeder beliebigen Größe, in jede Richtung, sogar von oben nach unten brennen. Das Licht bekommt eine völlig neue Qualität: Die Gasflamme brennt heller als alle anderen zuvor bekannten Lichtquellen.
Musik 9
"Rorschach" - Komponist: Loscil - Album: Plume - Länge: 0'48
SPRECHER:
Mit Gaslicht entstehen die ersten fest installierten öffentlichen Straßenbeleuchtungen. In Europa ist es die Londoner Straße Pall Mall, die im Jahr 1807 mit den ersten Gaslaternen beleuchtet wird. 18 Jahre später kann Hannover als erste Stadt in Deutschland eine Gasanstalt mit Straßenbeleuchtung vorweisen. Um die Flammen anzuzünden und wieder auszulöschen, sind in diesen Städten bei Dämmerung so genannte Laternenanzünder unterwegs. Das Gaslicht kommt auch in öffentlichen Gebäuden zum Einsatz, beispielsweise im Theater als so genannte Effektbeleuchtung, wie Doktor Frank Dittmann, Kurator am Deutschen Museum in München, erklärt:
ZUSP 7 Frank Dittmann
„Der Nachteil von der Sache ist natürlich, dass das Gaslicht sehr viel Wärme erzeugt, das heißt, die Leute auf der Bühne hatten dann schon damit zu kämpfen, dass ihnen der Schweiß runterlief, das Gaslicht hat auch CO2 erzeugt, ja, und es gab auch Theaterbrände, weil das ja offene Flammen waren, und wenn diese Flammen natürlich an die Bühnendekoration rankamen, brannte das und da gab es auch einige verheerende Theaterbrände mit vielen Toten, also, dass dann die Behörden gesagt haben, wenn ein solches Theater abgebrannt war oder auch schon vorher, naja, also, wenn hier ein neues Licht eingeführt wird, machen wir das nicht wieder mit Gaslicht, denn das haben wir ja erlebt, welche Schwierigkeiten wir damit haben, sondern, nein, wir wollen die neueste Technologie haben: Wir nehmen jetzt elektrischen Strom, und dann wurde elektrisches Licht dort eingeführt.“
SPRECHER:
Die Elektrizität etabliert sich über zahlreiche Errungenschaften wie Dynamo oder Elektromotor in der Gesellschaft. Das Gaslicht bleibt aber eine starke Konkurrenz, denn der österreichische Chemiker Carl Auer von Welsbach erfindet den Glühstrumpf und damit das Gasglühlicht, auch als Auer-Licht bekannt. Damit ist jetzt das Prinzip der selbstleuchtenden Flamme überholt. Das neue Gasglühlicht leuchtet deutlich heller und ist sparsamer im Gasverbrauch.
Musik 9
"Stormande Eller Still" - Komponisten: Kjartan Hatløy & Arve Henriksen Album: Eg Gjekk Ned Til Denne Fjorden - Länge: 0'22
SPRECHERIN:
Als Wegbereiter für das elektrische Licht gilt die so genannte Bogenlampe, bei der zwischen zwei Kohle-Elektroden ein Lichtbogen entsteht.
Das Licht ist gleißend hell und somit nur für die Beleuchtung im Außenbereich, beispielsweise von Plätzen, oder in Bahnhofshallen geeignet:
ZUSP 8 Frank Dittmann 00:29
„Die Leute wünschten sich natürlich eine Technik, die sie auch zuhause einschalten konnten. Und da war die Bogenlampe nicht geeignet. Deswegen gab‘s eine große Diskussion, und ein großes Suchen nach der so genannten Teilung des Lichtes. Also man wollte das Licht – so die Vorstellung-, das ganz viel und ganz stark bei der Bogenlampe vorhanden ist, wollte man teilen und in kleine Häppchen bringen und da gab es ganz viele verschiedene Versuche und die Glühlampe ist dann letztlich da rausgekommen.“
Musik 10:
"Caisson" - Album: Caisson - Komponist und Ausführender: Loscil - Länge: 0'25
SPRECHERIN
Am Ende ist es der Amerikaner Thomas Alva Edison, der als „Vater der Glühbirne“, wie die Glühlampe umgangssprachlich genannt wird, in die Technikgeschichte eingeht. Im Jahr 1879 meldet er seine Kohlefaden-Glühlampe zum Patent an:
ZUSP 9 Frank Dittmann 00:18
„Die Frage ist, ob er es wirklich erfunden hat, was Edison in jedem Fall gemacht hat: Er hat ganz verschiedene Erfindungen zusammengeführt und hat ein wirtschaftliches Produkt daraus gemacht, und das ist auch eine ganze Menge, weil es gab viele Versuche zu Glühlampen vorher, aber wenn die eine Brenndauer von zehn Stunden hatten, waren die natürlich nicht einsatzfähig.“
Musik 11:
"Caisson" - Album: Caisson - Komponist und Ausführender: Loscil - Länge: 1'08
SPRECHERIN:
Sagt der Elektrotechniker und Technikhistoriker Frank Dittmann vom Deutschen Museum in München:
ZUSP 10 Frank Dittmann 00:19
„Edison hat dieses gesamte System marktfähig gemacht und vermarktet und gebaut. Und das fängt eben beim Generator an, das geht über Leitungen und Schalter weiter, über Sicherungen, die man braucht, den Stromzähler braucht man auch, weil man ja Strom verkaufen will, wenn ein Element in diesem System nicht gut funktioniert, dann funktioniert nichts und dann geht auch die Glühlampe nicht so richtig.“
SPRECHERIN:
War die Bogenlampe durch ihre begrenzten Einsatzmöglichkeiten noch keine wirkliche Alternative für das etablierte Gaslicht, so ist das neue Edison-Licht jetzt für viele attraktiv. Oskar von Miller, der spätere Gründer des Deutschen Museums, besucht als bayerischer Kommissär die erste internationale Elektrizitätsausstellung in Paris. Bei seinem Rundgang bemerkt er eine Menschenansammlung rund um die neue Glühlampe. Er wird oft mit seiner Beobachtung zitiert, dass jeder einmal selbst den Schalter, der die Lampe anzündet und auslöscht, ausprobieren wollte.
ZUSP 11 Frank Dittmann 00:31
„Der Nachteil für den Strom war, dass das Gas schon da war. Der Strom musste nachziehen. Und natürlich haben die Gasunternehmen versucht in gewisser Weise den elektrischen Strom abzuwerten und das elektrische Licht, zum Beispiel haben sie immer wieder veröffentlicht Statistiken über die elektrischen Unfälle, und das ist noch nicht ganz falsch, weil man ja nicht geübt war mit dem Strom, der ja unsichtbar ist, auch nicht so richtig wusste, wie es geht, und das wurde immer wieder in Statistiken aufbereitet und veröffentlicht, kuckt mal, wie gefährlich doch der Strom ist.“
SPRECHER:
Doch das elektrische Licht setzt sich durch: Zum einen wachsen die Netze der Stromversorger, die Elektrifizierung schreitet voran, zum anderen kommen immer bessere, hellere und günstigere Glühlampen auf den Markt. Ein wichtiger Beitrag kommt noch einmal von Auer von Welsbach, der schon das Gaslicht revolutioniert hat. Er entwickelt ein Verfahren zur Herstellung von Glüh-Drähten aus Osmium, das damals als Metall mit dem höchsten Schmelzpunkt gilt, später jedoch von einem anderen Metall - Wolfram - abgelöst wird.
ZUSP 12 Frank Dittmann 00:46
„Die Werbung, (( so wie wir sie heute kennen, )) ist eigentlich etwa Mitte der 20er Jahre entstanden. Man hat dann auch angefangen, Glühlampen einzufärben, um sozusagen Lichteffekte zu machen. Etwa zur gleichen Zeit ist dann auch die so genannte Neonröhre aufgekommen, die gab es technisch schon vorher, schon 100 Jahre gab‘s die, die so genannte Geißler’sche Röhre, man wusste also, dass man, wenn man ein Gas in einer Röhre Strom durchfließen lässt, dann leuchtet dieses Gas. Und diese Farbe, die das dann hat, ist abhängig vom Gas, kann man mischen und vom Druck. Der große Vorteil dieser Neonröhre ist, wenn ich so ein Glasrohr habe, kann ich es biegen, kann zum Beispiel von Produkten die Konturen nachzeichnen oder kann auch Buchstaben formen.“
Musik 12:
"Handylicht" - Komponist: Guenter Reznicek - For Films - Selected Tracks For Moving Pictures: Edit. 15 - Länge: 0'24
SPRECHERIN:
Lichterketten an Kaufhäusern, leuchtende Reklame und bunte Schriftzüge geben der nächtlichen Stadt eine völlig neue Anmutung. Das elektrische Licht steht für Fortschritt und Modernität. Der Times Square in New York, der Piccadilly Circus in London oder der Las Vegas Strip sind durch ihr künstliches Licht weltbekannt geworden:
ZUSP 13 Frank Dittmann 00:19
„Aber es gab auch immer eine Gegenbewegung, es gab auch immer Leute, die gesagt haben, das ist zu viel, die Lichtwerbung in den Städten zerstört ((eigentlich)) die Atmosphäre der Stadt und bis heute haben wir die Gegenbewegung natürlich, die dann auch aus medizinischen Argumenten sagen, die Lichtverschmutzung, die wir heute haben, schädigt uns als Menschen.“
SPRECHER:
Glühlampen sind alle elektrischen Lampen, deren Licht einem stark erhitzten und dadurch glühenden Draht aus Wolfram entstammt. In Fachkreisen heißen sie auch Temperaturstrahler, was auf ihren entscheidenden Minuspunkt hinweist: Denn Glühlampen wandeln nur etwa fünf Prozent der Energie in Licht um, den Rest geben sie als Wärme ab. Seit 2012 dürfen sie in der Europäischen Union nicht mehr verkauft werden. Das Kapitel der Glühlampe ist weitestgehend abgeschlossen:
ZUSP 14 Frank Dittmann 00:22
„Sie hat noch spezielle Anwendungsfälle, denken wir zum Beispiel an Backröhren, da sind Glühlampen drin, weil man da LEDs nicht einsetzen kann, weil es zu warm ist, es gibt auch Signalleuchten usw/usf, ganz so einfach ist es nicht, aber für die normale Beleuchtung ist es abgeschlossen, ist auch richtig so, machen wir natürlich heute mit LEDs.“
Musik 13:
"Strathcona" - Strathcona Variations - EP -Ausführender und Komponist: Loscil - Länge: 0'54
ZUSP 15 Cornelius Neumann 00:10
„Es ist die spannendste Lichtquelle und sie hat wirklich einen Siegeszug angetreten, weil die Effizienz inzwischen mehr als zehn Mal höher ist als bei einer Glühlampe.“
SPRECHERIN:
Sagt Professor Cornelius Neumann, Leiter der Abteilung für Lichttechnik am Karlsruher Institut für Technologie. Er begleitet die Entwicklung der LEDs, der lichtemittierenden Dioden, schon seit einigen Jahrzehnten. LEDs sind winzige Elektronikchips aus speziellen Halbleiter-verbindungen. Fließt Strom durch diesen Festkörper, beginnt er zu leuchten, man spricht davon, dass Licht emittiert wird.
SPRECHER:
Der englische Forscher Henry Joseph Round entdeckt diesen Effekt bereits vor über 100 Jahren:
ZUSP 16 Cornelius Neumann 00:43
„Das wurde zwar als interessant aufgenommen, aber kein Mensch hatte eine Erklärung. Und deshalb ist es wieder in einen Dornröschenschlaf gefallen, und es war eine neue Physik notwendig, um zu verstehen, was da überhaupt passiert ist, warum das da geleuchtet hat und diese Physik ist entstanden durch die Erfindung des Transistors, die Halbleiterphysik, und die hat es erlaubt dann zu erklären, was der Mister Round da beobachtet hat und dann hat es noch einmal einige Jahre gedauert, bis in die 50er Jahren hinein, bis der Nick Holonday die erste LED im infraroten Bereich auch gebaut hat und danach setzte eine Entwicklung ein, die bis heute andauert.“
SPRECHERIN:
Die ersten LEDs können nur rotes Licht erzeugen. Trotzdem finden sich für das neue Licht Einsatzmöglichkeiten. Und zwar immer dann, wenn es darauf ankommt, besonders sorgsam mit elektrischer Energie umzugehen:
ZUSP 17 Cornelius Neumann 00:31
„Und deshalb ging es mit den roten Indikatorlämpchen los, dann kamen die grünen Lämpchen, so in den 80er, 90er Jahren. Ich kann mich aus meiner Jugend an Fernseher und HIFI-Anlagen erinnern, die dann solche Aufnahmeanzeigen mit kleinen LEDs hatten, die ersten Taschenrechner mit LED-Beleuchtung, in der Zeit war die Lichtmenge, die die LED abgegeben hat, einfach noch nicht hoch genug, um sie als erwachsene Lichtquelle wahrzunehmen.“
SPRECHERIN:
Der Durchbruch gelingt japanischen Wissenschaftlern Mitte der 1990er Jahre: Sie entwickeln die erste LED, die blaues Licht emittiert, und werden dafür mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Denn erst durch das blaue Licht lässt sich jetzt auch weißes Licht mischen. Die LEDs, die nun der Lichtfarbe den bisherigen Glühlampen ziemlich nah kommen, sind bald die Nummer Eins der Lichtquellen. Die Vorteile sind ihre lange Lebensdauer, der geringere Stromverbrauch, die hohe Lichtausbeute und die Möglichkeit, das Licht zu dynamisieren.
ZUSP 18 Cornelius Neumann 00:32
„Licht dynamisieren bedeutet, dass wir es einmal natürlich klassisch heller und dunkler machen können, also das Dimmen, wir können aber auch die Farbe wechseln, wir können das Ganze elektronisch ansteuern, und wir können zum Beispiel an den Tagesrhythmus oder an die Stimmung unsere Beleuchtung anpassen, und all das trägt dann dazu bei, dass wir eine dynamisierte Beleuchtung haben, und das ist eine neue Qualität in der Beleuchtung, die wir mit Leuchtstofflampen nicht hatten, und mit Glühlampen nur ganz eingeschränkt hatten.“
Musik 14:
"Strathcona" - Strathcona Variations - EP -Ausführender und Komponist: Loscil - Länge: 0'50
SPRECHERIN:
Die neuen Lichtquellen auf Halbleiterbasis revolutionieren seit einigen Jahren die Beleuchtungstechnik wie das zuletzt durch die Erfindung der Glühlampen und des elektrischen Lichts geschehen ist. Und die Entwicklung ist nicht am Ende, die LED-Lichtquellen sind in den vergangenen Jahren pro Dekade jeweils um den Faktor 30 heller geworden. Die Einsatzmöglichkeiten sind zahlreich: Eine LED, die ihre Energie von einer Solarzelle bekommt, spendet auch unabhängig vom Stromnetz Licht. So kommt es, dass das billige, leicht verfügbare Licht die Nacht und die damit verbundene Dunkelheit immer weiter zurückdrängt.
Fast jedes Kind kennt sie: die Angst vor der Dunkelheit, ein kulturübergreifendes Phänomen. Ohne sich mithilfe des Sehsinns orientieren zu können, tauchen die Menschen in eine Sphäre der Unsicherheit, viele fühlen sich unheimlichen Phantasien preisgegeben. Warum ist das so? RadioWissen ist der Angst vor der Dunkelheit auf der Spur. (BR 2021) Autorin: Susanne Hofmann
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Amberger, Peter Lersch, Thomas Birnstiel, Chonstanze Fennel
Technik: Viktor Verres
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Eva-Maria Fassot, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in der Hochschulambulanz der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Carina Breidenbach, Dozentin der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der LMU München – Promotion zu „Poetiken der Angst und Paranoia in Textens des 20. und 21. Jahrhunderts“.
Prof. Ulrich Bröckling, Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg
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Musik: Bitter intrigues 0‘49
1. ZUSPIELUNG Kinder (kürzbar)
„Ich hab Angst, wenn es in meinem Zimmer knackst und ich bin allein im dunkeln Zimmer …
Da trägt mich Papa immer ins Bett und da lassen sie die Tür ein bisschen offen, weil es mir dann zu dunkel ist – und dann kommt ein bisschen Licht rein in dein Zimmer – weil ich denk immer, dass dann Geister kommen – ganz gruselig! – da will ich lieber immer wach bleiben“
Hanna: oder abends allein draußen, da hab ich schon mehr Angst, weil da können auch Füchse zum Beispiel
ERZÄHLER
Die Angst vor der Dunkelheit oder vor dem, was da im Dunkeln alles lauern könnte, ist eine Angst, die Kinder für gewöhnlich im Alter von drei bis vier Jahren entwickeln. Diese Angst steckt uns seit Millionen von Jahren quasi in den Knochen, sie ist ein Erbe der Evolution, erklärt Diplompsychologin Eva-Maria Fassot [französische Aussprache] von der Universität Freiburg.
2. ZUSPIELUNG Fassot 00:10
„Wenn man sich überlegt, wie unsere Vorfahren gelebt haben, dann ist es schon so, dass Angst vor Dunkelheit sicherlich einen Anpassungsvorteil früher mit sich gebracht hat. Es macht heutzutage bestimmt nicht mehr so viel Sinn. Aber wenn Sie jetzt sich heutzutage auf eine Safari begeben oder im Outback sind, ist es sicherlich immer noch empfehlenswert, wenn Sie vor Dunkelheit eher Angst haben. Also Angst vor Dunkelheit hat ursprünglich bestimmten evolutionären Vorteil gebracht.“
Musik: Z8023888135 Cold analysis 0‘28
ERZÄHLERIN
Unsere frühen Vorfahren waren Raubtieren, die in der Dunkelheit lauerten, weitgehend hilflos ausgeliefert. Nur wer ein gut funktionierendes inneres Alarmsystem besaß und auf Gefahren schnell durch Flucht oder Kampf reagierte, sicherte das Überleben seiner Gene. Ebenso lebensrettend konnten in der Frühzeit des Menschen andere Ängste wirken, die Furcht vor Schlangen zum Beispiel oder vor Spinnen.
ERZÄHLER
Auch diese Empfindungen sind nach Meinung einiger Wissenschaftler seitdem biologisch in uns angelegt, sie sind eine anthropologische Konstante und leben in vielen von uns bis heute fort – obwohl sie streng genommen in einer weitgehend ausgeleuchteten, schlangenfreien zivilisierten Welt keinen Nutzen mehr für uns haben, also eigentlich irrational sind. Reale Gefahren des modernen Lebens, wie den Straßenverkehr oder Ernährungsfehler, unterschätzen dagegen die meisten, weil sie sich davor nicht instinktiv fürchten.
Musik: Misjudgement 0‘39
ERZÄHLERIN
Die Angst vor der Dunkelheit hängt natürlich auch eng damit zusammen, wie wir Menschen uns in unserer Umwelt orientieren. Unsere Sinne sind für Aktivitäten bei Helligkeit optimiert – tagsüber können wir uns gut durch das Sehen orientieren. Sinne, die nachts von Vorteil sind, wie das Hören, Riechen und Tasten, sind beim Menschen im Vergleich zu vielen Tieren dagegen weniger ausgebildet. Und das hat Folgen, meint die Literaturwissenschaftlerin Carina Breidenbach von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie arbeitet an ihrer Dissertation zum Thema „Angst in der erzählenden Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts“ – dort nimmt die Angst vor der Dunkelheit einen breiten Raum ein.
3. ZUSPIELUNG Breidenbach 2.58
„Kurz gesagt, stellt uns die Dunkelheit vor ein epistemologisches Problem. Also ein Problem, was mit unserem Wissen oder mit unserer Erkenntnis der Welt zu tun hat. Als Menschen können wir nicht so besonders gut hören. Wir können nicht so gut riechen wie Hunde. Das heißt, wir orientieren uns in erster Linie eben mit unserem Sehsinn. Und beherrschen dadurch auch die Natur, können uns orientieren. Und wenn es dunkel ist und uns eben diese Fähigkeit genommen wird, sind wir erst mal hilflos, fühlen uns ausgeliefert.“
ERZÄHLER
Deshalb ist die Dunkelheit für uns Menschen eine Sphäre der Unsicherheit und des Kontrollverlusts. Zumindest ist dies die eine Seite der Dunkelheit. Dass die Dunkelheit andererseits auch anziehen und faszinieren kann, was sich gerade auch in der Literatur spiegelt – dazu später mehr.
Musik: Incorrectness 0‘25
ERZÄHLERIN
Vor allem der Dunkelheit außerhalb des Hauses zu begegnen, löst bei vielen Menschen zumindest Unbehagen aus. Insbesondere Frauen nehmen lieber Umwege entlang hell beleuchteter Straßen in Kauf, als durch finstere Unterführungen oder auf unbeleuchteten Wegen zu laufen – auch aus Angst vor Kriminalität.
4. ZUSPIELUNG Bröckling 1:44
„Was hier festzustellen ist, ist dass die Angst, an solchen Orten Opfer eines Verbrechens zu werden, überfallen zu werden, etwa sehr viel größer ist als die tatsächlich vorkommenden Straftaten an solchen Orten.“
ERZÄHLER
Beobachtet Ulrich Bröckling, Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.
5. ZUSPIELUNG Bröckling 1:44
„Also Kriminalitäts-Furcht und das tatsächliche Kriminalitätsaufkommen weichen oft voneinander ab. Das zeigt auch, dass Furcht oder Angst oft eine Eigendynamik entwickeln.“
ERZÄHLERIN
So haben 2015 britische Wissenschaftler von der London School of Hygiene (Aussprache englisch) in einer großen Studie anhand von 62 Städten untersucht, welche Folgen es hat, wenn man das Licht in einzelnen Stadtvierteln oder Straßen nachts löscht. Das Ergebnis: Es wurden im Dunkeln nicht mehr Verbrechen verübt als bei mehr Helligkeit. Der Mitautor Dr. Phil Edwards (von der London School of Hygiene) plädierte daher dafür, künftig an der Straßenbeleuchtung zu sparen – immerhin würden dafür im Jahr rund 300 Millionen Pfund alleine in Großbritannien ausgegeben.
ZITATOR
„In einer Zeit, in der die Behörden Ausgabenkürzungen vornehmen müssen, zeigen unsere Ergebnisse, dass bei sorgsam abgeschätzten Risiken die Straßenbeleuchtung ohne Zunahme an Unfällen und Kriminalität reduziert werden kann."
Musik: Nebulous thoughts 0‘20
ZITATOR/ZITATORIN - Collage
Das bleibt im Dunkeln – schwarzer Peter – schwarze Magie – schwarze Kassen – das Dunkelfeld müssen wir erhellen – da sieht es zappenduster aus! – finstere Gestalten – dunkle Mächte – das Darknet – Dunkeldeutschland
ERZÄHLER
Im deutschen Sprachgebrauch schwingt bei der Dunkelheit und dem Dunklen im Allgemeinen etwas Negatives mit – oft steht es für Gefahr, Bedrohung, das Unheimliche. Redewendungen wie „im Dunkeln tappen“ oder „im Dunkeln bleiben“ verweisen auf die Dunkelheit als eine Sphäre der Unwissenheit, einen Raum, der sich der Erkenntnis entzieht.
Musik: Bright ideas 0‘16
ZITATOR/ZITATORIN - Collage
Da muss Licht ins Dunkel – endlich, ein Licht am Ende des Tunnels! – da ist mir ein Licht aufgegangen – das war die Erleuchtung – Licht am Horizont – das Glück erhellte ihr Gesicht – er ist ein helles Köpfchen
ERZÄHLERIN
Das Licht und das Helle dagegen sind im Deutschen meist positiv besetzt: Es steht für Aufklärung, für Erkenntnis und, im weiteren Sinne, für Wissen und Beherrschung der Natur, analysiert die Literaturwissenschaftlerin Carina Breidenbach von der Ludwig-Maxilimians Universität in München:
6. ZUSPIELUNG Breidenbach 20.00
„Das Gute und das Böse sind natürlich immer mit diesen Lichtmetaphern irgendwie verbunden. Also die Schattenseite der menschlichen Natur ist irgendwie das Irrationale, Unkontrollierbare Unbewusste. Dunkle Machenschaften haben meistens mit Gewalt und Bedrohung zu tun. Eine Lichtgestalt ist in der Regel was Gutes und Positives, während ein schwarzes Schaf auf dem negativen Ende des Spektrums angeordnet ist. Hell und dunkel als Metaphern für Gut und Böse und für Wissen und Unwissen, das findet man auch in unserer Alltagssprache überall und natürlich ganz besonders deutlich in dieser Epochenbezeichnung „Aufklärung“, also die Epoche, wo es eben zu dieser noch verstärkten Beherrschung der Natur durch die menschliche Ratio, durch die Wissenschaft kam. Da hat man diese Metapher des Lichts für das Wissen noch mal ganz deutlich.“
ERZÄHLER
Die Assoziation der Dunkelheit mit der Sünde, ja dem Bösen schlechthin auf der einen, und die Assoziation des Lichts mit dem Guten auf der anderen Seite finden sich schon in der Bibel, genauer in der Schöpfungsgeschichte.
Musik: In the shadows 0‘23
ZITATOR
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebt über dem Wasser, und Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht.“
ERZÄHLERIN
Indem Gott spricht: „Es werde Licht“, kommt Licht in die Welt, die bis dahin aus Finsternis besteht. Im Johannes-Evangelium wird dann Jesus selbst mit dem Licht identifiziert, das die Dunkelheit erhellt.
Suspended transucent 0‘16
ZITATOR
„Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“
7. ZUSPIELUNG Breidenbach 18:00
„Also, man hat im Christentum schon ganz früh diese Assoziation von Licht und Gutem und Gott - und der Dunkelheit mit dem Bösen. Gerade im Mittelalter dann ist es natürlich besonders präsent. Also der Teufel hat ja zum Beispiel den Beinamen Fürst der Finsternis, und auch die ganzen Geschöpfe im Gefolge des Teufels, Hexen und so weiter, sind natürlich alle mit der Sphäre des Bösen und Teuflischen und des Dunklen irgendwie verbunden.“
ERZÄHLER
Sagt die Literaturwissenschaftlerin Carina Breidenbach. Sie sieht in der basalen menschlichen Angst vor der eigenen Hilflosigkeit im Dunkeln den Ursprung dieses hell-dunkel-Topos – der sich übrigens in vielen Schöpfungsgeschichten und Mythen wiederfindet.
8. ZUSPIELUNG Breidenbach 10:00
„Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben, im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Fall: die Zeit, sonst und schwerwiegender: die Furcht. Also eine Funktion von Geschichtenerzählen, von Mythen, von Literatur kann eben sein: diese unkontrollierbare Natur, unsere Erfahrungen damit irgendwie handhabbar zu machen.
ERZÄHLERIN
So sah es der Philosoph Hans Blumenberg, der sich in seiner „Arbeit am Mythos“ der Funktion und Wirkung von Mythen oder, allgemeiner, der Literatur widmete. Beides, die Dunkelheit wie die Angst davor haben keine klaren Konturen – gerade deshalb fordern sie den Menschen heraus. Carina Breidenbach:
9. ZUSPIELUNG Breidenbach 13:55
„Es gibt in der Existenzphilosophie eine wichtige Unterscheidung zwischen Angst und Furcht. … Angst ist unbestimmt… also man hat dieses unwohle Gefühl, weiß aber nicht, was bedroht mich da eigentlich? Es könnte irgendwie alles oder nichts sein, und die Furcht ist eben auf der anderen Seite angesiedelt. Die ist bestimmt, weil man da ein Objekt hat, was man identifizieren kann, zum Beispiel wildes Tier oder ein bedrohlicher Mensch. Und die Furcht ist eben einfacher zu bewältigen. Man kann den Gegner bekämpfen oder man kann weglaufen. Bei der Angst ist es eben nicht der Fall. Man kann sie eigentlich nicht auflösen. Man weiß nicht, … was steht mir da eigentlich gegenüber? Und die Dunkelheit ist natürlich gerade diese Sphäre der Unbestimmtheit und das Nichts, wo wir tatsächlich diese Angst irgendwie empfinden, man beschreibt Angst manchmal als frei flottierend, sie hat irgendwie kein Objekt, man weiß nicht so richtig, wann sie anfängt und aufhört, und das macht es eben gerade so unmöglich, irgendwie mit ihr umzugehen.“
Musik: Constant fear red 0‘33
ERZÄHLER
In den Augen des Philosophen Hans Blumenberg erzeugen Menschen vor allem deshalb Kultur, um ihre vage, existentielle Angst in den Griff zu bekommen. In Erzählungen bekommt das Unbenennbare, Abstrakte Furchterregende eine Gestalt, einen Namen. In dieser konkreten Form können die Leserinnen und Leser Ängste, so auch die Angst vor der Dunkelheit, dann bewältigen – eine wichtige Funktion der Literatur.
10. ZUSPIELUNG Breidenbach 08:56
„Ein Genre, was zum Beispiel diese Funktion sehr sichtbar erfüllt, ist natürlich das Märchen, der dunkle Wald im Märchen ist ja auch so ein Topos. Also Hänsel und Gretel gehen durch den dunklen Wald, Rotkäppchen trifft im Dunkeln bald auf den bösen Wolf. Und diese diffuse Angst, die wir als Menschen verspüren, in einer Umwelt, die wir halt nicht komplett kontrollieren können, die wird halt in so einer Märchenhandlung, in so einem sehr einfachen Narrativ, irgendwie greifbar und bearbeitbar und handhabbar und dadurch irgendwie auch ab-erzählbar.“
ERZÄHLERIN
Märchen hatten vor allem früher fast immer auch eine pädagogische Funktion. So funktionalisieren einige Märchen und Mythen die Angst vor dem Dunkeln auch, um Kinder zum richtigen Verhalten zu erziehen.
11. ZUSPIELUNG Breidenbach 23:00
„Es gibt im englischsprachigen Raum die Figur des sogenannten Bogeyman, im Deutschen haben wir den Butzemann, … oder auch den schwarzen Mann. Also das sind eben diese Gestalten, die eigentlich nur im Dunkeln rauskommen und Kinder, die sich nicht benehmen, irgendwie entführen oder auffressen. … also dieser Kinderschreck, mit dem man Kinder dazu bringt, nach der Dämmerung nicht mehr alleine draußen rumzulaufen.“
Musik: Sonate für Klavier 0‘30
ERZÄHLER
In der Epoche der Romantik tritt die Dunkelheit sozusagen ins literarische Rampenlicht. Ihr kommt nun eine besondere Bedeutung zu – auch als Gegenpol zur vorangegangenen Epoche der Aufklärung mit ihrer Betonung der Ratio. In der Nacht offenbarte sich den Romantikern die menschliche Natur mitsamt dem Unterbewusstsein.
12. ZUSPIELUNG Breidenbach 24:23
„Es gibt eine Unterströmung in der Romantik, die sich schwarze Romantik nennt, also Tieck, E.T.A. Hoffmann gehören dazu, die sich eben mit dieser Nachtseite der menschlichen Natur sehr stark auseinandersetzen, also das, was die Aufklärung eigentlich versucht hat, auszumerzen und auszuschließen, also das Triebhafte im Menschen, das Irrationale, das Unkontrollierbare, Wahnsinn, das Böse sind eben Themen, die eine große Faszination ausstrahlen in der schwarzen Romantik, und die Dunkelheit und so etwas wie unterirdische Bergwerke stehen da eben oft für das Unbewusste und das Irrationale im Menschen also, da hat man diese Nachtseite der menschlichen Natur.“
ERZÄHLERIN
Carina Breidenbach beobachtet, dass die Angst vor der Dunkelheit in der Literatur in dem Moment eine Hoch-Zeit erlebt, in dem die Menschen damals anfangen, die Nacht mit künstlichem Licht zu erhellen, die Wohnungen mit Kerzen- und Gaslicht beleuchten und in den Städten Straßenlaternen aufstellen. Als es also im wirklichen Leben allmählich heller wird, wird es in der Literatur dunkler: Ende des 18. Jahrhunderts entsteht das Genre der sogenannten Gothic Novel, des Schauerromans, der auch in Deutschland von Autoren wie E.T.A. Hoffmann mit seinen „Nachtstücken“ aufgegriffen wird. Darin verschwimmen die Grenzen zwischen dem Realistischen und dem Phantastischen.
Musik: Intermezzo (3) 0‘33
ERZÄHLER
Ein Meister der Schauerliteratur ist der US-amerikanische Autor Edgar Allan Poe – auch er zelebriert die Schrecken der Dunkelheit, zum Beispiel in der Kurzgeschichte „Die Grube und das Pendel“. Darin geht es um einen Gefangenen, der zum Tode verurteilt wird, in Ohnmacht fällt und in einem stockfinsteren Kerker erwacht.
ZITATOR 2
„Die hohen Kerzen versanken ins Nichts, ihre Flammen loschen aus. Schwarze Finsternis siegte. Alle Empfindungen ging unter in einem tollen, rasenden Sturz, als falle die Seele in den Hades. Dann war meine Welt nur Schweigen und Stille und Nacht. Ich hätte gern die Augen geöffnet, aber ich wagte es nicht. Ich fürchtete den ersten Blick auf meine Umgebung. Es war nicht Furcht, etwas Entsetzliches zu erblicken, sondern das Grauen nichts zu sehen. Endlich, mit wilder Verzweiflung im Herzen öffnete ich schnell die Augen. Meine schlimmsten Ahnungen bestätigten sich. Schwarze, ewige Nacht umgab mich.“
13. ZUSPIELUNG Breidenbach ca 7:00
„In dem Moment, wo wir die Dunkelheit beherrschen können, zu dem Ausmaß, dass sie uns nicht mehr wirklich bedroht im echten Leben, da wird sie Gegenstand der Literatur, die eben auch Lust erzeugen kann, wo wir eben Erfahrungen machen können, die wir im Alltagsleben nicht machen können, wo wir eben nicht gefährdet sind und dann immer in diesem geschützten Raum der Fiktion bleiben, und nach der Lektüre eines Schauerromans kann man natürlich das Licht einfach wieder anknipsen, wenn man Angst hat und genau da eben diese ja diese Möglichkeit, dieses angenehmen Schauers, dieses wohligen Gruselns möglich.“
ERZÄHLERIN
Nicht nur in der Literatur ist die Dunkelheit nicht immer eindeutig negativ besetzt. Vielmehr ist sie ein zutiefst ambivalentes Phänomen, beobachtet auch der Kultursoziologe Ulrich Bröckling von der Universität Freiburg.
14. ZUSPIELUNG Bröckling 11:20
„Dunkelheit hat auch ihren Reiz. Im Dunkeln kann man eben auch Dinge tun, ohne dass man dabei von anderen beobachtet wird … Die Dunkelheit übt eine große Faszination aus. Auch diese Seite sollten wir nicht vergessen. Und die Dunkelheit ist schließlich auch etwas, was Gelegenheiten schafft. Also im Dunkeln kann man dann vielleicht auch Dinge tun, bei denen man nicht nur nicht beobachtet werden möchte, sondern bei denen man vielleicht doch etwas tut, was nicht erlaubt oder was nicht den Werten entspricht, und manchmal … kommt uns die Dunkelheit auch zu Hilfe.“
Musik: Foreboding fate 0‘21
ERZÄHLER
Nicht nur Liebende und Verbrecher, sondern im Grunde jede und jeder von uns kann in die Dunkelheit eintauchen, eine ganz eigene Sphäre, in der die Regeln des helllichten Tages ihre Gültigkeit verlieren. Die Dunkelheit bildet so eine Art Schutzraum. Ulrich Bröckling:
15. ZUSPIELUNG Bröckling 2:41
„Die Dunkelheit ist etwas, was uns auch einen Rückzug ermöglicht. Nicht umsonst ist die Zeit, in der wir schlafen, häufig eben verbunden mit Dunkelheit. Und wenn es draußen noch hell ist, ziehen wir jedenfalls die Rollladen runter oder … verdunkeln den Raum, in dem wir uns bewegen, um uns zurückzuziehen können, um besser einschlafen, besser schlafen zu können. Also die Dunkelheit ist auch etwas, was mit Ruhe, mit Reizarmut verbunden ist, was uns von den vielen Eindrücken, die uns den ganzen Tag begleiten, temporär entlastet.“
ERZÄHLERIN
Heute, wo zumindest die Städte nachts fast taghell beleuchtet sind, taucht so etwas wie eine neue Sehnsucht nach der Dunkelheit auf. Man spricht von Lichtverschmutzung und sucht die „richtige“ Dunkelheit, die oft nur noch auf dem Land, abseits der Siedlungen zu finden ist. Carina Breidenbach:
16. ZUSPIELUNG Breidenbach 27.58
„Und es gibt solche Phänomene, wie zum Beispiel das Dark Dining, also … dass man ins Restaurant geht, wo es dunkel ist und dann im Dunkeln isst, wo man sich fragt, warum tut man sich sowas an? Aber da ist eben die Dunkelheit irgendwie ja so eine Sehnsuchtsraum, beim Dark Dining verbunden mit so einer Vorstellung von gesteigerter Sinneserfahrung. Wenn es dunkel ist und man nichts mehr sieht, dann kann man besser schmecken und besser riechen und besser hören.“
Musik: Where the darkness is 0‘34
ERZÄHLER
Obwohl der Mensch der Moderne die Dunkelheit aus seinem Leben weitgehend verbannt hat, es also immer weniger Gelegenheiten gibt, sich vor ihr zu fürchten – so wird die Dunkelheit für den Menschen vermutlich immer eines bleiben: Faszinosum und Projektionsraum für die Phantasie.
Schnee ist ein temporäres Ereignis, auf das Tiere sich einstellen um zu überleben. Manche scheinen dabei den Schnee eher zu begrüßen, andere fliehen ihn. Brauchen sie den Schnee überhaupt? Und wenn ja, wozu? Von Christiane Seiler (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Rahel Comtesse, Axel Wostry, Friedrich Schloffer
Technik: Robin Auld
Redaktion: Bernhard Kastner
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Eine Höhenkrankheit kann Bergsteigern das Leben kosten. Ein Höhentraining kann Sportlern Rekorde und Medaillen bescheren. Für den Menschen ist das Leben in der Höhe in jedem Fall extrem. (BR 2021) Autor: Bernd-Uwe Gutknecht
Credits
Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Rahel Comtesse, Jennifer Güzel
Technik: Robin Auld
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Prof. Dr. Simon Schäfer, leitender Oberarzt an der Münchner Uniklinik in Großhadern;
Dr. Wolfgang Schaffert, HöhenmedizinerFlavio Mannhardt, Sportwissenschaftler, Betreiber des Hypoxicum;
Eva-Maria Sperger, Ultratrail-Läuferin;
Reinhold Messner, Alpinist;
Uwe Hartmann, Lauf-Trainer;
Gesa Felicitas Krause, Hindernisläuferin
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 Resource scarcity
Sprecher:
9900 Meter! So hoch fliegen normalerweise nur Flugzeuge. 9900 Meter zeigte am 14. Februar 2007 das GPS einer im Chiemgau lebenden polnischen Gleitschirmfliegerin an: Ewa Wisnierska war bei einem Trainingsflug in Australien in eine Cumulonimbus-Wolke geraten und in eine Höhe gezogen worden, wo minus 50 Grad Kälte herrschen. Die Profi-Sportlerin verlor das Bewusstsein, überlebte an ihrem Gleitschirm hängend wie durch ein Wunder. Vermutlich ist noch nie ein Mensch ohne künstlichen Sauerstoff in diese Höhe gekommen:
Zusp. 1 Collage Eva (bereits gemischt): 0‘49
MUSIK „Ich bin irgendwann aufgewacht. Und dann merkte ich, dass ich die Bremsen gar nicht mehr in den Händen halte, sondern dass die Bremsschlaufen über mir hängen, mit Eiszapfen, alles war vereist. Und dann dachte ich: zum Glück fliegt er geradeaus. Und dann bin ich irgendwann unten aus der Wolke raus. Dann kam die Erleichterung und ich habe gedacht: es könnte gut ausgehen!“ -
Sprecher
9900 Meter! Zum Vergleich: der Mount Everest misst 8848 Meter. Überlebt hat die Gleitschirmfliegerin vermutlich aufgrund ihres überdurchschnittlichen Trainingszustandes. Sie hatte direkt vor dem Höhenflug ein mehrwöchiges Höhentraining absolviert!
MUSIK 2 Microelements 0‘34
ATMO 1 0’10 Läuferin
Sprecherin:
Ein Höhentraining, wie es viele Profisportler, aber auch Amateure, in ihre Trainingsroutine einbauen.
In den letzten Jahren haben Wissenschaftler neue Erkenntnisse über die Höhenluft gewonnen. Und kommerzielle Anbieter drängen etwa mit Höhenzelten für den Hausgebrauch auf den Markt. Was ist dran an der vielbeschworenen Höhenluft? Wem nutzt sie, wann schadet sie?
Musik 3 Medical insights 0‘48
Auf 1500 bis 2500 Metern Höhe werden die besten Trainingseffekte erzielt, sagen Sportmediziner. Wird in diesen Höhenlagen gelaufen, geradelt oder geschwommen, muss der Körper mit weniger Sauerstoff auskommen, gewöhnt sich nach einigen Tagen daran und kann dann in niederen Gegenden einen förmlichen Sauerstoff-Schub und damit eine Leistungssteigerung erleben.
ATMO 2 Wandern 0‘28
Sprecher:
Nicht nur extreme Alpinisten im Himalaya oder in den Anden, auch Hobby-Wanderer in den Alpen fühlen sich magisch angezogen von den Tafeln auf den Gipfeln, auf denen „3000 Meter“ oder mehr steht, wie hier in den Hohen Tauern:
Zusp. 4 Tauern Teil 1:
„Bergheil, super gemacht! 3006 Meter!“
MUSIK 3 hochziehen
Zusp. 5 Stressreaktion:
„Dabei schaltet der Körper auf eine Stressreaktion um, das ist für ihn ja lebensbedrohlich.“
Sprecherin
Dr. Wolfgang Schaffert aus dem oberbayerischen Siegsdorf ist Höhenmediziner und selbst begeisterter Alpinist.
Zusp. 5
„Das Dumme ist nur, dass wir in der Entwicklungsgeschichte keine Fühler für den Sauerstoffmangel entwickelt haben. Wir spüren ihn eigentlich nicht. Es kommt ab einer Seehöhe von 2500 Metern zu einem deutlichen Absinken der Sauerstoffsättigung im Blut. Es nimmt die Atemtätigkeit deutlich zu, es nimmt der Pulsschlag zu und es kommt zu einem Zusammenziehen der Unterhaut-Venen, so dass das Blut aus den Beinen zu der Lunge hin verlagert wird.“
Sprecherin
Seine Erfahrung als Expeditionsarzt zeigt: vielen Bergsteigern sind die physiologischen Gefahren der Höhenkrankheit gar nicht bewusst. Und das betrifft Alle: Trainierte und Untrainierte, Raucher und Nichtraucher, Alt und Jung:
Zusp. 6 Bewusstlosigkeit:
„Wenn wir auf Höhenlagen über 4000 Metern gehen, kann es schon zu ausgeprägten Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, des Bewusstseins, der zentral-nervösen Funktionen kommen. Und die Zeit bis zum Eintreten einer Bewusstlosigkeit ist abhängig von der individuellen Konstitution. Aber viele Versuche sagen, dass ab 5500 Metern bei Manchen schon die Bewusstlosigkeit auftritt.“
Sprecher:
Schon ab 2500 Metern über Meereshöhe merkt der Mensch, dass er eigentlich ein Flachländer ist. Die Luft wird dünner, das Atmen fällt zunehmend schwerer, die Muskeln werden immer weniger durchblutet. Über 3000 Meter kommt es bei rund einem Drittel der Bergsteiger bereits zu ersten Anzeichen einer leichten Höhenkrankheit: Schwindel und Kopfschmerzen.
Sprecherin:
Da gilt es, den Organismus langsam an die Höhe anzupassen. Durch eine allmähliche Akklimatisierung vermehren sich die roten Blutkörperchen und halten so den Sauerstoff-Transport, z.B. zum Gehirn, aufrecht. Bei zu schnellem Aufstieg dagegen droht die Höhenkrankheit in vollem Ausmaß:
Musik 4 Secret proofs 0‘42
Sprecher:
Die erheblich verminderte Sauerstoff-Aufnahmefähigkeit in Verbindung mit der zunehmenden Kälte können zu Atemnot, Austrocknen, Gleichgewichtsstörungen oder Lähmungserscheinungen führen. Das Risiko für ein Höhenlungenödem wächst. Expeditionen auf den Mount Everest werden dennoch angeboten wie Butterfahrten.
Eine Tendenz, die auch dem wohl erfahrensten und erfolgreichsten Bergsteiger der Welt missfällt. Reinhold Messner: der Südtiroler bestieg 1980 als erster Mensch den mit 8848 Metern höchsten Berg der Welt, den Mount Everest, ohne Sauerstoffmaske:
Zusp. 8 Messner Everest:
„Die Medizin und die Physiologie war dann der Meinung, 8500 Meter ist das Ende, höher kann man nicht steigen, denn dann käme nicht mehr genug Sauerstoff zum Blutzucker und dann hat man keine Kraft mehr. Und weil eben die Wissenschaftler im Vorfeld so eindeutig sich festgelegt haben, das ist nicht möglich, haben wir natürlich eine große Rückantwort vom Volk gekriegt. Die haben gesagt: ah, es ist trotzdem möglich. Inzwischen sind viele, na ja, einige Leute ohne Sauerstoff raufgestiegen. Der Everest ist mehr oder weniger die Grenze, viel höher ging`s nicht mehr. Und man muss sich vorstellen, dass es dann unendlich langsam wird, weil wir nur noch ein, zwei Schritte machen können und dann brauchen wir viele viele Atemzüge, hyperventilieren da oben. Und wenn man ohne Maske steigt, dann fährt diese ganz kalte Luft – minus 40 Grad hatten wir am Gipfel – in die Lungen und das tut auch weh. Also wenn junge Leute heute sagen, weil es Mode ist, auf die Frage warum? Weil es Spaß macht! Dann muss ich nur lächeln, es macht nicht Spaß!“
MUSIK 5 Disturbing factors 0‘37
Sprecherin:
Die Höhenkrankheit resultiert aus einer Hypoxie, also der Minderversorgung des Körpers oder einzelner Körperteile bzw. Organe mit Sauerstoff. Gemessen wird das durch den Sauerstoff-Partialdruck pO2 im Blut. Oftmals sind Extremitäten-Arterien beeinträchtigt, sie können komplett verschließen, Beine oder Arme können dadurch absterben. Leidet der gesamte Organismus unter Sauerstoffmangel, dann sprechen Mediziner von einer Anoxie.
Sprecher:
Ob und wie stark ein Mensch auf eine Hypoxie reagiert, hängt von seinen Genen ab. Professor Dr. Simon Schäfer vom Klinikum der Universität München in Großhadern forscht seit Jahren über die genbedingte Hypoxie-Toleranz:
Zusp. 10 Veranlagung:
„Zunächst muss man wissen, dass sich der menschliche Körper den Luxus leistet, permanent für das Auftreten eines Sauerstoffmangels vorbereitet zu sein. Unser Körper, jede einzelne Zelle, produziert rund um die Uhr Substanzen nur für den Fall des Sauerstoffmangels. Aber wie stark das ist, das ist von Person zu Person unterschiedlich. Das heißt, es gibt genetische Varianten, Veranlagungen, die dazu führen, dass dieses System, das uns bei Sauerstoffmangel hilft, unterschiedlich stark ausgeprägt ist.“
Sprecherin:
Die Wissenschaftler sprechen von der „hypoxisch-inflammatorischen Gen-Regulation“. Dabei untersuchen sie, wie sich der Körper an Sauerstoffmangel anpassen und damit verbundene Entzündungserkrankungen bekämpfen kann.
Sprecher:
Eine erstaunliche Erkenntnis von Professor Schäfer und seinem Team: nicht nur bei Bewohnern von Höhenlagen wie in Peru oder in Nepal gibt es gute genetische Bedingungen für eine entsprechende Adaptierung, sondern auch bei uns:
Zusp. 11 Sherpas:
„Ein relevanter Anteil der Bevölkerung in Europa hat auch diese genetischen Varianten, die wir von den Sherpas her kennen und die den Sherpas helfen, eben in großer Höhe sportliche Leistungen erbringen zu können. Und je nachdem, ob eine Person eine oder mehrere dieser genetischen Varianten hat, ermöglicht es auch uns Europäern, besser einen akuten Sauerstoffmangel zu tolerieren.“
Sprecherin:
Das heißt vereinfacht: unsere Gene sagen unseren Organen, vor allem der Lunge, wie sie mit Sauerstoffmangel umgehen sollen:
Zusp. 12 Ödem:
„Eine klassische Komplikation des Höhenbergsteigens ist das Lungenödem, d.h. das Versagen der Lunge. Das entsteht dadurch, dass sich die Lungengefäße ganz stark zusammenziehen und dann Wasser in die Lunge austritt und der Bergsteiger eben nicht mehr atmen kann. Wenn nur ein klein wenig, eine einzelne Stelle der Erbinformation so oder so ausfällt, dann funktioniert die Substanz, das Protein, das dazu führt, dass sich die Gefäße in der Lunge zusammenziehen, sehr stark oder weniger stark. Und das führt am Ende dazu, ob jemand in der Höhe Atemprobleme bekommt oder nicht.“
ATMO 3 Hypoxie 0‘52
Sprecherin:
Mit einem speziellen Hypoxie-Training kann man auch im Flachland seine genetischen Voraussetzungen etwas verbessern:
Zusp. 13 Hypoxie:
„Hypoxietraining beruht auf dem Höhentraining, das man so kennt von den Profis, die ins Höhentrainingslager fahren. Das Hypoxietraining bei uns sieht so aus, dass man in simulierter Höhe trainiert.“
Sprecher:
Flavio Mannhardt ist Sportwissenschaftler und betreibt in München das Hypoxicum, ein Fitness-und Gesundheits-Studio, das auf Höhentraining spezialisiert ist. Hier, auf rund 500 Metern Höhe über dem Meeresspiegel, beträgt der Anteil an Sauerstoff in der Luft etwa 21 Prozent. In 2500 Metern Höhe liegt der Wert bei 15,5 Prozent.
Zusp. 14 Höhenraum:
„Wir sind auf 500 Meter München, aber die Kunden sind gerade z.B. auf 2500 Metern. Das Ganze kann man durch sogenannte normobare Hypoxie möglich machen. Was heißt normobare Hypoxie? Wir verändern den Sauerstoffgehalt da drin. Am Berg ist es ja so, dass man hypobare Hypoxie hat, d.h. dass sich der Luftdruck da verändert, ein geringerer Luftdruck bedeutet, dass wir auch einen geringeren Sauerstoff-Partialdruck haben und dadurch kommt weniger Sauerstoff in der Lunge an. Und das simulieren wir im Höhenraum.“
Zusp. 15 Sensor:
„In dem Raum befindet sich ein Sensor, der misst die Gase darin, vor allem den Sauerstoffgehalt und das passiert dann ganz automatisch, er reguliert die Höhe, indem er eine von einem Generator produzierte Höhenluft in den Raum speist. Das ist ein Riesengenerator. Der entzieht der normalen Luft diesen Sauerstoff und wir geben z.B. ein 2500 Meter, dann weiß der ganz genau: ich darf nur noch 15,5 Prozent Sauerstoff in diesen Raum lassen.“
ATMO 4 Laufband 0‘25
Sprecher:
Das Studio besteht aus mehreren Kammern, in denen Laufbänder und Fitnessräder stehen. Die kleinen Räume sind luftdicht verschlossen, so dass die gewünschten Höhen-Einstellungen konserviert werden. Auf einem der Laufbänder trainiert die Hobby-Triathletin Britta. Die Raumluft entspricht gerade einer Höhe von...
Zusp. 16 Triathletin:
„2500…um mich für einen Triathlon vorzubereiten, Mitteldistanz…also ich finde, die Ausdauerleistung steigt enorm. Es ist natürlich sehr anstrengend, wenn man sich vorstellt, dass das eine Abkürzung ist, was Viele meinen – das ist es nicht! Sondern es ist wirklich wahnsinnig anstrengend, hier zu trainieren, aber man hat echt den Vorteil, also man wird nicht schneller im Training, aber ausdauernder.“
ATMO 5 Laufband 0‘3
Zusp. 17 entspannter:
„Also es ist eine Anpassungssache, die Adaption braucht ungefähr 48 Stunden, habe ich immer so den Eindruck. Am Tag danach, wenn es ein richtig heftiges Training war, hat man teilweise ein bisschen Konzentrationsstörung, am Anfang, hinterher vermindert sich das. Und ansonsten kann man besser schlafen meiner Meinung nach, man fühlt sich entspannter.“
ATMO 5 Laufband 0‘14
Sprecherin:
Regelmäßige Bewegung in der Unterdruck-Kammer, das kann auch nur im lockeren Walking-Tempo sein, schult den Organismus im Umgang mit weniger Sauerstoff, was Sportwissenschaftler wie Flavio Mannhardt als Superkompensation bezeichnen:
Zusp. 18 Superkompensation:
„Unsere Zellen sind darauf programmiert, mit ca. 21 Prozent Sauerstoff zu arbeiten. Sie bekommen jetzt aber nur noch 15,5 Prozent. Und dieser Reiz bringt den Körper dann zu einer sogenannten Superkompensation. Im Höhentraining nennt sich das eine Adaption oder eine Akklimatisierung, wenn man das über einen längeren Zeitraum macht.“
Sprecher:
Damit der Trainingsaufwand auch die gewünschten Effekte erzielt, werden die Sauerstoff-Werte der Trainierenden laufend überprüft:
Zusp. 19 Kontrolle:
„Das Ganze misst man mit einem sogenannten Pulsoximeter am Finger. Wir kontrollieren dann, ob wir noch im grünen Bereich sind und vor allem, ob wir in einem effektiven Bereich sind. Da gibt`s Sauerstoff-Sättigungen im Blut, die optimal sind für Höhentraining und wenn das der Fall ist, dann wissen wir, ok, das Training ist gerade effektiv.“
MUSIK 6 Network access 1‘23
Sprecher:
Ein Hypoxie-Trainingsblock geht über fünf Wochen und zwei Stufen
Zusp. 20 erste Stufe:
„Die erste Stufe, das ist eine Verbesserung des cardiovaskulären Systems nach ca. zwei bis drei Wochen Höhentraining. Was passiert da vor allem? Das Herz-Minuten-Volumen vergrößert sich, d.h. unser Herz kann zur selben Zeit mehr Blut durch den Körper pumpen. Es kommt zu einer sogenannten Vasodilatation, die Blutgefäße weiten sich, hier passt dann auch mehr Blut durch. Und es kommt zu einer Kapillarisierung, vor allem in der Muskulatur, also es entstehen neue Blutgefäße, die den Muskel ausreichend mit Sauerstoff versorgen, aber auch mit Nährstoffen. Auch eine Regeneration ist dann schneller.“
MUSIK 6 kurz hochziehen
Zusp. 21 zweite Stufe:
„Und die zweite Stufe, die kann man so nach vier bis fünf Wochen Training erwarten. Und zwar schüttet der Körper dann vermehrt ein bestimmtes Hormon aus, das kennen die meisten vom Doping: Erythropoetin, kurz EPO. Und wenn wir mehr EPO im Blut haben, dann bildet der Körper mehr rote Blutkörperchen. Und die transportieren den Sauerstoff durch das Blut, unser Blut kann mehr Sauerstoff aufnehmen und das ist dann der push, der boost, wie wir es nennen, den man dann wirklich spürt nach vier bis fünf Wochen Training.“
Sprecherin:
Neben dem subjektiven Gefühl vieler Sportler belegen auch wissenschaftliche Studien den Sinn eines Hypoxie-Trainings, wie Professor Schäfer von der Münchner Uniklinik bestätigt:
Zusp. 22 Daten:
„Es gibt Daten dazu, dass der Gipfelerfolg verbessert wird, es gibt Daten dazu, dass der Kreislauf, der Sauerstoffabfall im Blut trainiert werden kann. Meine persönliche Erfahrung ist, dass Höhentraining aus verschiedenen Gründen hilfreich ist für Personen, die in die Höhe wollen. Man gewöhnt sich daran, wie man sich in der Höhe bewegt, wie man in der Höhe atmen muss. Und der Körper erinnert, wie es sich in der Höhe anfühlt.“
ATMO 3 nochmal 0‘29
Sprecherin:
Mittlerweile gibt es auch „Hypoxie-Training to go“. Weil selbst das Schlafen in simulierter Höhe die Adaption verbessert, legen sich Höhensportler nachts in ein Höhenzelt, trainieren aber im Flachland, nach der bewährten Methode „sleep high, train low“, also in der Höhe schlafen, in niedrigen Lagen trainieren.
Zusp. 23 Schlafzelt:
„Also ich habe ein Zelt, mein Partner ist zum Glück auch dabei und der schläft auch mit im Zelt, d.h. wir haben auf unserer Matratze dieses Höhenzelt draufstehen, mit Generator angeschlossen, da haben wir mittlerweile unseren eigenen zuhause, und dann schlafen wir einfach ein paar Wochen da drinnen.“
MUSIK 7 Production process (red.) 0‘50
Sprecher:
Eva-Maria Sperger ist eine der weltbesten Ultratrail-Läuferinnen und arbeitet in München als Psychologin sowie Psycho-Therapeutin.
Zusp. 24 Monterosa:
„Das Monterosa Skyrace, was ein Wettkampf ist, der bis auf 4500 Höhenmeter hochgeht, also richtig über den Gletscher und dafür war es ganz besonders wichtig, sich mit dem Höhentraining darauf vorzubereiten. Ich glaube, wenn ich das nicht gemacht hätte, dann wäre der Wettkampf sicher gar nicht möglich gewesen, dass man sich so schnell am Gletscher bewegt. Auch im Nachhinein hat mir der Wettkampf überhaupt nicht viel ausgemacht.“
MUSIK 7 hochziehen
Zusp. 28 Eva-Maria:
„Vor den Wettkämpfen war es so, dass ich eine Kombination gemacht habe, dass ich immer wieder im Hypoxicum in der Höhenkammer trainiert habe, auf dem Fahrrad oder auch auf dem Laufband, dass ich dann Passiv-Training gemacht habe, was so viel heißt, dass man sich künstlich auf eine Höhe von vielleicht 5500 Höhenmeter begibt und dann immer wieder in Fünf-Minuten-Intervallen auf dieser Höhe ist und beides kombiniert.“
MUSIK 8 New beginning 0‘19
Sprecherin:
Aber nicht nur Sportler, sondern auch Patienten profitieren von Hypoxie-Training, wie Sportwissenschaftler Flavio Mannhardt erklärt. Die „dünne Luft“ fördert Leistung bzw. die Erneuerung der mikroskopisch kleinen Kraftwerke des Menschen, der Mitochondrien:
Zusp. 29 Mitochondrien:
„Mitochondrien sind u.a. auch zuständig für einen guten Fettstoffwechsel, der Grundumsatz erhöht sich dadurch, die Leute können mehr essen ohne zuzunehmen. Der kalorische Verbrauch in der Höhe ist höher, das Hormon Leptin spielt auch eine Rolle. Leptin ist ein Appetitzügler, es kommen Kunden, die haben Heißhungerattacken, die versuchen es, damit zu zügeln. Und Höhentraining hat auch eine diuretische Wirkung: es gibt Menschen, die haben viele Wassereinlagerungen und durch diese diuretische Wirkung versuchen wir, Giftstoffe, Wassereinlagerungen auszuspülen.“
Sprecherin:
Der Hypoxie-Experte Mannhardt empfiehlt die Therapie auch für die Regeneration nach Verletzungen und aufgrund seiner Wirkungen auf gewisse Hormone auch für psychische Beschwerden:
Zusp. 30 Gesundheit:
„Man weiß, dass Höhenluft glücklich macht, Dopamine werden vermehrt ausgeschüttet. Wir haben manchmal Patienten da, die von Ärzten geschickt werden, die z.B. Depressionen haben, keine Lust mehr haben, harte Medikamente zu nehmen. Dann haben wir auch – die meisten denken da gar nicht daran – aber es gibt ein Hormon, das heißt Melatonin, das ist unser Schlafhormon, wir haben auch Leute da, die Probleme haben mit Schlaf, und diese erhöhte Melatoninproduktion, die ist auch wissenschaftlich erweisen.“
Sprecherin:
Von einer Wunderwaffe im Kampf gegen typische Zivilisationskrankheiten zu sprechen, ist sicher überzogen. Aber auch Professor Schäfer, der in Großhadern über Hypoxie forscht, ist von den Vorteilen überzeugt:
Zusp. 31 Krankheiten:
„Es gibt gute Daten, dass Personen, die zuckerkrank sind, unter Hypoxietraining diese Erkrankung verringern oder den Fortschritt der Erkrankung aufhalten können. Man muss es sich so vorstellen, dass dies hypoxisch inflammatorischen Gene Tausende unterschiedliche Substanzen, Mechanismen ein-und ausschalten können. Und deswegen ein kontinuierliches Training unter Sauerstoffmangel Einfluss auf verschiedene chronische Erkrankungen haben kann. Zuckerkrankheit, Übergewicht oder Bluthochdruck.“
MUSIK 9 C1589890106 Delicate information (red.) 0‘38
Sprecher:
Egal ob Patient, Athlet: oder Wanderer: Luftveränderung, also Sauerstoff-Veränderung tut gut. Die dünne Luft kann für den menschlichen Organismus wie eine Frischzellenkur wirken. In gemäßigter Höhe wie hier in den Hohen Tauern kommt zum Jungbrunnen dann noch das Gipfelglück dazu:
Zusp. 4 Tauern gesamt:
„Bergheil, super gemacht! 3006 Meter! – heroben auf 3000 Meter zu sein ist ein tolles Gefühl.
Junge Frauen können ein Lied von den Tücken des Onlinedatings singen. Existieren kluge, einfühlsame und bindungsfreudige Männer überhaupt in der Realität? In der angesagten Literatur-Gattung "Romance" gibt es sie jedenfalls zuhauf. Happy end inclusive. Was den Hype um die Liebesromane vielleicht ein bisschen erklärt. Autorin: Justina Schreiber
Credits
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner
Technik: Christine Frey
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Nicola Bardola, Schriftsteller und Journalist („Börsenblatt des deutschen Buchhandels“);
Anne Rudolph, Lektorin & Programmleitung Kyss beim Rowohlt Verlag
Literaturtipp:
Nicola Bardola, Bestseller mit Biss. Liebe Freundschaft und Vampire. Alles über die Autorin Stephenie Meyer, Heyne, München 2009 – eine interessante und nützliche Analyse des Twilight-Phänomens.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Maria Borrély: Mistral - Wiederentdeckung aus der Provence
Ein Bauernhof in der Provence, allen Winden preisgegeben: Hier lebt die junge Marie. Der Vater träumt davon, die Heide umzupflügen. Marie träumt von Olivier. Doch als sie sein Geheimnis herausfindet, gerät alles in Wanken. Die Wiederentdeckung einer Autorin, die André Gide faszinierte und eines Romans von 1930, der von Klimawandel, Natur und Liebe erzählt. Lesung in 5 Folgen mit Katja Bürkle:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 (Taylor Swift: Love Story 0‘55)
ATMO Menschenmenge
SPRECHERIN:
Der Ansturm ist groß. Sogenannte Lit.Love-Events liegen voll im Trend. Es geht um Liebesliteratur, um moderne Liebesromane. 16- bis 25-jährige Schülerinnen und Studentinnen stehen hier Schlange, um sich Bücher signieren zu lassen.
(MUSIK kurz freistehend)
Sie besuchen Diskussionsrunden, um ihren Lieblingsautorinnen zuzuhören, die über Selbstfindung sprechen oder über die Schwierigkeit, zeitgemäße erotische Szenen zu verfassen. Junge Frauen interessieren sich also wieder für Bücher, genauer gesagt: für Liebesromane und die Events drumherum. Die heranwachsenden Leserinnen werden von den Verlagen und Buchhandlungen förmlich umworben, sagt der Buchmarkt-Experte Nicola Bardola.
O-TON 01: (Bardola)
„Die hat man als Zielgruppe entdeckt. Man hat festgestellt, dass da ein großes Bedürfnis ist. In der Tat: in dem Alter verabschiedet man sich von den Jugendbüchern und nähert sich der Belletristik, den Erwachsenenbüchern, aber zielgerichtet dafür gab es wenig Literatur.“
MUSIK 2 (Romantic Homicide 0‘46)
SPRECHERIN:
Bis vor kurzem. Mittlerweile finden die sogenannten „New Adults“, also die „neuen Erwachsenen“, Lesestoff zu Genüge. Die begehrten Titel lauten „Game on – Mein Herz will dich“, „Icebreaker“, „Blue – Wo immer du mich findest“, „Dear Love, I hate you“ oder ein bisschen komplizierter „Love, theoretically“. Oder schlicht: „Herz aus Schatten“ oder „Zeit des Sturms“. Weil auch die Verpackung der dicken rosa- bis lila-pastellfarbenen Paperback-Bücher ihren Geschmack trifft, gibt es für die jungen Kundinnen kein Halten mehr. Sie kaufen sich Bücher, viele Bücher.
O-TON 02: (Bardola)
„Es sind wunderschöne Umschläge, sehr aufwendig produziert, oft noch mit Farbschnitt, mit digitalem Farbschnitt, mit fluoreszierenden Beschichtungen auf dem Umschlag. Und viele junge Frauen kaufen sich diese Bücher ein zweites Mal: eins für die Lektüre und oder um es der Freundin auszuleihen und eins fürs Bücherregal.“
SPRECHERIN:
Ganz klar, die Zielgruppe dieser Schmöker ist weiblich. Junge Männer, sofern sie überhaupt Romane lesen, greifen lieber zu Krimis, Thrillern oder Fantasy-Literatur. Aber eigentlich ist ja die Liebe das klassische Thema von Poesie und literarischer Fiktion. Zahllose Epen, Songs und Dramen handeln vom Sehnen und Nicht-zueinander-finden, von Trennungen und vielversprechenden Küssen. So wie auch die rosa-lila verpackten Liebesromane des 21. Jahrhunderts. Wobei diese zu einem modernen Genre zählen, das „Romance“ genannt wird. Anne Rudolph ist die Programmleiterin der Romance-Reihe „Kyss“ (=Kiss), die der Hamburger Rowohlt Verlag seit 2018 herausgibt. Sie erklärt die Kriterien des neuen Trendgenres:
O-TON 03: (Anne Rudolph)
„Jede Romance ist ein Liebesroman, aber nicht jeder Liebesroman ist auch eine Romance. Bei Romance haben wir ein relativ klar abgegrenztes Genre, das drei Hauptmerkmale hat: einmal muss die Liebesgeschichte natürlich der Schwerpunkt der Handlung sein. Es geht um zwei Personen hauptsächlich, die dann am Ende zusammenkommen, und das ist das allerwichtigste Merkmal: Am Ende muss ein Happy End stehen. Wenn es eine Liebesgeschichte ist, die aber traurig ausgeht, dann ist das keine Romance, immer noch ein Liebesroman, aber keine Romance.“
MUSIK 3 (Sleep Well 0‘57)
SPRECHERIN:
Janes Stimme vibriert, als sie zum ersten Mal die Haut des anfangs ziemlich verklemmten Politikstudenten Alex berührt. Der junge Mann hat ein Problem. Als Jane den Hintergrund erfährt, bricht ihr – laut Klappentext - das Herz. „Wer fängt dich auf, wenn du fällst?“ fragt ein anderes Buch. Nun, es ist weder der 1 Meter 90 große Liam mit dem unfassbar süßen Gesichtsausdruck noch der ebenso süße, beim Petting unkontrolliert ejakulierende Ian. Es ist wohl eher die Romance selbst, die die junge weibliche Leserschaft auffängt und festhält, um nicht zu sagen: fesselt.
O-TON 04: (Anne Rudolph)
„Romance-Leserinnen suchen nach Unterhaltung, sie suchen nach Entspannung, und sie suchen auch nach Weltflucht, nach Büchern, die sie wirklich aus ihrem Alltag wegbringen, in die sie sich komplett emotional fallen lassen können und die die Garantie bieten, dass sie am Ende dieses Falls weich aufkommen, nämlich diese Happy End-Garantie am Ende dieser Bücher, also die Lese-Motivation ist ganz klar: Unterhaltung, Entspannung, Weltflucht.“
SPRECHERIN:
In der akademischen Welt, unter Bildungsbürgern spricht man gern von Populär - oder Trivial-Literatur, wenn es um Romane mit vorgezeichneten Schemata geht, die den Massengeschmack treffen. In den Begrifflichkeiten schwingt Abwertung mit, meint Anne Rudolph vom Rowohlt-Verlag:
O-TON 05: (Rudolph)
„Im Kontext von Romance hat das häufig auch noch so einen misogynen Hintergrund. Weil ein Genre, dass von Frauen und nur für Frauen geschrieben wird, fast nur für Frauen geschrieben wird, hat das natürlich immer eigentlich dieses Thema: ach Gott, es geht um Gefühle, und dann geht es auch noch um Sex, das muss ich ja trivial sein. Inwiefern sind Gefühle in irgendeiner Form trivial? Gerade Liebe betrifft uns alle.“
MUSIK 4 (Here With Me 1’12)
ATMO Video (bookstagram)
SPRECHERIN:
Die unzähligen jungen Frauen, die es sich heutzutage mit einer Romance in ihrem Zimmer gemütlich machen, orientieren sich nicht an literarischen Debatten. Sie haben ihre eigenen Instanzen, nämlich die Booktokkerinnen und Bookstagramerinnen, die ihre Leseempfehlungen auf den sozialen Plattformen Instagram oder TikTok posten und eine neue Romance nach der anderen zum ultimativen „Must-Have“ erklären. Das Buch, das vor 20 Jahren für tot erklärt wurde, lebt also munter weiter. Und zwar nicht nur als E-Book. Den Autor und Journalisten Nicola Bardola stimmt der aktuelle Hype deshalb in erster Linie optimistisch.
O-TON 06: (Nicola Bardola)
„Es ist eine Art Lifestyle, also das Buch ist wieder wichtig geworden im Leben junger Frauen. Man findet auf Instagram Filmchen, wie die jungen Frauen in Buchhandlungen gehen und sich beim Stöbern im Regal mit Romance-Büchern filmen und das auch kommentieren. Und wie sie dann auch mit Stapeln von diesen Romance-Titeln die Buchhandlung verlassen.“
SPRECHERIN:
Nicola Bardola beobachtet für das „Börsenblatt des deutschen Buchhandels“ seit Jahrzehnten Trends rund ums Bücher lesen. Der Boom des aus den USA stammende Romance-Genre kam ein bisschen überraschend. Nicht nur Übersetzungen aus dem Englischen, sondern auch Bücher von jungen deutschsprachigen Autorinnen finden hier jetzt reißenden Absatz:
O-TON 07: (Bardola)
„Das war eigentlich unvorhersehbar und sprengt die Vorstellungskraft aller Buchhändlerinnen, aller Verlegerinnen, weil die Umsätze enorm hoch sind, weil extrem viel gelesen wird, sehr viele Bücher verkauft werden, sehr viele, vor allem Autorinnen, weibliche, Bücher schreiben. Das hat mit vielen Faktoren zu tun, beispielsweise auch mit der Fan-Fiction.“
MUSIK 5 (Carter Burwell: Don’t Choose That 0‘59)
SPRECHERIN:
Schon vor der Erfindung des Internets schrieben animierte Zuschauer und Leserinnen die Abenteuer ihrer Helden aus Filmen wie „Star Trek“ oder Romanen von Arthur Conan Doyle oder Jane Austen fort. Seit es digitale Plattformen für Selbstveröffentlichungen gibt, bekommt das Phänomen schier unüberschaubare Dimensionen. Der Startschuss für Fan-Fiction im Romance-Bereich fiel Mitte der 2000er Jahre, als die Amerikanerin Stephenie Meyer ihre vier „Twilight“-Romane rund um die Highschool-Schülerin Bella Swan und den Vampir Edward Cullen auf den Buchmarkt brachte.
O-TON 08: (Bardola)
„Die sind bei uns erschienen unter den Titeln „Biss zum Morgengrauen, Biss zum Abendrot“, Biss geschrieben jeweils mit BIS und dann in Klammern noch ein S dazu, das ist eine Vampirsaga, und da wurde ich zum Twilight-Boy oder sogar zum Twilight-Daddy. Meine Tochter war in dem Lesealter damals, und ich habe da mitgelesen und habe dann eine Monografie geschrieben über das Twilight-Phänomen.“
MUSIK 6 (Danny Elfman: Then Don‘t 0‘48)
SPRECHERIN:
Zu dem eben auch eine ausufernde Fanfiction gehörte. Neben vielen anderen ließ sich auch die britische Autorin E. L. James von Meyers Twilight-Romanen inspirieren. Mehrfach umgeschrieben und den Wünschen ihrer Online-Fangemeinde angepasst, brachte sie ihre Texte 2011 und 2012 unter dem Titel „Fifty Shades of Grey“ im Taschenbuchformat heraus. James´ erotische Romantrilogie brach alle Rekorde. Allein in Deutschland verkaufte sich die Sado-Maso-Lovestory zwischen der Literaturstudentin Anastasia Steele und dem Milliardär Christian Grey 5,7 Millionen Mal. Und so ging es nach dem Schneeball-Prinzip weiter:
O-TON 09: (Bardola)
„Viele der Leserinnen von damals sind heute Autorinnen von Romance-Titeln.“
MUSIK 7 (Danny Elfman: Shades Of Grey 0‘41)
SPRECHERIN:
Da ist zum Beispiel Sarah Sprinz: Die 1996 geborene Romance-Autorin lebt am Bodensee und hat allein auf Instagram über 35.000 Followerinnen. Ihr 2023 veröffentlichter Titel „Infinity Falling“ stand, wie ihr vorhergehender Roman „Dunbridge Academy“, auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste für belletristische Taschenbücher. Laut ihrer Homepage liebt Sarah Sprinz Schreibnachmittage im Café, Ahornsirup und den Austausch mit Leserinnen und Lesern in sozialen Medien. Auch die Namen der beliebten amerikanischen Romance-Verfasserinnen Ali Hazelwood und Brittainy C. Cherry tauchen selten in Kulturmagazinen oder Zeitungsfeuilletons auf. Verlage wie Rowohlt, Piper und Aufbau zeigen allerdings keine Berührungsängste mehr. Schmuddel-Image hin oder her: fleißige Romance-Leserinnen und – Schreiberinnen lassen die Kasse klingeln und machen die Produktion von anspruchsvolleren Titeln erst möglich.
O-TON 10: (Bardola)
„Es gibt kaum noch einen Verlag, der nicht Romance veröffentlicht, weil es so gewinnbringend ist. Ein Verlag, der sehr früh damit angefangen hat, vor 20 Jahren schon, das war der Lyx Verlag, der gehört zu Bastei Lübbe, und die sind dabeigeblieben. Und das ist eigentlich der Marktführer, kann man so sagen. Also bei Lyx, L Y X schauen die Mädchen gar nicht mehr auf Titel, Autorin oder so, praktisch der Name ist schon ein Garant für einen guten Romance-Titel.“
MUSIK 8 (Drum & Lace: Your Right To Exist 1‘08)
O-TON 11: (Anne Rudolph)
„Wobei ich an dieser Stelle unbedingt erwähnen muss: Wir haben einen männlichen Autor im Programm, Dominik Gaida mit seiner Reihe „Brynmor University“. Der schreibt queere dark Academy Romance. Dark Academia also dunkle Akademie, das ist ein Trend, der von TikTok geprägt wurde und ursprünglich eine reine Ästhetik war, also Tweed-Jacketts, dunkle Gebäude, alte Bücher, im Grunde so eine Bildwelt rund um klassische Bildung herum. Das haben inzwischen auch die Amerikaner zeitgleich, aber wir Deutschen im Buchmarkt aufgegriffen und praktisch Geschichten in diesen Welten an Elite-Colleges, klassische Bildung und darin Liebesgeschichten aufgegriffen. Es hat zum Beispiel bei uns Nikola Hotel mit „Dark Ivy“ gemacht, ist auch unser erfolgreichstes Buch bei Kyss.“
SPRECHERIN:
Der in der Rowohlt-Reihe „Kyss“ erschienene Roman „Dark Ivy“ von Nikola Hotel erzählt von der jungen Eden Collins, die mit einem Stipendium an die traditionsreiche Woodford Academy kommt. Niemand anderes als William Grantham III., ein ebenso faszinierender wie abweisender Millionenerbe, mit dem Eden bereits aneinandergeraten ist, beobachtet, wie sie... Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen.
MUSIK 9 (Z8046673103 Julienne Taylor: You Are Not Alone 0‘45)
SPRECHERIN:
Die Universität als Ort der Sehnsucht. Wie passend. Frauen waren ja lange Zeit von akademischen Zirkeln, öffentlichen Diskursen und politischen Ämtern ausgeschlossen. Was blieb ihnen anderes übrig, als sich fiktive Welten zu erobern? Im 18. und 19. Jahrhundert trafen sich engagierte Leserinnen in privaten Literaturkreisen und Salons. Heute verhindern die sozialen Medien, dass es bei einsamen Lektüreerfahrungen bleibt. Der intensive, tränenreiche Austausch in diversen Chats gibt dem Romance-Boom einen zusätzlichen Kick, meint der Autor und Journalist Nicola Bardola:
O-TON 12: (Bardola)
„Auf TikTok beispielsweise filmen sich Leserinnen von Romance-Titeln beim Weinen, sie erzählen, worum es in diesem Roman geht. Also es ist eine Art positive Kritik dieses Romans. Das Cover ist auch immer sichtbar, und dabei weinen die Leserinnen und erklären, warum sie weinen und sie weinen sogar beim Erklären der Emotionen. Und es beginnt dann damit sogar eine Art Competition, das heißt, die anderen Zuschauerinnen haben dasselbe oder ähnliche Gefühle gehabt beim Lesen und zeigen das auch, also man findet dann zu einzelnen Titeln, die besonders rührend sind, viele Filme von Leserinnen, wie sie weinen in Erinnerung an den Roman, den sie gerade gelesen haben.“
SPRECHERIN:
„Made me cry“, „brachte mich zum Weinen“, bedeutet also: höchstes Lob. „Ich habe während des Lesens so gelitten. Mein Gott, hat mich dieses Buch mitgenommen… Danach war ich emotional echt geschafft.“ Mit diesen Worten feiert eine Bloggerin den Roman „Wie die Stille unter Wasser“ der Bestseller-Autorin Brittainy C. Cherry. Wie schaffen es die unzähligen Romance-Autorinnen bloß, ihr Publikum regelmäßig und wie erwartet aus der Fassung zu bringen? Nun, es gibt einige Kniffe.
O-TON 13: (Bardola)
„Natürlich, wenn jemand stirbt, wenn jemand sich verpasst, unglücklich verliebt ist, oder wenn sich jemand findet, nachdem es so schwierig war, das Verhältnis und sich dann doch in Zuneigung auflöst. Oder wenn eine Blockade da war bei einem Mann oder einer Frau und diese Blockade plötzlich schmilzt und dann können da schon mal die Tränen rollen.“
MUSIK 10 (Conan Gray: Comford Crowd 0’34)
SPRECHERIN:
Bücher können trösten. Das Leben junger Frauen ist kein Ponyhof. Was steht nicht alles auf ihrer Agenda: sich von den Eltern ablösen, sich selbst finden, Geld verdienen, den eigenen Körper akzeptieren, Karriere machen, Spaß haben, an die Umwelt denken, einen Partner finden, entspannt und zugleich achtsam bleiben, nicht verzweifeln.
Doch wenn man allein an die Tücken und Schrecken des modernen Online-Datings denkt! Wo sind sie eigentlich, all die klugen, einfühlsamen, gutaussehenden und bindungswilligen Jungs oder Männer, von denen frau ja wohl zumindest noch intensiv träumen darf? Ausgehend etwa von Ali Hazelwoods Bestseller „Love, theoretically“. Auf Seite 89 klammert sich die junge Physikerin Elsie, auf einem Klodeckel stehend, gerade an den breiten Schultern von Professor Jonathan Smith-Turner fest. Was treiben die beiden da eigentlich auf der Herrentoilette ihres Instituts?
MUSIK 11 (Allie X: Devil I Know 0’39)
O-TON 14: (Anne Rudolph)
„In den USA gibt es zum Beispiel auch das Subgenre „clean Romance“. Da gibt es keine Sexszenen drinnen. Aber in den überwiegenden Anteilen von Romances kommen auch Sexszenen vor, von dezent wenige bis zu sehr viel, da decken wir die gesamte Bandbreite ab. Wenn man Romance liest, passiert es selten, dass man tatsächlich einen Roman komplett ohne Liebesszenen hat. Da wäre man dann eher beim Liebesroman und nicht mehr bei der Romance.“
SPRECHERIN:
Das Romance-Genre mag stilistisch eher schlicht daherkommen. Klassifikatorisch hat es umso mehr zu bieten. Neben dem zu 100 Prozent garantierten „happy end“ gibt es zahlreiche Subgenres, die das Setting und die Stimmung der Geschichten von vornherein festlegen, sagt die Lektorin Anne Rudolph. Es kann in einer Romance also erklärtermaßen historisch, paranormal, besonders erotisch oder religiös zugehen oder:
O-TON 15: (Anne Rudolph)
„Zum Beispiel so ein Genre wie cosy Romance, wo „cosy“ schon im Titel des Genres drinnen steht und ganz klar ist, das wird eine total gemütliche Lektüre-Erfahrung, es ist schön, klein, heimelig. Das ist was, was ich wunderbar unter der Kuscheldecke lesen kann und keine Angst haben muss, dass irgendwelche superdarken Themen drinnen vorkommen.“
SPRECHERIN:
Romance-Leserinnen müssen keine bösen Überraschungen fürchten – außer sie stehen auf die Subgenres „Romantic Thriller“ oder „Romantic Suspense“. Nein, Spaß beiseite. Auch die Illusion (oder ist es eine Ideologie?), dass es die wahre Liebe zwischen Mann und Frau wirklich gibt, wird nie zerstört. Nicht einmal im Subgenre „umgekehrter Harem“, in der „Revers Harem Romance“, in der die Heldin mehrere Liebhaber gleichzeitig hat. Am Schluss triumphiert immer das romantische Paar. Sogenannte „Tropes“ signalisieren außerdem, wie eine Romance ihre selbst geschaffenen Hürden zu nehmen gedenkt. Tropes sind subgenre-übergreifende, inhaltliche Motive, die das Liebesleben und damit das Glück der beiden Hauptfiguren vorantreiben:
O-TON 16: (Anne Rudolph)
„Da ist zum Beispiel so etwas wie „Enemies to Lovers“. Also eine Geschichte, wo die Liebe als Feindschaft anfängt oder „Friends to Lovers“ wäre ein anderes Beispiel, wo man halt als Freunde anfängt und sich diese Freundschaft zu etwas mehr entwickelt. Oder es gibt so etwas wie „Forced Proximity“ ist ein weiterer Trope, wo die Außensituation so ist, dass sie gezwungen sind, zusammenzukommen, „only one bed“ ist ein Trope, wo sie eingeschneit werden in einer einsamen Hütte zum Beispiel und es eben dann nur only one bed, nur das eine Bett gibt. Sie merken, es ist alles sehr stark vom amerikanischen Markt geprägt. Es gibt auch viele Leser, die haben Lieblings-Tropes, das lesen sie dann sehr gern. Es gibt auch so etwas wie „secret pregnancy“. Das lesen zum Beispiel viele nicht so gerne oder „Secret Baby“, wo dann Schwangerschaft vorkommt und das nicht weiter gesagt wird, ist allerdings tatsächlich auch ein bisschen altmodisch.“
MUSIK 12 (Z8043709104 Lana Del Rey: A&W 0’42)
SPRECHERIN:
Das Romance-Genre gibt sich modern. Die Heldinnen sind angesehene Wissenschaftlerinnen oder Studentinnen, die mit ihren Freundinnen über toxische Männlichkeit und psychische Traumata diskutieren. Oft ergreifen sie beim Flirten und Techtelmechteln die Initiative. Aber wenn es richtig zur Sache geht und Jane Alex endlich die Jeans aufknöpfen kann, dann wird es kompliziert. Dann besteht nämlich akute Nackenbeißer-Gefahr. Die amerikanischen „Nackenbeißer“-Romane, auf Englisch „Bodice Ripper“-, also Miederreißer-Romane, zogen in den 1970er Jahren massenhaft Leserinnen an, die sich an den explizit dargestellten sexuellen Handlungen erfreuten. Dass der literarische Höhepunkt aus einer mehr oder weniger zärtlichen Vergewaltigung der Frau durch den angehimmelten Nackenbeißer oder Miederreißer bestand, fiel erst Jahrzehnte später unangenehm auf.
O-TON 17: (Rudolph)
„Weil die Sexualnormen damals natürlich noch so waren, dass Frauen nicht Sexualkontakte initialisieren dürfen und sich eigentlich wehren müssen. Und das heißt „Konsens“ war damals also im Grunde nicht existent. Und das hat sich Gottseidank in den 90er-Jahren überholt und gibt es heute, ich will nicht sagen, gar nicht mehr, es gibt furchtbar regressive Stoffe auch heute noch, aber im Allgemeinen kommt das heute im Genre nicht mehr vor.“
MUSIK 13 (M0082974119 Drum & Lace: Something In Return 0’37)
SPRECHERIN:
Was im Idealfall bedeutet: Sobald Jacks heiße Lippen Elsis hohe Wangenknochen streifen, verhandelt das Paar zwischen Seufzern und Stöhnen erst einmal ein paar Fragen: Bestehen Geschlechtskrankheiten? Nimmt sie die Pille? Wo ist ein Kondom? Will sie „es“ wirklich? Ungelogen? Und das auch?? Jeder Schritt wird abgesichert, damit „er“ trotz seiner - durch die wahre Liebe zur Protagonistin - extrem gesteigerten Erregung bloß nicht als übergriffig erscheint. Ein heikler Akt. Denn die Lust, vor allem die weibliche, darf ja nicht abflauen. Was vielleicht das mächtige Format der männlichen Geschlechtsteile in Ali Hazelwoods Bestsellern erklärt - um nur ein Beispiel für all die unreflektierten Stereotypien zu nennen, die Lektorate den schnell produzierten Texten durchgehen lassen. Das Label oder Subgenre „feministisch“ bewahrt Romance-Leserinnen also nicht zwangsläufig vor Sexismen. Die Jugend zu schützen, sei schwierig, sagt der Buchmarktexperte Nicola Bardola.
O-TON 18: (Nicola Bardola)
„Niemand hat den Überblick, man kann sich über diese immense Buchproduktion gar keinen Überblick verschaffen. Die Autorinnen schreiben zum Teil einen Roman pro Monat, und das ist ihr festes Einkommen, die sind mit einer unglaublichen Verve bei der Sache. Das flutscht nur so dahin, und das ist eine gewaltige Produktion, die wir inhaltlich nicht überschauen können.“
MUSIK 14 (M0082974108 Drum & Lace: Get Into Her 1‘03)
SPRECHERIN:
Deshalb mangelt es bisher wohl auch an wissenschaftlichen Analysen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. „Das Männerbild der modernen Romance“ wäre eine attraktive Fragestellung. Oder: „Die metoo-Debatte im Spiegel der Unterhaltungsliteratur“. Trotzdem freut sich der Buchmarkt-Experte letztlich über den Boom:
O-TON 19: (Nicola Bardola)
„Insgesamt befürworte ich diese Romance-Bewegung sehr. Wir bekommen sehr viele Leserinnen, und oft ist es ja so, auch schon bei den frühen Leseerfahrungen, das ist eher einfache Stoffe sind, und später greifen wir zu etwas anspruchsvolleren Büchern. Und insofern ist das absolut begrüßenswert. Romance ist für den Buchmarkt, für die Leserinnen, für die Autorinnen eine fantastische Sache.“
SPRECHERIN:
Also gibt es auch hier jetzt ein „happy end“!
In seinem Roman "Lady Chatterley's Lover" erzählt D.H. Lawrence die Liebesgeschichte einer englischen Lady und eines Mannes aus der Arbeiterklasse. Das Buch sorgt für einen der größten Skandale der Literaturgeschichte. Es ist ein Plädoyer für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die die Sexualität ganz explizit miteinschließt. Autor: Frank Halbach
Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christiane Roßbach, Christoph Jablonka, Ines Hollinger
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Prof. Dr. Stephan Karschay, Professor für Britische Literatur- und Kulturwissenschaft mit Forschungsschwerpunkt Skandal und Zensur
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Literaturtipps:
D.H. Lawrence: Lady Chatterley, Reinbek bei Hamburg 1973.
Sybille Bedford: The trial of Lady Chatterley's lover, London 2016.
David Bradshaw / Rachel Potter (Hgg.): Prudes on the Prowl: Fiction and Obscenity in England, 1850 to the Present Day, Oxford 2013.
Stephan Karschay: Scandals in British Culture. In: Jürgen Kramer / Bernd Lenz (Hgg): How to Do Cultural Studies: Approaches, Ideas, Scenarios, S. 191-220, Würzburg 2019.
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MUSIK 1 „A Zed and Two Noughts“ auf Schluss; ZEIT: 02:49
ERZÄHLERIN (bewundernd)
Einer der bedeutsamsten Romane des 20. Jahrhunderts...
SPRECHER (gereizt)
Das obszönste Buch in englischer Sprache!
ERZÄHLERIN (gelassen)
Ein klassisches erotisches Meisterwerk.
ZITATORIN (lustvoll)
„Lady Chatterley’s Lover”
ERZÄHLERIN
D. H. Lawrence’s „Lady Chatterley“ gilt als eines der ersten seriösen Werke der Literaturgeschichte, das Sexualität detailliert und explizit schildert. Es geht um Liebe, Ehebruch und weibliche Lust.
ZITATORIN
Eine Frau konnte sich einem Mann hingeben, ohne zugleich auch ihr inneres freies Wesen hinzugeben. Das schienen die Dichter und alle, die über den Sexus schwatzten, nicht genügend bedacht zu haben.
SPRECHER (ablehnend)
Ein aufrührerisches, skandalöses und vulgäres Buch!
ERZÄHLERIN
D. H. Lawrence löste damit einen der größten Skandale der Literaturgeschichte aus: Nicht nur dass eine junge Lady ihren Stand verrät und sich über Klassenschranken hinwegsetzt, sondern sie wagt es auch noch nach einer erfüllten Sexualität zu suchen und sie sogar zu finden. Das puritanische England fühlte sich in seinen Grundfesten erschüttert.
Der Roman aus dem Jahr 1928 war über 30 Jahre lang verboten. Der Skandal um die Publikation des Buches würdigte den Namen Chatterley zum Synonym für Schlüpfriges und Pornografisches herab.
ZITATORIN
Ein Jammer, dass die Männer in dieser Hinsicht so weit hinter den Frauen herhinkten. Gierig wie die Hunde waren sie auf das Sexuelle aus. Und eine Frau hatte nachzugeben.
SPRECHER (aburteilend)
Die anrüchige Geschichte eines Ehebruchs zwischen einer ebenso frustrierten wie wollüstigen Aristokratin und einem (verachtend) Proletarier.
ERZÄHLERIN
Der Bruch mit den Moral- und Gesellschaftsnormen seiner Zeit, die Darstellung befreiter weiblicher Sexualität und die scharfe
Kritik im Roman des englischen Schriftstellers D.H. Lawrence an der britischen Gesellschaft, kulminierten 1960 in einem aufsehenerregenden Gerichtsverfahren…
SPRECHER (sich ereifernd)
Ein Obszönitätsprozess!
ERZÄHLERIN
An dessen Ende die Aufhebung etlicher Zensurbestimmungen stand, und der „Lady Chatterley’s Lover“ zum Vorreiter der „Sexuellen Revolution“ werden ließ, eine Flamme, die in den 1960er Jahren Großbritannien und schließlich ganz Europa erfasste - trotz oder gerade wegen seiner expliziten Sprache.
ZITATORIN (lustvoll melancholisch)
Wir haben eine Flamme ins Sein gefickt. Und wenn der wirkliche Frühling kommt, dann können wir die kleine Flamme zu strahlender gelber Helle ficken.
MUSIK ENDE
O-Ton 1 Karschay (03:33)
Also „Lady Chatterley's Lover“ ist mit Sicherheit ungewöhnlich für seine explizite Darstellung von Sexualität. Denn dieser Bereich ist im Liebesroman, in diesem Genre, nicht vorgesehen und gehört eigentlich in den Bereich der Pornografie, also in den Untergrund.
ERZÄHLERIN
Erläutert Dr. Stephan Karschay, Professor für Britische Literatur- und Kulturwissenschaft. Einer seiner Forschungsschwerpunkte: die Beschäftigung mit Skandalen und Zensur in der britischen Kulturgeschichte.
O-Ton 2 Karschay (03:47)
Und selbst ein so wichtiger und ja auch im neunzehnten Jahrhundert schon zensierter Roman wie Gustave Flauberts „Madame Bovary“ beispielsweise muss die Darstellungen des körperlichen Ehebruchs zwischen Emma Bovary und Léon ausblenden. Das ist etwas, was völlig der Fantasie der Leser überlassen wird. (…) Und das macht Lawrence anders. Wir sind hier ganz nah mit dabei. Und das ist ungewöhnlich für einen Roman, und das hat letztlich auch dazu geführt, dass dieser Roman zu Lebzeiten Lawrence‘ nicht veröffentlicht werden konnte und tatsächlich erst 30 Jahre nach seinem Tod, also 1960, in der unbereinigten Form veröffentlicht wurde.
ERZÄHLERIN
Was oft zu sehr in den Hintergrund rückt: Der Roman von D. H. Lawrence bricht nicht nur hinsichtlich der Darstellung und Thematisierung von Sexualität Tabus. „Lady Chatterley“ schlägt auch deshalb ein wie eine Bombe weil Lawrence die Orientierungslosigkeit einer Gesellschaft, den Niedergang des guten alten England, nach dem Ersten Weltkrieg thematisiert.
MUSIK 2 „Drowning by Numbers“; ZEIT: 00:56
ZITATORIN
Die Katastrophe ist hereingebrochen, wir stehen zwischen den Trümmern, wir fangen an, neue kleine Gewohnheiten zu bilden, neue kleine Hoffnungen zu hegen. Es ist ein hartes Stück Arbeit: Kein ebener Weg führt in die Zukunft; wir umgehen die Hindernisse jedoch oder klettern über sie hinweg. Wir müssen leben – einerlei, wie viele Himmel eingestürzt sind. Ungefähr in dieser Situation befand sich Constance Chatterley.
ERZÄHLERIN
Großbritannien befand sich nach dem Ersten Weltkrieg in einer wirtschaftlichen Krise. Viele Arbeiter hatten mit zunehmender Verarmung zu kämpfen. Impulse, Orientierung durch die Upper class? Fehlanzeige. Und dann dieser Roman.
MUSIK ENDE
SPRECHER (voller Verachtung)
Eine Frau von Adel, die ihren kriegsversehrten Mann verlässt zugunsten eines Wildhüters aus der Arbeiterklasse!
O-Ton 3 Karschay (05:42)
Ich glaube, was die Verstöße gegen die Moralvorstellungen der Zeit angeht, muss man unterscheiden zwischen den Normverstößen der Protagonistin Constance Chatterley, also auf der Ebene der Handlung und den Normverstößen des Autors D. H. Lawrence auf einer ästhetischen Ebene. Was Lady Chatterley angeht, ist es so, dass sie sich gegen die Normen der gesellschaftlichen Oberschicht stellt. Denn was sie eingeht, ist letztlich eine Mesalliance mit dem Wildhüter Oliver Mellors. Und sie führt dadurch auch im Roman gewissermaßen einen Klassenkampf vor. Denn Lady Chatterley's Lover ist auch ein Roman, der die Klassenstruktur der britischen Zwischenkriegsgesellschaft in Frage stellt.
ERZÄHLERIN
Zugleich stellt der Roman im Kern eine Emanzipationsgeschichte dar.
O-Ton 4 Karschay (16:38)
Denn die Protagonistin Constance Chatterley emanzipiert sich und die weibliche Sexualität von den verkrusteten sozialen Normen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Man kann schon sagen, dass sie von vorneherein als außergewöhnliche Figur charakterisiert ist. Denn sie wächst als Jugendliche zunächst in einem quasi freidenkerischen Umfeld auf und macht dann auch recht früh als 18-Jährige ihre ersten sexuellen Erfahrungen.
MUSIK 3 „Drowning by Numbers“; ZEIT: 01:03
ERZÄHLERIN
1917 heiratet Constance, Sir Clifford Chatterley. Kurz nach den Flitterwochen zieht Clifford als Offizier in den Ersten Weltkrieg.
SPRECHER
Schwer verwundet, gelähmt und impotent kehrt Clifford aus dem Krieg zurück zu Connie.
ZITATORIN
Nichts hatte Substanz – weder sie noch irgendetwas… keine Fühlung, keine Nähe. Nur dies Leben mit Clifford, dies endlose Spinnen von Geweben aus Worten und kleinen Einzelheiten des Bewusstseins.
MUSIK ENDE
O-Ton 5 Karschay (17:17)
Und auch eine erste Affäre mit dem irischen Dramatiker Michaelis ändert daran überhaupt nichts. Das heißt, das Problem ist nicht nur ein Mangel an Sexualität, sondern das Problem besteht vielmehr in der Unfähigkeit der Männer des Romans, für eine erfüllte und letztlich gleichberechtigte Sexualität Sorge zu tragen.
ERZÄHLERIN
In einer abgeschiedenen Hütte im Wald trifft Connie unversehens auf den Wildhüter der Chatterleys – der sich gerade wäscht
MUSIK 4 „A Zed and Two Noughts“ auf Schluss; ZEIT: 02:33
ZITATORIN
Sie hatte gesehen, wie die plumpe Hose niederglitt über die reinen, schmalen, weißen Hüften, an denen ein wenig die Knochen hervortraten, und das Gefühl der Einsamkeit hier, das Gefühl ein Geschöpf in reiner, tiefer Einsamkeit vor sich zu haben, überwältigte sie. Die warme weiße Flamme eines Einzellebens, das sich in Konturen offenbarte, die man berühren konnte; ein Leib!
SPRECHER
Im Laufe der Handlung beginnt Connie mit Mellors ein zutiefst unanständiges Liebesverhältnis, das im Roman ausführlich und anstoßerregend geschildert wird.
ERZÄHLERIN
Weite Teile des Romans schildern Connies seelische Entwicklung. Schließlich eröffnet sie ihrem Mann:
ZITATORIN
Ich habe mich in einen anderen Mann verliebt, und ich hoffe sehr, du wirst mich freigeben.
SPRECHER
Ich für meinen Teil, ziehe vor – da du nun mal meine Frau bist -, dass du in Würde und Ruhe weiterlebst unter meinem Dach. Ganz abgesehen von persönlichen Empfindungen – und ich versichere dir, was mich betrifft, sehe ich von einer ganzen Menge ab -, ist es verdammt hart für mich, mir meine Lebensordnung hier auf Wragby und den geregelten Ablauf des täglichen Lebens kaputtmachen zu lassen, einfach wegen irgendeiner Laune von dir.
ZITATORIN
Ich kann es nicht ändern. Ich muss gehen. Ich bekomme wahrscheinlich ein Kind.
SPRECHER
Du gehörst zu diesen halb irrsinnigen, perversen Frauen, die ihrer Verworfenheit nachrennen müssen. Du kannst gehen, wohin du willst, aber ich werde mich nicht von dir scheiden lassen.
ERZÄHLERIN
Noch in derselben Nacht packt Connie ihre Sachen und verlässt Wragby für immer. Der entlassene Wildhüter Mellors schreibt ihr in einem Brief, wie gern er später mit ihr zusammenleben würde und dass er im Grunde nur für sie lebe. Der Brief endet mit den Worten:
ZITATORIN
Mit hoffnungsvollem Herzen.
ERZÄHLERIN
Und so endet auch der Roman von D.H. Lawrence. Vielfach interpretiert als Protest gegen die Verteufelung von Sinneslust und ein Plädoyer für emanzipierte weibliche Sexualität.
MUSIK ENDE
So äußert beispielsweise die Autorin Catherine Millet, die mit ihrer Autobiografie „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ einen eigenen Literaturskandal provoziert hat:
„Lesen Sie mal „Lady Chatterley“. Dort gibt es Stellen, in denen er den weiblichen Orgasmus mit einer Präzision beschreibt, die unglaublich ist. Ich hätte das gern selbst so gekonnt.“ Lawrence ließ sich für seine Schilderungen von seiner Frau Frieda von Richthofen die Empfindungen einer Frau beim Orgasmus präzise beschreiben, erinnert sich Frieda in ihren Memorien.
MUSIK 5 „Drowning by Numbers“; ZEIT: 01:06
ZITATORIN
Dann, als er sich zu bewegen begann, in der plötzlichen Hilflosigkeit des Orgasmus, erwachten in ihrem Innern ganz neue, fremde, sie durchflutende Schauer. Sie kamen Welle auf Welle, wie das flackernde Überlappen sanfter Flammen, sanft wie Federn, sie liefen aus in leuchtenden Spitzen, köstlich, so köstlich, und ihr Inneres schmolz dahin, zerfloss. Es war wie Glockengeläut, das sich höher und höher bis zum Höhepunkt aufschwang.
MUSIK wegblenden
ERZÄHLERIN
Lawrence spricht sich vehement für eine freie Entfaltung der Persönlichkeit aus - das schließt die Sexualität mit ein und: Es schließt Frauen mit ein. Connie emanzipiert sich in einer männlich-kapitalistisch geprägten Gesellschaft. Das hat Lawrence nicht davor bewahrt von feministischer Seite kritisiert zu werden.
O-Ton 6 Karschay (15:18)
Manche sahen in ihm eben ein Plädoyer für ein erfülltes, gleichberechtigtes Sexualleben zwischen den Geschlechtern, aber manch feministische Stimmen, besonders die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Kate Millett hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Sexual Politics“, in dem sie Lawrence vielmehr als einen chauvinistischen Vertreter einer patriarchalen Kultur sah, der den Phallus zum dominanten Symbol einer männlichen Sexualität machte.
ZITATORIN
So stolz und so gebieterisch. Jetzt weiß ich, warum Männer so anmaßend sind. Aber er ist herrlich, wirklich! Wie ein anderes Wesen! Ein bisschen zum Fürchten. Aber so schön, wirklich! Und er kommt zu mir!
ERZÄHLERIN
Huldigt Connie Mellors‘ Phallus. Lawrence löst mit „Lady Chatterley“ nicht nur durch die Themen eine Kontroverse aus, sondern auch besonders durch seinen Stil. So vermeidet er in seiner Sprachwahl der Lüsternheit einer bigotten Leserschaft scheinheilig zu entsprechen. Lawrence schildert offen und präzise. Dazu gebraucht er auch Ausdrücke, die ein Mann aus dem Volk wie Mellors verwenden würde.
ZITATORIN
Fuck!
SPRECHER
Vulgär einerseits, in pathetischen Beischlafszenen schwülstig und kitschig andererseits. Lächerlich!
MUSIK 6 „Drowning by Numbers“; ZEIT: 00:52
ZITATORIN
Und ihr war, als sei sie wie das Meer, nichts als dunkles steigendes und fallendes Gewoge, von einem Strom getragen, und langsam geriet ihre ganze Dunkelheit in Bewegung, und diese war das Weltmeer, das in seiner dunklen Schwere dahinrollte. Und auf dem Grund ihres Inneren teilten sich die Tiefen und wogten auseinander von dem Mittelpunkt sanften Eindringens aus, als der Taucher tiefer eindrang, immer tiefer, (ab hier Text + MUSIK wegblenden) [tiefer wurde sie bloßgelegt und machtvoller rollten die Wogen ihres Seins dahin, einem fremden Ufer zu und deckten sie auf…]
(darüber)
O-Ton 7 Karschay (19:48)
Es ist in der Tat so, dass Lawrence‘ Schreibstil manchmal unangenehm, pathetisch und vielleicht heute, wenn man ihn liest, ungewollt komisch wirkt. Aber man muss ihn auch an seinen eigenen Maßstäben messen. Es bringt also nichts ihn für seine insistierenden Wiederholungen und seine schiefen Bilder zu kritisieren, denn diese stammen letztlich aus einer künstlerischen Überzeugung das Verhältnis des Menschen zu seiner Sexualität, aber auch zur nicht-menschlichen Natur neu und eben emphatisch, mit Nachdruck, zu konzipieren. Und er sah in diesem sehr geordneten, überintellektualisieren und in der asketischen Geistesarbeit letztlich Zivilisationskrankheiten, die zur Unterdrückung der sexuellen Natur des Menschen führen. Und für Lawrence war die Sexualität fast etwas mythisch heiliges, ja, fast eine Religion der Sexualität.
ERZÄHLERIN
Lawrence kritisiert die Entfremdung des Menschen von sich selbst durch die Allmacht des Kapitalismus. Sir Clifford repräsentiert die zerstörerische und zugleich nicht zeugungsfähige Kraft der Industrialisierung. Bei einem Waldausflug mit Connie zum Beispiel zermalmt er zahllose blühende Blumen unter den Rädern seines Rollstuhls und hinterlässt in der vorher unberührten Natur eine Spur der Verwüstung.
SPRECHER
Seine Fans haben Lawrence später gar zu einem Vorreiter der Umweltschutzbewegung erklärt.
ERZÄHLERIN
Davon, dass man ihn zur Ikone von Umweltschutz, Arbeiterklasse und sexueller Revolution erhob, bekam Lawrence freilich nicht mehr mit.
Als er seine Arbeit an „Lady Chatterley“ begann, war er bereits schwer krank. Ende November 1926 schloss er die erste Fassung des Romans ab. Zwei weitere sollten folgen.
Erfahrungen mit der Zensur wegen zu expliziter Darstellung von Erotik hatte Lawrence schon mit seinem Roman „The Rainbow – Der Regenbogen“ von 1915 gemacht.
SPRECHER (pikiert)
Er umging daher bei „Lady Chatterley“ die von der Zensur vorgegebenen Grenzen von Sitte und Moral mit einer privaten Erstveröffentlichung von 200 Exemplaren der unbereinigten Fassung in Florenz. Raubkopien davon geraten in Umlauf.
O-Ton 8 Karschay (24:13)
Und dann gab es eine zweite Fassung, die erst später in den 70er-Jahren in englischer Sprache erschien, als „John Thomas an Lady Jane“. Und hier ist zum ersten Mal erkennbar, wenn man das zurückverfolgt, dass Lawrence in diesem Text vor allen Dingen seine Auseinander-setzung mit der Industrialisierung ausgebreitet hat. (…) Und die Endfassung, die über die wir eigentlich heute sprechen, das ist die von 1928. Und hier haben wir dann eben die zunehmend explizite Darstellung von Sexualität.
ERZÄHLERIN
Die unzensierte 3. Fassung erschien in Großbritannien erst wieder 1960. Der Taschenbuchverlag Penguin Books, stellte sich damit offen gegen den im Jahr zuvor in Kraft getretenen „Obscene Publications Act“.
SPRECHER
Ein vom britischen Parlament verabschiedetes Gesetz das die Veröffentlichung von pornographischer Literatur zu verhüten suchte.
ERZÄHLERIN
Um ein Gerichtsverfahren zu erzwingen, zeigte sich Penguin Books gleichzeitig mit der Veröffentlichung selbst an. Stephan Karschay:
O-Ton 9 Karschay (09:34)
Die Anklage in diesem Prozess hatte eine ganz klare Agenda: Sie versuchte zu zeigen, dass der Roman geeignet sei, bestimmte Leser*Innen zu korrumpieren. (…) Und dabei spielte auch die Veröffentlichung als billiges Taschenbuch eine Rolle also, dass der Verlag Penguin in Großbritannien diesen Text nicht nur veröffentlichen und einer Leserschaft zur Verfügung stellen wollte, sondern dass auch in einem Format tun wollte, das sich durchaus ein breites Publikum leisten konnte.
MUSIK 7 „The Draughtsman's Contract“ auf Schluss; ZEIT: 02:35
SPRECHER
Der Prozessendete am 2. November 1960.
ERZÄHLERIN
Mit einem Freispruch. Das Exemplar der „Lady Chatterley“ das der Richter Sir Lawrence Byrne im Prozess verwendet hatte, erzielte 2018 bei Sotheby’s in London einen Auktionsrekord.
ZITATORIN (amüsiert)
56.250 Pfund für das anstößigste Buch der Welt.
ERZÄHLERIN
Die Frau des Richters hatte ihrem Gatten darin die anzüglichsten Passagen angestrichen und dem Exemplar eine graue Tasche aus Damast genäht – um zu verhindern, dass Pressefotografen ihren Mann mit dem Buch ablichteten. Im Anschluss an den aufsehenerregenden Londoner Prozess wurde der Roman 1960 als Taschenbuch in Deutschland veröffentlicht – vom Rowohlt Verlag, aus dessen Übersetzung in dieser Sendung zitiert wird.
Ganz England stürzte sich nach dem Prozess auf die erstmalig unzensierte Fassung von „Lady Chatterley“.
Die Folge des Prozesses waren aber nicht nur enorme Verkaufszahlen, sondern vor allem die Aufhebung von Zensurbestimmungen in Großbritannien und auf dem Fuße folgend: eine sexuelle Revolution, die nicht auf die britischen Inseln beschränkt bleiben sollte.
SPRECHER (unbehaglich)
Ein Wandel der öffentlichen Sexualmoral im Sinne einer Enttabuisierung sexueller Themen.
ERZÄHLERIN
Der Prozess um Lady Chatterley gewann damit nicht nur eine juristische, sondern eine kulturelle Bedeutung. Die Gesellschaft der westlichen Welt wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine andere.
SPRECHER (naserümpfend)
Man adaptierte das Buch als Film – als Softporno mit Sylvia Kristel 1981.
ERZÄHLERIN
Als BBC-Vierteiler 1993, als preisgekrönte Erweckungsgeschichte der französischen Regisseurin Pascale Ferran oder aufwendige Netflix-Produktion mit Emma Corrin in der Hauptrolle.
SPRECHER (aburteilend)
Nicht wenigen Kritikern wie etwa James Joyce gilt Lawrence’ Werk als trivial.
ERZÄHLERIN
Mit „Lady Chatterley“ hat eine der imponierendsten Frauengestalten der Literaturgeschichte geschaffen.
ZITATORIN
Eine Frau muss ihr Leben leben oder leben, um zu bereuen, dass sie es nicht gelebt hat.
SPRECHER
Selbst Feministinnen kritisieren Lawrence als Chauvinisten, der über die heilige Kraft des Phallus schwadroniert!
MUSIK ENDE
O-Ton 10 Karschay (28:12)
Lawrence ist ein sich selbst widersprechender Schriftsteller, für den die Literatur immer ein Experimentierfeld darstellte. Und Lawrence verdient es auch heute noch kritisch gelesen zu werden. Selbst wenn man dann am Ende zu dem Schluss kommen sollte, dass seine Texte ambivalent und zutiefst widersprüchlich bleiben. Vielleicht ist gerade, dass ihr besonderer Reiz. Man wird dem Roman auch nicht gerecht, wenn man ihn ausschließlich für seine erotischen Passagen liest, dann würde man den gleichen Fehler begehen wie die Zensoren von Literatur vor 1959. Nur wenn man sich auf den Roman letztlich als Ganzes einlässt, erhält man einen Eindruck von D. H. Lawrence als einem der wichtigsten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, der uns auch heute besonders in unserem Verhältnis zur nicht-menschlichen Natur, vieles zu sagen hat.
MUSIK 8 M0025854 W03 „Drowning by Numbers“; ZEIT: 00:50
ZITATORIN
Und immer weiter rollten die Wogen ihres Seins fort von ihr, ließen sie zurück, bis jäh, in sanftem, schauerndem Erbeben, der Kern all ihres Plasmas getroffen wurde – sie sich getroffen wusste – und die Vollendung über sie kam und sie verging. Sie verging, sie war nicht mehr, sie wurde geboren…
MUSIK ENDE
"Es werde Licht, es geht immer weiter aufwärts", so könnte man einen Stil umschreiben, der sich ab Mitte des 12. Jahrhunderts von England aus in ganz Europa durchgesetzt hat. Die sogenannte "Gotik". Die Gotik brachte, um es ein wenig salopp zu sagen, ein wenig Licht ins vermeintlich dunkle Mittelalter. Autor: Martin Trauner
Credits
Autor dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Johannes Hitzelberger
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Heidrun Stein-Kecks, Department Medienwissenschaften und Kunstgeschichte - Institut für Kunstgeschichte Erlangen;
Dr. Matthias Weniger, Bayerisches Nationalmuseum
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MUSIK und evtl. Atmo
ZITATOR (Goethe)
Als ich das erste Mal nach dem Münster ging, hatte ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks. Auf Hörensagen ehrte ich die Harmonie der Massen, die Reinheit der Formen …
SPRECHERIN
Schreibt im 18. Jahrhundert der damalige Jurastudent Johann Wolfgang Goethe. Er war Anfang zwanzig, einigermaßen gebildet und er war zum Studieren in Straßburg gelandet. Also wollte er, wie man das halt in einer neuen, fremden Stadt so macht, er wollte sich die Kirche, das Münster anschauen… Die Kirche war schon damals vor langer Zeit, für Goethe muss das wohl im finstersten Mittelalter gewesen sein, im sogenannten „gotischen Stil“ erbaut worden…
ZITATOR (Goethe)
Ich war ein Feind der verworrenen Willkürlichkeiten gotischer Verzierungen.
SPRECHERIN
Diese Verworrenheit hätte der junge Goethe, der ja auch in seinen jungen Jahren schon alles wusste, natürlich sofort auf den ersten Blick erkannt, aber zur Sicherheit hatte er in einem damaligen Wörterbuch, also einer Enzyklopädie 18. Jahrhunderts nachgeschlagen. Da stand freilich nichts Gutes drin über die Gotik… Das Wörterbuch schreibt (von …)
ZITATOR (Goethe)
… von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem…
SPRECHERIN
Also: Von aufwändig gestalteten Gewölben und von Spitzbögen; von viel zu großen, und viel zu bunten Fenstern; ja: und alles strebt in die Höhe, alles irgendwie vertikal… Alles zusammengewürfelt. Scheußlich. Oder nicht? - Goethe überlegt tatsächlich, ob er das Straßburger Münster überhaupt
betreten soll…
MUSIK und Atmo aus
SPRECHERIN
Kurz mal eine Pause. Verlassen wir mal Goethe in Straßburg. – Begeben wir uns - wie der spätere Großdichter Goethe - auf eine Spurensuche und fragen mal bei heutigen Experten nach. - Was eigentlich bedeutet heutzutage der Begriff „Gotik“?
001 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
(Stöhnt) – Schwieriger Begriff, weil er eine lange Geschichte hat und weil er, einerseits, sehr bekannt ist, weil jeder was mit Gotik anfangen kann… aber doch das Ganze differenzierter gesehen werden muss..
SPRECHERIN
Sagt Heidrun Stein-Kecks, Professorin für Kunstgeschichte… Wobei? Erkennen wir auch heute noch – so wie Goethe damals – erkennen wir Gotik auf den ersten Blick?
002 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Ja, auf den ersten Blick erkennt’s man freilich an den Spitzbögen und an dem Gewölbe, an den Dimensionen, an der Höhenentwicklung, am bestimmten Vertikalismus, an den Glasfenstern, also alles solche Dinge, die man sehr leicht erkennt und die auch allseits bekannt sind… Aber das alleine bedeutet nicht den Unterschied zwischen Gotik und Romanik
SPRECHERIN
Nochmals zum Begriff der Gotik. Das klingt ja schon irgendwie nach den Goten? - Gotik und Goten, gibt’s da eine Verbindung?
003 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Also es stimmt tatsächlich, dass der Begriff der „Gotik“ von den Goten abgeleitet wird. Das geht zurück auf einen Autor des 16. Jahrhunderts …
SPRECHER (ZITATOR)
Auf Giorgio Vasari. Der war ein Italiener. Aus dem 16. Jahrhundert. Er schrieb Künstlerbiographien. Und er teilte die Welt der Kunst in „Stilepochen“ ein. Also erfand er Begriffe wie „Manierismus“, „Renaissance“ oder auch die „Gotik“. Die Gotik oder die Goten, die mochte er freilich nicht. Die Goten, das waren die Deutschen… Er glaubte…
004 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
…dass die Goten diejenigen waren, die das römische Reich zerstört haben. Und zugleich aber auch alles damit Verbundene in der Architektur, also alle antike Architektur im Römischen Reich zerstört haben, in den vielen Kriegen, die sie geführt haben (…) Und niemand wusste mehr, wie man gut baut. Also das Wissen um eine gute Architektur ist vollständig verloren gegangen. Durch den Einfall der Goten und der Zerstörung des Römischen Reiches.
MUSIK und ATMO (Straßburger Dom)
SPRECHERIN
Aber jetzt nochmals zurück zu Goethe, zu dem Moment, als er in das Straßburger Münster reingehen will: Die Goten, die waren also halbwilde Halsabschneider, das dachte auch Goethe seinerzeit. Die Kunst der Gotik, die Kunst des Mittelalters, die muss folglich – Giorgio Vasari hatte es ja so geschrieben - barbarisch gewesen sein…
ZITATOR (Goethe)
Ich war nicht gescheiter als ein Volk, das die ganze fremde Welt barbarisch nennt. Es hieß alles „Gotisch“, was nicht in mein System passte. Also: „Ganz vom Zierat erdrückt.“
SPRECHERIN
Vielleicht kann man Goethes Eindrücke am besten mit Musik nachvollziehen. Eine so alte Kirche wie das Straßburger Münster, die hätte Goethe gerne im Sinne der Romanik gesehen, also die Kunst aus der Zeit vor der Gotik... Dunkel, ein paar Kerzen, bescheiden, gregorianische Choräle, natürlich einstimmige Musik … Also in etwa so…
MUSIK „Sederunt“ – „langweilige“ Gregorianik
SPRECHERIN
Und dann betritt Goethe das Straßburger Münster. Eine „neue Musik“ empfängt ihn, die Kunst der „Ars Nova“. Es ist die Kunst der, ja, nennen wir sie einfach mal so, die Kunst der Gotik. - Mehrstimmige Musik. Die war extra für den gotischen Kirchenraum komponiert worden …
MUSIK „Sederunt“ - Perotin
SPRECHERIN
Es werde Licht!
005 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Es war schon das Gefühl der ganzen Epoche, was sich auch in der Musik natürlich fortgesetzt hat (…)
ZITATOR (Goethe)
Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davor trat. Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte …
SPRECHERIN
Der Baumeister des Münsters, erkannte Goethe, muss ein Genie gewesen sein. Denn er brachte den Himmel auf Erden…
MUSIK hoch und aus
006 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Mit der Gotik kommt ja Licht in ganz anderer Form in die Kirchen hinein. Und das sieht man den Kunstwerken natürlich auch an. Romanische Kirchen waren sehr dunkel oft, hatten nur kleine Fenster (…) in der Gotik werden die Wände geöffnet, durch die riesigen Fenster.
SPRECHERIN
Sagt der Kunsthistoriker Matthias Weniger vom Bayerischen Nationalmuseum in München…
ATMO Bayerisches Nationalmuseum
007 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Also, wir stehen jetzt hier im Kirchensaal des Bayerischen Nationalmuseums mit viel gotischer Kunst…
SPRECHERIN
Der sogenannten Kirchensaal sieht aus wie eine kleine gotische Kirche, also halt so mit Spitzbögen und Rippengewölbe, aber voll mit Bildern, Skulpturen und Grabplatten aus der Zeit der „Gotik“…
008 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Man wollte einfach den Gegenständen aus dem christlichen Mittelalter einen entsprechenden Rahmen geben und hat deshalb so eine kirchenartige Halle um die Figuren herumgebaut, die dann tatsächlich als Kirchensaal bekannt ist, nicht nur innerhalb des Hauses …
SPRECHERIN
Der Kirchensaal, erbaut in den 1890er Jahren in einem neugotischen Stil, hat keine Fenster, ist aber hell erleuchtet, durch Lichtspots an der Decke…
009 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Wenn Sie einmal die Möglichkeit hatten, sich gotische Kunstwerke in gotischen Kirchen ohne künstliches Licht anzuschauen, dann werden Sie merken, wie das Licht spielt… und das geht verloren, wenn Sie da mit Spots drauf leuchten, dann verliert das alle Tiefe und verliert auch alles Leben…
MUSIKAKZENT
SPRECHERIN
Was nun heißt „gotische Kunst“. Bedeutet das mehr als ein paar Verspieltheiten in der Architektur? - Erstmal zurück auf Anfang. Wo hat diese mittelalterliche Kunst ihren Anfang gefunden?
010 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Ja. Entstanden ist das, was wir heute „gotische Architektur“ bezeichnen, als „Stilepoche“, als eine Epoche mit einer bestimmten Stilzuschreibung, das beginnt tatsächlich in Frankreich.
SPRECHERIN
Also nicht bei den vermeintlichen Goten in Deutschland. Sondern in Frankreich.
011 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Da hat man sogar zeitweise von französischer Kunst gesprochen, was ja auf eine gewisse Weise auch stimmte, weil es wirklich aus Frankreich kam…
SPRECHERIN
Die Kunsthistorikerin Heidrun Stein-Kecks ergänzt…
012 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
In der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts, in den elfhundert 30er und 40er Jahren. Und zwar nicht in Frankreich, man müsste schon differenzieren, es beginnt tatsächlich in Paris, und in den Kronlanden, also in er Krondomäne des französischen Königtums …
SPRECHERIN
Krondomäne oder Krongut, das waren und sind schon wirklich sehr spezifische Begriffe für mittelalterliche Herrschaft, also, das was wir heute unter Gotik verstehen, begann in der Nähe von Paris, in Saint Denis. Die Stadt Saint Denis grenzte nördlich an Paris…l
013 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Als man 1140 in Saint Denis den Chorumgang gebaut hat, Abt „Suger“ oder „Suscher“, die Geburtstunde der, was wir heute als Gotik so verstehen, da war hier noch tiefste Romanik, und da war noch hundert Jahre lang Romanik, also noch als die Gotik in Frankreich ihren Höhepunkt erreichte, in Reims, da war immer noch Romanik in Bayern, bei uns.
SPRECHERIN
Die Kathedrale von Saint Denis wird zum Vorbild für viele neue Sakralbauten. Plötzlich wollten viele Fürsten in ihren Städten solche prächtigen Kathedralen, etwa in Köln, Regensburg oder Straßburg. Denn die Kathedrale ist ja nicht nur Ausdruck der göttlichen Herrschaft, sondern auch ein Zeichen der weltlichen Macht.
MUSIK
SPRECHERIN
Und die Gotik zeigt sich nicht nur in neuen Kirchenbauten …
014 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Gotik bedeutet ja nicht nur die Architektur, sondern das ist ja ein Gebilde aus verschiedenen Künsten, die sich in der Architektur und gemeinsam in der Architektur zusammenfinden…
ATMO Nationalmuseum
SPRECHERIN
Im Bayerischen Nationalmuseum stehen wir vor einer bärtigen, langhaarigen Figur, die sich scheinbar um einen Stock wickelt, auf den Schultern trägt der Wilde, ein Kind…
015 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Also Extravaganz ist sicher ein Aspekt, der wichtig ist, dieses tänzerische, dieses Extrovertierte…
SPRECHERIN
Aber wer ist jetzt dieser extrovertierte Tänzer?
016 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Das ist der Heilige Christophorus, der wirkte natürlich besonders wild und urtümlich…
MUSIK
ZITATOR
Christophorus ist ein sehr spezieller Heiliger. In der Kunst wurde er als bärtiger Riese dargestellt, der ein Kind auf seinen Schultern über einen Fluss trägt. Der Legende nach soll er zum dem Kind gesagt haben, du bist mir immer schwerer geworden, so als hätte ich die Last der ganzen Welt auf den Schultern getragen. Das Kind habe geantwortet: Du hast sogar den Schöpfer der Welt auf deinen Schultern getragen. Ich bin das Christuskind….
MUSIK aus
SPRECHERIN
An der Holzfigur des Christophorus im Museum fällt sofort das kunstvoll gestaltete Gewand auf…
017 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Es ist vor allem immer in der Anlage der Gewänder… Also, was wir noch als Kunstgeschichtsstudenten etwas merkwürdig fanden, wenn unsere Lehrer immer nur über die Gewandbildung und über die Falten und über die Schüsselfalten und über die Muldenfalten und über die Röhrenfalten geredet haben… Aber man merkt, dass sich diese Generationen doch darüber definiert haben und dass das doch im Zentrum der künstlerischen Beschäftigung stand. Das kann man halt an den Zeichnungen und den Zeugnissen der Zeit ablesen…
SPRECHERIN
Der aus Lindenholz gefertigte Christophorus stammt aus dem späten 15. Jahrhundert. – Also weit nach der Zeit der Begründung der Gotik in den Parisern Vororten… Und dann stellt sich doch die Frage, wie lange dauerte eigentlich die „Gotik“ –
018 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Das, was man als Gotik bezeichnet, erstreckt sich über ein halbes Jahrtausend. Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber wenn man so möchte, den Beginn in der französischen Gotik des 12. Jahrhunderts bis hin zur spätesten Gotik nördlich der Alpen…
SPRECHERIN
Gotik zeigte sich in vielen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten. Etwa in England, aber auch in Italien oder Spanien. Und auch in Bayern. Doch man muss wegen des großen Zeitrahmens vorsichtig sein, meint Heidrun Stein-Kecks
019 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Deswegen komme ich auf diese zeitliche Differenzierung. Wir haben in der Frühzeit Beispiele in Regensburg mit der Ulrichskirche, eine erste Übernahme von gotischen Formen in einer Kirche neben dem Dom und dann natürlich den Dom selber, der ein schönes Bespiel französischer Gotik in verschiedenen Elementen zeigt…
MUSIK
ZITATOR
Mit dem Bau des Regensburger Doms wurde 1275 begonnen, nachdem die alte Kirche abgebrannt war. Angeblich war der damaligen Bischoff von Regensburg bei einer Reise nach Frankreich auf ein Kirchenkonzil in Lyon von der dortigen Bauweise so beeindruckt, dass er seine neue Kirche im Stile der französischen Gotik bauen wollte…
SPRECHERIN
Wohl eine Legende, sie erklärt aber sehr schön den Einzug der Gotik nach Bayern. Aber auch der Bischoff von Regensburg durfte damals schon gewusst haben, die Fertigstellung seiner Kirche wird er nicht mehr erleben…
020 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Die Lebensspanne eines Baumeisters ist bei Gott nicht der angemessene Rahmen für die zeitliche Spanne eines solchen Auftraggebers, es sei eines Königs oder Bischoffs oder die wie auch immer… Also wenn es um ein Projekt geht, wie bei einem solchen Kathedralbau oder eine große Abteikirche… Dieser Bau dient nicht nur der Versammlung der Menschen zum Gottesdienst. Sondern diese Architektur ist ja selbst ein Ort, in dem „Gott Wohnung nimmt“
SPRECHERIN
Also etwa nach der Apokalypse, wenn die Welt zu Ende geht, wenn der Herrgott wiederkehrt. Wenn alles den Bach runter gegangen ist…
021 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Dann braucht es hier Bauten, die als Wohnstatt Gottes dienen können
SPRECHERIN
In einer gotischen Kirche, die vielleicht als Abbild des himmlischen Jerusalems dienen könnten?
022 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Sagt sich so leicht dahin, Abbild des himmlischen Jerusalems, aber es ist tatsächlich eben ein Ort, in dem Gott Wohnung nimmt, da gelten andere Spannen als eines menschlichen Lebens.
SPRECHERIN
Und dieses Denken beeinflusst auch Bayern weiter…
023 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Was wir dann in Bayern natürlich auch haben, ist aus der Spätgotik die Nürnberger großen Pfarrkirchen, Sankt Sebald und Sankt Lorenz, also die Chöre an diesen älteren Kirchen oder in Sankt Lorenz eben auch das ganze Langhaus. - Also, wir haben durchaus Beispiel, die zur gotischen Architektur zu zählen sind.
MUSIKAKZENT
SPRECHERIN
Die Kunst, die heute unter der Rubrik Gotik überliefert ist, scheint dann doch sehr stark auf den sakralen Raum begrenzt zu sein. Also hohe Kirchen mit ihren Heiligendarstellungen. - Gotik in der normalen Welt, also im profanen Bereich, scheint es nicht all zu viel gegeben zu haben. Oder doch?
024 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Das gab’s natürlich auch im profanen Bereich… Der Punkt ist nur, dass die Dinge, die erhalten sind, meistens über Kirchen überliefert worden sind, weil im profanen Bereich die Dinge dann durch Neuausstattung verschwunden sind oder dass auch private Kunst später in Kirchen gestiftet wurde und dadurch überlebt hat…
SPRECHERIN
Sagt Matthias Weniger vom Bayerischen Nationalmuseum. Und Heidrun Stein-Kecks meint, natürlich ist Gotik in der normalen Welt sichtbar, zumindest in der Architektur.
025 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Was auch dazukommt, dass sich in dieser Spanne der „Gotik“ sich auch die Gesellschaft verändert, die Herrschaftsstrukturen sich verändern. Dass mit einem Erstarken der Städte der neuesten Technik und den neuesten Bauformen errichtet werden, wie zum Beispiel die Rathäuser…
MUSIKAKZENT
ZUSPIELUNG (ATMO Stufen)
„Was ich Ihnen noch zeigen kann, wenn wir hier ein paar Stufen hochgehen….
SPRECHERIN
Matthias Weniger vom Bayerischen Nationalmuseum führt in einen Raum… na ja, wie soll man das beschreiben, der Raum ist ein sogenanntes Tonnengewölbe und die holzvertäfelte Decke besteht aus lauter kleinen Bildern.
026 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Wir haben hier zum Beispiel die Zunftstube der Augsburger Weber. Den Versammlungsraum. Das ist also ein profaner Versammlungsraum. Und sicherlich einer der spektakulärsten Raumfüllungen der profanen Gotik überhaupt …
MUSIK
ZITATOR
In der Augsburger Zunftstube trafen sich im Mittelalter die Weber. Ausgestaltet wurde der Raum Mitte des 15. Jahrhunderts von Peter Kaltenhoff. Die Holzverkleidung erwarb das Bayerische Nationalmuseum bereits im Jahre 1864. Und hat es somit gerettet. Denn das Weberhaus wurde anschließend abgerissen, weil es baufällig war und weil es einer neuen Straßenführung im Weg stand...
SPRECHERIN
Übrigens, der Architekt des Bayerischen Nationalmuseums, Gabriel von Seidl, protestierte seiner Zeit vehement gegen den Abriss des Augsburger
Webergebäudes. - Aber zurück in die nachgebaute Zunftstube im Museum:
027 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Sie sehen ja hier auch schon wieder an den Kielbögen über den Darstellungen der Personen, die das ganze Spektrum, alles, was wichtig war in der damaligen Welt, über die antiken Helden bis zu den sieben Kurfürsten, bis zu den regierenden Fürsten, aber auch Alexander der Große, Caesar, alle kommen hier irgendwie vor…
ZITATOR
Die Augsburger Weber sahen sich als Teil des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“. Also wird auf den Holztäfelchen alles abgebildet, was in diesen großen Kontext passt. Die großen griechischen und römischen Helden, Schöpfungsgeschichte, jüdische und heidnische Propheten. Ein Kunterbunt der Geschichte….
SPRECHERIN
Die Augsburger Zunftstube überwältigt. Obwohl nur abgebaut und dann wieder aufgebaut. Denn nun fühlt man sich tatsächlich in die Zeit der Gotik zurückversetzt, was, na ja, und das muss man jetzt mal vergessen, was immer die Gotik in all ihren Differenzierungen auch bedeuten mag…
028 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Also die Weber stellen sich in eine enorme Ahnenreihe, aber überfangen alles mit diesen Bögen, wie wir sie aus der Gotik kennen und mit der Gotik verbinden… Und Sie können es auch mit der Tür, das ist die originale Tür, die dazugehört, mit diesen Beschlägen oder diesen Kastenschlössern, die sind auch gotisch …
MUSIKAKZENT
SPRECHERIN
Die Gotik, also die gotische Kunst hat auch etwas ganz Handfestes. Denn Gotik bedeutet auch schlichtweg Verbesserungen ganz praktischer Art
029 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Und das setzt natürlich auch eine große handwerkliche Perfektion voraus…
SPRECHERIN
Sagt Matthias Weniger. Denn Handwerker wurden mindestens vier Jahre lang ausgebildet….
030 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Das führt zu diesem hohen Grad der Perfektion. Und auch in einem Umgang mit dem Material, die wussten genau, was sie machen, das ist in den späteren Jahrhunderten verloren gegangen, aber sie wussten, wie man verhindert, dass das Holz reißt, also hatten noch handwerkliche Kenntnisse, die man später nicht mehr hatte…
SPRECHERIN
Auch Heidrun Stein-Kecks meint, die gotischen Handwerker, haben ihre Zeit nachhaltig beeinflusst…
031 ZUSPIELUNG (Heidrun Stein-Kecks)
Das geht ein als ein, wie soll man sagen, als ein weit verbreiteter und allgemeiner Baustil, beziehungsweise die Elemente und auch die technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die bei dem Bau der ersten frühen gotischen Kathedralen entwickelt wurden, die gehen natürlich in die allgemeine Baukunst über…
MUSIK
SPRECHERIN
Und jetzt muss man auch noch erwähnen, die Kunst der Gotik ist eine Bildsprache, ein Bildprogramm. Natürlich sind die Kirchenbauten, die Illustrationen in Handschriften, die üppig gestalteten Fenster in den Kirchen, die Skulpturen, ein Mittel, ein didaktisches Mittel, um das Göttliche zu begreifen. Aber vor allem geht es in der Zeit der Gotik auch um Emotion. Matthias Weniger führt im Bayerischen Nationalmuseum zu einer Skulptur. Ein Löwe, ja, der ist der König der Tiere, aber darauf sitzt ein Skelett.
032 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
(Und) Hier haben wir die Bekrönung einer Uhr aus einem Kloster, Zisterzienserkloster Heilsbronn bei Nürnberg vor uns … beziehungsweise wir haben die Kopie, das Original steht auf der anderen Seite …
ATMO Nationalmuseum
MUSIK
ZITATOR
Genannt wird die Skulptur „Der Tod, auf einem Löwen reitend“. Der Bildschnitzer erhielt für sein Werk aus dem Jahre 1513 ganze sieben Gulden.
033 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
Es soll natürlich symbolisieren, dass selbst über den Löwen, das mächtitigste aller irdischen Wesen, das mächtigste Tier, doch letztlich der Tod regiert und dass auch der Löwe keine Macht gegen den Tod hat..
SPRECHERIN
Vielleicht drückt diese Figur am besten den Zeitgeist und das Lebensgefühl der Gotik aus. -
Die Ambivalenz zwischen prachtvollem Leben und der Vergänglichkeit des Menschen….
034 ZUSPIELUNG (Matthias Weniger)
… und wir haben versucht, an der Kopie die alte Funktionalität zu zeigen (…) In dem Tod, der auf den Löwen reitet, war eine Glocke eingebaut, und der Tod hat, wenn die Uhr die volle Stunde geschlagen hat, hat er mit dem Knochen auf die Glocke im Inneren des Löwen geschlagen (man hört es!) und dazu hat sich die Zunge des Löwen bewegt und hat auch der Unterkiefer des Todes schaudererregend geklappert …
MUSIK
Sagenhafte Reichtümer, weise Herrscher, seltsame Bräuche. Marco Polos Bericht von seiner Asienreise macht ihn zum bis heute berühmten Abenteurer. Doch was davon ist wahr, und wer war der Mann hinter dem Mythos? Autor: Niklas Nau (BR 2018)
Credits
Autor dieser Folge: Niklas Nau
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Stefan Wilkening, Christian Schulzer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Marina Münkler (Professor; Technische Universität Dresden)
Heute vor 700 Jahren starb der venezianische Kaufmann und Asienreisende Marco Polo.
Einen weiteren hörenswerten Beitrag gibt es hier:
8.1.1324: Todestag Marco Polo | Bremen Eins | Der Stichtag – Die Chronik der ARD
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In den biblischen Weihnachtsgeschichten werden die Weisen aus dem Morgenland von einem strahlenden Stern nach Bethlehem zum neugeborenen König der Juden geführt. Autor: Christian Feldmann (BR 2009)
Credits
Autor dieser Folge: Christian Feldmann
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Dtlef Kügow, Caroline Ebner, Stefan Merki
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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"Spiel mir das Lied vom Tod" - bei diesem Filmtitel denkt jeder sofort an das Stück "Der Mann mit der Harmonika" aus der Feder des italienischen Komponisten Ennio Morricone. Seine Soundtracks haben die dramaturgischen Möglichkeiten der Filmmusik erweitert und Maßstäbe gesetzt. Morricone ist einer der erfolgreichsten, produktivsten und innovativsten Komponisten der Kinogeschichte. Autor: Markus Vanhoefer
Credits
Autor dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Markus Vanhoefer
Es sprachen: Julia Fischer, Frank Manhold, Peter Lersch, Silke v. Walkhoff
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Andrea Bräu
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
( Musik 1: Kurzes Geräusch „Filmprojektor“:. Dann: Morricone „Armonica“. )
Sprecher:
Und? Kennen Sie dieses Thema? Na klar. Dieses kurze Motiv – es stammt aus dem Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ - ist für die Filmmusik das, was Beethovens „Tit-ti-ti-taa“ für die Klassik ist. Die Essenz einer ganzen musikalischen Welt. Man muss nicht unbedingt ein Soundtrack-Spezialist sein, um die vier Mundharmonika-Töne mit dem Namen eines Komponisten in Verbindung zu bringen: Ennio Morricone. Für seine Landsleute: Maestro Morricone.
( Musik 2: Morricone: „Spiel mir das Lied vom Tod“, Schlussmusik. )
Sprecher:
Spricht ein Italiener von „Maestro“, dann hat dies eine andere Dimension, als das spröde deutsche „Meister“. Ein Maestro ist mehr als nur ein solider Handwerker, ein Maestro ist eine Respektsperson, jemand mit Aura und Charisma. „Maestro“ heißen nur die ganz Großen. Maestro Ennio Morricone trägt diesen Titel zurecht.
( Musik 2 hoch )
Sprecher:
Morricones Werksbiographie unterstreicht seine herausragende Bedeutung für die Film-Geschichte. Wie viele Soundtracks hat er eigentlich geschrieben? Waren es wirklich 500, wie es das Internet-Lexikon behauptet? Oder doch nur etwas mehr als 450? Das ist zumindest ist auf Morricones offizieller Web-Seite zu lesen. Die Regisseure, mit denen er zusammengearbeitet hat, zählen zu den renommiertesten ihres Fachs: Pier Paolo Pasolini, Lina Wertmüller, Bernardo Bertolucci, Brian De Palma, Roman Polanski, Oliver Stone, Pedro Almodovar, Quentin Tarantino... Wie könnte es anders sein, befinden sich in Morricones Trophäenregal die begehrtesten Auszeichnungen seines Berufsstandes: Der Oscar, der Grammy, der Golden Globe, der britische Bafta-Award, der italienische David di Donatello. Morricone erhielt den schwedischen Polar-Music-Prize, er ist Ritter der französischen Ehrenlegion und hat einen Stern auf dem „Hollywood Walk of Fame“.
( Musik 3: Morricone „Armonica“. )
Zitatorin:
Morricone ist mit wichtigen Preisen ausgezeichnet worden, und er hat sie alle verdient,...
Sprecher:
sagt Liliana Cavani, Regisseurin von „I Cannibali“ oder „Ripley´s Game“.
Zitatorin:
Ich habe viele Erinnerungen an unsere Zusammenarbeit. An wunderbare Momente, wenn du als Regisseurin voller Dankbarkeit siehst, wie deine Bilder durch die Filmmusik an Intensität gewinnen.
Wenn du entdeckst, dass Szenen, denen offensichtlich etwas gefehlt hat, erst durch Morricones Einfluss ihre ganze Kraft entfalten.
( Musik 4: „Clan der Sizilianer „Main Title“. Die folgenden Musiken werden unter dem Sprecher kreuzgeblendet! )
Sprecher:
Was macht Morricone zur Legende der Filmmusik? Natürlich sind viele seiner Kino-Themen Klassiker. Zum Beispiel das Hauptthema aus Henri Verneuils „Der Clan der Sizilianer“:
( Musik 4 hoch. )
Sprecher:
Hier eine weitere Morricone-Melodie: „Chi Mai“ aus „Der Profi“ mit Jean-Paul Belmondo:
( Musik 5: „Chi Mai“. )
Sprecher:
Und auch diese Musik hat sich Morricone ausgedacht: „Gabriel´s Oboe“ aus „The Mission“:
( Musik 6: „Gabriel ´s Oboe“ )
Sprecher:
Einmal gehört, nie mehr vergessen. Wie kaum ein anderer hat Morricone das unschätzbare Talent zur einprägsamen Melodie. Dies ist jedoch nur ein Aspekt des Phänomens „Morricone“. Liliana Cavani:
Zitatorin:
Nicht jeder Komponist weiß, wie man Musik komponiert, die im Kino funktioniert. Morricone hat das immer gewusst.
( Musik 6 hoch )
Sprecher:
Wie funktioniert Filmmusik? Morricones Soundtracks sind exemplarisch dafür, was im Kinodunkel möglich ist: Filmmusik steht nicht für sich alleine, sie wirkt im Zusammenspiel von Bild, Wort und dem Rhythmus von Kamerafahrt und Schnitt. Deshalb folgt sie eigenen Gesetzen: Das,was im Konzertsaal unspektakulär oder verstörend atonal erscheint, kann im Kino magisch sein.
( Musik 7: Geräusch „Filmprojektor“: Musik „Frantic“ wird unter Geräusch eingeblendet.)
Zitator/Morricone:
Die beste Filmmusik enthüllt etwas, das nicht gezeigt oder erzählt werden kann. Sie illustriert etwas, das der Film nicht zum Ausdruck bringt,...
Sprecher:.
...sagt Ennio Morricone. Das heißt, ein Soundtrack schafft eine Meta-Ebene, er lenkt unsere Gedanken und Gefühle, ohne dass uns diese Beeinflussung bewusst wird. Die Meister der Filmmusik sind Manipulatoren mit einem intuitiven Verständnis für die menschliche Psyche.
Die Qualität einer Morricone-Partitur hat deshalb auch immer einen irrationalen Aspekt: Das meint der Avantgardekomponist Helmut Lachenmann, wenn er sagt, Morricones Musik habe eine ...
Zitator:
...unwiderstehliche Aura, der man nicht auf die Schliche kommt.
( Musik 7 hoch )
Sprecher:
Musik ist nichts für Spätentwickler. Hochbegabung, eine möglichst frühe Förderung und das richtige Umfeld, dieser Dreiklang ist der Nährboden, auf dem viele große Musiker-Karrieren gewachsen sind. Auch die von Ennio Morricone. Morricone wird am 10. November 1928 in Rom geboren. Sein Vater ist Berufsmusiker und führt den Sohn früh an die Musik heran.1942 wird der vierzehnjährige Jungstudent am Konservatorium Santa Cecilia in Rom. Sein Hauptfach ist Trompete. Nach dem Trompeten-Diplom wechselt Morricone 1946 das Fach und studiert Komposition. Sein Lehrer wird einer der wichtigsten zeitgenössischen Komponisten Italiens: Goffredo Petrassi. Damit steht Morricone im Zentrum der europäischen Avantgarde.
( Musik 8: Petrassi: „Settimo Concerto“, daraus „Prologo“. )
Sprecher:
Die Musik des 20. Jahrhunderts wird von umwälzenden Revolutionen geprägt. Den ersten Schock löst nach 1910 Arnold Schönbergs Zwölftonmusik aus.
Morricones Lehrer Petrassi ist ein Vertreter dieser Bewegung. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschüttert eine zweite, auf Schönberg aufbauende Revolutionswelle die Musikwelt. Es entstehen provozierend neue Richtungen, wie die Serielle Musik, die die Klangeigenschaften eines Werks mit mathematischen Reihen organisiert, oder die Musique Concrète, deren Stücke aus Geräuschen bestehen. Und da ist noch der Amerikaner John Cage, für den alles Klang ist.
( Musik 9: Morricone: „Ut“ für Trompete und Streichorchester. )
Sprecher:
Der fortgeschrittene Student Ennio Morricone begeistert sich für all´ diese innovativen Ideen und sorgt mit seinen avantgardistischen Werken für Aufsehen. Doch dann beginnt Morricone ein Doppelleben, er begibt sich ins kommerzielle Terrain der Unterhaltungsmusik. Aus pragmatischen Motiven: Der junge Komponist hat geheiratet:
Zitator/Morricone:
Mit Ernster Musik kommt man nicht weit. Man verdient nur wenig Geld und meine Familie brauchte damals Geld. Und so begann ich auf Nachfrage zu arbeiten.
( Musik 10 )
Sprecher:
Morricone wird zunächst eine Art Ghostwriter für Rundfunk-, TV- und Filmproduktionen. Er arrangiert Werke anderer Komponisten und dirigiert Unterhaltungsorchester.
1958 erhält er einen Vertrag beim Medienkonzern RCA. Ende der 1950er Jahre, in der Vor-Computer-Zeit, ist die Unterhaltungsmusik noch analog. Echte Musiker spielen richtige Instrumente. Deshalb sind klassisch trainierte Komponisten wie Morricone gesuchte Leute. Sie leiten Studioaufnahmen und greifen in einer Doppelfunktion aus Produzent und Arrangeur ins musikalische Geschehen ein. Fällt beispielsweise die Entscheidung, eine schlichte Pop-Melodie in ein großorchestrales Gewand zu kleiden, sind sie in der Lage, auf die Schnelle die gewünschte Orchester-Partitur zu verfassen. Ohne fundierte Kompositionsausbildung geht das nicht. Ennio Morricone kann das, und dann entdeckt er noch eine weiteres Talent: Sobald er mit eigenen Stücken „populäre“ Genres bedient, hat seine Musik das Zeug zur Hitparade. Zum Beispiel sein „Twist Nr. 9“, der in Japan und Südkorea zum „Kult“ wird. Oder der Italo-Schlager „Ogni Volta“, mit dem Paul Anka 1964 am San Remo-Festival teilnimmt. Der Titel verkauft sich allein in Italien 1,2 Millionen mal. Arrangeur und Co-Autor des Bestsellers: Ennio Morricone.
( Musik 11: Paul Anka: „Ogni Volta“ ).
Sprecher:
Ennio Morricone ist nicht der erste seriöse Komponist, der von der Kunst in den Kommerz wechselte. Die meisten seiner Kollegen haben dies mit schlechtem Gewissen getan.
Denn aus Sicht der elitären Hochkultur gilt dies als Hochverrat. Das ist eine Einschätzung, die Ennio Morricone in keiner Weise teilt. Ob absolute Musik, wie Morricone Kunstmusik nennt, oder einfacher Schlager, Morricone komponiert beides mit gleicher Leidenschaft und ähnlichem Qualitätsanspruch. Das ist die Grundlange seines Welterfolgs als Filmkomponist.
Zitator/Morricone:
Beides hat mir gleich viel Spaß gemacht, denn ich liebe das Komponieren. Für angewandte Musik nutze ich die gleichen Regeln und geistigen Anforderungen wie für absolute Musik.
( Musik 12: „Themamusik: „Für eine Handvoll Dollar“. )
Sprecher:
Ennio Morricone beginnt seine Karriere als Filmkomponist im Jahr 1961. Der internationale Durchbruch gelingt ihm in enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur Sergio Leone. 1964 kommt „Für eine Handvoll Dollar“ in die „Lichtspielhäuser“. Er ist der erste Film der „Dollar-Trilogie“, die das Genre des so genannten Spaghetti-Western begründet. Die beiden anderen Streifen sind „Für ein paar Dollar mehr“ und „Zwei glorreiche Halunken“. Ennio Morricones und Sergio Leones Italo-Western haben einen gewaltigen Einfluss. Sie verändern die Erzählweise des Films. Das meint beispielsweise Pulp-Fiction Regisseur Quentin Tarantino. Der Hauptgrund dafür sei Morricones Musik. Der Regisseur John Borman ergänzt:
Zitator:
In den Filmen dieser beiden Männer spielt Musik die Hauptrolle. Ich sage dies nicht, um Leone herabzuwürdigen. Morricones Partituren sind so etwas wie Opern. Sie schöpfen aus einer alten italienischen Tradition.
( Musik 13 )
Sprecher:
Welche Funktion hat Filmmusik? Die Herangehensweise des kongenialen Duos Leone/ Morricone ist konzeptionell neu. „Oper“ ist in der Tat das richtige Schlagwort. Denn ihre Spaghetti-Western sind in ihrer symbiotischen Verbindung von Bild und Klang opernartig durchkomponiert. Das beginnt bei einzelnen Motiven, die Personen charakterisieren, und endet in Rhythmus und Struktur der dramaturgischen Abläufe, in der die Handlung der Musik folgt und nicht anders herum. Ein Beispiel ist das Ende von „Zwei glorreiche Halunken“. Drei Revolvermänner stehen sich am Rande eines Friedhofs minutenlang Auge in Auge gegenüber. Eine statische Szene wie diese würde ohne Morricones erzählende Musik völlig in sich zusammenfallen.
( Musik 14: Themamusik: „Für ein paar Dollar mehr“ )
Sprecher:
Ennio Morricones Wild-West-Partituren setzen Maßstäbe. Auch was ihren unverwechselbaren Klang betrifft. Das liegt an den ungewöhnlichen Instrumenten, mit denen Morricone das Standard-Orchester anreichert. Diese Instrumente sind unter anderem Volksmusikinstrumente wie die Maultrommel oder ethnische Flöten, Glocken oder die E-Gitarre der Rock-Musik. Eine besondere Vorliebe zeigt Morricone für die Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme:
Zitator/Morricone:
Die menschliche Stimme ist das erstaunlichste Instrument, das es gibt. Wir brauchen kein Instrument, wir selbst sind das Instrument, wir, unser Körper. Die menschliche Stimme kann alles. Wir sind an schöne, liebliche Stimmen gewöhnt.
Aber es gibt auch schreckliche Stimmen, unmenschliche, die von bösen Menschen. Die Stimme repräsentiert alles Gute und Schlechte der menschlichen Natur.
( Musik 15: Morricone „The Ecstasy Of Gold“. )
Sprecher:
Das Medium Ton-Film hat mehrere akustische Dimensionen. Die Musik ist eine, eine andere ist das Geräusch, und das spielt im Denken des Filmkomponisten Morricone eine entscheidende Rolle. Was ist die Grenze von Musik und Geräusch, lassen sich Geräusche musikalisieren? Kann das Fehlen von Musik trotzdem Musik sein? Morricones wohl berühmteste Filmmusik ist die zu Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“. Die epische Anfangsszene der Western-Saga nimmt dabei eine Sonderstellung ein, denn sie kommt scheinbar völlig ohne Musik aus. Drei finstere Pistolleros warten an einem gottverlassenen Wüstenbahnhof auf die Ankunft eins Zugs: Was wir hören: Das rhythmische Quietschen eines Windrads, Stiefelschritte auf Holzboden. Das Platschen von Wassertropfen. Das Summen einer Fliege. Den sich nähernden Zug. Diese Geräusche sind bewusst komponiert. Sie steuern auf einen Höhepunkt zu. Nach etwa 10 Minuten steigt der „Fremde“ aus dem Zug. Erst dann erklingt ein „richtiges“ Instrument: das legendäre Mundharmonika-Thema.
( Musik 16: Geräusch „Wind und Wassertropfen“. Liegt bereits unter Text. Daraus Themamusik „Spiel mir das Lied vom Tod“. )
Sprecher:
Geräusche und Stille als Gestaltungselement. Enno Morricone hat dies nicht erfunden. Das sind Ideen der zeitgenössischen Musik der Nachkriegsjahre, als Morricone selbst ein Mitglied dieser Szene war. John Cage war damals einer seiner Vorbilder:
Zitator/Morricone:
John Cage war ein enormer Einfluss, und ich rede nicht nur von Avantgarde-Musik, sondern von Musik im Allgemeinen. Zum Beispiel, wie wichtig Pausen sind, das Fehlen eines Klanges, das kam von Cage.
( Musik 17: „Cinema Paradiso“ )
Sprecher:
Maestro Morricone. Vom legendären Filmkomponisten zum Privatmann. Morricone ist Römer mit Leib und Seele, die ewige Stadt ist das Zentrum seines Lebens. Zusammen mit seiner Frau und den vier Kindern wohnt er in der Nähe der Piazza Venezia. Im kreativen Chaos seines Arbeitszimmers entstehen mehrere hundert Soundtracks, aber auch „abstrakte“ Konzertmusik. Der Filmkomponist Morricone bedient alle Genres, die das Kino kennt: Western, Thriller und Horror-Filme, historische Stoffe wie auch Komödien, cineastisch Anspruchsvolles und aufwendige Großproduktionen, genauso wie billige B-Movies. Morricone ist einer der erfolgreichsten und profiliertesten Filmkomponisten des 20. Jahrhunderts.
Natürlich arbeitet so jemand auch für Hollywood, Morricone tut dies von Rom aus. Die amerikanische Filmindustrie betrachtet das als Manko. Zwischen 1979 und 2001 wird der Italiener fünfmal für den Oscar nominiert.
Die begehrte Statue bekommen jedoch immer andere. 2007 darf Morricone einen Ehren-Oscar für sein Lebenswerk in Empfang nehmen. Für Insider hat diese Geste einen schalen Beigeschmack.
( Musik 18: Morricone: „The Hateful Eight“. )
precher:
Die Geschichte von Ennio Morricone und dem Oscar hat jedoch ein Happy-End. Einer der glühendsten Fans des römischen Maestro ist Quentin Tarantino. Jahrelang versucht der amerikanische Regisseur vergeblich, sein Idol zu engagieren. Doch dann gibt Morricone nach und schreibt den Soundtrack zu Tarantinos „The Hatefull Eight“. Die Belohung ist eine weitere Oscar-Nominierung. Diesmal klappt es: 2016 erhält Ennio Morricone den „Academy Award“ für die beste Filmmusik. Damit ist der 87- jährige der älteste Oscar-Preisträger aller Zeiten.
( Musik 18 hoch )
Sprecher:
Ennio Morricone wird 91 Jahre alt. Im Sommer 2020 wird er nach einem Sturz in ein römisches Krankenhaus eingeliefert, dort stirbt er am 6. Juli desselben Jahres.
Zitator:
Hat Morricone einen Erben? Im Moment sehe ich niemanden, und ich denke, wir werden noch eine Weile warten müssen, ...
Sprecher:
... sagt der Regisseur Roberto Faenza. Er begründet seine Behauptung, indem er seinen Freund Morricone zitiert: Populäre Musik habe ihre Kreativität, ihr Überraschungsmoment verloren.
Zitator/Morricone:
Wir konsumieren heute Musik, sie ist nicht mehr als ein Hintergrundgeräusch in einem Laden.
Sprecher:
Maestro Morricones Anspruch war ein anderer, so eingängig viele seiner Kompositionen auch sind.
( Schlussmusik )
Gute Nacht, John-Boy - dieser Satz aus "Die Waltons" ist weltbekannt. Autor Earl Hamner hat mit der Familienserie Fernsehgeschichte geschrieben. Aber auch viele andere Filme, Reihen, Romane Hamners haben das Publikum begeistert auf ihre sehr herzliche, oft humorvolle Hamner-Art. Autorin: Susi Weichselbaumer
Credits
Autorin dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Berenike Beschle, Herbert Schäfer, Clemens Nicol, Friedrich Schloffer, Rahel Comtesse
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Andrea Bräu
Literaturtipps:
Earl Hamner und Ralph Giffin: Goodnight John-Boy – feinfühlige Einführung zur Serie „Die Waltons“ mit Biografischem zu Hamner und zur Entstehungsgeschichte sowie Episodenguide
James E. Person JR., Earl Hamner. From Walton´s Mountain to tomorrow – detailreiche und umfassende Biografie zu Hamner
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO Graduation 1
Erzählerin
Stolz, glücklich, nervös - die Absolventinnen und Absolventen in den schwarzen Roben drängen in die Sporthalle, die bestuhlt ist für diesen Anlass. Sie suchen ihre Plätze in den ersten Reihen vor der Bühne. Omas, Opas, Mamas, Papas, Geschwister, Freunde verteilen sich dahinter.
Erzähler
Es dauert, bis alle sitzen.
1 ZU Burke 0.21 We brought him…
Ov m1
Wir hatten ihn 2004 zu uns auf den Campus eingeladen und ihm einen Preis verliehen für außerordentliche Verdienste um Film und Fernsehen.
Erzählerin
Erinnert sich Kevin Burke. Er ist Leiter des Studiengangs Medienproduktion an der Universität Cincinnati in Ohio.
2 ZU Burke 0.21 +45.26 And in 2008…
Ov m 1
2008 kam er wieder – um einen Ehrendoktortitel anzunehmen. Und er hat die Abschiedsrede gehalten auf der Feier des Abschlussjahrgangs. Tausende bekamen da ihr Zeugnis. Wir haben insgesamt 45.000 Studierende hier jedes Jahr. Und er gab ihnen Weisheiten mit für ihren weiteren Lebensweg.
ATMO Graduation 2
Erzähler
Earl Hamner.
Erzählerin
Der freundliche Mann mit dem dunklen welligen Haar und der quadratischen Hornbrille.
Erzähler
Der renommierte Schriftsteller, erfolgreiche Drehbuchautor –
Erzählerin
Der selbst Student war an der Universität Cincinnati, Diplom 1948, im damals ganz neuen Kurs „Publizistik“.
ATMO ENDE/ MUSIK Thema Waltons CD 924520 041 0.58 Min.
Erzähler
Der Serien und Filme gemacht hat für die Fernsehewigkeit.
Erzählerin
Die Mediathek- und Streamingdienstewigkeit.
Erzähler
Die ewige Ewigkeit.
MUSIK hoch und weiter
Erzählerin
Die Kamera schwenkt über die bewaldeten Gipfel Virginias. Die Sonne scheint. Mama Walton tritt lächelnd aus der Tür des weiß gestrichenen Farmhauses und wischt sich die Hände an der Schürze ab.
(Stelle in der Musik: Autohupe)
Erzähler
Papa Walton fährt mit dem klapprigen Ford Pick Up auf den Hof.
Erzählerin
Die sieben Kinder laufen fröhlich durch den Vorspann.
Erzähler
Opa Walton kuschelt Oma Walton.
Erzählerin
Die wehrt ihn ab.
Erzähler
Ach was.
Erzählerin
Der Autor der Serie „Die Waltons“, Earl Hamner, erzählt zu Beginn jeder Episode, um was es diesmal geht. Die kurze Zusammenfassung aus dem Off wird Standard, 9 Jahre und 9 Staffeln lang.
Erzähler
221 Folgen, ab 1972, zunächst zu sehen im US-amerikanischen Sendernetzwerk CBS. 50 Millionen Menschen schalten jeden Donnerstagabend ein.
5 ZU Hamner (2.30) The audience made…
OVm2
Das Publikum hat uns an die Spitze der Einschaltquoten katapultiert. Das war die beste Antwort auf all die Kritiker, die im Vorfeld meinten: Wen in aller Welt interessiert der Alltag einer Familie in den hinteren Wäldern Virginias während der Wirtschaftskrise?
Erzähler
Freut sich Hamner in einem Interview später. Da haben ihn „Die Waltons“ bereits weltberühmt gemacht. Angesiedelt im ländlichen Amerika der 1930er Jahren, in der Zeit der Großen Depression, erleben die Familienmitglieder kleine Abenteuer.
ATMO Schyler 1/ MUSIK The Waltons CD947590 211 0.34 Min.
Erzählerin
„Die Waltons“ spielen in etwa da, wo Earl Hamner herkommt. Aus dem überschaubaren Schyler, Nelson County, weit draußen in der waldigen Hügellandschaft des südlichen Virginia. Ein paar Farmhäuser, eine Baptistenkirche, eine Seifenfabrik. Hier wird Earl Hamner Junior am 10. Juli 1923 geboren. Als ältestes von acht Kindern. Der Vater ist Maschinist in der Fabrik, die Mutter kümmert sich um den Haushalt.
ATMO Schyler 2
Erzähler
Heute ist Schyler Sehnsuchtsort vieler Walton-Fans. Mehrmals im Jahr gibt es in dem 300-Einwohner-Örtchen Festivals, zu denen nach wie vor auch die Stars aus der Serie kommen, Autogramme verteilen und Fragen beantworten. Bed and Breakfast-Adressen werben mit Mama Waltons berühmtem Apfelsaucenkuchen zum Frühstück.
6 ZU Mary Clark (Hesse) I was born and raised here..
OVw1
Ich bin hier geboren und aufgewachsen und als die Waltons starteten, waren wir so stolz!
Erzähler
Sagt Mary Clark. Sie betreibt ehrenamtlich das Waltons Mountain Museum in Schyler.
ATMO Museum
Erzählerin
Die Gäste schlendern durch Nachbauten der Wohnräume im Farmhaus der Waltons, drehen am alten Röhrenradio aus dem Waltons Vorspann und blättern durch Autogrammkarten der Darsteller -
8 ZU Joe (Hesse) It brings back…
OVw2
Es bringt Erinnerungen aus der Serie zurück, gute Gefühle. Die Familie, die Verbundenheit, wie sie zusammenhalten.
OVw1
Die enge Familie, ich wünschte das wäre heute noch so.
MUSIK Dueling Banjos Z8008909 116 0.37 Min.
Erzählerin
Diesen Wunsch hat das Publikum wohl bereits in den turbulenten 1970er Jahren, als die Serie anläuft: Zurück in die 30er, als da bei aller Finanzkrise gefühlt wenigstens noch Geborgenheit und Miteinander herrschten, ein stabiles Wertesystem existierte.
Erzähler
Mitten hinein in die landesweiten Proteste gegen den Vietnamkrieg erzählt Hamner vom Scheunentanzabend in Waltons Mountain, der ersten Liebe, dem ersten Kuss. Während die Watergate-Affäre über die USA hinaus Schlagzeilen macht, verpasst Hamner den Eltern Walton bei ihrer nachgeholten Hochzeitsreise eine romantische Reifenpanne.
Erzählerin
Mit dieser Art von Nostalgie begeistert Hamner nicht nur viele Menschen in den USA. 1975 bringt das ZDF die Waltons nach Deutschland. Die Zuschauerzahlen sind so gut, dass mehrere Privatsender die Serie sofort komplett wiederholen.
9 ZU Kevin Burke 14.00 He was very much into familiy programming
OVm1
Familienprogramme waren absolut sein Ding. Filme, die Eltern mit ihren Kindern schauen, Geschichten über Leute, mit denen die Menschen mitfühlen können, also nicht irgendwelche Verbrecher oder Superhelden.
Erzählerin
Erklärt der Professor für Medienproduktion an der Universität Cincinnati und selbst bekannter Dokumentarfilmer, Kevin Burke.
10 ZU Kevin Burke 14.00 Creating programming for television that
OVm1
Er wollte Fernsehsendungen machen, die Bedeutung haben, von Herzen kommen und die eine Verbindung herstellen zu universeller Wahrheit. Ich habe hier mal ein Zitat, das hat Hamner gesagt, als er bei uns auf dem Campus die Abschlussrede für den Jahrgang 2008 gehalten hat.
Ohne Mut, Ehre, Leidenschaft, Mitleid, Liebe und Opferbereitschaft würden wir nichts wissen von Liebe, sondern nur von Verlust. Wir können unsere Zuschauer bereichern und uns selber bereichern, indem wir das Gute sehen in dieser wunderbaren Erfahrung, die wir Leben nennen.
MUSIK Sauboy Song A C1616900 114 0.52 Min.
Erzähler
Dass er schreiben und bereichern will, weiß Hamner früh. Als Schüler in Schyler verfasst er kleine Gedichte, die schon mal die Lokalzeitung herausbringt.
Erzählerin
In Kurzgeschichten skizziert er den Alltag der Großfamilie daheim auf der Farm mit ein paar Hühnern, Schweinen und der Kuh „Chance“ –
Erzähler
„Chance“ erhält denn auch in den Waltons eine durchgehende Rolle.
Erzählerin
Überhaupt ist vieles ähnlich. Das Motto lautet: Arm, aber glücklich – und wird sich durch Texte Hamners genauso ziehen wie durch Teile seines Lebens. Während der Wirtschaftskrise verliert sein Vater den Job, man muss umziehen in eine Nachbarstadt, in der es wenigstens schlecht bezahlte Arbeit in einer Chemiefabrik gibt. Dank eines Stipendiums kann Earl Hamner die private Universität Richmond besuchen.
Erzähler
Der zweite Weltkrieg kommt dazwischen. 1943 wird er als Soldat eingezogen. Die Army schickt ihn für zwei Jahre zum Einsatz nach Frankreich.
Erzählerin
Hamner schreibt auch dort in jeder freien Minute, am liebsten Kurzgeschichten. Die schickt er per Post an Zeitschriften daheim in den USA. Sämtliche Verlage lehnen ab:
Erzähler
Passt nicht thematisch. Ungelesen zurück, da Schriftsteller unbekannt. Abgelehnt, weil Autor ohne Agentur.
MUSIK Wooden Meatballs B C1617750 113 0.35 Min.
Erzählerin
Hamner ist hartnäckig. Nach dem Krieg studiert er fertig, unter anderem an der Universität Cincinnati in Ohio. Abschlussjahrgang 1948. Studienschwerpunkt: Schreiben fürs Radio.
Erzähler
WLW – die führende Radiostation in Cincinnati, zu hören im gesamten Osten der USA – engagiert den talentierten jungen Mann direkt von der Collegebank weg. Hörspiele, Kindersendungen, Dramenbearbeitungen – Hamner liegt das Texten fürs Sprechen.
MUSIK/ ATMO ENDE
Erzählerin
Sein Traum ist aber ein anderer:
11 ZU Kevin Burke 6.32 He stayed there..
OVm1
Er blieb einige Jahre bei WLW. Dann kündigte er, weil er endlich genug Zeit haben wollte für ein Romanprojekt.
Erzähler
Ein großes Romanprojekt, wie es sich für einen richtigen Schriftsteller gehört.
Erzählerin
So stellt es sich Earl Hamner vor.
MUSIK First sight of New York M0021345 000 0.37 Min.
Erzähler
Deswegen zieht er nach New York. Ins Zentrum von Kunst, Musik und Literatur. Wolkenkratzer im Lichtermeer, Dauerstau auf den Straßen und Gedränge auf den Gehsteigen. In der Stadt, die nie schläft und die den größtmöglichen Kontrast bietet zu Schyler in den einsamen bewaldeten Bergen Virginias –
Erzählerin
Entsteht 1953 schließlich „Fifty Roads of Town“. Ein Roman, in dem es um eine junge Frau geht – die in den Bergen Virginias lebt.
Erzähler
Ja. Aber inzwischen schreibt Hamner auch ganz Anderes. Das Fernsehen hat es ihm angetan. Er klappert in New York einen Produzenten nach dem anderen ab.
Erzählerin
Viele sagen ihm, nein, nur weil er Radiotexte könne… Fernsehen sei so ganz…
Erzähler
Anderes?!?!
MUSIK Dueling Banjos Z8008909 116 0.25 Min.
Erzähler
Ein Mann gibt ihm eine Chance, Mark Smith, ein befreundeter Redakteur von „The United States Steel Hour“. Die TV-Show adaptiert Bühnenwerke der Weltliteratur, von Shakespeare über Oscar Wilde bis Tennessee Williams.
Erzähler
Hamner begeistert Redakteur Smith. Der Fuß ist in der Tür. Weitere Aufträge folgen.
MUSIK ENDE
Erzählerin
Ende der 1950er Jahre ist die Goldene Zeit des Fernsehens in New York vorbei. Gameshows, Sitcoms, Musicals, Werbefilmproduktionen – wandern an die Ostküste. Im sonnigen Kalifornien sind die Drehbedingungen besser und billiger.
Erzähler
Hamner ist mittlerweile Familienvater. Kurzentschlossen packt er seine Frau Jane, Sohn Scott und Tochter Caroline ein, die beiden Cockerspaniels und die Landschildkröte - und zieht nach Hollywood.
MUSIK Lazy summer M0017577Z00 0.44 Min.
Erzählerin
Diese Idee haben allerdings auch andere.
Erzähler
Viele.
Erzählerin
Hamner findet nirgendwo Anstellung. Schnell geht das Geld zur Neige. In der winzigen Wohnung ist kein Platz für einen Schreibtisch, also setzt er sich in eine Ecke der Garage. Dort arbeitet er an einem biografischen Roman, wann immer er gerade kein Vorstellungsgespräch hat bei einem Produzenten oder einer Filmfirma.
Erzähler
In einem brütend heißen kalifornischen Sommer entsteht in der Garage ohne Klimaanlage bei offenem Rolltor „Spencer´s Mountain“. Der deutsche Titel: „Sommer der Erwartung“. Eine Familiengeschichte, angesiedelt irgendwo in den kühl bewaldeten Bergen Virginias.
12 ZU Burke 10.00 It was about familiy and…
OVm1
Es geht da um die Familie und ums Aufwachsen in einer vielleicht einfacheren Zeit, in einer Zeit, in der die Menschen in den Vereinigten Staaten, überhaupt auf der Welt, wenig Geld hatten und sie haben sich aufeinander verlassen, um durchzukommen.
Erzählerin
Erklärt der Professor für Medienproduktion an der Universität Cincinnati, Kevin Burke.
MUSIK Americana M0007510 0.19 Min.
Erzähler
In „Spencer´s Mountain“ steht der Traum des Vaters gegen den des ältesten Sohnes. Der Junior will aufs College gehen. Der Vater möchte ein eigenes Haus bauen für die Mutter und die weiteren acht Geschwister, oben auf dem Berg, auf dem Land, das ihnen gehört.
Erzählerin
Am Ende verkauft der Vater Haus und Berg für die Zukunft seines Jungen.
13 ZU Burke 10.40
OVm1
Das ist einer der Gründe, warum Hamners Arbeit bei so einem breiten Publikum über alle Altersstufen hinweg derart gut ankam in den USA. Die Menschen konnten sich einfühlen, kannten das aus eigenen Erfahrungen.
Erzählerin
Der Roman kommt 1961 heraus und landet sofort auf der Bestseller-Liste der New York Times.
Erzähler
Die Rezensionen sind hymnisch.
Erzählerin
Präsident John F. Kennedy wählt das Buch aus als Gastgeschenk für andere Regierungschefs, weil es – so der Präsident – das beste amerikanische Leben präsentiere.
MUSIK Grab your partner M0021336 000 0.37 Min.
Erzähler
Und Warner Brother´s machen den Film dazu. In buntem Technicolor. Pompös beworben in langen Trailern. Und in Starbesetzung.
Erzählerin
Henry Fonda.
Erzähler
Und Maureen O´Hara –
Erzählerin
Als Mama –
Erzähler
Und Papa von neun Kindern.
Erzählerin
Finanziell ist das endlich ein Durchbruch für Hamner. Allerdings beteiligt ihn die Warner nicht am Drehbuch, das schreiben andere.
MUSIK ENDE
Erzähler
Hamner ist das alles zu groß und zu bunt und zu effektheischend. Also mischt er sich ein. Dass Hamner für seine Figuren und Konzepte kämpft, imponiert den Studiobossen. Seine Art zu schreiben, kommt beim Publikum an. Aufträge flattern ins Haus. Drehbücher für Fernsehserien, Kurzgeschichten für Sammelbände, Romanideen – die Palette an Themen ist breit. Und bisweilen überraschend.
MUSIK The twilight Zone Z8038688 221 0.53 Min
Erzählerin
Ein früherer Kollege beim Radio in Cincinnati, Rod Serling, ist mittlerweile Produzent und Gastgeber der legendären „Twilight Zone“. Unwahrscheinliche Geschichten, unbekannte Dimensionen – in 25 Minuten pro Folge entspinnen sich unglaubliche Begebenheiten. Gruselig, psychologisch doppelbödig, mitunter makaber. Hamner liegt dieses Fernsehformat mit Fokus auf grotesken zwischenmenschlichen Details.
Erzähler
Er erzählt von einer verliebten jungen Frau, die sich einer alten Hexe in den Bergwäldern anvertraut. Doch obsessive Liebe und obskure Kräuterkunde führten noch nie zum Guten.
Erzählerin
In einer anderen Folge lässt Hamner ein junges Paar in Pappkulissen aufwachen. Es stellt sich erst langsam heraus: Sie wurden von der Erde entführt und dienen jetzt dem Kind eines Außerirdischen als Spielzeuge im Puppenhaus.
MUSIK Bergpanorama Alphorn C1482290008 m 0.50 Min.
Erzählerin
1968 fragt eine Produktion an, ob Hamner das Skript ausdenken möchte für die deutsch-US-amerikanische Produktion „Heidi kehrt heim“. In der Hauptrolle als Alm-Öhi Maximilian Schell.
Erzähler
Statt die Berge Virginias durchstreift Hamner jetzt die Schweizer Alpen nahe St. Moritz. Er ist gerne am Drehort dabei, feilt mit den Darstellern bis kurz vor Kamera an den Dialogen. Die Romanvorlage von Johanna Spyri dichtet er um, mehr Drama, aber auch mehr Liebe. Aus der strengen Gouvernante Fräulein Rottenmeier wird diesmal eine reizende neue Mama Sesemann für Klara.
Erzählerin
Anspruchsvolle Unterhaltung im Stil deutscher Heimatfilme, loben die hiesigen Filmkritiken.
MUSIK ENDE
Erzähler
In den USA gerät die Erstausstrahlung am 17. November 1968 zum Desaster. Aus rechtlichen Gründen muss der Sender NBC den Film Punkt 19 Uhr starten und beendet deshalb die Übertragung des Footballspiels Oakland Raiders gegen New York Jets eine Minute vor Schluss. Dass die Raiders die verloren geglaubte Partie in dieser letzten Minute doch noch drehen konnten – verpassen die Fans. Wegen des Alm-Öhi.
Erzählerin
Heute ist „Heidi-Gate“ Fernsehgeschichte. Die Verfilmung längst auch in den USA ein Klassiker.
15 ZU Kevin Burke (16.19) I am not a big…
OVm1
Ganz ehrlich bin ich jetzt kein großer Waltons-Fan, aber er hat einen Pilotfilm geschrieben für die Serie. „The Homecoming“, eine Weihnachtsgeschichte, 1971, und der wurde nominiert für drei Emmys und Hamner selbst wurde nominiert für herausragende Leistungen im Bereich Drehbuch.
Erzählerin
Erinnert sich Kevin Burke. Tatsächlich plant Hamner „The Homecoming“ zunächst als Romanfortsetzung von „Spencer´s Mountain“.
MUSIK Dancing snow flakes Z80347 68 137 0.25 Min.
Erzählerin
Darin sind die Kinder etwas älter geworden. Es ist Weihnachtsabend und man wartet im festlich geschmückten Farmhaus darauf, dass der Vater endlich zurück kommt von der Arbeit in der Fabrik in der Nachbarstadt. Doch draußen tobt ein gewaltiger Schneesturm. Vom Vater fehlt jede Spur. Der älteste Sohn zieht los, sucht ihn in der Poolhalle, beim Krämer, klappert die Nachbarn ab. Vergeblich.
MUSIK Snow scene M0017516 000 0.20 Min.
Erzähler
Schließlich steht der Vater vor der Tür mit einem Sack voller Geschenke. Er hatte den Bus verpasst und musste im Sturm nach Hause trampen.
Erzählerin
Die Firma CBS kauft das Buch an.
Erzähler
Der Pilotfilm übertrifft sämtliche Erwartungen. Earl Hamner bekommt sein erstes ganz eigenes Projekt.
16 ZU Hamner 1.17
OVm2
Wegen des Erfolgs von „The Homecoming“ erhielt ich den Auftrag von CBS eine Serie daraus zu entwickeln, daraus und aus dem Roman davor, „Spencer´s Mountain“. Der großartige Will Geer war der erste Schauspieler, den wir gecastet hatten als Opa Walton. Und als wir sie alle zusammen hatten, wussten wir, dass wir da eine wunderbare Gruppe hatten, jede und jeder passte einzigartig in seine Rolle.
MUSIK The Waltons CD 924520 041 1.01 Min.
Erzählerin
Ralph Waite, der zig andere Jobs gemacht hatte, bevor er zur Schauspielerei kam und dessen Privatleben eben den Bach runtergeht, wird Papa John Walton. Später sagt er: Die Rolle habe ihm gezeigt, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen und ein guter Vater zu sein.
Erzähler
Theaterschauspielerin Michael Learned, mitten in der Scheidung, alleinerziehend mit drei Jungs, braucht eine Zusage schon wegen des Geldes. Sie kommt komplett verkatert zum Casting – und kriegt den Part der Mama, Olivia Walton. Damit habe ein neues Leben begonnen, erzählt sie in Interviews bis heute.
Erzählerin
John und Olivia werden ein Traumpaar vor der Kamera.
Erzähler
Hinter der Kamera auch.
Erzählerin
Sie verzichten auf eine Liebesbeziehung in echt.
Erzähler
Die Ehe der Waltons ist ihnen zu wichtig. Dass sie die sehr ernst nehmen, zeigt sich auch in Gesprächen mit dem Autor Earl Hamner.
Erzählerin
Michael Learned mag ihn sehr, beschwert sich aber oft: Sie möchte mehr als Olivia erleben dürfen, als nur Kaffee kochen und die Küche auf Waltons Mountain fegen.
Erzähler
Also lässt Hamner Mama Walton schwere Krankheiten durchleben, einen Verehrer finden, den sie nicht erhöht, zum Geburtstag darf sie sogar abheben per Postflugzeug.
Erzählerin
Hamner ist durchaus selbstkritisch. Oma Esther Walton alias Ellen Corby macht es ihm auch nicht leicht.
17 ZU Hamner (2.09) Ellen was dure and unfriendlly...
OVm2
Ellen hat das manchmal so hart, fast unfreundlich gespielt. Da habe ich ihr gesagt, ich möchte mehr von meiner eigenen Großmutter in der Rolle sehen, sie war die süßeste Person. Ellen schnitt mir das Wort ab: Junger Mann! Ich gebe der Großmutter ein paar Ecken und Kanten. Sie haben so viele nette Menschen in dieser zuckersüßen Show, das Publikum wird sterben an Diabetes. Ich habe sie daraufhin nie wieder kritisiert.
Erzählerin
Am 14. September 1972 läuft die erste Folge der Waltons. Bis 1981 werden es 221 sein. Dazu kommen sechs später produzierte Fernsehfilme, die die Geschichte der Familie jeweils ein Stückchen weiterdrehen. Das Ende jeder Episode wird zum geflügelten Wort.
19 ZU Trailer Ende: Good night, John Boy!
Erzähler
1972 und 1973 wird Hamner für seine Waltons wieder für den Emmy nominiert.
Erzählerin
Er ist eine Hausnummer in Hollywood.
Erzähler
Eine sichere Bank.
MUSIK Falcon Crest (Theme) Z8091424 217 0.52 Min.
Erzählerin
Als 1981 die Serie „Falcon Crest“ ins US-amerikanische Fernsehen kommt, weiß man –
Erzähler
Wo Earl Hamner draufsteht –
Erzählerin
Sind sicher wieder über 200 Folgen drin. Gemeinsam mit „Dallas“, dem „Denver Clan“ und „Unter der Sonne Kaliforniens“ wird „Falcon Crest“ in den 1980er Jahren eine der erfolgreichsten Soaps weltweit. Weingutbesitzerin Angela Channing ist die unumstrittene Clanchefin und despotische Herrscherin von Falcon Crest. Ihr soll einmal das ganze Tal gehören. Also schmiedet sie finstere Intrigen gegen die anderen Weinbauern in der Umgebung. Doch auch in der eigenen Familie gibt es Konkurrenz.
Erzähler
Neffe Chase und Richard, der Sohn ihres verstorbenen Ex-Ehemanns, wollen an Angelas Erbe. Und das möglichst schnell.
Erzählerin
Ohne Erfolg.
MUSIK ENDE
Erzähler
Über sein Erbe macht sich auch Earl Hamner immer wieder Gedanken. Im März 2016 stirbt er im Alter von 92 Jahren in Los Angeles. Sein Sohn wird wie er Drehbuchautor. Viele andere Filmemacherinnen und Filmemacher folgen Hamners Vorbild.
20 ZU Kevin Burke (42.50) His work had an impact on me..
OVm1
Seine Arbeit hatte Einfluss auf mich. Und als ich ihm das gesagt habe, hat er sich gefreut.
Erzähler
Erinnert sich der Professor für Medienproduktion und renommierte Dokumentarfilmer Kevin Burke an ein Treffen mit Earl Hamner. Gleich im Anschluss an die Abschlussfeier an der Universität Cincinnati 2008. Als ehemaliger Student war Hamner dort Ehrengast und Redner.
21 ZU Kevin Burke (42.50) I think he really ..
OVm1
Ich glaube, er hat unser Buffet genossen und gerne mit den Studierenden gesprochen. Die mochten ihn alle und ich denke, das gefiel ihm. Er wollte ihnen erklären, was er weiß übers Geschichtenerzählen und welche Art von Geschichten man wie erzählen kann. Und dass man von seinen eigenen Erfahrungen zehrt, um Geschichten zu erzählen.
MUSIK The Waltons CD947590 211 0.17 Min.
Erzählerin
So wie er selber seine Erfahrungen eingebracht hat in seine bekannteste Geschichte bis heute.
Erzähler
Die Waltons.
Erzählerin
Earl Hamner –
Erzähler
Alias John Boy Walton.
22 ZU Good night, Mary Ellen. Good night, Mama. Good night, John Boy. Good night, everybody.
ENDE
Wer es im Mittelalter in die Stadt schaffte, ließ die Leibeigenschaft des bäuerlichen Daseins zurück. Die Entwicklung der mitteleuropäischen Städte bedeutete eine massive Veränderung. Autorin: Renate Eichmeier (BR 2016)
Credits
Autorin dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen:Rahel Comtesse, Detlef Kügow
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Dr. Friedrich Lenger, Dr. Jörg Schwarz
Literaturtipps:
Jörg Schwarz: Stadtluft macht frei. Leben in der mittelalterlichen Stadt. Darmstadt 2008.
Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850. München 2013.
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ERZÄHLER:
Es war um 1200 im norddeutschen Tiefland an der Senke zwischen dem Teltower und dem Barnimer Hügelland. Da reisten von Ferne Handelskaufleute an, die sich inmitten von Sümpfen und Wäldern niederließen. Auf den trockenen Sandflächen beiderseits des Flusses Spree gründeten sie zwei Kaufmannssiedlungen. Eine davon war Berlin, die andere Cölln. Die Siedler versprachen sich von der zentralen Lage einen prosperierenden Handel - und ihre Rechnung ging auf. Die Markgrafen von Brandenburg verliehen den beiden aufstrebenden Marktplätzen das Stadtrecht: Die Berliner und die Cöllner bekamen damit das Recht, Zölle zu erheben und durchreisende Händler zu verpflichten, ihre Waren auf den lokalen Märkten anzubieten, und sie bekamen auch das Recht auf Besitz und auf Selbstverwaltung ihrer Siedlungen - bürgerliche Freiheiten, die für die feudale Gesellschaft des Mittelalters revolutionär waren und für einen regelrechten Wirtschaftsboom sorgten: Es wurde investiert, gebaut, gehandelt.
Musik aus
Innerhalb weniger Jahrzehnte stiegen die kleinen Siedlungen zu bedeutenden Handelsplätzen auf. Die Bürger kamen zu Wohlstand, planten den Ausbau ihrer Städte und legten neue Siedlungsgebiete an. Ansehnliche Bürgerhäuser prägten das Stadtbild, die Nikolai- und die Marienkirche und die Stadtmauer wurden gebaut und auch Rathäuser mit großen Markthallen, in denen Tuche aus Flandern gehandelt wurden, Heringe aus der Ostsee, Salz aus Halle …
ERZÄHLERIN:
In solchen und ähnlichen Verläufen liegt der Ursprung unserer mitteleuropäischer Städte und Metropolen. Gemeint sind damit nicht nur die pittoresken Altstadtviertel, die im Mittelalter gegründet wurden und die vielerorts zum Flanieren einladen.
Gemeint ist damit auch das urbane Leben, das sich ab dem 12. Jahrhundert in Mitteleuropa entwickelte:
MUSIK Opening
mit florierenden Marktplätzen, beruflicher und gesellschaftlicher Vielfalt und den emanzipatorischen Bestrebungen ihrer Bewohner. Im 11. und 12. Jahrhundert soll sich die Zahl der Städte in Mitteleuropa verzehnfacht haben. Die von den Römern gegründeten Städte waren ab dem 4. Jahrhundert verfallen. Erst Jahrhunderte später kam das urbane Leben in Mitteleuropa wieder in Schwung, als landwirtschaftliche Neuerungen wie die Dreifelderwirtschaft für einen Überschuss an Lebensmitteln und damit für ein rapides Bevölkerungswachstum sorgten.
ERZÄHLER:
Trier, Köln, Mainz, Regensburg, Augsburg …
ERZÄHLERIN:
Die alten römischen Städte erwachten zu neuem Leben. Und neue Städte wurden gegründet:
ERZÄHLER:
Freiburg im Breisgau, Leipzig, Lübeck, Berlin und Cölln …
ERZÄHLERIN:
In den Städten wurde gehandelt, gebaut, gezimmert, gegerbt, gebacken ... Die wachsende Bevölkerung musste versorgt, neuen Bedürfnissen Genüge getan werden. Neue Berufe entstanden. Neue gesellschaftliche Schichten etablierten sich.
Musik aus
Urbanes Leben entwickelte sich, dynamisch und vielfältig, so der Münchner Historiker Jörg Schwarz.
O-TON 1 Schwarz 26'':
Dieses urbane Leben bildet sich im Laufe des Mittelalters, also doch eines sehr langen Zeitraumes aus, peu à peu. Es ist sicher am Anfang noch nicht so sehr spezialisiert und in sich differenziert und wird dann aber immer mit der wachsenden Bevölkerungszahl, mit der Notwendigkeit auch zu Individualisierung, Spezialisierung differenzierter. Immer mehr Handwerkszweige bilden sich aus, werden professioneller.
MUSIK Glasperlenspiel
ERZÄHLER:
Bäcker, Knochenhauer, Müller, Schlachter, Baumeister, Zimmermann, Steinmetz, Gerber …
ERZÄHLERIN:
Handwerker und Händler waren die vorherrschenden Berufsgruppen. Die städtische Oberschicht entstand aus reichen Handelsfamilien und ehemaligen Ministerialen, die als Verwaltungsbeamte adeligen oder geistlichen Stadtherren gedient hatten. Sie war streng hierarchisch gegliedert, die feudale Gesellschaft des Mittelalters.
Musik aus
An oberster Stelle stand der König als Stellvertreter Gottes, dann kamen Adel und Klerus. Die Bauern rangierten an unterster Stelle. Viele hatten den Status von Leibeigenen. Sie mussten Abgaben zahlen, Frondienste - heute würde man sagen: Zwangsarbeit – leisten, waren der Verfügungsgewalt ihrer adeligen oder geistlichen Grundherren weitgehend rechtlos ausgeliefert bis hin zur Bestimmung von persönlichen Belangen wie Aufenthaltsort und Heirat. Auch die Stadtbewohner unterstanden anfangs ihren adeligen oder geistlichen Stadtherren, denen der Grund gehörte, auf dem sich die Stadt befand. Doch die Beziehung zwischen den Bewohnern der Stadt und ihren Stadtherren war offen und dynamisch.
Je mehr Handel und Wirtschaft florierten, desto größer wurde das Selbstbewusstsein der Stadtbewohner, desto fordernder ihre emanzipatorischen Bestrebungen und ihr Griff nach mehr Selbstbestimmung
MUSIK II. Goldrausch
ERZÄHLER:
Hohe Türme, mächtige Stadtmauern, einladende Tore: Schon von weitem konnten die Reisenden auf den holprigen Wegen und die geknechteten Bauern auf den Feldern den Ort ihrer Sehnsucht sehen, in der ein anderes freieres Leben lockte wie ein glänzender Schatz … Stolz und machtvoll standen die mittelalterlichen Städte in der Landschaft, stolz und mächtig auch grenzten sie sich vom bäuerlichen Umfeld ab, in dem Hörigkeit und Leibeigenschaft herrschten.
Musik aus
O-TON 2 Schwarz 30'':
Wenn wir ausgehen von Berichten, Beschreibungen des späten Mittelalters müssen das blühende Metropolen gewesen sein. Das müssen Städte aus Gold gewesen sein, die ganz emphatisch beschrieben worden sind. Aber wenn man genauer hinschaut, muss man nüchtern konstatieren: ein magischer Ort sah anders aus. Es war oftmals sehr sehr eng. Es war schmutzig. Die Leute haben den Unrat, den Müll auf die Straße geworfen. Es gab ständig Brände, große Gefährdung des Lebens.
MUSIK Zentrifuge C1151260 Z00
ERZÄHLERIN:
Die eng aneinander stehenden Häuser waren aus Holz und Lehm, die Dächer meist mit Holzschindeln oder sogar nur mit Stroh bedeckt. Brände breiteten sich rasend schnell aus. Bei allen Vorteilen des Stadtlebens waren die Städte auch gefährlich und sie stanken. Die Straßen und Gassen waren nicht gepflastert, sie waren dreckig und bedeckt mit Müll und Fäkalien.
Musik aus
O-TON 3 Schwarz 15'':
Trotzdem: Die Stadt muss etwas unglaublich Faszinierendes, etwas unglaublich Anziehendes auf die Menschen ausgeübt haben. Die Städte wuchsen, wuchsen immer mehr, immer mehr Menschen haben in Städten gewohnt. Städte wurden zu politischen Faktoren auf der Landkarte Europas.
MUSIK Organic
ERZÄHLER:
Berlin, Lübeck, Hamburg, Köln …
ERZÄHLERIN:
Der wirtschaftliche Erfolg gab den Kaufleuten Rückenwind. Im urbanen Milieu formierte sich Widerstand gegen die feudalen Stadtherren. Die Idee der politischen Selbstbestimmung machte Furore. Das urbane Leben erwies sich als Motor für gesellschaftliche Veränderungen. Die städtische Oberschicht forderte politische Autonomie und bürgerliche Rechte. Nicht selten mündete die Konfrontation mit den feudalen Stadtherren in gewalttätige Auseinandersetzungen.
ERZÄHLER:
Die größte deutsche Stadt des Mittelalters probte bereits Ende des 11. Jahrhunderts den Aufstand. Es war Köln, schon damals eine europäische Handelsmetropole, in der Kaufleute aus nah und fern zusammentrafen. Erzbischof Anno, der Stadtherr, war rücksichtlos, forderte hohe Steuern, und sah es als sein Recht an, über den Besitz seiner Untertanen zu verfügen. In den Kölner Kaufmannsfamilien machte sich Unzufriedenheit breit. Als er ein Handelsschiff für private Zwecke beschlagnahmen ließ, setzte sich der Eigentümer aufgebracht zur Wehr. Der Funke sprang über und entfachte einen wütenden Aufruhr in den Kölner Gassen. Anno konnte fliehen, kehrte jedoch nach einigen Tagen mit bewaffneter Unterstützung zurück.
Die Aufständischen ergaben sich angesichts der militärischen Übermacht und die Rädelsführer wurden brutal bestraft.
ERZÄHLERIN:
In den Städten gärte es. Die einflussreichen Kaufmannsleute forderten politische Selbstbestimmung und persönliche Freiheiten wie etwa freies Besitz- und Erbrecht – und setzten sich peu à peu durch.
Musik aus
In zunehmendem Maße übernahmen die Bürger die Kontrolle über ihre Städte. Ratsverfassungen und politische Gremien wie die Stadträte etablierten sich. Mondäne Rathäuser und imposante Kaufhallen zeugten von der neuen Macht des städtischen Bürgertums und lockten immer mehr Menschen in die Städte. „Stadtluft macht frei“. Wer es im Mittelalter in die Stadt schaffte, ließ Leibeigenschaft und Hörigkeit des bäuerlichen Daseins hinter sich, was bedeutete: er konnte nach einem Jahr in der Regel von seinem Grundherrn nicht mehr zurückgefordert werden.
O-TON 4 Schwarz 12'':
Es gab also die Möglichkeiten aus der Unfreiheit einer Grundherrschaft in eine Freiheit oder in eine freiere Form der Städte zu kommen bei vielfältigsten Differenzierungen.
MUSIK Organic
ERZÄHLERIN: Andrerseits aber:
O-TON 5 Schwarz 18‘‘:
Oftmals unterschieden sich die Lebensformen am Anfang gar nicht so stark voneinander. Und wenn man den Plan hatte von einer Grundherrschaft wegzugehen und in die "Freiheit der Stadt" zu kommen, rieb man sich oftmals vor Verwunderung nur die Augen, dass man von einer Unfreiheit in die andere gewechselt ist.
ERZÄHLERIN:
Denn nicht jeder Stadtbewohner war auch Bürger. Das Bürgerrecht war eine exklusive Errungenschaft. Es wurde ererbt oder konnte gekauft werden.
Musik aus
ERZÄHLER:
((In Köln etwa gab es im 13. Jahrhundert 15 Patrizierfamilien, die sich in Lebensführung und Selbstinszenierung stark am Adel orientierten. Sie bestimmten die Geschicke der Stadt und ihrer Bewohner. Ähnlich war es in den anderen Städten.))
Reiche Kaufmannsdynastien und ehemalige Ministeriale stellten die städtische Führungsschicht, in die zunehmend auch die Handwerker und ihre Zünfte drängten. Hierarchisch an unterster Stelle standen die Dienstboten, Knechte und Mägde, die keinerlei Besitz und auch kaum Aussicht auf die Erlangung der bürgerlichen Rechte hatten. Doch im Gegensatz zu dem starren Ständesystem, das die mittelalterliche Welt ansonsten ordnete in Klerus, Adel und Bürger, sorgten die sozialen Verwerfungen in der Stadt für Reibung und Dynamik.
O-TON 6 Schwarz 28'':
Die Stadt des Mittelalters konnte sehr durchlässig sein. Es waren große Möglichkeiten da des sozialen Aufstiegs, ganz ganz bedeutsame Möglichkeiten, da gib es auch viele faszinierende Einzelfälle, aber natürlich auch des sozialen Abstiegs.
MUSIK Organic
ERZÄHLERIN:
Beispiele für die soziale Dynamik gibt Jörg Schwarz in seinem Buch „Stadtluft macht frei“.
ERZÄHLER:
Er beschreibt, wie Mitte des 14. Jahrhunderts bewaffnete Augsburger vor das Rathaus zogen und angeführt von einer Gruppe Handwerker das Ende der
Vorherrschaft der Kaufmannsleute forderten und damit Erfolg hatten. Künftig sollten auch die Handwerkszünfte im Stadtrat vertreten sein. Um 1370 rebellierten die Kölner Weber, 1397 die Münchner Zünfte …
ERZÄHLERIN:
Und und und. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzten. Mal hatten die Zünfte mehr, mal weniger Erfolg. In einigen Städten bekamen sie sehr großen Einfluss, in anderen wurden sie verboten. Das städtische Bürgertum hatte seine Integrationsfähigkeit bewiesen. Die Städte hatten sich als dynamische Orte etabliert, spannungsreich und entwicklungsfähig, mit großem Potential sowohl für Konflikte als auch für gesellschaftlichen Wandel - was bei aller Faszination auch Unbehagen auslöste.
Musik aus
O-TON 7 Schwarz 1'20'':
Im 11. Jahrhundert gibt es einen Bericht des Mönchs Lampert von Hersfeld, der die Stadt Köln regelrecht verwünscht hat, als einen verfluchten Ort bezeichnet hat, als einen unguten Ort bezeichnet hat, weil von Köln eben ein Aufstand der Kölner Bürger gegen den Erzbischof Anno ausging. Und das setzt sich fort. Es gibt im Jahrhundert darauf, im 12. Jahrhundert, einen völlig faszinierenden Bericht eines englischen Mönchs aus Manchester über die Stadt London, in dem die Stadt London regelrecht fertiggemacht wird, bezeichnet wird als ein Ort, in dem Menschen aus allen Herren Länder zusammenleben. ((Also das, was uns heute an der Stadt so fasziniert, dieser - wie wir so schön sagen - urbane Charakter, das Kosmopolitische, das wurde als etwas Ungutes gesehen. Also die Stadtkritik,)) aber natürlich auch die Faszination durch Städte - also das hat es in dieser Form natürlich im Mittelalter auch schon gegeben: „Stadtluft macht frei“, aber es gibt auch den Gegensatz „Stadtluft stinkt auch“ und „Stadtluft macht ein bleiches Gesicht“. Die Stadt als ein unguter Ort und die absolute Zuspitzung dessen haben Sie in einem Roman des 20. Jahrhunderts: Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Da wird die Stadt regelrecht bezeichnet als große Hure Babylon.
MUSIKAKZENT Großstadt-Song
MUSIK Architektur ist Geiselnahme
ERZÄHLERIN:
Berlin, Wien, Paris, London: die Metropolen des 19. Jahrhunderts, des 20. Jahrhunderts, Hure Babylon, Moloch Großstadt, Turmbau zu Babel, die Stadt als Maschine, aber auch als Laboratorium der Moderne, als dynamisches Zentrum für Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft. Die Städte des Mittelalters und die Metropolen der Moderne gleichen sich in ihren Phänomenen
Musik aus
– eine heterogene Bevölkerung, eine dynamische gesellschaftliche Entwicklung, benachteiligte Gruppen, die sich zu emanzipieren versuchen, politische Partizipationsmöglichkeiten. Hatte der zentralistische Staat ab dem 16. Jahrhundert die Autonomie der Städte eingeschränkt, so nahm im 19. Jahrhundert die Urbanisierung in Europa wieder Fahrt auf. Wissenschaftliche und technische Errungenschaften machten es möglich: Die Eisenbahn lieferte Mobilität. Die Industrialisierung ließ die Städte rasend schnell wachsen. Neue Stadtviertel entstanden.
MUSIK Architektur ist Geiselnahme
ERZÄHLER:
Architekturen aus Eisen und Stahl, Weltausstellungen als erste internationale Events, kosmopolitischer Glamour und urbane Modernität: Allen voran wagte Paris eine große städtebauliche Neugestaltung.
Musik aus
O-TON 8 Lenger 21'':
Wenn man vielleicht mit dem Stadtbild beginnt und sehr plakativ einsetzt, dann könnte man sagen, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die breiten Boulevards, die wir noch heute an Paris zumeist schätzen, die engen verwinkelten aus dem Mittelalter überkommenen Gassen allmählich verdrängen.
ERZÄHLERIN:
Der Historiker Friedrich Lenger hat sich in seiner Studie „Metropolen der Moderne“ intensiv mit der Entstehung der modernen Großstädte beschäftigt.
O-TON 9 Lenger 30'':
Man muss aber einschränkend sehen, dass solche Großprojekte der Stadtmodernisierung wie in Paris, aber dann auch in Wien Ausnahmen bleiben, und dieser Prozess der Modernisierung des Stadtbildes andernorts etwas verzögerter und langsamer stattfindet oder nicht wirklich das Stadtzentrum erreicht, weil der Eigentumsschutz dafür sorgt, dass da nicht wahllos abgerissen werden kann, wie das in Paris zum Teil getan worden ist.
ERZÄHLERIN:
Bis dato ungeahnte Massen von Menschen sammelten sich in den Städten. Von 1850 bis 1913 vervielfachten sich die Einwohnerzahlen: in London von 2,3 auf 7,3 Millionen, in Paris von einer auf knapp 5 Millionen, in Wien von 430 Tausend auf 2,1 Millionen, in Berlin von ebenfalls von circa 430 Tausend auf 4 Millionen. Die Verdrei-, Verfünf-, Verzehnfachung der Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte machte eine tiefgreifende Veränderung der städtischen Infrastruktur notwendig.
O-TON 10 LENGER 1':
Da könnte man an das Verkehrswesen denken. Zunächst sind das von Pferden gezogene Busse, später dann die Straßenbahnen, die es überhaupt ermöglichen, dass Städte nicht länger „walking cities“ bleiben, als Orte, wo man alle Punkte der Stadt innerhalb einer starken halben Stunde zu Fuß erreichen kann oder zu mindestens innerhalb einer knappen Stunde, wie das selbst in London, der größten Stadt der Welt um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch der Fall war. Dazu kämen dann Erneuerungen im Bereich der Infrastruktur, was Wasserversorgung, Wasserentsorgung anbelangt. Das klingt heute sehr technisch, war aber damals absolut zentral, um die städtische Hygiene auf ein Niveau zu bringen, dass ein Ende mit dem Umstand hat machen können, dass in den Städten mehr Menschen gestorben sind als geboren wurden, so dass bis dahin Städte eigentlich im Kern auf Zuwanderung als Wachstumsbedingung angewiesen waren.
MUSIK Augen in der Großstadt
ERZÄHLERIN: Berlin um 1900.
ERZÄHLER:
Massen strömten in die Stadt – auf der Suche nach Arbeit, Wohlstand, einem besseren Leben. Und landeten meist doch nur in den überfüllten Mietskasernen und dunklen Hinterhöfen der Arbeiterviertel.
Musik aus
Das Nebeneinander von arm und reich, Einheimischen und Zugezogenen, die Spannung und Dynamik von Austausch und Veränderung lockten auch Künstler und Intellektuelle in die deutsche Hauptstadt. Avantgarde-Bewegungen formierten sich, neue Räume für Auseinandersetzung und Entwicklung eröffneten sich.
O-TON 11 Lenger 20'':
Metropolen, insbesondere aufgrund ihrer politischen Zentralfunktion Hauptstädte, sind immer schon zentrale Orte politischer Auseinandersetzung gewesen und damit meine ich politische Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum, der demonstrativ in Besitz genommen wird
ERZÄHLERIN:
Die Reichsparteitage der Nazis in Nürnberg, Goebbels‘ „Wollt ihr den totalen Krieg“ im Berliner Sportpalast, Kennedys „Ich bin ein Berliner“ vor dem Rathaus Schöneberg: Die Städte boten politischer Propaganda riesige Bühnen ebenso wie politischen Statements - und sie ermöglichten auch politische Partizipation.
O-TON 12 Lenger 37‘‘:
Das intensiviert sich im ausgehenden 19. Jahrhundert ungemein, weil dann erst breitere Bevölkerungsschichten, nicht zuletzt die Arbeiterbewegung, tastend versucht, diesen städtischen Raum in Beschlag zu nehmen. So was wie ein unangefochtenes Demonstrationsrecht gibt es zunächst gar nicht, so dass es kein Zufall ist, dass die ersten Massenversammlungen häufig riesige Begräbniszüge sind, wo Hunderttausende dann der Beerdigung eines Führers der Sozialdemokratie beiwohnen - was de facto dem ganzen ja den Charakter einer Demonstration gibt.
MUSIK Großstadt
ERZÄHLERIN:
Partizipations- und Emanzipationsbewegung sind Ausdruck städtischen Lebens: die Arbeiterbewegung und die Frauenbewegung zu Beginn, die Schwulen- und Lesbenbewegung am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Love Parade haben die
Berliner erfunden, und die Berliner haben mit Klaus Wowereit auch als erste einen bekennenden Schwulen zu ihrem Bürgermeister gewählt.
Musik aus
Nur wenige Jahre später ist das kleine bayerische Dorf Bodenmais dem Berliner Vorbild gefolgt.
O-TON 13 Lenger 1'11'':
Auf der einen Seite lösen sich die Differenzen zwischen Stadt und Land auf und wir sprechen vielleicht trotzdem noch davon, dass wir in einer städtischen Gesellschaft leben. Ich glaube, man kann das zusammenbringen, wenn man diesen Auflösungsprozess von Unterschied zwischen Stadt und Land eben als Urbanisierung des Landes begreift und damit würde man meinen, dass viele Dinge, die früher genuin städtisch gewesen sind, heute auf dem Land auch anzutreffen sind.
O-TON 14 Lenger 23'':
Dazu würde ich auf jeden Fall das Ausmaß an Heterogenität in kultureller, sozialer und ethnischer Hinsicht zählen und damit einhergehend in gelungenem Fall auch ein höheres Maß an Bereitschaft sich auf Differenz entlang dieser Dimensionen einzulassen, also Verschiedenheit zu akzeptieren.
MUSIKAKZENT Großstadt
MUSIK Beste Freunde
ERZÄHLERIN:
Die Fähigkeit, sich auf soziale Vielfalt ein- und emanzipatorische Bestrebungen zuzulassen, hatte die mittelalterlichen Städte erfolgreich gemacht und die Metropolen der Moderne als Zentren politischen und gesellschaftlichen Wandels
etabliert.
Selbst zwei Weltkriege, zerstörte Städte, unzählige Todesopfer, eilige und eiligste Wiederaufbaumaßnahmen – das alles konnte die Entwicklung der Städte nicht aufhalten.
Musik aus
MUSIK Großstadt
Auch in Zukunft wird unsere Gesellschaft von der Bereitschaft ihrer Mitglieder abhängig sein, kulturelle, soziale und ethnische Heterogenität zu akzeptieren und Spannungen als Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen.
Musik aus
Wir leben scheinbar nur im Jetzt, vergessen die lange Geschichte und ihre Bedeutung für die Zukunft. Wie können wir aus der Geschichte der Menschheit wirklich lernen, um die Zukunft der Erde zu sichern oder lebenswerter zu machen? (BR 2018) Autor: Geseko von Lüpke
Credits
Autor dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Ruth Geiersberger, Frank Manhold, Hemma Michel
Technik: Christiane Voitz
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Jakob von Uexküll (Gründer des Welt-Zukunftsrates);
Joanna Macy (amerikanische Öko-Philosophin und Zeitforscherin);
Fritz Reheis (Zeitforscher);
Matthew Fox (amerikanischer Schöpfungstheologe);
Harald Lesch (Kosmologe, Astrophysiker);
Rosalie Bertell (US-Radiologin, Trägerin des alternativen Nobelpreises);
Roland Posner (Zeichenwissenschaftler, Berliner);
Hans-Peter Dürr (Quantenphysiker, Ehrenbürger der Stadt München, Träger des alternativen Nobelpreises);
Charles Eisenstein (amerikanischer Philosoph und Kulturforscher)
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Wir machen Pläne, sorgen für morgen und erinnern uns an das, was einmal war. Wir leben nicht nur in der Zeit, sie bestimmt unser ganzes Wesen. Aber wenn wir fragen, was das eigentlich ist, die Zeit, dann fällt uns die Antwort schwer. (BR 2012) Autorin: Irene Schuck
Credits
Autor/in dieser Folge: Irene Schuck
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Gert Heidenreich, Katja Bürkle
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
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Wenn Beziehungswunden nicht heilen, können sie unser ganzes Leben verdunkeln. Die Verwundungen des Lebens holen uns immer wieder ein. Ein Plädoyer für echte Vergebung. (BR 2015) Autorin: Elke Worg
Credits
Autor/in dieser Folge: Elke Worg
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Anna Greiter, Peter Veit
Technik: Siglinde Hermann
Redaktion: Bernhard Kastner
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Eine besondere Empfehlung der Redaktion:
EINE GUTE ENTSCHULDIGUNG | Wie ihr richtig um Verzeihung bittet
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Ihr habt etwas verbockt und eine Entschuldigung ist angebracht? Wir haben Beispiele und Tipps, wie ihr euch richtig entschuldigt und um Verzeihung bittet - und wann ihr auch selbst Fehler verzeihen solltet.
ZUM ARTIKEL
Literaturtipps:
Brachtendorf Johannes/Herzberg Stephan: Vergebung. Philosophische Perspektiven auf ein Problemfeld der Ethik, mentis Verlag, Münster.
Wardetzki, Bärbel: Nimm’s bitte nicht persönlich. Der gelassene Umgang mit Kränkungen, Kösel, München.
Wolfers, Melanie: Die Kraft der Vergebung. Wir wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden, Herder, Freiburg.
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Sie fressen sich eine dicke Fettschicht an, bekommen ein dichtes Fell, verfärben sich weiß wie der Schnee, ändern ihren Speiseplan, verschlafen Schnee und Eis - oder hauen einfach ab in den Süden. Die Anpassungsmechanismen der Tiere an die kalte Jahreszeit sind so vielfältig wie überraschend. Und viele ihrer Überlebenstricks sind auch für die moderne Forschung hochinteressant. Bernhard Kastner im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke. (BR 2021)
Credits
Autor dieser Folge: Bernhard Kastner
Es sprachen: Bernhard Kastner im Gespräch mit Dr. Thassilo Franke
Redaktion: Iska Schreglmann
Linktipp:
Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Thassilo Franke
Der Maulwurf schrumpft sein Schädel und sein Gehirn im Winter ein,
Thassilo Franke
Der Tannenhäher kann bis zu 30.000 Depots anlegen.
Thassilo Franke
Die Bartmeise hat ihren zarten Insektenfressermagen in eine Getreidemühle umgebaut.
Sprecherin
‚Alles Natur – Überwintern‘ - Bernhard Kastner im Gespräch mit dem Biologen Tassilo Franke
Bernhard Kastner
Doktor Tassilo Franke vom Biotopia Naturkundemuseum in München und ich, wir sitzen gerade im warmen Studio, also 19 Grad warmen Studio, um über den Winter zu sprechen. Der lässt zwar gerade noch etwas auf sich warten, aber dennoch verändert sich die Natur gerade sichtbar gewaltig. Und mit diesen Veränderungen müssen Tiere und Pflanzen jetzt erstmal zurechtkommen.
Thassilo Franke
Ja, also sie geben schon das Stichwort vor: die Pflanzen. Da wird es ja auch ganz offensichtlich der goldene Oktober, die Bäume lassen ihre Blätter fallen. Jetzt im November hängt kaum noch ein Blatt an den Bäumen. Und das ist ein ganz wichtiger Aspekt, denn es wird kälter, ungemütlicher. Die Tage werden kürzer, es wird dunkler. Aber es ist vor allem auch Nahrungsmangel, der jetzt sehr viele Tiere trifft. Denn Pflanzen sind ja die Basis der Nahrungspyramide, auf die entweder direkt oder indirekt hier alle anderen Tiere angewiesen sind. Und wenn die Pflanzen sich schon im Winter zum Schlafen gelegt haben, dann müssen die Tiere entweder abhauen, das machen die ganzen Zugvögel, oder sie müssen es den Pflanzen gleichtun. Das machen die Winterschläfer, die ihren Stoffwechsel runterfahren. Oder eine andere Variante ist noch, dass sie im Winter dableiben und einfach ihre Lebensgewohnheiten komplett umstellen und sich den widrigen Bedingungen anpassen.
Bernhard Kastner
Sie haben jetzt gerade die Zugvögel erwähnt. Das sind ja in der Regel auch Singvögel, über die wir hier auch schon mal eine Folge hatten bei Alles Natur. Dieses Phänomen ist ja bekannt. Die Vögel meiden die kalten Gefilde, fliegen ihren Nahrungsquellen hinterher, also Insekten oder Pflanzen, und verlassen unser Land, ihre Heimat, und kommen dann im Frühjahr zurück. Es gibt aber auch Singvögel, die sich anpassen und bleiben.
Thassilo Franke
Ja, es gibt eine ganze Reihe von Vögeln, die natürlich im Winter hierbleiben. Das sind die sogenannten Standvögel. Und diese haben es natürlich ganz große Herausforderungen zu meistern. Sie müssen zum Beispiel ihren Ernährungsplan komplett umstellen und eben auf die widrigen Bedingungen im Winter anpassen. Und ein Weltmeister des Anpassens ist ein bei uns eigentlich sehr seltener Vogel, die Bartmeise. Das ist ein Vogel, der nur in Röhricht Beständen, also in großen Schilfbeständen, vorkommt, wie man sie an den großen Seen zum Beispiel findet, am Bodensee oder auch am Neusiedlersee in Österreich und Ungarn. Und dieser Vogel hat eine ganz erstaunliche Anpassungsfähigkeit. Und zwar in so einem Röhricht hat man ja im Sommer vielfältigste Insekten. Die ganzen Wasserinsekten zum Beispiel die schlüpfen, die Mücken, die Zuckmücken, die dort herumschwärmen, das heißt die Bartmeise ernährt sich die ganze Vegetationsperiode, die ganze wärmere Jahreszeit, eigentlich ausschließlich von Insekten, also von tierischer Kost. Und jetzt kommt der Winter, und dann ist in so einem Röhricht natürlich, was Insekten betrifft, eigentlich nichts mehr los. Das heißt jetzt hat die Bartmeise ein großes Problem, also entweder zieht sie nach Süden den Insekten hinterher, oder sie bleibt da. Und bei der Bartmeise ist es so die bleibt im Winter da. Die Bartmeise ist ein Standvogel, und Sie ändert ihr Verhalten extrem. Das heißt, man sieht plötzlich Bartmeisen, die das Röhricht verlassen und an Stellen, wo kleine Steinchen rumliegen, anfangen ganz viele Steinchen aufzupicken und füllen ihren Muskelmagen mit bis zu 600 kleinen Steinchen, die alle ungefähr die gleiche Größe haben. Gleichzeitig verdickt sich auch die Magenwand, die Muskulatur im Magen wird stärker, dann die Innenauskleidung des Magens, wird verhornt, richtig hart. Und was geschehen ist, die Bartmeise hat ihren zarten Insektenfressermagen in eine Getreidemühle umgebaut, wirklich eine Mühle. Und ab jetzt ernährt sie sich nämlich so gut wie ausschließlich von den steinharten Samen des Schilfs selbst. Und sie frisst also die Schilfsamen und zermörsert die in ihrem Muskelmagen und kann auf die Art und Weise die Energie aus dem Schilfsamen nutzen, um die Winter zu überleben. Im nächsten Frühjahr, wenn die Insekten dann wieder verfügbar sind und auftauchen, dann baut sich der Magen wieder um. Der Vogel, man weiß gar nicht genau, wie er es macht, also entweder würgt er die Steine aus seiner Getreidemühle wieder aus, oder scheidet die über den Kot aus. Das hat man noch nicht erforscht. Zumindest hat man festgestellt, dass im Sommer nur noch ganz wenige Steinchen im Magen übrigbleiben, um eben die harten Chininteile der Insekten zu zermahlen. Aber man hat hier also eine unglaubliche Anpassungsfähigkeit eines kleinen, ganz besonderen Vogels. Es gibt aber auch ganz große Vögel, nämlich genau genommen unser größter Waldvogel überhaupt, den wir haben. Das ist der Auerhahn. Und der Auerhahn ist auch ein Spezialist, der sich im Winter komplett umbaut. Und zwar betrifft es auch den Verdauungstrakt. Der Auerhahn hat ja, wie viele überwiegend sich von pflanzlicher Kost ernährende Vögel sehr große Blinddarmsäcke. Das sind paarige Säcke im Verdauungstrakt, oder Schläuche muss man fast sagen, die im Winter enorm wachsen. Weil nämlich der Auerhahn sich im Sommer überwiegend von frischen, saftigen Blättern und Trieben ernährt und auch von Früchten und auch ein bisschen Insekten und tierische Kost zu sich nimmt und im Winter seine Ernährung komplett auf Nadelbaumnadeln umstellt. Er frisst gerade im Gebirge fast ausschließlich Fichtennadeln, die sind derb, die sind reich an Tanninen, die sind sehr schwer zu verdauen. Und da braucht er eben dann diese großen Blinddarmsäcke, in denen ein ganz eigenes Mikrobiom sich auch entwickelt, was im Stande ist, diese schwer verdauliche Kost im Winter abzubauen und die Energie dem Auerhahn verfügbar zu machen. Aber die Veränderungen beim Auerhahn, die beschränken sich nicht nur auf den Verdauungstrakt, sondern auch auf die Füße. Die Füße spielen eine ganz besondere Rolle, weil nämlich die der Gruppe der Hühnervögel, zu dem der Auerhahn gehört, auch ihren Namen gegeben haben, nämlich die Raufußhühner. Und die Füße sind im Winter anders als im Sommer. Die sind rauer, das bezieht sich auf die Zehen, weil nämlich links und rechts an den Seiten der Zehen wachsen ihnen im Winter, bei der Winter Mauser, lange Stifte heraus, also so stiftförmige Gebilde, die Zehen sehen aus, als wären sie seitlich mit Kämmen versehen. Und auf diese Art und Weise vergrößert sich die Oberfläche der Auftrittsfläche und der Auerhahnfuß wandelt sich kurzerhand in einen Schneeschuh um.
Bernhard Kastner
Unglaublich also, daß finde ich faszinierend. Gibt es denn da auch das Gegenteil, also Vögel, ich sage es jetzt mal ganz salopp, die den Winter cool finden und gern bei uns bleiben.
Thassilo Franke
Ja, die gibt es auch bei den Vögeln. Es ist ja meistens gar nicht so sehr die niedrige Temperatur oder die Dunkelheit, die ihnen zu schaffen macht. Vögel sind Warmblüter, so wie wir auch. Bei denen ist es hauptsächlich die Verfügbarkeit von Nahrung. Es gibt also für die meisten Vogelarten im Winter kaum was zu fressen. Anders verhält es sich aber bei einer Vogelart, nämlich dem Fichtenkreuzschnabel, der sich fast ausschließlich von den Sämereien von Nadelbäumen ernährt. Und diese Samen der Fichte, die bilden auch ein Hauptteil des Futters, was er an seine Jungen verfüttert. Und deswegen ist der Fichtenkreuzschnabel einer der wenigen Vögel, die bei uns auch mitten im Winter brüten. Es hängt immer ganz davon ab, wie die Zapfen, also die Verfügbarkeit von Fichtenzapfen aussieht, Fichtenzapfen, die reifen ja sehr spät im Jahr, also erst im Spätsommer, Frühherbst, und entlassen ihre Samen immer nur bei günstiger Witterung, wenn die Zapfen Schuppen aufgehen und die Samen rausfallen können. Und da ist es so, dass viele Zapfen dann häufig mitten im Winter aber noch nicht entleert sind, noch viele Samen enthalten, vor allem in den Hochlagen. Und dann ist die Zeit gekommen, dass der Fichtenkreuzschnabel sein Nest baut und seine Jungen, seine Eier legt. Und wenn die Jungen dann schlüpfen, es ist wirklich so massiv, dass die teilweise auch richtig mitten im Schnee diese kleinen, nackten Jungvögel haben, die Küken und die Nestlinge. Und wenn die Eltern dann auf Futtersuche sind, dann gehen die in einen Ruhezustand über, also in ein Torpor, eine Art Kältestarre. Und wenn dann der Altvogel mit Fichtensamen gefülltem Kropf zum Nest zurückkommt, dann muss er seine Jungen erst mal wieder auf Betriebstemperatur bringen. Er rudert die dann an, und es dauert nicht lange, und dann kann er die mit den Fichtennadeln füttern. Es gibt aber auch einen anderen Winterfreund unter unseren heimischen Vögeln, wobei wenn man heimisch sagt, muss man vorsichtig sein, weil der Vogel war ja ausgerottet. Die Rede ist vom Bartgeier. Sie kennen sicher noch diese Diskussion über den Bartgeier Wally. Es ist einer von diesen im Nationalpark Berchtesgaden ausgesetzten Bartgeiern, der leider nicht überlebt hat. Aber beim Bartgeier ist es so, dass er auch mitten im Winter anfängt zu brüten. Und zwar legt er schon Ende Dezember, Anfang Januar schon seine beiden Eier ins Nest. Er stellt es genauso ein, dass die Jungen dann so ungefähr im März aus den Eiern schlüpfen, also ganz früh im Jahr schon. Das ist die Periode der Schneeschmelze in den Bergen. Und wenn der Schnee schmilzt, dann kommen die ganzen Leichen zum Vorschein von abgestürzten Gämsen, Steinböcken, alles, was den Winter in den Bergen nicht überlebt hat. Da ist der Tisch für den Bartgeier besonders reich gedeckt. Und dann ist eben auch die Verfügbarkeit der Nahrung optimal, ähnlich wie beim Fichtenkreuzschnabel, und der Bartgeier hat beste Voraussetzungen, um seine Brut durchzubringen.
Bernhard Kastner
Also bei all dem, was sie da erzählen, ich sehe schon, ich wäre eher so der Ab-in-den-Süden Zugvogel, aber da ist ja bekanntlich jeder anders. Jetzt haben aber nicht alle Tiere die Möglichkeit, wie ein Vogel abzuhauen. Die größeren Tiere zum Beispiel, die Amphibien, oder die Wildtiere wie die Rehe oder die Hirsche, die müssen ja hierbleiben.
Thassilo Franke
Ja, da gibt es eine unglaubliche Vielzahl von Überwinterungstricks die diese Tiere beherrschen. Einer dieser Tricks ist zum Beispiel auch weit bekannt, dass ist die Veränderungen der Fellfarbe, es gibt also viele Tiere, wie zum Beispiel das Schneehuhn, oder auch bei den Säugetieren, den Schneehasen oder der Hermelin oder das Mauswiesel in unseren Breiten, die im Sommer eine braune Fellfarbe haben und die einen Fellwechsel durchmachen. Und dann ist das Winterfell oder das Wintergefieder weiß, was ja auch Sinn macht, wenn wir eine geschlossene Schneedecke haben, weil natürlich so ein weißer Hase oder ein weißes Schneehuhn weniger auffällig ist und von seinen Feinden nicht gesehen werden kann. Oder wie bei zum Beispiel beim Hermelin, der auch von seiner Beute nicht so leicht erkannt wird wenn er dort im Schnee sitzt. Jetzt ist es aber so, dass durch den Klimawandel natürlich eine geschlossene Schneedecke in weiten Gebieten eben eher eine Seltenheit darstellt. Und das wird zu einem großen Problem für diese Tiere, weil sie nämlich dann plötzlich mit ihrem weißen Fell eigentlich richtig wie so ein Signal herausleuchten aus dieser braunen, verwelkten Grasdecke und von Beutegreifer leicht entdeckt werden können. Und das ist wirklich ein Problem, da gibt es auch eine Studie dazu. Und es gibt Gebiete wie zum Beispiel in Irland, wo der Schneehase zwei Morphen hat, man nennt es polymorph, es gibt Schneehasen, die im Winter weiß werden, und im gleichen Gebiet kommen Schneehasen vor, die im Winter braun bleiben. Da wurde entschieden, dass solche Gebiete, wo man beide Formen hat, besonders schützenswert sind, weil von diesen Gebieten sich eine Population entwickeln kann von Tieren, die anpassungsfähig ist. Das heißt wenn es dann wirklich keinen Schnee mehr gibt, in Irland zum Beispiel, dann kann der Braune, die braune Form des Schneehasen, einfach dominant werden. Und die Population bleibt erhalten. Oder wenn es, was sehr unwahrscheinlich ist, kälter werden sollte, würde dann eben die weiße Form dominant werden und erhalten bleiben. Solche Mischpopulationen gibt es relativ wenige. Da ist der Appell der, dass man genau die Gebiete, in denen diese Mischpopulationen vorkommen, besonders schützen muss.
Bernhard Kastner
Dann würden sich quasi diese Tiere dem Klimawandel anpassen und würden quasi wieder zu ihrer natürlichen, braunen oder wie auch immer gefärbten Fellformen zurückkehren.
Thassilo Franke
Ja, genau so ist es.
Bernhard Kastner
Also dieses Phänomen mit dem Fellwechsel, dass kennt jeder, der auch ein Haustier besitzt, wie zum Beispiel einen Hund oder eine Katze. Die verändern zwar nicht die Farbe, aber die bekommen ja auch, wenn der Herbst beginnt, verlieren sie ihr Sommerfell, bekommen ein Winterfell, bekommen mehr Unterwolle. Dann finden wir noch mehr Haare in der Wohnung zur Freude Aller. Aber diese Tiere, die müssen sich jetzt wärmen für den Winter. Die müssen sich nicht von der Ernährung groß umstellen, dafür ist der Mensch zuständig. Was machen denn die großen Säugetiere wie zum Beispiel das Reh? Die kriegen zwar auch bestimmt ein dickeres Fell, aber wie gehen die mit der Ernährung um?
Thassilo Franke
Ja, genau für die großen Wildtiere bedeutet es natürlich auch, dass sie einen Fellwechsel durchmachen müssen, weil sie ja auch eine bessere Isolierung brauchen, wenn es draußen kalt ist. Aber ähnlich wie bei den Vögeln, über die wir vorher gesprochen haben, ist auch so, dass viele unserer heimischen Wildtiere ihre Verdauung komplett umstellen müssen. Und das betrifft auch das heimische Reh. Das Reh ist ein sogenannter Konzentratselektierer. Es ist ein Äser, das in erster Linie saftiges Laub äst, und saftiges Laub ist im Winter eher Mangelware. Und das Reh reagiert eben auf diesen Nahrungsmangel, indem es seinen Pansen, also seinen Gärmagen, vom Volumen her deutlich verkleinert. Und auch die Oberfläche des Magens wird stark verkleinert, der ist vor allem am Dach mit einem Pelz aus Zotten ausgestattet, um die Oberfläche zu vergrößern. Und diese Zotten, die werden auch kleiner, und so ein Rehpansen, der verkleinert seine Oberfläche um 30 bis 40 Prozent im Winter. Das Reh ist dadurch angehalten, sich möglichst wenig zu bewegen, ruhig zu sein, möglichst wenig Energie zu verbrauchen und gerade Rehe, die in Wäldern vorkommen, indem es viel Brombeergestrüpp gibt, die auch im Winter noch ihre Blätter dran haben, die finden dort genug Nahrung, um einigermaßen gut über den Winter zu kommen. Bei Förstern ist es häufig so oder auch bei Jägern, die versuchen, den Rehen zu helfen, indem sie Heu zufüttern und diese Heuzufütterung, hat sich herausgestellt, ist gar nicht gut, weil trockenes Heu besteht in erster Linie aus Zellulose. Um die Zellulose verdauen zu können sind Rehe, wie die anderen Wiederkäuer auch, auf ihre kleinen mikrobiellen Helfer angewiesen, die im Pansen leben und die das dafür nötige Enzym besitzen, die Zellulase. Aber man hat herausgefunden, dass im Winter auch diese Zellulose verdauenden Mikroorganismen im Rehpansen zurückgehen und das Reh noch viel schlechter an Zelluloseverdauung angepasst ist, als ohnehin im Vergleich zu anderen Wiederkäuern. Und das führt dann dazu, dass Rehe, die dieses Heu fressen, im schlimmsten Fall, als Worst-Case-Szenario, mit vollem Magen verhungern.
Bernhard Kastner
Ja, und das ist ja auch genau der Grund, warum man diese Tiere in ihren Habitaten im Wald, wo sie sich zurückziehen und auf Sparflamme leben, nicht stören soll. Also ich habe mal mit einem Förster gesprochen, der mir geraten hat, nicht dort mit dem Hund spazieren zu gehen, weil die Tiere aufschrecken, mehr Energie brauchen und dann noch schneller erschöpft sind und verenden.
Thassilo Franke
Ja ganz besonders problematisch sind natürlich querfeldein Gänge, die auch immer populärer werden, wie mit Langlaufskiern oder mit Schneeschuhen eben querfeldein durch den Wald zu laufen. Das ist natürlich für die Tiere ein ganz großes Problem.
Bernhard Kastner
Also das bitte lieber sein lassen, auch im Winter mit dem mit Langlaufen, so schön es ist, aber da lieber die Rehe schonen. Wenn jetzt schon so ein relativ großes Tier wie das Reh seinen Stoffwechsel so radikal umstellt, weil es eben nicht mehr so viel Nahrung findet - es gibt zwar nicht mehr viele bei uns, oder sie kommen wieder - aber wie macht es dann zum Beispiel ein so großes Raubtier wie der Bär?
Thassilo Franke
Ja, der Bär ist ein ganz besonders interessanter Fall, weil er nämlich je nachdem, ob er in südlichen Gefilden vorkommt oder in weiter nördlicheren Gegenden lebt, auf die Witterung im Winter reagiert. Und gerade in unseren mitteleuropäischen Breiten ist es so, dass die Braunbären den Winter überstehen, indem sie einen Zustand einnehmen, den man Winterruhe nennt. Also ich sage bewusst jetzt nicht Winterschlaf, weil was der Braunbär macht bei uns, das ist kein Winterschlaf, sondern er setzt im Endeffekt seine Körpertemperatur nur ganz leicht herab in seinem Unterschlupf, er setzt sie herab von ungefähr 37 Grad wie bei uns auf vielleicht so 34 bis 36 Grad, also nur relativ unwesentlich, und ist dann auch in einem lethargischen Zustand. Auch die ganzen biochemischen Abläufe sind herabgesetzt und er schafft es auf die Art und Weise, seinen Stoffumsatz um ungefähr ein Viertel runterzufahren. Und wenn er sich im Herbst davor genug Fett angefressen hat, zum Beispiel durch eine schöne Eichelmast, was für Bären sehr wichtig ist, dass das hin und wieder mal passiert, hat er sehr gute Voraussetzungen, den Winter auf diesem Sparflammen-Modus zu überstehen. Interessant ist auch, dass die weiblichen Bären genau in dieser Zeit der Winterruhe ja auch ihre Jungen gebären und dann auch noch, obwohl sie ja schon so viel Fett verbrennen müssen, um ihren eigenen Nahrungsbedarf zu decken, auch noch Milch produzieren müssen, um ihre Jungen zu versorgen. Es ist eine ganz erstaunliche Strategie, die diese großen, mächtigen Raubtiere hier an den Tag legen, um den Winter zu überstehen. Und was auch ganz verblüffend ist und das ist für uns Menschen besonders interessant, wenn so ein Bär dann im nächsten Frühjahr wieder sein Winterversteck verlässt, dann marschiert der einfach drauf los und hat überhaupt keine Probleme mit seiner Muskulatur. Und ich meine jeder, der schon mal ein Bein gebrochen hatte und wo das Bein länger eingegipst war, der weiß, danach braucht man Physiotherapie, um die Muskeln wieder aufzubauen. Weil es gibt im Englischen so einen Satz, der heißt „use it or loose it“, und es ist genauso bei den Muskeln. Wenn ich meine Muskeln nicht nutze, dann werden sie einfach resorbiert, werden sie abgebaut, weil Muskelgewebe einen Haufen Energie schluckt. Und das halte ich natürlich nur dann Instand, wenn ich es auch brauchen kann, aber bei den Winterruhenden Bären ist ganz anders. Bei denen baut sich die Muskulatur nur minimal ab und auch der Knochen, das habe ich vorher vergessen zu erwähnen, selbst die die Knochenmasse. Wenn eine Extremität, ein Bein, ein Arm, einfach nicht genutzt wird, dann baut der Körper auch die Knochenmasse ab. Und es ist besonders bei Raumfahrern ein großes Problem. Deswegen müssen sie auch ständig auf dem Hometrainer dort sich trainieren, oben auf der ISS, und ständig Sport machen, weil einfach durch die Schwerelosigkeit, die Muskelmasse und auch die Knochenmasse einfach permanent abnimmt, weil die Arme und Beine kein Widerstand haben, wenn sie sich bewegen. Und deswegen schauen gerade die Forscher von der NASA besonders auf diese winterruhenden Bären, die ihre Muskeln nicht abbauen, weil das natürlich eine tolle Strategie wäre, um längere Raumflüge, zum Beispiel zum Mars, zu erleichtern.
Bernhard Kastner
Und hat man dann schon einen Stoff gefunden, eine Substanz, die diesen Muskelabbau verhindert?
Thassilo Franke
Ja, hier ist es so, die haben eigentlich keine andere Gen-Ausstattung wie wir. Was diese Abläufe betrifft, also im Endeffekt alle Gene, die für Muskelaufbau, Muskelabbau, Knochenaufbau, Knochenabbau vorhanden sind, die haben wir Menschen auch. Aber entscheidend ist, wie lange sie eingeschaltet bleiben. Man hat rausgefunden, dass beim Braunbären die ganzen Gene, die zum Beispiel für den Anabolismus verantwortlich sind, also für den Körperaufbau, um das bis zu sechsfache stärker exprimiert, also praktisch abgelesen werden. Auf der anderen Seite die Gene, die für den programmierten Zelltod verantwortlich sind, die werden unterdrückt. Und die Gene, die für den Knochenabbau verantwortlich sind, die bleiben eigentlich unberührt, die sind immer gleich. Aber allein durch diese Unterschiede in der Genexprimierung, in der Ablesung von der DNA und die Übersetzung in Proteine, kann der Bär eben dem Ganzen entgegenwirken. Also wenn wir Menschen praktisch jetzt die gleiche Epigenetik hätten, die gleichen Mechanismen, die die Einwirkintensität praktisch dieser Gen-Produkte übernehmen könnten, dann könnte man theoretisch sich vorstellen, dass wir zu ähnlichen Leistungen fähig sind. Und es betrifft natürlich nicht nur die Raumfahrt, wo das interessant ist, sondern es betrifft auch zum Beispiel Organtransplantation. Man könnte also einen Menschen, der dringend ein Spenderorgan braucht, ruhigstellen auf die Art und Weise, wenn man ihm eine künstliche Winterruhe auferlegt. Oder das Organ selber könnte man auf die Art und Weise auch besser Instandhalten. Also wir können sehr viel von diesen Tieren, die die Winter überstehen müssen, auch in der Medizin lernen.
Bernhard Kastner
Sie haben jetzt ganz spannend vom Muskelabbau gesprochen, aber es fiel auch schon das Stichwort Skelett oder Knochenabbau. Und da komme ich vom größten Raubtier Deutschlands zum wohl Kleinsten, der Spitzmaus. Und für alle diejenigen, die wie ich auch dachten, Spitzmaus, ein Raubtier? Ich wusste das lange selbst nicht. Die Spitzmaus ist ein Fleischfresser und ein sehr kleines oder vielleicht sogar unser kleinstes Raubtier. Und dieses kleine, winzige Tier hat einen ganz besonderen Mechanismus entwickelt, über den Winter zu kommen.
Thassilo Franke
Es ist gut, dass sie den Größenunterschied ansprechen von unserem größten Raubtier und unserem kleinsten Raubtier. Das passt eigentlich sehr gut, weil nämlich was man auch bedenken muss, die Größe der Bären hilft ihnen auch beim überstehen des Winters, die sogenannte Bergmansche Regel je größer ein Lebewesen ist, desto günstiger ist das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen und desto langsamer kühlt so ein Körper aus. Jetzt ist es aber so, dass die Spitzmaus ja winzig klein ist. Und hier ist das Verhältnis vom Volumen zur Oberfläche genau andersherum wie beim Bären. Das heißt, diese kleinen Tiere kühlen viel schneller aus, und dem müssen Sie natürlich entgegenwirken. Und man weiß ja auch im Sommer, wenn man mal eine Spitzmaus sieht, das sind unglaublich hektische kleine Säugetiere, die permanent in Bewegung sind, die immer auf Turbo sind in ihrem Stoffwechsel und in der Art wie sie sich verhalten, und die auch wirklich, wenn die ein paar Stunden lang keine Nahrung finden, tatsächlich verhungern. Bei denen ist dann wirklich der Akku leer und die Maus tot. Und natürlich ist im Winter die Herausforderungen am Leben zu bleiben. Sie müssen ja noch mehr Energie in die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur investieren, obwohl weniger Nahrung oder auch andersartige Nahrung vorhanden ist. Zum Beispiel fressen sie im Sommer sehr viele Regenwürmer, die im Winter sehr schwer zu erreichen sind, weil sie in tieferen Bodenschichten sind, wo ihnen die Spitzmäuse nicht hinterher krabbeln können. Und auf die Art und Weise muss die Spitzmaus einen anderen Trick anwenden, um damit klarzukommen. Sie ist den ganzen Winter über aktiv, sie macht keinen Winterschlaf. Aber, und es ist der Punkt, den Sie angesprochen haben, sie schrumpft. Und dieses Phänomen wurde schon in den 1950er-Jahren entdeckt. Da hat ein Forscher, August Temel, Spitzmäuse vermessen. Und zwar solche, die im Winter gefangen wurden, und solche, die im Sommer gefangen wurden. Und er war ganz verblüfft, weil er feststellen konnte, dass die Winterspitzmäuse, die im Winter gefangen wurde, die er vermessen hat, die warnen signifikant kleiner als die, die im Sommer gefangen wurden. Und zwar betrifft es den Knochen, aber auch zum Beispiel die Hirnschale. Das heißt das Schädelvolumen ist bei manchen Individuen um bis zu 20 Prozent gesunken. Und das hat sich viele Jahre später, im Jahr 2018 ist die Studie erschienen, Moritz Härtel von Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen mit seinen Kollegen genauer angeschaut. Und sie konnten das bestätigen. Ein Doktorand hat Waldspitzmäuse, also Rotzahnspitzmäuse gefangen, über hundert Tiere, und hat die mit einem kleinen Sender ausgestattet. Und da wurden die Spitzmäuse in bestimmten Zeitabständen eingefangen und dann wieder vermessen, wieder freigelassen, eingefangen, wieder vermessen. Und die konnten tatsächlich bestätigen, dass diese Spitzmäuse eben stark schrumpfen im Winter. Und der Grund dafür ist, dass die Instandhaltung der Knochen, was wir auch beim Bären haben, weniger kostenintensiv ist, weil ich ja weniger Knochen Instandhalten muss und was eigentlich noch mehr ins Gewicht fällt, das energieintensivste Gewebe, was es im Körper gibt, ist das Nervengewebe, vor allem das Gehirn. Sie konnten wirklich feststellen, dass das Gehirn einer Spitzmaus um bis zu 15 Prozent schrumpft im Winter und, was noch verblüffender ist, im nächsten Frühjahr das Gehirn wieder wächst, nämlich um ungefähr neun Prozent. Das heißte es ist tatsächlich so, dass das Gehirn im Herbst/Winter immer kleiner und kleiner wird und im Frühling dann immer größer und größer wird. Und das betrifft natürlich auch genauso den Schädelknochen, der auch kleiner und größer wird. Und für die Spitzmaus ist es eben so, dass sie weniger Körpermasse einfach instandhalten muss und auf die Art und Weise Energie spart. Man hat dann in einer ganz aktuellen Studie auch von der Max-Planck-Gesellschaft festgestellt, dass es auch andere Tiere so machen wie zum Beispiel der Maulwurf. Auch der Maulwurf schrumpft seinen Schädel und sein Gehirn im Winter ein und lässt es im Frühling wieder größer werden. Und da verspricht man sich ebenfalls für die medizinische Forschung wichtige Erkenntnisse und zwar in der Bekämpfung der Osteoporose, weil im Endeffekt, was die Tiere ja im Herbst Winter machen, ist eine kontrollierte Osteoporose. Sie bauen den Knochen ab, das, was bei uns unkontrolliert und ungewollt passiert, wenn Menschen Osteoporose bekommen, passiert bei diesen Tieren gewissermaßen kontrolliert und beabsichtigt. Und im nächsten Frühjahr wird eben das Ganze wieder rückgängig gemacht, und die Knochen werden nicht mehr abgebaut, sondern wieder aufgebaut. Und wenn wir natürlich davon die Mechanismen verstehen würden von diesem Prozess, dann würde das vielleicht dazu führen, dass wir Therapieansätze entwickeln könnten, um solche schlimmen Krankheiten wie Osteoporose in Zukunft besser zu behandeln.
Bernhard Kastner
Wo also die medizinische Forschung von tierischen Überwinterungstricks lernen könnte. Ich habe mal ein Beispiel gelesen, das ähnlich interessant für die Wissenschaft auch überwinternde Fische sein können, nämlich im Speziellen der Karpfen, was hat es denn damit auf sich?
Thassilo Franke
Ja, also Winterprobleme haben ja nicht nur die landbewohnenden Tiere, sondern auch die Tiere im Wasser, auch die Fische. Die schalten einige Gänge runter und verharren in einem Ruhemodus. Die sind nicht komplett starr, sie sind schon noch beweglich und schwimmen auch noch in den tieferen Bereichen des Gewässers herum. Aber dadurch, dass die auch ihren Stoffwechsel ganz weit runterfahren, hat eine iranische Forschergruppe sich das Plasma der Karpfen mal genauer angeschaut und hat Karpfenplasma genutzt, um Tumorzellen, die für eine besonders schwere Form des Brustkrebses verantwortlich sind, damit zu konfrontieren. Und sie konnten tatsächlich feststellen, dass diese Krebszellen, diese Brustkrebszellen, um die Hälfte in ihrer Wachstumsfähigkeit eingeschränkt wurden, wenn sie eben mit diesem Karpfenplasma konfrontiert werden. Und das Plasma, also die Zellflüssigkeit dieser überwinternden Karpfen, scheint auch Lösungsansätze zu liefern, wie man das Wachstum von Brustkrebstumoren und anderen Krebstumoren verlangsamen kann. Also auch hier ist die Medizin daran interessiert, von der Natur zu lernen, um Krankheiten, die uns Menschen betreffen, in Zukunft behandeln zu können.
Bernhard Kastner
Das finde ich total spannend, vor allem wenn man sich vorstellt, dass es vielleicht an eine Alternative wäre zu doch sehr belastenden Behandlungsmethoden wie die Chemotherapie
Thassilo Franke
Ja, man kann unglaublich viel von der Natur lernen. Und zum Glück es ist auch bekannt, und deswegen ist es so wichtig, dass wir uns die Natur, die uns umgibt, immer genau anschauen.
Bernhard Kastner
Also Tiere wie der Karpfen zum Beispiel, die fahren ihren Stoffwechsel, wie wir gerade gehört haben, mit Hilfe biochemischer Substanzen herunter. Aber manche Tiere, die gehen sogar noch weiter, die frieren sich ganz ein.
Thassilo Franke
Ja, so ein Fall, der auch vor ein paar Jahren durch die Presse gegangen ist, ist der nordamerikanische Waldfrosch, der in den nördlichsten Breiten Nordamerikas vorkommt, auch in Alaska ist er noch zu finden. Und dieser Frosch, der ist im Winter Temperaturen von bis zu minus 20 Grad ausgesetzt. Und man weiß ja schon eine ganze Weile, was er macht, nämlich er friert komplett ein. Also der Frosch gefriert praktisch ein, und deswegen wird er in Amerika auch Ice Frog genannt, Eisfrosch. Und man hat jetzt genauer angeschaut, wie er es dann trotzdem schafft, im nächsten Frühjahr wieder aufzutauen und dann einfach weg zu hüpfen, wenn er monatelang eingefroren war. Und was sich herausstellte, ist das Traubenzucker das Patentrezept des Eisfrosches ist, im Winter zu überleben. Er reichert ungeheure Mengen von Traubenzucker an in seinem Blut und in seinem Gewebe. Und der Traubenzucker hat zwei Funktionen. Auf der einen Seite ist er osmotisch aktiv. Das heißt, er verhindert, dass die Zellen austrocknen, er hält das Wasser praktisch in den Körperzellen drin. Und auf der anderen Seite verhinderte eben auch, dass das Wasser gefriert und sich verheerend Eiskristalle bilden könnten, die mit ihren scharfen Kanten und ihren massiven Volumenausdehnungen die Membranensysteme zerstören könnten. Und hat früher versucht, ihn künstlich einzufrieren und haben ihn dann einfach in eine Gefriertruhe gelegt, bei minus 20 Grad und hat dann festgestellt, dass die meisten von diesen Eisfröschen dies nicht überstanden haben. Und in der aktuellen Studie hat man dann den Frosch in der Natur genauer beobachtet und hat festgestellt, dass der einfach diese Intervalle braucht. Das heißt, es wird ja nicht schlagartig eiskalt, sondern im Herbst ist es so, dass es meistens an den Tagen noch warm ist und in den Nächten gibt es schon Frost. Da hat man eben diese ganzen Intervalle langsam durchgespielt unter künstlichen Bedingungen und konnte da feststellen, dass die Frösche sukzessive diese hohe Zuckerkonzentration aufbauen und im Optimalzustand, wenn sie dann wirklich selber eine Körpertemperatur von minus 18 Grad haben, also muss man sich mal vorstellen, die frieren auf minus 18 Grad runter, diese Frösche, und bleiben trotzdem am Leben. Bei diesen Fröschen ist es so, dass dann die Leber zum Beispiel eine Zuckerkonzentration hat, die höher ist als Coca-Cola.
Bernhard Kastner
Es klingt jetzt für mich alles sehr futuristisch. Und ich glaube, da mache sich jetzt alle diejenigen Hoffnungen, die denken, man könnte sich wohl einfrieren lassen, um dann später, in einigen Jahren, wieder zum Leben erweckt werden. Aber das ist ein anderes Thema, diesen Frosch, den gibt es ja nicht bei uns. Aber viele andere Reptilien oder Insekten, die sich im Winter oft zurückziehen, die, wie wir schon gehört haben, den Stoffwechsel runterfahren, die in einem Laubhaufen überwintern, in der Erde überwintern oder in Pflanzenresten. Und dort müssen sie dann möglichst ungestört die kalte Jahreszeit überwintern.
Thassilo Franke
Ja, da haben Sie vollkommen recht. Also im Endeffekt ist es ja so, dass all diese Tiere, die Frösche, die Schlangen, die Eidechsen, aber auch die ganzen wirbellosen Tiere, die in Kältestarre den Winter überstehen, die brauchen natürlich ein Versteck. Die können nicht einfach so auf dem Boden rumliegen, sondern die müssen sich natürlich verkriechen. Und wenn man einen steril ausgeputzten Garten hat, sind natürlich solche Verstecke rar oder gar nicht vorhanden. Und deswegen tut man diesen Tieren einen großen Gefallen, wenn man an einigen Stellen des Gartens oder des Balkons auch noch was stehen lässt. Also viele Wildbienen zum Beispiel, die überwintern in hohlen Stängeln oder andere Tierarten überwintern in Laubhäufen, zum Beispiel der Igel ist einer, der eben gern in Laubhäufen oder in Asthäufen überwintert. Es heißt, wenn man solche Strukturen im Garten oder auf dem Balkon stehen lässt, dann kann man schon sehr viel bewirken, um solchen Tieren das Leben im Winter leichter zu machen.
Bernhard Kastner
Jetzt möchte ich nur mal ganz kurz auf etwas eingehen, was ich persönlich jeden Morgen, wenn ich runterschaue in den Garten, vom Balkon aus beobachten kann. Da sehe ich die Eichhörnchen, wie sie hektisch durch den Garten fetzen und Nüsse und Sämereien verstecken, vergraben, verbuddeln, sich dabei umschauen, ob sie ja nicht beobachtet werden. Und neulich habe ich auch einen Eichelhäher gesehen, der das gemacht hat. Diese Tiere legen dann ein Winterdepot an.
Thassilo Franke
Ja, was Sie da ansprechen ist eine weitere Strategie, die Winter gut zu überstehen, indem man sich Depots anlegt, Winterdepots, und sie haben genau die beiden Kandidaten dabei beobachtet, die in der Stadt dort sehr auffällig sind. Das ist das Eichhörnchen und der Eichelhäher. Aber es gibt auch noch einen anderen Vogel, den Tannenhäher, den kriegen wir hier im Flachland oder vor allem in den Städten seltener zu Gesicht. Das ist ein Vogel des Hochgebirges. Und er ist deswegen im Gebirge zu Hause, weil seine wichtige Nahrungsquelle auch im Hochgebirge zuhause ist. Und das ist die Zirbelkiefer, die Zirbe, die kommt in den Alpen nur in den Hochlagen vor, knapp unterhalb der Waldgrenze. Und diese Bäume sind auf Gedeih und Verderb auf den Tannenhäher angewiesen. Das heißt, die könnten ohne den Tannenhäher und seine Depotwirtschaft überhaupt nicht überleben. Es ist ja so, dass Nadelbäume, wir haben es ja beim Fichtenkreuzschnabel schon erwähnt, ihre Zapfenschuppen öffnen und die Samen entlassen, die dann vom Wind verbreitet werden. Aber bei der Zirbe ist es so, die Zirbenzapfen, die bleiben fest verschlossen, die öffnen sich nicht. Das heißt die Samen sind eigentlich in ihrem eigenen Zapfen gefangen. Und die brauchen jemanden, der sie aus dieser misslichen Lage befreit. Das einzige Tier, was das sehr effizient bewerkstelligt, das ist der Tannenhäher, der diese großen verharzten Zapfen sammelt und mit seinem großen Schnabel aufhackt und die Samen in seinem riesigen Kropf verstaut. Der hat einen riesigen Kropf, indem er große Mengen von Samen transportieren kann, das schaut auch ganz lustig aus, wenn man so einen fliegenden Tannenhäher sieht, der dann so einen richtigen Kehlsack hat, der voll ist mit diesen Zirbensamen und ähnlich, wie Sie es beim Eichhörnchen oder beim Eichelhäher beobachtet haben, versteckt er die dann auch an allen möglichen Stellen, kann also ich glaube bis zu 30.000 Depots anlegen. Und vor allem ist auch eine gewaltige Gedächtnisleistung. Er kann sich das alles merken, wo er die Samen versteckt hat. Und im nächsten Frühling keimen dann aus diesen ganzen vielen Verstecken, die er nicht angerührt hat oder die er vergessen hat, haben dann die Zirben, beste Keimbedingungen. Und auf die Art und Weise pflanzt der Tannenhäher den Zirbenwald im Hochgebirge. Also jede Zirbe, die wir da sehen im Hochgebirge wurde irgendwann mal von einem Tannenhäher gepflanzt, der sie entweder vergessen hat oder der vielleicht Opfer eines, der den Winter nicht überlebt hat und deswegen das Depot überdauert hat. Und deswegen ist eigentlich der Tannenhäher der Förster der Zirbenwälder.
Bernhard Kastner
Also ein tierischer Waldpfleger, der eigentlich damit nur sein Überwintern sichern wollte. Wir hatten jetzt eine ganze Menge von Beispielen von Tieren, die ihren Stoffwechsel herunterfahren, die ein dichtes Fell bekommen, die ihre Fellfarbe verändern, die den kalten Winter meiden, weil sie in den Süden ziehen. Es gibt aber auch Tiere, die schlafen einfach. Die machen den klassischen Winterschlaf.
Thassilo Franke
Ja, stimmt, diese Gruppe haben wir jetzt noch gar nicht angesprochen. Aber glaube ich, um denen gerecht zu werden, dann bräuchten wir eine eigene Sendung nur über den Winterschlaf, weil es ist so ein faszinierendes Phänomen. Sie sagen, die schlafen nur, aber der Winterschlaf ist eigentlich kein gut gewählter Begriff. Was die Tiere machen, sie begeben sich in einen permanenten Nahtod-Zustand, der eigentlich nichts mit Schlafen zu tun hat und den sie auch immer wieder Intervallweise unterbrechen müssen, damit sie nicht wirklich sterben. Also bei Murmeltieren ist es so. Die können auf eine Körperkerntemperatur von 2,6 Grad herunterkühlen, also wirklich knapp über dem Gefrierpunkt. Und da schlägt das Herz dann nur bis drei bis viermal in der Minute, da ist der Stoffwechsel extrem runtergefahren. Also man hat festgestellt, indem man den Sauerstoffverbrauch gemessen hat, dass die ihren Energieverbrauch auf drei bis vier Prozent des normalen Energieverbrauchs runterregeln können, in diesen extrem niedrigen Körpertemperaturbereichen, in denen sie sich befinden. Und die müssen die immer wieder unterbrechen. Und da ist zum Beispiel eine Hypothese, dass sie tatsächlich schlafen müssen in diesen Warmphasen, um sich von dieser Kaltphase zu erholen, weil sie nämlich, wenn sie so richtig runtergekühlt sind, auf knapp über dem Gefrierpunkt, kann man auch keine Hirnströme mehr messen, die diese typische Schlaffrequenz zeigen. Und da gab es die Hypothese, dass vermutlich das Problem ist, dass sie in dieser Winterschlafphase nicht schlafen und diesen Schlaf nachholen, indem sie sich immer intervallweise wieder aufwärmen. Mittlerweile ist man von dieser Theorie wieder abgerückt. Man hat ehrlich gesagt noch gar keine richtige Antwort, warum sie sich immer alle zwölf Tage wieder auf 34 Grad hochheizen, um danach wieder auf fünf Grad oder darunter ab zu kühlen. Man vermutet aber, dass es daran liegt, dass sie tatsächlich Schäden, die in dieser Kaltzeit entstanden sind, dann in dieser Warmphase wieder reparieren müssen. Also physiologische Schäden, die müssen wieder behoben werden. Und dann können sie wieder runterkühlen. Dann können sie wieder 12 Tage, 14 Tage, diese extrem niedrige Körpertemperatur haben. Zwischendrin heizen sie wieder auf, um die dabei entstandenen Schäden wieder auszubessern.
Bernhard Kastner
Ob jetzt nun mit Stoffwechsel herunterfahren oder mit Winterschlaf, mit Winterruhe, mit dem Zug in den Süden, wir hoffen, dass all diese Tiere den kommenden Winter gut überstehen werden. Aber wie ist es denn eigentlich, wann wissen die Tiere, oder wie wissen die Tiere, dass es Zeit ist, aus der Höhle zu kriechen, den Wintermantel abzulegen, den Pansen wieder umzubauen oder die Schneeschuhe abzulegen?
Thassilo Franke
Das ist ganz unterschiedlich, je nachdem, wie das Tier den Winter verbracht hat. Also bei Murmeltieren ist es zum Beispiel so, die haben, wenn Sie in den Winterschlaf gehen, da ist die Tageslänge ein wichtiger Taktgeber, aber eben auch die innere Uhr. Und wenn es ums wieder aufwachen geht, im nächsten Frühjahr, ist dann nur die innere Uhr dafür verantwortlich. Weil natürlich ein Murmeltier in seinem zugemauerten, von innen zugemauerten Kessel natürlich gar nicht merkt, was draußen vor sich geht. Da ist dann die innere Uhr tatsächlich verantwortlich dafür, dass das Murmeltier zur richtigen Zeit wieder an der Erdoberfläche erscheint.
Bernhard Kastner
Also ist das eine genetische Disposition. Es ist dem Tier angeboren, wann es weiß, dass es wieder aufwacht.
Thassilo Franke
Es ist dem Tier gewissermaßen angeboren. Die innere Uhr kann neu geeicht werden, wenn sich die Bedingungen ändern, aber im Grunde genommen ist es eine angeborene Anpassung, ja.
Bernhard Kastner
Angeborene Anpassung. Da bin ich jetzt noch bei dem größten Säugetier, bei uns. Der Mensch ist ja auch ein Säugetier, und ich frage mich, wir Menschen sind ja vor Zigtausenden von Jahren in diese Gefilde hier eingewandert, in diese kalten Gebiete eingewandert. Gibt's denn beim Menschen noch irgendwelche Relikte? Irgendwelche Nachweise, dass auch der Mensch biochemische Anpassungsmöglichkeiten hatte an den Winter? Unsere Intelligenz hat uns ja dann Überwinterungsmechanismen mitgegeben. Wir haben Häuser gebaut, wir haben Heizungen entwickelt. Aber gibt es irgendetwas nachweisbares, wo man sieht, der Mensch ist eigentlich auch auf die Winterzeit eingestellt?
Thassilo Franke
Wir Menschen sind ja eigentlich Tropenkinder oder genauer gesagt Subtropenkinder. Da haben wir den größten Teil unserer Evolution verbracht in diesen Breiten. Deswegen haben wir eigentlich keine Anpassung, uns genetisch gegen die Kälte zu wappnen, sondern wir machen so etwas über die kulturelle Evolution, durch Anpassungen wie zum Beispiel Feuer zu machen im Winter. Das sind ganz wichtige Voraussetzungen, um eben durch unsere Intelligenz, durch unseren Verstand, mit den Unbilden des Winters zurechtzukommen. Wobei man dazusagen muss, die genetische Ausstattung um Winterschlaf oder Winterruhe zu halten, die ist bei uns auch vorhanden. Aber wie wir es vorhin schon bei den Bären angesprochen hatten, ist entscheidend, wie lang gewisse genetische Schalter eingeschaltet sind und wie diese Prozesse, diese hochkomplexen Prozesse, präzise aufeinander abgestimmt sind. Und dazu ist der Mensch eigentlich nicht imstande, zumindest nicht ohne fremde Hilfe. Also das wäre natürlich, wie wir vorher schon gesagt haben, für die Erforschung des Weltraums wäre es natürlich super, wenn wir einen Zustand der Winterruhe einnehmen könnten, ohne dass wir unsere Muskeln abbauen. Aber so weit sind wir jetzt noch nicht.
Bernhard Kastner
Aber ich denke, da werden wir sicher in Zukunft noch einiges darüber hören. Lieber Thassilo Franke, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses interessante Gespräch. Und ich freue mich schon auf das nächste Mal mit ihnen. Kommen Sie gut über den Winter.
Thassilo Franke
Ja, das wünsche ich Ihnen auch. Aber wir beide, wir müssen uns ja zum Glück nicht einkesseln wie die Murmeltiere, sondern dafür gibt es ja auch warme Pullover.
Der Eiffelturm ist heute das Wahrzeichen von Paris, Nationalsymbol und eines der meist besuchten Denkmäler. Der eiserne Turm setzte neue Maßstäbe, in der Kunst ebenso wie in Wirtschaft und Industrie. (BR 2016) Autorin: Sylvia Schopf
Credits
Autor/in dieser Folge: Sylvia Schopf
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Caroline Ebner, Thomas Dehler, Heinz Peter
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Sie ist ein runder, wohlschmeckender Superlativ: Die Pizza. Sie gehört zum Weltkulturerbe und ist praktisch überall auf der Welt bekannt und zu bekommen. Dabei hat es Jahrhunderte gedauert, bis sich die Pizza vom Arme-Leute-Essen zum erfolgreichsten italienischen Gericht gemausert hat. Autor: Johannes Marchl
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Autor/in dieser Folge: Johannes Marchl
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Ines Hollinger, Silke v. Walkhoff, Peter Veit
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dieter Richter, Literaturwissenschaftler und Autor;
Domenico Gentile, Autor und Pizzafachmann;
Prof. Yurdagül Zopf, Ernährungswissenschaftlerin;
Janina Schmitt, Pizzeria-Betreiberin
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Literaturtipps:
Dieter Richter, „Con gusto – Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht“ – ein wunderbares Buch, das die Geschichte einer Begegnung erzählt: der Begegnung zwischen der italienischen Küche und den Menschen nördlich der Alpen.
Domenico Gentile, „Pizza Napoletana“, eigentlich ein Kochbuch, aber dann doch viel mehr: erzählt über die Stadt, die die Wiege der Pizza ist, über Neapel. Mit sehr stimmungsvollen Fotos.
John Dickie, „Delizia! Die Italiener und ihre Küche. Geschichte einer Leidenschaft“. Ein Engländer schreibt eine ungewöhnliche, kluge und faszinierende Geschichte Italiens und seiner größten Leidenschaft: dem Essen.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher1:
Ihre Anfänge sind eher bescheiden. Niemand weiß, woher ihr Name kommt. Wer sie zuerst gemacht hat. Es existiert kein Ursprungsrezept.
Sprecherin2:
Sie ist keine ausgefallene Gourmet-Spezialität, vielmehr ein Arme-Leute-Essen, ihr Bekanntheitsgrad ausbaufähig, nur Neapel und Umgebung kennt sie bis ins 20. Jahrhundert hinein.
Sprecher1:
Doch dann tritt sie ihren weltumspannenden Siegeszug an – überall beliebt, überall rund, überall bekannt unter demselben Namen: Pizza!
Sprecherin2:
Und wenn man sich die Geschichte der Pizza genauer anschaut, dann ist es gar nicht verwunderlich, dass sie sich zunächst schwertut, ihren Weg in die ganze Welt zu finden: sie kommt aus Neapel und ist ein typisches Unterschicht-Essen: einfach und billig, sie kostet gerade mal die Hälfte von dem anderen Arme-Leute-Essen, Maccaroni mit Käse.
MUSIK ENDE
OT 1
Neapel ist ein quirlender Topf von Massen von Menschen. Die Besonderheit sind die vielen Menschen, die keine Wohnung haben, die berühmten Lazzaroni, die auf der Straße schlafen, auf der Straße essen auf der Straße leben.
Sprecherin2:
Sagt der Literaturwissenschaftler und Autor Dieter Richter, der sich für sein Buch „con gusto – die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht“ tief hineinbegeben hat in die Kulturgeschichte der Pizza
OT 2
Die Anfänge von Pizza waren so, dass wir uns unter Pizza eine arme Leute Gericht vorstellen müssen in den Quartieri Spagnoli, für die Lazzaroni, für die Menschen, die in den Bassi gelebt haben, die zum Teil auch keine Küche hatten. Die Pizzaioli hatten nicht nur die Pizza gebacken, sondern sind durch die Straßen gegangen, haben die für wenige Baiocchi dort auch verkauft. Es ist ein Nahrungsmittel für das einfache Volk gewesen.
Sprecherin2:
Halt, halt, halt! Das waren viel zu viele unbekannte Begriffe, das verlangt nach Aufklärung! Fangen wir mit dem Begriff „Pizzaioli“ an: das sind einfach die Pizzaverkäufer, die durch die Straßen ziehen und versuchen ihre Teigfladen an Mann und Frau zu bringen, für ein paar kleine Münzen. „Lieferservice“ würde man heute sagen:
OT 3
Die gehen über die Straße wie viele andere Essensverkäufer auch. Es gibt Wasserverkäufer, die Acquaioli. Es gibt Nuss-, es gibt Fischverkäufer. Es gibt die berühmten bei Spaghetti-Verkäufer natürlich, die in Garküchen auf den Straßen sind. Wir müssen uns das so vorstellen: Es ist die Geburt des Fastfood in Neapel, in einer Stadt, die alle Voraussetzungen für Fastfood mitbringt.
MUSIK CD989510Z00 „La Banda: Traditional Italian Banda“; ZEIT: 00:50
Sprecher 1:
Und dieses schnelle, billige Essen…
Sprecherin2:
…besteht ja nur aus Mehl, Wasser und etwas Hefe – vielleicht noch mit Knoblauch oder einem Stück Käse drauf
Sprecher1:
…wurde von den Lazzaroni in den Bassi konsumiert – von den Armen, die oft genug weder Arbeit noch eine Wohnung hatten. Der Unterschicht Neapels, die in den Bassi haust, einem Viertel das eng bebaut ist, ohne Hygienevorrichtungen, ohne fließendes Wasser. Nach der Bevölkerungsexplosion in Neapel im 17. und 18. Jahrhundert lebenhier bis zu 60.000 Lazzaroni gleichzeitig unter schwierigsten Umständen, Neapel ist zu dieser Zeit nach Paris die zweitgrößte Stadt Europas.
MUSIK ENDE
Sprecherin2:
Vor kurzem wurde übrigens nahe Neapel ein Wandgemälde entdeckt, mit einer Speise, die verblüffende Ähnlichkeit mit einer Pizza hat. 2000 Jahre alt, in Pompeij, der vom Ausbruch des Vesuv verschütteten Stadt. Da sieht man ein Tablett mit Wein, Früchten und: Eindeutig! Einer knusprigen Pizza. Zwar etwas ungewöhnlich belegt – statt Mozzarella und Tomatensauce sind Früchte auf dem Teig zu sehen - , aber, hey! – Wenn das keine Pizza ist…
MUSIK privat Take 001 „That’s Amore”; Album: Italian Love Song Passione; Label: 2012 Italian Love Songs; Interpret; unbekannt; Komponist: Harry Warren; ZEIT:00:15
Sprecher3 (mit Musikbett herausgehoben):
Die Pizza – dicker oder dünner Teig – dicker oder dünner Rand?
MUSIK ENDE
Sprecherin2:
Wenn wir über Pizza reden, wollen wir aber jene nicht vergessen, die sie machen. Die Pizzabäcker. Einer von ihnen, der dazu noch Buchautor und Pizzerien-Gutachter ist, ist Domenico Gentile und er sagt zum Thema dünner oder dicker Teig:
OT 4
Also, jetzt ist natürlich die Frage: Von wieviel Gramm Teig reden wir? Wenn man eine amerikanische Pizza nimmt, das ist ja schon fast ein Kuchen, das ist einfach eine andere Art von Pizza. Sie ist auch nicht so cross und hart wie die Pizza aus dem Tiefkühlfach, die man vom Diskounter kennt. Die Pizza muss am Rand luftig sein und muss trotzdem flach und dünn sein, und das wäre im Endeffekt die perfekte Pizza.
Sprecher1:
Zum ersten mal schriftlich erwähnt wird eine Pizza Ende des 15. Jahrhunderts. Aus dieser Zeit existieren Notizen, die ein Pizzarezept beschreiben. Sie ist mit Basilikum, etwas Hartkäse und Schmalz als saftiger Grundlage belegt. Und sogar ein Name ist überliefert: Mastunicola. Alle diese Pizzen sind übrigens sogenannte „Pizze biance“, weiße Pizzen, weil die Tomate für die Pizza rossa erst noch aus Amerika eingeführt werden musste…
MUSIK privat Take 001 „That’s Amore”; Album: Italian Love Song Passione; Label: 2012 Italian Love Songs; Interpret; unbekannt; Komponist: Harry Warren; ZEIT: 00:15
Sprecher3 (Musik)
Die Pizza: bianca oder rossa?
MUSIK ENDE
OT 5
Die klassische Pizza ist eine Margherita, die ist rot, mit San Mazzano Tomaten und Mozarella, es gibt tolle weiße Pizzen, ganz klar. Wenn man die Tomate weglässt und nimmt nur den Mozarella-Käse oder nimmt Gorgonzola-Käse oder nimmt Käse mit Kartoffeln und Salsiccia, das sind tolle Pizzen, also für mich sowohl als auch.
Sprecher1:
In Deutschland ist es den Lesern der Augsburger Allgemeinen Zeitung 1854 vergönnt, erstmals über die Pizza zu erfahren:
OT 6
Also die früheste Erwähnung eines deutschen Reisenden, die ich gefunden habe, ist von dem berühmten Ferdinand Gregorovius, der die Wanderjahre in Italien geschrieben hat.
Sprecherin2
Sagt der Kenner der Geschichte der Pizza, Dieter Richter
OT 7
Er ist 1853 in Neapel, geht durch die Straßen, hat einen sehr genauen, wir könnten sagen einen fast volkskundlichen Blick auf die Straßenverhältnisse, und der sieht einen Pizzaverkäufer. Und er versucht, seinen deutschen Lesern überhaupt erst einmal zu erklären, was das ist
MUSIK DK187200012 „Ach wie so trügerisch“; ZEIT: 00:20
Zitator
„man flüchte sich in eine jener wunderlichen Garküchen, wo hinter Bretterverschlägen die Pizzi, große flache und runde Kuchen gegessen werden, welche mit Käse oder mit Schinkenstücken belegt sind, je nach Geschmack des Bestellers“
MUSIK ENDE
OT 8
Und jetzt wörtlich schreibt da es gehört der Magen eines Lazzarone dazu, sie zu verdauen. Ich vermute, Ferdinand Gregorovius hat keine Pizza versucht. Er hat sich das sagen lassen. Es ist etwas, was für einen - ich sage mal - nördlichen Magen nicht infrage kommt, genauso wie damals natürlich die Spaghetti auch.
Sprecherin2:
Pizza für den Magen eines Bettlers also und nicht für den des hochwohlgeborenen deutschen Touristen… und wer jetzt denkt: naja, die französischen, englischen und deutschen Besucher halt, was der Bauer nicht kennt, isst er eben nicht, weit gefehlt: der Pinocchio-Erfinder Carlo Collodi, der aus der Toskana stammt, schreibt 1880:
MUSIK DK187200012 „Ach wie so trügerisch“; ZEIT: 00:30
Zitator
„Du willst wissen, was das ist, die Pizza?! Es ist ein Brotteig mit einem Belag von allerlei darüber. das Schwarz des gerösteten Brotes, das Weißliche von Knoblauch und Sardelle, das Gelb-Grünliche des Öls, dazu hie und da die roten Tomatenstückchen – die Pizza sieht aus wie ein Mosaik aus schmierigem Schmutz und das passt genau zum Aussehen der Verkäufer.“
MUSIK ENDE
Sprecherin2:
Das war das Bild, das Italien von der Heimat der Pizza hatte: Neapel versinkt im Dreck und genauso sieht die Pizza aus… Keine Italienerin in Rom oder in Mailand will ein Gericht kosten, das aus Neapel kommt. Das Problem der Pizza ist Neapel. Und das Problem Neapels ist die Cholera.
Sprecher1:
Neapel hat im 19. Jahrhundert nicht weniger als acht Cholera-Epidemien zu überstehen. In den 1830er Jahren war die Cholera aus Indien eingeschleppt worden, ein Rätsel für die italienischen Ärzte dieser Zeit. Warum war Neapel so anfällig für die Cholera? Die am weitesten verbreitete Theorie war, dass die Cholera-Keime im stinkenden Boden der Stadt lauern, in den berühmt-berüchtigten Armenvierteln der Stadt. In der sogenannten „Unterstadt“ Neapels nahe am Meer, drängten sich 130.000 in Armut und Schmutz, oft genug eine ganze Familie mit den Hühnern in einem Zimmer.
Sprecherin2:
Als „Hundehütten“ hat sie der Polizeichef von Neapel damals bezeichnet. Das ist die triste Heimat der Pizza.
MUSIK privat Take 001 „That’s Amore”; Album: Italian Love Song Passione; Label: 2012 Italian Love Songs; Interpret; unbekannt; Komponist: Harry Warren; ZEIT: 00:15
Sprecher3 (Musik)
Die Pizza: Arme Leute essen oder UNESCO-Welterbe
MUSIK ENDE
OT 9
Sowohl als auch. Weltkulturerbe ist ja eine ganz besondere Auszeichnung, die hat der Pizza Napoletana eine Menge geholfen. Die Pizza Napoletana ist aber immer noch Arme-Leute-Essen. Heute noch ist es so, dass Sie in Neapel zu zweit jeder ne Pizza und ein Bier dazu für 15 Euro, das ist kein Problem, das gibt es immer noch und das ist völlig in Ordnung
Sprecher1:
Sagt Pizzabäcker und -Buchautor Domenico Gentile. Die Pizza also heute Welterbe, damals misstrauisch beäugt, zumindest von den Nicht-Napolitanern
Sprecherin2:
Aber wen wundert es, wenn man so schief angeschaut wird…
Sprecher 1:
…dass da die Neapolitanerinnen und Neapolitaner ihr eigenes Narrativ der Pizza aufbauen: Es war einmal…
MUSIK CD031140018 „O wie so trügerisch. Canzone des Herzogs, 3. Akt“; ZEIT: 01:00
Sprecherin2:
… Da bekam die italienische Königin Margherita, die in Neapel weilte, Lust darauf, diese Pizza zu probieren, von der sie schon so viel gehört hatte. Der stadtbekannte Pizzaiolo Raffaele Esposito backt ihr drei Pizze(n): eine mit Öl, Tomate und Basilikum, eine mit kleinen Fischchen, der Königin aber schmeckt am besten die mit roter Tomate, weißem Mozarella und grünem Basilikum – den Farben der italienischen Trikolore. Die Pizza Margherita ist geboren, die bis heute bekannteste aller Pizzen. Und sogar der Dankesbrief der Königin soll bis heute erhalten sein, den sie natürlich nicht selbst schreibt, wozu hat man denn sein eigenes Inspektorat der königlichen Munddienste?!
MUSIK ENDE
Zitator
„Sehr geehrter Signor Raffaele Esposito: Hiermit bestätige ich ihnen, dass die drei Arten der Pizza, die Sie für Ihre Majestät zubereitet haben, für köstlich befunden wurden. Ihr ergebener Diener Galli Camillo, Leiter der Munddienste im königlichen Haushalt“
Sprecherin2:
So hängt das gerahmte Schreiben seit 1889 in Raphaele Espositos Pizzeria, nur dass es mittlerweile von Historikern als Marketingstrategie enttarnt wurde, Esposito war wohl weder der erste noch der einzige Pizzabäcker, der an den königlichen Hof gerufen wurde. Aber eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte, und das mit Königin Margherita und der Trikolore-Pizza ist definitiv eine gute Geschichte.
OT 10
Die Geschichte der Pizza ist im Grunde eine Migrations Geschichte. Die früheste Pizzeria außerhalb Neapels hat vermutlich in New York gestanden. In dieser Zeit gab es weder in Mailand noch in Rom - von Deutschland ganz zu schweigen - eine Pizzeria.
Sprecherin2:
Vor allem die italienische Community geht Pizza essen, doch das ändert sich. Zuerst kommen die ganze USA dazu. Und dann die ganze Welt… ein globales Erfolgsmodell, die Gründe sind schnell erzählt:
OT 11
Also ich denke, die Pizza ist das anpassungsfähigste Gericht, das es überhaupt gibt. Es ist stapelbar, leicht transportierbar, leicht teilbar. Es ist leicht, an den Mann zu bringen, indem man verschiedene Belage auf diese Pizza packt. Es gibt er die absonderlichsten und ungewöhnlichsten - vor allem in den USA - wo man dergleichen Hemmungen überhaupt nicht kennt.
MUSIK M0059459Z00 „La donna e mobile“; ZEIT: 00:20
Sprecherin2:
Nur die gute alte Hawaii mit Ananas sei hier erwähnt, neben der Pizza Chicken Alfredo mit Sahne, der Cheesburger Style, auf der Essiggurken die Pizza zieren oder der nicht gerade lowcarb „Mac and Cheese“: Maccaroni zwischen Cheddar und Mozarella…
MUSIK ENDE
OT 12
Sie ist schnell zu machen. Auch das kommt dazu. Sie ist leicht vorzubereiten, sie hat sich die ganze Welt erobert. Es ist eigentlich das schönste Beispiel für das, was kultureller Aneignung sein kann. Und wer gegen- - sage ich jetzt mal ein bisschen polemisch - Wer immer nur hetzt und stänkert gegen die sogenannte kulturelle Aneignung, der müsste das Pizzaessen eigentlich den Neapolitanern überlassen.
Sprecher1:
Dazu kommt noch, dass sie billig und einfach zu machen ist, und deshalb so gut wie in allen Ländern der Welt verbreitet ist.
Sprecherin2:
Übrigens hilft es schon sehr, dass prominente Zeitgenossen in der Öffentlichkeit für die Pizza eintreten. Die Opernstars Enrico Caruso und Antonio Scotti gehen in der New Yorker Pizzeria Lombardi´s Pizza essen, und ein anderer lässt gar sein berühmtestes Lied mit der Zeile anfangen
Zitat Lied „That´s amore“
Ab: when the moon hits your eye like a big Pizza-pie, that´s amore…
MUSIK Z9395936103 “That's amore (That's love)”; ZEIT 00:15
Sprecher1:
Dean Martin singt 1952 vom Mond, der – wenn er wie eine große Pizza dem wahrscheinlich schmachtend zum Himmel blickenden Verliebten ins Auge fällt – einfach Liebe sein muss…
Sprecherin:
Und es kann kein Zufall sein, dass genau im gleichen Jahr, 1952, die junge Würzburgerin Janina Schmitt (gespr. Schanina Schmitt) und ihr italienischer Mann Nicolo di Camillo die erste Pizzeria in ganz Deutschland aufmachen: Elefantengasse 1, in Würzburg.
OT 14
Ich muss Ihnen sagen ich hatte keine Ahnung, was Pizza ist. Mit meiner ganzen mit Mit-Bevölkerung. Ja, keiner wusste damals, was das ist. Und dann hat er, so gesagt in Italien ist das so.
Sprecherin2:
…erzählt Janina (Schanina). Was für eine Geschichte! Er schlägt sich als Fahrer für US-Soldaten durch. Sie ist Balletttänzerin am Nürnberger Opernhaus. Er trifft einen italienischen Freund, der für die Amerikaner kocht. Der zu Nick sagt:
OT 15
Und dann hat er, so gesagt in Italien ist das so.
Warum machst du nicht Lokal auf und verkaufst Pizza?
Sprecher1:
Die Idee ist geboren, die beiden gehen zurück in Janinas (Schaninas) Heimatstadt Würzburg, die damals vollkommen zerbombt ist. Auf die Würzburgerinnen und Würzburger können sie als Kunden zunächst nicht zählen, wohl aber auf die amerikanischen Soldaten, die GI´s. Die kennen Pizza von daheim.
Sprecherin2:
Mit einigen Tricks kurbeln sie das Geschäft an. Nick besticht die Taxifahrer, dass sie die Soldaten zu ihm fahren, Janina macht in den Clubs in der Kaserne Werbung mit Pizza-Partys. Drei Mark kostet damals das Prunkstück der Pizzeria Capri von Nick und Janine:
OT 16
Wir haben verkauft, die Pizza Deluxe. Die war immer mit schön viel Tomaten und Salami und Champignons und Pfefferschoten ein bisschen drauf und vor allen Dingen Käse. Und es ist sehr gut gelungen. Und erst hatten wir dann nur so einen Gasherd. Und dann sind wir nach Italien gefahren und unterwegs ist eine Firma, die diese Pizzaöfen macht. Das war unsere erste riesengroße Ausgabe und haben den gekauft, weil der 400 Grad gebracht hat.
MUSIK privat Take 001 „That’s Amore”; Album: Italian Love Song Passione; Label: 2012 Italian Love Songs; Interpret; unbekannt; Komponist: Harry Warren; ZEIT: 00:15
Sprecher3 (Musik)
Die Pizza: Nur im Holzofen oder auch daheim im Backofen?
MUSIK ENDE
OT 17
Also da ist ja eine Menge passiert, man kriegt heute Pizzaöfen für zu Hause für 500 Euro, die machen 450 Grad. Es gibt natürlich Fanatiker, die sagen: Die Pizza muss aus dem Holzofen kommen
Sprecherin2:
Na gut, aber wir haben ja den ganz gewöhnlichen Backofen mit 250 Grad Umluft gemeint…
OT 18
So ein normaler Haushaltsbackofen erreicht die Temperatur nicht, die eine vernünftige Pizza braucht. Man kann darin Focaccia backen oder Blechpizza, aber so eine schöne Pizza mit einem angebrannten Rand, der ein Leopardenmuster bekommt, so eine gute Pizza schafft der Backofen nie
Sprecher1:
Bei Janina und Nick in Würzburg in der ersten Pizzeria auf deutschen Boden boomt das Geschäft auf alle Fälle, mit ihrem 400 Grad Pizzaofen. Und das magische Wort – „Pizza“ verbreitet sich auch in Würzburg, langsam kommen die ersten Einheimischen…
OT 19
Der Doktor Zimmermann hat dann seine eigene Pizza, weil der wollte noch Sardellen in Öl draufhaben. Die hieß dann Zimmermann, Carpentiere. Und dann kamen die Amerikaner, die haben deutsche Mädchen mitgebracht. Die kamen dann öfter mit den Eltern. Ein Boom muss ich ganz ehrlich gestehen, die Autos standen draußen, haben gewartet, dass sie Platz kriegen.
Sprecherin2:
So geht die wundersame Pizzavermehrung in Würzburg vor sich. Schneller als in vielen Städten Italiens. Denn während es in Würzburg bei Janina und Nick schon Pizza gab, hatten weder Mailand, noch Bergamo oder Triest eine einzige Pizzeria.
Sprecher1:
An dieser Stelle sei eines nicht verschwiegen: So erfolgreich Pizza ist, so authentisch und vielfältig: ein hippes Gesundheitsessen ist sie nicht. Zwar findet man im Internet eine italienische „Studie“, die besagt, dass Pizza-Großverzehrer weniger Herzinfarkt gefährdet seien als Menschen, die keine Pizza essen. Aber die Ernährungswissenschaftlerin Professor Yurdagül (gespr. Jurdagül)Zopf von der Universität Erlangen warnt:
OT 20
Also solche Studien muss man ganz vorsichtig betrachten: Was für eine Pizza wurde bei dieser Studie eingesetzt, wie ist die Pizza hergestellt worden? Das heißt nicht, dass die Pizza jetzt ein gesundes Lebensmittel ist, mit Vorbehalt ist Pizza im Normalfall sehr fettig hergestellt, hat eher ungesunde Anteile, Übergewicht droht, und ein Überkonsum von Pizza ist mit Sicherheit nicht als gesund zu werten.
Sprecher1:
Besonders Tiefkühlpizzen, sagt Ernährungswissenschaftlerin Zopf, sind nicht zu empfehlen.
OT 21
Weil das ist eine Masse von hochprozessierten, chemisch veränderten Zusatzstoffen und Geschmacksverstärkern, dazu noch zuviel gehärtetes Fett, das ist nicht nur eine Gefahr, dass man zunimmt, das ist ungesund und davon sollte man definitiv die Hände lassen.
Sprecherin2:
Dennoch: in Maßen genossen und mit eher weniger Käse und einer selbstgemachten Tomatensauce, die lange geköchelt hat, ist Pizza einfach unschlagbar! Sie ist ein demokratisches Essen, wir können sie teilen. Wenn wir sie selber machen, ist sie nicht teuer. Und Pizza verbindet, sagt Kultur- und Literaturwissenschaftler Dieter Richter
OT 22
Das Besondere ist ja das, die Pizza zu den Gerichten gehört, die auch generationenübergreifend ist. Auch das gehört zu den Wundern der Pizza. Die kleinen Kinder essen sie gern, aber auch die allerkritischsten und aufmüpfigsten Jugendlichen, aber auch ältere Menschen. Auch im Sozialen hat sie alle Grenzen übersprungen. Das ist sowohl ein Arme-Leute-Essen immer noch, aber auch ein Millionär oder wer auch immer wird sie sich gelegentlich leisten. Das ist die Universalität dieses Gerichts, die das Gericht eben wirklich zu einem kleinen Wunder macht.
Sprecher1:
Und so ist es dann eigentlich auch wieder kein Wunder, dass die Pizza in der Variante der Pizza Napoletana inzwischen UNESCO Weltkulturerbe ist, seit 2017. Oder vielmehr die Kunst der neapolitanischen Pizzaioli – so steht es in der offiziellen Erklärung der UNESCO. Ganz Neapel hat gefeiert.
OT 23
Die Pizzabäcker sind auf die Straße geströmt und haben kleine Häppchen verteilt. Und der Bürgermeister hat gesagt: noch nie ist Neapel eine größere Ehre widerfahren. Denn die Pizza ist nicht nur ein Gericht in Neapel, sondern ein Teil des lokalen Stolzes.
Sprecherin2:
Wichtig dabei: die UNESCO hat nicht nur das Rezept prämiert, sondern auch die Lebensform, die damit verbunden ist
MUSIK privat Take 001 „That’s Amore”; Album: Oregon Mandolin Orchestra Live 2010; Label: 2010 Oregon Mandolin Orchestra; Interpret: Oregon Mandolin Orchestra; Komponist: Harry Warren
OT 24
Convivialita - ein schöner italienischer Begriff, den man kaum übersetzen kann. Gemeinschaftlichkeit im Essen und Trinken. Fahren Sie mal an Ferragosto am 15. August nach Italien, Gruppen von 20 Menschen, die da sitzen, in einem Ausflugslokal Pizza essen. Das ist keine Ausnahme. Es führt die Menschen zusammen
Sprecherin2:
Und ein größeres Kompliment kann man einem Gericht wohl nicht machen – außer vielleicht, dass es noch dazu verdammt gut schmeckt.
MUSIK ENDE
Heute kennt man die Namen von SpitzenköchInnen wie die von bildenden KünstlerInnen. Das war nicht immer so. In der Antike etwa waren sie noch namenlose Sklaven. (BR 2017) Autorin: Renate Kiesewetter
Credits
Autor/in dieser Folge: Renate Kiesewetter
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Schild, Johannes Hitzelberger, Carsten Fabian
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Jörg Zipprick (ehemaliger Restaurantkritiker, Journalist und Autor);
Eckart Witzigmann (Starkoch)
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SPRECHERIN:
Gambas-Gröstl mit Blumenkohl. Könnte Hausfrau ja mal heute zum Mittagessen kochen.
O-Ton Eckart Witzigmann:
Wichtig ist natürlich auch die Hitze, Küche ist Geduld, ja, und eigentlich ist das Gericht sehr, sehr, sehr einfach, man muss ja nur die Kartofferl in aller Ruhe anbraten auf beiden Seiten, wir schieben den angebratenen Blumenkohl zur Seite, wir geben jetzt unsere frischen Gambas hinein, ja, die wir etwas mariniert haben, ja, etwas Olivenöl.
SPRECHERIN:
Gambas-Gröstl mit Blumenkohl. Ja, eben, alles ganz einfach. Nur steht hier in der Abendschau des Bayerischen Rundfunks Eckart Witzigmann am Herd. Kein Geringerer als der Münchner 3-Sterne-Koch zaubert hier auf dem höchsten Niveau weltweiter Kochkunst. Würdenträgern und Königshäuptern hat er aufgetischt. Inzwischen werden Restaurantbesucher und Hotelgäste auch von seinen Schülern verwöhnt, viele von ihnen ebenfalls mit Michelin-Sternen ausgezeichnet.
SPRECHER:
Eckart Witzigmann und seine Schüler entfachen - wie all die anderen internationalen Starköche und Starköchinnen - mit ihren kulinarischen Kreationen ein Fest der Sinne für Nase, Zunge und Gaumen, auch das Auge isst bekanntlich mit. Heute kennen Feinschmecker ihre Namen, ihre Biographie, besuchen ihre Restaurants.
MUSIK: C1049310 020 (00‘20‘‘)
SPRECHERIN:
Das war nicht immer so. Z.B. in der griechischen Antike. Schon damals verstanden die Wohlhabenden ausgezeichnet zu essen, doch die Köche blieben namenlos. Jörg Zipprick, Autor des Buches Die Erfinder des guten Geschmacks hat die Kulturgeschichte der Köche beschrieben:
MUSIK ENDE
O-Ton Jörg Zipprick:
Die meisten Köche waren natürlich Sklaven. Sie waren aber nicht nur Sklaven, sie waren auch Witzfiguren, und zwar in der sogenannten mittleren griechischen Komödie. Dort gibt es eine fest eingeführte Figur, den Koch, und das ist in der Regel ein arroganter Prahlhans.
SPRECHERIN:
Über so einen Koch – er schmäht seine jungen Kollegen - schreibt der Komödiendichter Damoxenos.
ZITATOR:
Sie … machen aus ganz entgegengesetzten Fischen eine Sauce und reiben Sesam drein. Solche Disharmonie zu durchschauen, ist die Sache der geistreichen Kunst und nicht, Töpfe zu waschen und nach Rauch zu stinken. Ich gehe gar nicht mehr in die Küche; ich sitze nur in der Nähe und sehe zu, und während andere arbeiten, erkläre ich ihnen Ursache und Wirkung.
SPRECHER:
Allzu viel ist über Köche im antiken Griechenland nicht bekannt; und auch bei den Römern später ging es beim kulinarischen Genuss nicht um sie. Star ist der Gourmet, der die ganze Inszenierung bezahlt, z.B. Lucius Licinius Lucullus. Der römische Feldherr und Konsul verfügte mit eigenen Meerwasserbecken immer über frischen Fisch.
O-Ton Jörg Zipprick:
Wir kennen Apicius. Apicius war nach antiken Maßstäben ein Millionär, hochvermögend, und er machte eigene Segeltouren, um z.B. frische Beerenkrebse zu bekommen.
MUSIK: C1230150 016 (00‘50‘‘)
SPRECHERIN:
Marcus Gavius Apicius hatte um die Zeitenwende in Kampanien gelebt. Und hinterließ das angeblich erste Kochbuch mit dem Titel: De re coquinaria. Ein Buch mit "Kochideen". Apicius schätzte etwa Flamingozungen, und so beschrieb er die Zubereitung eines Flamingos mit "Pfeffer, Kümmel, Koriander, Laserwurzel, Minze, Raute, Liquamen und Defrutum".
SPRECHER:
Liquamen war bei den Römern die "Universalwürze". Und mit Defrutum, einem im Bleigefäß eingedickten Traubensaft, würzten Römer ihre Desserts und süßten die Weine. Der enorme Bleigehalt im Most wird einige römische Aristokraten wohl auch vergiftet haben.
MUSIK: C1230150 005 (00‘50‘‘)
SPRECHERIN:
Völlerei, Protz, Prunk und Theaterspektakel - die Esskultur reicher Römer. Sogar nur ein "halber Gang auf einem Festmahl" des reichen Emporkömmlings Trimalchio, das Petronius in seinem Roman Satyricon beschreibt, war ein ganz großer Auftritt:
SPRECHER:
"Ein riesiger Bartträger mit riemenumwundenen Beinen und einem Zipfelmantel aus Damast … " erschien und stieß kühn ein scharfes Jagdmesser in die Seite eines gebratenen Wildschweins. Daraus flatterten dann "lebende Drosseln, die namenlose Köche sorgsam in die Bauchhöhle eingenäht hatten". Von Vogelfängern mit ihren Ruten wurden sie kurzerhand wieder eingefangen. Jeder Gast bekam eine Drossel samt großzügigen Mengen von Datteln und Eicheln aus Ägypten und Syrien.
MUSIK: M0010842 006 (00‘20‘‘)
SPRECHERIN:
Im christlichen Mittelalter war römisches Prunkgehabe völlig verpönt. Völlerei gehörte zu den sieben Todsünden, auch wenn schreibkundige Mönche noch lange das Kochbuch des Apicius eifrig kopierten.
MUSIK: NC015620 012 (01‘00‘)
SPRECHER:
Die Bürger in Ostrom, Byzanz, hingegen erfreuten sich am reichhaltigen Angebot vom nordöstlichen Mittelmeer über die Türkei bis zur Arabischen Halbinsel. Gewürze, Kräuter, Früchte und Gemüse: etwa Spinat aus Persien, Auberginen aus Indien, Zitronen, Orangen, Süßspeisen wie Baklava, gefüllte Weinblätter und viele Köstlichkeiten mehr. Die gehobene Kochkunst im Mittelalter ist ohne großzügiges Würzen nicht denkbar. Ingwer, Zimt, Gewürznelken, Safran, Kümmel, Mandeln, Muskat, erreichten über neue Handelsrouten Venedig, Pisa, Genua.
SPRECHERIN:
Die Köche selbst allerdings waren immer noch namenlos. Und für einfache Bauern standen sie ohnehin nicht am Herd. Die kleinen Leute haben für sich selbst gekocht. Ihre Speisekarte war karg. Jörg Zipprick:
MUSIK ENDE
O-Ton Jörg Zipprick:
Das einfache Volk ernährte sich größtenteils von Suppe. Da hing ein Suppentopf, da wurde reingeschüttet, was es grade gab, manchmal war es ein Stück Fleisch, meistens war es vielleicht auch altes Brot oder Gemüse, was man grade hatte.
SPRECHER:
In Frankreich buk man Brot nur zweimal im Monat und schüttete die Suppe übers harte Brot, morgens, mittags, abends. Dazu wild wachsende Früchte, Beeren, Kastanien. Fleisch kam nicht sehr oft in die Suppe; und an den zahlreichen Fastentagen war es den Gläubigen sowieso verboten.
O-Ton Jörg Zipprick:
Es gab immer einen Grund, zu fasten. Aber Fisch konnte man noch essen. Und alles, was so einen Bezug zum Meer hatte, wurde sozusagen dem Fisch zugerechnet: Z.B. Biber wurden auch aufgetischt. Weil Biber leben ja teilweise zumindest im Wasser.
SPRECHER:
Fast dem Glauben abtrünnig wurden manche Mönche bei süßen Torten.
O-Ton Jörg Zipprick:
Es gibt Berichte aus Portugal, wo also die Mönche so gut und gern 6.000 Kalorien pro Tag vertilgten. Und die richtig dicken Mönche, die konnten sich nicht mehr durch die Tür zum Dessertraum bewegen, weil die Tür zum Dessertraum, die war etwas schmaler – in ihrem Kloster zumindest, und ja, wer da halt einen zu dicken Bauch hatte, der kam da nicht mehr durch, der musste tatsächlich ein paar Tage fasten.
SPRECHERIN:
Wer für die Geistlichen kochte, hatte es bestimmt nicht leicht. Hilfsmittel gab es nicht, keine Uhren für die Garzeit, keine Maßeinheiten wie Gramm oder Kilogramm. Ein paar Gerätschaften, getöpferte Behälter, vielleicht auch Grillspieße, Messer. Und es war immer glutheiß. Die Feuerquelle, so Jörg Zipprick war …
O-Ton Jörg Zipprick:
… möglicherweise eine Art Herd, der mal mit Holz befeuert wurde, später mit Kohle. All das, was aus diesem Holzherd herauskam, das atmeten die Köche ein.
SPRECHER:
Sie waren nun nicht mehr Sklaven, sondern abhängige Dienstboten. Handwerker nach den mittelalterlichen Zunftordnungen. Das französische Ständebuch von 1268 verzeichnet immerhin eine zweijährige Lehrzeit für Köche, notiert Alain Drouard in seiner Geschichte der Köche in Frankreich. Freilich erreichten nur wenige etwas Ruhm und gutes Auskommen.
MUSIK: Z9381113 002 (00‘30‘‘)
SPRECHERIN:
Ein altdeutsches Gericht ohne Kartoffeln? Pizza ohne Tomaten? Christoph Kolumbus, Vasco da Gama und Ferdinand Magellan verdanken wir die Entdeckung der Neuen Welt. Von Amerika und vor allem Südamerika kamen im 16. Jahrhundert auf neuen Handelsrouten nach Europa: Kartoffeln, Tomaten, Mais, Kaffee, grüner Tee, Kakao und Schokolade.
MUSIK ENDE
SPRECHER:
Vor allem die Köche im Italien der Renaissance konnten fürstlich kochen. Sie benutzten fortschrittliche Techniken, etwa ein Passiertuch bei der Herstellung der Saucen. Und reiche Patrizierfamilien wie etwa die Medici konnten das alles bezahlen.
O-Ton Jörg Zipprick:
Kulinarische Finesse geht immer dorthin, wo das Geld ist. Insofern entstand kulinarische Finesse am Vatikan, in Florenz, in Venedig, und dann mit der Heirat von Katharina de Medici kamen also italienische Hofköche nach Frankreich. Umgekehrt kann man mit Sicherheit auch nicht sagen, dass zwei Köche die gesamte Küche revolutionierten, es muss also schon ein größeres Qualitätsbewusstsein gegeben haben im Land.
MUSIK: CD433050 014 (00‘45‘‘)
ZITATOR:
Ehrlich gesagt, geben die Franzosen nur für Essen Geld aus…
SPRECHERIN:
Berichtete aus Paris der venezianische Botschafter in Frankreich, Jerôme Lippomano. Ende des 16. Jahrhunderts schrieb er von "Metzgern, … Verkäufern, Zuckerbäckern und Tavernen, in einer Zahl, die wirklich verwirrt":
ZITATOR:
Die Rôtisseure und die Konditoren arrangieren in weniger als einer Stunde ein Diner, ein Souper für zehn, zwanzig oder 100 Personen, der Rôtisseur gibt das Fleisch, der Konditor Pasteten, Tourtes, Entrées und Desserts, der Koch Gelees, Saucen und Ragout.
MUSIK ENDE
SPRECHER:
Frankreich hatte Zugang zum Ärmelkanal, dem Mittelmeer und zum Atlantik. Es gab Gebirgslandschaften, Sümpfe mit Fröschen, Seen mit Süßwasserfischen. Aus der Picardie, aus Burgund, aus der Champagne wurden raffinierte Zutaten herangeschafft. Denn das Straßennetz war schon ausgebaut.
SPRECHERIN:
Der königliche Hof diktierte das come il faut. Vom Sohn der Katharina von Medici, Heinrich III., hieß es:
O-Ton Jörg Zipprick:
Es gibt verschiedene Legenden, dass Heinrich III. von Frankreich zum ersten Mal im Restaurant Tour d`argent die Gabel benutzt hat. Messer hatte man, wobei die Messer natürlich Dolche waren. Ein Mann, zumal ein Adliger, führte einen Dolch mit sich, und mit dem wurde auch das Fleisch geteilt.
MUSIK: C1602500 103 (00‘55‘‘)
SPRECHER:
Ein Prozess vieler kleiner Fortschritte führte zur französischen Grande Cuisine. auch abseits des Pariser Hofes. Auch technische Erfindungen im Rationalismus des 17. Jahrhunderts – etwa Balkenwaage und Thermometer – beförderten die Kochkunst.
SPRECHERIN:
Schon damals plädierte übrigens Francois Pierre des la Varenne, für eine Küche des "Eigengeschmacks".
ZITATOR:
Wenn ich eine Kohlsuppe esse, möchte ich, dass sie nach Kohl schmeckt.
SPRECHERIN:
Sein Buch Der französische Koch erschien bis 1815 in 250.000 Exemplaren. Auch hantierte er bereits mit Nudelholz, Formen, Waffeleisen und kreierte Pậte brisée, Mürbeteig, Beignets, Waffeln, Marzipan, und Baisers, die heute Meringue in Frankreich heißen.
MUSIK ENDE
SPRECHER:
Francois Vatel erfand unter anderem die Crème Chantilly, Schlagsahne. Jahrzehntelang arbeitete er auch in England, kehrte dann nach Frankreich zurück. Aber war er wirklich Koch? In weißer Jacke, weißer Haube, weißer Schürze, wie ein königliches Edikt von 1549 für Köche vorschrieb?
O-Ton Jörg Zipprick:
Vatel wird überall als Koch vorgestellt. Vatel war aber eher ein königlicher Zeremonienmeister. Also der Koch, man könnte ihn vergleichen mit einem hohen Beamten, der dafür verantwortlich war, die Herrschenden zu amüsieren.
SPRECHER:
Ein ganzes Heer von Köchen, Lieferanten, Künstlern und Kellnern versorgte Hof und Adelspaläste. Allein für Speis und Trank!
SPRECHERIN:
Den Champagner soll der Legende nach der Mönch Dom Pérignon erfunden haben. Sein Wort beim ersten Schluck machte die Runde.
ZITATOR:
Ich trinke Sterne.
SPRECHERIN:
Freilich, so Jörg Zipprick, hat Louis Pasteur Hefe zur Flaschengärung eigentlich erst 200 Jahre später entdeckt.
SPRECHER:
Und wer war nun der beste Koch in der Blütezeit der französischen Grande Cuisine?
O-Ton Jörg Zipprick:
Der erste Spitzenkoch war Carême. Zum einen war er natürlich ein großer Koch. Allein das Wort Carême: Carême ist im Französischen die Fastenzeit. Also passt wie die Faust aufs Auge für einen Koch. Die letzten Worte sind übermittelt, er sagt einem seiner Schüler, dass er doch weiß, wie man die Pfanne schwenken muss, also bis zum letzten Atemzug sozusagen in der Küche. Zum anderen hatte er aber ein Leben gelebt, von dem man heute nicht mehr weiß, was ist nun Wirklichkeit, was ist Legende.
MUSIK: M0010474 014 (00‘45‘‘)
SPRECHERIN:
Zumindest sprach man über ihn: Marie-Antoine Carême verdingte sich als ausgesetztes Kind mit zehn Jahren in einer Pariser Garküche und "kochte sich nach oben". Köche lernten damals, wie auch noch heute, von ihren Lehrern. La Guipière, Chefkoch im Elysée-Palast, förderte sein Talent. Und seine Leidenschaft für italienische Architektur ließ Carême später metergroße Torten kreieren, die aussahen wie Pyramiden, Pagoden, Pavillons, Schlösser und Tempel. Er sagte einmal:
ZITATOR:
Architektur, deren wichtigster Zweig die Patisserie ist.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN:
Heute isst keiner mehr Kreationen mit Blattgold, Malerfarben und zermahlenen Läusen, doch damals staunte ganz Paris.
SPRECHER:
Seine opulenten Lachsgerichte in einer Bouillon mit Sauternes-Wein und Steinbuttschnitzeln servierte er mit Unmengen von Austern und Krebsschwänzen. Gut für Frankreich! Sein Chef, der französische Außenminister Talleyrand stimmte damit auf dem Wiener Kongress 1814/1815 die politischen Gegner versöhnlich.
SPRECHERIN:
Gleichwohl musste auch Carème, wie alle anderen weniger bekannten Köche, den "Abgrund an Hitze" in der Küche ertragen, den "Befehlston", die hohen Ansprüche, den immensen Zeitdruck. Alles muss gleichzeitig fertig sein. Mit 40 Jahren tauscht er den Kochlöffel mit der Feder. Seine Kunst der Küche im 19. Jahrhundert beginnt mit einem hohen Lob auf den schlichten Eintopf, Pot au feu …
SPRECHER:
Nach der Französischen Revolution und dem Aufstieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert wurde vorwiegend in Privathaushalten professionell gekocht - und das exzellent. Außerdem kam nun ein ganz neuer Arbeitsmarkt für Köche hinzu:
ZITATOR:
Ob es mir beim Restaurateur gefallen hat? Wirklich, ja unendlich. Man wird gut serviert, ein wenig teuer, aber zu der Zeit, die man möchte.
SPRECHERIN:
Bestätigte der Schriftsteller Diderot. Restaurant hieß ursprünglich eine warme Kraftbrühe. Sie sollte Kraft geben, wiederherstellen, lateinisch - restaurare.
ZITATOR:
Kommt zu mir, ihr, die euer Magen leidet, und ich werde euch restaurieren.
SPRECHER:
… stand 1762 auf dem Türschild des ersten Restaurants in Paris. Boulanger, der Besitzer, hatte sich etwas Neues ausgedacht. Jörg Zipprick:
O-Ton Jörg Zipprick:
Die Tavernen boten nur ein Tagesgericht an, das Restaurant hatte eine Speiseauswahl. Eine Speisekarte, auf der verschiedene Gerichte stehen mit einem klaren Preis. Und Monsieur Boulanger hatte die Idee, ich sage schon draußen vor der Tür, was es bei mir gibt, die Leute bekommen das, was sie möchten, und dafür bezahlen sie einen Preis, der vorher ganz klar festgelegt wird.
SPRECHERIN:
Gab es vor der Revolution 1789 noch wenige hundert Restaurants in Paris, waren es kurz danach schon fünf Mal so viele; und 1834 nach dem Historiker Alain Drouard bereits 3.000. Wer wie in Versailles speisen wollte, ging ins La Grande Taverne de Londres. Da verwöhnte Antoine Beauvilliers mit einer Auswahl von 178 Gerichten. Ente mit weißen Rübchen, gespickte Kalbskeule mit Spinat oder Pasteten von Schnepfen. Die Restaurants wurden ein großer Erfolg, Paris das kulinarische Zentrum der Welt.
MUSIK: C1546070 101 (00‘35‘‘)
SPRECHER:
Ende des 19. Jahrhunderts reisen erste Restauranttester dann auch nach Moskau, Malmö, St. Petersburg, Athen und Palermo. 1903 erschien der Gourmet`s Guide, 1920 der Michelin. Auch in München, sollten Reisende …
ZITATOR:
…"das Hofbräuhaus besuchen, um ein Bier, wie man es sich besser nicht wünschen könnte, zu genießen".
SPRECHERIN:
Und in Hamburg wurde nur einem gehuldigt: Franz Pfordte.
MUSIK ENDE
O-Ton Jörg Zipprick:
Das war ein Gigant, der ursprünglich nach Hamburg kommt, der eine Lehre macht, im Wilkings Keller, der dann sein eigenes Restaurant eröffnet, das Restaurant ist anfangs sehr erfolgreich, es ist sehr, sehr positiv besprochen in einem der allerersten Restaurantführer, The Gourmet's Guide To Europe. Und der hat dort zwei Seiten in diesem Restaurantführer als praktisch das beste europäische Restaurant jenseits von Paris.
SPRECHERIN:
Pfordte machte damals, so attestierten ihm seine Gäste, das neu eröffnete Hotelrestaurant Atlantic zu einem kulinarischen Eldorado mit Silberbesteck, Servietten und Tischdecken aus Damast, außerdem - und das war neu - unterschiedlichen Weingläsern für die besten Weine Deutschlands. Auf den Tellern natürlich: Pfordtes Hamburger Aalsuppe.
SPRECHER:
Sein Küchenchef, Alfred Walterspiel, organisierte Pfordtes Restaurant wie eine französische Küchenbrigade nach dem Vorbild des französischen Kochs Auguste Escoffier:
SPRECHERIN:
Streng hierarchisch! An der Spitze kocht "le chef", kreiert, rechnet, stellt Küchenpersonal ein, ermuntert das Team, koordiniert. Alle komplexen Arbeitsvorgänge in der Küche werden "heruntergebrochen" in einzelne Bestandteile. Hier sind "chefs de partie" verantwortlich: einer für Saucen und Fonds, der andere für Fleisch, der dritte für Geflügel, der vierte für Fisch, der Patissier für Süßspeisen und ein Springer ersetzt kranke Kollegen.
ZITATOR:
Oui, chef!
SPRECHER:
Alles Männer, doch wo kochten eigentlich die Frauen? Im Frankreich des 19. Jahrhunderts nur in den bürgerlichen Haushalten, und damals, so Zipprick, wurde von Frauen dort sehr gut gekocht, besser als im Durchschnittsrestaurant. Aber gegen sie hatten sich die männlichen Kollegen verschworen.
O-Ton Jörg Zipprick:
Es gab eine enorme Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, bourgoise Familien konnten verarmen, die Hausköchin war oft unter den ersten Personen, die gehen musste, denn man konnte ja ins Restaurant, und die Männer schlossen sich zu regelrechten Bünden zusammen, das ging so weit, dass es sogar Gesetzesvorschläge gab, den Frauen den Zugang zur Küche zu verbieten.
SPRECHERIN:
Sie seien nicht kreativ. Dieses Vorurteil, so Jörg Zipprick, hörte er selbst sogar noch vor 10, 15, 20 Jahren.
MUSIK: C1042340 002 (00‘40‘‘)
SPRECHER:
Dabei begründeten die Mütter von Lyon den Ruf der Stadt zum Feinschmeckereldorado, abseits von Paris. Da servierte Mère Guy ihr reichhaltiges Aalragout, Mutter Brigousse ihr Huhn, Mutter Fillioux Trüffelsuppen, und bei Mère Marie kostete Aga Khan regelmäßig ihre warme Pastete.
SPRECHERIN:
Und dann war da noch Eugénie Brazier. Legendär ihr unter der Haut getrüffeltes Geflügel; die Artischockenböden mit Gänseleber werden heute noch serviert. Paul Bocuse hat bei ihr gelernt. Für Jörg Zipprick ist sie eindeutig die größte Köchin des 20. Jahrhunderts:
MUSIK ENDE
O-Ton Jörg Zipprick:
Eugénie Brazier ist eine Köchin, die ihr Handwerk in einem bourgoisen Haushalt gelernt hat. Und Eugénie Brazier bekommt ein uneheliches Kind. Welch eine Schande zur damaligen Zeit. Und dann muss sie natürlich gehen. Eugénie Brazier eröffnet ein Restaurant, wo sie etwas simplifizierte Gerichte aus diesem bourgoisen Haushalt anbietet, dieses Restaurant wird ein riesiger Erfolg. Und Eugénie Brazier ist die erste Person – nicht nur die erste Frau, die zweimal 3 Sterne im Guide Michelin bekommt, sie hatte zwei Restaurants später, sie wird überall hofiert, es gibt Leute, die sagen, Eugénie Brazier war fast Analphabetin. Aber nichts destotrotz, sie wird dank der Küche zu einer großen Dame.
SPRECHER:
Inzwischen haben es dank Paul Bocuse Köche und Köchinnen geschafft, ins mediale Bewusstsein zu gelangen. Und bekommen nun endlich die gesellschaftliche Anerkennung, um die sie Jahrhunderte gerungen hatten.
SPRECHERIN:
Dann wäre ja nur noch eines zu wünschen:
SPRECHER:
Guten Appetit!
SPRECHERIN:
Bon appétit!
Jesus von Nazareth ist vieles: Religionsstifter, Sohn Gottes, Wunderheiler, charismatischer Lehrer, Messias und Erlöser. Aber war er auch ein Held? Dieser Frage nachzugehen lässt ein interessantes Bild von Jesus Christus entstehen. Oder von dem, der aus ihm gemacht wurde. (BR 2022) Autor: Andreas Hauber
Credits
Autor/in dieser Folge: Andreas Hauber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christian Baumann
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Hans Reinhard Seeliger (em. Professor; Düsseldorf);
Lukas Gasser (Filmemacher, Autor, Musiker)
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Literaturtipps
Hyginus, Gaius Julius, Fabulae: Eine Reise durch die wundersame Welt der griechischen Mythologie (Lateinische Klassiker – Zweisprachig) über. v. Lucius Annaeus Senecio, ad fontes Klassikerverlag, 2017.
Zilling, Henrike Maria, Jesus als Held – Odysseus und Herakles als Vorbilder christlicher Heldentypologie, Paderborn-München-Wien-Zürich, 2011.
Gasser, Luke, Das Jericho Prinzip – Abschied von der Last der Schuld, S. 32-44, Wangen bei Olten, 2019.
Dembowski, Hermann, Einführung in die Christologie, Darmstadt 1993 (3. Auflage)
Die Bibel – Altes und Neues Testament – Einheitsübersetzung, Freiburg-Basel-Wien 1980.
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Kein Weihnachten ohne dieses Lied, das offenbar rundum dem entspricht, was Menschen am Geburtstag des Erlösers so berührt. Wandernde Volksmusikanten waren am Siegeszug des Stückes maßgeblich beteiligt. (BR 2020) Autorin: Carola Zinner
Credits
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Johannes Hitzelberger, Jerzy May, Benedikt Schregle, Florian Schwarz
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Dackelartige Hunde gibt es seit dem Mittelalter. Kurzbeinige Hunde wurden zur Jagd in unterirdischen Fuchs- und Dachsbauten eingesetzt. Mutig mussten sie sein und zur Not auch ohne den Jäger klarkommen. (BR 2017) Autorin: Christiane Seiler
Credits
Autor/in dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Axel Wostry, Irina Wanka, Paul Herwig
Technik: Christine Frey
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Cyprienne Geilen, Tierärztin und Züchterin;
Arno Blin, Rentner und Jäger
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Atmo Dackelschau
MUSIKAKZENT Kleiner Dackel vor dem Laden
MUSIK Ein kleiner Hund
OT1 Geilen
Im süddeutschen Raum heißen sie eher Dackel, im norddeutschen Raum heißen sie eher Teckel, manche sagen auch Dachshunde. Im Ausland sagt man auch eher „Dachshund“ oder dashhound, also nicht badger dog, was man erwarten würde, oder halt basotti auf Italienisch, das ist alles der gleiche Hund …
Musik aus
Atmo: Tür auf, Dackelgekläff, Atmo weiter unter Sprecherin
Sprecherin
Wir sind bei einer Zuchtschau des Deutschen Teckel Klubs im Land Brandenburg, südlich von Berlin. Inmitten der rustikalen Scheune am Dorfrand befindet sich ein mit grauem Nadelfilz ausgelegter Führring. Dackelbesitzer heben ihre vierbeinigen Lieblinge behutsam auf einen Tisch, um sie vom Richter und seinem Helfer begutachten zu lassen. Die Dackel sind mal winzig, mal groß, mal haben sie kurzes, mal raues, mal seidig langes Fell. Die Richter schauen in spitze Mäuler, vermessen Rückenlänge und Brustumfang, lassen die Hunde dann wieder zu Boden und im Ring an dünnen Leinen im Kreis marschieren. Am anderen Leinenende einer schwarz-braunen Zwergdackeldame geht stolz und besorgt ein großer junger Mann in grüner Jägerstrickjacke und mit Samurai-Zopf, seine Hündin schmeißt eifrig die Stummelbeinchen, so schnell, dass die Konturen ineinanderfließen.
MUSIK Jagdquartett 4. Satz: Allegro assai
Sprecher
Die Bewegung des Hundes sieht aus wie auf dem berühmten Ölgemälde des italienischen Futuristen Giacomo Balla. "Dinamismo di un cane al guinzaglio", auf deutsch "Bewegungsrhythmus eines Hundes an der Leine" heißt das Werk aus dem Jahre 1912. Zu dieser Zeit versuchen sich viele Künstler an der Darstellung von Bewegung, angeregt durch die neuen Möglichkeiten der Fotografie, die einzelne Bewegungsphasen im Bild festhalten kann.
Auf Ballas Bild schwingt die Leine, das Schwänzchen wedelt, die Beine fliegen, die Darstellung erinnert an eine Comiczeichnung.
Neben den vom Kleid umwehten Beinen einer möglicherweise älteren Dame in bequemem Schuhwerk, läuft ausgerechnet ein schwarzroter, sehr kleiner kurzhaariger Dackel.
Musik aus
OT2 Geilen
Der Ursprungsdackel … ist ... schwarzrot Kurzhaar tatsächlich. Und der Förster von Daacke hat sich darauf spezialisiert, diese hirschrote Farbe, was man heute halt rot nennt, in diese Zucht zu bringen. Und dann haben sich aus diesem Kurzhaar mit Einzüchtung von Terrier der Rauhaar entwickelt, und mit Einzüchtung von Cockerspanielarten der Langhaar. Und dann wurden die verschiedenen Größenschläge gezüchtet, also immer kleiner, und das hat was mit der Funktion zu tun, die größeren Hunde sind für Dachs- und Fuchsbau, also für Raubwild gedacht, und die kleineren dann Kaninchenteckel und Zwergdackel.
ATMO Gekläff
Sprecherin
Cyprienne Geilen, 30 Jahre alt, ist Tierärztin und züchtet kurzhaarige Zwergteckel. Ob der Name "Dackel" sich von dem erwähnten ersten Dackelzüchter namens von Daacke herleite, sei heute nicht mehr zu klären, meint sie.
Atmo aus
Das Grimmsche Wörterbuch, dessen den Dackel betreffender Band Mitte des 19. Jahrhunderts erschien, kennt noch keinen "Dackel", allerdings findet sich dort der "Dachshund". Auch in Adelungs "Grammatisch Kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart" von 1793 gibt es den Eintrag:
ATMO Dachshund
Zitat Adelung
Der Dachshund, des Dachshundes, Plural: Die Dachshunde; eine Art kleiner starker Hunde, mit einem langen, schmalen Leibe und kurzen, eingebogenen Füßen, welche zur Dachsjagd gebraucht werden, dieses Tier in seinem Baue aufzusuchen.
Atmo aus
MUSIK Back on the Bounce
Sprecherin
Als 1888 der Deutsche Teckel-Klub gegründet wurde, gab es also bereits Dackel, aber erst jetzt wurde einheitlicher, auch heute noch fast weltweit gültiger, Rassestandard festgelegt. Der Dackel ist also ursprünglich ein durch und durch deutscher Hund. Und nach diesem Rassestandard wird das einzelne Exemplar bei einer solchen Zuchtschau beurteilt:
Musik aus
Atmo Dackelschau
OT3 Geilen
Da wird auf die Gesundheit des Hundes geachtet, es wird kontrolliert, ob das Gebiss in Ordnung ist, ob die Zähne in der richtigen Anzahl vorhanden sind, das zeigt schnell, wenn genetisch was nicht in Ordnung ist. … Dann wird geschaut, was beim Dackel sehr wichtig ist, nach der Rute, ob alle Wirbel gegeneinander beweglich sind, weil der Dackel mit seinem Körperbau auch ein bisschen anfällig isst, was die Wirbelsäule angeht, ... Dann wird die Anatomie bewertet, auch der Geschlechtstyp, ob man gleich sieht, dass es sich um einen Rüden oder ne Hündin handelt, dann wird ... der Kopf bewertet, die Augen sollten mandelförmig beim Teckel sein, die Ohren sollten anliegen auf Höhe der Augen, (( nicht zu hoch nicht zu niedrig angesetzt sein, … das hat auch alles ne Funktion, also die langen Ohren beim Deckel sind dazu da, dass z.B. unter der Erde die Ohren geschützt sind und keine Erde in die Ohren fallen kann.)) Dann sollte der Deckel einen mittellangen, starken Hals haben, der in einen guten Widerrist übergeht und ((dann ist genau vorgeschrieben, wie die Schulterwinkelung sein sollte, wie die Hinterhandwinklung sein sollte, dass die Vorderpfoten parallel sind, …)) Früher war es so, der typische Dackel hatte diese fürchterlich ausdrehenden Beine, die aussahen wie Rokokostühle oder Chippendale Möbel, das ist nicht gewünscht, der Teckel soll ne parallele Vorhand haben, weil sonst die Arthrose im Alter nicht weit ist.
Atmo aus
Sprecher
Ein Dackel soll also keine krummen, sondern kurze Beine haben. Kurzbeinige Jagdhunde gab es schon im Mittelalter, was auf zeitgenössischen Darstellungen gut belegt ist. "Niederläufig" nennt sie die Fachsprache. Diese Kurzbeinigkeit beruht auf einer Genmutation, die zu der sogenannten Chondrodysplasie führt und auch bei Menschen auftritt. Bei Hunden wurde diese Form der Kleinwüchsigkeit schon vor Jahrhunderten züchterisch genutzt.
Atmo Dackelschau
OT4 Geilen
Es gibt zwei unterschiedliche Formen von Zwergwuchs, so kann man es eigentlich gut erklären. Es gibt den proportionalen und den nichtproportionalen Zwergwuchs. Proportional heißt, die Tiere sind einfach nur kleiner, aber das Verhältnis aller Gliedmaßen bleibt. Z.B haben wir diesen Zwergwuchs beim Chihuahua oder beim Zwergpinscher, der sieht eigentlich aus wie so ein Bonsai-Dobermann, sage ich jetzt mal. Ja, der Teckel ist ja zwar klein, aber unheimlich knochenstark. Und diese Knochenstärke rührt daher, dass die Knochen sich nur verkürzen, die werden so ein bisschen schaufelförmig und haben aber die gleiche Stärke wie von einem großen Hund.
Atmo aus
Sprecherin
Die Verkürzung der Knochen betrifft also nur die Gliedmaßen, während der Leib des Hundes normal groß bleibt. Nicht nur Dackel haben kurze Beine, es gibt noch andere Rassen mit diesem Merkmal. Man denke nur an den aus dem Disneyfilm "Aristocats" bekannten Basset namens Lafayette oder die bei der englischen Queen besonders beliebten "Welsh Corgies". Englische Basset Hounds sind wesentlich massiger als Dackel und dienten in einer Meute als Jagdhunde, Welsh Corgies gehören zur Gruppe der Hütehunde.
ATMO Jagdhunde
Sprecher
Kurzbeinigkeit vererbt sich dominant und führt, jetzt wieder im Fall des Dackels, zu kräftigen, aber niedrigen Hunden mit schmalem Brustkorb, die in früheren Zeiten äußerst nützlich für die sogenannte Baujagd waren. Deshalb gelten Dackel, ähnlich wie manche Terrierrassen, als Erdhunde. Die Vierbeiner sollten in die engen Röhren der Fuchs- oder Dachsbaue eindringen, sich unter der Erde an die Verfolgung der Bewohner machen, den Dachs oder Fuchs stellen und so laut bellen, dass man ihn draußen hören und orten konnte. Daraufhin gruben die Jäger an der richtigen Stelle, befreiten den Dackel und erschossen Dachs oder Fuchs.
Sprecherin
Die Jagdliteratur des 19. Jahrhunderts geizt nicht mit der Beschreibung heroischer Szenen bei der Konfrontation eines Dackels mit einem Dachs.
MUSIK Luminosity (privat)
ATMO Jagd und Dackelgeheul
Das folgende Zitat stammt aus dem Buch "Niederjagd" des fränkischen Försters und Jägers Karl Emil Dietzel. Mehrere Jäger umstehen einen Dachsbau, im dem bereits ein Hund namens "Bergmann" unterwegs ist. Sie haben begonnen, Dackel und Dachs auszugraben und lauschen bang auf einen Laut des Hundes.
Zitat Dietzel
Da hört man auf einmal ganz deutlich und näher, als man zu hoffen gewagt, den tapferen "Bergmann". Und triumphierend, ja, fast die Furcht der Zweifler ein wenig verhöhnend, blickt der Jäger um sich und kann es sich nicht versagen, unter die Befehle, die er erteilt, Worte des Lobes für seinen Hund zu mischen. … Immer deutlicher wird "Bergmann" gehört, und öftere Schmerzenslaute des Angreifers lassen schließen, dass der Kampf sehr heiß sei. Kann auch der Jäger in diesem Augenblick keine tätige Hilfe leisten, so ist er doch bemüht, durch Zuruf den Gegner seines Schützlings zu schrecken und den Mut des Hundes aufs Höchste anzuspornen.
Sprecherin
Diese Baujagd war also gefährlich für den Hund, denn gerade Dachse sind wehrhafte Tiere, die den sie verfolgenden Dackel sogar eingraben können, in der Jägersprache heißt es "verklüften", sodass der Hund sich nicht aus eigener Kraft befreien kann. Ein Dackel muss im Dachsbau sehr selbstständig handeln und Entscheidungen treffen, Herrchen oder Frauchen können ihm nicht beistehen. Daher rühren auch heute noch die berühmte Eigensinnigkeit und das Selbstbewusstsein des Dackels.
Musik aus
Sprecher
Die Baujagd wird in Deutschland praktisch nicht mehr betrieben. Aber immer noch gilt der Dackel als Jagdhund und wird nach wie vor auf seine Jagdtauglichkeit hin gezüchtet. So auch Antek.
Atmo: Antek quietscht
Sprecher
… dieser schwarz-braune normalgroße Rauhaardackel mit dem hellen Bart.
Sprecherin
Er hat die Besucherin freudig schwanzwedelnd begrüßt und sitzt jetzt neben seinem Besitzer Arno Blin auf dem Ledersofa. Der Rentner ist Jäger und ehemaliger Dorfschullehrer in der Niederlausitz. Antek ist sein vierter Dackel und jetzt acht Jahre alt.
OT5 Blin
Als Jagdhund würden ihn viele ablehnen, weil er keine Schärfe hat … er geht ja immer hin und freut sich und macht, aber dafür wo ich ihn brauche, nachsuchen, das macht er. Hier werden ja häufig Schweine gejagt, und wir sagen der Hund, wenn er nachsuchen soll, wird am Anschuss angesetzt. Der Anschuss ist die Stelle, wo das Wild beschossen wurde und im Normalfall ist auch irgendwas zu sehen, entweder Schweiß, also Blutspritzer, oder Haare von der Schwarte … Dann findet er mit seiner Nase raus, wo das kranke Stück hin ist, das kriegt er mit und er findet das auch … Er bellt nur, er gibt nur Laut am lebenden Stück. Am toten nicht. Aber ich lasse ihn suchen, und dann rufe ich ihn zurück, und wenn er zurückkommt, mache ich ihn an die Leine, und dann führt er uns hin.
Sprecherin
Antek hat nie einen Dachs- oder Fuchsbau von innen gesehen. Dafür fehlt ihm die Schärfe, sagt Herr Blin, sprich, Antek ist kein Angreifer und legt keinen Wert auf gefährliche Zweikämpfe. Aber er hat eine sehr gute Spürnase. Generell sind Dackel für alle Aufgaben gut zu brauchen, bei denen ein feiner Geruchssinn nötig ist, meint die Züchterin Cyprienne Geilen:
OT6 Geilen
Der Dackel ist ein ein spurlauter Jäger, das heißt, das, was man dem Dackel nachsagt, dass er sehr gerne bellt, das ist auch gewünscht. … er sieht nichts, er riecht es, und er gibt daraufhin Laut. Und dann weiß der Jäger, aha, er hat eine Spur. … Das ist ein ganz spezieller Laut, also die Jäger sagen dazu „Jiffen“, das unterscheidet sich vom Bellen. Man merkt ob der Hund auf ner Fährte oder ner Spur ist, oder ob er einfach so bellt.
Sprecher
Nur eine Minderheit aller Dackel ist aktuell noch als Jagdhund im Einsatz, die meisten leben, wie ihre Besitzer, in Großstädten und viele in Etagenwohnungen. Deshalb suchen Hundefreunde nach neuen Herausforderungen für ihren Vierbeiner.
Schlägt man einen modernen Dackel-Ratgeber gleich welchen Verlages auf, finden sich vielfältige Tipps, wie man seinem Dackel zu einem abwechslungsreichen Leben verhelfen kann.
Der Deutsche Teckel Klub bietet eine Begleithundeausbildung mit anschließender Prüfung an, ferner gibt es Hindernisläufe, Dog Dancing, sowie Denk- und Geschicklichkeitsspiele. Was empfiehlt die Züchterin Cyprienne Geilen?
OT7 Geilen
An Tagen, wo der Besitzer nicht so viel Zeit hat, ist der Teckel auch ein ganz ruhiger Hausgenosse, aber natürlich muss man ihm viel Auslastung anbieten. ((Im Wald, oder mit Spiel oder mit viel Kopfarbeit, ich sage mal, er verträgt sehr viel,)) ich kann drei Stunden mit meinen Hunden laufen, da sind die kein Stück müde. Aber … wenn mal ein Tag dabei ist, wo es nur die Runde um den Block ist, verträgt es der Deckel auch, aber er möchte am Wochenende durch den Grunewald oder irgendwo anders durch den Wald und mal ein zwei Stunden ausgelastet sein.
MUSIK Cloak and Dagger
ATMO Hundelaufen
Sprecherin
Abgeraten wird von allen Aktivitäten, bei denen der Dackel hochspringen oder sich lange auf den Hinterbeinen aufrichten muss. Denn weil diese Hunderasse einen verhältnismäßig langen Rücken hat, sollte alles vermieden werden, was zu Wirbelsäulenschäden führen kann. Auch Treppensteigen bekommt dem Dackel nicht gut. Deshalb sollte man ihn besser tragen, auf dem Arm oder in einer Tasche. Und auch zu dick sollte er nicht werden – kein Dackel sollte aussehen wie eine dralle Wurst auf Beinen.
Musik aus
Atmo aus
Dieses leider allzu verbreitete Übergewicht hat ihm übrigens im Englischen den Spottnamen "sausage dog" eingetragen. Im schlimmsten Fall kann es durch einen Bandscheibenvorfall zur sogenannten Dackellähme kommen. An dieser Krankheit, die übrigens nicht nur Dackel, sondern auch Pekinesen und Zwergpudel befällt, litt auch "Lump", wohl einer der berühmtesten Dackel der Welt.
Sprecher
Lump, ein hirschroter Kurzhaardackel, kam 1956 in Stuttgart zur Welt. Dort erwarb ihn der amerikanische Fotograf David Douglas Duncan, der vor allem als Kriegsfotograf berühmt wurde.
Lump sollte seiner Afghanen-Hündin Gesellschaft leisten, aber die beiden vertrugen sich ganz und gar nicht. Ein Jahr später nahm Duncan den Dackel mit auf Besuch zu seinem Freund Pablo Picasso nach Südfrankreich. Der Maler lebte in dem verwunschenen Landsitz "La Californie" mit seiner Frau Jaqueline, einer Ziege, einem Boxerhund und mehreren Vögeln. Bei Lumps Ankunft dort geschah etwas Erstaunliches. Auf der Stelle entschied der Hund, so beschreibt es jedenfalls Duncan in seinem Buch "Picasso und Lump", dass er bei Picasso einziehen wollte, und der Maler verliebte sich in den kurzbeinigen, lustigen Dackel. David Douglas Duncan hat das Zusammenleben der beiden auf vielen Fotos dokumentiert. Lump saß auf Picassos Schoß, leckte seinen Teller ab, warf ihm ein Steinchen vor die Füße und animierte ihn zum Spiel, sah ihm stundenlang beim Malen zu. Und Picasso verewigte den Dackel auf Zeichnungen und Gemälden. Sechs Jahre lang lebte Lump in dem geheimnisvollen und chaotischen Haushalt, liebte Jaqueline, verehrte Picasso, durchstreifte jeden Winkel von La Californie und habe, so schreibt Duncan, nie das Wort "Nein" gehört.
Sprecherin
Lump war offenbar die Freundlichkeit auf vier Beinen, von seiner Erziehung ist bei Duncan nicht die Rede, möglicherweise hat sie einfach nicht stattgefunden. Arno Blins Antek hingegen ist wohlerzogen und lässt sich genüsslich von den Besuchern kraulen. Als Dorfschullehrer, der neben der Schule lebte, brauchte Herr Blin einen menschenfreundlichen Hund. Man solle die Dackel nur ihr Leben lang gut behandeln, meint er:
OT8 Blin
Man muss mit den Hunden Geduld haben, man muss im Laufe der Jahre auch so ich würde mal sagen, einen gewissen Hundeverstand entwickeln. Ein Problem bei den Hunden ist unbedingt, dass sich Mensch und Hund nicht verstehen, und wenn dann der Zweibeiner ungeduldig wird und den Hund anbrüllt oder ihn gar bestraft, dann wird der Hund kopfscheu, und weiß nicht, was er machen soll.
Sprecherin
Picassos Lump jedenfalls war alles andere als scheu. Wann der Kontakt zwischen Herr und Hund abriss, ist nicht überliefert. Der Hund starb im Frühjahr 1973, zehn Tage vor Picasso, allerdings lebten die beiden damals schon lange nicht mehr unter einem Dach. David Duncan hatte den Dackel bei einem späteren Besuch vermisst und die Antwort erhalten, er befinde sich zurzeit in der Obhut eines Tierarztes; Lump sei erkrankt, er könne seine Hinterbeine nicht mehr bewegen. Der französische Tierarzt hatte ihn aufgegeben, irreversible Lähmung lautete die niederschmetternde Diagnose. Der Fotograf wollte sich damit nicht abfinden und brachte Lump zu einem Spezialisten in Stuttgart, der den Dackel rettete. Fortan sei er zwar gelaufen "wie ein betrunkener Matrose", berichtet Duncan, habe sich aber noch zehn weitere Jahre seines Lebens gefreut und starb mit 17 Jahren. Dackel können sehr alt werden.
Sprecher
Lump ist nicht der einzige Dackel, der mit einer Berühmtheit unter einem Dach lebte und lebt. Die Liste ist lang, angefangen mit Napoleon Bonaparte, der gleich mehrere dieser Hunde besaß, mit denen er auf verschiedenen Gemälden verewigt wurde. "Napoleon" ist in Frankreich ein sehr beliebter Dackelname, dort heißt die Rasse übrigens "teckel". Auch Kaiser Wilhelm, Andy Warhol und John Wayne waren Dackelnarren, heute schmückt sich die Sängerin Adèle mit einem hirschroten kurzhaarigen "dachshund". Besonders populär sind Dackel in Japan, dort schätzt man vor allem die langhaarigen.
Zur Fußballweltmeisterschaft 2006 war es einigen deutschen Zeitungen eine Meldung wert, dass der Langhaardackel "Erwin Rommel", Maskottchen der japanischen Nationalelf, keinen Zutritt zu den Spielen hatte. Allerdings nicht wegen seines bizarren Namens, sondern wegen eines allgemeinen Tierverbots in den Stadien.
Sprecherin
Schon bei den Olympischen Sommerspielen in München 1972 gab es ein, allerdings nicht lebendiges, Dackel-Maskottchen namens "Waldi". Als hellgrün, gelb und rosa gestreiftes Stofftier war er das erste offizielle olympische Merchandising-Produkt. Auf der Website des Olympischen Komitees wird dazu angemerkt, man habe ihn ausgewählt, weil es sich dabei um einen besonders bayrischen und bodenständigen Hund handele. Zur selben Zeit nickten in bundesdeutschen Autos zig-tausende "Wackeldackel" mit den Köpfen, vorzugsweise auf der Hutablage eines Ford Taunus, neben einer in Zylinderform bunt umhäkelten Toilettenpapierrolle.
Sprecher
2007 wurde über das Aussterben der Dackel orakelt, weil immer weniger Welpen geboren wurden. Davon kann heute keine Rede mehr sein.
ATMO Cafè
Im Berliner Szenebezirk Neukölln gibt es sogar eine Teckelbar. Der Dackel ist, wie andere Hunderassen auch, der Mode unterworfen. War in den siebziger Jahren eher der Langhaardackel beliebt, so erlebt heute der Kurzhaardackel ein Comeback. Züchterin Cyprienne Geilen sieht das mit gemischten Gefühlen. Sein Image als Alte-Damen- und Jägerhund allerdings sei der Dackel endgültig losgeworden:
OT9 Geilen
Wenn man auf Ausstellungen geht, das sind dann oft so Schickimicki Leute, da sind auch viele homosexuelle Paare, die Hunde züchten, auch wirklich sehr viele, muss man sagen, … Dann gibt es den typischen Jäger, der gerne sich zum Schnitzelessen verabredet und danach ne Runde durch den Wald dreht, mit seinem Hund, ähm, da gibts ganz junge Leute, da gibts ganz alte Leute, die seit 100 Jahren Dackel haben, und irgendwie schon den zehnten und immer noch dran hängen und wahrscheinlich das weitergegeben haben in ihrer Familie, also da gibt es ganz unterschiedliche Leute, da gibts wirklich nichts, was es nicht gibt, … Also mein Bruder läuft mit dem Dackel durch Moabit und trägt den typischen Urban-Samurai Haarschnitt, der trägt immer seinen Hund in der Tasche durch die Gegend da, …
ATMO Jagd Wald
Sprecherin
Tatsächlich hat ein Dackel ein praktisches Format, man kann ihn auf dem Arm tragen und, wie Cyprienne Geilens Bruder, in einer Tasche durch die Großstadt transportieren. Oder man steckt ihn in einen warm gefütterten Dackelsack, am besten sogar zusammen mit anderen Artgenossen. So halten es auch die Jäger, wenn sie ihren kleinen Begleitern im Wald eine Pause gönnen wollen. Im Dackelsack fühlt der Dackel sich wohl, denn er wurde ja ursprünglich als Erdhund für die Baujagd gezüchtet. Also hat er keine Angst vor der Dunkelheit.
Atmo aus
'Schoßhunde‘, heute auch Gesellschaftshunde genannt, haben eine lange Geschichte. Sie wurden rein zur Freude und Unterhaltung des Adels und der Königshäuser gezüchtet und waren nicht selten kostbare Statussymbole. Heute sind sie beliebte Begleithunde, ideal geeignet für ein Leben in der Stadt. Autorin: Fiona Rachel Fischer
Credits
Autorin dieser Folge: Fiona Rachel Fischer
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Thomas Birnstiel, Katja Schild
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Seán Williams (historischer Berater dieser Folge), School of Languages and Cultures an der University of Sheffield;
Dr. phil. Kelsey Granger, Sinologin, Gastwissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilians-Universität
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Literaturtipps:
Seán Williams: „Dogged by controversy – our relationship with canines through the ages“, in: The Guardian (2. April 2023):
EXTERNER LINK | https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2023/apr/02/dogged-by-controversy-our-relationship-with-canines-through-the-ages (zuletzt abgerufen am 17.10.2023).
Kelsey Granger: „The History of (Lap)dogs in China“, in: www.royalasiaticsociety.org (veröffentlicht 2023):
EXTERNER LINK | https://royalasiaticsociety.org/the-history-of-lapdogs-in-china-post-by-2023-staunton-prize-winner-dr-kelsey-granger/ (zuletzt abgerufen am 17.10.2023).
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Atmo: Hund
SPRECHER:
Manchmal passen sie in Handtaschen.
SPRECHERIN:
Manchmal schieben wir sie in kinderwagenähnlichen Gefährten herum.
SPRECHER:
Manchmal schmücken wir sie mit Schleifchen und Mäntelchen.
SPRECHERIN:
Man mische eine Mini-Prise Wolf mit ganz viel Niedlichkeit und … herauskommt:
SPRECHER:
Der Schoßhund!
SPRECHERIN:
Der kleine Liebling der Elite.
Atmo: freudiges Bellen hecheln, Pfiff, Jagdgeräusche …
SPRECHERIN:
Moment mal! Zuallererst einmal sind Hunde wehrhafte Jäger!
SPRECHER:
Stimmt! Und genau an diesem Punkt beginnt die Jahrtausende alte Beziehung zwischen dem Menschen und dem Vorfahren des Hundes, dem Wolf. Es gibt verschiedene Hypothesen dazu, wie die ersten Annäherungen aussahen. Vielleicht überließ der omnivore Homo Sapiens in einer kalten Eiszeitnacht dem karnivoren Wolf das für ihn schlecht verdauliche proteinreiche, magere Fleisch und band ihn so an sich. Vielleicht zog er bewusst kleine Wolfsjunge auf oder rettete verletzte Tiere, um sie für die Jagd trainieren zu können.
SPRECHERIN:
Fest steht: Der Kontakt wurde immer enger. Schon vor 19.000 bis 32.000 Jahren haben im prähistorischen Europa Menschen mit den angehenden Hunden zusammengearbeitet, wie eine Forschungsgruppe an der Universität Turku in Finnland per Genanalyse festgestellt hat. Die Tiere unterstützten die Jäger und warnten vor Gefahren. Dafür bekamen sie ihren Anteil von der erlegten Beute. Die Annäherung des Wolfes an den Menschen, seine Zähmung und die Entwicklung zum Hund – das ist eine Geschichte der Urzeit.
SPRECHER:
Im Laufe der jahrhundertelangen Nähe zum Hund, fängt der Mensch an, den Hund nach seinen Bedürfnissen zu formen und gewisse Eigenschaften in ihm zu fördern, die ihm nützlich erscheinen. Größe, Fellbeschaffenheit, Farbe und Charakter.
Der Mensch macht sich die Instinkte und Fähigkeiten des Hundes zu Nutze und setzt ihn bei der Jagd, zum Bewachen und zum Beschützen ein.
SPRECHERIN:
Mit der Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft kommt jedoch noch ein anderer Aspekt hinzu: Eine wohlhabende Oberschicht mit viel Prestigebedürfnis und Zeit kann Hunde nun auch rein zum Vergnügen halten. Solche Hunde haben keine andere Aufgabe, als nett auszusehen und ihre Besitzerin oder ihren Besitzer zu begleiten.
O-TON 1 - Kesley Granger [There´s has been a lot of theories raised]
OV weiblich
Es gibt viele Theorien darüber, warum Menschen Schoßhunde und andere Haustiere halten, denn es existieren widersprüchliche Vorstellungen darüber, ob der Grund dafür beim Tier oder beim Menschen liegt. Ob es sich also um das angeborene Verlangen des Menschen handelt, ein soziales Wesen zu sein, und ob wir als Ausdruck dessen Haustiere halten oder ob es an der Art und Weise liegt, wie das Tier aussieht. Eine bekannte Theorie besagt, dass viele Haustiere oft sehr große Augen, sehr große Ohren und sehr große Köpfe haben – wie ein Baby. Und dieses Aussehen der Tiere, diese Ähnlichkeit mit menschlichen Babys, weckt in uns den Wunsch, das Tier als Haustier zu halten.
SPRECHER:
Dr. Kelsey Granger, Sinologin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München mit Forschungsschwerpunkt auf Haustierhaltung in China, insbesondere von Schoßhunden.
SPRECHERIN:
Der Begriff Schoßhund umfasst alle Hunderassen, die klein und dem Menschen gegenüber freundlich sind.
SPRECHER:
…. die der Mensch nur zu seinem eigenen Amüsement gezüchtet hat.
SPRECHERIN:
Wie Malteser, Pekingese, Mops. … und einige mehr …
O-TON 2 - Seán Williams
Als Tiere sind Schoßhunde natürlich sehr interaktiv. Das heißt, wir behandeln sie immer mehr eigentlich als Menschen. Wir betrachten Sie auch als unsere Freunde. Andererseits sehen sie nicht wie Menschen aus, das heißt, es liegt dann in diesem Tier, vor allem in diesem Haustier, eine Ambiguität.
SPRECHERIN:
Der Historiker Seán Williams von der School of Languages and Cultures an der Universität in Sheffield. Williams hat sich im Rahmen seiner Forschungen zur deutschen und europäischen Kulturgeschichte mit dem Schoßhund in der Moderne beschäftigt.
SPRECHER:
Bereits im Alten Rom sind kleine Schoßhunde bekannt und äußerst beliebt. Sie werden verwöhnt, liebkost und manchmal neben ihren Besitzern bestattet, wie Skelettfunde belegen.
SPRECHERIN:
Im Jahr 2021 untersuchten Wissenschaftler die Überreste eines Hundes aus dem Jahr 169 vor Christus, die im Grab seines Besitzers gefunden wurden, und fanden heraus: das Tier war klein, die Zähne nicht von der Jagd abgenutzt und es muss dem Grabritus nach eine enge Verbindung zu seinem Besitzer gehabt haben. Doch nicht nur das. Es handelt sich auch um eine sehr frühe Züchtung mit sehr kurzer Schnauze, wie wir es später von Möpsen und Bulldoggen kennen.
SPRECHER:
Offensichtlich gab es also bereits im antiken Rom Züchtungen, die rein auf das Vergnügen der wohlhabenderen Menschen abzielten.
SPRECHERIN:
In China, einem Land das später für seine Schoßhunde bekannt sein wird, finden sich erst einige hundert Jahre später die ersten Hinweise auf eine solche Hundehaltung.
O-TON 3 – Kelsey Granger [The first discernible lapdogs we see entered]
OV weiblich
Die ersten erkennbaren Schoßhunde kamen im Jahr 624 nach Christus als politisches Geschenk ins Land. Und sie wurden von dem Seidenstraßenstaat Turfan geschickt. […] Wir wissen also, dass sie von weit her kamen und recht plötzlich in China ankamen. Vor diesem politischen Geschenk gab es keine Beispiele für Schoßhündchen.
SPRECHERIN:
Zur Zeit der Tang-Kaiserdynastie, die vom 7. bis zum 10. Jahrhundert an der Macht ist, reißt sich alles, was Geld und Namen hat, um die neuen Haustiere. Zuvor dienten Hunde nie zur reinen Unterhaltung, jetzt sind sie plötzlich die neuen Lieblinge der Elite.
SPRECHER:
Reguliert wird die Haltung dieser speziellen Hunde nicht und auch über jegliche Sicherheitsbefürchtungen sind sie erhaben. Denn während die normalen ‚Arbeitshunde‘ bei den Zeitgenossen der Tang-Dynastie immer wieder Sorge über Tollwut auslösen und Warnschilder vor beißenden Hunden aufgestellt werden müssen, leben Schoßhunde in einem goldenen Käfig - sozusagen in Quarantäne. Denn sie sind vor allem die Haustiere einer spezifischen Gruppe:
SPRECHERIN:
Den besser gestellten Frauen, die in einem ganz eigenen, abgeschotteten Reich leben.
O-TON 4 (vorher 5) – Kelsey Granger [We know elite women were keeping the lapdogs]
OV weiblich
Wir wissen, dass Frauen der Elite Schoßhunde hielten. Ob andere Frauen ebenfalls solche Hunde hielten, ist nicht klar, aber es steht fest, dass es grundsätzlich überwiegend Frauen waren, die Schoßhunde hielten, was schon ungewöhnlich ist. Wir haben viele verschiedene Kulturgüter, die sich mit Schoßhunden befassen, wir haben Gedichte, wir haben Gemälde, wir haben Geschichten. Es wurden zuvor noch nie Hunde mit Frauen oder Kindern dargestellt.
SPRECHER:
Die Frauen der chinesischen Elite entwickeln eine enge emotionale Verbindung zu ihren Hündchen. Die Damen putzen ihre Lieblinge genauso heraus wie sich selbst – mit Parfüm und Schleifchen.
SPRECHERIN:
Diese Verbindung zwischen der adeligen Frau und ihrem Schoßhund geht sogar über den Tod hinaus, wie die bewegende Geschichte von Madame Lu und ihrem geliebten Schoßhund Huazi – Fleckchen – zeigt. Eines Tages verschwindet das Hündchen und verunglückt tödlich - kurz darauf stirbt auch Madame Lu.
SPRECHER:
Möglicherweise aus Trauer.
SPRECHERIN:
Als sie in die Unterwelt kommt, wird ihr offenbart: Sie sei zu früh gestorben und darf für weitere 12 Jahre in ihr Leben zurückkehren. Auf dem Weg zum Land der Lebenden begegnet sie einer wunderschönen jungen Frau. „Erkennst du mich denn nicht?“, fragt diese. „Ich bin Huazi, dein Hündchen.“ Zum Dank für Madame Lus Güte habe sie ihrer ehemaligen Herrin geholfen, dem verfrühten Tod zu entkommen. Mit einem magischen Zahlendreher macht Huazi aus den 12 noch verbleibenden Lebensjahren nun sogar 21 – im Gegenzug soll ihre ehemalige Herrin die Leiche ihres Hundes suchen und begraben. Madame Lu tut, wie ihr geheißen - und bestattet Huazis Gebeine mit den Grabriten eines Kindes.
SPRECHER:
So will es eine Erzählung aus der Taiping guangji-Sammlung, die halb wahre und halb erfundene Geschichten beinhaltet und Ende des 10. Jahrhunderts fertiggestellt wurde. Sowohl Madame Lu als auch der Ort, an dem Huazis Leiche gefunden wird, sind real. Der Teil mit der Unterwelt, … nun ja.
SPRECHERIN:
Was diese Geschichte zeigt, ist jedoch unbestreitbar: Die adeligen Frauen des frühen Chinas hatten eine intime, geradezu freundschaftliche Beziehung zu ihren Schoßhunden. Eine Verbindung, die Anlass zu Fantasien gibt.
O-TON 5 (vorher 6) – Kelsey Granger [For men, lapdogs and women went together as one image]
OV weiblich
Für Männer bildeten Schoßhündchen und Frauen ein Bild. Es gibt viele Gedichte über Frauen, in denen es oft um Frauen geht, aber eben nicht direkt. In diesen Gedichten sprechen Männer über die weiblichen Bereiche des Hauses, die für sie unzugänglich waren, es sei denn, sie gingen dorthin, um eine Frau zu verführen. So bellen Schoßhündchen, wenn ein Liebhaber am Tor ankommt, ein Schoßhündchen schläft am Fußende eines Bettes, wenn Frischvermählte ihre Hochzeit vollziehen, ein Schoßhündchen ist als Begleiter für einsame Palastfrauen da, die nicht die Gunst des Kaisers hatten. Die Schoßhündchen dienen den Männern sehr wohl als Symbol für alle weiblichen Räume, aber auch als eine Art Parallele zur Frau.
SPRECHER:
Lange Zeit bleiben Schoßhunde eine Sache der Elite, des Adels, der Königshäuser – auch im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa. Die Schönen und Reichen lieben ihre Haustiere. Hunde auf Gemälden in goldenen Galerien sind keine Seltenheit.
SPRECHERIN:
Ende des 18. Jahrhunderts wird die romantische Idee eines Haustiers jedoch langsam zum Massenphänomen.
Atmo Maschinen
Es ist die Zeit der Industrialisierung, die Zeit von Fabriken und Urbanisierung.
SPRECHERIN:
Für viele Bürger sind Haustiere eine letzte Bastion der Natur in der Großstadt. Und zugleich schick, denn immerhin war das Haustierhalten bisher eine Sache des Adels. Ein Statussymbol.
SPRECHER:
In Großbritannien, in Frankreich und im deutschsprachigen Raum werden Schoßhunde immer mehr zu Familienmitgliedern, über alle sozialen Klassen hinweg.
SPRECHERIN:
Schoßhunde kommen immer mehr in Mode. Es beginnt ein wahrer Hype um die Haltung - und um die verschiedenen Rassen, denen bestimmte Charakteristika zugeschrieben werden.
SPRECHER:
Mit den Schoßhund-Rassen jedoch ist das so eine Sache. Manche ursprünglichen Jagdhunde, wie der Pudel, werden auch als nicht arbeitende Haushunde gehalten. Und bei den richtigen Schoßhunden, die ohne eine bestimmte Funktionsfähigkeit gezüchtet worden sind, sind die Rassen oft nur schwer auf ihren Zuchtursprung zurückzuverfolgen. Wie zum Beispiel beim Mops, der chinesische Vorfahren hat. Doch die frühe chinesische Hundezucht ist in den historischen Quellen nur schwer zu greifen:
OV weiblich:
Das ist also das wirklich Schwierige an Rassen, denn heute sprechen wir natürlich von Rassen, sprechen wir vom Mops und vom Pekingesen. Das Problem ist, dass in den Quellen nicht von Möpsen und Pekingesen die Rede ist, sondern nur von Hunden, sodass es wirklich schwierig ist, bestimmte Arten zu unterscheiden.
Ich glaube nicht, dass es eine sehr klare Abgrenzung zwischen Möpsen und Pekingesen sowie Shih Tzus und all diesen anderen Hunderassen gab. Sie sahen wahrscheinlich nicht einmal so verschieden aus, wie sie es heute tun. Heute unterscheiden sie sich aufgrund der Rassestandards und der Differenzierung der Rassen, das ist eine moderne Erfindung.
SPRECHERIN:
Im Europa des 19. Jahrhunderts aber ist gerade die Rasse der Hunde zu einem Statussymbol geworden. Der Mops beispielsweise steht beinahe sinnbildlich für die schicken Gesellschaften aus vergangenen Zeiten: Im 18. Jahrhundert gibt es Mops-Gesellschaften, dekorative Mopsfigürchen, Mops-Mythen …
SPRECHERIN:
… Sogar eine freimaurerische Gesellschaft namens ‚Mopsorden‘ soll ab 1740 für ein paar Jahre in Frankreich existieren, mit Logen im deutschsprachigen Raum und Großmöpsen an der Spitze der Vereinigung. Hier kommt dann wieder eine Mopsfigur ins Spiel, die als Initialisierungsritus auf den Allerwertesten geküsst werden muss.
SPRECHER:
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden Hunde - und vor allem auch Schoßhunde - als Haustiere in Europa immer beliebter. Das schafft zunehmend auch Probleme, da gerade bei ausgesetzten Straßenhunden die damals grassierende Tollwut zur Bedrohung für den Menschen wird.
Das damals gängige Erschießen der streunenden Hunde ist eine Herangehensweise, die mit einem großen Aufschrei aus der hundeliebenden Bevölkerung beantwortet wird.
SPRECHERIN:
Nach der Französischen Revolution kommt im deutschsprachigen Raum außerdem die Sorge auf, dass mit den Immigranten auch ihre Hunde in Massen aus dem Nachbargebiet übersiedeln. In Frankreich sind die Schoßhunde ein Symbol des alten aristokratischen Regimes und wecken Erinnerungen an Marie Antoinettes Luxushündchen.
Den vielen Schoßhunden, die dieser Trend mit sich gebracht hat, muss man nun Herr werden und sucht nach Möglichkeiten, die Haltung zu regulieren. Aus Großbritannien kommt schließlich die Idee der Hundesteuer, die sich schnell weiterverbreitet. Auch Krankenhäuser zur Pflege von erkrankten Haustieren entstehen, um den Lieblingen ein langes und gesundes Leben zu ermöglichen. Ein Produkt des aufklärerischen Feingefühls.
SPRECHER:
Doch zurück in das Land, das in dieser Zeit in Europa berühmt werden wird für seine Schoßhündchen - nach China! 1860, während des zweiten Opiumkrieges, wird der Sommerpalast in China von britischen und französischen Truppen geplündert und zerstört. Dort finden die Soldaten etwas, was zu einem wichtigen Raubgut wird: Schoßhunde.
O-TON 8 (vorher 10) – KELSEY GRANGER [And captain John Hartdone discovers a small dog]
OV weiblich
Kapitän John Hartdone entdeckt im französischen Lager einen kleinen Hund, der aus diesem Palast gestohlen wurde, und schmuggelt ihn den ganzen Weg zurück nach England. Anscheinend hat er in seinem Hut geschlafen. Und der Kapitän präsentiert diesen kleinen Hund Königin Victoria, die ihn „Looty“ nennt, wörtlich „Beute“ oder „Diebesgut“. Sie behält diesen kleinen Hund. Und das ist der Beginn dieses Pekingesen-Hypes.
SPRECHERIN:
So wird eine chinesische Schoßhunderasse zur imperialistischen Trophäe der westlichen Mächte.
SPRECHER:
Pekingesen sind der Qing-Dynastie, die schon seit dem 17. Jahrhundert herrscht, die liebsten Hunde. Angehörige des Hofes berichten von hunderten dieser Schoßhunde, die nur feinstes Futter bekommen und von eigenen Eunuchen bewacht werden. Sie werden in Käfigen durch die Palastgänge gefahren, damit ihre Pfoten den Boden nicht berühren müssen.
SPRECHERIN:
Das alles endet während des zweiten Opiumkrieges mit den einmarschierenden Truppen aus Europa.
SPRECHER:
Fünf weitere Pekingesen werden schließlich in den Ruinen des zerstörten Sommerpalastes gefunden und nach England gebracht. Ihre kaiserliche Herkunft macht sie zum perfekten Souvenir aus dem verlorenen alten China, das schon lange in Europa romantisiert wird.
O-TON 9 (vorher 11) – KELSEY GRANGER [The problem is especially in China]
OV weiblich:
Das Problem besteht insbesondere in China darin, dass wir scheinbar zwei unterschiedliche Zeiträume für die Schoßhund Haltung haben. Wir haben diesen Trend in der Tang-Dynastie, wo Frauen die Schoßhunde lieben und Kinder mit ihnen spielen. Und dann verschwinden diese Haustiere irgendwie und wir verlieren sie für Jahrhunderte aus den Augen. Doch dann tauchen sie im späten 18. Jahrhundert am Hof der Kaiserinwitwe Cixi wieder auf.
SPRECHER:
Dennoch verfassen zahlreiche europäische Hundeliebhaber Historien, in denen sie die Geschichte verschiedener Schoßhunderassen jahrhundertelang zurückverfolgen. Denn was ist wertvoller als kaiserliche Hunde aus China?
SPRECHERIN:
Kaiserliche Hunde aus China mit einer langen Ahnenreihe.
SPRECHER:
Und die wenigen Hunde, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Europa gelangen, sind der Grundstock für die Zucht der exotischen Hunde aus China. Bis sie eine völlig eigene Rasse sind – die Pekingesen wie wir sie heute kennen.
SPRECHERIN:
Mit dem Ersten Weltkrieg im 20. Jahrhundert brechen ein katastrophaler Krieg und ein Umsturz nach dem anderen über Menschen und Hunde gleichermaßen herein. Die Situation vieler Menschen verändert sich. Der Wohlstand, der die Haltung von Schoßhunden bedingt, bröckelt.
SPRECHER:
Hinzu kommt, dass Prestigedenken und das Bedürfnis nach Statussymbolen vielerorts von sozialistischen Werten verdrängt werden. In der Sowjetunion gibt es kein Verständnis für Schoßhunde und Haustiere im Allgemeinen mehr; sie gelten nur noch als überflüssige Fresser, die nichts für ihren eigenen Lebensunterhalt beitragen.
Und auch in China ändert sich die Situation für die kleinen Hunde grundlegend: Im Maoismus stehen Schoßhunde für das alte China, aus dessen Fesseln man sich befreien will.
SPRECHERIN:
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lassen in Großbritannien tausende Londoner ihre Lieblinge töten, um sie vorsorglich vor dem kommenden Kriegsleid zu bewahren. Den Schrecken des Fliegeralarms und hungernde Hunde zwischen zerbombten Häusern, diesen Gedanken können viele Besitzer nicht ertragen.
Auch in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit, können viele Menschen ihre Vierbeiner beim Aufbau der zertrümmerten Städte nicht mehr gebrauchen.
Erst mit dem Aufschwung nach der Nachkriegszeit können es sich immer mehr Menschen wieder leisten, einen Hund als häuslichen Gefährten zu halten.
SPRECHER:
Und es entstehen neue Trends und Moden bei den Haushunden: ein kleiner Hund, der ursprünglich rein zur Jagd und nicht als Schoßhund gezüchtet wurde, erobert die Herzen der Menschen und ist aus Großstädten wie München oder Berlin und nicht mehr wegzudenken: der Dackel.
Atmo Dackel
O-TON 10 (vorher 12) – SEÁN WILLIAMS:
Dann im zwanzigsten Jahrhundert war das eine Erfolgsgeschichte, dass der Dachshund dann Pop wurde und dann mit Andy Warhol und alle anderen, Adele hat auch einen Dackel, dass der Dackel dann irgendwie poppig wurde und ein Bild vom harmlosen, coolen Deutschland, dass man dann so Hipster werden kann aus Berlin mit einem Dackel.
SPRECHERIN:
Heute ist der Hund mit etwa 10 Millionen Tieren ein äußerst beliebtes Haustier in Deutschland. Viele ehemalige Jagdhunderassen finden Eingang in das Herz der Familie und werden als „Gesellschaftshunde“ gehalten. Auch wenn sie vielleicht nicht besonders klein, besonders kuschelig oder besonders süß sind.
SPRECHER:
Seit einigen Jahren gibt es aber eine bedenkliche Entwicklung, was die Zucht gerade von Schoßhunden betrifft: in Form und Größe werden sie immer mehr verändert – was zu zahlreichen gesundheitlichen Problemen führt. Ein relativ neuer Zuchttrend ist der sogenannte ‚Teacup-Hund‘, der, wie der Name schon sagt, mit seinen gerade einmal 20 Zentimetern Größe in eine Teetasse passen soll.
SPRECHERIN:
Zu kurze, platte Schnauzen wie bei Mops und Französischer Bulldogge führen zu gravierenden Atemproblemen; Herzfehler verkürzen das Leben von so manchem überzüchteten Schoßhund. Heute gibt es dazu Verbote und Regulierungen: Seit ein paar Jahren ist es beispielsweise in den Niederlanden verboten, Hunde zu züchten, deren Schnauze kürzer als ein Drittel des Kopfes ist.
SPRECHER:
Der Schoßhund hat eine lange, wechselhafte Geschichte. Auch heute ist er Moden unterworfen, auch heute ist er oft Ausdruck luxuriösen Lebensstils und doch ist er für zahlreiche Menschen ein treuer Begleiter in guten wie in schlechten und einsamen Zeiten. Das Bedürfnis des Menschen nach tierischer Nähe hat sich auch in der Corona-Pandemie gezeigt. Zwischen Homeoffice, Lockdown und Kurzarbeit werden in Deutschland im ersten Pandemiejahr 2020 25 Prozent mehr Hunde als im Vorjahr registriert. Dass nur kurze Zeit nach diesem Hype die Tierheime voller denn je waren … ist eine andere Geschichte.
ATMO Bellen / Kinderlachen
SPRECHERIN:
Eine Sache der Elite sind Schoßhunde schon lange nicht mehr. Im Gegenteil! Kleine Hunde sind oft gut geeignet für ein Leben in der Stadt, sind je nach Rasse ideale Spielgefährten für Kinder und Begleiter für ältere Menschen – doch sie sind trotz ihres oft niedlichen Aussehens und ihrer Größe vor allem eins: Hunde, die ein artgerechtes Leben mit ausrechender Bewegung und Beschäftigung brauchen.
ATMO: Kläffen kleiner Hund
Stress gilt als Ursache für viele körperliche Leiden: Für das Magengeschwür, die Krebserkrankung, für Burn-Out genauso wie für Herzinfarkt. Aber Stress als Auslöser für Krankheiten ist kein neuer Ansatz. (BR 2013) Autorin: Monika Dollinger
Credits
Autorin dieser Folge: Monika Dollinger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Loibl, Hemma Michel
Technik: Susanne Harasim, Claudia Wanschura
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Die Heiratspolitik hat Liselotte von der Pfalz an den Hof von Versailles verschlagen. Über das Leben am Hof von Sonnenkönig Ludwig verfasste sie Zehntausende von heute noch berührenden Briefen an ihre deutsche Verwandtschaft. (BR 2016) Autorin: Prisca Straub
Credits
Autorin dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Axel Wostry, Rahel Comtesse
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
Im Interview:
Prof. Dr. Helen Watanabe-O’Kelly, Kulturwissenschaftlerin, Universität Oxford.
Linktipps:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
Bei Straßburg, an der Grenze zu Frankreich: Eine prächtige Kutsche hält. An Bord - eine hemmungslos heulende Prinzessin. Denn jetzt heißt es Abschied nehmen. Elisabeth Charlotte, genannt Liselotte von der Pfalz, sagt ihrem Vater Lebewohl. Sie wird Kurfürst Karl I. Ludwig und ihre gesamte Familie nie wieder sehen.
SPRECHERIN
Es ist ein herzergreifender Novembertag im Jahr 1671. Die 19-jährige Liselotte ist auf dem Weg nach Frankreich - zu ihrer Trauung: Sie ist an den Hof des Sonnenkönigs verheiratet worden. Und ihr zukünftiger Mann ist kein Geringerer als der Bruder von Ludwig XIV.
MUSIK
SPRECHER
Wie bei politisch arrangierten Hochzeiten üblich, sind sich die Eheleute bisher kein einziges Mal begegnet. Der Heiratsvertrag? Längst unterschrieben! Und ein Ergebnis zäher Verhandlungen: Denn die Pfalz ist ein kleines, von politischen Großmächten umringtes Land. Die Prinzessin aus Heidelberg nach Versailles zu verheiraten - noch dazu für eine vergleichsweise bescheidene Mitgift - das ist ein Kabinettstück der absolutistischen Diplomatie.
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Sie war aus politischen Gründen eine gute Partie. Geld war nicht groß da. Sie heiratete den Bruder von Ludwig XIV., Philippe d'Orléans, und er hätte eigentlich eine höherstehende Prinzessin heiraten können. Aber Ludwig XIV. hatte ein Auge auf die Pfalz. Die er dann auch nachher tatsächlich erobert hatte. Aber aus politischen Gründen war sie ihm angenehm.
SPRECHERIN
Professor Helen Watanabe-O’Kelly ist Kulturwissenschaftlerin. Sie lehrt deutsche Literatur in Oxford. Ihr Spezialgebiet: 'Marrying Cultures'. Dabei geht es um adlige Hochzeitskulturen im europäischen Vergleich.
SPRECHER
Liselotte, die blondgelockte Prinzessin, ist also eine attraktive Bündnispartnerin. Dank der brisanten geografischen Lage der Pfalz als Pufferstaat zwischen Frankreich und den deutschen Fürstentümern. Doch nicht nur das: Ludwig XIV. will seinen verwitweten, jüngeren Bruder Philipp so schnell wie möglich wieder verheiratetet sehen. Der 30-jährige Prinz hat nämlich noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen:
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Man muss auch sagen, dass der Herzog von Orléans, also der Mann von Liselotte, der war schon Witwer. Der hatte Töchter gezeugt, keinen Sohn. Er brauchte einen Sohn. Er brauchte eine also Ehefrau, um einen Sohn zu haben. (lacht) Und er war schwul! Also es war nicht zu erwarten, dass er 18 Kinder in die Welt setzt.
MUSIK
SPRECHERIN:
Die Staatsraison hat also entschieden. Da helfen jetzt auch keine Tränen! So überquert die Kutsche die Grenze nach Frankreich - Liselotte verliert ihr Land, ihren Hof, ihre Vertrauten - und ihren Glauben. Denn die Prinzessin muss sogar zum Katholizismus übertreten. Schmerzvoll für die Calvinistin, doch auch darauf kann das Arrangement keine Rücksicht nehmen. Helen Watanabe-O’Kelly:
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Sie war dazu da, um der Dynastie ihres Ehemannes ihren Körper zur Verfügung zu stellen. Das war ihre Hauptpflicht und bestand darin, männliche Erben auf die Welt zu bringen. Sie wusste das von klein auf. Sie hoffte auch, dass das vielleicht kein brutaler Trinker wäre oder eben ein Mann - 50 Jahre älter! Aber andere Gründe wogen dann immer schwerer.
MUSIK
SPRECHER
Auf den ersten Blick kann Liselotte sich glücklich schätzen: Der Herzog von Orléans ist nur gut zehn Jahre älter als sie selbst - und steht durchaus nicht im Ruf, ein Grobian zu sein. Im Gegenteil:
SPRECHERIN
Der kleine, rundliche Mann, der so hohe Schuhe trägt, dass er wie auf Stelzen läuft, ist liebenswürdig und elegant. Herausgeputzt mit Schminke, Puder, Armbändern und Schleifen …
SPRECHER
Und Philippes Homosexualität?
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Sie hat das mit Sicherheit nicht gewusst. Ich weiß auch nicht, ob ihr Vater das gewusst hat. Es scheint, dass es sie auch nicht so sehr gestört hatte – also die Homosexualität an sich.
MUSIK
ZITATORIN
Er hat zwar keine Neigung zu Frauen. Aber wir vertragen uns gar wohl!
SPRECHER
Ein anderes Mal klagt sie allerdings:
ZITATORIN
Monsieurs Leben finde ich so übel nicht, nur ist ihm nichts zu teuer für die Burschen!
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Was sie sehr gestört hatte, das war, war, dass ihr Mann seine Liebhaber viel höher schätzte als er sie schätzte - und ihnen unglaubliche Summen geschenkt hatte: Juwelen und, und, und – alles Mögliche.
SPRECHER
Trotzdem unterm Strich:
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Die ersten zehn Jahre oder so, die waren gar nicht so schlimm.
SPRECHER
Bald stellt sich nämlich ein Arrangement ein, mit dem Liselotte glänzend zurecht kommt:
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Madame, wie sie immer am französischen Hof genannt wurde, war dankbar, dass sie nicht mehr mit ihm schlafen musste, nachdem sie drei Kinder auf die Welt gebracht hatte. Der Ehemann hat zu ihr gesagt: 'Wollen wir jetzt nicht 'lit à part', also, getrennte Betten, getrennte Schlafzimmer? Und sie sagte sich: 'Gott sei Dank!' Sex genießen war für die arme Madame gar nicht drin! Es kann sein, mit einem ganz anderen Mann wäre das für sie anders gewesen.
SPRECHERIN
Ein eigener Liebhaber? Undenkbar für Liselotte! Nach der Königin ist sie als Schwägerin von Ludwig XIV. die zweite Frau im Königreich. Also, es bleibt dabei: Nach drei Kindern - getrennte Schlafzimmer. Mit 25 Jahren.
MUSIK
ZITATORIN
Wenn man Jungfer wieder kann werden, nachdem man in neunzehn Jahren nicht bei sein Mann geschlafen hat, so bin ich es gar gewiss wieder.
SPRECHER
Monsieur und Madame gehen auch tagsüber zumeist getrennte Wege:
SPRECHERIN
Er liebt rauschende Feste, sie das Reiten. Er hat eine Schwäche für Juwelen, sie für die Jagd. Er mag Musik, Tanz und ganz besonders das Glücksspiel, sie ihre Bibliothek und Spaziergänge bei jedem Wetter. Die prunkvollen Toiletten ihres Gemahls sind so gar nicht nach Liselottes Geschmack. Sie scheut sogar den Aufwand, sich Locken drehen lassen. Macht aber nichts, sagt Helen Watanabe-O’Kelly:
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Die Vorstellungen damals von Liebe zwischen Mann und Frau waren anders: Gegenseitig Respekt, gegenseitig durchaus Zuneigung. Und man hatte auch nicht so sehr getrennt zwischen öffentlich und privat. Das ist auch eine Sache vom Ende des 18. ins 19. Jh. Die private, intime Sphäre und die öffentliche Sphäre, nein! Das war eigentlich alles öffentlich: Man gebar seine Kinder öffentlich. Am Hof von Ludwig XIV. beim Lever: Er stand auf, zog sein Nachthemd aus, stand nackt da, bekam dann seine Kleidungsstücke gereicht, hat sich angezogen. Ich glaube, wenn man Ludwig XIV. gefragt hätte: 'Ja, privat, was machen Sie privat?' Hätte er gesagt: 'Privat? Ich bin da, um gesehen zu werden!'
MUSIK
SPRECHER
Ludwig XIV. findet Gefallen an der pfälzischen Außenseiterin, die sagt, was sie denkt, laut in der Messe lacht und sich kategorisch weigert, von den Leibärzten des Königs zur Ader gelassen zu werden. Die neue Madame mit ihrem lebhaften Wesen und dem erfrischenden Witz bringt Schwung in die stickigen Appartements.
SPRECHERIN
Es sind glänzende Jahre am Hof von Versailles - Molière führt seine Komödien auf, Racine seine Tragödien. Lully schwingt den Taktstock und täglich wird eine Oper aufgeführt - oder zumindest ein Cembalo-Konzert.
SPRECHER
Liselotte führt ein aufregendes, aber auch ein streng reglementiertes Leben. Ihr bleibt nicht das Geringste verborgen: Weder die Amouren ihres eigenen Mannes, noch die des Königs: Mit Madame de Montespan, seiner offiziellen Mätresse, hat der König acht Kinder! Und all die unzähligen Geliebten und Favoritinnen - sogar von Liselottes Ehrenjungfern kann der König nicht die Finger lassen. Doch Liselotte ist diplomatisch und klug genug, sich niemals einzumischen.
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Ein Hof, das war ein absoluter Hexenkessel von Geflüster. Alle haben alles gewusst, sofort! Also dass man etwas hätte geheim hätte halten können, das wäre sehr, sehr schwierig gewesen. Ludwig XIV. hat sie offensichtlich gemocht. Und sie kamen sehr gut miteinander aus. Und das war ein großes Glück für sie, dass so ein wichtiger Mensch, um den der ganze Hof kreiste, dass er sie mochte und sie eigentlich auch beschützte.
MUSIK
ZITATORIN
Ich gehe fast alle Tage mit dem König auf die Jagd. Und vorgestern hat er mir ein über die Maßen schönes Pferd verehret.
SPRECHERIN
Bei einem Unfall auf einem Ausritt kümmert sich der König sogar höchstpersönlich um Liselottes Blessuren:
ZITATORIN
Der König war selber der erste bey mir, so bleich wie der Todt. Und ob ich ihm versicherte, dass mir gar kein Wehe gethan undt nicht auf den Kopff gefallen were, so hatt er doch keine Ruhe gehabt, biss er mir selber den Kopff auff alle Seitten visirt undt endtlich funden, dass ich ihm wahr gesagt hatte. Hatt mich selber hir in mein Cammer geführt undt ist noch etlich Zeitt bey mir blieben, umb zu sehen, ob ich auffs wenigst nicht taumblich were.
SPRECHER
Ihre ersten zehn Jahre bei Hofe - bis etwa 1680 - im Rückblick werden sie Liselottes beste und heiterste Jahre gewesen sein.
SPRECHERIN
Woher die Nachwelt so genau Bescheid weiß (MUSIK ENDE)? Die deutsche Prinzessin am Hof des Sonnenkönigs führt eine ausführliche Korrespondenz. Schon in jungen Jahren ist Liselotte (MUSIK) eine eifrige Briefeschreiberin. Doch was sie als ältere und schließlich als alte Dame täglich zu Papier bringt, stellt alles in den Schatten:
SPRECHER
Liselotte schreibt von morgens bis abends. In ihrer großen, etwas ungelenken Schrift füllt sie Seite um Seite - und schläft nicht selten über ihrem Briefpapier ein. Rund 60.000 Briefe hat sie verfasst - erhalten geblieben ist davon rund ein Zehntel.
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Die Fürstin hatte erstmals viele zeremonielle Briefe zu schreiben. Man gratulierte zu Geburtstagen, zu Namenstagen, zur Genesung von Krankheiten, zu Hochzeiten. Man hat Kondolenzbriefe geschrieben, das gehörte dazu. Und man hat geschrieben an Personen, die man nie kennengelernt hatte. Und dann gab es dann mehr so persönliche Briefe an Menschen, die man wirklich kannte. An Personen aus der näheren Familie. Also für Liselotte war das mit Sicherheit ein Ventil. Heutzutage hätte sie vielleicht wahnsinnig viel telefoniert. Manchmal sagt sie, also sie schreibt sie in einem Brief, sie hat angefangen: 'Oh ich muss jetzt weg, weil grade Abendessen ist!' Und dann kommt sie zurück und sagt: 'So, das war das Abendessen, ich schreibe jetzt weiter!' (lacht) Das war wie: 'Ich ruf Dich in einer halben Stunde an!'. Und das war wirklich ein Ventil für Emotionen, für Gefühle.
MUSIK
SPRECHERIN
Denn Liselotte ist einsam. Inzwischen muss man sagen. Denn nach 1680 sind ihre Aktien gefallen. Ihr Stern ist am Sinken. Ein Grund dafür: Die zahlreichen Günstlinge ihres Gatten haben begriffen, wie viel leichter es ist, Monsieur auszunehmen, wenn man den Einfluss von Madame beschneidet. Und das tun sie. Ganz gezielt.
SPRECHER
In offenherzigen und immer öfter auch verdrießlich und scharfzüngigen Briefen beschwert sich Liselotte über die "Cabale", deren Opfer sie jetzt wird. Verleumdung, Intrigen und Lügen bringen ihre exklusive Position beim König ins Wanken. Man macht sich lustig über ihre Kleidung, ihren Akzent. Ihr Ehemann, der Herzog, unternimmt nichts, um das Geschwätz zu stoppen.
ZITATORIN
Die Cabale macht mir so viele Runzeln, dass ich das ganze Gesicht voll davon habe!
SPRECHER
Die Intrigen sind ein Dauerthema.
ZITATORIN
Trost habe ich von nöthen, denn Ich bin wider so leünisch wie ein alter Hundt!
SPRECHER
Und dann auch das noch! Liselotte begeht den Fehler ihres Lebens:
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Nach dem Tod der Königin im Jahr 1683 sagt Ludwig XIV. sich endgültig los von Madame de Montespan. Die neue Favoritin heißt Madame de Maintenon. Die stets in Schwarz gekleidete Erzieherin seiner Kinder wird seine letzte offizielle Maitresse und sogar heimliche Ehefrau. Die skandalöse, weil ungleiche Verbindung sorgt für Kopfschütteln in ganz Europa. Doch für Liselotte ist die höfische Karriere von Madame de Maintenton schlimmer als alle blutsaugenden Günstlinge Monsieurs zusammen. Die Oxforder Kulturwissenschaftlerin Helen Watanabe-O’Kelly:
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Eine Bürgerliche! Unmöglich für Liselotte! Eine bürgerliche Witwe, die Witwe Scarron, die Hofmeisterin seiner unehelichen Kinder war, und die dann zu seiner zweiten Ehefrau wurde! Und wenn Liselotte nur hätte über ihren eigenen Schatten springen können und sagen können: 'Ist mir egal, dass sie eine Bürgerliche ist! Sie ist eigentlich eine gute Lebensgefährtin für den König!', und hätte die Maintenon zu ihrer Freundin gemacht, die zweite Hälfte ihres Lebens wäre ganz anders gewesen! Aber das konnte sie nicht.
MUSIK
ZITATORIN
Dieser Mausdreck! Der Teufel in der Hölle könnte nicht schlimmer sein!
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Wie sie über sie redet, das ist doch furchtbar! Zottel und Vettel und Hexe und Sack! Wirklich geschimpft - und hat sie regelrecht gehasst. Und das einzige, was eine Prinzessin hatte, war ihre Geburt, ihr Geblüt. Das haben die alle gehütet wie der Schatz, den sie überhaupt hatten. Man hat die Heimat verloren. Man hat den Vater, die Mutter nie wieder gesehen, den Bruder wahrscheinlich auch nicht. Man durfte Personal von zu Hause also ganz wenig mitnehmen. Man war in einer fremden Umgebung, hat eine fremde Sprache gesprochen. Und das einzige, was man selber hatte, was man nicht wegnehmen konnte, das war: 'Ich bin geboren als die und die und die!' Für Liselotte: 'Ich bin die Enkelin von der Winterkönigin! Ich bin aus der Sippe des englischen Königshauses! Ich bin verwandt mit …!' Und dann kommt diese Bürgerliche!
SPRECHER
Wäre sie ein politischer Kopf gewesen, Liselotte hätte sich wohl ganz anders verhalten.
MUSIK
SPRECHERIN
Ganz besonders unangenehm für Liselotte wird es, als man sie damit konfrontiert, dass ihre Briefe abgefangen werden.
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Häufig hat man auch Briefe geschrieben an eine Cousine, im sicheren Wissen - und das war auch gewollt - dass diese Briefe vorgelesen wurden im Kreis der Freundinnen, im Kreis der vielleicht Damen, Hofdamen dieser Cousine. Aber es gab dann das sogenannte schwarze Kabinett, 'le cabinet noir', wie Bundesnachrichtendienst. also man hat die Briefe sorgfältig aufgemacht, und den Siegellack schmelzen lassen und konnte das alles lesen, kopieren und dann wieder zumachen und dann dem Adressaten zustellen. Also ich weiß nicht, inwiefern sie wirklich bewusst war, dass der König sehr gut unterrichtet ist, wie sie schreibt über zum Beispiel Madame de Maintenon.
MUSIK
SPRECHER
Liselottes Schmach ist perfekt, als Madame de Maintenon die pikantesten Verwünschungen aus ihren Briefen öffentlich zum Besten gibt. Es kommt zu einer tränenreichen Aussprache: Liselotte muss sich bei der verabscheuungswürdigen Bürgerlichen entschuldigen.
SPRECHERIN
So herrscht Waffenstillstand bis zum Tod Ludwigs im Jahr 1715. Doch Freundinnen werden die beiden Frauen nie. Als die Maintenon vier Jahre später ebenfalls stirbt, macht Liselotte keinen Hehl aus ihrer Genugtuung:
ZITATORIN
Die alte Schrump ist verreckt!
SPRECHER
Doch bevor sie diese Prüfung überstanden hat, muss Liselotte eine noch viel ärgere Qual überstehen: Nach dem Tod ihres Vaters und Bruders lässt Ludwig XIV. zu den Waffen greifen: 1688 wird das Land ihrer Kindheit zerstört.
ZITATORIN
Niedergebrannt mit Stumpf und Stiel.
SPRECHERIN
Die Verwüstungen, die die französische Armee in der rheinischen Pfalz anrichtet, sind verheerend. Das Heidelberger Schloss wird in die Luft gejagt, das Land - systematisch dem Erdboden gleichgemacht.
SPRECHER
Liselotte kann nichts unternehmen, um ihren Landsleuten zur Hilfe zu eilen. Im Gegenteil: Seine Ansprüche auf die Pfalz begründet der König ausgerechnet mit seiner Verwandtschaft zu ihr.
ZITATORIN
Ich bin sozusagen meines Vaterlands Untergang!
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Das war für sie ein furchtbares Schicksal! Dass ihr Land, ihre geliebte Pfalz - Heidelberg liebte sie so sehr! - dass das zerstört wird, und zwar von dem Hof, an dem sie war! Aber diese geteilten Loyalitäten, das hatten sehr viele fürstliche Gemahlinnen. Also die eigene Dynastie lag einem am Herzen, und man musste sich identifizieren mit der Dynastie des Ehemanns. Und das war manchmal sehr schwierig!
MUSIK
SPRECHERIN
Als 1701 ihr Ehemann stirbt, ist Liselottes Schicksal mal wieder ungewiss. Wohin soll sie sich wenden? Etwa zurück in die Pfalz?
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Das Schloss in Heidelberg? Ruinen! Das war unglaublich! Mannheim! Der Krieg hatte so gewütet! Und man muss auch denken, sie war gar nicht wohlhabend auch. O.k., Ludwig XIV. hat sie dann gerettet. Ganz wichtig für jede fürstliche Gemahlin war der Heiratskontrakt. Der Ehevertrag. Da wurde festgelegt, was die Mitgift war. Und die Mitgift wurde dann investiert, um diese Zeit als Witwe zu finanzieren. Und bei ihr war das alles, alles gar nicht so genau. Und dann natürlich hat ihr Ehemann Unsummen verschlungen. Weggeben an seine Geliebten. Und es gab eine Zeit, wo sie wirklich gefürchtet hatte, arm zu sein. Und Ludwig XIV. hat ihr geholfen und dann ihr Sohn. Aber wohin hätte sie gehen können? Sie wollte auch nicht in ein Kloster. Das war auch ein Vorschlag. Nachdem sie Witwe wurde, und da hat sie gesagt: 'Also ich geh doch nicht in ein Kloster!' Das wäre für sie auch der lebende Tod gewesen.
MUSIK
SPRECHER
Liselotte bleibt also am französischen Hof bis an ihr Lebensende - gut 20 Jahre später - 1722 - da ist sie 70 Jahre alt. Sie hat nahezu alle Mitglieder der königlichen Familie überlebt. Und seit Kurzem sind ihre Aktien wieder gestiegen.
MUSIK ENDE
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Ludwig XIV. hatte vier Generationen von Nachkommen, die alle vor ihm weggestorben sind. Und dann der kleine Ludwig XV. wurde dann zu seinem Nachfolger. Aber man brauchte einen Regenten, und das war dann der lebende Sohn von Liselotte und von Monsieur, also von dem Herzog von Orléans.
MUSIK
SPRECHERIN
Philipp II. von Orléans wird also Regent für den noch unmündigen König Ludwig XV. Und damit ist Madame, die Mutter des Regenten, plötzlich erste Dame im Staat. Doch Liselotte konnte sich noch nie für Politik begeistern. Und nie war ihr die Staatsraison gleichgültiger als jetzt:
ZITATORIN
Ich bin alt. Ich habe Ruhe vonnöten. Frauen in meinem Alter knirschen und knarzen an allen Ecken und Enden. Mein Sohn - Gottlob! - hat Verstand, die Sache ohne mich auszuführen.
SPRECHER
Liselotte wendet sich jetzt ausschließlich ihrer Korrespondenz zu. Manchmal sind es zehn Briefe am Tag. Sie liefert unschätzbare Einblicke in das Alltagsleben des höfischen Absolutismus - die fulminante Briefchronistin hinterlässt ein einmaliges Vermächtnis! Die Oxforder Kulturwissenschaftlerin Helen Watanabe-O’Kelly:
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Unschätzbar! Und das war eine kluge Frau! Früher hat man sie ganz falsch gesehen. Man hat gedacht, ach ja, das ist so ein ungehobeltes Wesen irgendwie aus der deutschen Provinz. Überhaupt nicht so! Was ich an ihr sehr bewundere, das ist dieser Mut: 'Ich gebe nicht auf! Ich habe weiterzuleben, bis Gott mich zu ihm ruft. Das war so die Haltung. Und diese Beharrlichkeit, und diesen Mut und dieses Durchhaltevermögen: also getrennte Ehefrau, Witwe, und dann Mutter des Regenten von Frankreich! Alle sterben vor ihr weg quasi: (lacht) Vater, Bruder, Halbbruder, Karl Lutz, der erste kleine Sohn. Und sie sagt: 'Gottes Wille, ich muss es ertragen!'
SPRECHERIN
Ertragen konnte sie es, weil sie nicht nur am Hof, sondern auch in der Welt ihrer Korrespondenz leben konnte. Liselotte von der Pfalz ist eine der größten Briefschriftstellerinnen überhaupt und gilt Historikern heute als beste Quelle für Ungeschminktes aus Versailles.
ZITATORIN
Madame sein, ist ein ellendes [sic!] Handwerk!
O-TON Helen Watanabe-O’Kelly
Wenn sie vielleicht eine Bürgerliche gewesen wäre, hätten wir vielleicht eine begnadete Romanschriftstellerin gehabt!
Mit Rassismus, Antisemitismus und esoterisch-okkulten Ideen vergiften völkische Gruppen schon Anfang des 20. Jahrhunderts die Atmosphäre in München. Sie machen Bayern zum Nährboden für den Aufstieg der Nationalsozialisten. (BR 2021) Autoren: Simon Demmelhuber & Volker Eklhofer
Credits
Autor/in dieser Folge: Simon Demmelhuber, Volker Eklkofer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Hemma Michel, Andreas Dirscherl
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Jörn Retterarth, Institut für Zeitgeschichte München
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Literaturtipps:
Priester, Karin. Rassismus. Eine Sozialgeschichte. Leipzig [Reclam Verlag] 2003.
Puschner, Uwe u.a. Hrsg. Handbuch zur völkischen Bewegung. [De Gruyter Saur] 2012.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
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ATMO: HOCHRUFE, KAISERHYMNE
MUSIK: „Heil Dir im Siegeskranz“ - C1002080 005 (0:35)
ZITATOR
An das deutsche Volk!
ATMO: HOCHRUFE, KAISERHYMNE
Nachdem die Deutschen Fürsten und freien Städte den Ruf an Uns gerichtet haben, mit Herstellung des Deutschen Reiches die seit mehr denn 60 Jahren ruhende Deutsche Kaiserwürde zu erneuern, bekunden wir hiermit, diesem Rufe Folge zu leisten.
ERZÄHLERIN
Am 18. Januar 1871 wird Wilhelm I. deutscher Kaiser, die Nation ist geeint.
ATMO: HOCHRUFE
ERZÄHLER
Ein Reich haben sie jetzt, die Deutschen. Aber ein deutsches Volk, sind sie das wirklich? Oder doch nur 25 deutsche Staaten, die ihr Zweckbündnis imperial aufdonnern?
ERZÄHLERIN
National empfinden die wenigsten der 41 Millionen Reichsbürger. Man ist Untertan eines souveränen Landesherrn, denkt und fühlt regional. Das deutsche Volk? - Muss seine Reichsidentität erst finden.
ERZÄHLER
Dazu braucht es gemeinsames Erinnern und Erzählen. Ohne ein stets neu inszeniertes kollektives Kulturgedächtnis gibt es kein Nationalbewusstsein.
MUSIK „Forgive me“ Z8009312 118 (0:30)
und
MUSIK „Thannhäuser“ - SC 020840205 (1:00)
ERZÄHLERIN
Die Suche nach dem Eigenen und Einenden deutscher Identität führt zu den Germanen. Schon die Humanisten hatten die historisch schwer fassbaren Stämme als deutsches Urvolk reklamiert, wobei sie sich auf die Germania des Tacitus beriefen. Zur Zeit der Aufklärung gilt die Vorstellung einer gemeinsamen germanischen Wurzel deutscher und nordischer Völker als ausgemacht; im 19. Jahrhundert schießt sie heftig ins Kraut. Nun weben Germanenkundler aus nordischen Sagen und Göttergeschichten, aus Grabungs- und Textfunden einen Herkunftsmythos. Das junge Reich soll in Sachen Tradition und Bedeutsamkeit auf Augenhöhe mit den Nachbarn gehoben werden. Dass es ein gemeinsames Wurzelvolk aller Deutschen nie gab, was tut's? National begeisterte Fest- und Kanzelreden, Schriften und Schulbücher schmieden dem Reich eine trutzige Vergangenheit. Richard Wagners Opern liefern den Soundtrack des wilhelminischen Germanenkults, Künstler malen, Architekten bauen und Schriftsteller beschwören ihn.
MUSIK aus
ERZÄHLER
Hörnerhelme, Speere, wagalaweia, hoiotoho - das ließe sich wegschmunzeln, wäre da nicht …
ERZÄHLERIN
… die Verknüpfung des Germanenglaubens mit rassistischem Gedankengut. Erste Versuche, Menschen anhand ihrer Hautfarbe, Schädel- und Ohrenformen in angeblich unterschiedlich wertvolle Rassen zu gliedern, unternimmt die Frühaufklärung. Mitte des 19. Jahrhunderts sind diese Vorstellungen im Bürgertum fest verankert. Menschen werden nun nicht mehr nach ihrer Religion, ihrem Stand, ihrer Herkunft unterschieden, sondern nach ihrem vermeintlich rassischen Potenzial. Das bleibt nicht folgenlos.
ERZÄHLER
Zwischen 1853 und 1855 legt der Franzose Joseph Arthur de Gobineau ein Werk vor, das die Menschheitsgeschichte als Kampf ungleicher Rassen darstellt.
ZITATOR
Essai sur l'inégalité des races humaines - Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen
ERZÄHLERIN
Rasse ist für Gobineau der Schlüssel des Geschichtsverständnisses. Kultur- und zivilisationsschaffend ist für ihn jedoch nur die weiße, arische Rasse, der auch Griechen, Römer und Germanen angehören. Degeneration sei unvermeidlich gewesen, sobald sich arisches Blut mit dem gelber und schwarzer Rassen vermischt habe.
Einzig die Germanen hätten ihr Blut bislang rein bewahrt.
ERZÄHLER
Solche Theorien liebt der politische Zeitgeist! Dem Kolonialismus verschaffen sie die Rechtfertigung für Raub und Unterdrückung; dem deutschen Nationalismus verleihen sie mächtigen Aufwind.
ERZÄHLERIN
Noch für die Generation, der Schiller und Goethe angehören, ist der Nationalstaat eine befremdliche Vorstellung, die das Dichtergespann spöttisch verwirft:
ZITATOR/IN
Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens.
Bildet, ihr könnt es, dafür freier als Menschen euch aus.
ERZÄHLER
Doch mit den napoleonischen Kriegen, dem Untergang des Alten Reichs und den Befreiungskämpfen wird der Ruf nach einem wehrhaften Nationalstaat immer lauter. Obwohl die Einheitsbewegung antifranzösisch geprägt ist, bleibt die nationale Idee zunächst vorwiegend bürgerlich-liberal und demokratisch grundiert. Erst im Letzten Viertel des Jahrhunderts erfährt der Nationalismus eine militant-aggressive, im Kern rassistische Übersteigerung.
ERZÄHLERIN
Aber was löst diese unheilvolle Wendung aus?
MUSIK „Paraphrasen“ – R0016380W03 (0:20)
ERZÄHLER
Eine fatale Weiche stellt die Finanzkrise der 1870er Jahre. Der gemeinsame Sieg, das neue Kaiserreich, fünf Reparationsmilliarden aus Frankreich, all das löst einen überhitzten Gründerboom aus: Tausende neuer Aktiengesellschaften und kreditfinanzierter Unternehmen entstehen, die Kurse steigen, die Umsätze explodieren, alles auf Pump, was kostet die Welt? Im Sommer 1873 ist die Party zu Ende. Erst kollabiert der österreichische Kapitalmarkt, dann wackelt die Berliner Börse. Angst geht um, Geld wird knapp und teuer. Mit dem Konsum sinkt die Produktion, Entlassungen und Lohnkürzungen folgen, Firmen gehen Pleite, zahllose Haushalte sind überschuldet, Offenbarungseide, Selbstmorde, Tragödien häufen sich. MUSIK „Paraphrasen“ – R0016380W03 (0:22)
ERZÄHLERIN
Wie konnte es so weit kommen?
ZITATOR
"Die Juden sind unser Unglück!"
ERZÄHLER
Davon ist nicht nur der Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke überzeugt, diese Ansicht teilen jetzt immer mehr Wutbürger des Kaiserreichs. Antisemitismus gibt es in Deutschland seit Jahrhunderten. Doch was nun passiert, entfesselt rasenden Hass und hysterische Schuldzuweisungen. Den Anfang machen akademische Hetzer wie Treitschke oder der Orientalist Paul de Lagarde.
Beide verschmelzen antisemitische Affekte, Krisenängste, Germanenmystik und Rassentheorie. In ihrem Gefolge entsteht ab den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts eine Weltanschauung, die den Volksbegriff grundlegend neu interpretiert - unter Berufung auf Darwins Evolutionstheorie und die Vererbungslehren anderer Forscher. Was diese Sichtweise so folgenschwer macht, erläutert der Historiker Jörn Retterath vom Institut für Zeitgeschichte München:
01 O-Ton Retterath 1
Jetzt kommt hinzu, dass mit den Erkenntnissen der Biologie, mit dem aufkommenden Rassismus, dieses „Volk“ zunehmend biologistisch, rassistisch gedeutet wird. Rassen- und Erblehre sind Anknüpfungspunkte an wissenschaftliche Erkenntnisse, die radikal weitergedacht werden im Sinne einer biologischen Konstruktion von Volk und Nation.
ERZÄHLERIN
Volk meint jetzt zunehmend Blutgemeinschaft. Weil im Blut die Geistesart, das Wesen und die uralte, ewige Volkseele der Rasse angelegt sei, erzwinge es eine arteigene Organisation des „Volkskörpers“. Diesem zugleich mystischen und konkreten Volk gehört man nicht per Rechtsakt, sondern durch Abstammung an. Werde dieses Bluterbe geschwächt, sei das Verderben des ganzen Volks unausweichlich.
MUSIK „Paraphrasen“ – R0016380W03 (0:22)
ERZÄHLER
Genau das geschehe seit Jahrtausenden, behaupten rassistische Pamphlete: Blutfremde Aggressoren würden das Mark des deutschen Volks zersetzen und seine Vernichtung planen.
ZITATOR
"Die Juden sind unser Unglück!"
ERZÄHLERIN
Als blutfremd gelten alle Strömungen der Moderne: Demokratie, Sozialismus, Frauen- und Juden-Emanzipation. All diese vermeintlich undeutschen Tendenzen haben für antisemitische Meinungsmacher nur ein Ziel: die Vernichtung der Volksseele durch einen kalten hebräischen Intellektualismus, artfremde Glaubensformen und den Kult des Hässlichen in der Kunst.
ERZÄHLER
Rettung liegt für die selbsternannten Bewahrer eines wahrhaft germanischen Volkstums allein im Arteigenen: Deutsche Kunst, Deutsche Wissenschaft, Deutsche Politik, Deutsche Bildung, Deutsches Christentum!
ZITATOR
Zurück zu den heidnischen Germanen durch Reinigung des Volkskörpers von artfremden Menschen und eine Reinigung der Volksseele von artfremder Religion und Kultur…
ERZÄHLERIN
…fordert um 1900 der völkische Autor Julius Langbehn und ist damit nicht allein. Die Jahrhundertwende bringt ein unüberschaubares Gefilz von Gruppierungen hervor, die sich als völkisch begreifen und bezeichnen. Die meisten sind kurzlebig, agieren sektenhaft, befehden und spalten sich oder fusionieren.
Manche erneuern die Religion, manche nur Kleidung und Kost. Einige verehren Freyja und Wodan, einige wollen Jesus arisieren, andere streben zurück zur gesunden Lebensweise der Ahnen und gründen völkische Siedlungen. Alles, um die germanische Seele aus ihrer zweitausendjährigen Knechtschaft zu lösen.
ERZÄHLER
Obwohl sie durch Fluten von Zeitschriften, Broschüren, Flugblättern lautstark auf sich aufmerksam machen, eine Massenbewegung sind die Völkischen nicht. Ihr harter Kern wird auf gut 10.000 Aktivisten und etliche zehntausend Anhänger geschätzt. Aber die Strömung ist hoch aktiv, im protestantischen Bürgertum fest verankert und hat ein missionarisches Sendungsbewusstsein.
ERZÄHLERIN
So widersprüchlich und zersplittert die Streubewegung auch ist, eine Grundüberzeugung teilen alle Gruppen: eine rassistische Volksidee als Kern einer alarmistischen Kultur- und Gesellschaftsanalyse. Die Erzählung vom genetisch angegriffenen Volk liefert Erklärungen und Begründungszusammenhänge für die Krisen und Zerfallssymptome der Gegenwart. Plötzlich scheint diesen Gruppen eine unverständlich gewordene Welt klar durchschaubar, plötzlich macht alles Sinn. Solche völkisch-antisemitischen Deutungsmuster machen das Chaos der Moderne vordergründig beherrschbar, meint Jörg Retterath.
02 O-TON RETTERATH 2
Die Juden werden schon seit dem Mittelalter immer wieder dann zu Sündenböcken gemacht, wenn es zu Krisen kommt, zu gesellschaftlichen Krisen. Und das ist im 19. Jahrhundert nicht anders. Juden werden verantwortlich gemacht für die Wirtschaftskrisen.
Dahinter ist auch schon im 19. Jahrhundert eine Verschwörungstheorie zu sehen. Man stellt sich vor, dass die Juden überall dahinterstecken, dass die Juden die Arier, das deutsche Volk, übermannen wollen.
ERZÄHLER
Um die Jahrhundertwende holen die Völkischen aus zum Rundumschlag gegen den "demokratisierenden, nivellierenden Ungeist des Jahrhunderts", wie sie es nennen. Sie stürmen gegen alles, was der bürgerlichen Kultur das Behagliche und Vertraute austreibt.
ZITATOR
Die janze Richtung passt uns nicht.
ERZÄHLERIN
….poltert Berlins Polizeipräsident Bernhard von Richthofen. Der Kaiser pflichtet bei, das Bürgertum applaudiert.
03 O-TON RETTERATH 3
Diese völkische Bewegung ist eine Bewegung, die sich gegen die Moderne richtet. Es ist eine Rückbesinnung auf das Volk, geht einher mit einer Abschottung, mit einer Abgrenzung und vor allem auch mit einer Unzufriedenheit mit dem Status quo.
ERZÄHLER
…sagt Jörn Retterath vom Institut für Zeitgeschichte München.
ERZÄHLERIN
Aus der Menge völkischer Organisationen ragen zwei etwa zeitgleiche Gründungen hervor.
1894 ruft der Journalist Friedrich Lange in Berlin den "Deutschbund" ins Leben, eine entschieden rassistische, vehement antisemitische, antidemokratische und sozialistenfeindliche Bewegung, die rasch Ableger sät. Das Aggressionspotential der Gruppe entlarvt ein Plan, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg fordert, was im NS-Staat grausame Wirklichkeit wird: Rassenzucht und Rassensäuberung.
ERZÄHLER
Die weitaus größte, lauteste und wirksamste völkische Gruppierung des Kaiserreichs ist der 1891 in Berlin gegründete Alldeutsche Verband. Mit dem Kampfruf "Deutschland den Deutschen“ blasen die Radikalnationalisten zur Abwehr der vorgeblichen "jüdischen Gefahr", fordern ein Verbot jüdischer Zuwanderung und den Ausschluss ansässiger Juden von Ämtern und Bürgerrechten. Trotz ihrer zeitweise 50.000 Mitglieder bleiben die Alldeutschen ein elitärer Honoratiorenbund, aber sie nehmen starken Einfluss auf öffentliche Meinungsbildner und politische Entscheidungsträger.
ERZÄHLERIN
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist die völkische Bewegung vor allem in protestantischen, früh industrialisierten Reichsgebieten aktiv, in den mehrheitlich katholisch und agrarisch geprägten Regionen gewinnt sie zunächst kaum Boden. Das gilt auch für Bayern. Obwohl die Alldeutschen hier bereits vor der Jahrhundertwende vier Ortsgruppen gründen, bleiben sie ein städtisches Phänomen und sind auf dem Land lange als kriegstreibende Stänkerer verschrien.
ERZÄHLER
Trotzdem ist judenfeindliches Denken auch im Königreich verbreitet. Ende 1891 entsteht in München als erste antisemitische politische Gruppierung der "Deutsch-Soziale Verein“, der sich zwei Jahre später "Antisemitische Volkspartei" nennt. In Franken versucht der "Deutsch-soziale Reform-Verein Nürnberg" judenfeindliche Händler und Handwerker anzusprechen. Noch aber sind die Völkischen in Bayern und vor allem in München eine Randerscheinung, wie Jörg Retterath erklärt:
04 O-TON RETTERATH 4
München ist eine stark katholisch geprägte Stadt, es gibt eine starke Sozialdemokratie, es gibt eine Frauenbewegung, es gibt liberales Denken, das ist wesentlich heterogener als wir vielleicht annehmen können.
MUSIK „Isarmärchen“ CD780000 008 (0:55)
ERZÄHLERIN
Um die Jahrhundertwende gibt sich die Kunstmetropole gemütlich und "leschär". Die Biergärten sind voll, die Ausstellungen üppig, die Konzerte schwungvoll. Der Prinzregent lächelt, Maler- und Dichterfürsten halten Hof, das Bürgertum flaniert und die Avantgardisten der Schwabinger Bohème proben die Zukunft. „Schwabing ist kein Ort, sondern ein Zustand“, …meint die Szene-Literatin Franziska Gräfin zu Reventlow, die sich im Sommer gern nackt in der Isar vergnügt.
ERZÄHLER
Die guade oide Zeit! Doch unter dem weißblauen Honoratiorenhimmel gärt es.
Die Industrialisierung krempelt das Agrarland um, München lockt mit Arbeitsplätzen und verdoppelt zwischen 1883 und 1901 seine Einwohnerzahl von 250.000 auf 500.000 Menschen. In schäbigen Mietskasernen haust dicht gepackt das Elend, der Geldadel residiert in immer prächtigeren Villen. Das soziale Gefüge des Königreichs zerfällt, der Ton wird rauer. 1906 gibt es den ersten Toten bei Arbeiterunruhen.
ERZÄHLERIN
Selbst im sorglosen Schwabing wachsen Spannungen und Gegensätze: Viele Literaten radikalisieren sich ultralinks, gleichzeitig schwadronieren rechtselitäre Caféhaus-Philosophen von Germanentum und jüdischer Verschwörung.
MUSIK „Defiliermarsch“ – Z9366578002 – (0:22)
ERZÄHLER
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs vereint die Bayern ein letztes Mal. Am ersten Mobilmachungstag, dem 2. August 1914, jubeln euphorische Massen vor der Münchner Feldherrnhalle. Die Ernüchterung kommt schnell: An den Fronten beginnt das große Sterben, die Heimat leidet unter der von Berlin gesteuerten Kriegswirtschaft. Während Arbeiter und Bauern zunehmend kriegsmüde werden. geben Weltmachtsfantasten aus Adel und Bürgertum schneidige Durchhalteparolen aus.
ATMO: MASSENDEMO
ERZÄHLERIN
Im Herbst 1918 ist der Krieg verloren, rollen Wellen des Aufruhrs durch Deutschland. Demokratie! Frieden! Jetzt! – fordern Demonstranten auch in Bayern. Eine Parlamentsreform soll den Druck aus dem Kessel nehmen. Aber zu spät, mit einer unblutigen Revolution reißt der Linkssozialist Kurt Eisner am 7. November die Macht an sich. Bayern wird Republik, die Monarchie gibt kampflos auf.
ERZÄHLER
Eisners Coup versetzt die bürgerlichen Kreise in Schockstarre. Damit haben sie nicht gerechnet.
ERZÄHLERIN
Als eine der ersten Rechtsgruppierungen erwacht die im August 1918 vom Okkultisten Rudolf von Sobottendorf gegründete völkisch-antisemitische Thule-Gesellschaft aus der nachrevolutionären Betäubung. Der militante Orden erklärt der Eisner-Republik den Krieg, er betreibt Propaganda, späht linke Organisationen aus und beteiligt sich an der Gründung paramilitärischer Freikorps.
MUSIK 7: STRAWINSKY, GESCHICHTE VOM SOLDATEN, TANZ DES TEUFELS
ERZÄHLER
Ministerpräsident Eisner, der Sohn eines jüdischen Fabrikanten, gerät unter Druck. Linksradikale Anhänger des Rätesystems und Befürworter der parlamentarischen Demokratie wollen ihre politische Organisationsform durchsetzen. Eisner entscheidet sich für Parlamentswahlen. Am 12. Januar 1919 ist seine USPD der große Verlierer, er entschließt sich zum Rücktritt.
Auf dem Weg in den Landtag wird er am 21. Februar von Anton Graf von Arco-Valley erschossen, einem Antisemiten aus dem Dunstkreis der Thule-Gesellschaft.
ATMO: SCHUSS, UNRUHE, STIMMENGEWIRR
ERZÄHLERIN
Eisners Tod hinterlässt ein Machtvakuum. Anarchisten um die Schriftsteller Ernst Toller und Erich Mühsam nutzen die Umstände und rufen am 6. April eine "Räterepublik der Dichter" ins Leben. Nach nur einer Woche werden sie von Kommunisten verdrängt. Angeführt von Eugen Leviné, einem in St. Petersburg geborenen Juden, stellen die neuen Machthaber eine Rote Armee auf und versetzen das Münchner Bürgertum mit willkürlichen Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Plünderungen, Enteignungen und Geiselnahmen in Angst und Schrecken.
MUSIK 8: FREIKORPSLIED, STROPHE 2, IN MÜNCHEN ANARCHIE
ERZÄHLER
Levinés Räterepublik ist chancenlos. Bald erobern Freikorps und Reichswehrtruppen die bayerische Hauptstadt. Dem blutigen Terror der Sieger fallen in den ersten Maitagen Hunderte Menschen zum Opfer.
SPRECHERIN
Das ist die Stunde der Völkischen! Sie entfesseln einen Propagandasturm gegen Juden und Linke. Umstürzler wie Eisner, Mühsam, Leviné hätten Bayern verraten - jetzt müsse aufgeräumt werden!
ERZÄHLER
Die Tiraden finden fruchtbaren Boden. Kriegsniederlage, Revolution, und Zwangsmaßnahmen der Roten haben das Bürgertum erbarmungslos gemacht. Eine unverhohlen rechtslastige Justiz verurteilt mehr als 2.000 Frauen und Männer, die revolutionärer Umtriebe beschuldigt werden, zu Haftstrafen. Standgerichte verhängen Todesurteile. Gräueltaten der weißen Truppen bleiben dagegen ungesühnt. sie werden als Retter der Ordnung gefeiert.
05 O-TON RETTERATH 5
Diese Angst im Bürgertum vor dem Kommunismus ist etwas, was vielen in den Knochen steckt und was nun von Seiten der Völkischen für ihre Zwecke verwendet wird.
ERZÄHLERIN
Waren die Völkischen vor der Revolution kaum breitenwirksam, laufen ihnen nun die Anhänger in Scharen zu: gewaltbereite Ex-Soldaten, zornige Intellektuelle, unzufriedene Beamte und Angestellte, Arbeitslose. Jetzt ist auch Schluss mit dem reinen Theoretisieren, jetzt wird gehandelt – auch mit der Waffe in der Hand. Völkische sickern in Freikorps, Kampfbünde und Einwohnerwehren ein.
ERZÄHLER
Nach dem Ende der Räterepublik rückt Bayern immer weiter nach rechts. Ministerpräsident Gustav von Kahr ruft 1920 die „Ordnungszelle“ aus und hat keine Skrupel, mit rechten Milizen zusammenzuarbeiten. ((Die von der - eigentlich prodemokratischen - Bayerischen Volkspartei getragenen Staatsregierungen schaffen in den frühen 20er Jahren aus purer Kommunismusangst ein Klima, in dem völkische Bünde gedeihen. Rechtsradikale aus ganz Deutschland, darunter die Mordkommandos der „Organisation Consul“, entdecken München als Aufmarschraum und werden vom Polizeipräsidenten Ernst Pöhner, einem Alldeutschen, gedeckt. ))
ERZÄHLERIN
Die zunächst bedeutendste ultrarechte Organisation ist der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund. 1919 in Bamberg gegründet, schürt er mit antisemitischen Massenauftritten den Kampf gegen Juden und Republik. Unter dem Hakenkreuz als Vereinsabzeichen sammelt der Bund anfangs der 1920er Jahre rund 180.000 Mitglieder.
ERZÄHLER
Zum neuen, bald unumstrittenen Star der völkischen Bewegung steigt jedoch die NSDAP auf. Adolf Hitler, Vorsitzender seit 1920, versteht es, den Nationalsozialismus als einzig aussichtsreiche Organisation der radikalen Rechten zu etablieren. Mit Erfolg: Ab Mitte der 1920er Jahre ordnen sich die völkischen Gruppierungen nach und nach den Nationalsozialisten unter.
06 O-TON RETTERATH 6
Die NSDAP ist entscheidend dafür, dass aus dieser zersplitterten völkischen Bewegung eine einheitliche, politische Kraft wird. Die NSDAP ist die erfolgreichste Partei innerhalb dieses völkischen Spektrums und dadurch, dass sie zu einer Massenbewegung wird, ist diese Partei sehr schlagkräftig.
ERZÄHLERIN
Völkisches Denken ist die Essenz des Nationalsozialismus, sein rassistischer Marken- und Wesenskern: Führerkult, Judenhass, Nationalismus, die Heiligung der Volksgemeinschaft, alles lag bereit. Hitler musste nur zugreifen, um die Apokalypse zu entfesseln.
ERZÄHLER
70 Millionen Tote, Zerstörung, Elend, Narben bis heute. Was Hitler an die Macht brachte, erzählt Brechts Parabel vom "Aufstieg des Arturo Ui". Sie schließt mit einer noch immer und schon wieder aktuellen Warnung an die Nachgeborenen:
ZITATOR/IN
So was hätt' einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.
Eine Zuflucht für die "arische Rasse": Das sollte Nueva Germania sein, als deutsche Auswanderer den Ort 1886 in Paraguay gründen. Das Projekt scheitert nach wenigen Jahren. Doch der Ort existiert bis heute. Archäologen suchen nun mit Zeitzeugen nach Spuren der einstigen Arier-Kolonie. Autor: Sebastian Kirschner
Credits
Autor dieser Folge: Sebastian Kirschner
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Stefan Merki, Christopher Mann, Rahel Comtesse, Hemma Michel
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Prof. Dr. Natascha Mehler, Archäologin (Universität Tübingen);
Attila Dészi, Archäologe (Universität Tübingen);
Klaus Neumann, geboren und aufgewachsen in Nueva Germania;
Dr. Daniela Kraus, Historikerin und Journalistin (Wien);
Ruth Alison Benitez, Cheftechnikerin der Abteilung für Archäologie des Nationalen Kultursekretariats in Paraguay
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Literaturtipps:
Ben Macintyre: „Vergessenes Vaterland. Auf den Spuren der Elisabeth Nietzsche“. Reclam Leipzig 1994.
Daniela Kraus: „Bernhard und Elisabeth Försters Nueva Germania in Paraguay. Eine antisemitische Utopie“. Doktorarbeit. Universität Wien, 1999.
Julius Klingbeil: „Enthüllungen über die Dr. Bernhard Förster'sche Ansiedelung Neu-Germanien in Paraguay“. Leipzig 1889 (antiquarisch).
Elisabeth Förster-Nietzsche: „Dr. Bernhard Försters Kolonie Neu-Germania in Paraguay“. Berlin 1891 (antiquarisch).
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ATMO Plaza früh
SPRECHER
Ein abgelegener Ort in den Weiten Südamerikas. Es ist nur wenig los auf den Straßen. Vereinzelt ziehen Rinder über die Wege, rot leuchtet der sandige Boden. Schon um neun Uhr morgens brennt die Sonne vom Himmel über Paraguay. Ein Tag wie jeder andere für Don Alfonso – wäre da nicht die Ausgrabung auf seinem Grundstück. Kritisch blickt er jeden Tag hinüber zu den Archäologen. Die Forscher wissen, er will das Ganze endlich hinter sich haben. Es geht ihm nicht nur um sein Gemüse, das dort wächst. Es ist die Vergangenheit, die dem Ort mit dem eigentümlichen Namen zu schaffen macht: Nueva Germania [sprich: Nueva Chermania]. Seine Bewohner wollen nicht länger als Nazis gelten, nur weil etliche von ihnen deutsche Vorfahren haben. Der 72-jährige Klaus Neumann etwa.
ZUSP_01
Uns, die hier geboren sind, von deutscher Abstammung, es wird uns immer wieder gefragt über Nazis. Ich habe als Kind nie, nie eine Hakenkreuzfahne gesehen. Ich glaube, ich bin nicht der einzige aus Nueva Germania. Meiner Ansicht nach ist es gewissermaßen ungerecht.
SPRECHER
Einst gedacht als Zuflucht für eine sogenannte Arische Rasse, hat Nueva Germania den Menschen dort den Ruf von Urwaldgermanen eingebracht. Verschlägt es Besucher hierher, dann oft genau deshalb. Und auch weil es irgendwie kurios ist, so abgelegen auf deutsche Sprache zu stoßen, in einem Land, wo sonst ohne Spanisch rein gar nichts geht. Und nun sind auch noch Archäologen da und spüren dieser Vergangenheit nach.
TRENNER (ab hier Musik düster)
SPRECHER
Nueva Germania 1886, also lange bevor es in Deutschland Nationalsozialisten gab: In diesem Jahr gründet Bernhard Förster die sehr spezielle Siedlung gründet. Zusammen mit seiner Frau Elisabeth Förster-Nietzsche, der Schwester von Philosoph Friedrich Nietzsche. In einer zeitgenössischen Werbeschrift lässt das Ehepaar wissen:
ZITATOR 1
Wir werden eine arische Herrenrasse züchten, hier in den Wäldern Südamerikas. Unser Neu-Germanien wird ewig dauern.
SPRECHER
Schon drei Jahre zuvor hat der glühende Antisemit Förster dafür Paraguay erkundet. Dass er nach einer passenden Gegend für ihre Pläne sucht, hatte man sogar in England registriert. Im Februar 1883 heißt es in der Zeitung „The Times“:
ZITATOR 1
Herr Doktor Förster, einer der Anführer der antisemitischen Bewegung in Deutschland, schüttelte den Staub eines undankbaren Landes von seinen Füßen und verließ mit einer kleinen, aber ergebenen Gruppe von Anhängern Berlin, um sich nach Paraguay einzuschiffen, wo sie ein „neues Deutschland“ gründen wollen, unbeschmutzt von irgendwelchen Nachkommen Abrahams.
SPRECHER
Die österreichische Historikerin und Journalistin Daniela Kraus hat sich intensiv mit Nueva Germania und ihren Gründern beschäftigt. Die Wurzeln für Försters krude Ideen sieht sie in seiner Biographie:
ZUSP_02
Bernhard Förster war ein Gymnasiallehrer, der sich zunehmend radikalisiert hat und hat handgreifliche Streitigkeiten angefangen auch gegen jüdische Mitbürger, was dazu geführt hat, dass er seinen Schuldienst quittieren musste. Das heißt, der war ein bisschen eine gescheiterte Existenz.
SPRECHER
Gleichzeitig kennt und verehrt Förster den Komponisten Richard Wagner – und lernt so auch seine spätere Frau Elisabeth Nietzsche kennen. Die war über ihren innig geliebten Bruder Friedrich, einen engen Freund des Komponisten, in den Kreis der Wagners gerückt:
ZUSP_03
Elisabeth führte ihrem Bruder den Haushalt und ging mit ihm mit, hat den Wagners in Bayreuth eine Zeit lang den Haushalt geführt und hat damit einen gewissen gesellschaftlichen Aufstieg durchgemacht. Und dann begegnet sie diesem ein bisschen versponnenen Bernhard Förster, der mit seinen Ideen und seinen Idealen ihr offensichtlich gefallen hat.
SPRECHER
Ideen, die sich auch aus antisemitischen Gedanken von Wagner speisen. Etwa, dass man das reine Deutschland eigentlich nur irgendwo im Urwald wieder herstellen könne. Förster nimmt das wörtlich: Er und seine Frau locken mit der Aussicht auf paradiesische Zustände in Paraguay. In den Bayreuther Blättern schreibt Elisabeth:
ZITATORIN
Dann sitzen wir im Garten; vor dem Haus und blicken ins Weite. Wiesen von der Abendsonne röthlich vergoldet an beiden Seiten des Flüsschen, von brüllenden Rinderheerden durchzogen, welche zögernd der Viehhürde zuschreiten. Welch friedliches, glückliches Bild bietet das Ganze dar, nichts Fremdartiges, nein, alles deutsch und heimathlich!
SPRECHER
Diese Aussichten fallen in Deutschland auf fruchtbaren Boden.
ZUSP_04
Es gab 1873 den Börsenkrach, es gab Leute, die insgesamt mit der politischen und sozialen Situation unzufrieden waren. Leute, die verarmt waren, die keine ökonomischen Perspektiven in Deutschland sahen und die sich dazu verleiten ließen, Scharlatanen zu glauben, die ihnen dann ein besseres Leben andernorts versprachen.
SPRECHER
Dass das ausgerechnet in Paraguay warten sollte, hatte seinen Grund. Das Land hatte gerade sechs Jahre blutige Kämpfe gegen seine Nachbarn Argentinien, Brasilien und Uruguay hinter sich und stand vor einem Desaster. Paraguay hatte den sogenannten Triple-Allianz-Krieg verloren, und im Zuge dessen mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung.
ZUSP_05
Danach war die Idee, man braucht wieder Leute, man braucht Einwanderer. Deswegen hat Paraguay sehr stark gefördert, die Einwanderung einerseits durch Anwerbungen in Europa und sehr stark auch in Deutschland. und andererseits auch durch den Verkauf von günstigem Land und verschiedene steuerliche Begünstigungen.
SPRECHER
Die Werbung wirkt. Auch deshalb können die Försters schließlich rund 200 deutsche Auswanderer für ihre antisemitischen Kolonialträume mobilisieren.
ZUSP_06
Das waren schon Leute, die diese Ideologie zumindest sympathisch fanden, die auch Aussteiger waren, die Arbeiter waren und Arbeitsplätze verloren haben durch die Industrialisierung. Und die gesagt haben, wir müssen ein neues Leben führen, dass man zurück zum Ursprung muss. Dieser Ursprung impliziert eine völkische Reinheit. Diese Mischung dürfte auf manche Leute sehr attraktiv gewirkt haben.
SPRECHER
Das Problem: Keiner von ihnen kennt sich damit aus, eine solche Kolonie aufzubauen. Kaum einer versteht etwas von Landwirtschaft. Schnell holt die Kolonisten die Realität ein. Ihr neues Zuhause Nueva Germania entpuppt sich als ein von tropischen Krankheiten und Hunger geplagtes Dorf, beschwerliche acht Tagesreisen mit dem Boot flussaufwärts von Asuncion, der Hauptstadt von Paraguay.
ZUSP_07
Dort war im Prinzip Urwald. Das heißt, die mussten dort wirklich das Land urbar machen, die ganze Infrastruktur herstellen. Es war das Klima nicht gut. Es waren wahnsinnig viele Moskitos. Es gab Sandflöhe, es gab Ungeziefer, das die Ernten zerstört hat. Es gab nicht ausreichend sauberes Trinkwasser. Das heißt, die Leute wurden relativ schnell krank. Es war wahnsinnig schwierig.
SPRECHER
Den Försters fällt es zunehmend schwerer, die desaströsen Zustände in Nueva Germania zu verheimlichen – vor neuen Interessenten und ebenso vor Geldgebern. Einer ihrer lautesten Kritiker ist Julius Klingbeil, der 1888 selbst als Auswanderer nach Nueva Germania gekommen ist. Ein Jahr später macht er seinem Ärger über die Zustände vor Ort Luft. Er veröffentlicht ein Buch, das andere warnen soll:
ZITATOR 1
Mögen sich Förster und Genossen noch so sehr abmühen, das Klima Paraguays als ein überaus herrliches zu preisen, jeder redliche Mensch wird mit mir bekennen, dass derartige Behauptungen nur Unwahrheiten und Mittel zum Zwecke sind. Der Doctor Förster führt mit seinen Genossen in Paraguay ein recht bequemes Leben. Seine Arbeit besteht im Nichtsthun, im Abfangen von einwandernden Deutschen in Asuncion und darin, daß er zündende Berichte für Vertrauensselige verfasst.
SPRECHER
Die Folge: Schon nach sieben Jahren, im Jahr 1893, ist das antisemitische Projekt wieder zu Ende: Förster hat längst Selbstmord begangen, seine Frau flieht zurück nach Deutschland.
TRENNER
SPRECHER
Man könnte das Geschichte sein lassen, ein kurzes dunkles Kapitel deutscher Auswanderer. Nur: Der Ort existiert bis heute; und er hadert mit seinen Wurzeln. Ein Ort, wo Menschen wie Don Alfonso die Vergangenheit von Nueva Germania endlich hinter sich lassen wollen. Und wo zugleich die Farben Schwarz-Rot-Gold selbst Mülltonnen und T-Shirts zieren. Warum ist das Dorf damals nicht schnell wieder verschwunden? Ein Ort, dessen kleine Gemeinschaft einst ideologisch darauf basiert hat, sich abzuschotten. Genau das interessiert auch ein Team von Archäologen aus Deutschland, Argentinien und Paraguay.
ZUSP_08
Wieso wandert da jemand im späten 19. Jahrhundert aus nach Paraguay, ohne wirklich da mal gewesen zu sein und ohne wirklich zu wissen, was sie erwartet? Man denkt natürlich immer gleich mal an Überlebensstrategien und Siedlungsbewegungen vor Ort, und das hat mich alles unheimlich fasziniert.
SPRECHER
sagt Projektleiterin Natascha Mehler von der Universität Tübingen.
Bereits 2022 hat sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen dafür anhand alter Pläne die Lage vor Ort sondiert. Ausschau gehalten nach Resten vom angeblich recht herrschaftlichen Hof der Försters:
ZUSP_09
Da gab es in diesem Plan eine klare Fläche, die da eingezeichnet war, und als wir dort vor Ort waren auf diesem großen Grundstück sind wir ihn erst mal abgelaufen. Und haben aber überhaupt nichts davon entdeckt. Und es hat uns doch sehr verwundert, weil die Zeit ist ja noch nicht so weit fortgeschritten zwischen Aufgabe dieses Hofs und heute, also vielleicht 100 Jahre. Und man müsste eigentlich doch noch irgendetwas finden.
SPRECHER
Eine Senke im Terrain, einen Brunnen, einen Ziegelhaufen vielleicht. Hat das Haus der Försters vielleicht doch auf einer ganz anderen Fläche gestanden? Zum Beispiel im alten Ortskern von Nueva Germania, an der sogenannten Plaza?
ZUSP_10
Die Bewohner von Nueva Germania, die erzählen uns, dass hier der Försterhof war, also die sagen es ganz anders, als auf der Karte eingezeichnet ist. Und da gibt es tatsächlich eine Bauruine, da kann man noch Brunnenreste sehen.
TRENNER
ATMO Ausgrabung + Urwald
SPRECHER
Frühjahr 2023. Pinsel legen rote und weiße Fußbodenfliesen frei. Maurerkellen kratzen an Erdprofilen im roten Boden von Paraguay. Die Archäologen ringen sie seit Wochen mühsam der Vegetation und den Moskitoschwärmen ab. Doch sie müssen sich beeilen. Es ist neun Uhr, und die Sonne drückt. Ab Mittag wird es zu heiß sein – oder plötzlich wie aus Eimern regnen. Es herrscht Regenzeit. Und nicht nur das macht den Forschern zu schaffen:
ZUSP_11
Wir müssen die Grabungsmethode anpassen vor Ort, zum einen an die Vorgaben des Grundstücksbesitzers. Er möchte nicht, dass wir seine Ernte hier gefährden. Dann haben wir keine große Technik dabei, weil das mit dem Zoll sich wirklich zu schwierig gestaltet hätte.
SPRECHER
Kein Hightech mit Tachymeter und Laserscan. Stattdessen Ausgraben wie vor Jahrzehnten, mit Nivelliergerät, Maßband und Zeichenblock. Und immer den wachsamen Blick Don Alfonsos im Rücken. Dennoch sind die Wissenschaftler weit gekommen.
ZUSP_12
Wir hatten keine Ahnung, wie groß das wird. Und jetzt stehen wir vor knapp 30 Metern Gebäude mit mehreren Adaptionen und Ergänzungen. Das ist deutlich mehr, als wir erwartet haben von der Größe her.
SPRECHER
sagt Attila Dészi [sprich: Deeschi (sch stimmlos)] von der Universität Tübingen über das, was von dem einstigen Haus noch erhalten ist. Er schwärmt, auch wenn neben ihm ein tiefes Loch in der Erde klafft, das nicht von den Archäologen stammt.
ZUSP_13
Leute denken, dass es hier Gold gäbe, weil einige vermuten, das sei das Haus vom Försterhof gewesen und waren reich natürlich. Entsprechend sieht es aus. Ich weiß nicht, wie groß das ist. Drei Meter?
SPRECHER
Das Haus der Försters? Bislang haben die Archäologen nichts gefunden, was diesen Verdacht weiter erhärtet. Gerade verschafft sich Natascha Mehler einen Überblick über die Fortschritte:
ZUSP_14
Das ist das Haus von einem Herrn Freitag, den wir in den Schriftquellen gut fassen können, der auch eine wichtige Position innehatte hier im Ort. Das sieht man im Prinzip ja auch, dass es ein stattliches Haus ist, mitten an der Plaza.
SPRECHER
Georg Freitag kümmert sich damals um die Küche. Er versorgt Neuankömmlinge in ihren ersten Tagen in der Siedlung. Er ist eine der ersten Anlaufstellen für all die, die ihr Glück fortan in Nueva Germania suchen. Genau das macht die Arbeit hier für Attila Deszi so spannend:
ZUSP_15
Wir wissen ja gar nicht, ob alle, die da mitgekommen sind, das Ganze auch ideologisch unterstützt haben oder einfach gesehen haben, einen neuen Anfang auf der anderen Seite der Welt zu starten.
ZUSP_16
VOICEOVER
Ziel des Projekts ist es, die erste Generation von Menschen aus Deutschland zu verstehen; wie sie sich an den Ort anpassten, die Beziehung zu den Menschen hier in Paraguay
SPRECHER
sagt Ruth Alison Benitez [Aussprache-wav in Digas]. Sie ist archäologische Cheftechnikerin des Nationalen Kultursekretariats in Paraguay. Wie stark haben sich die ersten Siedler an den Ort, die lokale Bevölkerung angepasst? Wie abgegrenzt, oder das gepflegt, was sie für besonders deutsch hielten? So etwas soll die Ausgrabung zeigen. Doch um die erste Siedlungsphase zu erkennen, braucht es Funde, die diese Zeit bestätigen. Bisher haben die Archäologen fast nur Reste späterer Zeit gefunden: Patronenhülsen, Bonbonfolie, Schuhsohlen aus Kunststoff, ein Bild von Papst Johannes Paul II. Entmutigen lassen sich die Wissenschaftler davon aber nicht. Denn verglichen mit Vorgeschichtsforschern haben sie einen Vorteil: Sie erforschen Zeiten, in denen sie ihre Ausgrabung mit Schriftquellen abgleichen und ergänzen können. Und nicht nur das:
ZUSP_17
Jetzt sind wir im späten 19. Jahrhundert, frühen 20. Jahrhundert. Und da haben wir die Chance, dass wir mit der 3., 4. Generation besprechen können, was hier passiert, und das ist auch ein wichtiger Teil der historischen Archäologie.
SPRECHER
Historische Archäologie bezieht Zeitzeugen mit ein. Eine Quelle, von der andere Archäologen in der Regel nur träumen können. Vor einigen Tagen etwa hat eine ältere Dame die Ausgrabung besucht. Sie kannte das einstige Gebäude noch aus ihrer Kindheit, als Georg Freitag hier nicht mehr gewohnt hat, sagt Attila Deszi:
ZUSP_18
Außerhalb ihres Zimmers und des Hauses war ein Gebäude vorgelagert, wo die Tiere geschlachtet worden sind. Und das sei ein Backsteinboden gewesen in diesem Schlachtraum. Und das hat sie sehr verstört, diese Tiere zu hören, wie die geschlachtet werden, direkt neben ihr. Daran hat sie sich sehr, sehr gut erinnert. Auf der anderen Seite vom Haus war das Zimmer von ihrem Vater, da durfte sie nicht rein. Aber sie hat ein paar Mal gesehen, dass der andere Fliesen hatte, nämlich die sechseckigen Fliesen. Und das passt ganz gut zu dem, was wir haben.
SPRECHER
Es sind Details aus dem Alltag, über die die Archäologen sonst nur mutmaßen können. Details, die den Forschern auch helfen, ihre Grabungsflächen gezielter anzulegen. Aber die Arbeit mit Zeitzeugen bringt auch Probleme mit sich. Zum einen sind sie häufig sehr alt, ihre Erinnerung verblasst. Zum anderen müssen sie sich hier einer Vorgeschichte stellen, die ihnen bisweilen den Ruf als Erben von Försters Arier-Fantasien beschert hat, mit Büchern auf denen Hakenkreuze prangen. Etliche der Deutschstämmigen in Nueva Germania reagieren daher freundlich-zurückhaltend. Wollen die Ausgrabung besuchen, und kommen dann doch nie. Einzelne sind aber auch neugierig und erzählen. So der 72-jährige Klaus Neumann:
ZUSP_19
An dieser Plaza gab es früher keine Kirche. Dieses Haus, das war eigentlich das größte Haus hier in einem Stadtplatz und etwas weiter da wohnte die Familie Wolf und daneben die Küchenmeisters. Das waren die Familien hier am Stadtplatz.
SPRECHER
Klaus Neumann wohnt nicht mehr im Ort. Er ist aber hier geboren und aufgewachsen. Sein Urgroßvater war einer der ersten Siedler hier. Was er aus seiner Kindheit erzählt, weist darauf hin, dass vielleicht nicht alle, die mit dem Gründer-Ehepaar ausgewandert sind, ihre Ideologie teilten – oder sie zumindest vor Ort weniger wichtig war, als die Försters in Europa glauben machen wollten:
ZUSP_20
Dass es antisemitische Stimmung gab in Nueva Germania ist Blödsinn. Die erste Heirat in Nueva Germania war zwischen Fanny Schubert und Max Stern, und Max war Jude.
SPRECHER
Ein wichtiges Puzzlestück in der Geschichte des Ortes und für das Verhältnis seiner heutigen Einwohner zu ihr. Und vielleicht hilft Klaus Neumanns Erinnerung ja auch, dem Försterhof auf die Spur zu kommen?
ZUSP_22
Wir wissen ja leider nicht, von wann diese Karte ist und ob das nur ein eine Planskizze ist oder ob das wirklich so jemals gebaut wurde. Und Förster hat hier oben ein großes Grundstück, ein großes Gebäude und hier unten, hier in der Stadt auch noch ein Grundstück. Und wir sind hier, Freitag, wir haben hier die Plaza. Und ich habe mich gewundert, dass jemand wie Doktor Bernhard Förster, wenn er sozusagen Gründer der Kolonie ist, sich nicht ein Haus an der Plaza baut, sondern doch etwas weiter weg. - No, no, ich glaube, dieser Platz ist korrekt. Dieser Brunnen ist unheimlich groß und stabil. Ich habe so einen Brunnen woanders hier nicht gesehen.
SPRECHER
Ein neuer Hinweis, der Natascha Mehler noch einmal Hoffnung macht. Doch immer noch fehlen Funde, die die Theorie bestätigen. Schlimmer noch: Auch unabhängig vom Försterhof tun sich die Forscher schwer, die erste Siedlungsphase zu erkennen. Nur eine einzige Verfärbung im Boden, die auf ein älteres Gebäude hinweist. Entsprechendes Fundmaterial? Bisher Fehlanzeige, sagt Attila Deszi:
ZUSP_24
Wir haben sehr, sehr wenig Funde und materielle Kultur von den allerersten Siedlern. Das einzige, was wir bisher hatten, war ein Knopf der Produktionstechnik 1850er bis 1880er und Murmeln.
SPRECHER
Murmeln und ein einzelner Knopf. Und das auch noch aus dem Gang einer alten Baumwurzel – zum Datieren unbrauchbar. Graben die Archäologen an der falschen Stelle? Lässt sich der Wandel der Kolonie vielleicht doch nicht archäologisch fassen? Es wird noch bis kurz vor Ende der Ausgrabungen dauern, bis das Team schließlich auf eine weitere markante Struktur im Boden stößt – und eine Glasperle darin eine frühe Siedlungsphase bestätigt. Für Natascha Mehler endlich ein archäologisches Indiz, dass die ersten Siedler früh Kontakt zur lokalen Bevölkerung gesucht haben:
ZUSP_25
Wir können das ganz gut sehen, denke ich in diesem ersten frühen Pfostenbau, den wir ja jetzt noch am Ende der Kampagne entdeckt haben. Diese Pfostenlöcher, die unter dem späteren größeren Haus liegen, das sind die Reste von einer recht einfachen Unterkunft, aber in einer Bauweise konstruiert, die wir von den Guarani kennen. Also die haben ganz schnell eine provisorische Unterkunft gebaut, die im Prinzip den Baustil der Guarani entspricht.
SPRECHER
Der Grund, warum Nueva Germania seine kritische Anfangsphase überlebt hat? Die Forscherin glaubt, weil ideologische Gedanken der Auswanderer pragmatischen Entscheidungen weichen mussten:
ZUSP_26
Die haben sicherlich früh schmerzhaft erfahren, dass das nicht umsetzbar ist, was die sich ursprünglich vorgenommen hatten, sondern dass sie sich ganz schnell auch anpassen mussten an die Gegebenheiten vor Ort.
SPRECHER
Das heißt: Im Fall von Nueva Germania ist die Ideologie also offenbar gescheitert. Und so wie Ruth Alison einen wesentlichen Teil der Forschungen hier zusammenfasst, sogar ziemlich gründlich:
ZUSP_28
VOICEOVER
Wir haben festgestellt, dass viele Menschen hier in Nueva Germania nichts über diese entfernteren, älteren Aspekte dessen wussten, was wirklich hier war, über die Bedeutung dieser ersten deutschen Gemeinschaft, die hier war, warum sie Nachkommen von Deutschen sind, warum sie diesen Nachnamen haben, woher sie kommen.
SPRECHER
Gerade deshalb findet Klaus Neumann die Ausgrabung in seinem Heimatort wichtig. Er hofft, dass sie hilft, den Blick auf Nueva Germania und seine Geschichte zu verändern. Auch er ist überzeugt: Ohne gute Kontakte zur lokalen Bevölkerung hätte die Kolonie nie überlebt. Die Archäologen möchten noch tiefer graben. Weiter nach Strukturen und Funden suchen, die zeigen, ob das Arier-Projekt vor Ort überhaupt jemals einer gelebten Wirklichkeit entsprach.
ZUSP_29
Ich hoffe, dass die Arbeit jetzt zumindest auch hier ein bisschen Interesse an dieser eigenen Vergangenheit generiert und nicht nur so eine Ablehnungshaltung, vielleicht auch ne Art von Wertschätzung dazu kommt für die Leute hier vor Ort.
ATMO Ausgrabung und Urwald
SPRECHER
Immerhin: Mit der Zeit kommen mehr Menschen aus dem Ort, wollen sich die Ausgrabung zeigen und erklären lassen. Trotzdem haben die Forscher noch Arbeit vor sich: Don Alfonso, der Grundstücksbesitzer ist nach wie vor froh, wenn er die Grabungsfläche bald umpflügen und mit Gemüse bebauen kann.
Flechten sind faszinierende Mischwesen aus Pilz und Alge. Die etwa 18.000 Arten können bis zu 1.500 Jahre den schwierigsten Lebensbedingungen trotzen, doch auf die menschengemachte Luftverschmutzung reagieren sie sehr empfindlich. Viele Flechten produzieren wirksame Inhaltsstoffe, die auch für die Medizin interessant sind. Bernhard Kastner im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke.
Credits
Autor dieser Folge: Bernhard Kastner
Es sprachen: Bernhard Kastner im Gespräch mit Dr. Thassilo Franke
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Dr. Thassilo Franke, Biologe am BIOTOPIA Lab in München
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Thassilo Franke:
Flechten sind wahre Fundgruben für neue Arzneimittel.
Thassilo Franke:
Einerseits kommen Flechten mit den widrigsten Umweltbedingungen zurecht, andererseits zählen sie zu den Lebewesen, die am empfindlichsten auf Luftverschmutzung reagieren.
Thassilo Franke:
Flechten sind Lebensgemeinschaften aus Pilzen und Algen.
Bernhard Kastner:
Alles Natur
Thassilo Franke:
Flechten - Meister Extreme
Musik hoch
Bernhard Kastner:
Der Biologe Thassilo Franke vom BIOTOPIA LAB in München und ich, wir sind hier auf einem Feldweg bei Oberschleißheim in der Nähe von München. Wir stehen an einem Gebüsch-Hein, überall um uns herum sind Felder, Wiesen und Äcker. Und hier, in diesen Büschen an den Ästen, da sind wir auf der Suche nach den heutigen Protagonisten unseres Gesprächs.
Thassilo Franke:
Wir befinden uns hier an einem Feld-Hein und die ganzen Gehölze, die wir hier zu unserer Rechten sehen, die haben vollkommen gelb überkrustete Zweige und diese gelbe Kruste, das ist genau das, worum es in unserem heutigen Beitrag geht. Das sind nämlich Flechten.
Bernhard Kastner:
Also wenn ich die mir jetzt so anschaue, die haben so eine ganz satte curry-gelbe Farbe, die sind wie so Inseln, die sich um die Äste oder um die kleinen Stämme wickeln. Schaut ein bisschen trocken, schuppig aus …
Thassilo Franke:
Ja, genau, und was man hier sieht und auch auf den ganzen Sträuchern hier in der Umgebung, was hier alles so gelb einkrustet, das ist die Gemeine Gelbflechte. Und sie gehört zu einer riesigen Verwandtschaft von Lebewesen, von denen man bisher ungefähr 18.000 Arten kennt und die auf der ganzen Welt verbreitet sind, die schon seit über einer halben Milliarde Jahre auf unserer Erde zu Hause sind. Und es gibt ganz winzige Flechtenarten, die im Inneren vom Gestein leben, die auf der Oberfläche von Blättern leben. Und auf der anderen Seite gibt es auch Riesen-Flechten, die wie Girlanden meterlang von den Bäumen herunterhängen. Und überhaupt ist diese Gruppe dafür bekannt, dass sie die Meister der Extreme sind. Also sie kommen wirklich in den Kältewüsten der Antarktis vor, sie kommen auf entlegenen atlantischen, ozeanischen Inseln vor, wo es sonst kaum andere Lebewesen gibt. Sie kommen in Hochgebirgen vor bis über 7.000 Meter, und man findet sie auch in den Tieflagen des Amazonas-Regenwaldes.
Bernhard Kastner: 2.25
Sie haben jetzt gerade gesagt ‚eine Gruppe von Lebewesen‘, wir wollen es natürlich genauer wissen: welche Gruppe? Sind es Pflanzen, sind es Pilze, sind es Tiere, sind es Moose?
Thassilo Franke:
Flechten sind keine Moose, also das können wir schon mal ausschließen. Was die anderen Gruppen, die Sie erwähnt haben, betrifft, nämlich die Pilze und die Algen, da wird die Sache schon komplizierter. Also, wenn wir die Flechten jetzt rein taxonomisch betrachten, dann würde ich sie folgendermaßen definieren: wir haben es hier mit Pilzen zu tun, und zwar genau genommen mit ‚Schlauchpilzen‘, die mit Algen in einer Lebensgemeinschaft leben. Und wenn man aber das Ganze ökologisch sieht, weil nämlich diese Lebensgemeinschaft von wirklich essenzieller Bedeutung ist, da kann man dann von ‚Mischwesen‘ sprechen oder von ‚Doppellebewesen‘, weil nämlich das zwei Partner sind, die auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind und auch ganz neue Formen hervorgebracht haben, die es ohne diese Lebensgemeinschaft so gar nicht gegeben hätte.
Bernhard Kastner: 3.22
Ich schaue mir jetzt aber gerade diese gelben Flechten hier in den Ästen an: Wo genau ist der Pilz? Und wo ist die Alge? Algen sind grün. Ich sehe hier nur eine gelbe Oberschicht. Wo ist Pilz und Alge?
Thassilo Franke: 3.04
Das, was Sie auf den ersten Blick sehen, ist immer der Pilz. Und der Pilz trägt eigentlich auch den Namen, der für die ganze Flechte gebräuchlich ist. In dem Fall ist es die Gemeine Gelbflechte. Und da ist der Name des Pilzes oder der wissenschaftliche Name der Flechte Xanthoria Parietina. Und diese Flechte beherbergt in ihrem Inneren Algen und diese Algen, das sind winzig kleine, kugelförmige, mikroskopisch kleine Grünalgen, Und man sieht von den eigenen natürlich erst mal auf den ersten Blick nichts, weil die sind, wie gesagt, mikroskopisch klein im Inneren der Flechte. Aber wenn man mal schaut, also, wenn Sie sehen, ich habe hier am Boden so einen nassen Ast gefunden. Wenn man ihn danebenhält, dann ist er doch ganz grün?!
Bernhard Kastner:
Ja total – und zwar giftgrün… also richtig grün!
Thassilo Franke: 3.04
Und das liegt einfach nur daran, dass hier die ganzen Hohlräume in der Flechte von Feuchtigkeit vollgesogen sind und auf die Art und Weise dieses pilzliche Fadengeflecht durchsichtig erscheint. Und dadurch sieht man eben, dass da was Grünes drin ist, und das Grüne sind die Algen.
Bernhard Kastner:
Also kann ich mir das so vorstellen, dass der Pilz die Hülle, den Deckel und die Umrandung, von der Alge bildet?!
Thassilo Franke:
Das Gehäuse dieser Alge! Also die Algen wohnen im Inneren dieser Flechte. Und das ist eigentlich auch das, was diese diesen Flechten-Pilz für die Alge so wertvoll macht, weil er ihr praktisch Logis bietet. Das heißt, die Alge haust im Inneren der Flechte. Und dann fragt man sich natürlich, woher kommt die Kost, wenn die Logis vom Flechten-Pilz für die Alge kommt, die Kost für beide? Die liefert die Alge, weil die Alge ist imstande, Photosynthese zu betreiben, Zucker zu produzieren. Einen Teil des Zuckers, den behält sie für sich selbst und einen weiteren Teil des Zuckers kann sie an ihren Vermieter praktisch, an den Pilz abgeben. Und dadurch ist es eben eine hervorragende Lebensgemeinschaft.
Bernhard Kastner: 5.26
Also der Pilz profitiert, weil er sich die Nährstoffe von der Alge zieht. Die Alge ernährt den Pilz. Aber was hat die Alge davon?
Thassilo Franke:
Die Alge profitiert in vielerlei Hinsicht davon. Auf der einen Seite ist natürlich dieses Pilzliche, man spricht da von einem Myzel, von Farben-Geflecht oder bei den Flechten, weil das so kompakt ist, nennt man dieses pilzliche, ganz dichte Fadengeflecht auch ‚Lager‘, also dieses Pilzlager ist wie eine schützende Hülle. Das heißt, es schirmt die Algen in ihrem Inneren vor UV-Strahlung ab, vor extremen Temperaturunterschieden, auch vor Fressfeinden und Krankheitserregern.
Bernhard Kastner:
Und dieses System, das Sie so beschrieben haben, also, dass der Pilz die Hülle bildet, dass der Pilz die Alge schützt, umhüllt … diese Symbiose der beiden, dieses wechselseitige Geben und Nehmen, das betrifft nicht nur diese flachen Flechten, sondern alle Flechten? Es gibt ja wohl mehrere Arten von Flechten. Ich kann mich erinnern, wenn wir beim Bergwandern früher waren oder auch beim Skifahren, da sieht man ja diese Flechten, die so ganz wie so lange graue Haare von den Bäumen hängen. Ist da das gleiche System, dass eine Hülle der Pilz und innen eine Alge ist?
Thassilo Franke: 6.35
Ja genau! Was Sie da ansprechen, was Sie da beim Skifahren beobachtet haben, das sind sogenannte ‚Bartflechten‘. Die heißen auch auf Englisch ‚Methusalems Bart‘, also die hängen wie Bärte von den Ästen runter. Und der Grund, warum sie so wachsen, ist, dass sie eine Oberflächenvergrößerung haben, auf der einen Seite und dann eben auch als Nebelkämmer. Sie kommen also in sehr feuchten Tälern vor normalerweise diese Bartflechten, als Nebelkämmer, den Nebel, deren diesen Tälern aufsteigt, regelrecht auskämmen können und auf die Art und Weise das gesamte System mit Feuchtigkeit versorgen können. Also das sind Bartflechten, die gehören mit den Strauchflechten in eine Gruppe. Es gibt aber auch noch andere Formen, Sie haben die beim Skifahren wahrscheinlich oder beim Bergsteigen auch schon oft gesehen. Die Krusten-Flechten, das sind Flechten, die auf Felsoberflächen wachsen, die also mit einer mit der Unterseite fest auf der ganzen Fläche mit dem Felsen verbunden sind. Und auf der anderen Seite gibt es dann noch Laub-Flechten, das sind Flechten, zu denen auch die Flechten hier gehören, einige der Flechten, die man hier sieht, die nur an einer Stelle mit der Unterlage verwachsen sind und auf die Art und Weise, Ober- und Unterseite gleichzeitig dem Licht entgegen richten können und so mehr Photosynthese betreiben können. Und solche Laub-Flechten findet man vor allem an der Rinde der Bäume oder auch auf dem Boden. Und dann gibt es noch eine weitere Gruppe, die Gallert-Flechten, die ganze gelatinös sind und die hauptsächlich nicht mit Algen zusammenleben, sondern mit Zualo-Bakterien.
Bernhard Kastner: 7.35
Aber wir gehen jetzt zurück zu diesen kleinen gelben Flechten. Ich kenne die ja von mir zu Hause. Ich wohne in der Nähe vom Ammersee. und in den letzten Jahren habe ich das beobachtet, wenn dann die Blätter runterfallen, dass die Äste, die früher so braun-grau waren, heute immer mehr wirklich auch diese gelb-grüne Farbe annehmen. Und ich dachte bis jetzt, das ist ein Schädling, der dem Baum schadet. Aber das ist ja anscheinend nicht so?!
Thassilo Franke: 8.23
Also Flechten, auch wie hier, wenn man hier mal hinschaut, da sind ja die Äste bis zu den Ansatzstellen der Blätter komplett eingekrust, da könnte man wirklich meinen, wir hätten es mit Parasiten zu tun. Aber in Wirklichkeit schaden die Flechten den Bäumen und Sträuchern, auf denen sie wachsen, nicht. Sie sind vollkommen autark. Also sie haben auch überhaupt keine Saugorgane, mit denen sie jetzt irgendwie Pflanzensaft saugen könnten, sondern sie versorgen sich ja durch ihre gelungene Lebenspartnerschaft mit den Algen komplett selbst. Also, was Sie da beobachtet haben, das ist wahrscheinlich auch die Gemeine Gelbflechte und warum wir hier an diesem Feld-Hein stehen, wo auch alle Äste der Sträucher dick gelb überkrustet sind, das hat einen ganz bestimmten Grund. Und zwar hat diese Flechtenart eine besondere Vorliebe für Ammoniak. Und Ammoniak ist ja ein Gas, was entsteht, wenn Gülle ausgebracht wird, also im Urin von unseren Nutztieren, da ist ja sehr viel Harnstoff enthalten, und wenn dann dieser Harnstoff abgebaut wird, dann wird dieses stechend riechende Gas dieser Ammoniak freigesetzt. Und dieser Ammoniak in Form von Ammonium-Ionen, der wird dann von dieser Gelbflechte aufgenommen und ist für deren Überleben wichtig. Und was auch noch hinzukommt, dass es eben ganz viele andere Flechtenarten gibt, die mit Ammonium nicht zurechtkommen, also für die Ammonium schädlich ist und deswegen hat sie einen unglaublichen Konkurrenzvorteil und ist mit Ausnahme einiger anderer Flechten, die auch gerne Ammonium mögen, eine der wenigen Flechten, die hier in diesen Feld-Reihen oder auch ein Gärten zurechtkommt mit der Situation. Und deswegen ist hier eben alles so gelb überkrustet.
Bernhard Kastner: 9.40
Das finde ich jetzt total spannend, denn wir haben ja am Anfang gehört, dass die Flechten, wie der Titel der Sendung ja auch schon sagt, wahre Meister der Extreme sind. Sie können also unter extremen Lebensbedingungen im Eis, in der Hitze, in der Kälte in der Trockenheit überstehen. Auf der anderen Seite scheinen sie, was die Zunahme von dieser Gelbflechte hier zeigt, sehr empfindlich auf Umwelteinflüsse, auf Luft-Veränderungen zu reagieren?!
Thassilo Franke: 10.23
Was Sie ansprechen, das ist ja eigentlich wirklich ein Paradox. Auf der einen Seite haben wir es mit den robustesten Lebewesen überhaupt zu tun. Auf der anderen Seite sind aber genau diese Lebewesen, die, die am empfindlichsten auf Luftverschmutzung reagieren. Also man kennt einige Flechtenarten, wie zum Beispiel die Riesen-Bartflechte, die früher in den Alpen weit verbreitet war und zum Teil sogar bis ins Flachland runterging. Und diese Flechte ist mittlerweile in Deutschland komplett verschwunden. Sie ist bei uns ausgestorben. Und da fragt man sich, warum? Und die Ursache dafür ist eine Substanz, nämlich das Schwefeldioxid. Schwefeldioxid ist ein Gas, was vor allem bei der Verbrennung von fossilen Rohstoffen freigesetzt wird, und was sich dann über chemische Reaktionen umwandelt in schwefelige Säure. Und die, das kennen Sie sicher noch aus den 80er-Jahren, die verantwortlich ist für den berühmten Sauren Regen. Und dieser Saure Regen, der ist natürlich schädlich für Bäume, aber der Saure Regen ist der Tod für die allermeisten Flechten und besonders für so empfindliche Arten wie die Riesen-Bartflechte.
Bernhard Kastner: 11.38
Und wie kommt dieses Schwefeldioxid in die Alpen?
Thassilo Franke:
Ja also wie das Schwefeldioxid in die Berge kommt, klar mit dem Fernverkehr natürlich, damals gab es ja auch schon Eisenbahnen, die durch die Berge gefahren sind und dort wurde auch Kohle verheißt. Und da ist das dann sehr viele Schwefeldioxid freigesetzt worden, aber natürlich nicht ansatzweise so viel wie in den Industriegebieten oder in den Städten. Aber die Riesen-Bartflechte hat eine gewaltige Oberfläche, weil sie als ‚Nebelkämmer‘ dort eben auch den Nebel auskämmt, und mit dieser feuchten Luft natürlich riesige Mengen von dieser schwefeligen Säure auch aufgesaugt hat. Und das hat ihr einfach sehr schnell den Garaus gemacht.
Ja, aber ganz geballt tritt dieses Problem natürlich in den Städten auf. Also früher hat man viel mit Kohle geheizt und auch die Industriegürtel um die Städte rum, da wurden sehr viele fossile Rohstoffe zur Energiegewinnung verbrannt, und man hat ja auch immer so Smog-Glocken über den Städten gehabt. Und das hat dazu geführt, dass in den Stadtzentren, die haben sich in wahre Flechten-Wüsten verwandelt, sodass die gesamte Flechten-Flora zusammengebrochen ist, bis auf ein, zwei Arten, die das vielleicht irgendwie noch ausgehalten haben. Und das wurde aber sehr schnell bemerkt von Spezialisten. Und die haben dann die Idee entwickelt, man könnte ja die Flechten nutzen, um die Luft-Güte zu bestimmen. Und da entstand dann in den 70er-Jahren die Flechten-Kartierung. Man hat also an bestimmten Stellen im Untersuchungsgebiet dann immer die gleichen Stellen wieder besucht und die die Flechten dort kartiert und ist zu den Stellen wieder zurückgekehrt und hat geschaut, ob es weniger geworden sind, ob es mehr geworden sind und vor allem auch qualitativ, was für Flechtenarten überhaupt da sind, ob wieder eine Art verschwunden ist aus einem Sampling, oder ob vielleicht sogar einer dazugekommen ist. Es kann auch sein, dass die Luftqualität sich verbessert, und man hat dann tatsächlich auch so nach einer Weile erkannt, vor allem in der Mitte der 90er-Jahre, dass plötzlich Flechten wieder in die Städte zurückgekommen sind, also auch in Gebiete, wo es früher gar keine Flechten mehr gegeben hat. Man hat ja Maßnahmen ergriffen: Man hat Rauchgasentschwefelungsanlagen eingebaut, in die die Verbrennungsanlagen in den Kraftwerken. Man hat Treibstoffe, auch entschwefelt, bevor sie überhaupt verbrannt wurden. Und man kann wirklich sagen, also die Schwefeldioxidbelastung ist in den letzten 20 Jahren irrsinnig zurückgegangen, und das hat natürlich zur Folge gehabt, dass dann die Flechten, die so empfindlich auf Schwefeldioxid reagieren, dann auch wieder in diese freigewordenen Habitate wieder zurückgekehrt sind und die Städte wieder besiedelt haben.
Bernhard Kastner:
Also ist die Fläche ja wirklich ein Bioindikator für gute Luft?!
Thassilo Franke: 14.09
Genau, man kann sagen, ein Bioindikator für gute Luft, aber eigentlich nur eingeschränkt. Also es ist ja so, die Flechten kamen zurück, und man hat aber dann sehr schnell gemerkt, Moment, das sind aber nicht die Flechtenarten, die vorher da waren. Man hatte ja die Herbarien in den Staatssammlungen, da konnte man ja sehr genau nachschauen, was die Leute früher im neunzehnten Jahrhundert zum Beispiel in den Städten gesammelt haben und was man jetzt dort auf den Baumstämmen hatte. Und auf den Hauswänden waren ganz andere Flechtenarten als früher, und zwar, man hat festgestellt, diese Flechten sind Flechten, die man sonst eher aus der Umgebung von landwirtschaftlichen Betrieben kannte, wie zum Beispiel diese Gemeine Gelbflechte hier hinter uns. Und da stellte sich die Frage, warum kommen denn die in die Städte zurück? Und die Antwort war die: Die sind zwar jetzt zurückgekehrt, weil das Schwefeldioxid-Problem gelöst war, aber sie waren Indikatoren, also Zeiger für ein anderes Problem, was sich in Städten breitgemacht hat, nämlich die Stickstoffbelastung.
Bernhard Kastner: 15.10
Und wo kommt die Stickstoffbelastung her?
Thassilo Franke:
Also 95 Prozent der Stickstoffbelastung durch Ammoniak kommt ja aus der Landwirtschaft, und nur fünf Prozent hat man in diesen städtischen Gegenden eigentlich gemessen. Und da fragt man sich: wo kommen denn diese fünf Prozent her? Und die die Entdeckung, die war eigentlich sehr überraschend. Der Ammoniak kommt aus den Katalysatoren der Autos, also ein Nebenprodukt bei diesen Reaktionen, die in dem Katalysator ablaufen, ist dieser Ammoniak. Und eine Aufgabe ist ja, dass man eben Stickoxide vermeidet. Auf der anderen Seite kommt aber eben Ammoniak hinten aus dem auf Auspuff raus. Und jetzt passiert Folgendes: jetzt geht dieser Ammoniak in die Luft, und gleichzeitig gehen auch Stickoxide in die Luft. Und wenn die sich dann in der Atmosphäre in Gegenwart von Ozon und Wasserdampf begegnen, dann bildet sich ein Salz, und zwar das Ammoniumnitrat und das Ammoniumnitrat ist ein Feststoff und als Feststoff bildet er Staub. Und das ist dann der berühmte Feinstaub, der sich dabei den Städten bildet, Also 50 Prozent - die Hälfte - müssen Sie mal bedenken von dem Feinstaub ist nicht Reifenabrieb, Ruß oder Bremsbelege-Abrieb, was man sonst immer so unter Generalverdacht hat, sondern die Hälfte des Feinstaubs, ist Ammoniumnitrat! Und dieser Feinstaub, der rieselt natürlich dann wieder auf die auf die Erde runter. Da schwebt nach unten, der setzt sich hier auf den Ästen der Bäume fest, und wenn dann dort diese Gemeine Gelbflechte, wächst, dann ist die wie im Schlaraffenland.
Musik
Bernhard Kastner: 16.56
Sie hören radioWissen hier auf Bayern2 und ich unterhalte mich heute in unserer Gesprächsreihe ‚Alles Natur‘ mit dem Biologen. Dr. Thassilo Franke von Biotopia LAB in München, und wir sprechen über die Flechten, und die haben sie ja wirklich in sich.
Thassilo Franke:
Ja, das kann man wirklich so sagen. Also Flechten, die Pilzpartner von Flechten, das sind reine Fabriken für interessante chemische Substanzen, die dort erzeugt werden von dem Organismus. Und diese Substanzen sind zum Beispiel tumorhemmende Substanzen, die die arzneiliche interessant sind. Es sind Substanzen dabei, die antibakteriell wirken, entzündungshemmend wirken. Und das weiß man auch schon sehr lange. Man weiß zum Beispiel auch, dass in sehr vielen verschiedenen Kulturen auf der Welt Flechten als Wundverband früher verwendet wurden, aber auch heute noch, zum Beispiel im Himalaja, eine ganz wichtige Bedeutung haben. Es heißt, wenn sich jemand verletzt und die Wunde anfängt zu eitern, dann wird dann eine Flechte draufgelegt und das Ganze gut verbunden, weil man eben weiß, dass diese Flechte entzündungshemmende antibakterielle Wirkungen hat. Und diese Wirkung, das Flechten, Inhaltsstoffe Bakterien abtöten können, das wussten auch schon die Alten Ägypter. Und die haben zum Beispiel die Leibeshöhle von mumifizierten Toten mit Flechten ausgefüllt, aber auch Flechten auf dem Körper verteilt und zwischen den Bandagen. Und das hat dann eben dazu geführt, dass diese einbalsamierten Körper nicht von Bakterien zersetzt wurden, weil sie eben von diesen Flechten davor geschützt wurden. Und eine der Flechten, die da immer wieder nachgewiesen werden konnte, das ist eine Flechte mit dem etwas irreführenden Namen Baummoos. Und dieses Baummoos hat auch noch andere interessante Inhaltsstoffe. Und die sind auch schon seit vielen, vielen Jahrhunderten als Parfümstoffe bekannt und vor allem in Südfrankreich, da, wo ja die meisten Parfüms herkommen, werden die schon seit langer Zeit aus diesen Flechten herausisoliert. Und das sind die Grundsubstanzen eigentlich in einer ganzen Reihe von sehr gängigen klassischen Parfüms.
Bernhard Kastner:
Ja, und teilweise sind die Inhaltsstoffe von Flechten ja auch ziemlich giftig?!
Thassilo Franke:
Ja, also, was Sie da ansprechen, das ist die Wolfsflechte, die den schönen wissenschaftlichen Namen Letharia Vulpina hat. Letal, Sie kennen den Ausdruck letal, Letharia, die Tödliche; Vulpina heißt, die den Fuchs tötet, wenn man so will. Vulpius ist der Fuchs, weil man eben früher damit Wölfe und Füchse vergiftet hat, indem man die Flechten pulverisiert hat und dann Fleischköder eben da damit behandelt hat. Und wenn dann der Wolf kam oder der Fuchs kam und von dem Fleisch gefressen hat, dann ist er gestorben. Und die Ursache dafür war ein ganz heimtückisches Gift, nämlich die Vulpin-Säure. 19.54
Bernhard Kastner:
Und einen dieser vielen, vielen Inhaltsstoffe kennen wir alle wohl. Oder die meisten von uns gerade jetzt in der Erkältungszeit. Das sind Präparate aus dem sogenannten Islandmoos. Aber Achtung der Name leitet in die Irre: Es ist kein Moos?!
Thassilo Franke: 20.01
Ja, da haben wir schon wieder Baummoos, Eichenmoos und jetzt ist Islandmoos alles keine Moose, sondern Flechten. Aber das sind genau diese kleinen, bräunlichen Pastillen, die wahrscheinlich jeder schon mal gelutscht hat, die dann so angenehm, gerade wenn man einen kratzigen Hals hat, so eine schöne Schleimschicht dort auf den auf den wunden Stellen in der Luftröhre dort verteilen. Und dieser Schleim - es ist wirklich Schleim, der da drin ist. Es ist der sogenannte Lichnin. Lichnin wird auch ‚Flechten-Stärke‘ genannt, und in diesem Schleim sind dann auch noch antiseptische, antibakterielle Substanzen, die enthalten, legen sich schön über die entzündete Stelle und führen dann zu einer schnellen Abheilung eben dieses Problems.
Bernhard Kastner: 20.47
Das sind ja jetzt schon einige hochwirksame Wirkstoffe, über die Sie hier gesprochen haben. Aber es sind noch längst nicht alle in den Flechten vorhandenen Stoffe entdeckt worden?!
Thassilo Franke: 20.55
Ja, genau. An den staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns hat eine Forschergruppe vor kurzem eine ganz interessante Entdeckung gemacht. Und zwar, sie haben sich die Erbinformationen von verschiedenen Flechtenarten genauer angeschaut und haben dann Gene entdeckt, die bestimmte arzneilich interessante Substanzen codieren. Also ganz einfach formuliert, haben sie in der Erbinformation verschiedene Rezepte gefunden, die für diese arzneilich interessanten Inhaltsstoffe die Ursache sind. Und sie haben mehr solche Rezepte gefunden, als Inhaltsstoffe bekannt sind. Und das hat ihnen natürlich dann wiederum den Rückschluss erlaubt, dass man noch erwarten kann, sehr viele arzneilich interessante Stoffe in Flechten zu finden, die man heute noch gar nicht kennt, aber von dem man schon weiß, dass sie da sein müssen, weil man ihre Rezepte gefunden hat.
Bernhard Kastner:
Also, auf der einen Seite sind Flechten noch längst nicht erforscht, noch längst wissen wir nicht alles über die Inhaltsstoffe von Flechten. Auf der anderen Seite wissen wir, dass viele Flechten schon ausgestorben sind oder in ihrer Existenz bedroht sind. Das ist jetzt also ein Wettlauf mit der Zeit. Da frage ich mich kann man Flechten nicht gezielt züchten oder sie kultivieren, vermehren, anpflanzen wie zum Beispiel andere Arzneimittelpflanzen auch?!
Thassilo Franke: 22.15
Ja, so dass mit den Flechten züchten ist in der Tat ein Problem also großflächig züchten sowieso eigentlich ausgeschlossen und hat tut sich ja schon im Labor schwer, die zu züchten, weil man einfach diese Wachstumsbedingungen sehr schwer simulieren kann, die Flechten zum Leben brauchen. Außerdem ist es so, dass die meisten Flechtenarten auch sehr, sehr langsam wachsen. Es gibt Flechten, die wirklich nur einen Bruchteil von einem Millimeter pro Jahr Zuwachs haben und die weit über tausend Jahre alt werden können, trotzdem nur die Größe von meiner Handfläche vielleicht haben. Und solange kann man natürlich nicht warten, wenn man einen Organismus züchten will, den man eben auch wirklich nutzen möchte. Es heißt hier ist man tatsächlich immer noch auf die Wild-Flechten angewiesen.
Bei Flechten ist es ja so, dass sie sich einerseits über Born formieren sowie Pilze, die dann natürlich aber da, wo sie landen, dann auch den passenden eigenen Partner finden müssen, was gar nicht so einfach zu sein scheint.
Musik
Bernhard Kastner:
Also mit der Zucht und der Kultivierung von Flechten sieht's noch nicht so rosig aus. Umso wichtiger ist es, dass wir die Flechten, die wir kennen und die wir haben und noch längst nicht erforscht und verstanden haben, schützen. Ich danke Ihnen für dieses wirklich interessante Gespräche. Ich hab wieder sehr viel gelernt, und ich freue mich schon auf das nächste Mal.
Thassilo Franke:
Ja, ich freue mich schon sehr auf die nächste Sendung
Musik out
Der schwedische Naturforscher Carl von Linné erfasste im 18.Jahrhundert die damals bekannte Tier- und Pflanzenwelt und brachte sie in eine logische Ordnung. Dazu führte er die binäre Benennung der Organismen ein. Dieses System ermöglicht es Wissenschaftlern, sich über Arten in einer präzisen und standardisierten Sprache auszutauschen. Autorin: Susanne Hofmann
Credits
Autor/in dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Hemma Michel, Peter Weiß
Technik: Tim Höfer
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Kärin Nickelsen, Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München;
Gerhard Haszprunar, Professor em. für Zoologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, früherer Direktor der Zoologischen Staatssammlung München;
Renate Hudak, Dipl.-Ingenieurin für Gartenbau, Botanischer Garten Augsburg
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER
Das musste ihm erst mal einer nachmachen!
ZITATOR1
Kein Naturwissenschaftler hat mehr Beobachtungen in der Natur angestellt. Keiner hat einen solideren Einblick in alle drei Reiche der Natur zugleich gehabt. Keiner war ein größerer Botaniker oder Zoologe.
ERZÄHLER
Ein Superlativ reiht sich an den nächsten.
ZITATOR1
Keiner hat mehr Werke geschrieben, besser, ordentlicher, aus eigener Erfahrung. Keiner so völlig eine ganze Wissenschaft reformiert und eine neue Epoche eingeleitet. Keiner hat eine so über alle Welt ausgedehnte Korrespondenz gehabt. [langsam ausblenden]
ERZÄHLER
Keine Frage: Nach dieser Einschätzung ist der so Gepriesene eine Ausnahmeerscheinung, eine überragende Figur in der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts: der schwedische Naturforscher Carl von Linné. Randnotiz zum Schmunzeln – das überschwängliche Lob stammt aus Linnés eigener Feder. An Selbstbewusstsein mangelte es dem Schweden nicht. Seine Lebensleistung: Er entwickelte ein umfassendes, schlüssiges hierarchisches System der biologischen Klassifizierung. Alle damals bekannten Tiere und Pflanzen ordnete er in Kategorien wie Klassen, Ordnungen und Gattungen ein. Dafür rühmten ihn auch andere Geistesgrößen, der Philosoph Jean-Jacques Rousseau zum Beispiel:
ZITATOR 2
Für mich gibt es keinen Größeren auf Erden.
ERZÄHLER
Und Goethe bekannte, dass Linnés Hauptwerk „Philosophia naturae“ sein steter Begleiter war und
ZITATOR 3
dass nach Shakespeare und Spinoza auf mich die größte Wirkung von Linné ausgegangen ist
ERZÄHLER
Sein größtes Verdienst bringt Linné selbst so auf den Punkt:
ZITATOR 1
Gott schuf, Linné ordnete
ERZÄHLER
Carl von Linné, oder Carl Linnaeus [Linnäus], wie er die ersten 50 Jahre seines Lebens hieß, revolutionierte die Biologie, indem er in der Natur „aufräumte“. Oder vielmehr: sich auf die Suche nach dem geheimen Plan machte, welcher der göttlichen Schöpfung nach seiner Vorstellung innewohnte - erklärt der österreichische Zoologe Gerhard Haszprunar, langjähriger Leiter der Zoologischen Staatssammlung in München und Zoologie-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München:
1. ZUSPIELUNG Haszprunar 6:14
„Er war hundert Jahre vor Darwin, also von Evolution gab es noch gar keine Rede. Und daher war für ihn diese Ordnung göttlich vorgegeben. Punkt. Also er hat gar nicht versucht, diese Ordnung in irgendeiner Form durch einen Mechanismus zu erklären, sondern das war die göttliche Schöpfung, die ist hierarchisch geordnet, offensichtlich, und die Aufgabe des Wissenschaftlers ist jetzt, diese göttliche Ordnung in allen Details zu erkennen und zu beschreiben. Das war sein Programm, und das hat er knallhart durchgezogen.“
ERZÄHLER
Linné war ein begnadeter Beobachter. Was er sah – seien es nun Mineralien, Tiere oder Pflanzen – sortierte er. Sein Ordnungssystem sorgt noch heute für Übersicht in der Botanik und in der Zoologie – und das, obwohl wir in den über 250 Jahren seit seinem Tod im Jahr 1778 viele neue Erkenntnisse gewonnen und unzählige weitere Pflanzen und Tiere entdeckt haben. Die Tierwelt ordnete Linné folgendermaßen: Er unterteilte die Tiere in sechs grobe Gruppen – Säugetiere, Vögel, Amphibien, Fische, Insekten und Würmer. Diese sechs Kategorien wiederum untergliederte er weiter – in Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien und Gattungen. Der Zoologe Gerhard Haszprunar:
2. ZUSPIELUNG Haszprunar 8:11
„Also wir haben Begriffe wie etwa jetzt die Säugetiere. In den Säugetieren haben wir die Huftiere. In den Huftieren haben wir jetzt zwei Gruppen: Paarhufer und Unpaarhufer. In den Paarhufern haben wir jetzt Hornträger und Geweihträger und so weiter und so fort. Also, das ist so ineinander geschachtelt wie eine russische Puppe, aber vielfach, nicht bloß ein paar, sondern 30, 40 solcher Kategorien.“
MUSIK m02 (Z8028537114, Rework it, Artisan crafts, Sponticcia, Martin, 0:53 Min)
ERZÄHLER
Linnés besonderes Interesse galt indes der Welt der Pflanzen, der Botanik. Schon als Kind, Anfang des 18. Jahrhunderts, tummelte er sich gern im Garten seines Vaters. Der hatte einen besonders schönen, selbst angelegten Lustgarten, in dem er auch seltene Pflanzen anbaute, darunter mediterrane Kräuter wie Thymian oder Rosmarin. Der junge Carl durfte bald seine eigenen Beete beharken und lernte die Namen der Pflanzen kennen. Was die Benennung von Pflanzen betraf, herrschte damals Wildwuchs…
ZITATOR 2 oder 3
„…da dreißig oder vierzig Botaniker ein und derselben Pflanze ebenso viele verschiedene Namen beilegten. Auf diese Weise war die ganze Botanik zu einem wahren Chaos, zu einem allgemeinen Babel geworden, wo niemand mehr seinen Nachbarn verstehen konnte.“
ERZÄHLER
So beschrieb der französische Naturforscher und Geologe Georges Cuvier die Begriffsverwirrung, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die damals herrschte. Für die Botaniker der Zeit eine kaum noch zu beherrschende Herausforderung, meint Kärin Nickelsen, Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie forscht zur Geschichte der Biologie, insbesondere zur Geschichte der Botanik.
3. ZUSPIELUNG Nickelsen 4:12
„Zu der Zeit, als Linné lebte, gab es natürlich sehr viele andere Systeme bereits, aber diese Systeme waren nicht einheitlich, und die Arten und Gattungen hießen auch unterschiedlich, je nachdem, welches System man anlegte. Also es gab eine große Verwirrung, und die wurde umso ein beschwerlicher und auch wirklich hinderlicher, als ja viele neue Arten nach Europa kamen, also durch die Expansionsbestrebungen, die Kolonialunternehmen der europäischen Mächte, kamen sehr viele neue Pflanzenarten auch Tierarten - aber bleiben wir mal bei den Pflanzen,… nach Europa. Die musste man neu benennen, und sie bekamen häufig ganz unterschiedliche Namen, je nachdem, wer sie gerade in seinem System benannt hat. So, jetzt kam Linné und wollte ein einheitliches System schaffen.“
ERZÄHLER
Dieses einheitliche System der Benennung ist eine von Linnés Errungenschaften als Naturforscher. Doch ehe wir dazu kommen – rasch ein Abstecher in seine Biographie.
MUSIK m03 C1480470016, Tempelfeste, Melancholie - Music for film, Proksch, Michael, 0:49 Min)
ERZÄHLER
Name:
ZITATOR 1
Carl Linnaeus
ERZÄHLER
Art
ZITATOR 1
Homo sapiens
ERZÄHLER
Unterart
ZITATOR 1
Naturforscher, Botaniker, Arzt
ERZÄHLER
Herkunft:
ZITATOR 1
Småland [smoland], Provinz in Südschweden
ERZÄHLER
Lebenszeit:
ZITATOR 1
1707 bis 1778
ERZÄHLER
Aussehen - nach seiner eigenen Beschreibung:
ZITATOR 1
„Der Kopf groß, mit gewölbtem Hinterhaupt, … Die Augen braun, lebhaft, äußerst scharf, von hervorragender Sehkraft. … Ein entschlossener Charakter, leicht zu Zorn, Freude, Trauer geneigt, schnell zu besänftigen; frohgemut in der Jugend und auch nicht stumpfsinnig im Alter; seinen Obliegenheiten voll und ganz hingegeben“
ERZÄHLER
Carl Linnaeus wuchs als Sohn eines protestantischen Pastors in Südschweden auf dem Land auf. Eigentlich sollte er in die Fußstapfen seines Vaters treten – allein: Er gehörte in den dafür maßgeblichen Fächern Theologie, Griechisch und Hebräisch zu den schlechtesten Schülern. Dafür überragte er seine Mitschüler in Mathe und Physik. Ein Lehrer erkannte seine Begabung und unterrichtete ihn privat bei sich zuhause. Linnaeus schloss das Gymnasium ab und begann das Studium der Medizin zunächst in Lund, später in der Universitätsstadt Uppsala [Uppsála]. Vor allem interessierte er sich dort aber für das Studienfach Botanik, er erforschte den Botanischen Garten der Uni und tat sich durch seine Sachkunde derart hervor, dass man ihm bald einen Lehrauftrag erteilte.
MUSIK m04 (CD701240020, The song of Iivana Onoila. Traditiona, Authentic Scandinavia 3, Kontio, Matti (Bearb.), 0:45 Min)
Mit 23 wurde er auf eine abenteuerliche Forschungsreise ins weithin unbekannte Lappland entsandt, dessen Flora und Fauna, Landschaften und Bewohner er genau beschrieb und mit Zeichnungen illustrierte.
ZITATOR 1
Hier war es, als würde ich in eine neue Welt hinausgeführt, und als ich in die Berge kam, wusste ich nicht, ob ich in Afrika oder Asien war, denn sowohl das Erdreich als auch die Lage und die Pflanzen waren mir vollkommen unbekannt.
ERZÄHLER
Nach seiner Rückkehr schrieb er an seinen ersten Werken zur Systematik der Pflanzen. Schließlich promovierte er in Medizin, ließ sich zunächst als Arzt nieder und bekam später eine Professur am Lehrstuhl für Botanik. Mit 50 wurde Carl Linnaeus in den Adelsstand erhoben und durfte sich fortan Carl von Linné nennen. Die Wissenschaftshistorikerin Kärin Nickelsen:
4. ZUSPIELUNG Nickelsen 8:18
„Linné war sehr, sehr erfolgreich darin, an seiner Karriere zu arbeiten, wenn man so möchte. Er studierte in Schweden, das war auch damals eher von den Zentren der Wissenschaft weit entfernt, und es gelang ihm aber dann, auf der damals üblichen großen Europa-Tour Kontakte zu knüpfen zu den besten Botanikern der Zeit, also in den Zentren wie vor allen Dingen Paris, was sehr wichtig war für die Wissenschaft der Zeit, aber auch in den Niederlanden, wo ganz wichtige Naturforscher ihre botanischen Gärten hatten, also für die Botanik vor allen Dingen oder in der Medizin. Durch diese Kontakte wurde es ihm ermöglicht, die Manuskripte, die er bereits mitbrachte, an angesehenen Druckereien drucken zu lassen. Er publizierte die Werke und sorgte dann dafür, dass diese auch breit gelesen und eben verkauft wurden.“
ERZÄHLER
Linné war ein unermüdlicher Arbeiter, er veröffentlichte rund 20 Bücher, die er in Neuauflagen immer wieder korrigierte und erweiterte, er korrespondierte mit anderen Wissenschaftlern und er hielt Vorlesungen. Die Studenten kamen aus ganz Europa, um von ihm zu lernen. Als Professor veranstaltete er regelmäßige Exkursionen rund um Uppsala, um mit den angehenden Forschern die heimische Flora und Fauna zu studieren. Diesen wissenschaftlichen Erkundungen der Natur schlossen sich manchmal bis zu 200 Teilnehmer an.
Mitzunehmen waren: Linnés Buch „Systema naturae“ über die Systematik der Lebewesen, Lupe, Messer, Botanisierbüchse zum Umhängen für die Funde. Alle 30 Minuten wurden die gefundenen Exemplare nach Gattung, Art, Standort, Nutzen und Besonderheiten besprochen. Fand jemand eine Seltenheit, wurde das Waldhorn geblasen.
Waldhorn-Atmo?
ERZÄHLER
In seiner Autobiographie erinnert sich Linné:
ZITATOR 1
„Und nachdem sie von morgens sieben bis abends neun Uhr mittwochs und sonnabends botanisiert hatten, kamen sie in die Stadt zurück mit Blumen auf den Hüten, begleiteten auch ihren Anführer mit Pauken und Waldhörnern durch die ganze Stadt bis zu dem Garten.“
ERZÄHLER
Zum Abschluss der Exkursion riefen die Teilnehmer laut:
MEHRERE (junge, männliche) STIMMEN?
Vivat Linnaeus!
MUSIK m07 (Z8033060122, New hope, Ice Word, Kreuzer, Anselm, 0:35 Min)
ERZÄHLER
Zu den wissenschaftlichen Verdiensten Linnés gehörte nicht nur sein Ordnungssystem für Lebewesen. Er führte auch eindeutige wissenschaftliche Namen für Pflanzen und Tiere ein. Insbesondere in der Botanik ein Meilenstein. Dazu reduzierte er die oft langatmigen Bezeichnungen von Pflanzen auf zwei Bestandteile.
Jede Pflanze erhielt sozusagen einen Vor- und einen Nachnamen – auf Latein. Der erste Teil des Namens bezeichnete die Gattung, der zweite die Art innerhalb der Gattung. Die binäre Nomenklatur war geboren – und damit unter anderem der Begriff Homo sapiens, den Linné ebenfalls prägte. Diese Systematik erwies sich im, bis dahin völlig unüberschaubaren, Pflanzenreich als besonders hilfreich.
Ein Beispiel: Während einst den Schwalbenwurz-Enzian ein wahres Wortungetüm bezeichnete
ZITATOR 2 oder 3
Gantiana foliis avato-lanceolatis floribus campanulatis in alis sessilibus – zu Deutsch: Enzian mit eiförmig-lanzettenartigen Blättern und glockenförmigen Blüten in sitzenden Flügeln
ERZÄHLER
So machte Linné daraus schlicht eine
ZITATOR 1
Gentiana asclepiadea – zu Deutsch also: Schwalbenwurz-Enzian
ERZÄHLER
Der Vorteil dieser knappen, eindeutigen Benennung liegt noch heute auf der Hand - nicht nur für Wissenschaftler, sondern für alle, die mit Pflanzen zu tun haben, wie Renate Hudak vom Botanischen Garten Augsburg:
5. ZUSPIELUNG Hudak 0:16
„Damit kann ich mir immer sicher sein, dass, wenn ich mit jemandem anderen spreche, wir dieselbe Pflanze meinen.“
ERZÄHLER
Noch heute tragen Pflanzen im alltäglichen Sprachgebrauch oft regional unterschiedliche deutsche Namen. Um Missverständnisse auszuschließen, hilft der Rückgriff auf die Linnéschen lateinischen Bezeichnungen weiter.
Linné führte nicht nur diese zweiteilige Nomenklatur ein, er entwickelte eine ganz neue Fachsprache und legte Methoden zur Erforschung der Pflanzen fest. Das alles in seinem Werk „Philosophia Botanica“.
7. ZUSPIELUNG Nickelsen 16.38
„Und was dieses Werk auch auszeichnet, ist, es ist nicht ein trockenes Lehrbuch der Botanik, sondern das ist eingeteilt in unterschiedliche Aphorismen könnte man sagen, in Sätze und dann Erläuterung, und es ist unglaublich witzig zum Teil, also geistreich. Bei den Namen zum Beispiel … sagt er etwa: Namen sind nicht zulässig, wenn sie anstrengend auszusprechen sind, wenn sie ekelhaft sind oder wenn sie länger sind als anderthalb Fuß. Und das erläutert er dann weiter und sagt, länger als eineinhalb Fuß ist ein Name, der mehr als zwölf Buchstaben hat.“
ERZÄHLER
Linné ging bei seiner wissenschaftlichen Arbeit pragmatisch zu Werk und orientierte sich am praktischen Nutzen.
Die Botanik war seinerzeit dem „gottgegebenen“ System der Pflanzen auf der Spur, das es zu erkennen galt.
8. ZUSPIELUNG Nickelsen 5.10
„Aber Linné war sehr davon überzeugt, dass das zwar ein Ziel war, dass wir dies aber nicht erreichen können. Und dass wir … Kategorien brauchen, die wir nach unserem Gutdünken definieren, also dass wir Gruppen schaffen, mit denen wir gut arbeiten können… Das gelang ihm sehr, sehr gut. Hier hat er Klassen definiert und Ordnungen, also große Gruppen nach den sogenannten Sexual-Organen der Pflanzen. Das war schon bekannt, dass man so etwas wie eine sexuelle Fortpflanzung hat bei Pflanzen, und man musste dann … für diese übergeordneten Gruppen nur noch zählen. Also man musste zählen, wie viele Staubblätter und wie viele Stempel und Narben eine Pflanze hatte und konnte sie dann ins System einsortieren.“
ERZÄHLER
Linnés systematischer Ansatz ermöglichte ihm eine geradezu enzyklopädische Leistung. Im Laufe seines Lebens beschrieb und benannte er schätzungsweise 16.000 Pflanzen- und Tierarten, viele davon Neuentdeckungen. Das tat er nicht eigenhändig, er konnte sich dabei auf ein weltumspannendes Netzwerk an Korrespondenten stützen.
Sie alle arbeiteten schon bald nach seinem System.
10. ZUSPIELUNG Nickelsen 13.20
„Zum Teil waren das Schüler, zum Teil waren es auch Kollegen, mit denen er auf gutem Fuß stand, die durch die Welt reisten und ihm Pflanzen-Material zusandten, meistens als getrocknete Herbarexemplare, die er dann nutzte, um die neuen Pflanzennamen zu definieren und die dann in die nächste Auflage der Spezies Plantarum aufzunehmen. Das ist also ein Werk, das sehr häufig aufgelegt wurde, immer wieder überarbeitet und erweitert.“
ERZÄHLER
Diese Arbeitsweise war damals unter Botanikern üblich – es herrschte ein Geben und Nehmen, man tauschte Pflanzenmaterial aus und teilte sein Wissen. Wobei Linnaeus sich in der damaligen Botaniker-Gemeinschaft einen eher zweifelhaften Ruf erwarb, wie die Wissenschafts-Historikerin Kärin Nickelsen berichtet.
11. ZUSPIELUNG Nickelsen 20.48
„Denn es war bald bekannt, dass Linné zwar von allen Pflanzenmaterial, getrocknete Pflanzen oder auch eingelegtes Material, bekam und auch darum bat oder sogar anforderte, aber kaum jemals etwas wieder verschickte. Also ein Korrespondenzpartner bezeichnete ihn einmal sehr schön als die Spinne im Netz.“
ERZÄHLER
Dank dieser zentralen Stellung mit Verbindung in alle Welt gewann Linné in seinem abgelegenen Botanischen Zentrum im schwedischen Uppsala einen Überblick über die für Europa bekannte Flora der Zeit. Und aus dieser Position heraus definierte er, welche Pflanze wo in dem System ihren Platz erhielt und vergab entsprechende Namen.
12. ZUSPIELUNG Nickelsen 13.30
„Und Linné nutzte seine Position als Autorität, um auch Gunst zu vergeben. Also er konnte auch mit Pflanzennamen zum Beispiel Kollegen feiern, die er besonders lobenswert fand und erwähnenswert fand, also seinen verehrten Lehrer zum Beispiel, Rudbeck, den ehrte er durch die Rudbeckia, also den Sonnenhut, eine ganz besonders schöne Pflanze in dieser Zeit.“
ERZÄHLER
Kritiker seiner Arbeit dagegen konnte er schon einmal abstrafen durch seine Namensgebung.
13. ZUSPIELUNG Nickelsen 12.13
„Es gab einen Botaniker, der ihn besonders scharf kritisierte: Johann Georg Siegesbeck, und da hat Linné im Gegenzug etwas gemacht, was er auch häufiger machte, nämlich seine Position als Nomenklator, als derjenige, der Pflanzennamen vergab, ausgenutzt. Er hat also zu Ehren von Siegesbeck eine ganz besonders unscheinbare, unwichtige Pflanze Siegesbeckia genannt.“
ERZÄHLER
Und Kritiker hatte Linnaeus durchaus. Vor allem sein sogenanntes Sexualsystem der Pflanzen stieß einigen Zeitgenossen peinlich auf. Denn Linné gruppierte die Pflanzen anhand ihrer Fortpflanzungsorgane. In Analogie zum menschlichen Sexualleben sprach er von den „Hochzeiten der Pflanzen“ und war überzeugt, so die Umweltpädagogin Renate Hudak:
14. ZUSPIELUNG – Hudak 6:39
„Pflanzen haben eine Sexualität, und es gibt weibliche Blüten und männliche Blüten, und zum Teil wurde er dafür richtig angefeindet, weil das zu dieser Zeit eigentlich ein Unding war - zu sagen: das harmlose, friedliche Reich der Pflanzen wird jetzt auch noch damit verbunden.“
ERZÄHLER
Auch wenn seine Beobachtung völlig richtig war – bei der Fortpflanzung von Pflanzen spielen männliche und weibliche Blütenorgane eine große Rolle – geriet er mit seinen Begriffen und seinen Beschreibungen in Konflikt mit den Moralvorstellungen seiner Zeit, sagt Kärin Nickelsen. Indes:
15. ZUSPIELUNG Nickelsen 11:25
„Er hat es auch genossen. Er hat auch geschrieben darüber, wie etwa, wenn man eine Gruppe hatte, zum Beispiel mit einem Staubblatt und verschiedenen Narben oder Stempeln, dann nannte er dies Monandria, … und schrieb auch darüber, dass hier also ein Mann mit vielen Frauen ins Bett geht - das war durchaus bewusst als Provokation gesetzt und wurde auch so gelesen.“
ERZÄHLER
Gegen die gängigen Vorstellungen verstieß auch, dass er den Menschen in sein System der Tiere aufnahm, und zwar in eine Gruppe mit den Menschenaffen. Kärin Nickelsen:
16. ZUSPIELUNG Nickelsen 26:45
„Das war etwas, was den religiösen Gefühlen der Zeit vollständig entgegenstand. … Also den Menschen als Krone der Schöpfung auf eine Stufe zu stellen mit eben Affen - dafür wurde er sehr kritisiert und blieb aber, hielt daran fest und sagte, als Naturforscher sehe er eigentlich keinen Grund, der dem irgendwie entgegenstand.
ERZÄHLER
Linné war durch und durch Wissenschaftler. Er fühlte sich dem verpflichtet, was sich beobachten ließ. Sein System und die Vereinfachung der Namensgebung bewirkten,
17. ZUSPIELUNG Nickelsen:
„dass im 19. Jahrhundert etwa das Botanisieren etwas wurde, was ein verbreitetes Hobby war, also gerade für bürgerliche Familie in England ganz besonders, aber auch in anderen Teilen Europas, auch schicklich für junge Damen, … also mit ganz wenig Vorbildung konnte man auf diese Weise eben Pflanzen, die man fand, da konnte man zunächst einmal zählen: Wie viele Staubblätter gibt es, wie viel Stempel gibt es, und wo gehört es dann zunächst mal rein als Klasse und Ordnung und sich dann also einen Zeitvertreib aneignen, der zugleich also gerade in England auch aufgeladen war mit theologischen Vorstellungen. näher. Also man konnte auf diese Weise mehr darüber erfahren, wie Gott eben die Welt geordnet hat.“
ERZÄHLER
Vieles von dem, was Linné an Ideen schuf, hat noch heute Bestand.
Sein zweiteiliges System zur Benennung von Tieren und Pflanzen beispielsweise. Anderes dagegen war schon bald überholt. Dass die Arten gottgeschaffen und konstant seien, wirbelte spätestens Charles Darwins Evolutionstheorie Mitte des 19. Jahrhunderts gehörig durcheinander.
Die Erkenntnis, dass sich Arten über die Generationen hinweg entwickeln, war unvereinbar mit Linnés künstlich definierten Kategorien.
Und: Längst ist klar, belegt auch durch die Genetik, dass morphologische Ähnlichkeiten eben nicht unbedingt Verwandtschaftsbeziehungen spiegeln.
MUSIK m01 (M0017672Z00, Into another dimension part 3, M0017672Z00, Rucker, Steve; Chase, Thomas Jones, 0:28 Min)
Carl von Linnés geniale Leistung bleibt dennoch zu würdigen: Es gelang ihm, Ordnung zu schaffen angesichts einer unübersichtlichen und geradezu explodierenden Wissensfülle.
Und was wäre eine Wissenschaft ohne Ordnung?!
Melancholie wird mal als genialisch, mal als krankhaft beschrieben. So auch in zentralen philosophischen Betrachtungen: Von der Antike bis zur Moderne wird der Melancholiker bewundert und verehrt, beklagt und verurteilt. Doch was ist "Melancholie" überhaupt? Ein Blick in die Geistesgeschichte der Melancholie. (BR 2022) Autorin: Susanne Brandl
Credits
Autor/in dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Irina Wanka, René Dumont
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Mariela Sartorius (Autorin und Fotografin);
Andreas Bähr (Professor Dr.; Kulturwissenschaftler);
László F. Földényi (Autor und Essayist)
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Literaturtipps:
Mariela Sartorius: Die hohe Kunst der Melancholie: Die Autorin holt die Melancholie aus ihrer dunklen Ecke. Auf der Suche nach einem positiven.
Lászlo Földényi: Melancholie: Matthes & Seitz, Berlin. Streifzug durch die Kultur- und Philosophiegeschichte der Melancholie. Ausführliche Studie.
Peter Sillem: Melancholie oder vom Glück, unglücklich zu sein. Dtv. Die wesentlichsten Schriften zum Thema Melancholie, Theophrast, Ficino, Kierkegaard uvm.
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ZITATOR SHAKESPEARE: „Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind und unser kleines Leben ist von einem Schlaf umringt.“
01 O-TON Sartorius:
„Oh ja, ja, sehr schön, genau auf den Punkt gebracht. Shakespeare … Bob Dylan mit seinen Texten, Handke, ganz wunderbar.“
SPRECHERIN:
Die Münchner Autorin und Fotografin Mariela Sartorius kennt Melancholie aus eigenem Erleben. Sie hat ein Buch über diese Stimmung verfasst, mit der Absicht, die Melancholie aus ihrer düsteren Ecke zu holen.
02 O-TON Sartorius:
„Mir ist es immer ganz wichtig, den Unterschied zur Depression rauszustellen. Melancholie ist ein Genuss, keine Krankheit, man sollte sie sich gönnen, ab und zu. Und ich finde, Depression engt ein, und Melancholie macht genau das Gegenteil, sie weitet, zeitlich, räumlich. Es ist so ne Gradwanderung. Man muss darauf achten, nicht in die Depression abzurutschen und auf der anderen Seite nicht in den Kitsch und die Sentimentalität.“
SPRECHERIN:
Man spürt sie oder eben nicht, die Melancholie. Wenn sie kommt, dann weiß der Betroffene, sofern er in sich hineinhört, ziemlich genau: ah ja, da ist sie wieder. So beschreibt Mariela Sartorius die Melancholie. Ihr mit Worten gerecht zu werden oder sprachlich zu definieren ist allerdings äußerst kompliziert. (So schwierig wie es zum Beispiel ist, Musik zu beschreiben.)
SPRECHERIN:
Noch schwieriger wird es, wenn es darum geht, Melancholie wissenschaftlich oder historisch zu erfassen. Denn die heutige Wissenschaft weicht ihr weitestgehend aus und jede Epoche hat ein jeweils anderes Bild von Melancholie.
Seit ca. 2.500 Jahren werden so viele unterschiedliche Kriterien auf den Tisch gelegt, dass die Suche nach einer ganzheitlichen Beschreibung der Melancholie einer Mammutaufgabe gleicht.
Der ungarische Autor Lazlo Földenyi hat es gewagt. In zwei enormen Studien geht er der Melancholie auf den Grund. Sein Ergebnis:
03 O-TON Földenyi:
„Ich würde schon sagen, Melancholie ist wie ein schwarzes Loch. Man kann um die Melancholie herumspazieren, viel schreiben, man kann sich immer wieder annähern. Sie selbst kann man nicht anfassen, sondern nur durchleben.“
SPRECHERIN:
Das Wort Melancholie stammt aus dem Altgriechischen und heißt so viel wie „Schwarze Galle“. Zum ersten Mal findet sie sich bei Homer, der über das finstere Herz von Agamemnon schreibt, das von schwarzer Galle umströmt sei. Der antike Arzt Hippokrates, der etwa 460 Jahre vor Christus lebte, entwickelte das Konzept der Viersäftelehre. Danach ist der Mensch dann gesund, wenn seine vier Säfte, das Blut, der Schleim, die gelbe und die schwarze Galle in Balance seien.
SPRECHERIN:
(Aber was genau hatte es mit schwarzer Galle auf sich? War sie gut oder schlecht?) Bei Aristoteles durfte sich die Melancholie mit positiven Attributen schmücken. Wobei sich nicht Aristoteles selbst darüber geäußert hat, sondern wohl einer seiner wichtigsten Schüler: Theophrast. Aus dessen Feder stammt die Sentenz:
ZITATOR Aristoteles: „Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?“
04 O-TON Földenyi:
„Und das ist eigentlich der Beginn des Melancholie-Bewusstseins. Zuerst wird hier auf Melancholie reflektiert und das ist bis zum heutigen Tag ein sehr berühmter und oft zitierter Satz. So fängt Melancholie in der abendländischen Geschichte an.“ 24s
SPRECHERIN:
Was der Philosoph mit „außergewöhnlich“ meint, wird deutlicher, wenn er bestimmte Melancholiker beim Namen nennt.
05 O-TON Földenyi:
„Das waren einerseits Heroen aus der Mythologie, er nennt Aias, Bellerophontes und Herakles und dann nennt er auch Philosophen wie Empedokles, Platon, Sokrates, ein Politiker: Lysander. Also lauter Figuren, die eine außergewöhnliche Leistung hinter sich hatten. Das ist eine Grenzerfahrung, was die alle geleistet haben und alle haben auch die Grenzen überschritten und deswegen wurden sie melancholisch.“
SPRECHERIN:
Außerdem heißt es bei Theophrast, dass Melancholiker zum Wahnsinn neigen, was in der Antike als eine schöne, göttliche Gabe verstanden wird. Denn wie Wahrsager vermögen sie es, aus der Zeit zu treten, die Zusammenhänge des Seins zu erkennen.
Diese Erkenntnisfähigkeit, das Künstlerische oder auch das Fallen aus der Zeit sind Dinge, die sich bis in das heutige Melancholie-Verständnis hineingehalten haben.
06 O-TON Sartorius:
„Natürlich ist das mit Erkenntnis verbunden. Wenn Sie denn nachdenken und das sollte immer mit der Melancholie verbunden sein: warum hat mich das jetzt so, wie sehe ich es denn jetzt, wie sah ich es gestern das Thema oder die Umstände. Es ist vor allem ein sich bewusst machen des Vergänglichen. Es macht aber nicht traurig, sondern es versöhnt. Und wenn man ne melancholische Phase hat, ist man ja direkt ein bisschen wund an dieser dünnen Haut, die es hereingelassen hat und um kreativ zu sein, muss das, was in mich eingedrungen ist, wieder raus. Und das ist dann ne Basis für kreatives Tun.“
SPRECHERIN:
Für Lazlo Földenyi ist Melancholie verbunden mit dem Gefühl von Unlösbarkeit. (Unlösbare Aufgaben und große Momente, wie sie auch die Heroen der Antike durchlebten, machen melancholisch.)
07 O-TON Földenyi:
„Wir alle erleben Momente, wo wir meinen, diese Situation ist unlösbar und trotzdem etwas sehr Wichtiges geschieht, das kann eine übergroße Freude sein oder eine große Trauer oder verliebt sein oder ein kathartischer Kunstgenuss sein. Und man spürt, hier passiert irgendwas, aber was, das kann ich nicht genau in Worte fassen.“
SPRECHERIN:
(Der Welt für einen Moment abhanden zu kommen), in einer unlösbaren Sphäre zu versinken, die mit der Zeitlichkeit konfrontiert, die Grenzen des eigenen Seins aufzeigt, ist in der Antike noch mit Faszination verbunden.
Ganz anders sehen es die Philosophen und Kirchenväter des Mittelalters. Der durchlässige Zustand, dem Erkenntnis nähersteht als Glaube, kann nur eines sein: Teufelswerk. Melancholisch zu sein bedeutet, Gott in Zweifel zu ziehen.
08 O-TON Földenyi:
„Der Melancholiker sehnt sich in das Jenseits, aber das ist nicht religiös gemeint, sondern eher das Unbekannte. Und im Mittelalter gibt es das nicht, sondern es muss alles erklärt werden, alles muss in der großen Kette des Seins eingefügt werden, unbekannt kann nichts bleiben, denn da erscheint der Teufel.“ 22s
SPRECHERIN:
Im klösterlichen Mikrokosmos, geprägt von Entsagung, Gebet und Arbeit gilt die der Melancholiker als faul. So jedenfalls sieht es der Theologe und Philosoph Thomas von Aquin:
ZITATOR Thomas von Aquin:
„Bisweilen dringt sie bis zur Vernunft durch, die in die Flucht einstimmt und in den Schauer und in den Abscheu vor dem göttlichen Gut, wobei das Fleisch gegen den Geist die volle Überhand hat.“
10 O-TON Földenyi:
„Thomas von Aquin empfiehlt viele unterschiedliche Heilmittel. Z.B. die Suche nach Freude, viel weinen, da Tränen die seelische Spannung lindern, Schlaf, Bäder, sehr viel Beten.“
SPRECHERIN:
Auch heute noch gilt die Trägheit als eine der sieben Todsünden.
11 O-TON Sartorius:
„Die Melancholie, die emanzipiert sich natürlich ein bisschen gegenüber dem Glauben. Melancholie sieht ja immer auch das Ende und die andere Seite und die Kirche sieht ja kein Ende, es geht ja immer ganz toll weiter, oder sehr heiß in der Hölle.“
SPRECHERIN:
Die Rettung der Melancholie ist die Renaissance, die von Italien ausgeht. Man besinnt sich wieder auf die Werte der Antike und zum ersten Mal steht der Mensch mit all seinen Widersprüchen im Mittelpunkt des Denkens. Damit hat auch die Melancholie wieder eine Daseinsberechtigung.
Einer, der sich intensiv mit dem Melancholie Konzept der Antike befasst, ist der Philosoph Marsilio Ficino, der führende Kopf der Florentiner Akademie. In seinem Werk „Libri de vita triplici“ von 1482 zeichnet er ein dynamisches Melancholie-Bild.
12 O-Ton Földenyi:
„Melancholie ist für ihn schon ein dynamischer Begriff. Also Melancholie ist keine Krankheit, meint er, aber auch nicht der Gesundheit zuzuordnen, sondern eine Art von Zwischenstadium, ein ständiges Gefährdetsein. Er selbst litt an Melancholie. Und mal beklagt er sich - er meint: Ich bin unglücklich, weil ich so melancholisch bin und anderswo schreibt er: Ich bin glücklich, dass ich so melancholisch bin, denn das ist die Vorbedingung für Philosophie und für große Taten.“ 20s
ZITATOR Marsilio Ficino:
„Wegen meiner allzu großen Furchtsamkeit klage ich mein melancholisches Temperament an und das ich nur durch häufiges Lautenspiel ein wenig lindern und versüßen kann. dann will ich dem Aristoteles beistimmen, der gerade sie für eine göttliche Gabe hält.“
SPRECHERIN:
Ficino sucht nach dem Auslöser seiner eigenen melancholischen Auswüchse und wird in der Astrologie fündig. (Er selbst sei ein Kind des Saturn), schreibt er und alle Melancholiker seien im Zeichen des Saturn geboren. Ein für die heutigen Begriffe eigentümlicher Zusammenhang.
13 O-TON Földenyi:
„Das kommt noch aus dem Hellenismus. Da hat man sich sehr viel mit Astrologie beschäftigt. Und da erschien es zum ersten Mal: Der Saturn ist der Planet der Melancholie und alle, die im Zeichen von Saturn geboren sind, sind Melancholiker. Und später in der Renaissance, die Astrologie kommt zu einem neuen Leben und alle beschäftigen sich damit.“ 5s
ZITATOR Ficino:
„Der Saturn trennt den Menschen von den anderen, macht ihn zu göttlicher Einsicht fähig, glückselig, aber auch von äußerem Elend bedrückt. Es scheint, dass mir der Saturn von Anfang an das Siegel der Melancholie aufgedrückt hat.“
SPRECHERIN:
Zwar ist der Einfluss des Saturn nicht zu ignorieren, aber letzten Endes ist die melancholische Persönlichkeit für ihr eigenes Schicksal selbst verantwortlich. Typisch Renaissance also. (Der Melancholiker kann sein Seelenheil selbst herausfordern und beeinflussen.)
14 O-TON Földenyi:
Und was seine große Neuerung ist: durch entsprechende Betätigung kann jeder Mensch unter den Einfluss des Saturn gelangen, also das heißt: Melancholie ist mit Kreativität verbunden. Und jeder soll danach streben, kreativ und auch melancholisch zu sein.
SPRECHERIN:
Wie aber strebt man danach? Mariela Sartorius meint, um melancholisch zu sein braucht es (eine Begabung), eine hohe Sensibilität. Aber es gibt auch sowas wie Melancholie-Trigger.
15 O-TON Sartorius:
„Bewusste und auch unbewusste. Bei den meisten Melancholikern ist es Musik. Bei mir sind es Texte. Wenn ich irgendwo eine sehr schöne Formulierung lese, dann stellen sich mir die Haare auf vor Genuss. Man kann sie sich nicht reinziehen, wie: ach heute Nachmittag mal bisschen Melancholie. Man muss die Fähigkeit zur Nachdenklichkeit haben.“ 10s
SPRECHERIN:
Geradezu zelebriert wird Melancholie im Zeitalter des Barock, vor allem von denjenigen, die in Prunk und Fülle leben. Melancholie ist weniger ein zu analysierendes Phänomen als ein Gefühl des Morbiden. Sich sehnsüchtig und auch etwas selbstmitleidig in tiefe Abgründe gleiten zu lassen, das ist in der adeligen Gesellschaft damals en vogue.
16 O-TON Sartorius:
„Am Hof des Ludwig des 14., des 15. und vielleicht auch des 16. Ludwig, ja da malten sich die Höflinge Tränen auf die Wangen, damit es so aussieht als hätten sie geweint vor lauter Sensibilität und Melancholie, oh mein Gott! Da war es ein bisschen Usus und auch Mode“. 3s
17 O-TON Bähr
„sie war eben auch ein Zustand, der die Dichtung inspiriert und der die Nähe zum Göttlichen herstellen und auch Ausdruck von Gelehrsamkeit sein konnte.“
So Andreas Bähr von der Europa Universität in Frankfurt.
SPRECHERIN:
Von den dunklen Gemälden des Barock schauen Totenköpfe und verwelkte Blumen, Vanitas und Memento-Mori-Motivik zieht sich durch die Lyrik. Der schlesische Dichter Andreas Gryphius um 1640:
ZITATOR Gryphius:
„Mir ist, ich weiß nicht wie, ich seufze für und für.
Ich weine Tag und Nacht; ich sitz′ in tausend Schmerzen;
Und tausend fürcht′ ich noch; die Kraft in meinem Herzen
Verschwindt, der Geist verschmacht′, die Hände sinken mir.“
SPRECHERIN:
Gut 100 Jahre später wird wieder von außen draufgeblickt: Immanuel Kant schreibt in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen: Der Melancholiker:
ZITATOR Kant:
„hat vorzüglich ein Gefühl für das Erhabene. Selbst die Schönheit, für welche er ebenso Empfindung hat, muss ihn, indem sie ihm Bewunderung einflößt, rühren. Der Mensch von melancholischer Gemütsverfassung bekümmert sich wenig darum, was andere urteilen, was sie für gut oder für wahr halten, er stützt sich deshalb bloß auf seine eigene Einsicht. Er sieht den Wechsel der Moden mit Gleichgültigkeit und ihren Schimmer mit Verachtung an. Er erduldet keine verworfene Untertänigkeit und atmet Freiheit in einem edlen Busen. (Alle Ketten, von den vergoldeten an bis zu dem schweren Eisen der Galeerensklaven sind ihm abscheulich.)“
SPRECHERIN:
Aber Kant ändert seine Einstellung zur Melancholie 30 Jahre später im grundlegend. Im Licht der Aufklärung wird die Melancholie zum Gravitationszentrum vieler moralphilosophischer Debatten. Das Melancholische als lichtscheue, unberechenbare Größe, die nicht nur im Gegensatz zur Vernunft steht, sondern auch mittels Verstand schwer begriffen werden kann, gilt es zu bezwingen und zu verurteilen. Kants Haltung zur Melancholie wird ambivalent:
18 O-TON Bähr:
„Dieser melancholische Charakter kann sozusagen ausarten. Und dann kommen Zustände dabei heraus, Schwermut, Schwärmerei, in Rachbegierde und dann kann eine melancholische Person durchaus furchterregend werden und kann negative Züge bekommen. Und dann wird Melancholie mit Phantasterei in Verbindung gebracht. Da haben wir eine Melancholie, die umkippen kann in einen pathologischen Zustand.“
SPRECHERIN:
Genauer gesagt: (in trübsinnige Selbstquälerei.) In einen Wahn von Elend, der zur Gemütskrankheit führen kann. Allerdings ist diese Art von Melancholie zu überwinden:
19 O-TON Bähr:
„Durch eine Form von Selbstkontrolle, die letztlich über die Vernunft geleistet werden muss. Gleichzeitig ist sich Kant darüber bewusst, dass der Mensch nunmal nicht nur ein Vernunftwesen ist, sondern auch ein körperliches Wesen, ein empfindendes Wesen und dass diesen Versuchen vor dem Hintergrund auch Grenzen gesetzt sind.“
SPRECHERIN:
Die Dialektik von Geist und Körper, von Licht und Schatten lässt sich nicht auflösen: Während die Vertreter der Aufklärung die Melancholie als grundlose und krankhafte Traurigkeit denunzieren, gibt es auch immer mehr Anhänger der Empfindsamkeit, die im melancholischen Befinden ein höher inspiriertes Leben sehen. (Die Haltung gegenüber der Melancholie wird zur Gretchenfrage.)
Die Melancholie ???? K ist (mit den Anfängen psychologischer Betrachtungen) während der Aufklärung in den Bereich der Krankheit verbannt. Damit ist sie gebrandmarkt. Als geschriebenes Wort taucht sie immer seltener auf. Aber als Empfindung bahnt sie sich im Reich der Künste ihren Weg.
SPRECHERIN:
In Malerei und Musik schwingt sie immer mit, als Nebelmeer oder Mondnacht. Die Melancholie als Membran, die das Jenseits durchscheinen lässt.
20 O-TON Földenyi:
„Der französische Dichter Charles Baudelaire schrieb einmal über irritierende Melancholie und er meinte, die entströmt der Dichtung und der Musik, denn sie zeigt uns eine Welt jenseits des Grabes. Aber er meint, dieses Jenseits des Grabes, das erscheint noch hier im Diesseits. (Musik und Dichtung ist für ihn eine Jenseitserfahrung, aber noch in diesem Leben.) Aber das hat nichts mit Glaube oder mit der Religion zu tun.“
SPRECHERIN:
Dieses melancholische Erleben suchen die Romantiker auch häufig in der Natur.
ATMO (Vogelgezwitscher)
Ein Ort, in dem sich die Melancholie gut finden lässt, so die Autorin und Fotografin Mariela Sartorius:
21 O-TON Sartorius:
„Wenn ich allein so durch die Wälder stromere, da beginnt tatsächlich ein Gefühl, als ob ich verwandt wäre mit dieser Natur, mit nem Grashalm, mit nem Baum, mit ner Wolke, mit nem Lichteinfall und das macht mich ungeheuer durchlässig und da entstehen phantastische Gefühle, die immer mit Melancholie verbunden sind. Denn natürlich weiß man: der Baum stirbt langsam ab, was nicht traurig ist, es ist ein normaler, guter Rhythmus in der Natur.“
SPRECHERIN:
Die Melancholie als Wissen um das Ende.
Diese Ausrichtung auf die Zukunft, ist besonders für einen Melancholiker die Haupt-Quelle seines Leidens. Es ist der Philosoph Sören Kierkegaard.
ZITATOR Kierkegaard:
„Was ist meine Krankheit? Schwermut. Wo hat diese Krankheit ihren Sitz? In der Einbildungskraft; und ihre Nahrung ist die Möglichkeit.“
SPRECHERIN:
Das Einbilden, also das Hoffen auf eine noch nicht eingetretene Zukunft oder das Versinken in eine vergangene Zeit, ist für Kierkegaards Melancholie-Verständnis zentral. Der Melancholiker empfindet eine Art Gegenwartsverlust.
22 O-TON Bähr:
„Das, was beschrieben wird, ist eine Befindlichkeit der Abwesenheit, wenn man so will. Also die Gegenwart wird als unerfüllt wahrgenommen. Daraus resultiert eine doppelte Fluchtbewegung. In die Vergangenheit und eine Hoffnung auf zukünftige Zustände. Das spezifisch Melancholische daran, ist dass diese Fluchtbewegung keinen Erfolg hat, weil das Vergangene selbst im Grunde ein Zustand des Unerfülltseins ist und das Künftige ein Zustand der Unerfüllbarkeit.“
(SPRECHERIN:
Der Mensch, meint Kierkegaard, sei:
ZITATOR Kierkegaard:
„das unglücklichste und melancholischste Tier“.)
SPRECHERIN:
Wer sich als unglücklich beschreibt, beschreibt die anderen als glücklich, die es aber nur deswegen sind, weil sie bestimmte leidbringende Dimensionen nicht erkennen. Hier ist die Melancholie wieder mit Erkenntnis verbunden. Gar nicht so schlimm also? Kierkegaard schreibt jedenfalls auch:
ZITATOR Kierkegaard:
„Doch was sage ich: „der Unglücklichste“? „Der Glücklichste“ sollte ich sagen.“
23 O-TON Bähr:
„Hier spitzt Kierkegaard das im Grunde dahingehend zu, dass man nur im Zustand von Unglücklichsein wahrhaft glücklich sein kann. Also kann man sich fragen, wie weit will Kierkegaard hinaus aus diesem Zustand…jedenfalls stellt er es am Ende so dar, also dass im Grunde in diesem Zustand des Unglücklichseins das eigentliche Glück liegt.
SPRECHERIN:
Melancholie in Zusammenhang mit Glück zu denken, scheint allerdings im Zuge der Moderne immer abwegiger. Im Laufe des 19./20. Jahrhunderts entwickelt sich eine Pathologisierung der Melancholie, die dann im 20. Jhdt. in die Prägung des Begriffs der Depression mündet. Bis heute wird Melancholie oft in die dunkle Ecke gestellt. Der Duden erklärt Melancholie zu einem:
ZITATOR Duden:
„von großer Niedergeschlagenheit, Traurigkeit oder Depressivität gekennzeichneten Gemütszustand.“
SPRECHERIN:
Nach all seinen Untersuchungen hat Lazlo Földenyi doch noch einen gemeinsamen Nenner aller Melancholie-Begriffe gefunden. Es ist die Offenheit für das Unbekannte.
24 O-TON Földenyi:
„Was ich feststellte, egal in welchem Zeitalter, die Melancholie war immer eine Art von Verlust des Weltvertrauens, und man wollte immer wieder über die Horizonte gehen, alltägliche Horizonte, Richtung etwas Unbekannten. Das Unbekannte im Bekannten zu erkennen und das irgendwie wahrzunehmen.
SPRECHERIN:
Als Melancholiker erfährt man also immer wieder den Moment des Scheiterns angesichts unlösbarer Phänomene wie den Verlust, die Vergänglichkeit, den Tod, das Leben nach dem Tod. Schwierig, in der heutigen Wissensgesellschaft, die zudem einem gewissen Machbarkeitswahn nicht abgeneigt ist:
25 O-TON Földenyi:
„Unsere ganze jetzige Welt scheint uns zu überzeugen, dass alles irgendwie gemacht werden kann. Und die Melancholie mahnt uns: Es gibt sehr viele unlösbare Dinge, angefangen von unserem Tod bis zu den unterschiedlichsten Erfahrungen im Leben. fehlt nicht Also die, die melancholisch sind, sind nicht unbedingt schwermütig oder traurig, es kann auch mit Glückseligkeit verbunden sein. Aber Melacnholie ist eine Offenheit für Fragen, die anachronistisch klingen.“ 14s
SPRECHERIN:
Mariela Sartorius ist überzeugt davon, dass mehr Melancholie gesellschaftlich von Vorteil wäre. Sie glaubt an ihre kraftspendende Wirkung des Innehaltens, des zu sich selbst Kommens.
26 O-TON Sartorius:
„Dieser Fitnesswahn, diese Selbstoptimierung, dieses Effizientsein auf Teufel komm raus, ja - da bleibt jetzt nicht viel Zeit für Melancholie. Und wenn sie dann kommt, muss sie ja ganz schnell in ihre Schranken gewiesen werden, denn dann könnte man ja nicht die Karriere machen, die man machen möchte. Oder das Geld verdienen, das man dringend braucht. Deswegen hat die Melancholie schon was Luxuriöses an sich.“
SPRECHERIN:
Die kritischsten Philosophen fanden etwas Gutes in ihr. Künstler, Dichter und Denker haben sie beschworen, ihr gehuldigt, sie verewigt. Vielleicht gerade deswegen, weil sie sich nicht definieren lässt. Eines aber ist sie ganz bestimmt: zutiefst menschlich. Und wäre sie eine Person, sie ließe sich so beschreiben:
27 O-TON Sartorius:
„Die Melancholie ist weiblich. Nun, gut, das Wort: DIE Melancholie. Hieße es DER Melancholie, wer weiß. Aber hmm, ich weiß nicht...also sie ist wohl weiblich. Sie ist schwer greifbar, ist eigensinnig, kommt und geht wann sie will und wenn sie ein unter Anführungszeichen „Opfer“ gefunden hat, dann ist sie gleich da. Und dann muss man ihr sagen: Ich bin gar kein Opfer, komm nur her, liebe Melancholie.“
STOPP
Wer über eine blühende Fantasie verfügt, ist in der Lage, allein in seiner Vorstellungskraft Bilder oder Szenarien zu erzeugen. Während Kinder im Spiel ständig fantasieren, wird bei Erwachsenen eine zu schillernde Fantasie allzu oft als verrückt abgetan. Dabei liegt in der Fantasie ein ungeheurer Schatz. Die lebendige Vorstellungskraft kann Raum öffnen für neue, ungewöhnliche Ideen öffnen. Autorin: Karin Lamsfuß
Credits
Autor/in dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann
Technik: Christine Frey
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Heiko Ernst, Psychologe; Norbert Groeben, Psychologie-Professor Uni Heidelberg;
Main Huong Nguyen, Psychotherapeutin und Achtsamkeitstrainerin; Gisa Klönne, Schriftstellerin;
Johannes Golchert, Psychologe
Linktipps:
Süchtig nach Alles | Podcast | ARD Audiothek:
Ob Substanzen wie Kokain und Ecstasy, Verhaltenssüchte wie Glücksspiel und Shopping oder die natürlichste Droge der Welt: die Liebe. In "Süchtig nach Alles" begibt sich Reporter Hubertus Koch auf eine Reise durch verschiedene Süchte.
ZUM PODCAST
Dissertation von Johannes Golchert über das gedankliche Abschweifen:
EXTERNER LINK | https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/9395/diss_j.golchert.pdf?sequence=1&isAllowed=y
Kurzzusammenfassung (englisch) zu a „Wandering mind is an unhappy mind“:
EXTERNER LINK | https://greatergood.berkeley.edu/images/uploads/A_Wandering_Mind_Is_an_Unhappy_Mind.pdf
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
WIE WIR TICKEN - EUER PSYCHOLOGIE-PODCAST
Literaturtipps:
Heiko Ernst: Innenwelten: Warum Tagträume uns kreativer, mutiger und gelassener machen. Klett Cotta 2011
Luisa Francia Blühende Fantasie: Die eigene Lebensvision gestalten, Knaur 2018
Für Eltern:
Petra Samarah: Fantasie- und Körperreisen mit Kindern: 57 Imaginationen mit Gestaltungsmöglichkeiten Semnos Verlag, 2013
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Erzählerin:
Ein schmaler, unbefestigter Pfad schlängelt sich immer tiefer in das Dickicht des Waldes hinein. Zugewuchert von Efeu und Farnen führt der Weg in verborgene Ecken, wo Blumen in den buntesten Farben blühen und glitzernde Bäche leise durchs Unterholz mäandern. Es ist die Heimat der Elfen, der Trolle und der Pflanzenwesen. Schon seit Jahrtausenden leben sie, von den Menschen unbemerkt, in dem geheimnisvollen Zauberwald. Nur wer seinen Geist öffnet und die Fantasie fließen lässt, kann sie sehen.
Sprecher:
Eine Reise in das Reich der Fantasie. Wir reisen alle dorthin. Unzählige Male am Tag. Fast 50% der wachen Zeit verbringt der Mensch mit Tagträumen, ergab eine Studie der Harvard University aus dem Jahr 2010.
Früher ging man davon aus: Wenn das Gehirn nicht beschäftigt ist, dann verweilt es im Ruhemodus. Das ist falsch. Heute weiß man: Wenn das Gehirn nicht konzentriert denkt, dann geht es gedanklich auf Reisen.
Musik: Z8033060122 New hope 0‘42
Erzählerin:
Der Tagträumer reist an magische Orte, in heile Welten, an den Traumstrand vom letzten Urlaub. Oder sie spielen in der Fantasie durch, wie das erste Date mit der attraktiven Kollegin oder dem attraktiven Kollegen verlaufen könnte. Aber auch unangenehme Dinge werden in der Fantasie durchdacht: etwa, dass das Finanzamt bald Stress machen könnte. Oder wie schrecklich die nächste Prüfung verlaufen wird.
Die Fantasie hat ein riesiges Spektrum: In ihr reisen wir in entfernte Galaxien. Oder planen - ganz handfest – die nächste große Reise.
O-Ton 1 Main Huong Nguyen (0‘13“):
Es macht uns Menschen ja auch aus, dass wir die Fähigkeit haben, Dinge zu antizipieren, Dinge auszumalen, wir können dadurch viele Dinge planen, wir haben eine Fantasie, die uns unterstützen kann – das ist eine ganz große Ressource.
Sprecher:
… sagt die Psychotherapeutin Dr. Main Huong Nguyen. (s. Aussprache-Audio)
Doch was ist Fantasie eigentlich?
Musik: Z8026958138 Her dream 0‘35
Sprecher:
Fantasie – abstammend vom griechischen Wort Phantasia - heißt zunächst nichts anderes als „Vorstellung“ oder „Traumgesicht“. Während die Kreativität meist eine Absicht hat, nämlich etwas zu erschaffen, etwa eine Lösung für ein Problem, wabert die Fantasie meist absichtslos umher.
Fantasie bedeutet gedankliches Abschweifen, Erschaffen von Gegenwelten, Filme im Kopfkino, Tagträumen.
O-Ton 2 Heiko Ernst (0‘14“):
Tagträume sind schon per se tröstlich, beruhigend, angenehm, ein Genuss an sich schon, also man kann auch Tagträume genießen, so wie man einen Film genießt, ich lieg irgendwo am Stand, es ist alles easy, alles in Ordnung …
Sprecher:
Heiko Ernst, Psychologe.
In der Fantasie erklimmen wir die höchsten Gipfel, sind die Party-Königin, gewinnen Millionen im Lotto und bleiben ewig schön und faltenfrei. Doch wofür ist das gut? Das sind doch alles nur Hirngespinste! Nein, sagt der Psychologe Heiko Ernst. Fantasieren und Tagträume haben wichtige Funktionen:
O-Ton 3 Heiko Ernst (0‘08“)
Also man träumt diesen Tagtraum, um auch andere Gedanken abzublocken oder um sich in eine Stimmung zu bringen, in der man ruhiger wird.
Musik: Z8029880107 Premium 0‘32
Sprecher:
Durch positive Fantasien wird das Leben entspannter, bunter und abwechslungsreicher. Fantasievolle Menschen können sich gut in andere hineinversetzen. Sie sind offen, neugierig und flexibel. In der Berufswelt führt Fantasie zu Fortschritt durch bislang ungeahnte Ideen.
Wenn Fantasie so viele positive Effekte hat, stellt sich die Frage: Wie kann man diese Quelle anzapfen?
O-Ton 4 Reportage Gisa Klönne (0‘15“):
Ja, der Hängesessel…. Ich hab ein Dacharbeitszimmer, und dann hab ich mir hier einen Hängesessel gekauft.
Erzählerin:
Gisa Klönne auf der Suche nach der Fantasie. Die Schriftstellerin hat bereits sechs Krimis und drei Romane geschrieben. Gerade sitzt sie an ihrem vierten. Gisa Klönne braucht die Fantasie – wie alle Künstler und Kreativen - wie die Luft zum Atmen. Auch wenn am Anfang immer ein grobes Gerüst steht - und natürlich viel Recherche - folgt dann die Phase der Fantasie. In dieser Phase erweckt sie ihre Romanwelt zum Leben: Sie malt sich Orte aus, entwirft Charaktere und Handlungen und erschafft Stimmungen.
Das klappt leider nicht auf Knopfdruck. Doch sie hat so ihre Techniken, die Fantasie zum Fließen zu bringen. Gerade schwingt sie in ihrem lindgrünen Hängesessel, der an der Decke befestigt ist.
O-Ton 5 Reportage Gisa Klönne (0‘26“):
Das ist ja so wie ein Baby in der Wiege, ich schaukele dann hier, ich hab hier immer neben mir inspirierende Lektüre, Notizbücher liegen, und morgens und auch, wenn ich nicht weiterkommen, mache ich hier ne Pause, schwinge so, gucke auf mein Bücherregal mit den Buchtiteln, gucke in die Wolken aus dem Dachfenster und schreibe vor mich hin. Ich schreibe dann z.B. schwingend im Hängesessel, und dann schreibe ich, was mir einfällt. Mit der Hand. Ganz wichtig!
Erzählerin:
So schwingt sie sanft hin und her, in der Hand einen Notizblock und einen Füller mit grüner Tinte. Das muss sein.
Z8032962103 Aufbruch (reduced 2) 0‘15
Sprecher:
Experten gehen davon aus, dass beim Schreiben mit der Hand die visuell-räumlichen Fähigkeiten gefördert werden, also das, was für die Vorstellungskraft essenziell ist.
O-Ton 6 Gisa Klönne (0‘22“):
Die ersten guten Ideen kommen immer per Hand. Es ist unmittelbarer, näher an mir dran, also mehr an den Quellen, die in die Kreativität gehen, an das Unbewusste, das Anzapfen, d.h. ich schreibe weite Passagen oder auch wenn ich nachts aufschrecke, weil mir irgendeine Idee kommt, mit der Hand, und wenn ich dann an einem Roman bin, dann tippe ich sie ab.
Sprecher:
Der Psychologieprofessor Norbert Groeben nennt diesen Zustand, in dem die Fantasie sich zeigen darf, „defokussierte Konzentration“.
O-Ton 7 Groeben (0‘28“):
Man kann es auch „schwebende Aufmerksamkeit“ nennen. Diese schwebende Aufmerksamkeit, die gilt es zu erreichen, dafür gibt es eine Menge an Möglichkeiten: zum Beispiel manche Leute haben diese schwebende Aufmerksamkeit beim Musikhören. Andere unter der Dusche. Weil da diese körperliche Entspannung da ist, die den Geist auch frei macht, und zugleich aber der Geist immer noch schön arbeiten kann. Vital ist.
Sprecher:
Diese schwebende Aufmerksamkeit kann auch erlebt werden morgens vor dem Aufwachen. Sozusagen auf dem Weg aus den Träumen in die Realität.
O-Ton 8 Gisa Klönne (0‘38“):
Als Autorin geht bei mir immer parallel ein Film, in dem ich Geschichten sehe, Bilder, das kann dann z.B. auch sein, wenn ich morgens aufwache, wenn ich sehr in einem Roman bin und denke als erstes: Wie geht’s jetzt dieser Figur? Was macht die als nächstes? Und die sind für mich so real da wie die Menschen in meinem Umfeld oder mein Mann!
Und der kennt das dann schon, wenn ich dann runterkomme in die Küche, dann sag ich: „Kann nicht! Schweigen!“ weil ich dann einfach diesen Figuren und dieser Geschichte in meinem Kopf erst mal zuhören will! Ich lass die einfach mal wie so ein Kopfkino ablaufen!
Musik: Z8024281109 Joy research (no drums) 0‘53
Sprecher:
Ob Traum, Tagtraum, gedankliches Umherwabern, fantasievolles Abgleiten – das findet im Gehirn im so genannten „Default Mode Network“ statt. Im Ruhe-Zustands-Netzwerk.
Zu diesem Netzwerk gehören mehrere miteinander verbundene Hirnregionen, darunter unter anderem der mediale präfrontale Kortex – zuständig für Zukunftsplanungen - und der Hippocampus, der „Arbeitsspeicher“ des Gehirns. Dieses Netzwerk ist – so Forschungsergebnisse des Dartmouth College in New Hampshire – bei Menschen in kreativen Berufen besonders aktiv. Gerade wenn es darum geht, sich wirklich Fantastisches und Utopisches fern der Realität vorzustellen.
Musik Ende
Sprecher:
Früher dachte man, dass es zwei Arten von Menschen gibt: Diejenigen, die Kontrolle über ihre Gedanken haben und die, die abschweifen, so der Psychologe Dr. Johannes Golchert, der am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften über Tagträume geforscht hat:
O-Ton 9 Golchert (0‘16“):
Heute weiß man eigentlich, dass man das differenzierter betrachten muss, und dass es neben diesem spontanen Gedankenabschweifen, was man immer wieder erlebt, noch ne weitere Form gibt: Das ist eher das bewusstere Abschweifen, ein willkürlicher Prozess, für den ich mich entscheide und dem dann auch nachgehe …
Atmo 15‘30“ Gong
O-Ton 10 Klönne (0‘19“):
Das sind beides tibetische Klangschalen, diese hier kann bis zu eine Minute nachhallen … (geht weiter)
Erzählerin:
Im Arbeitszimmer der Schriftstellerin Gisa Klönne liegen ein flauschiger Teppich und ein Sitzkissen auf dem Boden in der Mitte des Raums. Mit dem Gong der Klangschale bringt sie sich in einen Zustand, der ihren Geist für Einfälle öffnet.
O-Ton 11 Klönne (0‘39“):
Man muss quasi einen Teil des Bewussten ausschalten und sich verbinden, erden und auf eine andere Ebene kommen. Und öffnen. Auf irgendeine Weise öffnen für das, was wir nicht erklären können, was aber trotzdem da ist. Und zuhören, ich sage immer: Es ist ganz viel zuhören bei der Fantasie, die ich brauche, um einen Roman zu schreiben.
Ich setze was vor, und dann lasse ich mich auf ein Thema ein, und dann muss ich auch teilweise die Geduld haben zu hören, was da von irgendwoher diktiert wird, was auf mich zufliegt…
Musik: Z8032962139 Immer mehr (reduced 2) 0‘21
Erzählerin:
Was nie funktioniere, sagt sie, sei mit einem konkreten Auftrag in die Meditation zu gehen. Und trotzdem könne es sein, dass sie etwas „geschenkt bekommt“, wenn der Kopf leer wird. Einen Einfall, eine gedankliche Skizze, eine spannende Wendung ihres nächsten Romans.
Dabei aber, so die Schriftstellerin, sei es ihr wichtig, nicht ziellos vor sich herzuträumen, die Gedanken vor sich hinwabern zu lassen, sondern das, was sich zeigt, sofort „mit dem Lasso“ einzufangen. Am besten schriftlich.
Sie muss also switchen: von der Fantasie in die harte Realität. Ideen, Bilder, Gedanken zunächst in der Fantasie entstehen zu lassen, sie dann aber sofort mit dem wachen, klaren Geist einzufangen. Sonst verflüchtigen sie sich.
O-Ton 12 Klönne (0‘22“):
Man muss immer zweigeteilt sein als Autorin: Das Wichtigste ist erst mal dieses Intuitive, aber gleichzeitig muss man, um die Geschichte zu vollenden, sich komplett distanzieren und natürlich Erfahrung haben: Wie baue ich eine Geschichte auf, Spannungsbogen usw. aber um überhaupt eine Geschichte zu erfinden, um zu schreiben, um diesen Flow zu haben, muss ich das alles wieder zur Seite drängen. Also man ist immer ein Zwitter.
Musik: Z8019017112 Green planet red. 0‘33
Sprecher:
Gedanklich ein Eisbad nehmen und dabei bibbern. Den trockenen, pfeifenden Wüstenwind wie einen Lufthauch auf der Haut fühlen. Den köstlichen Geschmack einer süßsauren Maracuja auf der Zunge spüren. Die Harvard-Studie über das Tagträumen ergab: Die selben Hirnareale sind aktiv – ganz egal, ob wir etwas real erleben oder es uns nur in der Fantasie vorstellen.
Natürlich gibt es Menschen, die sich etwas schwerer tun als andere auf gedankliche Reise zu gehen. Ihnen, so die Psychotherapeutin und Achtsamkeitstrainerin Main Huong Nguyen, könnte es helfen, die Sinne zu trainieren. Zum Beispiel durch Achtsamkeit.
O-Ton 13 Main Huong Nguyen (0‘20“):
Weil in der Achtsamkeit trainieren wir immer wieder, das Bewusstsein auf alles, was in uns und um uns herum geschieht, zu lenken: Was sehen wir gerade? Was hören wir? Was riechen wir? D.h. wenn wir Achtsamkeit trainieren und immer wieder beobachten, dann entwickeln wir einen Fundus an Beobachtungen, auf die wir in der Imagination oder bei der Visualisierung zurückgreifen.
Musik: Z8033158105 Dream for reality 0‘34
Sprecher:
Die Fantasie schafft auch Gegenwelten. Vor allem dann, wenn die Realität zu grau ist. Schüler beamen sich einfach weg: vom langweiligen Matheunterricht auf den Ponyhof. Erwachsene vielleicht vom langweiligen Meeting an den weißen Sandstrand Balis. Und während man in Geiste einen köstlichen Cocktail serviert bekommt, will die Chefin die letzten Zahlen wissen. Opppps! Ertappt!
Musik: Z8021443122 Magic rain (reduziert) 1‘02
In magische Klänge einbetten:
Anmerkung: langer Text. Sprecher kann etwa in der Mitte der Geschichte darüber gelegt werden. Spätestens dann, wenn’s langatmig wird.
Erzählerin:
Tief in den verschlungenen Wäldern liegt ein verzauberter Bergsee, von Stille und Geheimnis umgeben. Seine Oberfläche schimmert wie ein silbriger Spiegel, der die Wunder der umgebenden Natur widerspiegelt.
Plötzlich erhebt sich eine geheimnisvolle Nebelschicht aus dem See empor, winzige Lichter tauchen auf, die tief unten im klaren Wasser leuchten. Auf dem Grund des magischen Bergsees erscheint eine zauberhafte Welt: glitzernde Pflanzen, die in leuchtenden Farben erstrahlen, und kleine Kreaturen.
Unterhalb des Gesteins liegt ein altes, von Moos überwuchertes Tor, das den Eingang zu einem vergessenen Reich markiert. Wer durch das Tor schreitet, begegnet flüsternden Wassergeistern, die ihn mit Geschichten aus längst vergangenen Zeiten verzaubern. In einem schimmernden Amphitheater, gebaut aus Kristallen, tanzen bezaubernde Wassernymphen …..
Sprecher:
Solche Fantasiewelten haben für viele Menschen etwas sehr Anziehendes, Magisches. Diese Welten sprengen Grenzen. Sie sind unendlich, und alles ist in ihnen möglich. Fantasiewelten spenden ein wenig Zauber in einer hochtechnisierten, längst entzauberten Welt.
Die Welten voller Feen, Elfen, Zwerge und Trolle haben etwas Magisches. Fantastische Werke wie „Herr der Ringe“ oder Der kleine Hobbit“ begeistern viele Menschen.
Doch Fantasiereisen haben auch im Alltag einen ganz praktischen Nutzen: Gedankliches Durchspielen kann eine gute Vorbereitung für schwierige Situationen sein, sagt die Psychotherapeutin Main Huong Nguyen.
O-Ton 14 Main Huong Nguyen (0‘24“)
Wenn wir für ne Prüfung lernen, sollten wir die Prüfungssituation möglichst nachgestalten: Uns an einen Tisch setzen, wenn das ne Multiple Choice-Klausur ist, das auch nachahmen und uns auch vorstellen, dass wir da erfolgreich reingehen und rausgehen werden, dass wir entspannt sind in dieser Situation und nicht mit diesem katastrophisierenden Bild „oh Gott, ich werde ein Blackout bekommen, mir wird nichts einfallen“ – das können wir auch auf unseren Lebensalltag anwenden.
Sprecher:
Alle Veränderungen wurden zunächst einmal in der Fantasie geboren. Erfindungen, Kunstwerke oder neue geistige Strömungen.
Fantasie ist der Motor für Weiterentwicklung.
Sie ist bei Menschen sicherlich unterschiedlich stark ausgeprägt. Ein bisschen aber hat jeder. Bis auf die geschätzten drei bis vier Prozent, die unter einer sogenannten Afantasie leiden. Das heißt: ihnen fehlt die bildliche Vorstellungskraft: Sie können weder das Gesicht eines Freundes noch ihr Wohnzimmer visualisieren. Warum das so ist, darüber rätselt die Forschung noch.
Fest steht aber: Der Grundstein für die Fantasie wird schon sehr früh gelegt, so Psychologe Heike Ernst:
O-Ton 15 Heiko Ernst (0‘36“):
Das Spiel hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem Tagtraum, auch da wird die Realität ja umgedeutet. Die Realität wird verändert, verfeinert, verbessert, das Kind macht aus dem Stock ein Schwert, aus dem Papierstreifen eine Krone, und es fantasiert sich aus einem Kochtopf eine Trommel – also es verändert die Realität im Spiel. Und das ist sozusagen die Vorübung für später auch erwachsenes Tragträumen, für Fantasieren. Wir brauchen diese Fantasien, wir müssen fähig sein, die Realität im Kopf, in unserer Innenwelt immer wieder zu verändern.
Musik: Z803615140 Mysterious animal play 0‘27
Sprecher:
Eltern können die Fantasie ihrer Kinder fördern, indem sie sie ermutigen, rumzuspinnen. Die Erlaubnis zum Träumen geben, zum realitäts-entrückten Spielen.
Erzählerin:
Auch die Schriftstellerin Gisa Klönne erinnert sich, dass ihre gesamte Kindheit von Ausflügen in fantastische Welten geprägt war.
O-Ton 16 Klönne (0‘42“):
Ich hab Schreiben gespielt. Ich fand Geschichten so toll, dann habe ich mit meinem lila Buntstift in alte Taschenkalender meiner Eltern so Schnörkel reingemacht und hab gespielt ‚ich schreibe‘. Ich wusste sehr früh, dass ich das will. Und dann war ich ganz schnell dieses Kind, was man jede Woche mit dem Bibliotheksausweis in die Bibliothek geschickt hat: zehn Bücher abgeben, zehn Bücher holen, ich hab mich quer durch alles gelesen.
Erzählerin:
Gegenwelten erschaffen in der Fantasie: Das macht sich sogar die moderne Psychotherapie bei Trauma und Depression zunutze. Mit der Methode des „Imagery Rescripting“:
O-Ton 17 Main Huong Nguyen (0‘47“)
Und das funktioniert so, dass der Patient gebeten wird, in der Imagination in diese belastende Situation zurückzugehen in der Biografie. Häufig sind das Kindheitserinnerungen, aber es kann natürlich auch ein Trauma im Erwachsenenalter sein. Und dann, wenn man an dem Punkt ist, wo die Emotion sehr stark aktiviert wurde, fragt man: Was ist das Bedürfnis des Patienten in dieser Situation. Oft ist es z.B. Sicherheit oder dass man rauskommt aus dieser Situation, und dann in diesem Moment kommt dann dieser Patient als erwachsene Person rein oder eine andere Hilfsperson. Und dann wird quasi die Situation neu umschrieben. Da wird z.B. das Kind aus dieser gefährlichen Situation rausgenommen oder der Täter oder die Täterin wird entmachtet von dieser Hilfsperson; es hört sich vielleicht so ein bisschen crazy an, aber es funktioniert so gut, und das Ziel bei dieser Behandlung ist die emotionale Neubewertung.
Sprecher:
Hat Fantasie also nur Sonnenseiten? Ist sie nur kraftvolle Ressource?
Musik: Z8014761145 Daily desolation 0‘30
Nein. Die Fantasie birgt durchaus Gefahren. Etwa dann, wenn sie finster und destruktiv wird oder gar wahnhafte Züge annimmt.
Ob sich die Fantasiewelten des Internets, vor allem gewaltvolle Videospiele auf die Entwicklung junger Menschen auswirken, wird kontrovers diskutiert. Klar ist aber, dass ein komplettes Abtauchen in virtuelle Welten nicht förderlich ist, so Heiko Ernst.
O-Ton 18 Heiko Ernst (0‘14“):
Das Kriterium ist einfach die Realitätstüchtigkeit, also die Bewältigung des Alltags, also wenn jemand wirklich versumpft in solchen Traum- und Fantasiewelten, dann ist es Zeit, Hilfe zu suchen, wobei der Betroffene das ja meist gar nicht so empfindet.
Sprecher:
Das nennen Experten dann „maladaptives Tagträumen“.
Darunter versteht man eine Form der Sucht, bei der sich Betroffene stundenlang in Fantasiewelten verlieren und soziale Kontakte vermeiden. Eine krankhafte Form der Fantasie.
Der Psychologe Heiko Ernst befürchtet zudem, dass die eigene Fantasiefähigkeit auf der Strecke bleibt.
O-Ton 19 Heiko Ernst (0‘46“):
Weil die wirklich unterminiert wird, wenn wir uns nur noch beliefern lassen durch fremde, vorgefertigte Fantasien, vielleicht auch kranke Fantasien von anderen, die wir übernehmen: Wir sehen Filme über Massenmörder, wir schauen Filme über Massenvernichtungen, wir konsumieren Horrorfilme, Splattermovies, ... die Medienwelt ist ja voll von Dingen, über die man ständig diskutiert, ob man sie nicht unterdrücken soll, also die Inhalte sind sozusagen veröffentlichte schlechte Tagträume anderer, die wir konsumieren wollen und die wir zum Teil ja auch gerne konsumieren wollen, es ist diese Faszination des Bösen natürlich auch, und wenn man sich permanent an diesen Fantasien aus der Konserve aus fremden Tagträumen bedient, bleibt eben diese eigene Fantasiefähigkeit unterentwickelt, und die anderen dominieren.
Sprecher:
Die Forscher der Harvard-Studie über das Tagträumen weisen noch auf einen weiteren negativen Aspekt hin. Mit Hilfe eines Handyprogramms befragten sie fortlaufend 2.200 Studienteilnehmer, woran sie gerade denken und wie sie sich beim Gedankenabschweifen fühlen. Titel der Studie ist bezeichnenderweise „A wandering mind is an unhappy mind“. Übersetzt: Ein umherschweifender Geist ist ein unglücklicher Geist.
Musik: C1566350119 Every man has his own sorrow 0‘15
Ein zentrales Ergebnis der Studie war: Das grübelnde und sorgenvolle Nachdenken darüber, was in der Zukunft sein könnte oder in der Vergangenheit besser gewesen wäre, kann auf Dauer unglücklich machen.
Musik: Z8035049119 Lake views 0‘20
Glücklich mache vor allem der gegenwärtige Moment – sofern er schön ist. Sex, Gespräche mit anderen Menschen, Spielen, Musikhören und Essen waren laut der Studie solch schöne Momente im Hier und Jetzt.
Musik Ende
Sprecher:
Fantasie ist also wie ein Instrument, das tröstende, beglückende und beschwingende Melodien spielen kann. Und eben auch düstere, furchteinflößende. Also gilt es, achtsam mit ihr umzugehen. Damit sie nicht anfängt, ihr Eigenleben zu führen.
In jedem Fall aber ist die Fantasie eine kraftvolle und mächtige Ressource, die Grenzen sprengen und Neues schaffen kann.
Erzählerin:
Schriftstellerin Gisa Klönne sitzt in ihrem kleinen Reihenhausgarten auf ihrem Lieblingsplatz: der hölzernen Eckbank. Es ist schon weit nach Mitternacht. Die Stadt wird ruhiger, nur noch das sanfte Rauschen des Verkehrslärms ist hörbar. Die Fledermäuse fliegen über ihren Kopf, im Laub raschelt ein Igel.
In Momenten wie diesem kann es sein, dass plötzlich eine neue Romanfigur um die Ecke kommt.
Musik: C1461890018 Relaxing water 0‘54
O-Ton 20 Gisa Klönne (0‘23“):
Ich verbinde mich, wenn ich im Garten bin, und nach einer Zeit verbinde ich mich quasi mit der Erde, darüber wieder mit mir, vielleicht auch Ursprung, also dem Leben an sich, und über diese Verbindung mit etwas Höherem – weil ich mich dann auch mit allem verbunden fühle – und geerdet. Und dann ist das das Reich, wo dann manchmal die Fantasie hinkommt.
Wenn sich Gebärmutterschleimhautzellen außerhalb des Uterus im Körper ansiedeln, dann kann das bei Menstruierenden zu höllischen Schmerzen führen. Nur wissen viele nicht, dass das bei ihnen der Fall ist. Endometriose - wenn die Menstruation zur Qual wird. Autorin: Caro Matzko
Credits
Autor/in dieser Folge: Caro Matzko
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Xenia Tiling
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Yvonne Maier
Im Interview:
Prof. Dr. med. Vanadin Seiffert-Klaus (Gynäkologische Endokrinologie und Kinderwunsch; Leiterin des Interdisziplinären Endometriose-Zentrums (IEZ); Leiterin des interdisziplinären Osteoporose-Zentrums (IOZ); Oberärztin der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde im Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München);
Prof. Dr. med. Brigitte Leeners (Klinikdirektorin Klinik und Leitung Klinische Forschung für Reproduktions-Endokrinologie am Universitätsspital Zürich);
Dr. Matthias Matzko (Chefarzt der Radiologie in der Helios-Amper-Klinik Dachau, Leiter des FUS-Centers für fokussierten Ultraschall)
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Literaturtipps:
Megbel, Esther: „Jeden Monat eine Geburt“, in: Spektrum der Wissenschaft kompakt“ (10/23), S. 48 -55
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1: Resourceful criminals
MUSIK 2: Light Reflex
ZSP 2 Marietta Leist: Geburtenkontraktionen
„Es kommt Geburtenkontraktionen gleich. Da möchte ich mal jemand sehen, der da arbeiten kann. In Gesprächen musste ich mich hinsetzen, weil ich das nicht mehr gepackt habe.“
MUSIK HOCH
ZSP 1 Vanadin Seifert-Klauss: Was ist Endometriose KURZ
„Endometriose bezeichnet Endometriumzellen, also Zellen der Gebärmutterschleimhaut, die nicht an dem Ort wo sie normalerweise sind, wachsen.“
MUSIK 3: Glas
SPRECHER
Marietta Leist ist heute 30 und hat seit ihrer Jugend sehr starke Blutungen.
ZSP 2b Marietta Leist: Beginn der Endometriose
„Meine Reise mit meiner Periode hat sehr früh begonnen. Ich glaub ich war elf und dann hat die Mami so kleine Mini-Obs und kleine Binden gekauft. Und dann hatte ich meine erste Periode. In der Schule hat sie bekommen. Mir war kotzübel und ich musste sofort auf die Toilette rennen, weil es war – ich red jetzt einfach frei raus – sintflutartig. Ich hatte so stark meine Tage gleich beim ersten Mal und relativ starke Schmerzen, dass ich mir gedacht habe: Um Gottes Willen! Das ist dann so weitergegangen. Wie ich dann 14, 15 war, ist es immer stärker geworden. So richtig angefangen, dass ich gemerkt habe: Da stimmt was nicht, war beim Geschlechtsverkehr. Von einem Tag auf den anderen hatten ich starke Schmerzen dabei, auch dass ich abbrechen musste. Und ich wusste nicht, was da los ist. Dann bin ich auch zu Gynäkologen verschiedenen, die haben aber nie das Wort Endometriose benutzt.“
SPRECHER
Durch die enormen Schmerzen beim Geschlechtsverkehr wird für sie Sex und auch die Benutzung von Tampons unmöglich, weil sie zu hart sind und das Einführen zu schmerzhaft. Und Marietta sieht, dass die Monatsblutung bei vielen Freundinnen nicht so eine Einschränkung ist und ahnt, dass da etwas nicht normal ist. Sie sucht Hilfe bei mehreren Gynäkologen - ihre Beschwerden werden aber nicht ernst genommen.
Wie viele Frauen bekommt auch sie zu hören, sie habe nun mal ihre Tage und solle Schmerztabletten schlucken oder die Anti-Baby-Pille durchgehend nehmen, damit es gar nicht erst zur Monatsblutung komme. Doch Marietta fühlt sich mit der Dauereinnahme von Hormonen nicht wohl. Mit Anfang 20 hat sie Glück. Eine Freundin empfiehlt ihr einen Frauenarzt, der zufällig auch Spezialist für Endometriose ist. Eine Krankheit, von der Marietta noch nie gehört hat.
ZSP 3 Marietta Leist: Diagnose
„Privatarzt, der hat mich abgetastet. Auch bei der Untersuchung habe ich weinen müssen. Der hat dann die Diagnose Endometriose in den Raum gestellt. Damals war die Krankheit noch null publik. Das Problem ist, wenn Endometriose im Körper verstreut ist, kann man die nicht sehen.“
MUSIK 4: Inner sanctum
SPRECHERIN
Und damit: schwer feststellen.
Was passiert dabei? Bei Frauen mit Endometriose siedeln sich bestimmte Zellen, nämlich die der Gebärmutterschleimhautaußerhalb der Gebärmutter an. Die Gebärmutterschleimhaut trägt den medizinischen Namen Endometrium – daher der Name für diese Krankheit: Endometriose. Wenn diese Zellen sich im Körper ansiedeln, bilden sie so genannte Endometrioseherde – also Gebärmutterschleimhaut, wo sie gar nicht sein soll.
ZSP 4 Vanadin Seifert-Klauss: Was ist Endometriose
Normalerweise sind sie nur in der Gebärmutterhöhle, die außerhalb der Schwangerschaft keine Höhle ist, sondern ein ganz schmaler Raum in dem sich die Schleimhaut aufbaut und während der Menstruation abblutet.
SPRECHERIN
Sagt Vanadin Seifert-Klauss. Die Professorin ist Leiterin des Interdisziplinären Endometriose-Zentrums (IEZ) am Klinikum „Rechts der Isar“ in München. Wenn die Zellen außerhalb der Gebärmutter liegen, führt das zu mitunter starken Beschwerden, denn diese Zellen reagieren weiterhin wie ganz normale Zellen der Gebärmutterschleimhaut – auf den Hormon-Zyklus.
ZSP 4.1 Vanadin Seifert-Klauss: Was ist Endometriose
„Egal wo die Endometriosezellen sitzen, im Gebärmuttermuskel, kann außerhalb der Gebärmutter sein, meistens im kleinen Becken, geht aber auch am Zwerchfell, in der Lunge, sogar im Ohr, kann es sein, dass sie den Hormonen gehorchend zur Zeit der Periode bluten und dadurch Schmerzen verursachen.“
SPRECHER
Jährlich bekommen 40.000 Frauen in Deutschland den Befund Endometriose. Doch es gibt eine hohe Dunkelziffer, da die Diagnose streng genommen nur unter dem Mikroskop erfolgen kann. Das bedeutet: Zellen müssen entnommen und als Endometriumszellen identifiziert werden. Doch um sie entnehmen zu können, braucht es in der Regel eine Operation – die viele Patientinnen erst einmal scheuen. Die Schmerzen nehmen während der Regelblutung enorm zu, weil die Zellen der Endometrioseherde – ganz egal, wo sie sich angesiedelt haben - wie die Gebärmutterschleimhaut im Uterus auf das Auf- und Ab der Hormone während des Zyklus reagieren.
MUSIK 5: Well built
SPRECHERIN
In der ersten Zyklushälfte stößt zunächst das follikelstimulierende Hormon FSH die Reifung der Eibläschen, auch Follikel genannt, im Eierstock an. Jeden Monat reift ein Follikel mit einer Eizelle im Inneren heran. Parallel dazu regen Östrogene über mehrere Tage hinweg den Aufbau der Gebärmutterschleimhaut an. Ab einer gewissen Östrogenkonzentration wird das Kommando für das luteinisierende Hormon LH und den Eisprung ausgelöst. Dann löst sich die Eizelle aus dem Follikel und macht sich auf die Reise durch den Eileiter bis zur Gebärmutter.
Im Eierstock bleibt der geplatzte Follikel zurück- um ihn herum bildet sich nun der so genannte Gelbkörper. Dort entstehen Östrogen und Progesteron, auch bekannt als Gelbkörperhormon. Progesteron unterstützt den weiteren Aufbau der Gebärmutterschleimhaut. Kommt es zu keiner Befruchtung der Eizelle durch ein Spermium geht der Gelbkörper zugrunde. Die Progesteron- und Östrogenspiegel im Blut sinken wieder, die Gefäße innerhalb eines Teils der Gebärmutterschleimhaut ziehen sich zusammen und das abgestorbene Gewebe wird mit etwas Blut abgestoßen. So kommt es zur Monatsblutung.
MUSIK aus
SPRECHER
Auch die Zellen der Endometrioseherde wachsen mit jedem Zyklus und bluten, wenn es zur Periode kommt. Die Folgen sind immens: Es kann zu lokalen Entzündungen oder sogar Organschäden kommen. Einige Patientinnen werden nicht schwanger aufgrund von Verwachsungen rund um Eileiter und Gebärmutter und die meisten leiden unter großen und ganz unterschiedlichen Schmerzen. Je nachdem, wo sich die Zellen angesiedelt haben, können noch weitere Symptome dazukommen, darum wird die Endometriose auch als das Chamäleon der Gynäkologie bezeichnet, erklärt Gynäkologin Vanadin Seifert-Klauss:
ZSP 5 Vanadin Seifert-Klauss: Hinweise
„Es gibt typische Symptome: Sehr starke Unterbauchschmerzen während der Periode, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Blut im Urin während der Periode, auf dem Stuhl, starke Schmerzen im Darm während der Periode. Viele bemerken Darmveränderungen, Durchfälle, Verstopfungen, Vorwölbung des Bauches, der „Endo-Belly“. Also es gibt verschiedene Anzeichen, wenn sie alle vier Wochen aus dem Ohr bluten oder Blut husten, dann ist das auch ein Hinweis.“
SPRECHERIN
Wie die Endometriumszellen an andere Orte des Körpers gelangen können, dafür gibt es mittlerweile einen Erklärungsansatz: Ein Grund könnte sein, dass Menstruationsblut teilweise durch die Eileiter in den Bauchraum abfließt. Das bezeichnen Medizinerinnen wie Vanadin Seifert-Klauss als retrograde Menstruation.
ZSP 6 Vanadin Seifert-Klauss: Warum tauchen die Zellen woanders auf?
„Nicht alle Schleimhautzellen, die mit der Menstruation abgestoßen werden, werden nach unten durch die Scheide abgestoßen, sondern ein Teil davon geht durch die Eileiter in den Bauchraum. Wahrscheinlich ist das sogar häufiger als wir denken, aber es erklärt natürlich nicht, warum sich bei manchen Frauen diese Zellen zu Endometrioseherden entwickeln, dort wuchern und bei anderen Frauen nicht.“
SPRECHERIN
Die Größe des Herdes sagt übrigens nichts über die Intensität der Beschwerden aus.
ZSP 7 Vanadin Seifert-Klauss: Endo im Bauchfell
„Wenn es zum Beispiel aufs Bauchfell blutet, das ist ein sehr starker Schmerzreiz, das kann bei Frauen auch mit kleinen Herden zu Ohnmachten führen und großes Leid verursachen.“
MUSIK 6: „Glas“ – siehe vorn – 18 Sek
SPRECHER
Auch Marietta Leist hat Endometriosezellen im Bauchfell, aber nicht nur dort. Um die vielen Herde zu lokalisieren und zu entfernen, wird ihr zu einer Operation geraten.
ZSP 8 Marietta Leist: Operation
„Die Operation war schon recht aufwendig. Das Ganze wurde mit einer Laparoskopie gemacht: Ein großer Schnitt auf Gebärmutterhöhe, zwei kleine Schnitte für die Zangen auf Blasenhöhe und noch ein Schnitt unterhalb des Bauchnabels.… sehr viele Bereich betroffen, das Bauchfell, die Blase, an der Scheidenaußenwand und Gebärmutteraußenwand war recht viel. Das schaut aus wie ein weißes
Gewebenetz im Körper.“
SPRECHERIN
Die Operation ist nur ein Versuch, die Endometriose in den Griff zu bekommen. Die andere Behandlungsmöglichkeit ist ein Gestagen-Präparat wie die Antibabypille zu nehmen, da die Hormone der Pille den Zyklus stabilisieren und das Wachstum der Endometrioseherde hemmen und damit die Schmerzen weniger werden. Manche Patientinnen nehmen die Medikamente gegen die Endometriose auch durchgehend, damit es gar nicht erst zum Eisprung und zur Blutung kommt. Doch wer schwanger werden will, muss die Pille wieder absetzen - und darüber hinaus sind die Nebenwirkungen von Gestagen-haltigen Tabletten für viele Frauen nicht zu unterschätzen, sagt Dr. Matthias Matzko. Er ist Leiter der Radiologie und Spezialist für Gebärmuttermyome und Adenomyosen an der Helios Amper Klinik in Dachau.
ZSP 9 Dr. Matthias Matzko: Gestagenpräparate
„Meist bleibt nur der Weg einer dauerhaften Hormonbehandlung mit Gestagen-Präparaten, welche primär dazu führen, dass die Symptome der Patientin unterdrückt werden, und dabei kommt es zu langanhaltenden Nebenwirkungen, die durch die Einnahme hervorgerufen werden: Gewichtszunahme, Wassereinlagerungen, schlechte Laune wird häufig von den Patientinnen beschrieben.“
SPRECHER
Auch Marietta Leist hat mit den Nebenwirkungen der Antibabypille zu kämpfen, kann sie aber absetzen, nachdem ihre vielen Endometrioseherde entfernt worden sind. Doch die Operation ist ein Eingriff, der nicht zu unterschätzen ist:
ZSP 10 Marietta: Nach der OP
„Nach der Operation habe ich lang gebraucht, bis ich wieder ganz fit war. Hat ein Jahr gedauert, bis die Narben verheilt waren und ich eine Besserung gemerkt habe. Ich habe jetzt weniger Schmerzen beim Sex. Das funktioniert gut. Meine Periode ist immer noch sehr stark.“
SPRECHER
.. und darum versucht Marietta auch heute noch für die ersten zwei Tage der Monatsblutung, die sie mit Hilfe einer App kalkuliert, sich nicht zu viel vorzunehmen. Denn die Schmerzen und Blutungen sind noch immer stark. Ein Grund für ihre anhaltenden Beschwerden könnte Mariettas Adenomyose sein - also die Endometriumszellen in der Gebärmutterwand. Die konnten bei der Operation nicht entfernt werden, da das Risiko einer Beschädigung des Uterus zu groß gewesen wäre.
SPRECHERIN
Dies ist bei den meisten Patientinnen so - häufig können nur vergleichsweise kleine und klar einzugrenzenden Herde, in der Sprache der Medizin fokal genannt, aus der Uteruswand entfernt werden.
MUSIK 7: Resourceful criminals
SPRECHER
Doch die meisten Adenomyosen, also Endometriumszellen in der Gebärmutterwand, werden – genau wie bei Marietta - erst nach acht oder mehr Jahren diagnostiziert.
SPRECHERIN
Bis dahin haben die Zellen viel Zeit sich zu vermehren und die betroffenen Frauen leiden jahrelang unter Schmerzen, die sie als nadelstichartig oder metallisch beschreiben, die oft schon eine Woche vor der Regelblutung beginnen. Die Blutungen selbst sind deutlich verstärkt und oft unregelmäßig. Der Radiologe Matthias Matzko findet, dass viele Gynäkologen und Gynäkologinnen das MRT - die Magnetresonanztomographie - bei ihren Patientinnen zur Weichteildiagnosik einsetzen sollten. Mit einem MRT-Bild könnten sehr viele Adenomyosen schneller entdeckt werden- und sogar behandelt werden. Matthias Matzko konnte viele Adenomyosen mit gebündeltem Ultraschall entfernen.
ZSP 11a Matthias Matzko, fokussierter Ultraschall
„Der fokussierte Ultraschall, der in der Frauenmedizin mittlerweile sehr häufig benutzt wird, um Gebärmuttermyome mit Hitze zu veröden, schafft es zum Teil auch die Adenomyosen erfolgreich zu behandeln. Oftmals ist hierzu eine Hormonvorbehandlung der Patientin über etwa sechs Monate mit einem Anti-Endometriose-Hormon nötig, um die starke Durchblutung der Schleimhautmassen in der Gewebewand der Gebärmutter herabzusetzen.
SPRECHERIN
Wenn das Endometriosegewebe nur noch schwach durchblutet ist, kann es sehr gut vom fokussierten Ultraschall erhitzt werden. Der Körper trägt das abgestorbene Gewebe dann selbständig ab. Die Behandlung mit fokussiertem Ultraschall eignet sich also für Endometrioseherde, die klar lokalisierbar sind. Ist die gesamte Gebärmutterwand mit Endometriosegewebe durchwuchert, ist die Patientin für die Therapie leider nicht geeignet.
ZSP 11b Matthias Matzko,
Das heißt man muss im Grunde genommen jeden einzelnen Fall, den man behandeln möchte vorher mit einer MRT-Untersuchung genau verifizieren, man muss mit der Patientin sprechen über die Ziele, die man erreichen möchte bei der Behandlung. Geht es um Kinderwunsch, Schmerzherabsetzung und mit der Patientin gemeinsam die Ziele festlegen und Therapiestrategie erstellen.“
MUSIK 8: Glas
SPRECHER
Marietta Leist hat wie viele Patientinnen erst vor kurzem von der Möglichkeit einer Behandlung mit fokussiertem Ultraschall erfahren. Sie wünscht sich mehr und bessere Aufklärung rund um Endometriose. Und nicht nur das.
ZSP 12 Marietta Leist – Schlusston mehr Forschung
„Ich hoffe einfach wahnsinnig, dass mehr geforscht wird und dass mehr drüber geredet wird. Einfach mehr über das Thema reden und mehr über Periode reden und über Hormone. Jede Frau hat das. Und das ist so abartig, wenn sich Frauen immer noch nicht trauen, darüber zu reden oder sagen, dass ist ein Tabuthema. Überhaupt nicht meiner Meinung nach. Ich steh auf der Arbeit und ich rede vor Männern, es ist mir wurscht wer das ist. Ich sage: Leute ich bin heut nicht auf der Höhe, ich habe gestern meine Tage bekommen. Habt Nachsicht mit mir. Manche schauen mich ganz erschrocken an, manche lachen, manche finden es cool. Es ist mir mittlerweile scheißegal. Ich hoffe, dass es eventuell bald eine bessere Lösung gibt als nur die Pille durchzunehmen oder zu operieren.“
MUSIK 9: Verführung
SPRECHER
Und die könnte es vielleicht tatsächlich bald geben. Am Universitätsspital Zürich forscht Professorin Brigitte Leeners daran. Die Klinikdirektorin sucht gemeinsam mit ihrem Team seit einigen Jahren nach einem Medikament, mit dem man Endometriose heilen könnte.
ZSP 13 Leeners Forschung zu Antikörper Medikament
„Aktuell arbeiten wir an einer heilenden Therapie gegen Endometriose, die auf einem immunologischen Ansatz beruht. Das heißt, wir haben eine Vielzahl von Endometriose Gewebeproben untersucht und haben so ein Antikörper entwickeln können und entwickeln das im Moment so weiter, dass man diesen Antikörper in näherer Zukunft in den Körper einbringen kann und dass der gezielt an diese Endometrioseherde im Körper bindet und damit dem Körper das Signal gibt diese abzubauen. Bisher hat man Endometriose nur entweder Operationen zur Verfügung oder hormonelle Therapien, die im besten Fall die Herde stabil halten. Aber man gar keine heilende Therapie. Und dieser Ansatz, an dem wir arbeiten, würde uns zum ersten Mal ein Medikament an die Hand geben mit dem wir die Herde schrumpfen lassen können.
MUSIK 10: Verführung
dann
Wechsel in MUSIK 11: Resourceful Criminals
SPRECHERIN
Wichtig dabei: Der Antikörper erkennt die Charaktereigenschaften von Endometriosezellen und bindet sich an sie. Die Endometriumszellen innerhalb der Gebärmutter werden von ihm nicht angegangen.
Ein solches heilendes Medikament würde für tausende von Endometriosepatientinnen eine große Hilfe sein, da die heutigen Behandlungsmethoden oft nur Symptome unterdrücken können– und häufig mit relevanten Nebenwirkungen verbunden sind. Die Gynäkologin Brigitte Leeners sieht jedoch, dass frauenmedizinische Themen in der Forschung noch immer nicht gleichberechtigt finanziert werden.
ZSP 14 Leeners: Wunsch nach mehr Geld für Frauenthemenforschung
„Wenn man guckt, wohin Forschungsgelder gehen, dann würde ich mir sehr wünschen, dass bei der Vergabe von Fördermittel die frauenspezifischen Themen da deutlich mehr Beachtung finden würden.“
Musik hoch und aus.
ENDE
Schmerz ist eine lebenswichtige und zentrale Sinneswahrnehmung. Neben Nervenzellen sind auch Gehirn und Psyche daran beteiligt. Schmerz ist ein Symptom, kann aber auch selbst zur Krankheit werden. (BR 2021) Autorin: Daniela Remus
Credits
Autorin dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Peter Veit
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Johannes Horleman (Dr.; Schmerzmediziner, Kevelaar);
Dominik Irnich (Professor; Schmerzmediziner, Ludwig-Maximilians-Universität, München);
Regine Klinger (Dr.; PD; Psychologin; Universitätskrankenhaus Eppendorf, Hamburg)
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Musik (Stimmen einer Violine o.ä. unangenehm)
Atmo (Zahnarzt-Bohrer)
Atmo (Stimmengemisch Au, das tut aber richtig weh etc.)
Sprecherin
Dumpf und schwer, pochend, quälend, brennend oder stechend: Schmerz vermittelt sich auf viele, sehr unterschiedliche Weisen.
MUSIK: C1443990016 Light reflex 0‘40
Sprecherin
Schmerz ist ein Phänomen, das die Menschen seit mindestens zweitausend Jahren zu verstehen versuchen. Heute definieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Schmerz als elementare Sinneswahrnehmung, ohne die menschliches Leben kaum möglich ist, erklärt der Schmerzmediziner Prof. Dominik Irnich. Er leitet die Schmerzambulanz an der Ludwig-Maximilians-Universität in München:
TAKE 1 (O-Ton Irnich) L: 0, 30
Das ist eine der ganz wichtigen Sinnesfunktion und wahrscheinlich kann man aus anthropologischer Sicht sagen, dass die Differenzierung des Schmerzes und die genaue Lokalisierung des Schmerzes - wo ist der Angreifer, an meinem Körper, wer will die Unversehrtheit meines Organismus angreifen? -, dass diese ganz differenzierte Wahrnehmung möglicherweise ein Evolutionsvorteil ist, der auch dazu beigetragen hat, dass wir uns als Menschen auch ganz speziell schützen können. Also das hat zunächst mal eine Schutz- und Warnfunktion.
Sprecherin
Und die ist existentiell weitaus bedeutsamer als es den meisten Menschen bewusst ist: Schmerz ist überlebenswichtig, sagt der Schmerzmediziner Dr. Johannes Horlemann. Er leitet das Schmerzzentrum in Kevelaer:
TAKE 2 (O-Ton Horlemann) L. 0, 30
Es gibt Menschen die durch einen genetischen Defekt schmerzfrei geboren werden, das ist ein furchtbarer Zustand, der dazu führt, dass diese Menschen niemals alt werden können, weil sie keine Lernfunktion haben, durch die Entstehung von Schmerzen z.B., dass man hinfällt, dass man besser die Schritte setzen muss, wenn man laufen lernt usw.
Geräusch Bohrer: 0‘15
MUSIK: Z8024281112 Only the brave 0‘55
Sprecherin
Schmerz ist zuallererst eine körperlich-biologische Reaktion auf eine Gewebeschädigung. Die Schmerzsensoren melden, dass etwas nicht stimmt. Deshalb gilt akuter Schmerz als Alarmsignal des Körpers. Aber Schmerz ist gleichzeitig auch immer mehr als die sensorische Meldung und Weiterleitung eines Schadens, einer Verletzung oder einer Funktionsstörung. Mindestens genauso wichtig für das menschliche Schmerzerleben sind psychische, emotionale und soziale Faktoren. Ob jemand in Trance durchs Feuer laufen kann oder bei einem kleinen Mückenstich in Tränen ausbricht, liegt nicht immer an der Intensität des physiologisch messbaren Schmerzreizes, sondern an einem Bündel von Faktoren. Deshalb bezeichnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Schmerz heutzutage als bio-psycho-soziales Empfinden.
Geräusch: schrillende Alarmanlage 0‘12
Sprecherin
Blicken wir zunächst auf die Biologie des Schmerzes, auf seine physiologische Grundlage: Voraussetzung dafür ist die neuronale Sinneswahrnehmung einer Gewebeschädigung. Sie findet in den Schmerzrezeptoren statt, erklärt Schmerzmediziner Johannes Horlemann.
TAKE 3 (O-Ton Horlemann) L: 0, 20
Das sind sogenannte Nervenspindeln, die aufgedreht werden, und die entweder durch chemische oder thermische Reize oder aber durch Schnitt z.B. aktiviert werden. D.h. wenn die konfrontiert werden mit einem Außenreiz, der unangenehm ist, dann senden sie Signale in das Hinterhorn des Rückenmarks.
Musik: Z8030896110 Testing procedure 0‘47
Sprecherin
Diese Nervenspindeln heißen in der Wissenschaft Nozizeptoren. Sie sitzen am Ende der Nerven, die sich vom Rückenmark aus in die Peripherie des Körpers erstrecken. Diese Schmerzsensoren sind also überall dort, wo wir Schmerzen wahrnehmen: An Hand und Fingern sind besonders viele vorhanden, weniger davon auf dem Fußrücken und gar keine Schmerzrezeptoren haben Menschen in einzelnen Organen wie dem Gehirn, der Lunge oder der Leber. Werden die Nozizeptoren geschädigt, beispielsweise durch Schnitt, Druck, Hitze oder Kälte, dann erzeugen sie elektrische Signale, die das Schmerz-empfinden weiterleiten und zwar über das Rückenmark ins Gehirn.
TAKE 4 (O-Ton Horlemann) L: 0, 20
Von dort geht die Nachricht weiter (…) in den Thalamus-Kern. Der Thalamus-Kern ist quasi auf Hirnbasis das Organ, das wie ein Vorfilter wirkt und der die meisten Schmerzen, die gesendet werden zum Gehirn, abfiltert.
Musik: Z8030731117 Onslaught 0‘31
Sprecherin
Alle Sinneswahrnehmungen des Körpers, einzige Ausnahme ist das Riechen, landen im Gehirn und dort zunächst im Thalamus. Das ist ein kleiner, nur wenige Zentimeter großer Teil des Zwischenhirns. Der Thalamus filtert die eingehenden Sinnesinformationen, bevor er sie an die Großhirnrinde weiterleitet. Sehr vereinfacht formuliert kann man sich das so vorstellen: Er sortiert die eingehenden Sinneswahrnehmungen und gleicht sie mit bereits gemachten Erfahrungen ab. Der Thalamus kann Schmerzreize verstärken oder auch hemmen. Zur Verfügung stehen dafür verschiedene körpereigene Botenstoffe wie beispielsweise Endorphine.
TAKE 5 (O-Ton Klinger) L. 0, 20
Jedes Schmerzerleben ist eben etwas, was eben auch zentral verarbeitet ist. Deswegen kann man sagen, jeder akute Schmerz ist auch ein psychischer Schmerz, weil er einmal durch das Gehirn gewandert ist und dort auch bewertet und bearbeitet wurde.
Sprecherin
Deshalb wird der Thalamus auch das Tor zum Bewusstsein genannt, sagt die Psychologin Dr. Regine Klinger. Denn das ist das Besondere bei Schmerzen: Sie sind kein ausschließlich körperlicher Vorgang, wie andere lebenswichtige Prozesse im Organismus. Im Gehirn wird aus der physiologischen Schmerz¬wahr¬nehmung, aus der Nozizeption, das Schmerzerleben. Die psychologische Leiterin der Schmerzambulanz am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg erklärt das an einem Beispiel:
Take 6 (O-Ton Klinger) L: 0, 30
Wenn man sich jetzt z.B. an einer Herdplatte verbrennt, dann wird man sofort die Hand zurückziehen, das tut man schon aufgrund des ersten Schmerzerlebens, ein heller, stechender Schmerz, der nicht durch die zentrale Verarbeitung gelaufen ist, sondern der direkt als reflexartiger Schmerz abläuft und der dazu führt, dass die Muskeln aktiviert werden, um sofort den Organismus zu schützen.
Sprecherin
Die Hand wird zurückgezogen, schnell unter kaltes Wasser gehalten, gekühlt oder was auch immer, um der Situation zu entkommen und damit den akuten Schmerz zu lindern.
TAKE 7 (O-Ton Klinger) L: 0, 20
Bruchteile von Sekunden danach setzt der 2. Schmerz ein, das ist dann ein dumpfer drückender Schmerz, der eben einmal durch das Gehirn gewandert ist und der jetzt eben eine Schmerzbewertung in Gang setzt.
Musik: C1568800106 Glistening stars 0‘17
Sprecherin
Ein ganzes Netzwerk von Gehirnregionen ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand für diese komplexe Schmerzbewertung zuständig, sagt Schmerzmediziner Dominik Irnich aus München:
Take 8 (O-Ton Irnich) L: 0, 20
Es geht darum, dass dieser rein körperliche Schmerzreiz zentral im Gehirn moduliert, verändert wird. Er bekommt eine Bedeutung, er bekommt eine Bewertung, (…) er wird in diesen Zusammenhang gesetzt und moduliert. Und am Schluss, das, was wir empfinden, ist das Ergebnis dieser Verarbeitungen im Gehirn.
Sprecherin
Die Konsequenz kann sein: Den Notarzt zu rufen, die Stelle zu kühlen oder auch, den kleinen Schmerz zu ignorieren. Entscheidend für diese Schmerzbewertung, die das Verhalten prägt, ist die zentrale Schmerzverarbeitung im Gehirn, die von den unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst wird: Von äußeren Aspekten wie kulturellen Normen oder familiären Angewohnheiten ebenso, wie von der inneren Verfassung des jeweiligen Individuums, betont Regine Klinger:
TAKE 9 (O-Ton Klinger) L: 0, 25
Also z.B. auch von der Stimmung, die ich habe, von emotionalen Faktoren wie Depressivität, von Traurigkeit oder dergleichen. Und kann eben dann, je nachdem, verstärkt oder abgeschwächt werden. Akutes Schmerzerleben wird immer auch von dem Kontext, in dem ich mich bewege, abhängig erlebt.
Sprecherin
Das kennt jede und jeder: Je nach Stimmung erhalten Verletzungen oder kleinere Unfälle eine andere Bedeutung. Wer frisch verliebt ist, spürt einen umgeknickten Fuß längst nicht so intensiv, wie eine Person, bei der an diesem Tag schon vorher richtig viel schief gelaufen ist und bei der die Laune ohnehin schon schlecht ist:
TAKE 10 (O-Ton Klinger) L: 0, 30
Man kann sich das so vorstellen, dass das Gehirn sozusagen schon ein gewisses Vorzeichen hat, nämlich ein Vorzeichen dieser negativen Allgemeinverfassung hat, so und jetzt kommt auch noch dieser Schmerz aus der Peripherie des Körpers, der in den gleichen Gehirnzentren verarbeitet wird, weil er dort ankommt. Und man kann sich das so vorstellen, dass die allgemeine Stimmung, in der ich da bin, dann erstmal auf dieses Signal, was da neu ins Gehirn kommt, abfärbt.
Sprecherin
Und deshalb negativ erlebt wird. Aber es gibt auch den umgekehrten Mechanismus: Schmerzreize können vom Gehirn aktiv unterdrückt werden, beispielsweise durch Ablenkung.
TAKE 11 (O-Ton Klinger) L: 0, 20
Das würde dann tatsächlich diesen Mechanismus in Gang setzen, der dann auf absteigenden neuronalen Bahnen das Schmerzerleben so unterdrückt, dass die nachfolgenden Reize aus der Peripherie eben gar nicht mehr durchkommen und deswegen eben das Schmerzerleben deutlich geringer wird.
Musik: C1576660120 Criminal synapsis red 0‘27
Sprecherin
So gibt es immer wieder aufsehenerregende Beispiele von Menschen, die sich selbst mit abgetrennten Fingern noch ins Krankenhaus gefahren haben oder mit gebrochenem Bein noch kilometerweit gelaufen sind. Dass der Körper Schmerzen in einer Krisensituation effektiv unter¬drücken kann, ist bei Soldaten während des Zweiten Weltkriegs beobachtet und berichtet worden, so Regine Klinger:
TAKE 12 (O-Ton Klinger) L: 0, 20
Die z.B. ein Bein abgeschossen bekommen haben, da lagen, blutender Weise, gefragt wurden, ob sie Schmerzen haben und sie die Schmerzen gar nicht erlebt haben. Und gesagt haben, neee, Schmerzen seien nicht da. Und das konnte 1-2 Tage anhalten, bis der Schmerz da war.
Sprecherin
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erklären sich dieses Phänomen damit, dass das Gehirn die unterschiedlichen Emotionen gewichtet und deshalb die Schmerzen aktiv mit Stresshormonen unterdrückt, um zu überleben.
MUSIK: Z8030896115 Spreading virus 0‘28
Denn in einer solchen Situation, nämlich schwer verletzt auf dem Schlachtfeld zu liegen, ist die Überlegung, wie komme ich hier weg, wie komme ich in Sicherheit? wichtiger für das Überleben, als die Warnfunktion des Körpers durch den Schmerz.
MUSIK: Z8030896115 Spreading virus 0’28 hoch
Sprecherin
Neben der inneren Verfassung eines Individuums prägen aber auch verschiedene äußere Einflüsse die Schmerzbewertung, betont Johannes Horlemann:
TAKE 13 (O-Ton Horlemann) L: 0, 25
Eindeutig gibt es kulturelle Aspekte, es gibt auch Lernaspekte beim Schmerz, man würde unterscheiden, ist es wirklich die Schmerzempfindung, die ich physiologisch messen kann, oder ist es das, was wir daraus machen? Wenn ich das so sagen darf, der Schmerz als Nachricht im sozialen Kontext.
Sprecherin
In manchen Kulturkreisen gehört es beispielsweise dazu, bei Trauer laut zu schreien und zu klagen. In anderen Kulturkreisen dagegen gilt emotionale Kontrolle auch in Ausnahmesituationen als erstrebenswert. Bei manchen indigenen Völkern stärken schmerzhafte Initiationsrituale den sozialen Zusammenhalt, bei den meisten Menschen in Westeuropa dagegen gilt die Abwesenheit von Schmerz als Idealzustand.
MUSIK: Z8030896128 New discovery (reduced) 0‘28
Sprecherin
Und auch der Umgang mit Schmerzen in der Familie prägt das spätere Schmerzverhalten: Wer als Kind bei jedem Ratscher, jedem aufgeschürften Knie mit viel Aufmerksamkeit rechnen kann, der wird in den meisten Fällen auch als Erwachsener seinen Schmerz so äußern, dass er nicht zu ignorieren ist. Andere dagegen haben gelernt, Schmerzen auszuhalten, sagt Schmerzmediziner Johannes Horlemann:
TAKE 14 (O-Ton Horlemann) L: 0, 20
Auffällig ist, dass viele Patienten sehr starke Schmerzen sehr gut aushalten können, während bei der gleichen läsionellen Ursache andere Patienten stark sich beschweren. Denken Sie an indische Fakire, die durch Feuer laufen können, die haben das vorher trainiert. Also es gibt einen Trainingsaspekt daran, ganz bestimmt.
Sprecherin
Dass es einen Trainingsaspekt gibt, der es Menschen ermöglicht, Schmerzen in bestimmten Situationen besser auszuhalten, bedeutet aber nicht, dass Schmerzen immer und um jeden Preis durchgestanden werden sollten. Das Zähne zusammen beissen und durch, was der Volksmund empfiehlt, um unangenehme Situationen und auch Schmerzen bewältigen zu können, dieser Ansatz, der im 20. Jahrhundert auch von Medizinerinnen und Medizinern vertreten wurde, hat sich als fatale Sackgasse im Umgang mit Schmerzen erwiesen, erklärt Dominik Irnich:
TAKE 15 (O-Ton Irnich) L: 0, 30
Der akute Schmerz ist ein Risikofaktor für die Chronifizierung und zwar bezüglich der Art und und der Intensität, also der Stärke der Schmerzwahrnehmung. Das heißt, wenn ich einen Notfall habe, ich komme ins Krankenhaus in die Notaufnahme, oder ich hab eine OP und es tut weh hinterher, ist es die allerwichtigste Aufgabe, den Schmerz zu lindern, und zwar so gut wie es geht!
Sprecherin
Denn heute wissen Medizinerinnen und Mediziner, dass der Organismus in der Lage ist, ein Schmerzgedächtnis auszubilden. Und dass das dazu beiträgt, chronische Schmerzen zu entwickeln, so Psychologin Regine Klinger aus Hamburg:
TAKE 16 (O-Ton Klinger) L: 0, 35
Das Gehirn ist ja in der Lage zu lernen, und dieses Lernen passiert eben, indem bestimmte neuronale Informationen abgespeichert werden. Man kann sich das Gehirn wie eine Festplatte vorstellen, auf die Informationen geschrieben werden und wenn immer wieder im Gehirn neue Schmerzinformationen ankommen, (…) dann wird diese Spur, diese neuronalen Spuren, die da geschrieben werden, immer größer, immer intensiver.
Sprecherin
Und das bedeutet für die betreffende Person, dass dieser Schmerz im Gehirn abgespeichert und erlebt wird, allerdings unabhängig von der eigentlichen Schmerz-Ursache. Also ohne äußeren Auslöser und damit auch ohne biologische Warnfunktion. Johannes Horlemann:
TAKE 17 (O-Ton Horlemann) L: 0, 35
Das können Sie sehr gut erkennen am Beispiel des Phantomschmerzes, dass ein Mensch Schmerzen haben kann in einem Fuß, den er gar nicht mehr besitzt. Das macht deutlich, dass Schmerzen, die aus der Peripherie Nachrichten in das Gehirn senden, eine Eigenständigkeit entwickeln können. Und zwar sagen wir, in einem Zeitraum von 3-6 Monaten, so dass in dieser Zeit im Gehirn Schmerzzentren so alarmiert werden, dass die periphere Schmerzschwelle sinkt und dass die Schmerzen chronifiziert entscheidende Veränderungen im Gehirn machen.
Musik: Z8035459113 Artificial developments 0‘32
Sprecherin
In Deutschland leben nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin knapp 4 Millionen Menschen mit schwersten chronischen Schmerzen. Rund fünf Prozent der Bevölkerung sind von solchen dauerhaften Schmerzen massiv eingeschränkt. Sie müssen Medikamente nehmen, lassen sich operieren, und verlieren durch die Schmerzen nach und nach ihr früheres Leben, einschließlich Arbeit, Hobbies, Kino- oder Theaterbesuchen.
TAKE 18 (O-Ton Horlemann) L: 0, 25
Das sind die schwerstgradig Chronifizierten, leichte oder mittelgradig, da sind wir bei über 20 Millionen. Stellen Sie sich vor, einige Millionen Menschen allein mit Migräne in Deutschland, das ist eine chronische Schmerzerkrankung, Rückenschmerz ist der häufigste Berentungsgrund in Deutschland…
Sprecherin
Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Nervenschmerzen, das sind die häufigsten chronischen Schmerzen in Deutschland. Sie stellen nicht nur für die Betroffenen ein ernstzunehmendes Problem dar, sondern auch für deren Angehörige und auch für die Sozialkassen. Mittlerweile sind rund ein Viertel der Deutschen davon betroffen,Tendenz steigend.
MUSIK: Z8028915109 Coming closer
Chronische Schmerzen sind weltweit verbreitet, nicht nur eine Erkrankung in den wohlhabenden Industrieländern. Allerdings überwiegen in den Industrieländern psychosomatisch bedingte Schmerzen, während die dauerhaften Schmerzen in den ärmeren Ländern vielfach durch unzureichende medizinische Versorgung zu erklären sind.
MUSIK: Z8028915109 Coming closer hoch 0‘36
Sprecherin
Eine klassische Chronifizierung von Rückenschmerzen läuft, körperlich betrachtet, folgendermaßen ab, erklärt Schmerzmediziner Johannes Horlemann:
TAKE 19 (O-Ton Horlemann) L: 0, 30
Es ist ja offensichtlich so, wenn ich Schmerzen habe, nehmen wir den Rücken, dann versuche ich ihn zu vermeiden, indem ich inaktiver werde. Inaktivität führt zu Muskelabbau, der Muskelabbau führt zu pathologischen Bewegungsmustern, die pathologischen Bewegungsmuster machen wieder Schmerz, den ich wieder vermeide usw. und dadurch bin ich dann ganz am Ende ein Mensch, und das ist typisch für den chronischen Schmerz, der wesentliche Haltemuskeln verloren hat.
Sprecherin
Aber für die Chronifizierung der Schmerzen sind eben nicht nur die körperlichen Vermeidungshaltungen und die daraus entstehenden Abbauprozesse verantwortlich. Sondern mindestens genauso entscheidend ist die dahinterliegende psycho-soziale Ebene, die das Schmerzgedächtnis prägt und beeinflusst.
TAKE 20 (O-Ton Irnich) L: 0, 10
Was nützt es, Schmerzen zu lernen, dass sie sich automatisieren? Dass die Nervenbahnen nicht mehr kleine Straßen sind, sondern zu Autobahnen werden?
Sprecherin
Schmerzmediziner Dominik Irnich ist davon überzeugt, dass es nicht zufällig ist, wann und unter welchen Umständen Menschen chronische Schmerzen entwickeln. Für ihn ist dieses Phänomen weit mehr als eine Fehlfunktion bei der Verarbeitung akuter Schmerzen.
TAKE 21 (O-Ton Irnich) L: 0, 30
Unsere Untersuchungen zeigen, dass dieser Lernprozess eben durch die zusätzlichen psychologischen und sozialen Faktoren eine andere Bedeutung bekommt. (…) Der Sinn und die Funktion ändert sich, (…) in den meisten Fällen im Unterbewusstsein. Und deswegen ist es so schwierig, wenn man mit chronischen Schmerzen umgeht, weil man müsste sich eigentlich fragen, was könnte den eigentlich die Funktion des Schmerzes sein? Außer, dass er am Anfang einen Schutz und eine Warnung darstellt.
Musik: C1601500133 Contagious 2 0‘31
Sprecherin
Die heutige Schmerzmedizin versteht chronische Schmerzen deshalb auch als Ausdruck von Belastungssituationen oder von ungelösten Konflikten. Dafür spricht vor allen Dingen, dass dem Schmerzerlebnis häufig keine körperliche Entsprechung zugeordnet werden kann, aber auch umgekehrt: Nicht jede und jeder mit körperlichen Abnutzungserscheinungen wie beispielsweise einer Arthrose im Knie oder einem leichten Bandscheibenvorfall hat dauerhafte und quälende Beschwerden.
TAKE 22 (O-Ton Irnich) L: 0, 15
Wir wissen, aus ganz vielen Untersuchungen, dass der Befund z.B. im Kernspin der Wirbelsäule, nicht korreliert, d.h. kein direkter Zusammenhang besteht zwischen dem Ausmaß der Schädigung an der Wirbelsäule und dem tatsächlichen Erleben.
Sprecherin
Mit Millionen von orthopädischen Operationen liegt Deutschland nach Angaben der OECD weltweit an der Spitze. Aber die Anzahl derer, die unter chronischen Schmerzen leiden, wird damit nicht geringer. Das ist wenig verwunderlich, denn nach allem, was bisher bekannt ist, sind chronische Schmerzen in der Regel eben multifaktoriell zu erklären, das heißt, sie gehen selten nur auf eine Ursache zurück.
TAKE 23 (O-Ton Irnich) L: 0, 20
Deswegen muss man heute einfach komplett umdenken, weil wir wissenschaftlich mittlerweile wissen, Schmerz ist ein persönliches Unterfangen, ich muss schlimme Dinge ausschließen: Tumoren, Fraktur Entzündungen, aber das geht ganz einfach. Aber den Schmerz zu suchen mit der Bildgebung macht keinen Sinn.
Sprecherin
Schmerzen gehören zum Leben dazu. Bei der Geburt, beim Heranwachsen, bei Krankheiten und häufig auch beim Sterben. Deshalb suchen die Menschen seit Tausenden von Jahren nach Erklärungen dafür. Aristoteles verortete das Schmerzempfinden im menschlichen Herzen. Hippokrates dagegen vermutete, dass Schmerzen durch ein Ungleichgewicht in den Körpersäften entstehen. Und für die katholische Kirche waren Schmerzen durch die Vertreibung aus dem Paradies zu erklären.
MUSIK: C1576660111 Working brain red. 0‘45
Die Erkenntnis, dass Schmerz ein hochgradig komplexes Phänomen ist, das abhängig von emotionalen, psychischen und auch kulturellen Faktoren erlebt wird, ist, medizinhistorisch betrachtet, noch jung, denn sie ist erst rund zwei Jahrzehnte alt. Und erst seit 2012 ist die Schmerzmedizin Pflichtfach für die angehenden Medizinerinnen und Mediziner. Das ist sicher ein weiterer Schritt, um den vielen Arten von Schmerzen in Zukunft effektiver zu begegnen.
STOPP
Auguste Renoir ist der wohl populärste Maler Frankreichs. Seine sonnendurchfluteten Bilder zeigen pure Lebensfreude: fröhliche Tänzerinnen oder Badende am See. Ernste Themen sucht man bei ihm vergeblich. (BR 2019) Autor: Julie Metzdorf
Credits
Autor/in dieser Folge: Auguste Renoir
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Annette Wunsch, Christian Baumann, Florian Schwarz
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Michael F. Zimmermann
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OT Michael Zimmermann – Museumshop
Renoir ist eine mythische Figur, als Schlüsselgestalt des Impressionismus und der Belle Époque.
ERZ.IN
…sagt der Kunsthistoriker Michael Zimmermann.
OT
Man kann sich kaum einen Kalender oder ein Buch über den Impressionismus vorstellen ohne die glücklichen Pariser Mittelschichten, ohne die schönen, ein bisschen auf ein Kindchenschema reduzierten modischen Frauen. Renoir ist heute der Impressionist par excellence. Und als solcher hat er den Geruch des Malers für den Museumsshop. Seine Motive passen auf die hübschen Tassen, auf die hübschen Teller… Er ist der zur Ware gewordene Impressionismus.
Musik hoch und aus.
ERZ.IN
Pierre-Auguste Renoir wurde 1841 in Limoges geboren. Der Vater war Schneider, die Mutter Näherin. In der Hoffnung, in der blühenden Metropole Paris mehr Geld verdienen zu können, zogen die Renoirs in die französische Hauptstadt, als Auguste noch ein kleines Kind war. Sein künstlerisches Talent wurde früh erkannt.
Musik über Sprecher „Scenes Bohemeniennes“
SPRECHER Jean Renoir – Talent
Er habe wie wild gezeichnet, berichteten seine Eltern später: Weil Papier teuer war, hat er mit Kreide auf dem Fußboden gezeichnet. Sehr zum Ärger des Großvaters. Denn es war seine Schneiderkreide, die nach und nach verschwand. Trotzdem: Die Gestalten, mit denen der Sohn die Wohnung verzierte, seien „ganz gelungen“ gewesen.
ERZ.IN
Mit 13 Jahren begann Renoir eine Lehre als Porzellanmaler und pinselte fortan Blümchen, Schäferidyllen und das Profil der Marie-Antoinette auf Kaffeetassen. Als Vorlagen dienten häufig Rokoko-Gemälde des vergangenen Jahrhunderts von Antoine Watteau oder François Boucher. Renoir verdiente recht gut, konnte mit dem Geld sogar seine Familie unterstützen. Doch nach ein paar Jahren war Schluss: Man hatte eine Maschine erfunden, die die Bilder auf Porzellan drucken konnte, und die ganze Branche brach zusammen. Renoir bemalte fortan nicht mehr Tassen und Teller, sondern Fächer, Schränke, Vorhänge und die Wände einiger Pariser Cafés. Wieder verdiente er gut, weil er viel schneller als andere arbeitete. Doch er wollte mehr:
Musik über Sprecher „Scenes Bohemeniennes“
SPRECHER Jean Renoir S. 88 – Malunterricht
Renoirs Sohn Jean berichtete später, dass der Vater die Kneipen von Paris mit Göttern und Symbolen bemalt habe. Damit habe er gar nicht schlecht verdient. Mit jedem Auftrag, der ihm Geld einbrachte, sei in ihm deswegen der Wunsch größer geworden: Er wolle einen richtigen Malunterricht in einer richtigen Schule nehmen.
ERZ.IN
Mit 21 Jahren wurde er Student der École des Beaux-Arts, arbeitete aber die meiste Zeit im privaten Atelier des Schweizer Malers Charles Gleyre, wo ein liberaler Geist und weniger Reglement herrschte. Dort freundete er sich unter anderem mit Claude Monet an, dem späteren Maler der Seerosenbilder. Zusammen mit Monet beginnt er, das „Hier und Jetzt“ zu malen, realistische Abbilder der eigenen Zeit.
Das klingt banal, war aber damals eben keine Selbstverständlichkeit. Heute gelten Künstler als Seismographen der Gesellschaft, man erwartet geradezu von ihnen, dass sie sich mit aktuellen Themen beschäftigen. Damals aber galt die Historienmalerei als das höchste aller Genres, auch literarische, mythologische und biblische Themen waren beliebt.
über Musik („ I’isle joyeux für Klavier“)
Renoir aber malte die Welt so wie sie ihm vor die Nase kam: Madame Monet, den „Figaro“ lesend. Eine junge Frau bei ihrem ersten Theaterbesuch. Cafészenen, Porträts seiner Künstlerfreunde, kleine Kinder beim Spielen. Laut Michael Zimmermann ging es Renoir und seinen Mitstreitern dezidiert darum, die eigene Zeit und gesellschaftliche Wirklichkeit abzubilden.
OT Michael Zimmermann – zeitgemäß
Die Zeit hatte regelrecht ein Programm, dass die Kunst zeitgenössisch sein sollte, dass die Kunst sich ihrer eigenen Gesellschaft widmen sollte. Aber wie Charles Baudelaire, der Dichter, das einmal in einem Aufsatz 1863 – also zu Beginn der Karriere eines Renoir - gesagt hat, man soll als Maler des modernen Lebens, durch die Mode aus dem transitorisch, dem unbedeutenden, dem dahinfließenden Leben der modernen Stadt so was wie eine Ewigkeit ziehen, erahnen und festhalten. Und Renoir hat sich wie kaum einer seiner Impressionisten-Kollegen darum bemüht, das Moderne so zu transformieren, dass er daraus eine Idylle mit Ewigkeitswerten gemacht hat.
ERZ.IN
Das genaue Hinschauen und Beobachten war für Renoir das Entscheidende. Er begann, seine Staffelei unter freiem Himmel aufzustellen und direkt nach der Natur zu malen. Diese sogenannte Pleinairmalerei war nicht völlig neu, aber Renoir und seine Mitstreiter schauten noch genauer hin.
Und plötzlich erkannten sie, dass Schatten nicht einfach nur grau oder schwarz, sondern farbig sind, vor allem blau. Sie beobachteten, wie die Gegenstände je nach Lichteinfall ihre Farben änderten. Sie sahen, wie sich die Umrisse einer Figur im flimmernden Sonnenlicht in Luft auflösten. Besonders deutlich nahm man solche Effekte an Laubwerk und Blumen wahr, an Wasser, Wolken oder an den feinen Stoffen von Frauenkleidern. All das wurde zu ihren bevorzugten Motiven. Eine technische Neuerung kam ihnen dabei zugute: Bis vor kurzem hatten Maler ihre Farben aufwändig im Atelier anrühren müssen. Mitte des 19. Jahrhunderts aber kamen die ersten Tubenfarben auf den Markt.
SPRECHER Auguste Renoir – Farbtuben
Renoir schwärmte von der Erfindung der Farbtuben: Jetzt erst war es möglich, in freier Natur zu malen, sagte er rückblickend. Ohne die Tuben hätte es weder einen Cézanne noch einen Manet gegeben, und auch keinen Impressionismus.
Musik („Reverie“)
ERZ.IN
Renoirs erstes Meisterwerk stammt aus dem Jahr 1867. Es zeigt eine junge Frau mit Sonnenschirm. Lebensgroß – als handele es sich um ein Staatsporträt – steht sie vor einem schattigen Waldhintergrund. Die Dargestellte ist Lise Tréhot, seinerzeit sein bevorzugtes Modell. Sie trägt ein leichtes Sommerkleid aus weißem Musselin, hochgeschlossen und langen wenn auch durchsichtigen Ärmeln. Sorgfältig gibt Renoir auch noch die kleinsten Details der Garderobe wieder, die schwarzen Bänder an den Ärmeln, die roten Ohrringe und den schwarz-weißen Sonnenschirm. Doch dieser Sonnenschirm ist nicht nur Beiwerk: Er wirft einen Schatten auf Gesicht und Schultern, während das weiße Kleid im prallen Sonnenlicht leuchtet. Das Gesicht der Porträtierten liegt damit im Dunkeln. Statt der Frau steht das Kleid im Zentrum. Mit gutem Grund: Renoir hat hier eben nicht Lise persönlich gemeint, sein Bildnis steht vielmehr beispielhaft für die elegante Pariserin schlechthin, eine modebewusste junge Frau aus der Stadt, die in der Natur Abwechslung sucht und damit exemplarisch für das moderne Leben steht.
OT Michael Zimmermann – nur teilweise emanzipatorisch
Da gibt es auch ein Element der Emanzipation, plötzlich haben diese Frauen vom Lande, die nach Paris drängten, dort kleine Arbeiten hatten, man nannte die Midinette, weil sie ihr Pausenbrot zu Mittag, a midi, auf den öffentlichen Banken verzehrten, diese Frauen konnten modisch sein, sie konnten sich entweder diese Prêt-à-porter-Mode leisten oder sie konnten sie nachnähen, da gab es ab den 1850er Jahren Zeitschriften mit Schnittmustern, das war ein Schritt zu einer gewissen Emanzipation…
ERZ.IN
Renoir hatte in dieser Zeit laufend Geldsorgen, seine Ersparnisse waren längst aufgebraucht. Doch er malte kein einziges Bild, in dem die Armut auch nur ansatzweise spürbar wäre: kein schlechtes Wetter, keine frierenden Menschen, keine Bettler, keine Traurigkeit, nichts Negatives, nirgends.
ERZ.IN
Es gab nur einen einzigen Kunsthändler, der damals den Mut hatte, die Bilder der Impressionisten in seiner Galerie zu zeigen. Der „Figaro“ schrieb darüber:
Musik über Zitator („Tarantella“)
ZITATOR Albert Wolff (in „Le Figaro“ 1876, über Ausstellung bei Durand-Ruel)
Diese sogenannten Künstler… nehmen Leinwand, Farbe und Pinsel, werfen auf gut Glück ein paar Kleckse hin und signieren das Ganze; genauso wie die verwirrten Gemüter in der Irrenanstalt Ville-Evrard Kiesel aufsammeln in dem Glauben, sie hätten Diamanten gefunden. (…) Mach einer doch Monsieur Renoir klar, dass der Körper einer Frau kein verwesender Fleischhaufen mit grünlich-violetten Flecken darauf ist, die bei einer Leiche den Zustand völliger Auflösung bezeichnen!
ERZ.IN
Da auch ihr wohlgesonnener Galerist wirtschaftlich an seine Grenzen kam, organisierten Renoir und Claude Monet, zusammen mit Alfred Sisley, Edgar Degas, Camille Pissarro und einigen weiteren Freunden 1874 eine eigene Ausstellung. Eines der ausgestellten Bilder von Monet zeigte einen Hafen im Morgennebel. Am Horizont liegen Schiffe vor Anker, vorne sind ein paar Fischerboote zu erkennen. Im Hintergrund durchbricht das Rot der aufgehenden Sonne das Graublau des Bildes. Wegen seiner Skizzenhaftigkeit geriet gerade dieses Bild in den Fokus der Kritiker. Viele behaupteten, sie könnten gar nicht erkennen, was dargestellt sei.
Musik über Zitator („3. Satz Grand Concerto G-Dur“)
ZITATOR Louis Leroy 25.4.1874 in „Le Charivari“
Eine Tapete in ihrem embryonalen Zustand ist ausgearbeiteter als dieses Seestück!
ERZ.IN
Monet hatte das Bild „Impression – Soleil levant“, Sonnenaufgang, genannt. Nach dem Titel dieses Bildes wurde die Gruppe von einem Kritiker „Impressionisten“ genannt. Es dauerte nicht lang und die Freunde nutzten diesen eigentlich als Spottnamen gemeinten Namen auch selbst. Denn es stimmte ja: Sie wollten eine Landschaft oder Szenerie nicht hyperrealistisch und exakt wiedergeben, sondern den Eindruck, die Impression, die das Motiv in ihnen hervorgerufenen hatte.
Renoir malte die Wirklichkeit zwar so, wie er sie sah, aber seine Malerei erfasste dabei nicht die volle gesellschaftliche Wahrheit.
SPRECHER Auguste Renoir – Bild
In Gesprächen mit seinem Kunsthändler äußerte Auguste Renoir: Es gebe genug unerfreuliche Dinge auf der Welt, als dass man noch weitere fabrizieren müsse. Hübsch, erfreulich und liebenswert – so sollen für ihn Bilder sein.
Musik („Divertissement pour une fete“)
ERZ.IN
Sein wohl berühmtestes Gemälde, der „Tanz im Moulin de la Galette“ 1876 hängt heute im Musée d’Orsay in Paris. Michael Zimmermann:
OT Michael Zimmermann – Moulin de la Galette 1
Das ist eine Tanzszene in einem öffentlichen Garten am Mont Martre, der hat nach einer alten Mühle, die dort mal war, der hieß das Moulin de la Galette. Und dort zeigt er nun schöne Paare mit charaktervollen Männern, … tanzend oder im innigen Gespräch mit sehr hübschen Frauen, es gibt so dieses hinreißende Frauenmodell, das Modell der Parisienne, die wie die Zeitgenossen nicht müde wurden auch in Reiseführern zu schreiben, immer anbetungswürdig ist, toujours adorable, da gibt es im Vordergrund zwei Frauen, die sehen aus wie Zwillinge.
ERZ.IN
Im Grunde ähneln sich alle Frauen auf dem Bild: jung, hübsch, fröhlich, dunkelblond, sehr bedacht auf ihre Garderobe. Über der Tanzfläche, den Tischen und Stühlen erstreckt sich ein Laubdach. Durch die Blätter fallen gelbe Flecken von Sonnenlicht auf die Gesichter, die Kleidung und den Boden. Als Modelle dienten Renoir seine Malerfreunde und deren Freundinnen. Was er zeigte war ein bunt gemischtes Publikum: Arbeiter, Künstler, Arbeitslose, hochgebildete Literaten, Mädchen vom Land trafen sich hier, um sich zu vergnügen.
In Frankreich entwickelt sich die Mittelschicht gerade als staatstragende Gesellschaftsschicht. Eben dieser Mittelschicht gab Renoir ein Gesicht:
Musik aus
OT Michael Zimmermann - Kunstgeschichte
Das war wichtig, dass nicht die alten traditionellen Gesellschaftsschichten oder auch nicht die ganz revolutionären Avantgarden, die an neuen wissenschaftlichen Kunstsprachen arbeiteten, sondern dass dieses neue Volk, das sowohl politisch wie auch kommerziell seinen Platz suchte und fand im Impressionismus eine Identität fand. Dafür ist Renoir ohne Zweifel eine Schlüsselfigur.
ERZ.IN
Was Renoir malt, ist ein erträumtes Glück und keine soziale Wirklichkeit. Die prekären Lebensverhältnisse der Bohemiens, die Notlage der Frauen, die ihren Körper verkaufen mussten, Syphilis, ungewollte Kinder, die Frauen zur Adoption freigeben mussten – all das blendete der Künstler aus. Aber die Zeitgenossen wussten, dass es sich auf dem Bild „Tanz im Moulin de la Galette.“ um ein Glückskonstrukt handelte.
OT Michael Zimmermann – Moulin de la Galette 2
Dieses Ambiente hatte durchaus die Reputation, dass sich dort Prostituierte aufhielten. Für ihn war aber der abfällige, grausame oder allzu sozialkritische Blick auf dieses Milieu nicht das, was er anstrebte. Er warf dem berühmten Schriftsteller Zola vor in dieser Weise auf solche Milieus zu blicken, mit einem grausamen analytischen Blick. Und er meinte dadurch würde unterschlagen der große Reichtum an Emotionen, an Sensibilität, an echter Liebe, der eben gerade auch in diesen Milieus, die nicht durch die Prostitution gekennzeichnet sind, wo sie aber immer auch in ihren Mischformen zum Beispiel der ausgehaltenen Frau nicht weit war.
ERZ.IN
Lise etwa, die junge Frau mit dem Sonnenschirm, war nicht nur sein Modell, sondern auch sieben Jahre lang seine Geliebte. Zwei Mal wurde sie von Renoir schwanger, doch weder Renoir noch Lise selbst nahmen die Kinder an. Der erstgeborene Sohn scheint früh verstorben zu sein; zu seiner Tochter Jeanne, die nach der Geburt zur Adoption freigegeben wurde, hielt Renoir zeitlebens Kontakt.
SPRECHER Auguste Renoir – Tochter
Als sie ihren Mann verlor, schrieb er ihr, dass er sie auch jetzt nicht allein lassen werde – bis zu ihrem 38. Lebensjahr habe er sie nie im Stich gelassen. Und das werde er auch weiterhin nicht tun.
ERZ.IN
Öffentlich aber machte er diese Vaterschaft nie. Mit seiner späteren Frau, der Schneiderin Aline Charigot, bekam Renoir noch einmal drei Söhne. Der zweitgeborene, Jean Renoir gilt heute als einer der einflussreichsten Regisseure aller Zeiten. In den 1960er Jahren schrieb er ein Buch über seinen Vater, in dem er ihn – nicht nur in pädagogischen Fragen – als äußerst liberalen Menschen schildert. Der Vater sei sehr nachsichtig gewesen, solange sich die Kinder sich respektvoll gegenüber Menschen und Dingen verhielten.
Ende der 1870er Jahre stellten sich endlich erste Erfolge ein, Renoir verkaufte hin und wieder ein Bild und konnte sich erste Reisen leisten. Er fuhr nach Algerien und Italien – natürlich des Lichts und der Farben wegen!
Doch ausgerechnet jetzt geriet der „Maler des Glücks“ in eine künstlerische Krise.
SPRECHER Auguste Renoir – Freilichtmalerei
Im Nachhinein bezeichnete er den Impressionismus in Gesprächen mit Freunden als eine „Sackgasse“ und die Freilichtmalerei als „zu umständlich“. Für aufwändigere Kompositionsarbeiten tauge die Arbeit im Freien nicht, weil sich das Licht ständig verändere.
ERZ.IN
In den 1880er Jahren wurden seine Farben kühler und glatter, die flirrenden Umrisse wichen festen Konturen, die Körper wurden plastischer, die Linien präzise, Sonnenflecken auf der Haut sucht man nun umsonst. Es ist eine klassische Malweise, weit entfernt von jedweder Avantgarde.
Diese Krise befiel auch die anderen Impressionisten. Ihr Bestreben, die bürgerliche Wirklichkeit in Form von heiteren Festen und intimen Szenerien abzubilden stand letztlich im Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität in all ihren Facetten. Außerdem hatten sie ja ihr Ziel erreicht. Der harte Durchsetzungskampf ihrer Kunst schien jedenfalls gewonnen.
OT Michael Zimmermann – Krise
Das Statement zugunsten der neuen Schichten scheint nicht mehr notwendig zu sein, und die Maler ziehen sich ein bisschen in eine Kunst, die mehr Selbstzweck, in eine Kunst des L’art pour l‘art zurück.
Musik („Gymnopedie für Klavier Nr. 1“)
ERZ.IN
In Renoirs Spätwerk gibt es fast keine Szenen des Pariser Alltagslebens mehr. Stattdessen malt er zeitlose Aktfiguren im Freien. Die „Großen Badenden“ von 1887 etwa zeigen fünf Mädchen an einem Weiher am Waldrand. Eine will ihre Freundinnen am Ufer nassspritzen. Während seine früheren Idyllen ganz konkrete Orte zeigten – das Tanzlokal am Moulin de la Galette, die Badeanstalt „La Grenouillère“ an der Seine, den Wald von Fontainebleau – ist die Idylle hier jeder Zeit und jedem Ort völlig enthoben. Aus den Pariser Nähmädchen sind Nymphen geworden. Renoir ist nicht mehr der „Maler des modernen Lebens“.
Üppige Akte in einer paradiesischen Natur werden zu seinem Hauptmotiv. Die Frauen erscheinen nicht als Personen mit eigenem Charakter, Wünschen und Sehnsüchten, sondern als auf ihre Weiblichkeit reduzierte Gestalten, „allein zu Erotik und Mutterschaft berufen“, wie Michael Zimmermann es ausdrückt. Renoir malte Frauen wie Blumen oder Früchte, inmitten der Natur, mit der sie sich zu vereinen scheinen.
Musik aus
OT Michael Zimmermann – Naturhaftes Frauenbild
Schon im 19. Jahrhundert haben Sozialanthropologen die Frau als naturhaft betrachtet, während der Mann dem als zivilisatorisches Wesen entgegengestellt wurde. Das war sicherlich auch zum Teil das Frauenbild Renoirs, wie es durch verschiedene Quellen auch belegt ist, nicht zuletzt auch durch das Buch, das sein Sohn, der berühmte Regisseur Jean Renoir über seinen Vater im Jahr 1962 geschrieben hat.
SPRECHER Jean Renoir S. 78-79 – Frauenbild
Jean Renoir nahm in der Haltung seines Vaters „seltsame Widersprüche“ wahr. Der Vater habe zwar von der Überlegenheit der Frau gesprochen, aber seine Worte über die weiblichen Emanzipationsbestrebungen konnten durchaus sarkastisch sein. Einmal soll er gesagt haben: „Was man auf der einen Seite gewinnt, verliert man auf der anderen. Wenn die Frauen an Bildung zunehmen, so kommt ihnen vielleicht anderswo etwas abhanden. Ich habe Angst, dass die kommenden Generationen für die Liebe untauglich werden.“
ERZ.IN
Mit Anfang 50 zeigten sich bei Renoir Anzeichen von Rheumatismus. Wegen des milderen Klimas verbrachte er die Winter nun an der Mittelmeerküste, später zog er ganz nach Cagnes-sur-Mer an der Côte d‘Azur. Sein Haus, das er dort in einem Olivenhain bauen ließ, ist heute ein Museum. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er im Rollstuhl.
SPRECHER Jean Renoir S. 314-315 – Rheuma
Sein Sohn Jean beschreibt diese Zeit in seinem Buch eindringlich. Von Jahr zu Jahr sei das Gesicht des Vaters schmaler geworden, und die Hände immer verkrümmter. Die drei Bälle, mit denen er morgens immer so geschickt jongliert hatte, habe er nicht mehr greifen können. „Verdammt, ich werde ein Tapergreis“, soll er gebrüllt haben…
Musik („6 Years later“)
ERZ.IN
Ein Tapergreis, der nicht mehr malen kann… Renoir ließ sich den Pinsel an die Hand binden. Und so malte er weiter, Tag für Tag: heiter, harmonisch, farbenprächtig, Aktdarstellungen, Porträts, den spätgeborenen Sohn Coco und immer häufiger Blumenstilleben. Als er am 3. Dezember 1919 im Alter von 78 Jahren starb, hinterließ er mit 7000 Arbeiten ein in der Geschichte der Malerei fast unerreicht großes Gesamtwerk. Nicht jedes seiner Bilder ist ein Meisterwerk. Renoir aber war zufrieden.
SPRECHER Auguste Renoir – Ende
Nachdem er sein letztes Bild vollendet hatte soll er gesagt haben: „Ich glaube, allmählich verstehe ich etwas davon.“
Musik aus.
Es sind die frühesten deutschsprachigen Memoiren einer Frau dazu noch ein Text von schier unglaublichem Inhalt: Helene Kottannerin, Hofdame Königin Elisabeths von Luxemburg, erinnert sich um 1450 daran, wie sie im Auftrag ihrer Herrin die legendäre Heilige Stephanskrone stahl. Mit ihr wurden die ungarischen Könige gekrönt. Von Carola Zinner (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Udo Wachtveitl, Irina Wanka, Carsten Fabian
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Professorin für Geschichte des Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung des Spätmittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München
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22.02.1440: Helene Kottannerin - die Kammerfrau, die Ungarns Krone stiehlt
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Literaturtipp:
Julia Burkhardt, Christina Lutter: Ich, Helene Kottannerin - Die Kammerfrau, die Ungarns Krone stahl. Wbg Theiss, 2023
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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ZITATORIN
„Wir stellten nun zusammen, was wir für den Plan benötigten: Wir nahmen etliche Schlösser und zwei Feilen…“
MUSIK 2 (James Stretton: Father Martin’s Devotion 0’30)
ERZÄHLER
Visegrád in einer Februarnacht des Jahres 1440: Die Kammerfrau Helene Kottannerin macht sich bereit, einen ungewöhnlichen Auftrag auszuführen. Sie soll für ihre Herrin, Königin Elisabeth von Luxemburg, die ungarische Krone aus der Schatzkammer von Burg Visegrád, der Plintenburg, stehlen. Als Helfer war zunächst ein Kroate vorgesehen, der allerdings angesichts des gefährlichen Unterfangens entsetzt in seine Heimat geflohen ist. So steht ihr nun ein Ungar bei der Aktion zur Seite - „getreu, weise und männlich“, wie sie in ihren Memoiren schreibt.
MUSIK 3 (Matija Strnisa: Dr. Schlesinger 0’36)
ZITATORIN
Er, der mit mir sein Leben wagen wollte, legte einen schwarzen, samtenen Bettrock an und zwei Filzschuhe, und in jeden Schuh steckte er eine Feile, und die Schlösser nahm er unter den Rock. Und ich nahm das kleine Siegel meiner gnädigen Herrin, und außerdem hatte ich die Schlüssel zur vorderen Tür, derer waren drei, da bei der Angel auch eine Kette sowie ein Türriegel war.
ERZÄHLER
Der Text gilt nicht nur als erste deutschsprachige Autobiographie einer Frau, er erzählt auch eine schier unglaubliche Geschichte: auf 16 beidseitig eng mit der Hand beschriebenen Blättern berichtet Helene Kottannerin, wie sie im Jahr 1440 durch einen Diebstahl die ungarische Krone für einen zu jenem Zeitpunkt noch ungeborenen Prinzen sicherte. Wie sie anschließend seiner Mutter, ihrer Herrin, bei der Entbindung beistand. Und dann - fast im Stil eines Road Movie – wie sie Mutter und Kind auf einer langen Reise begleitete, deren Höhepunkt die Krönung des kleinen Ladislaus Postumus, wie er getauft wurde, in Stuhlweißenburg am 15. Mai des Jahres 1440 zum König von Ungarn war.
MUSIK 4 ( Propinan de melyor 0’15)
ZITATORIN
„Als ihm der Erzbischof die Heilige Krone auf sein Haupt setzte, da hielt er den Kopf so kräftig aufwärts wie ein Kind von einem Jahr, und das wird selten gesehen bei Kindern, die zwölf Wochen alt sind.“
ZUSPIELUNG 1 (Julia Burkhardt)
„Das ist natürlich vollkommener Quatsch. Ein drei Monate alter Säugling ist nicht imstande, eine schwere Goldkrone zu tragen, zu sitzen und auch noch den Kopf zu heben. Aber Helene erzählt es uns so. Und sie erzählt es uns nicht ohne Grund so, denn sie will zeigen, dass da ein Kind geboren wurde, das würdig ist, die Krone zu tragen und das dazu physisch imstande ist.“
ERZÄHLER
Julia Burkhardt, Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat gemeinsam mit ihrer österreichischen Kollegin Professor Christina Lutter von der Universität Wien 2023 ein Buch über den Text und seine historischen Hintergründe veröffentlicht: „Ich, Helene Kottannerin – Die Kammerfrau, die Ungarns Krone stahl“.
ZUSPIELUNG 2 (Julia Burkhardt)
„Es ist ein außergewöhnliches Dokument, das uns sehr intime Einblicke in die familiären Strukturen bei Hof gewährt. Und es ist ein unglaublich temporeicher Text, der eine irre Mischung aus großer Politik und kleinen Alltags-Begebenheiten ergibt und eine unglaubliche Dynamik entfaltet.“
MUSIK 5 (Moisa & Kuempel: Way To Rome 1’00)
ERZÄHLER
Die Geschichte spielt in einer in vielerlei Hinsicht aufregenden Epoche: Während auf dem Konzil von Basel die Verteilung der Macht zwischen Papst und Kaiser ausgehandelt wird, wächst Florenz unter der Führung von Cosimo di Medici zur mächtigen Finanzmetropole heran. Die Zeit ist aber auch geprägt von der Furcht vor den Osmanen, deren Heere von Osten immer weiter vorrücken – und von Ketzer- und Hexenprozessen, mit denen unter anderem unliebsame Frauen aus dem Weg geräumt werden: 1431 starb Jeanne d´Arc auf dem Scheiterhaufen, 1435 wurde Agnes Bernauer auf Befehl ihres Schwiegervaters, des bayerischen Herzogs, in der Donau ertränkt. Das Leben einer nichtadeligen Frau gilt nicht viel, das weiß auch Helene Kottannerin. Und doch plagt sie während des Einbruchs in die verschlossene und versiegelte Schatzkammer weniger die Angst um ihr Leben als vielmehr die um ihre Seele.
ZITATORIN
Ich betete zu Gott: Wenn es gegen Gott wäre und ich deswegen verdammt werden oder ein Schaden daraus entstehen sollte für Land und Leute, dass dann Gott meiner Seele gnädig wäre und mich gleich hier sterben lasse. Als ich so betete, da entstanden ein großer Lärm und ein Gerumpel, als ob viele mit Rüstungen vor der Tür wären, durch die ich den eingelassen hatte, der mein Helfer war, und es kam mir vor, als ob sie die Tür aufstoßen wollten.
ZUSPIELUNG 3 (Julia Burkhardt)
Das ist vielleicht eine der eindrücklichsten Szenen der gesamten Geschichte, weil wir hier sehen, dass diese mutige und so selbstbewusst agierende Frau natürlich auch Zweifel hat.
MUSIK 6 ( Iva Zabkar: Frühstück / einbruch / mord 0’29)
ERZÄHLER
Sie sieht in dieser Szene des Kronenraubes wörtlich Gespenster. Sie hört Geräusche, der Wind geht durch die Burg, sie hört Klopfen und Hämmern und denkt ständig darüber nach, ob das eventuell ein Gespenst ist, ob das der Teufel sein könnte, ob Gott ihr eine Prüfung geschickt hat. Sie verspricht Bußleistungen, sie verspricht Wallfahrten, und sie betet dafür, dass die Tat gelingt.
MUSIK 7 ( Matija Strnisa: Azra 0‘57)
ZITATORIN
Da kam mein Helfer mir entgegen: Ich könne beruhigt sein, es wäre sich ausgegangen, sie hätten an der Tür die Schlösser abgefeilt; aber an dem Futteral waren die Schlösser so fest, dass man sie nicht abfeilen konnte und sie aufbrennen musste. Das gab einen starken Geruch, sodass ich wieder in Sorge war, man würde nach dem Geruch fragen. Das aber verhütete abermals Gott. Als nun die Heilige Krone ganz frei war, machten wir die Türen wieder überall zu und schlugen wieder andere Schlösser anstelle derer an, die man abgebrochen hatte, drückten meiner gnädigen Herrin Siegel wieder darauf, und die äußere Tür sperrten wir wieder zu und legten das Tuch mit dem Siegel wieder darauf, wie wir es vorgefunden hatten. Und ich warf die Feile in den Abort, der in dem Frauenzimmer ist.
ERZÄHLER
Nachdem alles so gut ausgegangen ist, ist Helene sich sicher: der Allmächtige steht auf ihrer Seite – und auf der ihrer hohen Auftraggeberin Elisabeth, Tochter des Königs und Kaisers Sigismund von Luxemburg, Witwe des vor kurzem verstorbenen römisch-deutschen Königs Albrecht II. aus dem Hause Habsburg, Herzog von Österreich, König von Ungarn und König von Böhmen.
ZUSPIELUNG 4 (Julia Burkhardt)
Dieses Selbstbewusstsein, das trägt die Königin immer mit sich, die natürlich als Repräsentantin der Luxemburger, das ist ihre Familie, und der Habsburger, das ist die Familie ihres Mannes, ganz valide Erbrechte ins Feld führen kann für ihre Kinder. Zu diesem Zeitpunkt, beim Tod ihres Mannes 1439, hat Elisabeth bereits zwei Töchter, kleine Mädchen, und sie ist schwanger mit einem dritten Kind, das wird Ladislaus Postumus sein. Sie weiß natürlich noch nicht, welches Geschlecht dieses Kind haben wird, und was macht sie? Sie pokert. Dieses Kind wird ein Junge sein. Und einem Jungen stehen in der Nachfolge seines Vaters die erbrechtlichen Ansprüche auf den Thron zu.
ERZÄHLER
Allerdings zählt hier nicht allein das Erbrecht: Der mächtige ungarische Adel hat bei der Thronfolge mittlerweile ein gehöriges Mitspracherecht. Und die Magnaten sind angesichts der prekären Lage des Landes, dessen Südgrenzen massiv von osmanischen Truppen bedrängt werden, wenig gewillt, für einen Neugeborenen zu votieren.
ZUSPIELUNG 5 (Julia Burkhardt)
Ein Baby auf den Thron kann die Grenzen des Königreiches nicht verteidigen. Aus diesem Grund sucht man potentielle Kandidaten in der Umgebung. Und einen Kandidaten findet man im Königreich Polen, König Wladislaw, so heißt er auf Polnisch oder auch Vladislav - die heißen in dieser Zeit leider alle gleich - und dem trägt man die ungarische Krone an. Und sagt: du könntest doch auch neben deinem Königreich Polen über Ungarn herrschen, und du könntest diese Aufgabe damit verbinden, unser Königreich zu verteidigen. Es ist vielleicht eine gewisse Ironie der Geschichte, dass dieser besagte König von Polen zu dem Zeitraum, als man ihm die Krone anträgt, gerade einmal selbst 15 Jahre alt ist. Also er ist vielleicht nicht das, was man unter einem erfahrenen Militär sich vorstellen würde.
ERZÄHLER
Für die Königin ist ohnehin klar: Kein anderer als ihr Sohn wird seinem Vater auf den Thron folgen. Dafür wird sie sorgen.
ZUSPIELUNG 6 (Julia Burkhardt)
Nach außen hin gegenüber den ungarischen Adeligen tut Elisabeth so, als wäre sie für den Plan einer Alternativlösung auf den Thron zumindest offen, und intern im Kontakt mit ihrer Kammerfrau Helene plant sie schon längst die Entwendung der heiligen Krone Ungarns, die wir heute als Stephanskrone kennen, aus der Schatzkammer der Plintenburg, Burg Visegrád.
MUSIK 8 ( The Hillard Ensemble: O pulcherrima 0‘35)
ZITATORIN
Und die Heilige Krone trug man durch die Kapelle der heiligen Elisabeth; da nahm ich, Helene Kottannerin, ein Messgewand und ein Altartuch mit, das soll mein gnädiger Herr König Ladislaus bezahlen. Mein Helfer nahm einen (sic!) rotsamtenen Polster, trennte ihn auf und nahm einen Teil der Federn her aus und tat die Heilige Krone in den (sic!) Polster und nähte ihn wieder zu.
ERZÄHLER
Spätestens an dieser Stelle wird klar: Der Text hat einen Adressaten, den „gnädigen Herrn König Ladislaus“ – keinen anderen also als den Säugling, der damals eine so zentrale Rolle gespielt hat. Mittlerweile ist er ein junger Mann und nach einigen Querelen Herzog von Österreich, König von Böhmen und als Ladislaus V. König von Ungarn – also genau das, was seine Mutter für ihn erstrebte. Helene Kottannerin beginnt ihren Bericht mit der Zeit, als Ladislaus´ Vater noch lebte. Sie schildert den Tod des Königs und die Not der schwangeren Königin, die von den Magnaten zur Wiederverheiratung gedrängt wird – und setzt dann mit der Entwendung der Krone einen ersten erzählerischen Höhepunkt. Das kostbare Stück wird anschließend, versteckt in dem dicken Kissen, auf den Schlitten gepackt, mit dem es zur Königin nach Komorn, dem heutigen Komárno, geht.
MUSIK 9 ( Matija Strnisa: Puppenspiel 0‘45)
ZITATORIN
„Und als wir aufsaßen, da schaute ich genau, wo die Stelle des Polsters war, an der die Heilige Krone lag, damit ich mich nicht daraufsetzte…“
ERZÄHLER
Helene beschreibt die Schlittenfahrt über die zugefrorene Donau –
ZITATORIN
Das Eis war an vielen Stellen schon dünn geworden. Als wir nun wohl mitten auf der Donau waren, da brach der Wagen mit den Hofdamen ein. Da erschrak ich sehr und dachte, wir müssten mitsamt der Heiligen Krone in der Donau bleiben. Aber Gott war unser Helfer, sodass kein Mensch unter das Eis kam -
ERZÄHLER
Und sie schildert die Ankunft bei der Königin in der Burg von Komorn, von wo aus es am nächsten Tag gemeinsam nach Pressburg weitergehen soll. Allerdings fühlt sich die Hochschwangere nicht recht wohl. Helene, selbst mehrfache Mutter, ahnt, warum.
MUSIK 10 ( Ars Choralis Coeln: Ave der Genitrix 0‘50)
ZITATORIN
Da hob ich das Gewand auf und wollte sie nackt sehen. Da sah ich etliche Zeichen, an denen ich gut erkannte, dass es bis zur Geburt des Kindes nicht mehr weit war. Da sprach ich: »Gnädige Herrin, steht auf, ich glaube, ihr werdet morgen nicht nach Pressburg fahren.« Da stand Ihre Gnaden auf und begann mit der schweren Arbeit, und ich ging gleich zu der Hebamme und sprach: »Margret, steht gleich auf, meine gnädige Herrin bekommt das Kind.« Die Frau antwortete mir aus tiefem Schlaf und sprach: »Heiliges Kreuz, wenn wir heute ein Kind bekommen, werden wir morgen kaum nach Pressburg fahren.« Und sie wollte nicht aufstehen, und ein Streit schien mir zu lange zu dauern, und so eilte ich wieder zu meiner gnädigen Herrin, damit ihr nichts geschehe.
ZUSPIELUNG 7 (Julia Burkhardt)
Wir haben zwar viele Dokumente und Quellen, die uns etwas über Hofstrukturen dieser Zeit sagen, aber nicht viele geben uns solche persönlichen Eindrücke von den Beziehungen einer Hofdame zu ihrer Herrin. Und das Bild, das Helene kreiert, ist tatsächlich das einer engen familiären Verbindung, wobei auch eine Hierarchie und eine Distanz zu Königin immer zu erkennen ist.
MUSIK 11 ( Iva Zabkar: Überwachungsvideos 0‘27)
ZITATORIN
Und in der ganzen Zeit, die Ihre Gnaden im Kindbett lag, kam ich nie aus meinem Gewand, weder Tag noch Nacht.
ERZÄHLER
Nur schade, dass die Königin nie erfahren wird, was ihre Kammerfrau alles für sie getan hat!
ZITATORIN
Denn es fügte sich nie, dass ich so lange allein bei ihr gewesen wäre, dass ich ihr das von Anfang bis Ende hätte erzählen können, weil wir nicht lange zusammenblieben.
ZUSPIELUNG 8 (Julia Burkhardt)
Wir wissen, dass Helene 1440 mit Kind und Krone zu Friedrich III. geflohen ist und Königin Elizabeth in Ungarn blieb und dort 1442 starb. Das bedeutet, (Königin Elisabeth verstarb,) ohne sie noch einmal persönlich zu sprechen.
ERZÄHLER
Nun, viele Jahre nach den aufregenden Ereignissen, soll wenigstens der Sohn ihrer einstigen Herrin erfahren, was sie für die Familie geleistet hat.
ZITATORIN
Die edle Königin bot mir ihre Hand und sprach: »Wenn es sein soll, dass Gott gibt, dass die Sache gut ausgeht und zum Frieden führt, will ich Euch und Eure ganze Familie erheben. Das habt Ihr wohl verdient, und Ihr habt das für mich und für meine Kinder getan, was ich selbst nicht tun konnte oder zu tun vermochte.« Da verneigte ich mich demütig und dankte Ihrer Gnaden für das gute Versprechen.
ERZÄHLER
Gleichzeitig liefert Helene Kottannerin Ladislaus Postumus mit ihrer Geschichte eine Art schriftlichen Nachweis dafür, dass von Anfang an kein anderer als ER der rechtmäßige Herrscher von Ungarn war – und nicht etwa jener Kandidat, den die Magnaten dafür auserwählt hatten. Julia Burkhardt:
ZUSPIELUNG 9 (Julia Burkhardt)
Beide Parteien entwickeln die Vorstellung, dass man für die Krönung zum ungarischen König eine Krone braucht, und zwar, wenn möglich die heilige Krone Ungarns. Und 1439 ist so etwas wie ein Kristallisationspunkt, denn da beginnt der Run auf diese Krone oder zumindest der argumentative Kampf um diese Krone. Denn Königin Elisabeth wird Erfolg haben mit ihrem Plan, diese heilige Krone Ungarns, aus der Schatzkammer der Plintenburg zu stehlen, es wird ihr gelingen, ihren Sohn Ladislaus Postumus damit zu krönen, und zwar in Stuhlweißenburg, das ist heute Szekesfehervar (klickern, bitte in Prod. entfernen) in Ungarn und zwar durch eine wichtige Person, den Erzbischof von Gran. Und aus diesen drei Fakten: Krönung mit der heiligen Krone, Krönung in Stuhlweißenburg und Krönung durch den Erzbischof von Gran macht Helene Kottannerin in ihrer Geschichte ein Gesetz. Sie formuliert daraus eine Ideologie, so könnte man das fast schon sagen, dass nur rechtmäßiger ungarischer König ist, wenn diese drei Aspekte gegeben sind. Warum macht sie das? Weil natürlich der Gegenkandidat, der polnische König, der ein halbes Jahr nach dem kleinen Ladislaus Postumus gekrönt wird, keines dieser Kriterien erfüllen kann.
MUSIK 12 ( Fatima Dunn / Beda Thornton /
Tony Delmonte: Soft Lines (reduced) 0’35)
ERZÄHLER
Ob Ladislaus Postumus das Manuskript je gelesen hat? Es gibt zumindest Hinweise darauf, dass er um die Verdienste der einstigen Kammerfrau wusste: Eine Schenkungsurkunde aus den 1450er-Jahren bezeugt, dass sie und ihr zweiter Mann, der in Wien tätige Kammerherr Johann Kottanner, von Ladislaus´ Stellvertreter zum Dank für die Verdienste um den jungen König einen Besitz auf der sogenannten Schüttinsel in der Nähe des heutigen Bratislava verliehen bekamen.
ZUSPIELUNG 10 (Julia Burkhardt)
Das ist ein Indiz dafür, dass die beiden, Johann und Helene Kottaner, über ganz enge Beziehungen zum ungarischen Königshof verfügten, und vielleicht ist das sogar der Beweis dafür, dass damit der König auf die Dienste rund um den sogenannten Kronenraub reagierte; wir wissen es nicht, aber es ist eine sehr schöne Idee.
ERZÄHLER
Ebenso wenig wie dieses Detail werden sich wohl auch die genauen Umstände der Entstehung des – nur in einer einzigen Fassung vorhandenen – Textes klären lassen, der heute in der Österreichischen Nationalbibliothek liegt. Es fehlen ein Teil des ersten Blattes und der ganze Schluss: die Handschrift bricht mitten im Satz ab. Verfasst wurde sie vermutlich Mitte der 1450er Jahre, auf jeden Fall aber vor 1457, jenem Jahr, in dem Ladislaus Postumus starb. Nachdem sie dann jahrhundertelang in Vergessenheit geriet, wurde sie Anfang des 19. Jahrhunderts in den Beständen der Wiener Hofbibliothek wiederentdeckt.
ZUSPIELUNG 11 (Julia Burkhardt)
Im neunzehnten Jahrhundert begannen dann die ersten (wissenschaftlichen) Arbeiten an dem Text, aber auch die erste literarische Auseinandersetzung mit dem Text, denn diese Geschichte hat auch im neunzehnten Jahrhundert unglaubliche Faszination ausgeübt; die Erzählung, dass da zwei Frauen die Entwendung einer Krone planen und auch durchführen, war einfach zu gut, um sie nicht zu beachten.
MUSIK 13 ( Fatima Dunn / BedaThornton /
Tony Delmonte: Side Aspects (Main) 0’12)
ZITATOR
Ihre Erzählung ist auffallend detailliert, rücksichtslos, klar und wirksam. Und doch ist kein Zweifel, dass das Bruchstück echt ist.
ERZÄHLER
- heißt es etwa in Gustav Freytags 1859 erschienenen „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“. Die detaillierte Schilderung füllte eine Wissenslücke: bis dahin wusste man nur, dass sich die Heilige Krone für beinahe 25 Jahre lang nicht in Ungarn, sondern auf habsburgischem Gebiet befunden hatte, doch nicht, wie sie dort hingekommen war. In manchen Chroniken fand sich noch ein kurzer Hinweis, eine Frau habe sie entwendet.
ZUSPIELUNG 12 (Julia Burkhardt)
Mal ist die Frau ein altes Mütterchen, mal ist sie eine nicht näher benamte Dame aus dem höfischen Umfeld, aber dass Helene Kottannerin diese Frau war und dass sie die eigentliche Akteurin hinter dem sogenannten Kronenraub war, das erfahren wir nur aus ihrem Bericht.
MUSIK 13 ( Fatima Dunn / BedaThornton /
Tony Delmonte: Side Aspects (Main) 0’17)
ZITATOR
Nicht am wenigsten merkwürdig ist, dass dieselbe Frau in einer Zeit des rührigen Handelns, wo auch den Männern das Schreiben lästig oder unmöglich war, die wichtigen Ereignisse ihres Lebens und ihren Antheil an der Politik in Memoirenform niederschrieb.
ERZÄHLER
Aber – tat sie das wirklich? Verfasste Helene Kottannerin die Memoiren mit eigener Hand, wie Gustav Freytag meinte? Nein, entschied der ungarische Germanist Karl Mollay, der den Text grundlegend erforschte: Die literarische Qualität sei für die Entstehungszeit derartig hoch, dass hier ein Profi am Werk gewesen sein müsse, der Helenes mündlichen Bericht „in Form“ brachte. Heute sehen das einige Forscher und vor allem Forscherinnen anders. Doch letztendlich, meint Julia Burkhardt, kann die Frage anhand des vorhandenen Materials schlicht nicht geklärt werden.
ZUSPIELUNG 13 (Julia Burkhardt)
Wir wissen nicht, ob Helene den Text wirklich selbst geschrieben hat, also ob sie sich die Papierbögen und das Tintenfass selbst genommen und den Text aufgeschrieben hat oder ob sie den Text einer anderen Person, beispielsweise einem Schreiber, diktiert hat. Diese zweite Lösung wäre für die Zeit gar nicht außergewöhnlich. Aus dem Text aber spricht Helene, und zwar nicht nur indirekt, sondern tatsächlich auch wörtlich. Immer wieder heißt es in dem Text „Ich, Helene, war auch dabei“ und „Ich Helene Kottannerin, ich habe es gesehen, und die Krone wurde gestohlen, weil ich Helene Kottannerin den Plan ausgeführt habe.“ Das heißt, die Erzählerin der Geschichte begegnet uns nicht nur auf diesem Niveau als Erzählerin, sondern sie begegnet uns als Akteurin. Sie ist diejenige, die die Geschichte vorantreibt, sie wird von den großen, von den Königen und Königinnen, von den Adligen in dieser Geschichte gefragt, was zu tun ist, ihren Rat holt man ein, ihr vertraut man Kind und Krone an.
MUSIK 15 ( Propinan de melyor 0’30)
ERZÄHLER
Und das mit Erfolg. Die Memoiren der Helene Kottanerin, dieser außergewöhnliche Text, sind nicht nur ein seltenes Stück spätmittelalterlicher Alltags- und Zeitgeschichte, sie erzählen auch von den damaligen Handlungsspielräumen einer Frau und von ihrem Wissen um ihren politischen und dynastischen Wert.
Licht haucht einem Gemälde Leben ein, es formt die Gegenstände und den Raum und vor allem: Es sorgt für die richtige Stimmung. Aber mit welcher Farbe stellt man Licht eigentlich dar? Warum schwärmen so viele Künstler vom Licht des Südens? Und warum sind trotzdem viele Gemälde so dunkel? Autorin: Julie Metzdorf
Credits
Autor/in dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Susanne Schroeder
Technik: Christine Frey
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. Bernhard Maaz, Kunsthistoriker und Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, München;
Dr. Karin Althaus, Kunsthistorikerin Lenbachhaus München
Literaturtipps:
„Über das Licht in der Malerei“ von Wolfgang Schöne, erschienen 1951 im Gebr. Mann Verlag Berlin.
Dieses Buch behandelt den Zeitraum von der mittelalterlichen Buchmalerei bis ins 20. Jahrhundert. Das Buch ist allerdings vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich.
Eine sehr gute Vertiefung des Themas bieten auch die Kataloge zu den Ausstellungen:
„Die Nacht“ im Münchner Haus der Kunst 1998/99;
„Sonne. Die Quelle des Lichts in der Kunst“ im Museum Barberini in Potsdam 2023.
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Kunstverbrechen - True Crime meets Kultur
Juwelenraub, geschmuggelte NS-Kunst, Fälscherskandale, verschollene Gemälde: Lenore Lötsch und Torben Steenbuck rollen spektakuläre Kunstdiebstähle auf. Sie nehmen uns mit an Tatorte, treffen Zeugen und Experten. Die Hosts arbeiten dabei mit der Polizei zusammen: Deutschlands bekanntester Kunst-Kommissar René Allonge vom LKA Berlin ist in jeder Folge dabei.
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ERZÄHLER
Im alten Griechenland, genauer gesagt in Sikyon auf der Halbinsel Peleponnes, lebte der Überlieferung nach ein Töpfer mit seiner Tochter. Eines Tages verabschiedet sich der Geliebte dieser Tochter auf eine Reise. Um ein Andenken an ihn zu haben, setzt sie ihn seitlich vor eine Wand, stellt eine Lampe vor sein Gesicht und zeichnet den Schatten seines Profils an die Wand.
ERZÄHLERIN
Dieser von Plinius überlieferte Mythos gilt als die Geburtsstunde der Malerei. Und eines war selbst für diese einfache Konturlinie unabdingbar: Licht.
1 OT Bernhard Maaz
Ohne Licht nichts los, als ganz knappe Formel.
ERZÄHLERIN
Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen.
2 OT Bernhard Maaz
Licht ist entscheidend für alles in der Wahrnehmung von Malerei.
MUSIK: „UNO“ - C138761#001 (1:00)
ERZÄHLER
Da wäre zunächst mal das Licht, in dessen Strahlen das Kunstwerk entsteht: bei Kerzenschein, wie die mittelalterliche Buchmalerei in den Skriptorien großer Klöster. Oder bei Sonnenlicht, wie die Freilichtmalerei, an der Staffelei auf dem Feld, wenn sich Wolken vor die Sonne schieben und sich das Licht minütlich ändern kann! Oder bei gleichmäßigem Nordlicht in den Dachgeschosswohnungen mit hohem Atelierfenster von Schwabing, Paris oder Berlin?
ERZÄHLERIN
Dann sind da die Lichtverhältnisse, unter denen wir Malerei betrachten. Die Büffel und Antilopen früher Höhlenmalereien müssen im unruhig flackernden Fackelschein wie bewegt, fast lebendig ausgesehen haben. Es ist auch ein Unterschied, ob ich Wandmalereien im schummrigen Licht einer romanischen Kapelle mit kleinen Fenstern in dicken Mauern betrachte, oder ob ich in einem gleichmäßig beleuchteten Museumssaal praktisch unter Laborbedingungen jeden einzelnen Pinselstrich eines Gemäldes analysieren kann.
3 OT Bernhard Maaz
In der Schöpfungsgeschichte, Moses 1. Buch, da trennt Gott Himmel und Erde, das ist sein erster Schöpfungsakt und der zweite ist: Er schafft das Licht. Das skizziert vielleicht die Tragweite des Lichtes für alles, was kommt, für alles Leben, für alles Wahrnehmen, für alles Sehen.
MUSIK: „Decision“ – C1423688#010 (0:31)
ERZÄHLER
Und dann ist da das Licht im Bild. „Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis“, heißt es in der Bibel. Wo Licht ist, ist also auch Schatten. Mittelalterliche Buchmalerei und Fresken aber kennen zunächst keinen Schatten. Bis ins 15. Jahrhundert hinein werden Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge nicht beleuchtet, sie leuchten von selbst.
ERZÄHLERIN
Das Gesicht des Heilands, Marias Mantel, Throne, Schafe, Palmwedel: alles erstrahlt im sogenannten „Eigenlicht“. Es ist ein unnatürliches Licht, außer-irdisch, gewissermaßen. Der Betrachter blickt auf eine fremde Welt, in der andere physikalische Gesetze zu herrschen scheinen als in seiner eigenen irdischen Schattenwelt. Mit Blick auf die Motive dieser Zeit, die fast ausschließlich Szenen der christlichen Heilsgeschichte zeigen, ist klar: Das Licht in der Malerei des Mittelalters ist ein Offenbarungslicht.
ERZÄHLER
1522 malt Antonio da Correggio „Die heilige Nacht“. Das Bild in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden zeigt das frisch geborene Jesuskind in seiner Wiege. Die Umgebung verliert sich im Dunkel der Nacht, rund um das Kind ist das Bild allerdings extrem hell. Doch kein besonderer Lichtstrahl fällt auf die Wiege – es ist das Kind selbst, das so leuchtet.
4 OT Bernhard Maaz
Das Christuskind liegt in dem Stroh, wie die Bibel das berichtet, und von dem Kind geht ein Glimmen, ein Leuchten, ein Strahlen aus, was die Muttergottes und die Hirten, die herbeigeeilt und die Engel, die herbeigeflattert sind, alle anstrahlt. Das ist das göttlichste Licht, was man sich nur vorstellen kann.
ERZÄHLERIN
Mittelalterliche Verkündigungsdarstellungen zeigen das göttliche Licht oft sogar ganz konkret. Eines der schönsten Beispiele dieses Motiv stammt von Fra Filippo Lippi und befindet sich in der Alten Pinakothek in München. Über Maria und dem vor ihr knienden Erzengel Gabriel sieht man links oben Gottvater. Von dort aus durchzieht ein Lichtstrahl in gerader Linie das gesamte Gemälde direkt auf Marias Herz zu. Mitten auf dem Lichtstrahl sitzt eine Taube und rutscht auf einer kleinen hellblauen Wolke auf Maria zu.
6 OT Bernhard Maaz
Das ganze Bild ist von Licht, von natürlichem Licht durchströmt. Das hat der Renaissance-Maler genau gesehen, genau beobachtet, auch in seinen Wirkungen, dass das Licht die Figuren plastisch macht. Aber es kommt eben der goldene Strahl als heiliges Licht noch dazu. Wir haben also verschiedene Bedeutungsebenen von Licht und Lichtstrahl.
MUSIK: „Until it blazes“ – C504944#014 - (1:15)
ERZÄHLER
Licht ist elektromagnetische Strahlung, es ist immateriell. Licht malen heißt: die Wirkung des Lichts imitieren, seine Erscheinung nachahmen. Eine silberne Kanne bekommt weiße Glanzlichter auf ihren runden Bauch, einen schweren Baumwollstoff hingegen malt man ganz ohne Reflexe, trocken und stumpf, er soll das Licht schlucken. Es ist wie in der realen Welt: Wir müssen einen Gegenstand nicht erst berühren, um zu wissen, ob er weich oder glatt ist. Wir sehen das vorher.
Außerdem formt das Licht die Gegenstände. Ein Maler kann die Dinge mit Licht modellieren: eine Stofffalte etwa malt man in ihrem Tal, wo der Schatten ist, dunkel, ihre höchste Stelle hingegen muss hell sein.
ERZÄHLERIN
Die Ölmalerei gilt als die Königsdisziplin der Malerei, unter anderem wegen ihrer Farbbrillanz. Eine Holztafel oder eine auf einen Keilrahmen gespannte Leinwand wird mit einer weißen Kreideschicht grundiert. Dann beginnt die langwierige Arbeit der Maler:
8 OT Bernhard Maaz
Sie lasieren, legen also mehrere transparente Farbschichten oder bedingt transparente übereinander, sodass aus der Tiefe der tieferen Schichten, aus der Farbigkeit, ein Leuchten hervorkommt, weil natürlich alle Farbe, die wir sehen, nur dadurch entsteht, dass Licht auf das Pigment fällt und dass die verschiedenen Pigmente, die verschiedenen Materialien von unseren Augen wahrgenommen werden, weil sie das Licht in verschiedenen Spektren reflektieren.
ERZÄHLER
Das Licht dringt also tief in die Malschichten ein und wird von dort zurückgeworfen. Von Tizian weiß man, dass er 150 Lasuren übereinander malte. Das Bild mag am Ende trotzdem nur wenige Millimeter dick sein, doch genau diese Lasuren machen den Unterschied zwischen einer aus der Tiefe des Raums leuchtenden Fackel und einem gelben Fleck.
ERZÄHLERIN
Trick Nummer zwei sind die Kontraste. So wie das Licht am Ende eines Tunnels besonders hell strahlt, so gilt auch für die Malerei: Je dunkler ein Bild, desto heller wirken die lichten Partien. „Chiaroscuro“ nennt sich das, Helldunkelmalerei. Vor dunklem Hintergrund werden einzelne Partien des Bildes beleuchtet, als stünde ein starker Scheinwerfer neben dem Bild.
9 OT Maaz
Die Figur strahlt nicht von sich, sondern sie wird angestrahlt, etwa in den Bildern, die in ein sogenanntes Kellerlicht getaucht sind. Da ist die Szenerie dann geradezu theatralisch mit Schlaglichtern, mit Scheinwerfern ausmodelliert und auch von den Bedeutungen ausdifferenziert.
MUSIK: „Ascolta“ – C138761#010 - (1:33)
ERZÄHLER
Die punktuellen Helligkeiten und starken Kontraste lenken das Auge des Betrachters durch das Bild. Eine Handlung mag noch so kompliziert sein, kluge Lichtführung macht jedes Bild verständlich. Der Italiener Caravaggio gilt als Meister des Chiaroscuro, niemand vor ihm hatte solch eine Dramatik in der Malerei erreicht. Etwa um das Jahr 1600 malte Caravaggio „Die Berufung des heiligen Matthäus“. Eine Gruppe von Männern sitzt an einem Tisch, einige von ihnen zählen Münzen; es sind Zöllner. Von rechts nähert sich ein Fremder und zeigt auf den jungen Mann ganz links, am anderen Ende des Bilds.
ERZÄHLERIN
Es ist Jesus, der Matthäus zu seinem Jünger erwählt. Das Licht fällt schlaglichtartig von rechts auf die Männer, es lenkt den Blick vor allem auf ihre Gesichter und Hände, der Rest versinkt im Dunkeln. Das Gemälde befindet sich in der Kirche San Luigi dei Francesci in Rom, genau an dem Ort, für den es geschaffen wurde: an der linken Seite einer kleinen Kapelle. Durch ein Fenster über dem mittigen Altarbild fällt Tageslicht auf das Gemälde, und entspricht damit genau dem gemalten Licht im Bild.
ERZÄHLER
Das Besondere an dem Bild ist aber nicht nur die dramatische Lichtführung: Zum ersten Mal in der Kunstgeschichte wird eine heilige Handlung nicht in einem heiligen Rahmen oder in einer Ideallandschaft gezeigt, sondern in einer alltäglichen Stube. Das Fenster ist schmutzig, die Männer sind unordentlich gekleidet, manche nehmen nicht mal Notiz von dem Fremden.
ERZÄHLERIN
Es ist eine durch und durch profane, alltägliche Szenerie, und dann kommt auch noch das Licht im Bild aus der Welt des Betrachters. Ganz im Sinne der Gegenreformation ging es Caravaggio hier darum, den Menschen das göttliche Geschehen nahezubringen, es in ihre Welt zu tragen.
ERZÄHLERIN
Was wir bei der Betrachtung des Lichts in der Malerei immer mitdenken müssen: Was wussten die Maler überhaupt über das Licht und das Sehen? Im Altertum ging man wahlweise davon aus, dass das Auge einen Sehstrahl auswirft, der die Informationen über den Raum zurückwirft, oder aber, dass die Gegenstände über ihre Poren eine Art Strahlung aussenden, die in das Auge eindringt. Erst um das Jahr 1000 erkannte man den Zusammenhang zwischen Sehen und Licht. So richtig in Fahrt kommt das Wissen um das Sehen erst um das Jahr 1600.w
12 OT Maaz
Das Wissen über Licht und Lichtbrechung wächst zunehmend, es entsteht die Optik... Und es wächst die technische Raffinesse, die Ferngläser, also es gibt schon im Mittelalter, im Spätmittelalter, die Brille, aber das, was an Beobachtungsmöglichkeiten hinzukommt um 1600, ist immens. Es gibt also ein stark wachsendes Interesse an der naturwissenschaftlichen Weltbeobachtung und deren Umsetzung in der Malerei.
MUSIK: „Harmony of the spheres“ – CD06653#06 (1:03)
ERZÄHLER
Adam Elsheimers „Flucht aus Ägypten“ in der Alten Pinakothek in München steht beispielhaft für das Interesse der Maler an Licht, Physik, Wahrnehmung. In kühlem, fast bläulichem Weiß steht der Vollmond am Himmel und spiegelt sich in einem Gewässer. Dieser Mond ist so detailliert gemalt, dass man die Krater auf seiner Oberfläche erkennen kann. Auch der Rest des Nachthimmels ist für die Zeit außergewöhnlich detailreich: 1200 Sterne hat Elsheimer hier wiedergegeben, darunter mehrere bekannte Sternbilder und vor allem: die Milchstraße. Als milchig helles Band mit besonders hoher Sternendichte zieht sie sich quer über den Nachthimmel.
13 OT Maaz
Und neben dem kosmischen Licht unten im Hintergrund ein Feuer, bei dem sich Menschen wärmen, mitten in der Nacht. Das ist die nächste Verfeinerungsstufe, wenn man so sagen kann, die verschiedenen Qualitäten, das kältere Sternenlicht und das wärmere Feuer.
ERZÄHLERIN
Das Bild ist eine Sternstunde der Kunstgeschichte in doppeltem Sinn: Elsheimer malte den Himmel so genau, dass Astrologen das Bild exakt datieren konnten: Es zeigt den Himmel über Rom am 16. Juni 1609 um 21.45 Uhr. Und: Elsheimer muss den Himmel durch ein Fernrohr gesehen haben, das erst ein Jahr zuvor in den Niederlanden erfunden worden war. Denn bei solch hellem Vollmond hätte er die Milchstraße mit bloßem Auge gar nicht sehen können. Der Barockmaler zeigt hier nicht nur was er sieht, sondern auch was er weiß und vor allem: was er kann.
ERZÄHLER
Bis hierhin könnte man den Eindruck gewinnen, die Kunstgeschichte kenne nur Nachtbilder. Dabei ist die Sonne die hellste Lichtquelle von allen. Keine Lampe, kein Feuer und kein Vollmond kann es mit ihrer Strahlkraft aufnehmen. Doch die Landschaft setzt sich erst im 17. Jahrhundert als Motiv durch, dazu musste sich die Malerei erst aus dem konfessionellen Kontext lösen.
ERZÄHLERIN
Einer der ersten Maler, der die Sonne ins Zentrum des Bildes rückt, ist der Franzose Claude Lorrain. Lorrain ist bekannt für heitere, idyllische Ideallandschaften, in denen es nie regnet. Eines seiner Bilder in der Alten Pinakothek zeigt einen Seehafen bei untergehender Sonne. Lorrain malt hier die Sonne selbst, sie ist zugleich Lichtquelle und Hauptmotiv.
15 OT Maaz
Wir sehen ein Aufstrahlen am Firmament, wir sehen wie die See, die Architekturen, die Staffagefiguren, die Schiffe, die ferne Landschaft, wie alles ins Licht getaucht ist. Und er geht sogar noch weiter. Er zeigt auch die Spiegelung der Sonne auf dem Meer, bei Sonnenuntergang, bei Sonnenaufgang, also immer auch mit starken emotionalen Komponenten.
ERZÄHLER
Claude Lorrain ist der Meister des Lichtes schlechthin. Er ist allerdings nicht der einzige Maler, den man „Meister des Lichts“ nennt. Auch der britische Landschaftsmaler William Turner – ein großer Verehrer Lorrains – wird gern als „Maler des Lichts“ bezeichnet. Die Kunsthistorikerin Karin Althaus:
16 OT Karin Althaus
Es ging ihm total um Malerei, Landschaft, um Wetter, um Wetterphänomene und eben auch um Licht und wie Licht in Farbe übersetzt werden kann.
MUSIK: „Won‘t somebody see a lady home“ – C143243#001 (0:58)
ERZÄHLERIN
Turner interessierte sich für Licht und Luft in den unterschiedlichen Erscheinungsformen, für Wolken und Rauch, Staub und Ruß. Er malte das brennende Parlament in London, einen Schneesturm in den Alpen, Rauch ausstoßende Lokomotiven oder Dampfschiffe im Hafen. Er kannte viele optische Effekte, zum Beispiel, dass weit entfernte Gegenstände durch die Trübe der Atmosphäre bläulich erscheinen. Berühmt wurde Turner vor allem mit seinen späten Werken. Es sind Bilder, in denen sich die Formen langsam auflösen, Häuser, Brücken, Bäume und Menschen zerstäuben regelrecht im Licht.
17 OT Karin Althaus
Vielleicht hat Turner als einer der ersten begriffen, wenn man Licht darstellen will, dass halt dann die Kontur eines Berges nicht mehr das zentrale ist, sondern wirklich das, was das Licht mit der Atmosphäre macht.
MUSIK: „Run“ – C154752#106 (0:43)
ERZÄHLER
Maler lieben das Licht. Und zwar nicht nur den strahlend hellen Schein der Sonne oder spektakulär flackernde Fackeln in der Nacht. Auch über die warme Stube der Bürgerlichkeit lässt sich mit Licht erzählen. „Wohnzimmer mit Menzels Schwester“ heißt ein Gemälde von 1847: der Berliner Adolph Menzel malt hier den Blick in ein Wohnzimmer. Im Hintergrund sitzt die Mutter an einem Tisch und näht oder stickt, vorn im Bild steht die Schwester des Malers, sie lehnt am Türrahmen mit einer Kerze in der Hand. Bernhard Maaz:
18 OT Maaz
Wir haben also in einem Raum zwei verschiedene Lichtquellen. Wir haben die völlig verschattete, abgewendete Figur der Mutter, und wir haben die von unten, von der Kerze her anmutig beleuchtete Schwester, in deren Augen sich das Licht mit einem winzigen weißen Tupfer spiegelt.
ERZÄHLER
Zwei Lichtquellen, zwei Frauen, zwei Tätigkeiten: Die Mutter bei der Handarbeit, die Schwester selbstvergessen, sie scheint zu träumen, auf jemanden zu warten. Eine äußerst private, intime Szenerie.
19 OT Maaz
Menzel, der exzellente Beobachter, führt uns in eine persönliche Sphäre hinein in ein dunkles braun-, grün-, gelbtoniges Zimmer. Er höht, er hebt die Lichter heraus, bis hin zum weißen Saum am Ärmel der Schwester. Und er feiert das Licht in einem bürgerlichen Raum.
ERZÄHLERIN
Zu den Höhepunkten des Lichts in der Malerei gehören zweifelsohne die Bilder der Impressionisten. Sie machten es sich zur Aufgabe, das Licht selbst zu malen – in all seinen Nuancen. 1893 und 94 malte Claude Monet insgesamt 33 Bilder der Kathedrale von Rouen. Immer die gleiche Ansicht, die Westfassade mit ihren großen Portalen und dem Rosettenfenster, aber zu unterschiedlichen Tageszeiten. In grau-blauem Morgennebel, bei Sonnenuntergang in glühendem Goldgelb, in rotes Licht getaucht, oder mit harten Schlagschatten im gleißenden Mittagslicht. Mit kurzen, schnellen Pinselstrichen fängt er die flüchtigen Effekte des Lichts und der Atmosphäre ein.
ERZÄHLER
Es geht Monet nicht um die Architektur und auch nicht um Heuhaufen, von denen er ähnliche Bilderreihen malt: es geht einzig und allein um die verschiedenen Qualitäten des Lichts.
20 OT Maaz
Das ist eine Malerei des reinen Lichts und der Beobachtungen über die stark modifizierende Lichtwirkung. Monet geht eben raus und malt die Natur in ihrer Unverfälschtheit und lehrt uns differenziert zu schauen.
ERZÄHLERIN
Aber das Licht im 20. Jahrhundert hat noch mehr zu bieten. 1930 malt Lyonel Feininger die Marktkirche in Halle: Ein hohes Kirchenschiff mit steil aufragendem Dach und Doppeltürmen vor blauem Himmel. Das gesamte Bild ist von Linien durchzogen, an denen sich das Licht zu brechen scheint, als sei das Bild aus verschiedenfarbigen Papieren zusammengeklebt oder als betrachte man es durch eine gebrochene Glasscheibe.
21 OT Maaz
Man weiß gar nicht ganz genau: Kommt das Licht von oben, kommt es von unten, sind es Schattenwürfe, sind es Strahler, sind es, ja, wenn es zehn Jahre später wäre, würde man sagen, sind es Flakscheinwerfer. Es ist ein Licht aus vielen, vielen Richtungen. Und ich glaube, dass das ganz symptomatisch ist für das moderne Sehen. Dass es eben in einer Stadt die Gaslaternen gab, die elektrische Beleuchtung eingeführt wurde und die Figuren Schatten werfen, die Architekturen Schatten werfen und das ganze Geschehen im Bild sich aus Beleuchtungen entwickelt und nicht nur aus einem Sonnenlicht.
ERZÄHLERIN
Das zwanzigste Jahrhundert ist das Zeitalter der unendlichen künstlichen Lichter, der Scheinwerfer, der Tag und Nachtbeleuchtungen, der Lichtreklame. Feininger gibt dem neuen Lichtgefühl mit seiner Malerei ein Gesicht
22 OT Maaz
(Er erfasst einfach seine Zeit,) er erfasst, wie so ein Stadtraum sich darstellt und wie relative Schwärzen entstehen, wo kein Licht hinfällt. Und erfasst damit auch zugleich die Lebendigkeit des urbanen Raums.
ERZÄHLER
Neues Licht für eine neue Zeit. Und so wird es weitergehen.
23 OT Maaz
Licht wird immer eine Rolle spielen, das ist die Conditio sine qua non für die Malerei. Und die Wirkung der verschiedenen Materialitäten, in dem Licht, in der Verschattung, ist ja auch mit das Spannendste, was ein Künstler machen kann.
MUSIK: „Until it blazes“ – C504944#014 - (1:15)
ERZÄHLERIN
Und manchmal braucht man dazu nicht mal mehr Pigment: Für das Diözesanmuseum in Freising schuf der amerikanische Lichtkünstler James Turrell eine Lichtkapelle: ein Raum, ganz in helles wechselndes farbiges Licht getaucht. Es gibt keine Horizontlinie und keinen Tiefenraum, kein Oben und kein Unten, kein Motiv und keine definierbare Lichtquelle.
ERZÄHLER
Es ist, als würde man in das Licht hineinsteigen und alle Arten von Licht gleichzeitig erfahren: das außerirdische Eigenlicht des Mittelalters, Lorrains strahlende Sonne und Monets flirrendes Stimmungslicht, Turners dichte Atmosphäre und Menzels warmes Stubenlicht. Mag sein, dass Turrells Installation keine Malerei mehr ist.
Aber eines hat uns die Geschichte des Lichts in der Malerei gelehrt: Licht ist mehr als Beleuchtung. Es weist immer über sich hinaus.
ENDE
Wie steht es um unsere Werte, den Umgang miteinander? Der Moralphilosoph Rainer Erlinger - bekannt geworden durch "Die Gewissensfrage" - versucht mit einem modernen Leitfaden für unsere Gesellschaft Antworten zu geben. (BR 2019) Autor: Florian Kummert
Credits
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Stefan Wilkening, Hans Jürgen Stockerl
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Bernhard Kastner
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO a01
SPRECHER
Sehr geehrter Herr Dr. Erlinger,
ich ärgere mich, dass ich bei den sogenannten „Rispentomaten“ auch den Strunk und damit eigentlich Abfall zum Tomatenpreis kaufen soll. Daher suche ich im Supermarkt immer nach Tomaten, die schon vom Strunk abgefallen sind. Wenn die Menge nicht reicht, löse ich selbst welche vom Strunk. So wiege und bezahle ich nur Tomaten - und nicht das grüne Beiwerk. Ist das richtig?
MUSIK m01
SPRECHERIN
Tomaten und ein Hauch von Drumherum. Eigentlich eine kleine Frage, in der ein verschwindend geringer Betrag verhandelt wird. Nur einen winzigen Cent-Betrag spart der Fragesteller ein, indem er das Grünzeug nicht mit wiegt. Und doch ist genau das für Rainer Erlinger eine perfekte, weil vielschichtige Gewissensfrage. Soll man, darf man das Grünzeug bei den Rispentomaten abzupfen?
OTON Rainer Erlinger 1
„Am Ende kann man sagen: ‚der hat das Recht dazu, das ist durchaus korrekt!‘ Und dann hab ich gemerkt: Aber trotzdem stimmt was nicht. Da find ich eben: Der mag zwar recht haben, aber möchte man in einer Gesellschaft leben, die so aufgebaut ist, dass die Menschen bei allem was sie tun, denken, ob sie das letzte 0,5 Cent noch für sich rausholen oder nicht? Und da hab ich erkannt zu sagen: ‚Nein!‘ Es ist wichtiger zu sagen, was ist das für ein Mensch, wie möchte man, dass die Gesellschaft aufgebaut ist und nicht ob diese einzelne kleine Geschichte jetzt richtig oder falsch ist.“
SPRECHER
Eine moralphilosophische Antwort, mit einem kleinen ‚Ja‘ und einem großen ‚Nein‘. Rainer Erlingers Antwort bezieht sich auf einen jahrtausendealten Text und die dazugehörige Haltung: die Tugendethik des Aristoteles, verfasst im 4. Jahrhundert vor Christus. Nicht die einzelne Handlung steht hier im Vordergrund, das einzelne Richtig oder Falsch, sondern das gesamte Handeln als tugendhafter Mensch. Aristoteles sieht in der Tugend das richtige Verhalten in der Mitte zwischen zwei schlechten Extremen. Und wie im Beispiel der Tomaten bis in den kleinsten Cent-Bereich hinein auf seinen Vorteil zu achten, ist extrem. Soll das eine erstrebenswerte Haltung sein? Möchte man in einer Welt leben, in der alle Menschen so handeln? Rainer Erlinger will das nicht - und zieht dabei gerne den aristotelischen Gradmesser der Freundschaft heran:
OTON Rainer Erlinger 2
Wenn man sich überlegen würde, möchtest du mit jemandem, der sich so verhält, befreundet sein? Und das ist plötzlich eine Frage, mit der man merkt, es geht mehr um den Menschen, um Haltung, der kann auch mal einen Fehler machen, der kann auch im Einzelfall falsch liegen, aber es geht um diese Haltung, die in der Antike eine große Rolle gespielt hat. Möchte ich so ein Mensch sein, möchte ich eine Gesellschaft, die auf solchen Menschen aufgebaut ist?
MUSIK m02
SPRECHERIN
Sehr geehrter Dr. Erlinger, ich bin Studentin und knapp bei Kasse. Nun habe ich eine Brieftasche gefunden, mit viel Bargeld. Habe aber alles zurückgeschickt. Doch meine Freunde meinten, ich hätte das Geld behalten sollen. Macht doch jeder! Ich sei ein „naiver Gutmensch“. Bin ich das?
OTON Rainer Erlinger 3
Gutmensch ist natürlich ein ganz problematischer und schwieriger Begriff, weil man sieht, wie ein zweifelsfrei richtiger Begriff, ein guter Mensch, das ist ja was Richtiges und gut, wieder aus der antiken Ethik, da wollte man eigentlich ein guter Mensch sein. Das ist die Idee. Durch einfache Umbenennung in ‚Gutmensch‘ wird plötzlich was Negatives draus, und man sieht zum einen die Macht der Sprache, wie man einen Begriff kapern kann, ihn sogar umdrehen, ins Gegenteil, und wie man diese Idee, ich finde eine Geldbörse und schicke die zurück, natürlich lasse ich das Geld drinnen, ich würde sagen, das ist nicht ein guter Mensch, sondern das ist eigentlich selbstverständlich.
SPRECHER
So selbstverständlich waren die Antworten nicht immer bei Rainer Erlinger. Fast 17 Jahre lang - von 2002 bis Ende 2018 - hat er für das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ seine Kolumne „Die Gewissensfrage“ verfasst. Mehr als 850 Texte kamen so zusammen, in denen er auf Fragen der Alltagsmoral und des Gewissens einging. Fragen, die keine eindeutige, klare Antwort hatten, sondern zu einem Abwägen einluden, zu einem intellektuellen Spiel der Möglichkeiten, oft verbunden mit einem passenden Zitat aus anderen Werken, meist Klassikern der Moralphilosophie. Aristoteles, Kant, aber auch Freud oder sogar ein Asterix-Band tauchten in den Texten auf. Die Kolumne hat Rainer Erlinger schließlich abgegeben, um sich verstärkt längeren Texten und seinen Büchern widmen zu können. Abhandlungen über die Höflichkeit, die Frage „Warum die Wahrheit sagen?“ und über „Moral - wie man richtig gut lebt“. Ein Gesamtbild, das sich aus der Arbeit an den über 15.000 eingesendeten Einzelfragen ergeben hat:
OTON Rainer Erlinger 4
Ich hab mal das Bild gehabt: Das ist wie eine Schüssel unterm Schreibtisch, wo von jeder Frage was reingetropft ist, diese Essenz, dass ich die zusammenfassend darstellen wollte.
SPRECHERIN
Sozusagen die Tugendethik des Dr. Dr. Rainer Erlinger.
1965 wird er in Deggendorf geboren, besucht dort die Schule und fängt früh an zu schreiben, gibt die Schülerzeitung heraus und geht zum Studieren nach München. Er ist fasziniert von Jura und Medizin, beides lernintensive Studiengänge. Rainer Erlinger entscheidet sich … gar nicht, sondern studiert beides. Schließt erst Medizin ab, dann Jura. Und promoviert in beiden Fächern. Ein niederbayerisches Wunderkind also?
OTON Rainer Erlinger 5
Nein, Wunderkind bin ich nicht. Ich bin nur tatsächlich jemand, wenn man’s böse formulieren würde, könnte man sagen, etwas zwanghaft, und wenn man es nett formuliert, bin ich einfach jemand, der, wenn er was angefangen hat, es auch gerne zu Ende bringt. Und zwar nicht nur aus diesem „Ich muss es unbedingt zu Ende bringen“, sondern ich hab das Ganze studiert, weil es mich interessiert und dann will ich auch den akademischen Abschluss zu Ende bringen, es sind ja beides Fächer, die man nie in dem Sinn zu Ende bringt, dass ich jetzt alles wüsste, aber dass ich zumindest einen Schlusspunkt setzen kann, bei dem was ich erfahren kann, und es hätte mich immer unglücklich gemacht, wenn ich nur einen Teilüberblick habe.
SPRECHER
Erlinger vermischt in seiner Arbeit beide Welten, Medizin und Jura, er wird Anwalt mit Schwerpunkt Medizinrecht, das sich generell mit ethischen Fragen beschäftigt, dem Beginn und dem Ende des Lebens oder der Autonomie des Menschen. Was darf man selbst bestimmen? Welche Verpflichtungen hat man gegenüber der Gesellschaft oder welche Verpflichtungen hat die Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen? Neben seiner Anwaltstätigkeit rückt das Schreiben immer mehr in den Vordergrund. Und dabei entdeckt Erlinger die Welt der Philosophie, insbesondere der Moralphilosophie.
Die trifft, wenn sie allgemeinverständlich erklärt und auf ihre Essenz destilliert wird, auf ein immer breiteres Interesse bei den Lesern. Für manche wird Erlinger zum ‚Moral-Papst‘, für andere zum ‚Moralapostel‘...
OTON Rainer Erlinger 6
‚Moralapostel‘ ist ein unschöner Begriff, wobei ich feststelle, dass viele Leute das oft gar nicht so böse meinen, sondern das eher so scherzhaft machen, aber natürlich stört mich das, weil der Moralapostel ist negativ konnotiert, ist einer der mit erhobenen Zeigefinger durch die Welt läuft und anderen Leuten das Leben schwer macht und auch dieses Übergenaue und Übermoralische, das möchte ich natürlich nicht sein. Aber ein moralischer Mensch bin ich schon auch gerne, weil ich das für richtig halte.
SPRECHERIN
Schon in den 1960er Jahren erkannte der Soziologe Niklas Luhmann, dass unsere Welt immer komplexer wird - eine Veränderung, auf die der Mensch reagieren muss. Die Komplexität hat in den vergangenen Jahrzehnten noch weiter zugenommen und mit ihr wächst eine Unsicherheit, gegen die Erlinger anschreiben will:
OTON Rainer Erlinger 7
Wir haben die Unsicherheit im Großen, also wo geht die politische Gesellschaft hin? Wo geht die Politik insgesamt, wo geht die Welt hin? Ich glaube auch, dass es noch eine zweite gibt, die schon viel länger da ist: dass die Gesellschaft Regeln verloren hat. Also ich sag das mal ganz neutral: vor 50 oder vor 100 Jahren war im Leben alles geregelt. Die meisten haben das Leben ihrer Eltern fortgeführt, haben den Beruf ergriffen, haben vielleicht den Hof übernommen oder das Geschäft übernommen, oder sind in dieselbe Lehre gegangen. Und wie man sich verhält, war vorgegeben von den Eltern, von der Gesellschaft, von der Kirche. Das ist alles weggefallen, größtenteils. Die meisten machen ein ganz anderes Leben, leben woanders, haben einen Beruf… oft ist es so, die Eltern können nicht mal mehr genau beschreiben, was die Kinder eigentlich als Beruf machen. Und plötzlich ist alles offen und da ist ein Verlust an Regelung, an Regeln. Man kann nicht komplett ohne Normen, ohne ein Regelwerk wie man zusammenlebt ein Leben oder eine Gesellschaft bilden. Deswegen müssen dann neue Regeln gesucht werden, und das sind die Moral, die Ethik, das Reflektieren. Was ist richtig, was ist falsch? Und eben das Fragen und das Neu-Suchen.
ATMO a02 und MUSIK m02
SPRECHERIN
Bis zu 100 Suchende pro Woche schickten ihre Gewissensfragen an Rainer Erlinger. Ein beliebtes Themengebiet: Kinder.
SPRECHER
Dürfen wir meinem Bekannten und seiner Frau sagen, dass uns deren dreieinhalbjähriger Sohn auf die Nerven geht, wenn wir uns sehen? Oder ist das unter Freunden tabu und wir müssen alles ertragen, was Kinder in diesem Alter eben so tun?
SPRECHERIN
Antwort: Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, was uns nicht nur Kant klargemacht hat. Entsprechend sollten wir uns verhalten. Sie, indem Sie nicht sagen, dass Ihnen das Kind auf die Nerven geht und damit ihren Freund kränken; stattdessen besser, dass Sie einfach nicht so viel mit Kindern anfangen können. Und ihr Freund, indem er Ihnen zukünftig nicht die volle Dosis Kind zumutet.
ATMO a04
SPRECHER
Weiteres Themengebiet: die Nachwehen von Beziehungen.
SPRECHER
Vor vier Monaten trennte sich meine Freundin nach fünf Jahren von mir. Nun sind wir uns zum ersten Mal wieder auf einer Party begegnet und haben uns nur knapp begrüßt. Als sie später sah, wie ich eine andere Frau küsste, verließ sie sofort wütend die Feier.
Ich bekam ein schlechtes Gewissen und wollte mich bei ihr entschuldigen.
Muss ich das?
MUSIK m02
SPRECHERIN
Antwort: Sie sind ein freier Mann und dürfen küssen, wen Sie wollen. Eine Entschuldigung ist also nicht notwendig. Was aber nicht bedeutet, dass es vollkommen richtig war, vor den Augen der Ex eine andere Frau zu küssen. Man könnte es als eine Frage des Stils ansehen, oder des Rücksichtsgebots. So wirkt das wie ein in Richtung der Ex gebrülltes „ICH KANN TUN, WAS ICH WILL!!!“ mit drei Ausrufezeichen. Eine vielleicht berechtigte, aber keine schöne Art der Kommunikation.
SPRECHER
Die Frage, die Rainer Erlinger wohl am häufigsten gehört hat, lautet:
Sagen Sie mal, sind die Gewissensfragen wirklich alle echt, das kann doch gar nicht sein?!
OTON Rainer Erlinger 8
(Lacht) Die kommt so häufig … ich kann’s gar nicht mehr zählen, die kommt tatsächlich auch … das ist die Partyfrage, Ach du machst die Gewissensfrage, was mich schon lange interessiert … in dem Moment sag ich, ja sie sind alle echt …! Ich warte die Frage gar nicht mehr ab, die kommt immer wieder, und dann: ja die Fragen sind ja so komisch, sag ich, ja, ich find’s schon fast eine Beleidigung zu sagen, die sind so schräg, dass du sie dir ausdenkst, nein, also ich käme auf so viele Fragen gar nicht, und ich finde das Schöne an diesen Fragen ist, dass sie oft ´ne Kante haben, wo man merkt, das ist jetzt nicht der glatte Lehrbuchfall, sondern da ist irgendwas, wo es nochmal schwierig wird und wo etwas drin ist, was sich der glatten Lösung widersetzt.
SPRECHER
Ich bin seit kurzem arbeitslos. Meine 82jährige Mutter würde sich darüber sehr grämen, daher möchte ich sie in ihren letzten Lebensjahren von dieser schlechten Nachricht verschonen und ihr meine Arbeitslosigkeit verheimlichen. Kann dies als Notlüge durchgehen oder muss ich ehrlich sein?
SPRECHERIN
Erlinger empfiehlt auf die Notlüge zu verzichten, wenn das Verhältnis zur Mutter eng und vertrauensvoll bleiben soll. Der Umgang mit Lüge und Wahrheit: ein Themengebiet, das im Lauf der Jahre immer mehr Zuschriften hatte. Einer der zentralen Punkte unserer Alltagsmoral und von den christlichen 10 Geboten dasjenige, das am häufigsten gebrochen wird:
SPRECHER
Du sollst nicht lügen!
MUSIK m03
SPRECHERIN
Kirchenvater Augustinus hielt es in seiner Abhandlung „De mendacio - Über die Lüge“ Ende des 4. Jahrhunderts dabei sehr streng. Egal wie leicht oder schwer die Lüge ausfiel, sie war verboten. Ohne ‚Wenn‘ und ‚Aber‘. Denn für Augustinus war jede Wahrheit ein Abbild der ewigen Wahrheit Gottes. Wer lügt, entfernt sich Augustinus zufolge von Gott und nähert sich dem Teufel an.
Genauso streng hielt es Immanuel Kant mit seinem Lügenverbot, das Erlinger wie auch bei Augustinus über weite Strecken bewundert. Allerdings nicht uneingeschränkt. Denn sogar beim Extrembeispiel „Darf man einen Mörder belügen, der fragt, wo sich sein Opfer versteckt hält?“ sagt Kant: nein, man darf nie lügen …!
OTON Rainer Erlinger 9
… Aus sehr logischen und klaren und wunderschönen Gründen, aber an der Stelle finde ich opfert er den Menschen dem Prinzip und das halt ich nicht für richtig.
Ich bin wirklich ein Gegner von Lüge und ein Anhänger der Wahrhaftigkeit und des Ehrlichseins. Aber ich bin kein Anhänger eines zwanghaften ‚immer die Wahrheit-Sagens‘ und auch ‚immer Alles-Sagens‘. Ich muss, wenn mir ein Geschenk nicht gefällt, das dem Schenker nicht sagen. Wenn man irgendwo eingeladen ist und hat keine Lust hinzugehen, außer bei einem sehr guten Freund, der wirklich alles versteht, dem sagt man ‚du ich hab heut keine Lust, ich bleib lieber zu Hause!‘. Aber anderen Leuten sagt man nicht, ‚ich hab keine Lust zu Ihnen zu kommen, da ist es immer langweilig und das Essen schmeckt nicht!‘, sondern man sagt, ‚ich kann leider nicht kommen‘. Punkt. Und das ist auch richtig so. Es ist nicht nötig, das Gegenüber in dieser Situation auch noch zu kränken. Deswegen gibt es Situationen, in denen das Lügen sinnvoll ist, gesellschaftlich sinnvoll, um einfach ein Miteinander zu ermöglichen.
Nur muss man sehr scharf und genau trennen, davon, ob auf dieser Lüge etwas aufbaut. In dem Moment, in dem etwas aufbaut, sei es in einer Beziehung, in einem Zusammenarbeiten, in der Politik, in der Gesellschaft, dann beginnt man damit zu manipulieren oder beginnt ein falsches Fundament zu schaffen, auf dem dann nichts Richtiges mehr funktioniert, und da muss man die klare Trennlinie setzen.
MUSIK m05
SPRECHER
Beim größten aller Dramatiker, William Shakespeare, findet Rainer Erlinger die unterschiedlichen Facetten des Phänomens Lüge. In Othello etwa. Aus Rache strickt dort der Schurke Jago ein Netz aus Lügen und Intrigen mit einem Ziel: die Lügen sollen bewusst dem belogenen Othello schaden.
SPRECHERIN
Anders dagegen die Lügen, die König Lear von seinen Töchtern aufgetischt werden. Sie erzählen und versprechen ihm, dass sie nur ihn lieben, mehr als alle anderen auf der Welt, mehr als die eigenen Ehemänner. Das ist gelogen, denn nachdem ihnen Lear sein Königreich übergeben hat, kümmern sie sich nicht mehr um ihn.
Die Töchter wollen dem Vater mit den Lügen nicht bewusst schaden, aber sie nehmen es in Kauf, um an das Königreich zu kommen. Und Lear selbst glaubt dem süßen Gift der Lüge, obwohl er mit etwas rationellerem Denken merken müsste, was hier gespielt wird.
SPRECHER
Doch nicht nur Lear, wir alle lassen uns immer wieder und oft auch bereitwillig belügen. Beispiel: Wahlversprechen in der Politik. Mögen die Versprechen - gerade bei populistischen Parteien und Kandidaten - noch so unglaubwürdig sein, sie werden gerne geglaubt. Der Wunsch ist Vater des Gedankens und Türöffner für die Wirkung der Lüge.
Und hier wird es gefährlich, argumentiert Rainer Erlinger in seinem Buch „Warum die Wahrheit sagen?“ - nicht nur bei Shakespeare, sondern auch für unsere Gesellschaft und für die Demokratie:
OTON Rainer Erlinger 10
Es geht darum, wie wahrhaftig, wie ehrlich man miteinander umgeht und vor allem wie wichtig es ist, sich auf die Wahrheit und zwar ein Alltagsverständnis von Wahrheit, nämlich das, wie es ist, zu einigen, als Grundlage für eine Gesellschaft. Weil, wenn jemand ständig alles leugnet, und sagt, es ist gar nicht so, dann kann man sich überhaupt nicht mehr auseinandersetzen, kann man nicht mehr übereinkommen, kann nicht vorwärts gehen, sondern man braucht die Wahrheit, um sich zu einigen darauf, dass man die Wahrheit benutzt als Basis sowohl für das individuelle Leben als auch für das gesellschaftliche Leben. Für die Politik und die Demokratie. Wie soll eine Demokratie funktionieren, wenn die Wahlbewerber und Parteien, die Kandidaten … irgendetwas behaupten, und stimmt alles nicht?! Ja, was ist es dann, da fällt die Demokratie, die ja aus dem Alten Griechenland kommt, diese öffentliche Diskussion, dass man in der Gesellschaft spricht, das fällt alles zusammen, wenn man die Wahrheit als Fundament wegzieht.
SPRECHERIN
Prominentes Forschungsobjekt zu dem Thema: der 45. Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump. Was Trump nicht passt, wird schlecht geredet.
SPRECHER als VOICEOVER Donald Trump (erst engl., dann dt.)
„All of this with the global warming. A lot of is it’s a hoax. I mean it’s a money-making industry, OK? A hoax.”
„Der Klimawandel? Erderwärmung. Alles Unsinn, eine Lüge, reine Abzockerei.“
We had a massive field of people. Honestly, it looked like a million, a million and a half people, whatever it was. But it went all the way to the Washington Monument.”
„Bei meiner Amtseinführung waren eineinhalb Millionen Menschen. Ein Massenauflauf, die standen bis hinter zum Washington Monument!“
OTON Rainer Erlinger 11
„Man ist fassungslos. Und nachdem dieses Thema Lüge und Wahrheit mich ja interessiert, habe ich die Nachrichten darüber dann verfolgt. Und bin so ein bisschen fassungslos ist der richtige Ausdruck, weil ich gar nicht mehr wusste: wie soll man das greifen?
SPRECHERIN
Anders als der bösartige Lügner Jago oder die Töchter von König Lear, denen die Lüge zum Ziel verhilft, ordnet Erlinger das Redegeflecht von Trump in eine dritte Kategorie ein, die zwischen Lüge und Wahrheit steht und umso gefährlicher ist: den sogenannten „Bullshitter“.
OTON Rainer Erlinger 12
Sein Ghostwriter dieses Buches „The Art of the Deal“, der hat gesagt, Trump hätte eine eigenartige und herausstechende Fähigkeit: das zu glauben, was er selbst sagt. Sozusagen indem er es sagt, und es schlüssig klingt, es selbst zu glauben. Dann wäre er eben kein Lügner, sondern dieser Bullshitter, der das sagt, was in dem Moment für ihn am günstigsten und am sinnvollsten ist und ihn am besten weiterbringt.
Und da entsteht etwas sehr Interessantes. Wenn man rein intuitiv fragt, was ist schlimmer, der Bullshitter, der einfach so dahinredet oder jemand der lügt, der aktiv voll mit Täuschungsabsicht lügt, dann würde man intuitiv sofort sagen, natürlich der mit Absicht - ist schon dieses Wort - lügt, der ist schlechter, hat eine stärkere Verwerflichkeit, eine bösere Absicht und so weiter. Aber wenn man es gesamtgesellschaftlich betrachtet, ist der Bullshitter eigentlich viel verheerender. Weil der Lügner erkennt an: es gibt eine Wahrheit, ich nutze es nur aus, sie an manchen Stellen durch die Lüge zu verkehren, das Gegenteil zu sagen, aber der Bullshitter der leugnet eigentlich, dass es überhaupt einen Unterschied zwischen richtig und falsch, zwischen wahr und unwahr gibt, und das ist im Endeffekt für die Gesellschaft und für das Zusammenleben, die Kommunikation und die Demokratie noch viel verheerender, mit dem kann man eigentlich nicht diskutieren, den kann man nicht widerlegen, mit dem kann man nicht mehr sich auf irgendwelche Fakten einigen, weil alles nur noch ein Fluss ist, man ist in irgendeiner Soße von Behauptungen und Nicht-Behauptungen, wo es keinen Grund mehr gibt, auf dem man stehen könnte.
MUSIK m02
SPRECHERIN
Lüge. Wahrheit. Moral. Wahrhaftigkeit. Tugend. Gedankenfutter für eine bessere Gesellschaft. Wie ein moralischer Kompass wirken die Schriften von Rainer Erlinger. Und ist er selbst einmal unsicher, dann wandert er hinter seinem Schreibtisch die große Bücherwand entlang, den Finger an den Buchrücken. Immer wieder greift er zu seinem großen Vorbild Aristoteles, und liest eine der für ihn essentiellen Stellen der Tugendethik: die Aufforderung an sich und seiner Seele zu arbeiten, und zwar ein Leben lang.
OTON Rainer Erlinger 13
„Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein einziger Tag, so macht auch ein einziger Tag oder eine kurze Zeit niemanden glücklich und selig.“ Das ist diese Idee, dass man die Haltung erwirbt, dass es drauf ankommt, dass man selbst an sich arbeitet und das die ganze Zeit macht, und dann wie ein guter tugendhafter Mensch handelt. Ich glaub die Gesellschaft, und jetzt nicht nur auf sich selbst bezogen, das wird besser, wenn man sich daran hält.
ENDE
Am 22. November 1963 wird US-Präsident John F. Kennedy bei einer Wahlkampfveranstaltung in Dallas, Texas erschossen. Der Mord wird zum Trauma für eine ganze Nation und zeigt die Verletzlichkeit der amerikanischen Demokratie auf. Zudem bleiben Zweifel: wer hat JFK wirklich erschossen? War es der Einzeltäter Lee Harvey Oswald, oder fand hier ein diabolischer Staatsstreich statt? Viele Ungereimtheiten werden zum Nährboden für zahlreiche Verschwörungsmythen. Autor: Florian Kummert
Credits
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Peter Veit
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Andreas Etges, LMU München und Kennedy-Experte
Linktipps:
Hintergründe zum Kennedy-Attentat
22.06.1964 ∙ Panorama ∙ Das Erste
Lane, der Verteidiger des Kennedy-Mörders Oswald, über die angeblich wahren Hintergründe des Attentats auf Kennedy.
JETZT ANSEHEN
US-PRÄSIDENTEN IN DER KRISE: Richard Nixon
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Wann geht ein US-Präsident in die Geschichtsbücher ein als "guter" - oder als "schlechter" Präsident? Bei Richard M. Nixon, der den "Watergate-Skandal" zu verantworten hat, ist die Sache gar nicht so klar. Von Florian Kummert (BR 2014)
JETZT ANHÖREN
Lost in Nahost - Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza
BR24
Wenn ihr manchmal lost seid und einen Überblick braucht über das, was da gerade im Nahen Osten passiert, empfehle ich euch den neuen Podcast “Lost in Nahost”. Da geht es um den Krieg in Israel und Gaza. Und zwar so, dass wir alle verstehen, wer welche Rolle spielt, welche Player in der Region wichtig sind - und wann und wie das alles überhaupt angefangen hat.
ZUM PODCAST
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZUSPIELUNG 1a
(Titelmelodie Tagesschau)
Präsident Kennedy ist heute Abend um 20 Uhr mitteleuropäischer Zeit an den Folgen eines Attentats gestorben. Ein bisher noch unbekannter Mann hat mehrere Gewehrschüsse auf ihn abgefeuert.
MUSIK 1 (Z8037020118 Alan Filip/Mac Prindy: Traumatic Drone 1’15)
ERZÄHLERIN
Die Tagesschau vom 22. November 1963. Während der Sendung erreicht die Redaktion die Eilmeldung: US-Präsident John F. Kennedy ist tot. Sprecher Karl-Heinz Köpke verkündet der deutschen Fernsehnation die tragische Nachricht:
ZUSPIELUNG 1b
Das Weiße Haus in Washington teilte mit, dass Präsident Kennedy einer durch eine Kugel verursachten Gehirnverletzungen erlegen ist.
ERZÄHLERIN
In den USA kommt das öffentliche Leben zum Stillstand. Der Tod des Präsidenten trifft die Öffentlichkeit wie ein Schock. Wer kann, verlässt den Arbeitsplatz und verfolgt am Fernseher oder Radio die Berichterstattung über das Attentat.
ZUSPIELUNG 2a (Radioaufnahme 1963, Quelle: JFK Museum, frei verwendbar)
President Kennedy has been assassinated. It’s official now, the president is dead.
ERZÄHLERIN
Reportagen aus Dallas, Texas, von Journalisten, die vor dem Krankenhaus stehen, in das Kennedy eingeliefert wurde. Weinende Menschen, Trauer überall, Fassungslosigkeit. Momente, die sich ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation einbrennen.
ZUSPIELUNG 2b
The picture here is grief, and much of it.
OTON Andreas Etges 1a
Die Ermordung hat tagelang die Medien bestimmt. Es gab eine 24 Stunden Berichterstattung, aber auch international ist die Wirkung enorm. Menschen auf der ganzen Welt trauern. Studierende der Freien Universität Berlin organisieren einen Trauermarsch mitten in der Nacht in Berlin, und viele Tausende Menschen kommen zum Rathaus Schöneberg, wo Kennedy Monate vorher gesprochen hatte.
ERZÄHLERIN
Sagt Dr. Andreas Etges, Historiker und Amerikanist von der LMU München und ausgewiesener Kennedy-Experte. Für ihn ist der 22. November 1963 vor allem rückwirkend ein einschneidender Tag für die US-Geschichte. Der Mord an JFK, dem die tödlichen Schüsse auf Martin Luther King und auf Robert Kennedy folgen sollten.
OTON Andreas Etges 1b
Also die unmittelbare Wirkung der Ermordung: Wie kann das passieren? Und was bedeutet das? Und im Nachhinein auch die Wirkung dessen, was dann alles danach kam, die dann auf diesen Tag zurückprojiziert wurde. Auch wenn ich das für eine problematische Idee halte: Amerika hat seine Unschuld verloren. Nur war Amerika auch vorher schon in gewissen Fällen durch die CIA oder Kriege auch mit schuldig geworden, in gewisser Weise. Aber das ist ein Moment, wo auch ein Stück weit das amerikanische Selbstbild einen Kratzer erhält.
MUSIK 2 (CD666410001 John Williams: Prologue 0‘37)
ERZÄHLERIN
Nur 1036 Tage dauert seine Präsidentschaft: John Fitzgerald Kennedy. Erst 43 ist er, als er ins Weiße Haus einzieht. Der jüngste gewählte Präsident der Vereinigten Staaten wird zu einem fast royalen Vorbild für die Massen. Ein Politiker, der den Traum eines modernen, eines besseren Amerika verkörpert, mit Charme und der Gabe, in rhetorisch ausgeklügelten Reden, das Publikum miteinzubeziehen und an das gesellschaftliche Engagement zu appellieren.
Zuspielung 3 O-Ton John F. Kennedy (JFK Museum, frei verwendbar)
"And so, my fellow Americans, ask not what your country can do for you - ask what you can do for your country."
ZITATOR
„Meine amerikanischen Landsleute, fragt nicht, was euer Land für euch tun kann. Fragt vielmehr, was ihr für euer Land tun könnt.”
OTON Andreas Etges 2
„Wobei der Satz noch weitergeht. Die meisten vergessen ihn. Fragt nicht, was Amerika für euch tun kann, sondern was wir gemeinsam, also alle Länder dazu tun können, die Welt besser zu machen. Also auch der Appell an die Welt. Ganz zentral für Kennedys Wirkung in den ersten Jahren ist die Aufbruchstimmung, die mit seinem Amtsantritt verbunden ist. Da kommt jetzt jemand, der Leute mitnimmt, der Leute auch dazu aufruft, ihr könnt alle euren kleinen Beitrag dazu tun, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das hat ein ganzes Stück weit in den USA und auch in Ländern wie Deutschland funktioniert, gerade bei der jungen Generation.“
MUSIK 3 (CD666410008 John Williams: The Conspirators 0‘55)
ERZÄHLERIN
Kritischer sind die Hardliner im Regierungsapparat, die Falken, die in Krisenzeiten eher auf Angriff und Machtdemonstrationen setzen als auf Besonnenheit. Und Krisen erlebt Kennedy in seiner Amtszeit einige. Den Bau der Berliner Mauer, die Panzerkonfrontation am Checkpoint Charlie, und - quasi vor der eigenen Haustüre - das Problem um Kuba und das Regime von Fidel Castro. Erst scheitert die Schweinebucht-Invasion von Söldnertruppen der rechts-konservativen Exil-Kubaner, heimlich unterstützt durch die CIA, von der sich der Präsident bewusst hintergangen fühlt. Als Folge feuert er CIA-Direktor Allen Dulles und dessen Stellvertreter. Dann kommt es - im Oktober 1962 - zur gefährlichsten Konfrontation des Kalten Krieges: in der Kuba-Krise. Durch eine Seeblockade zwingt Kennedy die Sowjetunion ihre heimlich auf Kuba stationierten, nuklear bestückten Raketen wieder abzuziehen. Als Gegenleistung willigt Kennedy ein, keine weitere Invasion von Kuba zu planen, sehr zum Missfallen der Hardliner.
MUSIK 4 (Z9338166213 Nina Simone: Young, Gifted And Black 0‘05)
Innenpolitisch wird die Debatte um die Bürgerrechtsbewegung immer virulenter. Im Juni 1963 kündigt der Präsident ein Gesetz an, das die Rassentrennung in den ganzen USA abschaffen soll. Im Kongress scheitert er aber an den Mehrheiten konservativer Südstaaten-Politiker aus beiden Parteien.
MUSIK 5 (CD847750004 Joan Baez: We shall Overcome 0‘25)
ERZÄHLERIN
Die Südstaaten, dort fallen für Kennedy die Umfragewerte massiv. 1964 will sich Kennedy zur Wiederwahl stellen, also macht sich JFK mit seiner Frau Jacqueline und dem Vize-Präsidenten, dem Texaner Lyndon Johnson, auf Wahlkampf-Reise durch Texas. Dort gibt es regelrechte Hasskampagnen gegen Kennedy. Poster mit dem Konterfei des Präsidenten tauchen auf, die ihn in Form eines Steckbriefs wegen Hochverrats anklagen wollen.
MUSIK 6 (Z8037020101 Alan Filip/Mac Prindy: Drama Pulse 1‘13)
ERZÄHLERIN
Am Morgen des 22. November spricht Kennedy in Fort Worth, dann fliegt die Air Force One nach Dallas. Vom Flughafen aus fährt die Wagenkolonne durch die Innenstadt von Dallas. Die Straßen sind vollgepackt mit Leuten, die dem Wagen des Präsidenten zujubeln. Eine offene Limousine, ohne Verdeck. Kennedy auf der Rückbank, neben ihm im rosa Kostüm die First Lady, Jackie Kennedy. Direkt vor Kennedy sitzt der Gouverneur von Texas, John Connelly, begleitet von dessen Ehefrau Nellie.
12 Uhr 29. Die Limousine des Präsidenten biegt rechts ab, auf die Houston Street und nähert sich dem Texas School Book Depository, einem mehrstöckigen Haus, in dem Büros und das Schulbuchlager untergebracht sind. Nellie Connelly dreht sich zu Kennedy um und sagt: „Mister President, Sie können nicht sagen, dass Dallas Sie nicht liebt.“ Kennedy antwortet: „Nein, das kann ich wirklich nicht.“
Es sind seine letzten Worte. Um 12 Uhr 30 biegt das Auto vor dem School Book Depository in die Elm Street ein, eine 120-Grad-Kurve, bei der die Limousine stark abbremsen muss. Kennedy winkt den Leuten in der Elm Street zu…
ATMO Schuss
ERZÄHLERIN
…da fällt der erste Schuss. Er verfehlt das Auto. Kennedy reagiert auf das Geräusch und hört auf zu winken.
ATMO Schuss
ERZÄHLERIN
Der zweite Schuss, wenige Sekunden später. Er trifft den Präsidenten in Hals und Kehle. Kennedy hebt die Arme. Wegen einer Rückenerkrankung trägt er ein Stützkorsett und bleibt aufrecht sitzen. Jackie Kennedy will sich zu ihrem Mann beugen, in dem Moment trifft die dritte Kugel.
ATMO Schuss
ERZÄHLERIN
Sie durchschlägt Kennedys Kopf. Chaos bricht aus. Die Limousine ist voller Blut. Gouverneur Connelly ist ebenfalls getroffen und schwer verwundet. Jackie Kennedy versucht rückwärts aus dem Auto aufs Heck zu klettern. Ein Secret Service Agent, der hinter dem Wagen läuft, hält sie auf, dann rast der Wagen davon, in Richtung Parkland Memorial Hospital.
Dort wird, um 13 Uhr Ortszeit, der 35. Präsident der Vereinigten Staaten für tot erklärt.
ATMO ZUSPIELUNG 4 Polizeisirenen / Polizeifunk vom 22.11.63 (Quelle: JFK Museum, frei verwendbar)
ERZÄHLERIN
Polizeifunk-Aufnahmen vom 22. November 1963 aus Dallas, archiviert in der John F. Kennedy Presidential Library and Museum. Kurz nach dem Attentat melden sich Augenzeugen, die gesehen haben, wir aus dem Schulbuchlager geschossen wurde, aus einem Eckfenster im fünften Stock. Bereits 80 Minuten nach den Schüssen verhaften Polizisten den Hauptverdächtigen: einen Mitarbeiter des Schulbuchlagers, den 24jährigen Lee Harvey Oswald, der seit einem Monat in den Räumlichkeiten arbeitet. Im fünften Stock des Gebäudes finden Beamte ein Jagdgewehr samt Patronenhülsen, es soll von Lee Harvey Oswald per Katalog bestellt worden sein, unter einem Pseudonym.
ATMO Gewehr wird nachgeladen, Klacken
ERZÄHLERIN
Oswald wird stundenlang verhört. Ohne Anwalt. Notizen des Verhörs gibt es nicht. Der Verdächtige weist jegliche Schuld von sich, sagt, er sei nur ein Sündenbock. Kurz nach Mitternacht gibt es eine Pressekonferenz im Versammlungsraum der Polizei. Unter die Reporter mischt sich auch ein 52jähriger Nachtklub-Besitzer aus Dallas: Jack Ruby.
Am Sonntagvormittag, den 24. November, soll Lee Harvey Oswald in ein anderes Gefängnis überstellt werden. Im Keller des Polizeipräsidiums steht ein Wagen bereit. Der Raum ist voller Reporter und Polizisten. Als Oswald in Handschellen zum Auto geführt wird, bildet sich eine Gasse, um ihn durchzulassen. Plötzlich stürmt Jack Ruby nach vorne und schießt Oswald mit einem Revolver in den Bauch. Der stöhnt auf und fällt tödlich verletzt zu Boden. Ruby wird festgenommen und später des Mordes für schuldig gesprochen. Er wollte ein Held sein, sagt er. 1967 stirbt Jack Ruby im Gefängnis an Krebs.
ATMO Beerdigung JFK, Trommler (Quelle: JFK Museum, frei verwendbar)
ERZÄHLERIN
Lee Harvey Oswald wird erschossen, während der Trauermarsch für den ermordeten Präsidenten durch die Straßen der Hauptstadt Washington D.C. zieht. Auch hier brennen sich ikonographische Momente ins Gedächtnis vieler Menschen ein: Jackie Kennedy, die 34jährige Witwe in ihrem schwarzen Kostüm samt Schleier. Daneben die beiden kleinen Kinder: Caroline, die das gerahmte Foto ihres Vaters in der Hand hält, und John Junior, der an diesem Trauertag drei Jahre alt geworden ist. Als der Sarg an ihm vorbeizieht, legt er die Hand zum letzten Salut an die Stirn. Momente, so Kennedy-Experte Andreas Etges, die stark von Jackie Kennedy gesteuert wurden.
OTON Andreas Etges 3
„Wo der Junge salutiert. Wenn man sich ein paar Sekunden vorher die Filmszene anguckt, dann beugt sie sich zu ihm runter, flüstert ihm was ins Ohr und dann geht er zwei Schritte vor und salutiert, als der Sarg vorbeikommt. Also Jackie Kennedy ist sich ganz stark der Bilder bewusst. Und auch die Idee oder der Begriff Camelot, also der mythische Hof von König Artus, mit dem die Kennedy-Präsidentschaft oft verglichen wird. Den hat keiner während der Amtszeit von Kennedy benutzt. Jackie Kennedy verwendet diese Idee zum ersten Mal in einem berühmten Interview mit einem Life-Journalisten, ein paar Tage nach der Ermordung, und dann vergleicht sie die Amtszeit mit Camelot. Und so einen Moment, sagt sie, wird Amerika nie mehr erleben. Also sie ist von der ersten Sekunde dabei, am Mythos ihres Mannes zu arbeiten und den auch später ganz massiv gegen Kritik zu verteidigen.“
ATMO Gewehr wird nachgeladen, Klacken
ERZÄHLERIN
Und Lee Harvey Oswald? Ist er nun derjenige, der den Präsidenten erschossen hat? Die Ermittlungen richten sich auf Oswald als Einzeltäter. Eine eigenwillige Gestalt, ein Heimkind, dem Psychiater bereits in der Jugend eine gestörte Persönlichkeitsstruktur attestieren. Mit 17 bricht er die Schule ab und geht zu den US-Marines, wo er zum Radartechniker und Scharfschützen ausgebildet wird. Als angeblich bekennender Marxist lebt er einige Jahre in der Sowjetunion, ehe er 1962 nach Texas zieht. Er abonniert kommunistische Zeitungen und engagiert sich für Fidel Castros Politik, bemüht sich sogar um ein Visum für Kuba. War er also bekennender Castro-Anhänger, oder war alles nur Fassade?
MUSIK 7 (CD666410006 John Williams: Garrison’s Obsession 0‘55)
ERZÄHLERIN
Kennedys Nachfolger Lyndon Johnson setzt eine Kommission ein, die das Attentat und die Umstände untersuchen soll: die siebenköpfige Warren Kommission, benannt nach dem Obersten Verfassungsrichter Earl Warren, der sie leitet. Weitere Mitglieder: der Abgeordnete und spätere US-Präsident Gerald Ford, sowie - eine umstrittene Personalie - Allen Dulles, der frühere CIA-Direktor, der von Kennedy gefeuert wurde. Nach zehnmonatiger Arbeit kommt die Warren Kommission zu ihrem Endergebnis: Lee Harvey Oswald hat als Einzeltäter agiert und war nicht Teil einer größeren Verschwörung, er hat die drei Schüsse abgefeuert und den Präsidenten getötet.
OTON Andreas Etges 4
„Relativ schnell gibt es große Kritik an diesem Warren-Report. Zurecht, denn vieles ist bei den Ermittlungen falsch gegangen. Wir wissen auch heute, dass das FBI, die Bundespolizei, und auch die CIA, der Geheimdienst, gar kein Interesse daran haben, dass genau ermittelt wird. Nicht, weil sie in die Ermordung irgendwo involviert sind oder da Verschwörer sind, sondern weil sie eine ganze Menge illegale Aktivitäten zu verstecken haben und auch Fehler im Schutz des Präsidenten, die sie verbergen wollen. Wir wissen heute, dass Lyndon Johnson der Untersuchungskommission den geheimen Auftrag gibt: Macht Oswald zum Einzeltäter. Warum? Nicht, weil er selber involviert war, sondern Lyndon Johnson hat Angst. Was wäre denn, wenn tatsächlich die Kubaner oder sogar die Sowjetunion involviert sind? Dann gibt es Krieg, und dann werden Millionen Menschen sterben.“
MUSIK 8 (Z8037020111 Alan Filip/Mac Prindy: Micropulse 1‘15)
ERZÄHLERIN
Wer war also involviert und wer nicht? Wer hat bei den Mordermittlungen welche Agenda?
Bei kaum einem anderen Thema wie den Schüssen auf JFK vermischen sich Fakten, Vermutungen und Fake News derart effektiv. Ein perfekter Nährboden für Alternativdeutungen und Verschwörungstheorien aller Art. Kann Oswald wirklich der Einzeltäter sein? War er mit der Mafia im Bunde, mit Castro-Anhängern, den Exil-Kubanern, oder gar der CIA? Konnte er mit dem Gewehr tatsächlich in Sekundenschnelle die drei Schüsse abgeben, mit einem nicht präzise eingestellten Zielfernrohr? Noch dazu geht der erste Schuss daneben, aber die zweite Kugel wird als „magische Kugel“ berühmt-berüchtigt. Sie trifft erst Kennedy, dann Connally, verursacht bei beiden Körpern insgesamt sieben Eintritts- und Austrittswunden und wird später - ohne größere Deformationen - bei Connallys Trage im Krankenhaus gefunden. Kann das sein? Und kamen nicht Schüsse aus unterschiedlichen Richtungen, wie manche Zeugen berichten?
Fragen über Fragen, die Gedankenspiele auslösen, und Skepsis. So etwa beim US-Regisseur Oliver Stone.
OTON Oliver Stone (Quelle: kinokino-Archiv BR, frei verwendbar)
„Even as a young man…involved in the murder.“
Schon als junger Mann, ohne vorgefasste Meinung über den Mord begann ich mir ein paar Fragen zu stellen, die von den Vertretern der Regierung ignoriert wurden. Denn damals fragte niemand, warum Kennedy getötet wurde. Die hauptsächliche Frage bei einem Mord lautet immer: wo ist der Mörder? Ich fragte aber: warum wurde Kennedy getötet? Wer profitierte davon? Und wer hatte die Macht den Mord zu decken? Doch niemand in den US-Medien stellte damals diese Fragen.
Für mich ist die plausibelste Erklärung des Mordes die von Jim Garrison, der die Aufmerksamkeit auf die Geheimdienste und deren Verstrickungen lenkte.“
ERZÄHLERIN
1991 erreicht die Kontroverse um den Kennedy-Mord einen Höhepunkt, als Oliver Stone mit JFK seine Sicht der Dinge als über dreistündiges Verschwörungsepos veröffentlicht, mit Kevin Costner prominent besetzt. Er verkörpert Jim Garrison, den Bezirks-Staatsanwalt von New Orleans, der Ende der 1960er Jahre das Kennedy-Attentat vor Gericht bringt. Garrison setzt einen gewissen Clay Shaw auf die Anklagebank, der mit möglichen Verbindungen zu Exilkubanern, Lee Harvey Oswald und zur CIA ins Visier der Ermittler geraten ist. Am Ende aber bleibt die Anklage wegen Verdachts der Verschwörung zum Mord am Präsidenten ohne konkrete Beweise. Shaw wird freigesprochen.
Dennoch wird der Vorwurf in Jim Garrisons Büchern und später in Oliver Stones Film deutlich: Kennedy sei durch einen Staatsstreich getötet worden, finstere Hintermänner in der CIA und aus dem militärisch-industriellen Komplex wollten verhindern, dass Kennedy den Kalten Krieg, den Vietnam-Krieg und damit die Aufrüstung stoppt.
Wie Jim Garrison vor ihm wird auch Oliver Stone massiv kritisiert, Fakt und Fiktion zu vermischen. Eine Kritik, die Andreas Etges teilt:
OTON Andreas Etges 5
„Oliver Stone zeigt nicht die Tatsachen, wie sie an dem Tag waren. Und ihm sind Dutzende faktische inhaltliche Fehler nachgewiesen worden. Aber der Film ist spannend, unterhaltsam. Er hat die Debatte befeuert und hat einen ganz großen Effekt gehabt, denn am Ende des Films wird gesagt, quasi keiner von uns wird noch erleben, dass diese Akten freigegeben werden, wo möglicherweise die Wahrheit drinsteht. Und durch den Film und die Kampagne, die die Filmfirma macht, gibt es ein Sondergesetz nur für Kennedy-Akten, die in irgendeiner Form mit der Kennedy-Ermordung zu tun haben. Millionen Seiten sind praktisch alle freigegeben worden, vielleicht noch ein, zwei Prozent nicht. Aber es hat was bewirkt: dass nämlich viel mehr Transparenz in dem ganzen Umfeld der Ermittlungen stattgefunden hat, so dass wir heute deutlich mehr über diesen Tag und auch die Fehler bei den Ermittlungen wissen, als wir es damals wussten.
Also der Film hat dadurch aus auch für Historiker und Historikerinnen eine sehr gute Wirkung gehabt. So problematisch er andererseits ist.“
MUSIK 7 (CD666410016 John Williams: Arlington 0‘37)
ERZÄHLERIN
Bis heute werden die Akten ausgewertet und halten das Interesse am JFK-Mord am Leben, in Form von immer neuen Büchern und Filmen, die spektakuläre Beweise versprechen und am Ende wenig mehr als Vermutungen bieten. Doch Kennedy bleibt weiterhin ein Publikumsmagnet: Der ewig Junggebliebene. Das Idol der Hoffnung, das nie altert und zur Frage einlädt: was wäre, wenn? Hätte er uns in eine bessere Welt geführt? Hätte er sich in seiner zweiten Amtszeit genauso in Vietnam verstrickt wie die Regierung von Lyndon Johnson? Oder hätte er sich aus Vietnam zurückgezogen und um ein rasches Ende des Kalten Krieges bemüht? Was ist aber mit dem Verlauf der Bürgerrechtsbewegung? Erst durch Kennedys Ermordung kam es zu einem überparteilichen Schulterschluss und in kürzester Zeit wurden liberale Reformprojekte und Gesetze angestoßen, die vorher undenkbar waren. Wären sie vom Senat und Kongress verabschiedet worden, hätte Kennedy gelebt? Viele Fragen, wenig Antworten. So bleibt John F. Kennedy weiterhin ein Mythos - im Leben wie im Tod.
MUSIK 10 (CD666410017 John Williams: Finale 0‘45)
OTON Andreas Etges 6
„Von daher lebt der Mythos tatsächlich auch davon, dass das unerfüllt geblieben ist. Eine ganz berühmte amerikanische Biografie zu Kennedy heißt im Untertitel „An Unfinished Life“, ein unvollendetes Leben. Aber wir können uns alle noch Vorstellungen machen, wie vollendet oder wie dieses Leben wohl weitergeführt worden wäre und was es sowohl für die USA als auch die Welt bedeutet hätte. Die Geschichte wäre sicherlich anders verlaufen, auch der Vietnamkrieg wäre anders verlaufen, da bin ich sicher. In welcher Form? Da kann man natürlich nur spekulieren.“
STOPP
Um 1200 vor Christus brachen die reichen Kulturen der Bronzezeit im ganzen östlichen Mittelmeerraum zusammen. Das dramatische Ende der Epoche gilt als ein "Jahrhundert-Rätsel" der Archäologie. (BR 2018) Autor: Matthias Hennies
Credits
Autor dieser Folge: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Peter Weiß, Irina Wanka
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Joseph Maran (Professor; Universität Heidelberg);
Reinhard Jung (Dr.; Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien);
Sigrid Deger-Jalkotzy (Professor; Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien)
Linktipps:
Einen spannenden Überblick über die „Bronzezeit – die vergessene Epoche“ gibt die Planet Wissen Podcast-Folge „Bronzezeit - Die vergessene Epoche“:
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Musik
Wirr, bedrohlich, Frauenschreie.
Sprecherin
Die Welt war in Unruhe, Bedrohliches kündigte sich an, die Gerüchte flogen von Land zu Land über das Meer.
Zitator
Die zwanzig feindlichen Schiffe sind nicht hier geblieben, sondern, noch ehe sie die Hügel der Küste erreicht hatten, weiter gesegelt. Wo sie jetzt ihr Lager aufgeschlagen haben, wissen wir nicht. Ich schreibe Dir, um Dich auf dem Laufenden zu halten und zu schützen. Sei vorsichtig!
Sprecherin
Der Herrscher von Zypern schickte dem König von Ugarit in Palästina eine Warnung. Piraten segelten durch das östliche Mittelmeer, brandschatzten und mordeten - und niemand wusste, wohin sie als nächstes steuern würden.
Sprecher/Ansage:
Das rätselhafte Ende der Bronzezeit - Klärung in Sicht? Eine Sendung von Matthias Hennies
Sprecherin
Auf Zypern und Kreta, in Griechenland, Ägypten und Palästina lockte reiche Beute. Dort erlebten die etablierten Kulturen eine glanzvolle Blüte. Die Eliten mehrten ihren Wohlstand, der Handel florierte. Die Könige auf der griechischen Peloponnes, in den Palästen von Tiryns, Pylos und Mykene, bezogen Kupfer aus Zypern und exportierten Keramik, Wein und Parfum. Ihre Verwalter protokollierten den Austausch mit einer präzisen Buchführung.
Sie waren die ersten in Europa, die eine Form von Schrift nutzten. Silbenzeichen. Das Kupfer legierten Handwerker mit einem Anteil Zinn und stellten Bronze her, den Werkstoff für Waffen, Schmuck und Werkzeug.
Um 1200 vor Christus erreichte die Kultur der Bronzezeit im östlichen Mittelmeerraum ihren Höhepunkt. Doch so mächtig, so gut vernetzt die Staaten auch waren, im Lauf mehrerer Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte, brachen die Hochkulturen zusammen. Paläste gingen in Flammen auf, Länder wurden entvölkert, Reiche zerfielen. Auch die Burg im griechischen Tiryns, gerade erst mit gewaltigen, neuen Mauern verstärkt, hielt nicht stand.
I. Atmo 005, 0‘10
Schritte im Kies
1. O-Ton Maran 005 1‘39
Das meiste, was hier noch steht, ist Teil der Baumaßnahme, die zwischen 1250 und 1200 vor Christus ausgeführt wurde. In dieser Zeit wurde die Unterburg neu ummauert, der Palast wurde neu errichtet, das alles zeigt uns, dass hier einer oder mehrere Herrscher von großer Machtfülle regiert haben, deren Namen wir aber leider nicht kennen.
Sprecherin
Die Mauern des Aufgangs, aufgetürmt aus riesigen Steinbrocken, haben überdauert. Doch oben auf dem Burgberg kann der Archäologe Joseph Maran noch heute Spuren der Zerstörung zeigen, die vor mehr als 3000 Jahren stattfand.
II. Atmo Burghof 005, 28’00 (nur unterlegen)
2. O-Ton Maran 005, 21‘10
Wenn wir hier rübergehen, Schuttablagerungen, die aus nichts anderem bestehen als verschmolzener Lehmziegelmasse, Holzbalken und Kalkmörtel und Steinen.
Die Steine, die Sie hier sehen, zeigen auch Sprünge, die auf eine sehr hohe Hitzeeinwirkung schließen lassen.
Sprecherin
Das Plateau des Berges, auf dem einst ein großer Palast stand, mit zahllosen Räumen und Höfen, mit gekalkten und bemalten Wänden, ist heute kahl und leer. Der Lärm von der Landstraße schallt herauf, die unten in der Ebene zum Meer führt, ins Touristenzentrum Nafplion. Hinter den verkarsteten Bergen am Horizont liegen die Trümmer der Burg von Mykene, die ebenfalls im Feuersturm unterging.
Im 19. Jahrhundert hat Heinrich Schliemann hier die Reste der Mauern freigelegt, der berühmte Laien-Archäologe, der in Kleinasien auch die sagenhafte Stadt Troja fand. Der Heidelberger Professor Maran, der seit mehr als zwanzig Jahren in Tiryns forscht, zeigt, wo man durch den Burghof und mehrere Vorräume ins „Megaron“ gelangte, den Thronsaal mit der großen Herdstelle, den außer dem Herrscher und seiner Gemählin nur wenige Auserwählte betreten durften.
3. O-Ton Maran 005, 10‘24
Man sieht auf den Stümpfen des Palastes noch in Teilen die Schuttlagen des brandzerstörten Oberbaus der Mauern, die Mauern selbst sind sehr flach, das sind imgrunde aber nur die Steinfundamente des Aufgehenden, das aus Lehmziegelfachwerk bestanden hat.
Sprecherin
Im Weltenbrand um 1200 vor Christus fielen die Reiche wie die Dominosteine: Nicht nur das mykenische Griechenland, auch das Imperium auf der Kupferinsel Zypern, die Kleinstaaten in Palästina, selbst die Herrschaft der mächtigen Hethiter in Anatolien – und eine kleine Handelsstadt nahe den türkischen Dardanellen namens Troja. Allein Ägypten widerstand. Pharao Ramses III. ließ einen Text in eine Wand seines Totentempels einmeißeln, in dem er sich rühmte, dass er sein Land vor den Aggressoren bewahrte:
Zitator
Ich schütze es, indem ich die Neunbogen abwehre. Die Fremdländer vollzogen alle zusammen die Trennung von ihren Inseln. Es zogen fort und sind verstreut im Kampfgewühl die Länder auf einen Schlag!
Sprecherin
Wer aber waren die „Fremdländer“? Neben den Inschriften und Reliefbildern am Nil berichten auch Tontafeln aus Anatolien und Palästina von Angreifern, die übers Meer kamen. Doch moderne Forscher konnten die Aggressoren nicht dingfest machen. Sie fanden keinerlei materielle Spuren von ihnen, nicht einmal ihre Wohnorte. Die Suche nach den „Seevölkern“ – wie man sie bald nannte – wurde zu einem archäologischen Jahrhundert-Rätsel. Schließlich begann man zu streiten, ob sie überhaupt existiert oder ob andere Ursachen zu der fatalen Krise geführt hatten.
Joseph Maran glaubte eine Weile, die Zerstörungen seien auf Erdbeben zurückzuführen, doch seismologische Untersuchungen in Tiryns und Umgebung bestätigten die These nicht. Andere Wissenschaftler verweisen auf klimatische Ursachen: Dürren und Temperatureinbrüche hätten die Landwirtschaft im Nahen Osten schwer geschädigt. Die Zerstörungsspuren und die Berichte von Piratenüberfällen lassen sich damit aber nicht erklären – und jetzt sind die oft schon belächelten Seevölker wieder in der Diskussion. Dr. Reinhard Jung, Archäologe bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, hat neue Spuren gefunden: Sie weisen zu den wenig erforschten, armen Kulturen Süditaliens.
4. O-Ton Jung 80-235, 8’12
Wir haben es im ganzen italienischen Raum mit Gesellschaften zu tun, die keine staatliche Organisation hatten und – das ist hier entscheidend – auch keine schriftliche Verwaltung kannten, überhaupt keine Schrift kannten, das heißt, wir haben es dort mit Gesellschaften zu tun, von denen wir keine Aufzeichnungen besitzen.
Sprecherin
Man weiß also nicht, wie sich diese Gesellschaften nannten. Doch Jung und seine Kollegen haben bei den Städten Lecce und Tarent, auf Sizilien und auf den Liparischen Inseln Siedlungen ausgegraben, die Kontakte ins mykenische Griechenland unterhielten. Diese Gemeinschaften waren nicht so hoch entwickelt wie die Reiche im östlichen Mittelmeer: Die Menschen bearbeiteten weder Gold noch Silber, ihre Tongefäße formten sie mit der Hand, weil sie die Töpferscheibe nicht kannten, Verzierungen mit Malerei und Skulpturen finden sich selten. Sie bildeten auch keine Königreiche mit differenzierter Sozialstruktur.
5. O-Ton Jung 80-235, 9‘50
Wir rechnen mit Häuptlingstümern, wir rechnen mit einer instabilen Herrschaft, die nicht institutionalisiert ist, wir haben keine Hinweise auf Dynastienbildung, aber auf sehr intensive überregionale Kontakte. Wir können also beispielsweise mit Kupferanalysen nachweisen, dass man in Süditalien offensichtlich angewiesen war auf Kupfer, das man aus dem südlichen Alpenraum importiert hat, das heißt also, ein wesentliches Rohmaterial musste regelmäßig aus einem relativ weit entfernten Gebiet zur See herangeschafft werden.
Sprecherin
Durch den Seehandel kamen die Italiener auch nach Griechenland. Ihre unverwechselbaren, handgefertigten Tongefäße finden sich häufig in mykenischen Siedlungen, nicht zuletzt in Tiryns. Umgekehrt stießen Ausgräber in italienischen Dörfern auf die kunstvollere, scheibengedrehte Keramik der Mykener – die hier ein seltenes, exotisches Importgut war: Ein Beispiel für das große Entwicklungsgefälle zwischen den Kulturen im östlichen und westlichen Mittelmeerraum. Eine Ausnahme bildete das Bronzehandwerk: Die Italiener schmiedeten die besseren Bronzewaffen.
6. O-Ton Jung 80-235, 29‘54
Bei den Schwertern kann man sagen, dass damit auch eine neue Kampfweise einherging, denn zur selben Zeit war das mykenischen Militär mit Kurzschwertern ausgestattet, die zum Stich geeignet waren, wohingegen diese italienischen Schwerter also Hieb- und Stichwaffen gewesen sind, die im Nahkampf den mykenischen Schwertern überlegen gewesen sind -
Sprecher
So dass die Piraten auch deshalb zu gefürchteten Gegnern wurden. Dass tatsächlich Krieger aus Süditalien die Länder des Ostens überfielen, belegt Reinhard Jung vor allem mit Reliefs vom Totentempel Ramses‘ III., auf denen der Kampf der Ägypter gegen die „Seevölker“ in Text und Bild festgehalten ist.
7. O-Ton Jung 80-235, 51‘25
Die Schiffe der so genannten Seevölker sind immer im gleichen Typ dargestellt und dieser Typ zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl auf dem senkrechten Bugaufbau als auch auf dem Heckaufbau ein Wasservogelkopf aufgesetzt ist.
Sprecherin
Den Schiffstyp mit den beiden Vogelköpfen hat der Archäologe auf stilisierten Darstellungen aus Italien wiedergefunden – Schiffe aus dem östlichen Mittelmeer dagegen hatten nur eine Verzierung auf dem Bug. Auf den ägyptischen Reliefs tragen die Aggressoren auch auffällige Helme, aus denen eine Art Federbusch heraussteht. Daran lässt sich ebenfalls die Spur nach Italien zurückverfolgen, denn bei Ausgrabungen kamen dort vergleichbare Helme ans Licht, die am oberen Rand offenbar mit Büscheln von Pflanzenfasern geschmückt waren.
Musik wie oben
Sprecherin
Vermutlich löste das Wohlstandsgefälle die Überfälle aus. Aus langjährigen Handelskontakten wussten die italienischen Häuptlinge, wie viel Gold und Silber in den mykenischen Palästen lag. Da sie ihren Gefolgschaften Beute bieten mussten, um ihre Herrschaft zu sichern, führten sie ihre Krieger eines Tages auf Raubzug in die Ägäis. Einzelne Gruppen der „Seevölker“ nahmen wohl auch ihre Familien mit, um sich in den wohlhabenden Ländern im Osten niederzulassen.
Der selbe Ablauf ist aus vielen historischen Beispielen bekannt, er wiederholte sich bei Germanen und Wikingern, bei den Reitervölkern der eurasischen Steppen und den Beduinen aus der arabischen Wüste.
Doch allein die Beutezüge der Seevölker brachten die bronzezeitliche Welt um 1200 vor Christus nicht zum Einsturz. Vermutlich kamen ökonomische Probleme hinzu: Forscher stellten fest, dass der griechische Handel einbrach und dass sich in Tiryns die Qualität des Getreides drastisch verschlechterte. In der Folge könnten in den mykenischen Königreichen auch interne Unruhen ausgebrochen sein.
8. O-Ton Jung 80-235, 1:40‘16
Die Paläste selber sind durch Feuer zerstört worden. Und zwar anscheinend auch selektiv: In Tiryns kann man das sehen, da ist die Oberburg im Feuer untergegangen, die Unterburg ist nicht verbrannt. Und das deutet daraufhin, dass es möglicherweise ein sozialer Konflikt gewesen ist, der dahinter gestanden hat. Sonst würde man erwarten, dass die gesamte Burg abgebrannt ist – oder einfach nur geplündert wäre.
Sprecherin
Und was kam danach? Die Königreiche zerfielen, die Bevölkerung schrumpfte, der Fernhandel brach ab. Die Schrift wurde nicht mehr gebraucht und geriet in Vergessenheit. Doch in der kollektiven Erinnerung lebte das weltumspannende Desaster fort. Nach rund vierhundert Jahren formte der griechische Dichter Homer aus mündlich überlieferten Erzählungen und Gesängen die „Ilias“ und die „Odyssee“, die Epen über den Untergang Trojas und die Götter und Helden der Bronzezeit. Auf diese Zeit datieren Historiker den Beginn der Klassischen Antike. Die Zwischenphase aber blieb lange unerforscht – sie galt als eine Epoche des Verfalls und der Dunkelheit.
I. Atmo 005, 0‘10
Schritte im Kies
Sprecherin
Doch dieses Bild muss jetzt korrigiert werden: Die Geschichte verlief nicht in Brüchen, sondern kontinuierlich. Dass das reiche kulturelle Niveau der Bronzezeit nicht vollständig verloren ging, wird deutlich, wenn man noch einmal mit Joseph Maran auf die Burg von Tiryns hinaufsteigt.
Im zentralen Raum des Palastes glückte Maran und seinem Team vor einigen Jahren eine spektakuläre Entdeckung: Sie konnten nachweisen, dass der Thronsaal, das „Mégaron“, nach dem Brand neu aufgebaut worden war.
II. Atmo Burghof 005, 28‘00
9. O-Ton Maran 005, 12‘12
Gehen wir doch mal rein, was erhalten ist. Und zwar gelang uns der Nachweis dadurch, dass wir Pfostengruben für Holzpfosten gefunden haben, die durch C-14-Messungen ein klar spätest-mykenisches Alter ergeben haben.
Sprecherin
Die Löcher für neue Stützpfosten wurden durch den alten Estrich hindurchgetrieben. Dann baute man das „Megaron“ mit neuen Seitenwänden wieder auf – nur etwas schmaler als den früheren Thronsaal, weil die Gemeinschaft kleiner geworden war.
10. O-Ton Maran 005, 13‘43
Das gehört genau in diesen Kreis des Sonderstatus von Tiryns nach 1200 vor Christus, dass man hier eine Versammlungshalle hineingebaut hat, dieses schmale Megaron wurde um den Thronplatz herumgebaut, man wollte den Thronplatz auf jeden Fall hineinnehmen in diese neue Bauplanung, dieses Podest blieb an Ort und Stelle stehen.
Sprecherin
Rundherum ließen die neuen Herren die Ruine des Palastes stehen, daher liegt der Brandschutt noch heute auf den alten Mauerstümpfen. Doch den wichtigsten Raum, das politische Herz der Anlage, nutzten sie wieder. Sie stellten sich damit als Erben der mykenischen Herrscher dar, so legitimierten ihren Führungsanspruch.
III. Atmo Grabung 001, 0’00 (durchgehend unterlegen)
Sprecherin
Sie knüpften auch an ein prestigeträchtiges Bauprojekt ihrer Vorgänger an: eine große neue Siedlung unterhalb des Burgbergs.
11. O-Ton Maran 001, 2’25
Kurz nach 1200 fing in diesem Bereich eine Bauplanung an, die ziemlich einzigartig ist. In einer Zeit, die von vielen als der Beginn der Dunklen Jahrhunderte angesehen wird, hat man hier begonnen, eine völlig neue Stadt zu planen und im großen Stil in die Tat umzusetzen.
Sprecherin
Dieser Siedlung legt Maran jetzt mit einem internationalen Team frei. Die Fläche liegt zwischen der viel befahrenen Fernstraße nach Nafplion und einer Farm für Biogeflügel. Unter bunten Sonnenschirmen hocken Studierende aus Heidelberg auf dem Boden, griechische Grabungsarbeiter rollen Schubkarren herbei. Die gesamte Fläche ist in kleine Quadrate unterteilt, in denen die Archäologen vorsichtig Schicht für Schicht tiefer graben. Der Chef wechselt zwischen den Quadraten hin und her. Sobald sich ein Fund abzeichnet, ist er zur Stelle.
12. O-Ton Maran 001 58’53
Griechisch- das ist ein Eberzahn von einem Eberzahnhelm – griechisch – das ist eine Lamelle von einem Eberzahnhelm. Sollen wir die einmessen? Ja! Die ist bearbeitet, die ist hochgradig bearbeitet. Oxi, oxi, das ist kein Elfenbein, das ist Eberzahn.
Sprecherin
In allen Grabungsquadraten haben die Ausgräber regelmäßige Mauerfundamente aus der Gründungsphase der Siedlung gefunden. Sie erkennen daran, dass die Stadt aus vielen, einheitlichen Gebäudemodulen bestand: Mehrere rechteckige Bauten waren jeweils um einen Hof mit einer großen Herdstelle gruppiert. Weil man noch Essensreste identifizieren konnten, kennen die Archäologen sogar den Speiseplan der Bewohner:
13. O-Ton Maran 001, 9‘01
Was man gegessen hat in der Zeit, waren hauptsächlich Getreidebreie und Hülsenfrüchte mit und ohne Fleisch. Dann gab es noch besondere Anlässe, bei denen man noch andere Zubereitungsarten angewandt hat, also neben dem Köcheln in Breien und herzhaften Suppen hat man auch Fleisch am Spieß gebraten – der Ursprung des Souvlaki liegt tief in der griechischen Urgeschichte – und das kennt man ja auch aus Homers Erzählungen, wie wichtig der Spießbraten für die Helden war, das war schon eine gehobenere Art der Zubereitung, die es aber auch gab.
Sprecherin
Die Siedlung war offenbar aus Nachbarschaftsgruppen aufgebaut, die sich voneinander abgrenzten. Innerhalb der Gebäudemodule fanden die Archäologen mehrfach Versammlungshallen, in denen man sich vermutlich traf, während auf dem Herd im Hof gekocht wurde. Nachdem die komplexen alten Machthierarchien zerbrochen waren, fielen so wohl die politischen Entscheidungen: in kleinen Männergruppen, die mit ihrem Häuptling berieten, während sie zusammen aßen.
14. O-Ton Maran 001, 17’40
Ich glaube, dass es Gremien gegeben hat, die sich regelmäßig getroffen haben auf Siedlungsebene und dazwischen gab es kleinere soziale Gruppen, die gemeinsam gespeist haben. Das gemeinsame Speisen ist eine unglaublich wichtige Quelle der Verfestigung sozialer Ordnungen, aber auch der Neudefinition sozialer Ordnungen, je nachdem, wer eingeladen wird oder nicht eingeladen wird, also das Kochen im Umfeld solcher Versammlungshallen ist nicht nur das Decken des alltäglichen Bedarfs gewesen, sondern weit mehr.
Sprecherin
Und wer wohnte vor rund 3200 Jahren in der neuen Siedlung? Eine sehr heterogene Gemeinschaft, vermutet Maran. Tiryns liegt nur anderthalb Kilometer vom Meer entfernt. In den Gebäudegruppen könnten also Menschen gelebt haben, die aus unterschiedlichen Ländern übers Meer gekommen waren und sich deshalb von einander abgrenzten. Da viele ihr gewohntes Kochgeschirr mitbrachten, kann man ihre Herkunft manchmal an der Form ihrer Tongefäße ablesen.
15. O-Ton Maran 001 23’03
Wir sehen vor allem in bestimmten Formen der Haushaltskeramik, der Kochtöpfe und der Vorratsgefäße, Formengebungen, die eindeutig italienischen Ursprungs sind. Wir wissen nicht, wie lange diese Menschen hier gelebt haben und wie viele davon ursprünglich tatsächlich aus Italien kamen, aber diese kulturellen Traditionen waren fest verwurzelt hier im 12. Jahrhundert.
Sprecherin
Die Gemeinschaft in Tiryns zerfiel nach zwei Generationen wieder. Aber in anderen Gegenden Griechenlands bildeten sich dauerhaftere neue Strukturen und eine andere Lebensweise entstand. Menschen bauten ihre Dörfer jetzt an besser geschützten Stellen – statt am Meeresufer auf Anhöhen oder auf Inseln – und die Zahl der Bewohner blieb relativ gering. Das Leben spielte sich in kleinteiligen Siedlungs- oder Verwandtschaftsverbänden ab, meist mit einem herausragenden Krieger an der Spitze. Aus dieser Position entwickelte sich im Lauf der Zeit ein Kleinkönig, ein „Basileús“, erzählt Sigrid Deger-Jalkotzy, Archäologie-Professorin bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften:
16. O-Ton Deger 95-250, 16‘20
Der Basileus, der wird ja in der Eisenzeit dann zum Führer eines solchen Verbandes und bei Homer dann der König. Und die wirtschaftliche Grundlage ist jetzt auch ein Haus-Verband. Die sind jetzt architektonisch gebildet aus Gehöften mit Wohneinheiten, mit Wirtschaftsgebäuden und auch mit Werkstätten.
Sprecherin
Der Handel lebte wieder auf, wurde aber anders organisiert als in der mykenischen Kultur. Da es keine komplexen staatlichen Strukturen und keine schriftkundigen Verwalter mehr gab, endete der großangelegte Austausch mit dem Reich der Pharaonen und dem östlichen Mittelmeerraum. Stattdessen traten die Griechen in engeren Kontakt mit Kulturen auf ähnlichem Niveau: den Gemeinschaften in Süditalien und auf dem Balkan.
17. O-Ton Deger 26‘12
Ich nehme an, dass sich das eher zwischen Einzelpersonen, die miteinander engere Verbindungen hatten, gastfreundschaftliche Verbindungen, eheliche Verbindungen vielleicht, dass sich das in diesem Mikro-Bereich abgespielt hat. Diese großen staatlichen Verbindungen gab es dann nicht mehr oder auch keine Kaufleute mehr im Auftrag einer staatlichen Organisation.
Sprecherin
Nach und nach lernte man den neuen Werkstoff, nach dem die nächste Epoche „Eisenzeit“ genannt wird, besser zu verarbeiten. Schließlich begannen manche Gemeinschaften wieder mit Großbauten wie Thronsälen und Heiligtümern. Einige Gewohnheiten und Ideen der vergangenen Zeit aber lebten weiter: Archäologen stellen fest, dass sich metallene Bratspieße nach wie vor großer Wertschätzung erfreuten, ebenso Dreifüße, auf denen man Kessel aufstellte. Diese Gegenstände spielen dann auch in Homers Epen eine wichtige Rolle. Die beeindruckendste Verbindung zwischen den Epochen findet sich jedoch in den Bildern auf Tongefäßen:
18. O-Ton Deger 29‘45
Man hat Funde von Krateren, also großen offenen Gefäßen, die zum Mischen von Wasser und Wein gedacht waren, mit figuralen Szenen, die spiegeln dann das Leben dieser Aristokraten, also Jagd, Kampf selbstverständlich – und das Interessante ist, dass das Szenen sind, also Erzählungen. Fast schon wie das Epos: Auszug in den Kampf, wo dann hinter den Kriegern bei den Henkeln die Frau steht mit dem Klagegestus. Was wahrscheinlich darauf hindeutet, dass die Krieger nicht mehr heimkommen werden.
Sprecherin
Wahrscheinlich handelten davon auch viele Sagen und Heldenlieder. Sie wurden mündlich von Generation zu Generation überliefert – und die Häuptlinge, aus denen allmählich Könige wurden, beriefen sich darauf, um ihre Herrschaft zu legitimieren: Sie stellten sich in eine Reihe mit den Helden der Bronzezeit, die im kollektiven Gedächtnis noch präsent waren. Aus den Erzählungen und Gesängen formte Homer dann im 8. Jahrhundert vor Christus die berühmten Epen über den Trojanischen Krieg, die sich bis heute erhalten haben, weil die Griechen nun von den Phöniziern die Alphabetschrift übernahmen und an ihre Sprache anpassten. Die Klassische Antike brach an, eine neue Kulturblüte, die sich nach dem Ende der Bronzezeit über vier Jahrhunderte kontinuierlich vorbereitet hatte.
19. O-Ton Deger 42‘00
Es war eine sehr kreative Zeit. Ich würde nie wieder sagen wollen, dass es eine Zeit der Verhaltenheit, der Isolierung, war. Oder dunkle Jahrhunderte, davon kann man nicht sprechen.
Vor ca. 4200 Jahren begann mit der Bronzezeit eine der spannendsten Epochen der europäischen Urgeschichte. Das neue Material eröffnete sensationelle Möglichkeiten bei der Geräte- und Waffenherstellung. Gleichzeitig entstanden zur Beschaffung des eher seltenen Zinns neue Handelswege. Was bedeutete das für die Frauen dieser Zeit? Autorin: Carola Zinner
Credits
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Irina Wanka, Peter Weiß
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Philipp W. Stockhammer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, Professor für prähistorische Archäologie an der LMU München;
Rainer Linke und Siglinde Matysik vom Arbeitskreis für Vor- und Frühgeschichte im Heimatverein für den Landkreis Augsburg, Mitarbeiter des Archäologischen Museums Königsbrunn
Linktipps:
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Literaturtipp:
Stockhammer, Philipp W. ORCID logo, Mittnik, Alissa, Massy, Ken and Knipper, Corina (2018): Mobilität - Die wissenden Frauen vom Lechtal. In: Spektrum der Wissenschaft Spezial Archäologie - Geschichte - Kultur, Vol. 2018, Nr. 4: S. 38-41
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK atmoartig, unterlegen. Anmutung „Vorgeschichte“
ZUSPIELUNG 1 (Stockhammer)
Die Bronzezeit ist in meinen Augen eine der spannendsten Epochen der europäischen Urgeschichte.
ZUSPIELUNG 2 (Linke)
Die Bronze war wichtig, das war's A und O.
ZUSPIELUNG 3 (Matysik)
Und ich finde das fantastisch, dass man da das genau regional begrenzen kann, wo diese Leute hergekommen sind.
ERZÄHLERIN
Philipp Stockhammer, Siglinde Matysik und Rainer Linke haben auf verschiedene Art zum Wissen über die Bronzezeit beigetragen: Linke und Matysik sind Mitglieder eines regionalen Arbeitskreises, der bei Grabungen im südlichen Landkreis Augsburg prähistorische Überreste frei legte. Und Philipp Stockhammer, Mitarbeiter des Max-Planck-Institutes für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Professor für prähistorische Archäologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München konnte unter anderem anhand dieser Funde das Leben in jener Zeit neu beleuchten.
ZUSPIELUNG 4 (Stockhammer)
Wir können da ganz viele naturwissenschaftliche Verfahren einsetzen, das nimmt einem schier den Atem, aber zwingt uns jetzt halt auch als Archäologen und Archäologinnen, die Vergangenheit irgendwie auch wieder neu zu denken und wegzukommen von diesen alten, überkommenen Erzählungen.
MUSIK geht über in
ZUSPIELUNG 5 ATMO Museum
ZUSPIELUNG 6 (Matysik)
Die meisten Leute kommen auf die Grabung. Erste Frage habt ihr Gold gefunden? Dabei ist Gold gar nicht so wichtig. (Linke) Meistens, wenn wir die ausgraben, die Bronzefunde, dann sind die meistens blau, dann weiß man schon, da ist sehr viel Kupfer drin.
ERZÄHLERIN
Königsbrunn bei Augsburg: Im Untergeschoss des Rathauses präsentiert ein kleines archäologische Museum Funde aus der Region, darunter auch zahlreiche Stücke aus der Epoche zwischen 2200 bis 800 vor Christus – der mitteleuropäischen Bronzezeit.
ZUSPIELUNG 7 ATMO
ERZÄHLERIN
Die beiden Ausstellungsmacher Siglinde Matysik und Rainer Linke stehen vor einer großen Vitrine.
ZUSPIELUNG 8 (Matysik)
Dieses Skelett ist wirklich original, und wir wollen anhand dessen die Bestattungssitten zeigen: das ist der Übergang von der Steinzeit zur Bronzezeit: die Männer wurden immer mit dem Kopf nach Norden beerdigt, die Frauen mit dem Kopf nach Süden, Blickrichtung Richtung Osten, also aufgehende Sonne.
ERZÄHLERIN
Lange ließ sich nicht einmal mit Sicherheit bestimmen, ob es sich bei menschlichen Skeletten um die Überreste eines Mannes oder einer Frau handelte. Hinweise gaben etwa die Lage und Größe der Verstorbenen, ihre Kleidung und Grabbeigaben wie Schmuck, Waffen oder Haushaltsgegenstände. Mittlerweile ist die Forschung deutlich weiter: DNA-Überreste geben heute zuverlässig Auskunft über das Geschlecht und über Verwandtschaftsbeziehungen. Und mithilfe der so genannten Strontium-Isotopenanalyse lässt sich sogar erkennen, in welcher Region die Menschen aufgewachsen sind. Denn die ganz spezifische chemische Zusammensetzung des jeweiligen Bodens, die über die Nahrung in den Körper gelangte, hat in den Zähnen eine Art Signatur hinterlassen.
ZUSPIELUNG 9 (Stockhammer)
Das heißt, ich kann, wenn sagen wir, eine Frau oder ein Mann in München bestattet ist, kann ich sehen, passen die Backenzähne zur Boden-Signatur zur Münchner Schotterebene. Wenn das nicht der Fall ist, kann ich sagen, die haben offensichtlich ihre Kindheit woanders verbracht.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Im Süden von Augsburg liegt, umrahmt von den Flüssen Lech und Wertach, die breite Schotterebene des Lechfeldes. Und, daran angrenzend, das „Hochfeld“: eine fruchtbare Lößterrasse, die bereits den Menschen der frühen Bronzezeit ideale Bedingungen für den Ackerbau bot. Ihre Höfe lagen am Rand des Hochfeldes lose aneinander gereiht wie Perlen an einer Schnur, mit genügend Abstand zum Fluss, um bei Hochwasser in Sicherheit zu sein, und doch nah genug, um die relativ karge Alltagskost - Getreidebrei, Beeren, Pilze, Milchprodukte, ohne großen Aufwand mit Fisch und Wild aufbessern zu können. (MUSIK hoch). Zu den Gehöften gehörte auch jeweils ein Gräberfeld für die Verstorbenen. Deren Überreste nun mithilfe bioarchäologischer Analysen genauer bestimmt werden können.
ZUSPIELUNG 10 (Stockhammer)
Wir hatten Glück, dass wir eine fantastische DNA-Erhaltung haben. Insgesamt haben wir 800 Jahre dort untersucht, so zwischen 2500 und 1700 vor Christus.
ERZÄHLERIN
EIN Ergebnis der Untersuchungen: Die einzelnen Höfe wurden über vier, fünf Generationen von ein- und derselben Familie bewohnt. Allerdings zieht sich die Verwandtschaft nur in männlicher Linie durch; es gibt Väter und Söhne, Brüder und Onkel. Die Mütter der Kinder jedoch stammen allesamt von auswärts; sie hatten hier keine Vorfahren. Und unter den hier geborenen Frauen wiederum findet sich keine einzige Bestattung, bei der die Verstorbene älter als 17 Jahre war. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Töchter in diesem Alter ihre Familien und die Heimat verlassen mussten - wohl in erster Linie, um anderswo einzuheiraten.
MUSIK hoch
Dieser Befund ist allerdings keineswegs außergewöhnlich; die Archäologie kann diese so genannten patrilinearen Heiratsmuster, die ja zumindest partiell noch heute in einigen Teilen der Welt existieren, für viele Epochen und Regionen nachweisen. Ein anderes Ergebnis der Untersuchungen aber ließ die Fachwelt aufhorchen. Es war die Entdeckung der „fremden Frau aus der Ferne“, die hier weder Vorfahren noch Nachkommen besaß.
ZUSPIELUNG 11 (Stockhammer)
Total spannend. Also wir haben da schon gesehen, okay, genetisch scheinen alle Mütter von außerhalb zu kommen und gleichzeitig sehen wir jetzt von den Isotopenanalysen, dass ein erheblicher Teil der Frauen offensichtlich von ganz weit herkommt, also über 400 Kilometer, ja?
ERZÄHLERIN
Besonders auffällig war, dass die Bestattungen dieser „Frauen aus der Fremde“ zu den reichsten in der Region gehörten. Und das, obwohl es keine leiblichen Kinder gab, die für ein angemessenes Begräbnis Sorge hätten tragen können. Was könnte für andere Gründe gegeben haben für die Hochachtung, die die Gesellschaft diesen Migrantinnen offenbar entgegenbrachte? Die Spurensuche führt in die ursprüngliche Heimat der Frauen, die Regionen um Halle, Leipzig und Prag. Und damit in die High-Tech-Zentren jener Epoche, die gekennzeichnet ist vom wachsenden Wissen um die Herstellung und Bearbeitung von Bronze - einer Legierung aus Kupfer und Zinn.
ZUSPIELUNG 12 (Stockhammer)
Das richtig coole an Bronze ist, wenn die frisch gegossen ist, ist sie so hart wie Stahl, glänzt wie Gold, und man kann es ja auch viel besser gießen als Kupfer.
ERZÄHLERIN
Allerdings kommt Zinn - im Gegensatz zu Kupfer – nur selten in Europa vor. Die wichtigsten Lagerstätten befinden sich in Südengland und im Erzgebirge. Um an das begehrte Metall zu gelangen, braucht es ein großräumiges Netz von Handelsbeziehungen.
ZUSPIELUNG 13 (Stockhammer)
Deshalb ist die Bronzezeit auch etwas, was Menschen über weite Distanzen ganz neu miteinander in Austausch gebracht hat, und letztlich, so kann man sagen, die erste globale Epoche der Menschheitsgeschichte in Eurasien zur Folge hatte.
ERZÄHLERIN
In der Forschung, sagt Philipp Stockhammer, herrschte früher auch ein relativ klares Bild davon, in welcher Form dieser Austausch stattfand.
ZUSPIELUNG 14 (Stockhammer)
Die Erzählung meiner Studienzeit war eben: Mobilität war vor allem der Mann mit der Waffe oder der Mann, der Handwerker, oder der Mann, der Händler, der quasi glücksbringend durch die Bronzezeit Europas zieht.
MUSIK andere Färbung, Dänemark, Bronzezeit
ERZÄHLERIN
Am 24. Februar des Jahres 1921 machte der Bauer Peder Platz im dänischen Egtved einen eigenartigen Fund. Er war gerade dabei, die Reste eines kleinen Hügels beiseite zu räumen, als er in dessen Mitte auf einen ausgehölten Eichenstamm stieß, in dem Leiche einer jungen Frau lag, eingewickelt in ein Kuhfell. Peder Platz beriet sich zuerst einmal mit seinem Nachbarn, dann setzten sich die beiden hin und schrieben einen Brief an das Nationalmuseum von Kopenhagen.
ZITATOR
Ich vermute, dass es sich um ein altes Begräbnis handelt und dass dieses von Interesse für das Museum sein könnte. Ich habe deshalb die Arbeit eingestellt.
ERZÄHLERIN
Tatsächlich erwies sich der Fund als absolute Sensation: Beim „Mädchen von Egtved“ handelt es sich um eine der am besten erhaltenen Bestattungen aus der Bronzezeit. Die schafwollene Kleidung der bei ihrem Tod etwa 17jährigen - eine Bluse mit halblangen Ärmeln und ein knielanger Rock aus gedrehten Schnüren, ihre Haare – vorne und an den Seiten kurz geschnitten, hinten halblang, ihr Schmuck – Gürtelpatte, Armreifen und ein Ohrring aus Bronze – all das hatte die Jahrtausende ebenso gut überstanden wie die Dose aus Birkenrinde am Fußende des Sarges, in der sich Reste eines mit Honig gesüßten Biers aus Weizen und Beeren fanden.
MUSIK hoch (spätestens bei der nächsten Zuspielung weg)
Der mittlerweile mehr als 100 Jahre zurückliegenden Entdeckung von Peder Platz verdankt die Archäologie zahlreiche Erkenntnisse über das bronzezeitliche Leben. Dazu gehört nun, dank moderner Untersuchungsmethoden, auch der Nachweis, dass sich die junge Frau zu ihren Lebzeiten keineswegs immer nur in Dänemark aufgehalten hat. Sie war offenbar gleich mehrmals in Süddeutschland unterwegs gewesen, wo sie unter Umständen – ganz einig ist sich die Forschung in dieser Beziehung nicht - auch geboren wurde. Aus welchen Gründen aber mag sie sich auf die lange und wohl auch einigermaßen gefährliche Tour quer durchs Land begeben haben? In welchem Rahmen reiste sie? Und – was hatte sie dabei im Gepäck? Auf jeden Fall steht ganz abseits jener Fragen fest: die alte Vorstellung von Handel und kulturellen Austausch in der Bronzezeit – ein Mann zieht bewaffnet oder mit Waren im Gepäck durch die Lande und schlägt sich allein und auf eigene Faust von Ansiedlung zu Ansiedlung durch - ist, wenngleich nicht unbedingt falsch, so doch höchstens ein Teil des Gesamtbildes, zu dem die jungen Frau aus Dänemark ebenso gehört wie die Migrantinnen des Lechtals.
ZUSPIELUNG 15 (Stockhammer)
(Gut möglich, dass es ihn gab, diesen Händler. Weil: Der einzelne Krieger hat es schon irgendwie geschafft. Aber) jetzt habe ich Mädels mit 17 Jahren, die zu Fuß entweder aus der Gegend von Prag oder aus der Gegend von Leipzig nach Augsburg kommen, das ist schon ein Stück. Und was wir auch sehen können über die Zähne, dass immer auch wieder Jungs im Alter von sieben Jahren aus dem Lechtal weggeschickt wurden und dann als erwachsene Männer mit 17 wiedergekommen sind. Weil die Zähne bis zum siebten Lebensjahr sind lokal; vom siebten bis zum 17. Lebensjahr ist es dann die Gegend Halle, Leipzig, und dann sind sie aber wieder vor Ort bestattet, also die sind sozusagen ausgeschickt worden, um in der Ferne zu landen… Ich meine, schicken Sie heute mal einen Siebenjährigen quer durch Deutschland!
ERZÄHLERIN
Sollte so eine Reise auch nur ansatzweise Aussicht auf Erfolg haben, dann musste es auf jeden Fall Begleitpersonen geben, die es gewohnt waren, mit Schwierigkeiten umzugehen, von Überfällen durch Mensch oder Tier bis hin zu plötzlichen Krankheiten. Vorstellbar wäre es etwa, dass sich zu bestimmten Zeiten im Jahr Trecks im Stil von Karawanen auf den Weg zu zentral gelegenen Plätzen machten, wo man zusammenkam, um religiöse Feiern abzuhalten und sich bei der Gelegenheit auch für zukünftige Termine verabredete und untereinander Tausch betrieb, ob es nun um Waren oder Wissen ging, Saatgut, Vieh oder Mensch.
ZUSPIELUNG 16 (Matysik)
Ein Grab aus der Gemeinde Wehringen: das ist die Ausstattung von einem Frauengrab.
ERZÄHLERIN
Auch wenn das kleine Museum von Königsbrunn keinen Jahrhundert-Fund wie das „Mädchen von Egtved“ zu bieten hat, kam doch bei den Grabungen der Ehrenamtlichen Beachtliches zutage. Siglinde Matysik zeigt auf ein üppig mit Bronzeschmuck versehenes weibliches Skelett: Ein massiver Halsring und zahlreiche „Tutuli“ - kleine Pyramiden aus Bronzeblech, die einst einen mittlerweile längst zerfallenen Stoff schmückten. Dazu im Bereich der Brust Bronzeplatten und um die Waden lange Spiralen aus Bronze, dessen einstiger Goldton sich über die Jahrtausende im Schotterfeld in ein sanft schimmerndes Türkis-Grün verwandelt hat.
ZUSPIELUNG 17 (Matysik)
Das ist für mich immer so schwer nachvollziehbar, dass die auf den ganzen Reichtum verzichtet haben und haben das dann mit ins Grab weitergegeben.
ERZÄHLERIN
Die kostbare Bronze sollte offenbar der Verstorbenen auch im Jenseits das gute „Standing“ sichern, das sie im irdischen Leben besaß. Denn eine derart reiche Beerdigung bekamen nur Angehörige der Oberschicht.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Die Bronzezeit ist nicht nur die Epoche, in der das Know-How in Sachen Metallbearbeitung rapide wächst und Handel und damit auch Mobilität eine immer größere Rolle spielen; sie ist auch geprägt von großen sozialen Unterschieden. Die Bestattungen des Lechtals zeugen davon: neben den reich mit Waffen und Schmuck ausgestatteten Gräbern gibt es auch solche, die so gut wie keine Beigaben enthalten. Die Verstorbenen waren offenbar arm gewesen. Und sie besaßen, wie die Analysen ergaben, keinerlei Verwandtschaft im Lechtal.
ZUSPIELUNG 18 (Stockhammer)
Wir haben diese Gruppe interpretiert als vielleicht Bedienstete, Mägde, Knechte, ob die jetzt unfrei waren oder nicht, also Sklaven oder so, wissen wir alles nicht: sie haben in dem Gehöft gelebt, sie wurden auf dem Familienfriedhof bestattet, also sie sie waren schon Teil der Familie, aber sie hatten den ganzen niedrigen Status.
ERZÄHLERIN
Sprich, ihre Situation war ganz anders als die „fremden Frauen aus der Ferne – obwohl doch die Grundbedingungen – ursprünglich nicht hier beheimatet, keine Verwandten, keine Kinder - auf den ersten Blick ganz ähnlich wirken. Der Unterschied: die „fremden Frauen“ kamen aus Technologiezentren. Und brachten wohl aus ihrer Heimat etwas extrem Wertvolles mit, nämlich Wissen und Können – insbesondere, was die Herstellung von Bronze betraf.
ZUSPIELUNG 19 (Stockhammer)
Da ist nichts Körperliches, wo man sagt, das kann doch nur ein Mann, das braucht so besondere Kraft: Sie beobachten, wann hat das Metall die richtige Temperatur erreicht von der Färbung her, wie machen Sie die Gussform, welchen Ton wählen Sie für den Schmelztiegel aus?
ERZÄHLERIN
Ausgerüstet mit diesem Know-How, vielleicht auch mit Werkzeug oder Bronze im Gepäck trafen die „Frauen aus der Fremde“ also auf dem jeweiligen Gehöft ein, auf dem sie fortan leben sollten, in einer Art Wohngemeinschaft mit dem Bauern und, sofern sie noch am Leben waren, mit seinen Eltern, Brüdern und mit den Schwestern unter 17 Jahren. Dazu kamen noch die – eingeheiratete - Ehefrau des Bauern und die Kinder des Paares. An deren Pflege und Erziehung die „Frau aus der Fremde“ vermutlich maßgeblich beteiligt war.
ZUSPIELUNG 20 (Stockhammer)
Wenn mal eine Frau mit einem Kind bestattet ist, dann ist es nicht die biologische Mutter, sondern eine Frau von ganz weit her. Worauf das für mich hindeutet, ist, dass wir letztlich andere Formen von Mutterrollen haben als wir uns vorstellen: Jedes Kind hatte sozusagen seine biologische Mutter, die immer wieder schwanger geworden ist, und auf der anderen Seite eine soziale Mutter, die vermutlich halt dem Kind auch ganz viel Wissen mitgegeben hat.
ERZÄHLERIN
Angesichts der hohen Müttersterblichkeit, aber auch angesichts der Tatsache, dass die Frauen bei der Heirat fast noch Teenager waren, hatte eine solche „Aufteilung“ der Mutterrolle mit Sicherheit Vorteile. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag damals zwischen 20 und 30 Jahren – und jede Geburt stellte ein hohes Risiko dar. Eine „Ersatzmutter“, die zudem über größeres Wissen als der Durschnitt verfügte, konnte hier ein, wie Philipp Stockhammer es nennt, „Schlüssel zur Optimierung“ sein.
ZUSPIELUNG 21 (Stockhammer)
Einerseits der Reproduktion, und andererseits, um den Kindern maximales Wissen und Überlebensmöglichkeiten zu garantieren. Und es ist so spannend, weil es einfach zeigt, wie komplex das Zusammenleben in diesen Häusern war und weit es über das hinausgeht, wie wir uns immer dieses, ach, einfache Leben in der Urgeschichte vorstellen.
MUSIK
ERZÄHLERIN
Dank bioarchäologischer Methoden lässt sich heute vieles beantworten, was früher unlösbar erschien. Doch jede Antwort bringt unzählige neue Fragen hervor. Was etwa mögen die „fremden Frauen“ wohl sonst noch mitgebracht haben aus ihrer Heimat: Neue Techniken der Textilherstellung? Der Essenszubereitung? Lieder? Ihre Sprache? Medizinische Kenntnisse? ((Und wie ist - ohne die Hilfe unseres modernen Wissens über Verhütung - jene durchgehende Kinderlosigkeit zustande gekommen, die ja offenbar für die hoch angesehenen „fremden Frauen“ ebenso galt wie für die Frauen der Unterschicht.
ZUSPIELUNG 21 (Stockhammer)
Ich glaube, dass es ganz strikte Regeln gegeben haben muss, wer mit wem Nachkommen zeugen durfte und wer nicht, und es hat offensichtlich funktioniert, weil wir keinen einzigen genetischen Beleg dafür haben, dass irgendwo mal ein Seitensprung oder ähnliches… das würden wir ja genetisch sehen. Und das ist schon sehr spannend und zeigt uns, wie strikt und klar dieses System funktioniert haben muss.))
ERZÄHLERIN
Ein System, das – wiewohl es offenbar sehr gut funktionierte – dann nach rund 750 Jahren trotzdem relativ abrupt endet. Die frühbronzezeitlichen Gehöfte des Lechtals sterben nach und nach aus, während parallel dazu andere Menschen in die Region ziehen, die sich, oftmals nur ein paar hundert Meter entfernt, neue Häuser bauen und ihre Toten auf andere Art bestatten. Was mag da wohl dahinterstecken? Und – weitere Fragen: Was war eigentlich mit den armen Bewohnern der Höfe? Wo und wie kamen sie her? Waren sie gekauft oder gar gekidnappt worden? Oder kamen sie womöglich freiwillig, froh, einen Unterschlupf zu finden, der ihnen in der rauen Welt der Bronzezeit zumindest einigermaßen das Überleben sicherte? Fragen über Fragen - auf die es wohl kaum je Antworten geben wird. Denn jener Teil unserer Geschichte, aus dem nichts Schriftliches und nur einige wenige Bilder überliefert sind, bleibt verborgen wie hinter einem Vorhang, der nur kleine Einblicke auf das gewährt, was dahinter liegt. Alles andere bleibt reine Spekulation.
Stimmungsschwankungen bis hin zu depressiven Verstimmungen, Brust- und Unterleibsschmerzen, unreine Haut, Heißhunger, Schlafstörungen - viele Menstruierende leiden unter dem prämenstruellen Syndrom oder prämenstruellen dysphorischen Störungen. Was steckt dahinter und wie kann man den Patientinnen helfen? Autor: Caro Matzko
Credits
Autor/in dieser Folge: Caro Matzko
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Julia Fischer, Peter Veit
Technik: Christine Frey
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Dr. Med. Vanadin Seiffert-Klaus, Gynäkologische Endokrinologie und Kinderwunsch; Oberärztin der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde im Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München;
Daniela Wolf, Autorin des Buches „PMDS“ (TRIAS-Verlag), 1. Deutsche PMDS-Mentorin, Gründerin von Selbsthilfegruppen und Online-Community zum Thema;
Prof. Dr. Med. Brigitte Leeners, Klinikdirektorin, Leitung Klinische Forschung für Reproduktions-Endokrinologie am Universitätsspital Zürich;
Franka Frei, Autorin des Manifests gegen das Menstruationstabu „Die Periode ist politisch“ (Heyne Verlag)
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Daniela Wolf: PMDS - Wege zu einem entspannten Zyklus: Therapie und Selbsthilfe bei extremen Stimmungsschwankungen und Schmerzen. (TRIAS Verlag)
Franka Frei: Die Periode ist politisch, ein Manifest gegen das Menstruationstabu (Heyne Verlag)
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZSP 1
(Prof. Leeners - PMS ist eine Krankheit; Franka Frei - PMS ist keine Krankheit
Daniela Wolf – Symptome; Vanadin Seiffert-Klauss - Symptome; Franka Frei - Die Periode ist politisch)
ZITATOR
„Die Geschichte der Menstruation ist eine Geschichte voller Missverständnisse.“
SPRECHER
…das war der vermutlich einzige Tampon-Werbeslogan, der berühmt wurde - aus dem Jahr 1994. Und diese missverständliche Geschichte reicht bis in die Antike zurück: Hippokrates, einer der Urväter der Medizin, bezeichnete die Gebärmutter als „Wurzel von tausend Übeln“. Und der Philosoph Platon war der Überzeugung, dass der Uterus, wenn er unbewohnt - also ohne Embryo bliebe - sich in eine Art „Wuterus“ verwandelte, der durch den weiblichen Körper wandern würde, um sich schließlich am Hirn festzubeißen.
Und bis heute wird Frauen in einigen Regionen der Welt erzählt, dass sie sich für ihre Periode schämen müssen:
SPRECHERIN
In Nepal werden Frauen in so genannte Menstruationshütten verbannt, beklagt das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen.
Und in Indien versäumt laut einer Umfrage der UNESCO eines von fünf Mädchen die Schule, sobald die Periode eintritt.
SPRECHER
Bis heute sind Frauen also damit befasst, die Periode an sich, aber auch die Begleiterscheinungen, zu verstecken und zu verheimlichen. Wobei gerade die Symptome an den Tagen vor den Tagen gewaltig sein können. Die Medizin hat 150 körperliche und psychische Symptome gesammelt, die beim Auf und Ab der Hormone im Lauf des Zyklus auftreten können.
Sie alle werden in der Diagnose „PMS“, also prämenstruelles Syndrom, zusammengefasst:
MUSIK: „Luicid mind“ – C160849#004 (0:32)
SPRECHERIN
Wasseransammlungen im Gewebe
SPRECHER
Stimmungsschwankungen
SPRECHERIN
Brustspannungen
SPRECHER
Traurigkeit bis hin zur Depression
SPRECHERIN
Unterbauchschmerzen und -krämpfe
SPRECHER
Reizbarkeit und Aggressivität
SPRECHERIN
Kopf- und Rückenschmerzen
SPRECHER
Schlafstörungen
SPRECHERIN
Müdigkeit
SPRECHER
Konzentrationsstörungen
SPRECHERIN
Migräne
SPRECHER
Angstzustände
SPRECHERIN
Appetitlosigkeit
SPRECHER
Vermindertes Selbstwertgefühl
SPRECHERIN
Heißhunger
SPRECHER
Antriebslosigkeit
SPRECHERIN
Suizidgedanken
MUSIK aus
SPRECHER
All diese Symptome können einige Tage bis zu zwei Wochen vor der Periode auftreten und verschwinden meist mit dem Beginn der Regelblutung. Wie das PMS, also das prämenstruelle Syndrom, sich anfühlt, kann von Monat zu Monat unterschiedlich sein. Manche Frauen spüren im Alltag kaum etwas, andere fühlen sich stark eingeschränkt.
SPRECHERIN
Bei einem kleinen Prozentsatz der Frauen werden vor allem die psychischen Symptome des PMS so gravierend, dass dafür ein neuer Begriff eingeführt wurde: die prämenstruelle dysphorische Störung PMDS oder auf Englisch PMDD, premenstrual dysphoric disorder.
SPRECHER
Prof. Vanadin Seifert-Klauss ist Leiterin der gynäkologischen Endokrinologie am Klinikum rechts der Isar in München.
ZSP 2 Vanadin Seifert Klaus - Wer hat alles PMS?
„ Ungefähr 95 % aller Frauen bemerken, dass sie kurz vor der Periode andere Symptome haben im weitesten Sinne, andere körperliche Erscheinungsformen haben als zu anderen Phasen des Zyklus. Ungefähr 30 bis 40% haben jemals behandlungsbedürftige prämenstruelle Symptome verspürt vom Schmerz, den man mit einem Schmerzmittel kurz bekämpft über sehr viel stärkere Ausprägungen und endet dann bei der prämenstruellen dysphorischen Störung die gekennzeichnet sind durch emotionale körperliche und verhaltensmäßige Veränderungen während der prämenstruellen Phase ,die mit einem klinisch relevanten Leiden und deutlicher Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit einhergehen. Und das betrifft ungefähr 3 bis 8 Prozent der Frauen.“
SPRECHERIN
95 % der Frauen kennen also das prämenstruelle Syndrom, 3 bis 8 Prozent haben die hierzulande noch recht selten gestellte Diagnose PMDS attestiert bekommen.
MUSIK: „music for a decent future“ – C160849#026 (0:52)
SPRECHER
Fest steht: Dass Frauen sich an den Tagen vor den Tagen mitunter anders fühlen, ist etwas ganz natürliches, das aber trotzdem seit jeher pathologisiert wurde. Schon in der Antike beobachteten die griechischen Gelehrten ein angeblich typisch weibliches Verhalten, das sich jeden Monat aufs Neue wiederholte und das sie „Hysterie“ tauften. Benannt nach einem nur in Frauen entdeckten Organ - der Gebärmutter, griechisch „hystera“. Platon verdächtigte die Gebärmutter, für die so genannte Hysterie verantwortlich zu sein. Heute wissen wir: Nicht die Gebärmutter allein ist für den Zyklus und seine komplexe PMS-Symptomatik verantwortlich, sondern das Auf und Ab der dabei beteiligten Hormone - also der biochemischen Botenstoffe, die für viele zentrale Abläufe und Entwicklungen bei Frau wie Mann verantwortlich sind. Der Endokrinologe Prof. Martin Reincke von der Ludwig-Maximilians-Universität München hat für die Funktionsweise einen sehr schlüssigen Vergleich:
ZSP 3 Martin Reincke - aus Hormonfolge Post Vergleich (00:26)
„Das Hormonsystem ist ein inneres Kommunikationssystem, das wie die deutsche Bundespost funktioniert. Also ein Brief wird eingeworfen, mit dem Blut an eine andere Stelle transportiert und die Botschaft kommt an. Und wo der Brief wieder geöffnet wird, verändert sich etwas auf zellulärer oder Organ-Ebene.“
SPRECHERIN
Beim Menstruationszyklus, der im Schnitt 28 Tage dauert, gibt es vier hormonelle Haupt-Akteure, die jeden Monat aufs Neue ein äußerst kompliziertes und beeindruckendes Zusammenspiel rund um den Eisprung aufführen:
MUSIK: „Contradiction“ – C160849#023 (1:35)
SPRECHER
Akteur Nummer 1: Das follikelstimulierende Hormon FSH
SPRECHERIN
FSH stößt zunächst einmal die Reifung der Eibläschen - auch Follikel genannt - im Eierstock an. Jeden Monat reift ein Follikel mit einer Eizelle im Inneren heran. Die Follikel produzieren…
MUSIKAKZENT // TUSCH?!
SPRECHER
Akteur Nummer 2: Das Östrogen
SPRECHERIN
Östrogene sind für den Aufbau der Gebärmutterschleimhaut relevant, die nötig ist, damit sich ein befruchtetes Ei einnisten kann. Der steigende Östrogenspiegel im Blut gibt sodann das Kommando zum Anstieg von LH. Also von…
MUSIKAKZENT // TUSCH?!
SPRECHER
Akteur Nummer 3: das luteinisierende Hormon.
SPRECHERIN
Das LH gibt nun den Startschuss für den Eisprung. Nachdem ein Follikel geplatzt ist und die Eizelle auf die Reise schickt. Drumherum bildet sich nun der so genannte Gelbkörper. Im Gelbkörper wird nicht nur Östrogen produziert, sondern auch …
MUSIKAKZENT // TUSCH?!
SPRECHER
Akteur Nummer 4: das Progesteron, auch Gelbkörperhormon genannt
SPRECHERIN
Progesteron unterstützt den weiteren Aufbau der Gebärmutterschleimhaut. Kommt es zu keiner Befruchtung der Eizelle durch ein Spermium, geht der Gelbkörper zugrunde. Die Progesteron- und Östrogenspiegel im Blut sinken wieder, die Gebärmutterschleimhaut wird abgestoßen und es kommt zur nächsten Monatsblutung.
Prof. Martin Reincke:
ZSP 4 Martin Reincke - Hormonzyklus der Frau
Diese 28 Tage passiert jeden Tag etwas anderes, obwohl immer dieselben Hormone beteiligt sind.
SPRECHER
Im Lauf des Menstruationszyklus verändern sich also die Pegel der beteiligten Hormone. Die Botenstoffe sind durch unseren Blutkreislauf überall im Körper unterwegs - die Gefäße sind so etwas wie ihre Autobahn - ein immer wiederkehrendes Auf und Ab, gleich einer Wellenbewegung. Vom einen Botenstoff wird mehr produziert, während der andere schon wieder abgebaut wird. So weit, so verständlich.
Doch bei diesen Auf- und Abbauprozessen der vier hormonellen Hauptakteure entstehen auch so genannte Metaboliten, also Abbauprodukte von Stoffwechselvorgängen, erklärt Prof. Brigitte Leeners vom Universitätsspital Zürich:
ZSP 5 Leeners – Hormone und ihre Metaboliten (1:06)
„Die ganze Geschichte ist viel, viel komplexer, weil die Hormone haben ganz viele Abbauwege. Und die Metaboliten, die entstehen, haben teilweise auch eine Wirkung. Man weiß nicht genau, welcher Metabolit welche Wirkung wo hat, die Abbauwege sind auch individuell sehr, sehr verschieden. Da spielen auch genetische Voraussetzungen der Frauen
SPRECHER
Das ist vielleicht auch der Grund, warum das prämenstruelle Syndrom je nach genetischer Disposition, nach Alter und Sensibilität der Betroffenen ganz anders ausfallen kann. Die meisten haben daher auch unterschiedliche Strategien im Umgang mit den Symptomen:
SPRECHERIN
Von Mönchspfeffer-Tabletten, also einem uralten Heilkraut und der traditionellen Wärmflasche, über Meditation bis zu Schmerzmitteln wie zum Beispiel Ibuprofen, Buscopan oder Paracetamol – die Hausapotheke kann so groß sein wie die Symptompalette.
SPRECHER
Prof. Vanadin Seifert-Klauss vom Klinikum rechts der Isar in München weiß, was einen „Benefit“ haben kann, also: was wirklich hilft.
ZSP 6 Seifert-Klauss: Was hilft gegen PMS? (1:37)
„Da gibt’s einige Studien, wo es eine Evidenz für einen Benefit gibt und überraschenderweise ist Kalzium in dieser Zeit vor den Tagen ganz hilfreich. Wenn wir zu wenig Kalzium im Blut haben, dann kann das die Krampfneigung verstärken. Wir wissen auch, dass kohlehydratreiche Ernährung in diesen Tagen sich positiv auswirkt, also da nicht Diät halten. Für Vitamin B gab es einen kleinen Benefit in Studien. Andere Studien haben zu Magnesium, Mönchpfeffer, nicht so eindeutige, sondern eher gemischte Ergebnisse erbracht. Auch Johanniskraut und Gingko gibt es eigentlich keine guten Studien dazu.
MUSIK: „Luicis mind“ – C160849#004 (0:32)
SPRECHER
Wenn die PMS-Symptome, vor allem die psychischen, die Patientinnen an den Tagen vor der Monatsblutung stark mitnehmen - also Angstzustände, depressive Phasen, Aggressivität und Reizbarkeit den Alltag und das Leben beeinträchtigen - dann kann das ein Hinweis auf eine prämenstruelle dysphorische Störung sein.
SPRECHERIN
So wie bei Daniela Wolf: Sie bekam 2013 die Diagnose PMDS – nach einem jahrzehntelangen Leidensweg und aufwendiger eigener Recherche.
ZSP 6b PMDS Daniela Wolf Symptome O-Ton (00:16)
„Die Symptompalette war riesig, also körperlich fast alles: Brustschmerzen, Kreuzschmerzen, Ödeme, Migräne, Krämpfe, Kopfschmerzen, Schwindel. Und psychisch war bei mir tatsächlich Impulsivität und Aggressivität sehr stark ausgeprägt.“
SPRECHERIN
Daniela Wolf nimmt damals, wie viele Frauen ihrer Generation, jahrelang die Anti-Baby-Pille - bis sie 24 Jahre alt ist. Als sie sie absetzt, verschlimmern sich ihre Menstruationsbeschwerden von Zyklus zu Zyklus. Sie informiert sich, liest sich ein und lässt sich beim Frauenarzt untersuchen. Daniela bekommt die Diagnose „polyzystisches Ovarialsyndrom“, eine Hormonstörung, die sich auf die Eizellreifung auswirkt. Für sie selbst waren jedoch ihre psychischen Reaktionen auf die Schwankungen im Zyklus am gravierendsten.
Daniela stößt im Internet auf das Krankheitsbild PMDS- und erkennt sich wieder. Sie druckt alle Fachartikel aus und bringt sie zu ihrem Gynäkologen. Er bestätigt ihre Selbstdiagnose schließlich nach Rücksprache mit einer Kollegin und verschreibt Daniela ein Antidepressivum, das sie täglich einnehmen muss.
SPRECHER
Prof. Dr. Leeners vom Universitätsspital Zürich hat jedoch auch gute Erfahrungen in der Therapie von PMDS gemacht: mit mikrodosierten Antidepressiva.
ZSP 7 Dr. Leeners Microdosing Antidepressiva (1:12)
“Normalerweise setzt man Antidepressiva kontinuierlich ein und in Zusammenhang mit dem PMDS wirken sehr niedrige Dosierungen schon. Ich verschreibe das gern mit Präparaten, die man auch mit Tropfen dosieren kann. Das ist die einzige Indikation, bei der man auch in Erwägung ziehen kann und das gute Wirkung gezeigt hat, dass man die nur in der zweiten Zyklushälfte einsetzen kann. Aber das muss man im Einzelfall testen und schauen, ob das die gewünschte Besserung bringt.
SPRECHERIN
Daniela Wolf hat inzwischen viele Fachartikel gelesen und kennt die Schwierigkeiten bei der Diagnose von PMDS.
ZSP 8 PMDS Dani Wolf - PMDS ist lebensgefährlich (00:46)
„… mit den Hormonen ist meistens alles in Ordnung. Das wird immer sehr oft falsch dargestellt. Denn das ist die größte Problematik bei der Erkrankung - die Hormone sind meistens in Ordnung in unsrem Gehirn passieren negative Reaktionen auf völlig normale Schwankungen im Zyklus, die alle Menschen mit Uterus haben, diese Schwankungen. Der eklatanteste Unterschied ist: mit PMS ist man nicht suizidgefährdet - PMDS kann aber zum Tod führen.“
SPRECHERIN
Daniela Wolf hatte früher in der Woche vor der Menstruation Momente, in denen ihre „innere Dunkelheit“ so unerträglich wurde, dass sie Todessehnsucht spürte. Und sie sagt heute: Viele haben diese Momente, aber sie sprechen darüber nicht gern, weil sie sich dafür schämen.
SPRECHER
Übrigens: Daniela Wolf - und häufig auch Medizinerinnen und Mediziner - nutzen ganz bewusst die Formulierung „Menschen mit Uterus“, wenn sie über Betroffene sprechen. Denn das schließt auch all diejenigen mit ein, die eine Gebärmutter haben, sich jedoch nicht unbedingt als Frau identifizieren.
SPRECHERIN
Prof. Vanadin Seifert-Klauss vom Klinikum Rechts der Isar in München empfiehlt Betroffenen mit PMDS ebenfalls, je nach Fall, die Einnahme von Antidepressiva. Doch die Scham und das Stigma, unter depressiven Verstimmungen zu leiden und vielleicht einen Psychiater oder eine Psychiaterin aufsuchen zu müssen, die Antidepressiva verschreiben können, sind groß:
ZSP 9 Seifert Klauss: Antidepressiva gegen PMDS (01:06)
Viele Patientinnen, die ich in der Hormonsprechstunde gesehen habe, wollten das nicht für sich in Anspruch nehmen. Die haben gesagt: Ich bin doch nicht psychisch gestört. Das ist abhängig vom Leidensdruck und wie man es vermittelt, das kann auch gegen prämenopausale Beschwerden, gegen Hitzewallungen helfen, da werden Vierteldosen diskutiert.
Wer suizidale Gedanken hat, muss bitte psychiatrisch Hilfe suchen. Ganz eindeutig.
MUSIK: „music for a decent future“ – C160849#026 (0:30)
SPRECHERIN
Daniela Wolf hat das Antidepressivum geholfen, wieder aktiv zu werden. Sie hat Selbsthilfegruppen gegründet, zuhause und auch online auf Instagram, hat ein Buch geschrieben und coacht Frauen mit der gleichen Problematik. Denn das Alleinsein mit dieser Erkrankung, sagt sie, ist für viele ein großes Problem. Reden helfe - und sie rät, offen mit der Erkrankung umzugehen.
ZSP 10 PMDS Dani Wolf - was tun?
Der erste und wichtigste Rat ist immer mit einem Tagebuch anzufangen, das zu schreiben. Ein Zyklustagebuch, aber auch in Verbindung mit einem Emotionstagebuch, wie ein klassisches Tagebuch, wo man von seinem Tag erzählt, aber den Zyklus mit einbezieht.
SPRECHER
Zum Zyklustagebuch raten auch Expertinnen wie Prof. Brigitte Leeners in Zürich. Denn weil alle einen individuellen Zyklus mit individuellen Reaktionen auf die hormonellen Schwankungen haben, muss auch die Therapie darauf abgestimmt werden - sobald die PMDS diagnostiziert wurde.
Das eine Medikament gegen die dysphorische Störung kann es gar nicht geben, resümiert Prof. Brigitte Leeners.
ZSP 11 Leeners: Therapie/Medikamente (01:15)
„Also ich sag mal, ein Medikament, was gezielt ansetzt, das nicht. Die Medikamente, die man hauptsächlich einsetzt mit denen man gegen die Hormonschwankungen im Zyklus einsetzt oder der depressiven Symptomatik entgegenwirkt. Interessanterweise sprechen 40% der Frauen auf eine Pille an, ungefähr 40% auch auf Antidepressiva, manche auf eine Kombination. Ich würde empfehlen, ein ganzheitliches Konzept einzusetzen, wo man Sport und Entspannung einsetzt und schaut, wie weit man die Beschwerden darüber in den Griff kriegt und dann die medikamentöse Therapie mit den Frauen bespricht.“
SPRECHER
Sport und Entspannungstraining können nämlich wichtige Helfer sein, PMS oder gar PMDS besser zu bewältigen, denn Stress – das hat die Forschung ergeben - verschlimmert die Beschwerden rund um den Menstruationszyklus signifikant. Vor allem aber sollte jede Betroffene sich und ihre Beschwerden ernst nehmen, raten die Expertinnen, denn genau diesen wichtigen ersten Schritt sind viele noch immer nicht bereit zu gehen, auch weil sie sich für ihre Periode schämen und sie verstecken. Und das geht selbst Ärztinnen wie Vanadin Seifert-Klauss noch so.
ZSP 12 Seifert-Klauss: Scham rund um Regelbeschwerden
„Ich muss sagen, ich bin aus einer Generation die so, wie Sie geschildert haben, da nicht drüber gesprochen haben. Ich sehe staunend, dass das jetzt viel offener behandelt wird. Und finde das auch nicht schlecht. Ich finde es nur gewöhnungsbedürftig. Und ich selber glaube, dass ich es nicht fertig brächte aus Angst, dass eben dann, wenn man sich mit so etwas typisch Weiblichem identifiziert, dass das im sozialen Kontext auch wieder zu einer Abwertung führen könnte.“
SPRECHERIN
Die Abwertung von Frauen aufgrund ihrer Menstruation scheint also wieder so eine „Geschichte voller Missverständnisse“ zu sein, wie es in der Tampon-Werbung vor rund 30 Jahren wörtlich hieß.
Die Autorin Franka Frei, die sich selbst als Menstruations-Aktivistin bezeichnet, hat die Kulturgeschichte der Regelblutung in ihrem Buch „Die Periode ist politisch“ zusammengefasst.
Die großen Weltreligionen Hinduismus, Islam, Juden- und Christentum bezeichneten laut Franka Frei die Regel früher als Plage oder Strafe Gottes, die die Frau unrein mache, weshalb sich der Mann von blutenden Frauen tunlichst fernhalten sollte.
Dieser traurigen Kulturgeschichte der Periode setzt Franka Frei mit ihrem Buch ein Manifest gegen das Menstruationstabu entgegen. Sie will damit Aufklärungsarbeit leisten, weil sie überzeugt ist, dass die Periode instrumentalisiert wurde, um Frauen machtlos zu halten.
Es sei, so Franka Frei, die Idee entstanden, dass Frauen, die ihr Tage haben, nicht zurechnungsfähig sind und man habe dies mit zweifelhaften Studien untermauert.
ZSP 14 Franka Frei Hysterie und Periode kulturgeschichtlich gesehen (Teil 2)
„Man hat diese Wissenschaft dazu genutzt, um zu sagen: Deswegen sollten Frauen nicht wählen, nicht Auto fahren, nicht zur Uni gehen. Und diese Idee hält sich noch ziemlich lange. Sogar die NASA nahm die vermeintlich irrationale Komplexität und Schwankungen von Menschen, die menstruieren zum Argument dagegen, Frauen als Astronautinnen ins All zu schicken. Man sagte: Das ist zu komplex. Eine komplizierte Maschine und eine psycho komplexe Person - das kann nur schlecht ausgehen. Das war ein offizielles Argument der NASA in den 60er Jahren.
MUSIK: „luicid mind“ – C160849#004 (0:08)
SPRECHER
Was ist also dran an der von Platon beschriebenen Hysterie der Menstruierenden?
SPRECHERIN
Von Hysterie kann keine Rede sein – schon gar nicht während der Regelblutung. Aber: Die meisten Frauen spüren Veränderungen an den Tagen vor den Tagen. Allerdings wird nur ein kleiner Prozentsatz dadurch schwerwiegend eingeschränkt. Sobald die Periode einsetzt, sind die meisten prämenstruellen Symptome vorüber.
SPRECHER
Und was ist dran an der Idee des so genannten „Period Brain“ - also einem so genannten „Perioden-Hirn“ - die davon ausgeht, dass die Menstruation Auswirkungen auf die Hirnleistung hat?
SPRECHERIN
Eine Studie aus dem Jahr 2017 am Universitätsspital Zürich rund um die Forscherin und Klinikdirektorin Prof. Dr. Brigitte Leeners hat das widerlegt. Frauenhirne funktionieren vor, während und nach der Periode gleich gut. Aber emotional kann es zu Beeinträchtigungen kommen - für die es jedoch medizinische Hilfe gibt.
Daniela Wolf, Autorin von „PMDS - Wege zu einem entspannten Zyklus“ will Mut machen - auch mit ihrer eigenen Patientinnengeschichte.
MUSIK: „luicid mind“ – C160849#004 (0:30)
ZSP 15 PMDS Dani Wolf - heute Oton
„Heute geht es mir viel, viel besser. Ich habe wenige Tage mit Symptomen, habe aber auch zehn Jahre Erfahrung mit allem, was man ausprobieren kann. Ich würde sagen, dass ich die Dani mit PMDS vor vier Jahren nicht mehr bin. Weil ich meinen Weg gefunden habe, mit der Erkrankung umzugehen. Mir geht es mit PMDS besser als noch vor einigen Jahren.“
Let's talk about sex! Das Bild des Islam ist konservativ, vor Jahrhunderten aber schrieben muslimische Gelehrte offen über Erotik, Liebe und Sex. Sex wurde wie Essen und Trinken als etwas Natürliches angesehen. Heute ist der Umgang mit Sex im Islam häufig ein anderer. (BR 2021) Autorin: Claudia Steiner
Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Katja Bürkle, Julia Cortis, Christian Schuler
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Ali Ghandour, Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster;
Dr. Meltem Kulacatan, Religionspädagogin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main;
Serdar Kurnaz, Professor für Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart an der Humboldt- Universität zu Berlin;
Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaften von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster;
Fahimah Ulfat, Professorin und Religionspädagogin an der Universität Tübingen
Literaturtipps:
Ali Ghandour, Liebe, Sex und Allah – Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime, C.H. Beck
Meltem Kulacatan, Geschlechterdiskurse in den Medien: Türkisch-deutsche Presse in Europa, Springer VS
Fahimah Ulfat und Ali Ghandour (Hrsg.), Islamische Bildungsarbeit in der Schule: Theologische und didaktische Überlegungen zum Umgang mit ausgewählten Themen im Islamischen Religionsunterricht, Springer VS
Thomas Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab: Das Erbe der Antike und der Orient, C.H. Beck
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATORIN (S. 122)
„Lust auf eine glatte Vulva,
nach Safran duftend!
So eng wie eine Tülle, so voll wie Höcker,
dass ein Penis darin ersticken würde.
Ja, süßer als Honig ist sie für den Genießer.“
SPRECHERIN
… schrieb die Dichterin ʿAmra bint al-Hamāris im 7. Jahrhundert über ihren Körper. Let’s talk about sex – über Jahrhunderte war das in vielen muslimisch geprägten Gesellschaften überhaupt kein Problem.
SPRECHERIN
Verschleierte, entrechtete Frauen, Polygamie, Harems, Homophobie – die westlichen Vorstellungen über Liebe, Leidenschaft, Sex und Erotik in muslimischen Gesellschaften sind nicht selten von Missverständnissen geprägt. Denn zum einen gibt es nicht DEN Islam, sondern unterschiedliche Entwicklungen, Strömungen und Interpretationen vom 7. Jahrhundert bis heute in verschiedenen Ländern, Kulturen und Gesellschaften auf der ganzen Welt. Zum anderen zeigen Schriften, dass in muslimischen Gesellschaften über Jahrhunderte Sex und Liebe gefeiert und als Geschenk Gottes gesehen wurden, sagt Ali Ghandour. Er lehrt am Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster und hat ein Buch mit dem Titel „Liebe, Sex und Allah – Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime“ geschrieben:
O-TON 1 (Ghandour 1, 0.02)
Ja, es herrschen einige Vorurteile über das Thema. Zum Beispiel Sex ist nicht etwas, was mit der Sünde verknüpft wurde bei Muslimen, der Sex ist nicht per se schlecht oder etwas, was dämonisch ist. Sex ist eher positiv konnotiert in der muslimischen Tradition.
MUSIK
SPRECHERIN
Es ging nicht nur darum, wie Männer ihre Lust und den Genuss maximieren konnten, auch die weibliche Lust spielte eine große Rolle.
O-Ton 2 (Ghandour, 1, 0.55)
Zum Beispiel in vielen erotologischen Werken wurde die weibliche Lust ziemlich ausführlich thematisiert, sprich: was die Frau zum Höhepunkt bringt. Auch die Anatomie der Frau wurde in diesen Werken studiert, auch sexuelle Positionen, die der Frau eher gefallen. Also, all das finden wir in diesen Werken. Es ist zwar aus einer männlichen Perspektive geschrieben, aber die weibliche Lust, wurde schon ernst genommen.
SPRECHERIN
So schrieb der Gelehrte Ibn al-Hāddsch im 12. Jahrhundert:
ZITATOR (S. 138)
„Man sollte nicht wie die Unwissenden handeln, die die Frau
ohne jeden Übergang penetrieren. Vielmehr soll man mit der Frau spielen
und in einer erlaubten Weise mit ihr kokettieren,
durch Berührungen, Küsse und Ähnliches. Erst wenn man
merkt, dass sie sich wohlfühlt und für den Akt bereit ist, erst
dann kann man mit ihr Geschlechtsverkehr haben.“
SPRECHERIN
Das westliche Bild des Harems, geprägt von Männerfantasien – vermittelte den Eindruck, dass muslimischen Männern Dutzende oder gar Hunderte Frauen zur sexuellen Verfügung stehen. Der Franzose Jean Auguste Dominique Ingres malte im 19. Jahrhundert barbusige und nackte Frauen, die sich lustvoll auf Diwanen oder in türkischen Bädern räkelten. Tatsächlich waren Harems einfach die Frauenabteilungen von Herrscherhäusern, in denen neben den Frauen auch Dienerinnen und Sklavinnen lebten. Der Begriff Harem geht auf das arabische Wort „haram“ zurück, was „verboten“ heißt. Der Harem war also ein privater Bereich im Palast, der für Außenstehende tabu war.
Eine Zeitzeugin war die Lyrikerin Lady Montagu. Sie lebte mit ihrem Mann, der britischer Botschafter in Konstantinopel war, am Bosporus und besuchte die Gemächer, die den Frauen vorbehalten waren. Sie schrieb, dass die Realität nichts mit den erotischen Gemälden des Orientalismus zu tun hatte, sagt der Islamwissenschaftler Professor Thomas Bauer von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster:
O-TON 3 (Bauer, 5.35)
Die Lady Montagu, die in dem 18. Jahrhundert herumreiste und sich damals schon mokierte über die ganzen Harems-Schilderungen, auch die Schilderung von Frauen-Bädern von Männern aus dem Westen (…) Lady Montagu sagte, dass sie eben die Einzige war, die auch in Frauen-Bädern war und die sah, wie absurd teilweise die Männerfantasien des Westens waren, die ja in einer Zeit entstanden, die ein sehr gespaltenes Verhältnis auch zur Sexualität hatte.
SPRECHERIN
Lady Montagu war zudem der Ansicht, dass türkische Frauen generell deutlich bessergestellt waren als britische.
O-TON 4 (Bauer, 03:46)
Die Lady Montagu sagte, dass die islamische Frau im Grunde freier ist als die britische Frau, weil sie über ihr eigenes Vermögen verfügen kann – was damals ja in England oder auch in Deutschland auch nicht ging. Das heißt, manchmal war die Frau sogar reicher als der Mann, es gibt einen bekannten Fall. Der berühmteste Hadith-Gelehrte überhaupt aus dem 14. Jahrhundert ist Ibn Hadschar al-ʿAsqalānī. Der hatte die allerhöchsten Ämter inne, war Oberkadi in Kairo und hat im Haus seiner Frau gelebt, die eben noch reicher war.
SPRECHERIN
Durchschnittliche Muslime hatten keinen Palast und damit auch keinen Harem, Polygamie aber war - wie in anderen patriarchalischen Gesellschaften auch, zum Beispiel bei den alten Persern und den vorislamischen Arabern – erlaubt. Noch heute wird sie in einigen Ländern wie Pakistan, Afghanistan oder Nigeria praktiziert, in anderen Ländern ist sie verboten. Dabei war die Ehe mit mehreren Frauen im Islam aber nie die übliche Lebensform, sagt die Religionspädagogin Meltem Kulacatan von der Goethe-Universität Frankfurt am Main:
O-TON 5 (Kulacatan, 17.44)
Also (eine Konkubine oder wegen Nebengeräusch) eine Geliebte beziehungsweise mehrere Frauen, das wissen die betroffenen Männer, würde ich jetzt mal sagen - auch in Deutschland, muss man sich erst mal leisten können. Nichts Anderes ist das im Islam. Und es war als Notsituation, Notlösung gedacht für gesellschaftliche Situationen, wo Männer beispielsweise durch Kriege versehrt werden und wo es einen Frauenüberschuss gibt in einem patriarchalischen Kontext, wo Frauen einen Vormund benötigen und hier letzten Endes die Eheschließung mit maximal vier weiblichen Personen - vorausgesetzt, man wird ihnen allen gerecht auf die gleiche Art und Weise - ermöglicht werden sollte.
SPRECHERIN
Neben der Versorgung von Witwen wurden zum Beispiel auch Zweitfrauen genommen, wenn die Ehe mit der ersten Frau kinderlos blieb, sagt der Islamwissenschaftler Bauer:
O-TON 6 (Bauer, ca. 2.40)
Wenn man eine Frau heiratete, und man wollte bei ihr bleiben, hat aber festgestellt, dass der Kinderwunsch unerfüllt bleibt, da hat dann oft eine zweite Frau aus dem Dilemma geholfen. Aber man muss ja auch dazu sagen das ist natürlich, die Frauen untereinander sich ja auch irgendwie verstehen müssen – sonst wird die Ehe ja zu einer Hölle. Und in der Tat hat bei einigen Theologen diese Forderung, alle vier Frauen oder alle Frauen eins, zwei, drei (…) oder vier gleichermaßen gerecht zu behandeln, dazu geführt, dass man auch durchaus Verständnis für die (…) Monogamie entwickelt hat und sagte: eigentlich ist es nicht erlaubt.
SPRECHERIN
Umstritten unter Theologen ist die „Ehe auf Zeit“, eine zeitlich begrenzte Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau. Diese Genussbeziehung – die von schiitischen Strömungen als legitim angesehen wird - kann nur drei Tage oder auch mehrere Jahre dauern. Im Koran heißt es in Sure 4, Vers 24:
ZITATORIN (Koran, Rudi Paret)
Und verboten sind euch die ehrbaren Ehefrauen, außer was ihr an Ehefrauen als Sklavinnen besitzt. Dies ist euch von Gott vorgeschrieben. Was darüber hinausgeht, ist euch erlaubt, nämlich dass ihr euch als ehrbare Ehemänner, nicht um Unzucht zu treiben, mit eurem Vermögen sonstige Frauen zu verschaffen sucht. Wenn ihr dann welche von ihnen im ehelichen Verkehr genossen habt, dann gebt ihnen ihren Lohn als Pflichtteil! Es liegt aber für euch keine Sünde darin, wenn ihr, nachdem der Pflichtteil festgelegt ist, darüberhinausgehend ein gegenseitiges Übereinkommen trefft. Gott weiß Bescheid und ist weise.
SPRECHERIN
Die Frau bekommt also eine Ehegabe. Zudem muss der Mann während der Dauer der Verbindung für die Frau aufkommen. Männer, die sich zeitlich befristet verheiraten, können bereits eine Frau haben, Frauen müssen dagegen unverheiratet sein. Serdar Kurnaz, Professor für Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart an der Humboldt-Universität zu Berlin:
O-TON 7 (Kurnaz, 11.46)
Das ist eine alt-arabischen Tradition, die scheinbar einige Jahre auch (…) während der Lebzeiten des Propheten Mohammed (…) praktiziert worden ist. Die Überlieferungen zeigen, dass er das eine Zeit lang zugelassen hat. Scheinbar soll das die Verhältnisse regulieren, dass wenn jemand sich lange Zeit an einem anderen Ort befindet, (…) das ist eine Beziehung, die man führt, bei der danach ganz klar wird, dass jemand mit jemandem zusammen ist. Und wenn es Kinder aus dieser Ehe gibt beziehungsweise Beziehungen gibt, dann wird dieses Kind dann auch entsprechend identifiziert.
SPRECHERIN
Die Frauen mussten nach Ablauf ihrer Zeitehe zwei Menstruationszyklen warten, bis sie erneut heiraten durften. Im Iran ist die Zeitehe auch heute noch möglich. Die Kritik der Sunniten an dieser Form der Verbindung lautet, dass sie Prostitution ermöglicht, die es aber sowieso über Jahrhunderte gab. Zeitweise existierten Register, in die sich Prostituierte eintragen mussten. Es gab Tavernen, Bordelle und Unterkünfte, in denen man Prostituierte antraf. Prostitution wurde in mehreren Dynastien besteuert und war ein wichtiger Wirtschaftszweig.
In den meisten Epochen wurde das Gewerbe toleriert, manchmal aber auch bekämpft und bestraft, indem Prostituierte zum Beispiel des Viertels verwiesen wurden.
ZITATOR (S.82)
„Den Wein trägt ein Effeminierter in Frauenkleidung,
dessen Schläfe Moringaduft trägt.
Er küsst die Trinker, während
er sich flink unter uns bewegt.
Mal ist er unser Lustgarten
für unsere reifen und steifen Hengste,
mal ist er unser Schenker und Narzisse.“
SPRECHERIN
… schrieb der Dichter Abū Nuwās im 8. Jahrhundert über gleichgeschlechtlichen Sex, der durchaus üblich und verbreitet war. Ali Ghandour:
O-TON 8 (Ghandour, 8, 0.18)
Zum Beispiel, wenn wir jetzt das 9. und 10. Jahrhundert in Bagdad nehmen, waren die gleichgeschlechtlichen Beziehungen sehr verbreitet, auch unter der Oberschicht, aber auch unter der Unterschicht. Und das Gleiche kann man auch über das 15., 16. Jahrhundert in Ägypten sagen oder später auch über Istanbul sagen. Also, es war schon verbreitet, und in meiner Forschung habe ich kaum ein Phänomen, dass wir heute kennen, was nicht damals auch bekannt war und praktiziert war.
SPRECHERIN
Dies führte teilweise sogar dazu, dass sich Frauen in Bagdad weniger feminin gaben, um Männern zu gefallen, sagt der Berliner Wissenschaftler Kurnaz:
O-TON 9 (Kurnaz, ca. 3.02)
Es gab zum Beispiel Frauen, die sich bewusst ähnlich wie die Männer gekleidet haben, um aufzufallen.
SPRECHERIN
Doch die Frage, ob jemand heterosexuell oder homosexuell veranlagt war, stellte sich lange gar nicht. Diese Kategorisierung stammt aus dem späten 19. Jahrhundert. Thomas Bauer:
O-TON 10 (Bauer, 8.22)
In den islamischen Kulturen ging man einfach davon aus, dass alle erwachsenen Männer gleichermaßen sich in hübsche, junge Frauen und in hübsche, junge Männer verlieben können, die unterschiedlichen Vorlieben sah man nicht anders an als unterschiedliche Vorlieben beim Essen. Das heißt also, dass sich in einen jungen Mann zu verlieben war für einen Mann etwas, was (…) ihn nicht zur Überlegung brachte, ob er nun eine andere Identität hätte als andere Männer.
SPRECHERIN
Im Laufe der Jahrhunderte gab es - je nach Rechtsauffassung - gar keine Strafen für gleichgeschlechtlichen Sex bis hin zum Auspeitschen oder der Todesstrafe durch Steinigung. Eine Verurteilung war aber nur dann möglich, wenn vier männliche, muslimische, unbescholtene Zeugen den Akt beobachtet haben.
Das heißt, selbst in Epochen, in denen Sex zwischen Männern offiziell bestraft worden ist, wurden diese Strafen fast nie vollzogen.
SPRECHERIN
Auch Liebes- und Sexbeziehungen unter Frauen sind überliefert. Im 9. Jahrhundert soll eine Dienerin und Sängerin mit dem Namen Badhal vor dem abbasidischen Kalifen al Maʿmūn gesungen haben, dass nichts köstlicher sei als Sex mit einer Frau. Der Kalif soll geantwortet haben, dass der Sex zwischen Mann und Frau besser sei, als lesbischer Sex.
SPRECHERIN
Dies zeige, so Ali Ghandour, wie ungehemmt am abbasidischen Hof selbst vor den Mächtigen über Sex gesprochen werden konnte. Liebes- und Sexbeziehungen unter Frauen galten zwar als moralisch falsch, lösten aber offenbar keine gesellschaftlichen Debatten aus.
SPRECHERIN
Über Jahrhunderte waren die Sichtweisen in Bezug auf Erotik, Liebe, Leidenschaft und Sexualität sehr liberal. Zu einem klaren Wandel kam es jedoch im 19. Jahrhundert, so Ghandour:
O-TON 11 (Ghandour, 9, 0.12)
Durch den Kolonialismus wurden Vorstellungen über die Sexualität und auch eine Sexualmoral verbreitet, die damals ziemlich konservativ war. Wir denken jetzt zum Beispiel an die viktorianische Sexualmoral.
Auch die Einführung von neuen Kategorien, mit denen wir die Sexualität normieren, wie zum Beispiel das Perverse, das Nicht-Natürliche… Oder die Gesetze, die von Franzosen und Engländern erlassen wurden, die zum Beispiel die Homosexualität in den Kolonien verbieten.
SPRECHERIN
Auch der Islamwissenschaftler Thomas Bauer sieht einen deutlichen Anteil des Westens an der heutigen Sexualmoral in muslimisch geprägten Ländern:
O-TON 12 (Bauer, 34,38)
Also, zuerst hielt man islamische Gesellschaften für unmoralisch, und dachte, man muss sie (…) von diesen schrecklichen Lastern befreien. Heute hält man sie für repressiv und sagt: Man muss sie ja von dieser Repression befreien. Das glaube ich ist wirklich ein wichtiger Punkt. Was im Westen ist, was bei uns hier geschieht, es ist immer universell. Solange wir dachten, dass Liebesbeziehungen zwischen Männern etwas Unordentliches sind und diese Muslime sich in diesen schrecklichen Lastern hier suhlen und damit auch zu keiner richtigen Entwicklung kommen, da ist man hingegangen, hat gesagt: Ihr müsst damit aufhören oder auch Polygamie und ähnlichen Dingen. Heute gilt es bei uns ja als ganz normativ, das ist ja was Gutes bei uns. Jetzt geht man hin und sagt: Ihr müsst euch jetzt befreien und in die andere Richtung gehen. Ich glaube, dass diese missionarischen Botschaften, die vom Westen kommen, der sich immer egal welche Meinung er hat, für universell und für Menschheits bildend hält, dass das ein Übel ist.
SPRECHERIN
Nach Ansicht von Ali Ghandour gibt es aber noch weitere Aspekte, die zu einem Wandel geführt haben wie die Entstehung von modernen Nationalstaaten oder auch die Entstehung von muslimischen Ideologien, die mehr oder weniger sexfeindlich waren:
O-TON 13 (Ghandour, 9, 1.23)
Und ein weiterer Grund ist die Landflucht, die im Laufe des 20.Jahrhunderts stattfand und die dazu geführt hat, dass diese alte, urbane, mehr oder weniger bürgerliche Tradition verschwand.
SPRECHERIN
Tatsächlich sind viele muslimische Gesellschaften heute deutlich konservativer als noch vor ein paar Jahrhunderten. Doch solange es um einen normativen Diskurs geht und einen Bezug auf historische Quellen gibt, fühlen sich viele islamische Gelehrte noch immer frei, detailliert über Sex und Erotik zu sprechen, betont Serdar Kurnaz:
O-TON 14 (Kurnaz, 16.30)
Zum Beispiel, wenn es darum geht, welche Pflichten hat der Mann gegenüber der Frau in der Ehe in Bezug auf Geschlechtsverkehr, dann werden auch zum Beispiel so Überlieferung zitiert, und dann wird darüber gesprochen, wie genau ein Geschlechtsakt auszusehen hat. (…) Ich glaube, das hat damit zu tun, dass die Gelehrten sich dazu verpflichtet fühlen, vor allem in dem normativen Diskurs (…) detailliert darzustellen, wie, was gemacht werden kann oder was alles erlaubt ist, um auch der Verpflichtung gerecht zu werden, dass sie all das, was sie für richtig halten, den Menschen auch entsprechend kommunizieren. Da fühlen Sie sich frei. Da geht es auch darum, zum Beispiel bestimmte sexuelle Praktiken (…), zum Beispiel Sexspielzeuge zu benutzen, Cremes zu benutzen und so weiter, um die Lust zu maximieren, nehmen sie dann als Anlass, eine normative Aussage darüber zu treffen, - und dann wird es auch recht detailliert und recht offen.
SPRECHERIN
Moderne Sexualpädagogik für junge Musliminnen und Muslime in Deutschland dreht sich – wie bei jungen Menschen anderer Religionen auch - um Fragen wie: Wie gehe ich mit meinem Körper um? Wie gehen wir mit unserer Lust um? Was bedeuten Verlobung und Hochzeit? Welche Verhütungsmöglichkeiten gibt es? Die Frankfurter Religionspädagogin Meltem Kulacatan:
O-TON 15 (Kulacatan, 14.20)
Es gibt ja auch Sexualaufklärer/innen - muslimische, die hier pädagogische Arbeit leisten, sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden und in Schweden beispielsweise. Die werden häufig von den jungen Menschen angerufen, auch frequentiert und angefragt.
SPRECHERIN
Die Religionspädagogin Fahimah Ulfat, Professorin an der Universität Tübingen, plädiert deshalb dafür, dass Sexualität nicht nur im Biologie-, sondern auch im Religionsunterricht thematisiert wird:
O-TON 16 (Ulfat, 3.1, 1.20)
Ja, im islamischen Religionsunterricht ist es zum Beispiel sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass Sexualität ein Teil des Menschseins ist. Und dass es auch wichtig ist, die eigene Sexualität nicht zu unterdrücken, sondern sich über seinen eigenen Körper bewusst zu werden, sich ein Bild von den eigenen Genitalien und dem Körperinneren zu machen, das heißt auch, seinen eigenen Körper zu erfahren.
SPRECHERIN
Viele muslimische Jugendliche befänden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Tabuisierung und Liberalisierung von Sexualität.
O-TON 17 (Ulfat, 2, 2.00)
Beispielsweise wird in manchen konservativen Familien Sexualität zum Teil tabuisiert. Es wird mit Scham und Respekt verbunden, und man spricht eben nicht darüber und zum Teil wird auch ein enger Zusammenhang zwischen Jungfräulichkeit und Ehre hergestellt. Und mit diesem Konzept der Familienehre gehen auch geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen einher.
SPRECHERIN
Andere junge Muslime kritisierten die traditionellen Rollenbilder und die Moralvorstellungen von Keuschheit und Ehre, so Ulfat:
O-TON 18 (Ulfat, 2.48)
Sie äußern sich eben kritisch zu den Einstellungen, das Männer zugebilligt wird, sexuelle Erfahrungen vor der Ehe zu sammeln, aber von Frauen erwartet wird, dass sie jungfräulich in die Ehe gehen. Und sie verurteilen auch diese starren Geschlechterrollen und die unterschiedliche Sexualmoral in Bezug auf die Geschlechter. Es gibt aber auch muslimische Jugendliche, die ihre Sexualität als ihre private Angelegenheit ansehen und Sexualität ist dann auch für sie ein selbstverständlicher Teil ihrer persönlichen Identität. Aufklärung findet zum Beispiel innerhalb der Familie sehr früh in einer offenen Art und Weise statt und Ehre wird auch von den Eltern nicht am Sexualleben der Tochter festgemacht. (…) Und dann gibt es natürlich auch Beispiele für junge Musliminnen, die sich eben nicht an diese Virginitätsnorm halten und sexuelle Erfahrungen auch außerhalb der Ehe sammeln.
SPRECHERIN
Untersuchungen zeigen, dass die Art und Weise, wie Muslime heutzutage in unterschiedlichen Ländern über die Sexualität sprechen, wie sie ihre Sexualität leben, eben nicht nur von der Religion abhängt. Ali Ghandour:
O-Ton 19 (Ghandour, Take 11, 0.24)
Zum Beispiel die soziale Herkunft oder die Bildung spielen hier eine wesentliche Rolle. Das heißt, in der Oberschicht und in der Mittelschicht, in den urbanen Milieus, in den muslimisch geprägten Ländern wird offener mit dem Thema umgegangen als jetzt auf dem Land oder in bildungsfernen Milieus oder in der Unterschicht. Es ist auch eine soziale Frage, wie man mit dem Thema umgeht, hat auch mit Privilegien zu tun und nicht nur (…) mit der Religion oder mit einem bestimmten Islamverständnis zu tun.
SPRECHER / ZITATORIN (abwechselnd)
Zügellos. Zurückhaltend. Schamlos. Schambehaftet. Freizügig. Bedeckt. Homophob. Erotisch. Selbstbewusst. Lust-betont. Orgiastisch.
SPRECHERIN
Es gibt nicht DEN Islam, nicht DIE allgemeingültigen Regeln für Sexualität und Liebe, sondern unterschiedliche Interpretationen, Ausprägungen, Ansichten und Lebensweisen – die je nach Epoche, Region und Gesellschaftsschicht fluide sind.
Mohammed ist für die Muslime der letzte und wichtigste Prophet. Der Erzengel Gabriel erschien ihm im Alter von etwa 40 Jahren und offenbarte ihm die Suren des Koran. Autorin: Claudia Steiner
Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Philipp Bruckmayr, Professor für Islamwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg;
Tuba Işık, Professorin für Islamische Religionspädagogik und Praktische Theologie an der Berliner Humboldt-Universität;
Mira Sievers, Juniorprofessorin für Islamische Glaubensgrundlagen, Philosophie und Ethik an der Berliner Humboldt-Universität.
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Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion:
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Das Tagebuch der jungen Undercover-Journalistin Paula Schlier gibt uns heute, 100 Jahre später, einen seltenen Einblick in die Anfänge des Nationalsozialismus in München. Aber wer war diese Frau, was hat sie motiviert, war sie überhaupt eine Heldin? Die BR-Reporterin Paula Lochte begibt sich auf Spurensuche.
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Literaturtipps:
Tilman Nagel, Mohammed – Leben und Legende, Oldenburg Verlag.
Tuba Işık, Die Bedeutung des Gesandten Muhammad für den Islamischen Religionsunterricht. Systematische und historische Reflexionen in religionspädagogischer Absicht, Verlag Ferdinand Schöningh
Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, Kohlhammer.
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MUSIK 1: Diversion – CD682530007 – 1:12 Min
ZITATOR
Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes.
Trag vor im Namen deines Herrn, der erschaffen hat,
den Menschen aus einem Embryo erschaffen hat!
Trag Worte der Schrift vor!
Dein höchst edelmütiger Herr ist es ja,
der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat,
den Menschen gelehrt hat,
was er zuvor nicht wusste.“
SPRECHERIN
Koran, Sure 96, Vers 1 bis 5. Der Überlieferung nach erschien Mohammed etwa im Alter von 40 Jahren in einer Höhle auf dem Berg Hira der Erzengel Gabriel. Der Engel ergriff ihn. Er befahl Mohammed, der Analphabet war, zu lesen und die Offenbarung vorzutragen. Noch heute gedenken Muslime in der 27. Nacht des Fastenmonats Ramadan dieser ersten Offenbarung – im Arabischen heißt sie Lailat al Qadr, ‚Nacht der Bestimmung‘ oder ‚Nacht des Schicksals‘. (Musik aus)
SPRECHERIN
Mohammed, der sich zur Meditation in die Einsamkeit der Berge in der Nähe der arabischen Stadt Mekka zurückgezogen hatte, war von der Begegnung mit dem Erzengel zutiefst verstört, sagt Tuba Işık. Sie ist Professorin für Islamische Religionspädagogik und Praktische Theologie an der Berliner Humboldt-Universität:
O-TON 1 (Isik, 5.35)
Und zunächst einmal ist er so überwältigt von dieser Begegnung, dass er von diesem Berg dann sozusagen runterrennt und zunächst einmal zu seiner Frau sich begibt. Und er sagt, also so wird es auch dann in den späteren Offenbarungen sogar noch einmal beschrieben: Umhülle mich. Er zittert am ganzen Körper, so eine Reaktion, wenn man Angst hat auch, zu zittern, zu frieren. Und im Anschluss daran gehen Chadidscha und Mohammed gemeinsam zu dem christlichen Vetter von Chadidscha, der ihm mehr oder weniger eigentlich diese Erfahrung dann deutet. Und er deutet sie so, dass er sagt: Du bist ein Auserwählter Gottes, du bist ein Prophet.
SPRECHERIN
Im Islam wird auch Jesus als Prophet angesehen – aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zur christlichen Sicht, sagt Mira Sievers, Juniorprofessorin für Islamische Glaubensgrundlagen, Philosophie und Ethik an der Berliner Humboldt-Universität:
O-TON 2 (Sievers, 13.27)
Der Prophet hat sich selbst verstanden als ein Prophet, so wie auch die biblischen Propheten bereits Propheten waren: Also es ist der gleiche Ursprung, aber es ist natürlich eine eigenständige Offenbarung, eine eigenständige Verkündigung. Und es geht durchaus auch einher mit verschiedenen kritischen Auseinandersetzungen mit früheren Perspektiven, also zum Beispiel mit der Vorstellung, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Das ist etwas, das im Korantext selbst abgelehnt wird und wo wir sagen können, das hat der Prophet sicherlich selbst auch abgelehnt. Und er hat niemals beansprucht, selbst Sohn Gottes zu sein.
SPRECHERIN
In Sure 18, Vers 110 heißt es:
ZITATOR
Sag: Ich bin nur ein Mensch wie ihr, einer dem als Offenbarung eingegeben wird, dass euer Gott ein einziger Gott ist. Wer nun damit rechnet, am Tag des Gerichts seinem Herrn zu begegnen, soll rechtschaffen handeln und, wenn er seinen Herrn verehrt, ihm niemand beigesellen.
SPRECHERIN
Diese Stellung Mohammeds wird auch später immer wieder betont. Der Islamwissenschaftler Philipp Bruckmayr lehrt an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg:
O-TON 3 (Bruckmayr, 21.15)
Auch in einem überlieferten historischen Dokument aus einer Lebenszeit, der sogenannten Gemeindeordnung von Medina (…) bezeichnet er sich eben als Rasul Allah, also der Gesandte Allahs. Und das stellt ja auch sozusagen der koreanische Text dann später klar, dass er eben auch der letzte seiner Art ist, also das sogenannte Siegel der Propheten, dass er sozusagen diesen Zyklus der göttlichen Offenbarungen eigentlich beendet. Und eben nach muslimischer Auffassung die letztgültige, und fortan ewig gültige Botschaft bringt.
SPRECHERIN
Als Mohammed um 570 als Kind einer arabischen Großfamilie in Mekka geboren wurde, war er bereits Halbwaise. Sein Vater starb vor seiner Geburt. Er wurde – wie damals üblich - von einer Amme aufgezogen. Der Überlieferung nach gab es schon früh Hinweise für Mohammeds spätere Rolle als Prophet und Gründer des Islam. Seine Reinheit und Fehlerlosigkeit sind in der traditionellen Betrachtung Mohammeds sehr wichtig. Die Berliner Theologin Tuba Işık:
O-TON 4 (Isik, 12.10)
Es gibt zum Beispiel eine Überlieferung, in der gesagt wird, als der Propheten bei seiner Milchmutter lebte, kamen zwei Engel in Menschengestalt, haben seine Brust geöffnet und sein Herz gewaschen. Das ist eine sehr wichtige Überlieferung für später sozusagen, um eine ganz bestimmte Doktrin auch nochmal zu bestärken, nämlich die Doktrin der Unnachahmlichkeit des Koran. Das bedeutet, dass der Koran sozusagen nicht Menschenwort, also nicht Worte des Propheten sind, sondern göttlicher Natur sind.
SPRECHERIN
Etwa im Alter von sechs Jahren, möglicherweise auch etwas später, verlor Mohammed auch seine Mutter Amina. Danach wuchs er bei seinem Großvater, später bei seinem Onkel auf. Seine Familie gehörte zum Stamm der Kuraisch, die zur Sippe der Haschemiten gehörte. Es war eine Handelsfamilie und so begleitete Mohammed, der als Kind Ziegen hütete, schon als Jugendlicher Karawanen. Bei einer der Reisen soll ein christlicher Mönch in Syrien ihm seine prophetische Berufung vorausgesagt haben. Als junger Mann war Mohammed dann Karawanenführer. Tuba Işık:
O-TON 5 (Isik, 3.10)
Er hat sich tatsächlich auch ausgezeichnet in diesem Beruf des Handelsmanns, weil er sehr aufrichtig war und auch erfolgreich war. Also, das hat ihn sozusagen auch noch einmal eine ganz eigene Stellung innerhalb der Mekkaner verliehen. Er war eben der El Amin, der Vertrauenswürdige – also dadurch, dass er sehr aufrichtig und sehr ehrlich war und ein guter Handelsmann.
SPRECHERIN
Seine spätere Frau Chadidscha, eine wohlhabende Witwe, wurde auf den talentierten Karawanenführer aufmerksam.
Die etwa 15 Jahre ältere Geschäftsfrau heiratete Mohammed als dieser etwa 25 Jahre alt war. Es soll eine glückliche Ehe gewesen sein. Bis zu ihrem Tod war sie seine einzige Frau. Das Paar bekam vier Mädchen und drei Jungen, die Buben starben allerdings früh. Chadidscha war der Überlieferung zufolge eine starke Frau. Während der ersten Offenbarungen war Mohammed verzagt und verängstigt – er soll sogar Selbstmordgedanken gehegt haben. Seine Frau aber tröstete und bestärkte ihn. Sie bekannte sich als eine der ersten zum Islam. Nach etwa drei Jahren begann Mohammed öffentlich zu predigen, auch dabei unterstützte ihn seine Frau. Mira Sievers:
O-TON 6 (Sievers, 5.14)
Und die Quellen sagen uns, dass diese Frau für ihn eine extrem wichtige Stütze war, also sowohl bei der Einordnung der Erfahrungen mit der Offenbarung als auch ansonsten beim Umgang mit der Opposition gegen seine Predigt in Mekka.
ATMO von einem arabischen Markt
SPRECHERIN
Denn die wohlhabenden Kaufleute aus Mekka waren alles andere als begeistert von Mohammeds Predigten. Mekka war damals ein geschäftiger Ort und ein wichtiges Handelszentrum. Die Stadt war der Knotenpunkt von Karawanenstraßen, die den Süden Arabiens mit Syrien und Mesopotamien verbanden. Über Mekka lief zum Beispiel das Geschäft mit jemenitischem Weihrauch und chinesischer Seide. Es gab Jahrmärkte und Messen. Geldgier, Wucher und hohe Zinsen waren üblich – Praktiken, gegen die sich Mohammed aussprach. In Sure 2, Vers 278 heißt es:
ATMO Markt weiter + Musik: „Diversion“ – siehe vorn – 16 Sek
ZITATOR
Ihr Gläubigen! Fürchtet Gott! Und lasst künftig das Zinsnehmen bleiben, wenn ihr gläubig seid!
SPRECHERIN
Der Islamwissenschaftler Philipp Bruckmayr:
O-TON 7 (Bruckmayr, 6.17)
Seine Predigt stößt (…) eben auch auf Opposition in der Stadt Mekka. Und dadurch beginnt eben auch hier sehr früh eben eine Phase der Gegnerschaft in seiner Heimatstadt Mekka, ihm gegenüber und seinen Anhängern gegenüber und eben auch eine Phase der Verfolgung und Unterdrückung.
SPRECHERIN
Denn Mohammed sprach sich nicht nur gegen Geldgier und Wucher aus, er predigte auch, dass es nur einen Gott gebe. In Mekka gab es damals jüdische und christliche Gemeinden, aber auch Menschen, die an viele Götter glaubten. Sie pilgerten zu verschiedenen Wallfahrtsstätten und beteten Götzen an. Philipp Bruckmayr:
O-TON 8 (Bruckmayr, 12.58)
Da koexistieren mehrere religiöse Traditionen nebeneinander auf der Arabischen Halbinsel. Einerseits das, was man als das altarabische Heidentum bezeichnen könnte mit verschiedenen Gottheiten, die oft auch sozusagen als Standbilder im Sinne einer Götzenverehrung verehrt werden. Das schließt die Idee eines Hauptgottes nicht aus, aber es ist generell ein polytheistisches System. Eines der ganz wichtigen Zentren des altarabischen Heidentums ist eben die Stadt Mekka mit der Kaaba, also diesem kubusförmigen Gebäude, in dem in vorislamischer Zeit laut Überlieferungen ein Standbild des Gottes Hubal sich befunden hat. Und dieses Heiligtum hat eben die Stadt Mekka gleichzeitig auch zu einem wichtigen Wallfahrtszentrum, zu einem Pilgerort gemacht.
SPRECHERIN
Bis heute ist die Kaaba, in deren Mauer ein schwarzer Meteorit eingelassen ist, jedes Jahr Ziel von Millionen muslimischer Pilger. Und schon zu Mohammeds Zeiten war ein Teil der wohlhabenden Mekkaner abhängig von den Einkünften aus der Pilgerfahrt. Sie waren deshalb nicht gerade begeistert, dass ihre Einnahmequellen versiegen sollten.
SPRECHERIN
Der Druck auf Mohammed und seine kleine Gemeinde nahm immer mehr zu. Ein Teil seiner Anhängerschaft wanderte deshalb ins benachbarte Äthiopien aus. Mohammed und andere Mitglieder der jungen muslimischen Gemeinde blieben zunächst weiter in Mekka. Als jedoch das Oberhaupt seines Clans starb, der Mohammed und seinen Anhängern Schutz bot, wurde die Lage zu gefährlich. Im Jahr 622 entschlossen sie sich, in die etwa 350 Kilometer nördlich gelegene Oasenstadt Medina, die damals noch Yathrib hieß, auszuwandern. Die dortige Gemeinde hatte Mohammed gebeten, einen Streit zu schlichten und bot ihm im Gegenzug Schutz an, so der Islamwissenschaftler Philipp Bruckmayr:
O-TON 9 (Bruckmayr, 8.49)
Dieses Jahr um diese Auswanderung stellt eben den Beginn der islamischen Zeitrechnung, also des sogenannten Hidschra-Jahres dar und Hidschra bedeutet eben eigentlich Lossagung in diesem Rahmen, aber eben im Sinne von Auswanderung. Und damit beginnt wieder eine ganz neue Phase (…) mit dieser Auswanderung von Mekka nach Medina, der neuen Gemeinde, der neuen Religion und auch in der Biografie des Propheten.
SPRECHERIN
Yathrib wurde bald in Medina umbenannt, die Kurzform für Medinat an-Nabi, die Stadt des Propheten. In Medina verfasste Mohammed eine Gemeindeordnung. Während zuvor die Menschen nur durch ihre Stammeszugehörigkeit verbunden waren, gab es nun eine religiöse Komponente, die Verbundenheit durch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gläubigen, der sogenannten Umma. Auch das Zusammenleben der neuen Einwanderer und der alteingesessenen Bevölkerung wurde geregelt. In Medina lebten mehrere jüdische Stämme. Zwar entstand die neue Gemeindeordnung ohne eine Beteiligung der jüdischen Gruppen, dennoch wurden ihre Rechte und Pflichten festgelegt. Philipp Bruckmayr:
O-TON 10 (Bruckmayr, 25.20)
Trotzdem ist es insofern ein sehr relevantes, historisches Dokument, weil es eines der frühesten ist, in dem man sieht, dass sozusagen ein multikonfessionelles Gemeindewesen organisiert werden soll, indem eben hier nicht nur Muslime inkludiert werden, sondern explizit eben auch jüdische Gruppen.
SPRECHERIN
Völlig konfliktfrei war das multikonfessionelle Gemeindewesen jedoch nicht. Jüdische Stämme aus Medina wurden teils vertrieben, Frauen und Kinder als Sklaven verkauft.
ATMO Gebetsruf Muezzin (14 Sek)
SPRECHERIN
In Medina wurden die ersten Moscheen errichtet, die Gebetsrichtung nach Mekka wurde festgelegt, ebenso islamische Pflichten wie das Verteilen von Almosen, also von Spenden, und das Fasten.
SPRECHERIN
Nachdem Mohammeds erste Frau Chadidscha um das Jahr 619 in Mekka starb, heiratete er erneut. Als bedeutender Anführer hatte Mohammed – wie damals üblich - mehrere Frauen. Teilweise waren es politisch motivierte Ehen, um Stämme an sich zu binden. Doch es soll auch Liebesheiraten gegeben haben. Es heißt, seine Lieblingsfrau soll Aischa gewesen sein, die Tochter eines seiner frühesten Anhänger, des späteren ersten Kalifen, Abu Bakr. Tuba Işık:
O-TON 12 (Isik, 28.59)
Und der Prophet hat natürlich auch mit andersgläubigen Frauen, also auch mit einer Jüdin und mit einer Christin auch geheiratet, um auch da deutlich zu machen, das ist möglich. Und auf der anderen Seite gab es natürlich ja sehr viele Kämpfe, und sehr viele Männer sind gefallen, und sehr viele Frauen mussten, so war die Clangesellschaft im siebten Jahrhundert auch, man musste immer in der Obhut eines Clans stehen, um nicht vogelfrei zu sein und frei verfügbar zu sein. Das war für Frauen viel, viel schwieriger als für Männer. (…) Und um das zu verhindern, wurden Frauen auch angeheiratet, also um sie sozusagen in den Schutz und in die Obhut eines Clans über diesen Mann dann tatsächlich zu holen.
SPRECHERIN
Auch wenn Männer weiterhin privilegiert waren, hat sich die Stellung der Frau unter Mohammed verbessert. Philipp Bruckmayr.
O-TON 13 (Bruckmayr, 27.54)
Es gibt aber doch einige Anzeichen daraufhin, dass eigentlich durch den Koran, durch den Propheten Mohammed sich in vielen Bereichen eine größere Rechtssicherheit für Frauen ergeben hat, was nichts daran geändert hat, das sozusagen Männer (…) in praktisch allen Bereichen in einer privilegierten Position waren. Trotzdem ergab sich vermutlich eine größere Rechtssicherheit für Frauen im Bereich der Ehe beispielsweise, im Bereich des Erbrechts.
SPRECHERIN
Die Zahl der Ehefrauen wurde auf höchstens vier begrenzt – und auch dies war nur unter der Voraussetzung erlaubt, dass der Mann alle Frauen gerecht behandelte und ausreichend versorgen konnte.
SPRECHERIN
In Medina schlossen sich immer mehr Menschen Mohammed an. Doch einige Stämme weigerten sich hartnäckig, auch die Einwohner seiner Heimatstadt Mekka. Es kam immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen. In der Schlacht von Badr im Jahr 624 schlug Mohammeds Armee die Kämpfer aus Mekka. Der Sieg der zahlenmäßig unterlegenen muslimischen Armee wird im Koran als Zeichen der Hilfe Allahs gesehen. In Sure 3, Vers 123 bis 125 heißt es:
ZITATOR
Gott hat euch doch seinerzeit in Badr zum Sieg verholfen, während ihr eurerseits ein bescheidener, unscheinbarer Haufe waret. Wenn ihr geduldig und gottesfürchtig seid, und wenn sie jetzt sofort gegen euch daherkommen, unterstützt euch euer Herr sogar mit fünftausend Engeln, die im Sturm gegen den Feind vorpreschen.
SPRECHERIN
Zwar folgte ein Jahr später eine Niederlage beim Berg Uhud, aber kurz darauf scheiterte der Gegenangriff Mekkas. Mohammed hatte um Medina einen Graben ausheben lassen, der den Angriff der Gegner stoppte. Sure 9, Vers 29.
ZITATOR
Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Gott und den jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten haben, und nicht der wahren Religion angehören – von denen, die die Schrift erhalten haben – kämpft gegen sie, bis sie kleinlaut aus der Hand Tribut entrichten!
SPRECHERIN
Für die Interpretation vieler Passagen im Koran, sei es wichtig, die gefährliche Lage für die junge, muslimische Gemeinde zu berücksichtigen, so Mira Sievers:
O-TON 14 (Sievers 28.28)
Das Wirken des Propheten, die Offenbarung des Korans insgesamt ist einzuordnen in den historischen Kontext und es auch nur zu verstehen ausgehend vom historischen Kontext. Der Prophet war mit Kriegen konfrontiert, er war konfrontiert mit einer sehr gewaltvollen Situation auf der Arabischen Halbinsel und hat in diesem Kontext gehandelt.
SPRECHERIN
Erst im Jahr 630 nach Christus gelang es Mohammed, seine Heimatstadt Mekka zurückzuerobern. Mohammed ließ die Götzenbilder bei der Kaaba zerstören – von nun an ist die Kaaba ein rein islamisches Heiligtum.
Dieser militärische Erfolg half ihm bei der Verbreitung seiner Lehre nicht nur in Mekka, sondern auf der Arabischen Halbinsel. Mohammed machte die Wallfahrt nach Mekka, im Arabischen Hadsch genannt, zur religiösen Pflicht für alle Muslime.
SPRECHERIN
Mohammed starb im Jahr 632 in den Armen seiner Frau Aischa. Sein Grab befindet sich in Mekka. Weit mehr als tausend sogenannte Hadithe, Überlieferungen über das Leben des Propheten, sollen auf Aischa zurückgehen.
MUSIK aus
SPRECHERIN
Für Muslime ist der Prophet Mohammed nicht nur derjenige, der die Offenbarung empfangen hat, er ist für sie ein wichtiges Vorbild – bis heute. Wann immer gläubige Muslime den Namen des Propheten erwähnen, sagen sie: Gott segne ihn und schenke ihm Heil. Mira Sievers:
O-TON 15 (Sievers, 26.27)
Und insofern schaut man natürlich sehr stark darauf, wie der Prophet gelebt hat, wie er gewirkt hat, und ich würde sagen, (…) er ist natürlich auch eine Persönlichkeit, die unglaublich viele Muslime und Muslime bezaubert hat, fasziniert. Und das geht sozusagen von der Großzügigkeit des Propheten über das Lächeln des Propheten bis hin zu seinem guten Charakter.
SPRECHERIN
Die Bewunderung für den Propheten ist sicherlich ein Grund dafür, dass viele Muslime in der Vergangenheit aufgebracht, empört und teilweise auch gewaltsam auf Mohammed-Karikaturen reagierten, wie sie zum Beispiel im Jahr 2005 von der dänische Zeitung Jyllands-Posten oder 2006 von der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo veröffentlicht worden sind. Eine der Zeichnungen in Jyllands-Posten zeigte beispielsweise Mohammed mit einem Turban in Form einer Bombe, auf der das islamische Glaubensbekenntnis stand – also die Worte "Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Gesandter“. Die Folge waren Demonstrationen, Ausschreitungen und eine diplomatische Krise zwischen mehreren muslimisch geprägten Ländern und Dänemark. Der Islamwissenschaftler Philipp Bruckmayr:
O-TON 16 (Bruckmayr, 38.28)
Was in den letzten Jahrzehnten da sicherlich auch mit hineingespielt hat, ist sicherlich ein generelles Gefühl der Abwertung durch den Westen, das da sozusagen auch auf die Psychologie der Muslime einwirkt. Und man kann in diesem Fall ja vielleicht wirklich sagen, dass eben dann die Figur des Propheten herhalten muss für die Ehre des Islams als Ganzes. Natürlich sind diese Reaktionen, wenn wir jetzt einmal absehen, von individuellen Extrem-Reaktionen oder von Extrem-Reaktionen bestimmter kleinerer Gruppen der Muslime, im Sinne von Terroranschlägen, von Morden, mit denen man meint, diese Beleidigung des Propheten sühnen zu müssen. Wenn man von dem absieht und sich ein bisschen mehr die systemische, auch politische Ebene bei staatlichen Reaktionen anschaut, dann muss man natürlich auch bedenken, dass hier oft die Geopolitik oder eben auch die Identitätspolitik der Staaten oder bestimmter Player in der muslimischen Welt da natürlich mithineinspielt. Also ein Beispiel dafür wäre: Bei den Demonstrationen beispielsweise in Syrien nach den Jyllands Posten-Mohammed-Karikaturen sind reihenweise dänische Flaggen angezündet wurden. Und man würde jetzt nicht davon ausgehen, dass allzu viele Leute in Syrien daheim dänische Flaggen haben. Das heißt, es liegt natürlich der Verdacht nahe, dass diese Form von Protest auch von staatlicher Seite geschürt und unterstützt worden ist.
SPRECHERIN
Hirtenjunge, Karawanenführer, Händler, Prophet, Staatsmann, Sozialreformer. Für gläubige Muslime ist Mohammed der letzte und wichtigste Prophet. Sie orientieren sich bis heute an den überlieferten Handlungen und Aussprüchen Mohammeds. Mira Sievers:
O-TON 17 (Sievers, 33:40)
Also mir wäre es wichtig, den Propheten Mohammed vor allen Dingen als eine religiöse Figur wahrzunehmen. Denn das ist etwas, was auch in der Forschungsgeschichte immer wieder in unterschiedliche Richtungen ging. Also ist sozusagen der Prophet jemand, der vor allen Dingen durch Judentum und Christentum zu erklären ist? Oder ist der Prophet vor allen Dingen durch das arabische Element zu erklären? Ist er ein Politiker? Ist er ein Staatsmann? (…) Welche Rolle hat er? Ist er ein Sozialreformer? Ich würde sagen zuallererst ist der Prophet wirklich ein Prophet. Das heißt, er hat die islamische Religion ausgehend von der koranischen Offenbarung vermittelt, und das ist aus muslimischer Sicht sein zentrales Verdienst.
Er kommt, wenn es kalt wird, hat einen langen Bart, einen dicken Bauch, und er bringt schöne Geschenke. Wer glaubt, diese Figur gibt es nur bei uns, der irrt: Mit anderen Namen kennt man sie sogar in China. (BR 2014) Autorin: Bettina Weiz
Credits
Autor/in dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christiane Blumhoff, Friedrich Schloffer
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Bernhard Kastner
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Mikrowellen erhitzen Speisen schier magisch, von innen heraus. Der Herd mit den elektromagnetischen Wellen erfährt viel Skepsis, könnte aber eine Renaissance erleben. Einen Wendepunkt unserer Esskultur markiert er in jedem Fall. (BR 2020) Autorin: Inga Pflug
Credits
Autor/in dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner, Ann-Isabelle Zils, Florian Schwarz, Diana Gaul, Peter Weiß
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dipl.-Ing. Moritz Heber, Deutsches Museum München, Kurator u.a. für Haustechnik;
Prof. Dr.-Ing. John [joːn] Jelonnek, Karlsruher Institut für Technologie, Leiter Institut für Hochleistungsimpuls- und Mikrowellentechnik;
Prof. Dr. Gunther Hirschfelder, Universität Regensburg, Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft, Volkskundler und Kulturanthropologe
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 (CD516970005 Benny Goodman Sextet: Slipped Disc 0’59)
Sprecherin1:
Januar 1945. Während sich die Welt bekriegt, stecken Ingenieure in den Laboren von Raytheon in Waltham, Massachusetts ihre Köpfe zusammen. Sie tüfteln an einem Radar-Gerät. Die Technik ist für das Militär gedacht. Da fühlt Radar-Forscher Percy Spencer plötzlich etwas Warmes in seiner Hosentasche – und findet einen geschmolzenen Schokoriegel. Der ist nicht etwa nur durch seine eigene Körperwärme aufgeweicht. Etwas anderes muss ihn erwärmt haben – regelrecht aufgeheizt! Fasziniert geht der Tüftler der Ursache auf den Grund, findet sie in den elektromagnetischen Strahlen des Radargeräts – und bis zur Entwicklung des Mikrowellenherdes ist es nur noch ein kleiner, logischer Schritt.
Sprecherin2:
So geht die Geschichte von der Erfindung der Mikrowelle. Oder doch nicht?
OT1 Heber:
Das ist dieser Mythos, sag ich jetzt mal, auf dem man immer wieder stößt, den man aber ein Stück weit eigentlich hinterfragen muss. Also das ist so eine Serendipity Erzählung sagen wir dazu, also eine Erzählung von einem glücklichen Zufall, der zu einer großartigen Erfindung geführt hat…
Sprecherin2:
… sagt Moritz Heber, vom Deutschen Museum in München.
OT2 Heber:
… das Klettband, Penicillin, Teflon, das sind so Beispiele für glückliche Zufälle. Im Fall der Mikrowelle stimmt das nicht ganz, und es ist ganz interessant, welchen Weg diese Erfindung eigentlich genommen hat.
Sprecherin2:
Der Krieg, die Radar-Forschung – sie haben tatsächlich mit der Mikrowelle zu tun. Doch den Ausgangspunkt für den Siegeszug des Mikrowellenherdes sieht Moritz Heber nicht in Massachusetts, sondern in Großbritannien:
OT3 Heber:
In den 30er Jahren, als man also wirklich große Angst hatte vor dem drohenden Krieg, haben viele in vielen Ländern, also nicht nur Großbritannien, auch Deutschland, USA, Japan, alle an Radargeräten geforscht. Und den Engländern ist 1940 in der Beziehung ein echter Durchbruch gelungen. Das Magnetron, also das ist das Kernstück, das eben diese Mikrowellenstrahlung erzeugt, das war bis dahin sehr groß und schwer. Und die Engländer haben 1940 ein Magnetron erfunden, was sehr klein war, sehr leicht und was sich dadurch auch in Flugzeuge einbauen ließ. Aber sie konnten es nicht in großen Stückzahlen fertigen. Und deswegen ist Großbritannien an die USA herangetreten und hat gesagt, also wir legen unsere Forschungsergebnisse offen, unsere Erfindung teilen wir mit euch. Aber ihr müsst uns diese Magnetrone bauen.
Sprecherin2:
So kommt die Erfindung erst in die USA – und dort in das Forschungslabor zu Percy Spencer.
MUSIK 2 (Z9379852205 Django Reinhardt: Swing Guitars 0‘33)
Sprecherin1:
Und tatsächlich setzt sich der Tüftler dort auch mit der erhitzenden Wirkung von Mikrowellen auseinander. Er bereitet das erste Mikrowellen-Popcorn zu –
und auch Eier lässt er unter dem Einfluss der elektromagnetischen Wellen aus dem Magnetron explodieren, berichtet Moritz Heber. Doch an eine reine Zufallsentdeckung will der Hausgeräte-Experte nicht glauben. Denn:
OT 04 Heber:
Dieser Effekt, dass elektromagnetische Strahlung Wärme induziert, also Wärme hervorruft, der war schon lange bekannt. Spencer selbst schreibt in seinem Patent auch, dass das eigentlich nicht neu ist. Aber dass es eben jetzt besonders effektiv ist.
Sprecherin2:
Für wahrscheinlicher hält es Moritz Heber deshalb, dass der Rüstungskonzern Raytheon sich in den 1940er-Jahren bereits auf eine Zeit nach dem Krieg vorbereitet und zivile Märkte erschließen will. Und da kommt die Mikrowellentechnik eben gerade recht.
MUSIK 3 (CD617730001 Lionel Hampton and His Orchestra: Jivin‘ The Vibes 0’17)
Zitator 1 Werbeannonce [historisch]: Make the greatest cooking discovery since fire – Radarange Microwave Oven – Cuts most cooking times by 75%. Bakes a potato in 4 Minutes, cooks a hot dog in 20 seconds and a 5 lb roast in 35 minutes.
Sprecherin2:
Das Herzstück des Mikrowellenherdes, das Magnetron, in dem die hochfrequenten Schwingungen erzeugt werden, muss also erst konstruiert werden und technisch ausreifen. Die Mikrowellen selbst aber sind keine Erfindung, sondern ein natürliches Phänomen.
MUSIK 4 (CD617730001 Lionel Hampton and His Orchestra: Jivin‘ The Vibes 0’25)
Zitator 1 Werbeannonce [historisch]:
Erleben Sie das großartigste Kocherlebnis seit der Entdeckung des Feuers! Die Mikrowelle! Verkürzt die Kochzeit um 75%! Gart eine Kartoffel in 4 Minuten! Einen Hotdog in 20 Sekunden! Und zwei Kilo Braten in 35 Minuten.
Sprecherin2:
Zwar benutzen wir den Begriff "Mikrowelle" heute landläufig stellvertretend für den ganzen Mikrowellenherd. Der physikalische Begriff "Mikrowelle" jedoch ist nur ein vereinfachter Begriff für bestimmte elektromagnetische Wellen, erläutert der Ingenieur und Elektrotechniker Professor John Jelonnek. Er leitet das Institut für Hochleistungsimpuls- und Mikrowellentechnik am Karlsruher Institut für Technologie.
MUSIK 5 (Z8027766104 Less: Zum Greifen fern 0‘59)
OT5 Jelonnek:
Die Mikrowelle ist im Grunde genommen nur der Bereich des elektromagnetischen Spektrums in einem bestimmten Frequenzbereich, also von 300 Megahertz, wie wir das sagen, bis ungefähr 300 Gigahertz. Aber in der Natur haben Sie das komplette Spektrum aller Frequenzen vorhanden. Es ist also was völlig natürliches. Wir kennen es als natürliche Wärmestrahlung. Wir kennen es als Licht.
Sprecherin2:
Die verschiedenen elektromagnetischen Wellen im Spektrum unterscheiden sich in Wellenlänge und Frequenz. Ohne technische Hilfsmittel wahrnehmen können wir aber eben nur einen äußerst geringen Anteil aller elektromagnetischer Wellen: die Wärme der Infrarotstrahlung und das sichtbare Licht.
Sprecherin1:
Kein Wunder, dass dem Mikrowellenofen und seiner Funktionsweise anfangs durchaus Skepsis entgegenschlägt.
OT 6 Heber: In den USA hatten die Hersteller oder der Vertrieb von Mikrowellen doch einige Zeit damit zu tun, Köchinnen und Hausfrauen davon zu überzeugen, dass ein Lebensmittel mit Mikrowellen zu erwärmen, dass das jetzt nicht irgendwie mystisch, magisch, unverständlich und dadurch vielleicht auch irgendwie beängstigend ist, sondern dass das ein ganz einfacher physikalischer Vorgang ist, der ganz ungefährlich ist.
Sprecherin1:
… erläutert Haustechnik-Experte Moritz Heber.
OT 7 Heber:
Und da wurden dann auch irgendwie Analogien herangezogen, dass man sagt okay, die Mikrowellenstrahlung, die bewegt einfach die Moleküle in deinem Essen ganz schnell hin und her. Und so wie du deine Hände zusammenreiben kannst, entsteht dann Reibungswärme im Essen. Und das ist also ganz normal und gar kein Problem.
Sprecherin2:
Besonders gut klappt diese Erwärmung auf molekularer Ebene bei Flüssigkeiten und wasserhaltigen Speisen. Denn Wasser bringt eine bestimmte Eigenschaft mit:
MUSIK 6 (Z8014180102 SINE: Feel Love 0‘35)
Sprecherin1:
Stark vereinfacht gesprochen, ist ein Wassermolekül, also H2O, eine Art Kompassnadel oder Magnet mit einer positiv und einer negativ geladenen Seite. John Jelonnek spricht von einem sogenannten Dipol. Und an diesen beiden unterschiedlich geladenen Seiten packt nun sozusagen die Mikrowelle an.
OT 8 Jelonnek:
Nehmen Sie mal nen Rugbyball, der oval ist. An der einen Seite malen Sie ein Plus und an der anderen Seite ein Minuszeichen. Es hat also ein positives Ladungsende und ein negatives Ladungsende.
Sprecherin1:
… veranschaulicht es John Jelonnek:
OT 9 Jelonnek:
Nehmen Sie ganz viele dieser ovalen Bälle und legen sie in ein Wasserbad, ganz unregelmäßig. Sie werfen sie einfach dort hinein. Jetzt legen Sie ein Feld an, dann werden sich alle diese Moleküle versuchen, nach dem Feld auszurichten, alle in einer Richtung. Das ändert sich aber periodisch mit der Frequenz. Hier haben wir eine Frequenz von 2,45 Gigahertz. Das heißt, es ändert sich sehr, sehr schnell. Und dadurch kommt es einfach zur Reibung. Die müssen sich alle ja immer drehen und reiben sich sozusagen aneinander. Und es kommt zur Erwärmung des Materials.
MUSIK 7 (Z8030896149 Chris Gilcher / Michi Koerner: Unbiased Opinion (reduced) 0’39)
Sprecherin1:
Und zwar direkt in den Lebensmitteln – was den großen Vorteil der Mikrowellengeräte gegenüber anderen Herdarten ausmacht: Während im Backofen oder auf der Herdplatte die Hitze ja erst einmal durch Topf, Pfanne oder Bräter ans Essen herankommen und dann bis ins Innere vordringen muss, findet die Erhitzung im Mikrowellenherd direkt im Essen statt: Die Mikrowellen dringen einige Zentimeter ins Gargut ein, lassen dort die Dipol-Moleküle des Wassers "schwingen", das Essen wird warm. Das Innere des Ofens selbst bleibt kühl.
Sprecherin2:
Röstaromen wie in der Pfanne bilden sich so freilich nicht. Das allerdings ist für die Entwickler des Mikrowellenherdes nicht das größte Problem:
OT 10 Heber:
Das große Problem war, dass die Lebensmittel, die man in der Mikrowelle erwärmen wollte, dass die sehr ungleichmäßig erhitzt wurden, erwärmt wurden. Das kennt man heute auch noch teilweise.
Sprecherin2:
… sagt Moritz Heber. Auch das hat mit der Physik der elektromagnetischen Wellen zu tun – und dem Phänomen der sogenannten Stehenden Wellen:
Sprecherin1:
Die Mikrowellen, die vom Magnetron aus in den Garraum gesendet werden, reflektieren an den metallenen Wänden des Ofens. Sie werden an die gegenüberliegende Wand und zurück geworfen und so weiter, wie Licht zwischen zwei Spiegeln.
Sprecherin2:
Zwischen den beiden festen Wänden kommt das maximale Feld, also quasi der Bauch der Welle, so aber immer an der gleichen Stelle zustande. Hochleistungsmikrowellen-Forscher John Jelonnek verbildlicht das Phänomen mit der Wellenbewegung eines Springseils:
MUSIK 8 (CD735920005 Skipping Rope 0’40)
OT11 Jelonnek:
Sie haben an zwei Enden zwei Kinder, die das Seil bewegen, dass es so Wellenbewegungen macht. Und das Seil wird sich quasi immer an den gleichen Stellen auf und ab bewegen. Und an den Enden ist das Seil nicht ausgelenkt, beziehungsweise dort gibt es kein Feld. Da, wo die Kinder sind, dort in sind sozusagen Null-Stellen.
Sprecherin 2:
… und dort bleibt das Essen kalt.
Sprecherin 1:
Schlechte Voraussetzungen für einen Markterfolg – und eine technische Schwierigkeit, an deren Lösung die Mikrowellen-Pioniere lange getüftelt haben, berichtet auch Moritz Heber:
OT 12 Heber:
Zunächst hat man überlegt, ob man den Raum in der Größe ständig verändern muss, spricht, dass sich die Wände der Mikrowelle verschieben, sodass quasi der Raum größer und kleiner wird. Das ist natürlich enorm unpraktisch. Dann ist man auf die Idee gekommen, dass man an der Decke von diesem Raum einen kleinen Rührer, also einen Metallstab, der sich ständig dreht, anbringt. Dadurch werden die Wellen dann unterschiedlich reflektiert. Und zuletzt, und das kennt man heute, hat man ja den Teller, der sich dreht, in der Mitte.
Sprecherin 2:
Zum Garen von rohem Hähnchenfleisch und anderen möglicherweise mit Salmonellen oder Listerien belasteten Lebensmittel sollte die Mikrowelle trotzdem nicht benutzt werden: Zu groß ist das Risiko, dass nicht alle Stellen gleichmäßig durcherhitzt werden.
Sprecherin 1:
Die ersten Mikrowellen finden aber aus noch viel pragmatischeren Gründen in der normalen Durchschnitts-Küche keinen Platz, sondern nur in der Gastronomie oder Kantine:
OT 13 Heber:
Die ersten Mikrowellen, die überhaupt auf dem Markt verfügbar waren, das waren riesengroße Geräte, so groß wie ein Kühlschrank, 300 Kilo schwer. Die haben eine Wasserkühlung benötigt. Also spricht einen eigenen Wasseranschluss.
Sprecherin2:
Rund 20 Jahre dauert es ab der Patentierung, bis wirklich haushaltsfähige Geräte auf dem Markt sind.
Sprecherin1:
Denen allerdings macht bald schon die langsam erstarkende Umweltbewegung in den USA zu schaffen, die die elektromagnetische Strahlung kritisch beäugt.
OT 14 Heber:
Das hat auch erst dazu geführt, dass überhaupt in den USA dann mal ein Gesetz erlassen wurde, was Grenzwerte für auch für Haushalts-Mikrowellengeräte überhaupt erst einmal festgeschrieben hat. Und im Zuge dessen 1971 hat das amerikanische Gesundheitsministerium dann auch Mikrowellen mal getestet auf dem Markt und hat festgestellt, dass irgendwie ein Drittel der Geräte diese Grenzwerte überschreiten. Und das hat natürlich schon, sage ich mal, den Mikrowellen erstmal einen Dämpfer versetzt, ja.
MUSIK 3 (M0050378111 ISAN: Linnæus 0‘34)
Sprecherin1:
Und dem Gerät einen Makel verpasst, der ihm bis heute anhaftet: Wer das Stichwort "Mikrowelle" in die Suchmaschine eingibt, findet neben Kaufangeboten und Rezepten unausweichlich auch Berichte über verstrahltes Essen, zerstörte Vitamine und gefährliche Strahlen aus der Mikrowelle.
Sprecherin2:
Was auch an der synonymen Verwendung der Begriffe "Elektromagnetische Wellen" und "Elektromagnetische Strahlung" liegen könnte.
OT 15 Jelonnek:
Leider hat die Strahlung eine negative Auffassung für viele Menschen. Dabei ist Strahlung etwas, was eigentlich nur die Leistung angibt, die man eigentlich erhält, wenn elektromagnetische Wellen sich ausbreiten.
Sprecherin2:
… sagt John Jelonnek vom Karlsruher Institut für Hochleistungsimpuls- und Mikrowellentechnik. Wie bereits erwähnt umfasst das elektromagnetische Spektrum neben sichtbarem Licht, Mikrowellen, Radar oder Rundfunkwellen auch Frequenzen im Bereich der ionisierenden Strahlung, also etwa Gamma- und Röntgenstrahlung sowie kurzwellige Ultraviolettstrahlung. Und diese elektromagnetischen Wellen können biologisch schädlich wirken.
Sprecherin1: Mikrowellen aber nicht, verspricht John Jelonnek. Nicht mal im Mikrowellenofen selbst würde jemand "verstrahlt":
OT 16 Jelonnek:
Sie sollten sich natürlich nicht in ein hohes Mikrowellenfeld reinstellen, auf gar keinen Fall, weil dann würden sie quasi erwärmt werden. Das ist das, was passiert.
Sprecherin 1:
Denn die Mikrowellen unterscheiden nicht zwischen dem Wasser im lebenden Organismus und der Flüssigkeit im Essen.
Sprecherin 2:
Abgesehen von ihrer Temperatur verändern sich die Lebensmittel in der Mikrowelle aber nicht, betont Jelonnek:
OT 17 Jelonnek:
Das heißt auch, wenn man jetzt wieder abkühlt, werden sich quasi alle Moleküle wieder durcheinander ausrichten und nach außen hin neutral sein. Also aus wissenschaftlicher Erkenntnis heutzutage kann man keinen negativen Effekt, der Mikrowellen, also der der hochfrequenten elektromagnetischen Wellen, auf irgendein Essen zeigen. Es gibt's dort nicht.
Sprecherin1:
Die Forscher am Institut für Hochleistungsimpuls- und Mikrowellentechnik in Karlsruhe arbeiten an weitaus größeren Mikrowellenöfen, als wir sie aus der Küche kennen. In ihrer Mikrowellenprozessanlage können unter anderem Kunststoffteile für Luft- und Raumfahrt und die Automobilindustrie gehärtet werden.
Bei 36.000 Watt erwärmen sich die Bauteile dort nicht nur schneller als in einem herkömmlichen Härtungsofen, sondern das Verfahren ist auch energieeffizienter. Weil eben auch dort – wie in der Küchenmikrowelle – nur das Gargut – in diesem Fall das Bauteil – erhitzt werden kann und nicht der ganze Ofen mit aufgeheizt werden muss.
Sprecherin2:
Trotz der hohen Leistung: Genauso wie der Mikrowellenherd Zuhause arbeitet der Karlsruher Mikrowellenofen bei 2,45 Gigahertz. Und ist für den Experten genauso beherrschbar:
OT 18 Jelonnek:
Das ist das schöne eigentlich in der Hochfrequenztechnik. Sie können für die elektromagnetischen Wellen sogenannte Fallen einbauen. Bestimmte Strukturen, dass die Mikrowelle bei geschlossener Tür wirklich im Ofen bleibt.
Sprecherin1:
Dafür sorgt beispielsweise das Metallgitter im Fenster der Gerätetür. Somit treffen die Mikrowellen nur das Essen im Inneren. Und nicht den Bediener vor dem Gerät.
Sprecherin2:
Das bestätigen auch Überprüfungen des Bundesamtes für Strahlenschutz:
Zitator 1:
"Durch Abschirmmaßnahmen ist gewährleistet, dass im Betrieb nur sehr wenig Strahlung nach außen gelangt. Eine weitere Sicherheitsmaßnahme sorgt über eine technisch mehrfach ausgelegte Schutzvorrichtung für eine zuverlässige Abschaltung des Gerätes, sobald die Tür geöffnet wird."
Sprecherin2:
… heißt es dort . Für die dennoch auftretende Leckstrahlung um Sichtblende und Türe ist in einem Abstand von fünf Zentimetern von der Geräteoberfläche ein Emissionsgrenzwert von fünf Milliwatt pro Quadratzentimeter festgelegt.
OT 19 Jelonnek:
Das heißt, das, was raus darf und was gemessen wird bei der technischen Zulassung der Mikrowelle, ist so gering, (ist eine Größenordnung) wie die eigene Temperaturstrahlung des eigenen Körpers.
Sprecherin2:
Bei wiederholten Messungen lagen die tatsächlichen Werte laut Bundesamt bei einem Prozent des zulässigen Grenzwertes:
Zitator 1:
"Bei technisch einwandfreien Geräten besteht daher keine gesundheitliche Gefahr, auch nicht für besonders schutzbedürftige Personen wie Schwangere oder Kleinkinder."
[Collage Rezept-Fragmente]
MUSIK 10 (C1218710013 High LLamas: Showstop 0’32)
Zitatorin 2:
Kartonverpackung entfernen, Deckfolie mehrfach einstechen …
Zitator 1:
Das Rührei bei 440 Watt ca. 7 Min. stocken lassen, zwischendurch mit einer Gabel zerpflücken.
Zitatorin 2:
… bei 600 Watt ca. 3 Minuten, bei 900 Watt ca. 2 Minuten erhitzen.
Zitator 1:
… bitte nachschauen, ob der Kuchen durchgegart ist.
Zitatorin 2:
kurz ruhen lassen, nach dem Öffnen umrühren.
MUSIKENDE
OT 20 Hirschfelder:
Der große Erfolg der Mikrowelle kommt ja nicht zufällig genau zu dem Zeitpunkt, in dem die Grund-Geometrie des Kochens sich vor allem in unseren westlichen Gesellschaften verändert.
Sprecherin2: … sagt Gunther Hirschfelder. Für den Volkskundler und Kulturanthropologen markiert der Mikrowellenherd einen Wendepunkt in unserer Esskultur:
MUSIK 11 (Z9376907208 Hot Butter: Popcorn 0’41)
OT 21 Hirschfelder:
Kochen ist eigentlich vor allem immer eine Notwendigkeit gewesen hat, viel Zeit beansprucht. Und das versuchte man immer zu reduzieren, weil viel Zeit bedeutet dann eben oft zu viel Zeit. Und in den Jahren um 1970, als die Sache mit der Mikrowelle Fahrt aufgenommen hat, da ist das Kochen sozusagen von einer unbedingten Notwendigkeit zu einem Hobby geworden, zum Ausdruck von Lifestyle. Da haben wir die Unterscheidung seitdem auch für eine Bevölkerungsmehrheit in Versorgungsküche auf der einen Seite und Erlebnisküche auf der anderen Seite. Und da kommt die Mikrowelle auf einmal mit ins Spiel. Sie erleichtert die Versorgungsküche. Und die Versorgungsküche hatte sich bis dahin schon in kurzer Zeit ohnehin massiv verändert. Sie war viel effizienter und viel schneller geworden, und die Mikrowelle wirkt hier sozusagen als Katalysator wie ein Turbo.
MUSIK 12 (1218710004 The High Llamas: Janet Jangle 0’30)
Sprecherin1:
Schnell die Reste vom Vortag aufwärmen, weil zum Kochen heute keine Zeit ist? Die Mikrowelle macht's. Popcorn? Warm und frisch, natürlich aus der Mikrowelle! Die Familienmitglieder sind alle zu unterschiedlichen Zeiten daheim und trotzdem jeder will eine warme Mahlzeit? Ab mit den Portionen in die Mikrowelle!
Sprecherin2: Statistisch erfasst wird der Ausstattungsgrad mit Mikrowellengeräten in der Bundesrepublik erstmals 1988 in der Einkommensverbrauchsstichprobe. Zwölf Prozent der Haushalte besitzen damals eine Mikrowelle. 30 Jahre später liegt der Wert bei mehr als 70 Prozent.
Sprecherin1:
Wie stark sie genutzt wird, erfasst die Statistik nicht. Und auch die Kulturwissenschaft tappt da im Dunkeln.
OT 22 Hirschfelder:
Die Mikrowelle ist ein Multifunktionstool, und wir wissen gar nicht genau, was die Menschen damit anstellen. Auf der einen Seite habe ich ausdifferenzierte Kochbücher, die eine ganze Menge Möglichkeit geben, mit der Mikrowelle intelligent umzugehen. Dann hab ich Einzelgerichte, die ich einfach Kompakt in die Mikrowelle schiebe, die auch verschiedene Komponenten haben können. Der Discount und die Supermärkte bieten da eine reiche Auswahl und auch Essen auf Rädern bespielt hier in dieser Liga …
Sprecherin1:
Vom Ruf der Mikrowelle als Prestige-Objekt für den High-End-High-Tech-Haushalt freilich ist heute nicht mehr viel übrig: In modernen (Luxus-) Küchen wird die Mikrowelle längst nicht mehr zum Zentralelement gemacht. Oft wird sie leicht verschämt in der Ecke versteckt. Sofern sie überhaupt noch vorhanden ist.
MUSIK 13 (Z8031838101 Fred und Luna: Zyklopädie Nummer 28 0’41)
OT 23 Hirschfelder:
Bei vielen Wohnformen für Menschen, die unter harten Bedingungen arbeiten, da spielt die Mikrowelle eine viel größere Rolle. Wir haben die Mikrowelle in den Unterkünften der Saisonarbeiter etwa, wir haben sie in manchen Studentenapartments. Sie rangiert sozusagen am unteren Ende der Wertigkeitsskala der Küchenutensilien.
Sprecherin1:
Vielleicht aber nicht mehr lange, mutmaßt der Kulturanthropologe. Denn in Zeiten, in denen Energieeffizienz eine immer größere Rolle spielt und sich neue Wohnformen auf kleinstem Raum etablieren, könnte die Mikrowelle eine Renaissance erleben. Davon ist Gunther Hirschfelder überzeugt:
OT 24 Hirschfelder:
Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir Wohneinheiten haben, wo man nicht mehr eine ganze Küche einbaut, sondern wo man eine wassergespeiste Spülanlage hat und wo man dazu zum Beispiel ein Ein-Platten Induktionskocher hat und eine parallel dazu vielleicht noch eine kleine Mikrowelle, da hätte man eine Kombination, mit der man doch eine ganze Menge machen kann.
Sprecherin1:
Und auch die Küchengeräte-Hersteller haben die Mikrowellen wieder ins Visier genommen: Sogenannte Dialoggarer kombinieren Ober- und Unterhitze oder Heißluft mit den elektromagnetischen Wellen, messen permanent wie viel Energie das Lebensmittel schon aufgenommen hat und versprechen durch einen intelligenten Einsatz verschiedener Frequenzen ein besonders gleichmäßiges und zeitsparendes Koch-Ergebnis.
MUSIK 14 (CD516970005 Benny Goodman Sextet: Slipped Disc 0’30)
Sprecherin2:
Und so dürfte das Ergebnis von Percy Spencers Tüfteleien am Radar-Gerät noch länger erhalten bleiben. Und bestimmt noch den ein oder anderen Schoko-Riegel zum Schmelzen bringen.
Sprecherin1:
Denn ob wahre Geschichte oder Erfinder-Mythos: Schokolade-Schmelzen können die elektromagnetischen Strahlen wirklich.
Elektroherd und Wasserhahn, Kühlketten und Lebensmittelgeschäfte: Im 20. Jahrhundert musste niemand seine Butter mehr selber stampfen, Kleinstküchen setzten sich durch. In ihrer Mitte stand und waltete die Hausfrau - allein. Dabei waren Küchen einst wichtige Orte der Kommunikation. Und sind es heute wieder. Oder? Autorin: Julie Metzdorf
Credits
Autor/in dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Caroline Ebner, Johannes Hitzelberger, Carsten Fabian
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Josef Straßer, Design-Experte Die Neue Sammlung – The Design Museum;
Prof. Dr. Tilman Allert
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ATMO Bratpfanne + offener Kamin
Musik 1: Greenhouse – C1319100006 – 45 Sek
ERZÄHLERIN
Kochen macht schlau. Gekochte Speisen haben vor Hundertausenden von Jahren das Gehirnwachstum unserer Vorfahren gefördert und so zur Entwicklung des Homo Sapiens geführt – davon gehen jedenfalls Anthropologen aus. Denn Kochen, Garen, Sieden oder Schmoren ist eine Art Vorverdauung außerhalb des Körpers. Die in der Nahrung enthaltenen Nährstoffe können besser verwertet werden, bzw. der Verdauungsapparat muss weniger Energie investieren. Die kann stattdessen ins Gehirn wandern.
ERZÄHLER
Das Kochen erweiterte außerdem die Nahrungspalette unserer Vorfahren: es eliminiert Gifte und macht manche Pflanzen überhaupt erst genießbar. Vor allem aber dürfte das Kochen das Sozialverhalten der frühen Menschen entscheidend geprägt haben. Der Soziologe Georg Simmel wies schon vor mehr als 100 Jahren darauf hin:
ATMOS Essen + Murmeln + Sektgläser
ZITATOR
A Georg Simmel
(gest. 1918, zit. nach: Der Zeitgeist, Beiblatt zum Berliner Tageblatt von 1910)
Von allem nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: dass sie essen und trinken müssen.
ATMO Feuerstelle + Musik 2: Prelude - C5127010101 – 40 Sek
ERZÄHLERIN
Die Feuerstelle war wohl von Anfang an ein Ort der Gemeinschaft und der Kommunikation. Die ersten nachweisbaren Küchen der Menschheit stammen aus der Zeit um 8000 vor Christus und wurden in der Nähe von Jerichow gefunden: Es waren offene Feuerstellen, einfache Lehmöfen und Mahlsteine in den Innenhöfen strohgedeckter Lehmhütten. Vermutlich wurden sie von den Bewohnern der umliegenden Hütten gemeinschaftlich genutzt. Kochen und Essen, das Zubereiten und die Aufnahme der Nahrung, waren also eng miteinander verknüpft. Design-Experte Josef Strasser:
1 OT Josef Strasser: Anfänge
Ganz ursprünglich war das sehr natürlich nicht getrennt, sie hatten ein Feuer, auf dem Feuer wurde gegart, und dann gab es bald auch schon die ersten Keramiktöpfe, in denen dann auch Flüssigkeiten gekocht worden sind, das war nicht getrennt, das war in Einem.
ERZÄHLER
Im Lauf der Zeit verlagerte sich das Kochen in den Innenraum. Eine Feuerstelle am Boden, später auf einem gemauerten Sockel, wurde Küchenstandard für Jahrhunderte:
2 OT Josef Strasser: Wärme
Die Küche war das Zentrum, das Feuer liefert auch Wärme, und das war das Entscheidende, deswegen war das ein sehr zentraler und wichtiger Raum.
ERZÄHLER
Doch Kochen ist auch gefährlich. Genauer gesagt: offenes Feuer ist gefährlich. Regelmäßig kam es zu Feuersbrünsten, denen ganze Stadtviertel zum Opfer fielen. Selbst ohne Unfälle war die Luft in Räumen mit offenem Feuer schlecht.
3 OT Josef Strasser: Ruß
Viele kennen noch den Begriff der Schwarzkuchl, also der schwarzen Küche, das kommt daher, weil das Feuer in dem Raum Rauch entwickelt hat, und der Rauch hat das Ganze geschwärzt, letztendlich war der Raum verrußt.
ATMO Feuerstelle
ERZÄHLERIN
Die Mahlzeit köchelte in einem Kessel, der an einer Kette über der Flamme hing. Mithilfe eines Kesselhakens konnte die Temperatur geregelt werden: Einen Zahn zulegen hieß, die Temperatur zu erhöhen. Der aufsteigende Rauch zog über Öffnungen im Dach ab, er konservierte das Gebälk, wehrte Ungeziefer ab und konnte immerhin zum Räuchern benutzt werden. Der Jurist und Historiker Justus Möser beschrieb 1767 in den „Osnabrückischen Intelligenzblättern“:
Weiter Atmo Feuerstelle + Baby + Kessel + Kuh
ZITATOR
B Justus Möser
(vom niedersächsischen Landesarchiv frei zur Verfügung online gestellt)
Der Herd ist fast in der Mitte des Hauses und so angelegt, dass die Frau, welche bei demselben sitzt, zu gleicher Zeit alles übersehen kann. Ohne von ihrem Stuhle aufzustehen, übersieht die Wirtin zu gleicher Zeit drei Türen, dankt denen die hereinkommen, heißt solche bei sich niedersetzen, behält ihre Kinder und Gesinde, ihre Pferde und Kühe im Auge, hütet Keller, Boden und Kammer, spinnet immer fort und fort dabei.
ERZÄHLER
Für die einfache Bevölkerung blieb die Feuerstelle jahrhundertelang der Mittelpunkt des Hauses. Privilegierte Stände konnten die Küchenarbeit ans Personal delegieren und räumlich ausgrenzen. In Burgen, Schlössern oder Klöstern befand sich die Küche normalerweise in einem eigenen Wirtschaftsbau oder Küchenflügel, in bürgerlichen Haushalten im hinteren Teil der Wohnung. Die repräsentativen Räume blieben so rauch- und geruchfrei.
ERZÄHLERIN
Zum Heizen der Häuser setzten sich ab dem späten Mittelalter Kachelöfen durch. Sie standen in der Wohnstube und wurden von der Küche aus befeuert, der Raum mit dem Kachelofen selbst blieb rauchfrei. Damit war erstmals ein und derselbe Raum warm und rauchfrei.
4 OT Josef Strasser: Kachelofen
Kachelofen ist mehr im Wohnbereich, die großen Gebäude mussten ja geheizt werden und dann gab es halt den Kochherd, die Küche, die meistens abgetrennt war. Da muss man natürlich schauen in welcher sozialen Ebene befinden wir uns. Das sind natürlich Unterschiede, ob ich ein kleines Haus habe mit einer kleinen Küche oder ob ich ein riesiges Schloss habe mit einer extra ausgestalteten Küche.
ERZÄHLER
Ausgenommen die Ärmsten unter den Armen, basierte der vormoderne Haushalt auf dem Prinzip der Vorratswirtschaft. Die meisten Güter wurden nicht als fertige Produkte gekauft, sondern im Haus selbst produziert: Man buk Brot und schlug Butter, es wurde geschlachtet, geräuchert und gepökelt, Wurst und Marmelade gekocht, man kelterte womöglich eigenen Wein, auch Kerzen wurden gezogen, Flachs zum Spinnen bearbeitet, Seife gekocht. „Betriebsleiterin“ war die Hausmutter. Diese Art des Wirtschaftens änderte sich im 19. Jahrhundert zunehmend mit der beginnenden Industrialisierung.
Musik 3: The heroic weather-conditions of the universe, Part 2: Smoke / Fire - Z8034868 107 – 53 Sek
ERZÄHLERIN
Im Zuge der Industrialisierung entstand die Kleinfamilie: junge Männer und Frauen verließen den ländlichen Hof und die Großfamilie und arbeiteten in der Stadt in einer Fabrik, gelebt wurde in kleinen, meist dunklen Mietwohnungen, erst allein, dann mit Frau und Kindern. Für Brot und Wurst sorgten in den Städten nun Bäcker und Metzger. Auch vieles anderes konnte man nun einfach kaufen. Niemand musste mehr Butter stampfen oder Seife kochen. Die Küchen konnten kleiner werden. Und andersherum: man brauchte kleine Küchen:
5 OT Josef Strasser - Landflucht + Separierung
Natürlich ist es in erster Linie die Wohnungsnot, durch die Landflucht, durch die Überbevölkerung der Städte, und in diesem Zusammenhang entstanden auch die sozialen Wohnungsbauprogramme. Und die große Reform war dann, dass man versucht hat, für möglichst viele Leute preiswerten Wohnraum zu schaffen, und dass dieser Wohnraum natürlich beengt war, liegt auf der Hand und aus dem Grund so hat sich da eine Neuentwicklung ergeben, dass man die Küche separiert hat. Statt eines Raumes, in dem alles integriert war, entstanden nun quasi zwei Zellen, du hast auf der einen Seite den eigentlichen Arbeitsraum, die Kochküche, auf der anderen Seite das Esszimmer.
Musik 4: The king’s tulips – CD715210008– 37 Sek
ERZÄHLER
Voraussetzung für kleinere Küchen, in denen man nicht sofort am Ruß erstickte, war die Eliminierung des offenen Feuers. Der Architekt Francois de Cuvilliés der Ältere. baute in München nicht nur ein schickes Hoftheater, er erfand 1734 auch den Vorläufer unseres modernen Vierplatten-Herds, den sogenannten „Castrolherd“, von französisch „casserole“, Kochtopf. Für die kleine Amalienburg im Nymphenburger Schlosspark in München bedeckte er einen geschlossenen Feuerkasten mit einer durchlöcherten Eisenplatte. Die Brandgefahr verringerte sich erheblich.
ERZÄHLERIN
Benjamin Thompson alias Graf Rumford entwickelte – übrigens ebenfalls in München – die Sache weiter und leitete die Hitze des Feuers durch mehrere Kanäle gezielt an verschiedene Stellen der Herdplatte. Anfangs nur für wenige Wohlhabende erhältlich, verdrängten solche geschlossenen Herde nach und nach das offene Feuer aus den Häusern, die Küchen wurden rußfrei.
ERZÄHLER
Während der Industrialisierung wuchsen in Europa die Städte rasant an, für Arbeiter wurden große Siedlungen gebaut.
6 OT Josef Strasser – klein + Siedlungsbau
Die soziale Frage hat sich ja überall in den Industriestaaten gestellt, England sowieso aber auch in Österreich oder Frankreich aber insbesondere auch in Deutschland und Frankfurt ist so ein großes Paradebeispiel, dass man einfach zehntausende von Wohnungen geschaffen hat.
Musik 5: „Himmelspforte“ – Z8036154104 – 17 Sek
ERZÄHLER
Die Küchen für die Siedlungen in Frankfurt sollte Margarethe Schütte-Lihotzky gestalten, eine junge österreichische Architektin. Das Ergebnis ging in die Geschichte ein: die sogenannte „Frankfurter Küche“ von 1926 wurde zur Mutter aller Einbauküchen.
7 OT Josef Strasser - Taylorismus + Spüle
Man muss aber ein bisschen zurückgehen in der Geschichte, es gab so Bestrebungen bereits im 19. Jahrhundert, ganz wichtig sind da die USA, auch die Frauenbewegungen, dass man sich gedacht hat, wie kann ich das Leben einfacher machen, also rationeller organisieren, … es gab ja diesen Taylorismus, die Rationalisierung in der Industrie und man versucht, das aufs Wohnen, aufs Private zu übertragen, also wie organisiere ich Arbeitsabläufe.
ERZÄHLERIN
Die Frankfurter Küche sollte vor allem preiswert und deswegen möglichst klein sein. Als Vorbild dienten der jungen Architektin die Speisewagenküchen der Eisenbahn, in denen bei einer Spurweite von etwas mehr als 1,40 Meter naturgemäß sehr platzsparend gekocht werden musste. 6,5 Quadratmeter Grundfläche hatte die Frankfurter Küche. Schränke, Herd, Arbeitsflächen und Spüle waren an den Wänden angeordnet, die Mitte blieb frei bzw. dort stand die Hausfrau und konnte mit wenigen Handgriffen rundum agieren. Platz für eine zweite Person im Raum gab es nicht. Es war eine Arbeitsküche. Ein Tisch hätte da nur gestört, gegessen wurde fortan in einem separaten Ess- oder Wohnzimmer.
8 OT Josef Strasser - Abtrennung
Ein großer Vorteil ist die Hygiene, dass ich einen Raum habe, in dem ich Speisen zubereite und in dem Raum keine anderen Dinge mache, Kinder spielen und das zweite sind die Gerüche, die beim Kochen entstehen, auch Geräusche natürlich, dass das getrennt war, dass das weg war vom Wohnbereich.
ERZÄHLER
Doch die Küchen für die Arbeitersiedlungen sollten nicht nur klein sein. Sie sollten der Hausfrau die Küchenarbeit erleichtern und Zeit sparen. Margarethe Schütte-Lihotzky untersuchte daher die Bewegungsabläufe und versuchte sie zu optimieren.
Musik 6: Gimme that shimmy – Z8029371119– 42 Sek
ERZÄHLERIN
Ein höhenverstellbarer Drehstuhl sorgte für die optimale Position je nach Tätigkeit, Fenster ließen sich öffnen, ohne erst irgendwas wegräumen zu müssen, Küchenabfälle konnte mit einer Wischbewegung von der Arbeitsfläche direkt in eine Abfallrinne gewischt werden, war sie voll, konnte man sie wie eine Schublade herausziehen und entleeren.
ERZÄHLER
Oder das Bügelbrett: Es wurde mit einem Griff von der Wand heruntergeklappt und mit der Brettspitze auf den gegenüberliegenden Spülschrank aufgesetzt, es hatte also weder störende Füße, noch musste man es umständlich rein- und raustragen.
9 OT Josef Strasser - Abtropfen
Wie mache ich das beispielsweise beim Spülen, dass ich nicht die Hände übergreifen muss, sondern ich hab die linke Hand, mit der halte ich das Geschirr mit der rechten spüle ich und ich lege es dann auch wider auf der linken Seite ab und nicht auf der rechten Seite. Es ging auch darum, dass man das Geschirr abtropfen ließ, sie hat ein Abtropfgestellt erdacht, um sich das Abtrocknen zu ersparen.
ERZÄHLERIN
Die Frankfurter Küche war ganz im Geist der Frauenbewegung entstanden. Schütte-Lihotzky war eine der ersten Architektinnen überhaupt, Frauen durften in Österreich erst Ende des 19., in Deutschland gar erst Anfang des 20. Jahrhunderts Architektur studieren. Dass sich die junge Vorreiterin nun ausgerechnet auf die Planung einer Küche stürzte, klingt nach einem Klischee, hatte aber Gründe:
10 OT Josef Strasser - Architektinnen
Ein Mann, ein Architekt denkt sich die Küche so und so, da er nicht in der Küche arbeitet, hat er auch nicht diese Arbeitsabläufe intus. Um die Arbeitsabläufe zu verbessern, muss man sich halt einfach mal damit beschäftigen oder sich damit auskennen. Und deswegen liegt es ein bisschen auf der Hand, dass Frauen als Architektinnen da einen anderen Blick haben als Männer.
ATMO Braten
ERZÄHLER
Die Frankfurter Küche war eine Küche von Frauen für Frauen. Doch vor allem aus konservativen Kreisen gab es von Anfang an Kritik. Sonntags dürften die Kinder aus der Nachbarschaft Puppenküche darin spielen, witzelte man angesichts der geringen Ausmaße der Küche. In der Tat war die Umgewöhnung natürlich enorm. Die Frau – die seinerzeit nun mal fast ausschließlich in der Küche stand – wurde hier zum Zentrum einer Art Maschine, die sie erst bedienen lernen musste.
ERZÄHLERIN
Von der Frankfurter Küche selbst wurden nur etwa 12.000 Exemplare gebaut – nicht viel angesichts des rasanten Anstiegs der Bevölkerung in jener Zeit. Und trotzdem: Die Idee Einbauküche setzte sich in Stadtwohnungen durch; die Frankfurter Küche war der Urtyp aller Einbauküchen.
11 OT Josef Strasser - Erfolg
Sie hat eine große Wirkung gehabt, hat das Leben vereinfacht, Arbeit erspart, Zeit erspart und damit natürlich auch die damit verbundenen Kosten.
Musik 7: Urgem X – C1319100008 – 35 Sek
ERZÄHLER
Seit den 50ern wuchs parallel auch die Zahl der elektrischen Geräte in den Küchen: Toaster, Eierkocher, Rührgerät, Brotschneidemaschine, Waffeleisen, Mikrowelle: Die Küche wurde nach und nach zum Maschinenpark. In den 60ern hielt der elektrische Kühlschrank Einzug, dazu Fertigprodukte, Dosen und Brühwürfel. Das Leben der Hausfrau wurde in mancherlei Hinsicht tatsächlich einfacher. Wäre da nicht dieses eine Problem gewesen:
12 OT Josef Strasser - Ironie
Man will das Beste, Rationalisierung, Arbeit sparen, Kräfte sparen, so dass die Frau Zeit gewinnt, für andere Tätigkeiten und was passiert: Isolierung.
ERZÄHLERIN
Die Kleinstküche wurde zunehmend als Hausfrauenknast gesehen, der Frauen eben nicht befreit habe, sondern in ihrem Kochlabor gefangen hielt, an den Rand der Wohnung gedrängt und vom Esszimmer und dem Rest der Familie getrennt. Um Wege zu verkürzen, baute man Durchreichen, ein Bedienfenster, damit das Essen auch ja warm auf den Tisch kam.
ERZÄHLER
Ende der 70er kam Bewegung in die Küchenfrage: Der Designer Otl Aicher, Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung in Ulm war eine Art Star-Designer seiner Zeit, unter seiner Federführung wurden die Olympischen Sommerspiele in München in Regenbogenfarben gestaltet. Aicher war nicht nur ein Genussmensch, er kochte auch selbst gern. Als er den Auftrag zur Gestaltung einer neuen Küche bekam, begab er sich erstmal auf Recherchereise.
Musik 8: With Compliments – N1278890Z00– 45 Sek
ERZÄHLERIN
Ein Jahr lang besuche er verschiedene Spitzen-Restaurants in Europa und teilweise in den USA und analysierte die dortigen Küchen. Denn von wem könnte man besser etwas über Küchen lernen als von Profis? Das Ergebnis: Aicher begriff Küchen als Orte der Kommunikation:
ZITATOR:
„Essen macht kommunikativ. Es verhindert, dass man alles in sich hineinfrisst“
ERZÄHLERIN
…schrieb der Designer 1982 in seinem Buch „Die Küche zum Kochen“. Eine Küche, in der sich praktisch nur eine Person aufhalten kann, war für Aicher ein Unding. Für ihn spielte sich das wahre Leben in der Küche ab, und nicht etwa im Wohnzimmer.
ERZÄHLER
Dazu war es notwendig, dass alle alles verstehen können. Mit der gängigen Küchenzeile in einem vom Esstisch abgetrennten Raum war diese Idee nicht vereinbar. Denn mit dem Gesicht zu Wand und den Gästen im Rücken kann man schwerlich am Gespräch teilnehmen, sagt der Soziologe Tilman Allert.
13 OT Tilman Allert - Töpfe
Jemand, der kocht, der wird immer um den Genuss der Kommunikationspointen gebracht, weil er immer am Topf steht und da zischt und raucht es und man kriegt nichts mit.
ERZÄHLERIN
Tilman Allert begreift Küchen als Orte einer „legitimen Trivialkommunikation“. Hier wird nicht unbedingt – manchmal aber durchaus! – über die bedeutenden Dinge der Welt gesprochen. In der Küche darf geschnackt und getratscht werden. Genau das mache sie laut Allert zu so einem einzigartigen Ort menschlicher Geselligkeit. Das und: das gemeinsame Essen.
ERZÄHLER
Das sah schon Otl Aicher so: Kochen und Essen sollten seiner Meinung nach wieder zueinander finden, im gleichen Raum. Es gibt nichts zu verstecken: Der Prozess des Entstehens der Mahlzeit soll erkennbar sein. Nicht zuletzt regt es ja auch den Appetit an, wenn man das Essen erst ein Weilchen anschaut und noch nicht gleich zulangen darf.
15 OT Tilman Allert - Respekt
Es ging ihm um einen Respekt vor dem, was in der Küche geschieht. Das Rohe oder das Ungegarte bringen wir in die Küche, kochen es und über diesem Vorgang wird aus der rohen Natur man könnte sagen genießbare Natur. Und das ist bei Aicher verbunden mit einer Respekteinstellung gegenüber den Gaben der Natur, die für ihn als Katholiken immer Gottesgaben waren.
ERZÄHLERIN
Aicher holt das uralte Konzept der offenen Küche wieder aus der Schublade. Er entwickelt einen zentralen Küchenblock, eine Kochinsel, mitten im Raum. Außerdem gestaltet er Küchen-Utensilien, die sich an der Profi-Gastronomie orientieren. Wer täglich kocht, braucht professionelles Werkzeug, da machen Billigangebote keine Freude.
ERZÄHLER
Ebenfalls von den Berufsköchen abgeschaut: alle Dinge müssen gut erreichbar sein. Erreichbarkeit geht einher mit Sichtbarkeit. Statt Schränke und Schubladen favorisierte Aicher einfache Haken in S-Form, an die man die wichtigsten Küchengeräte einfach dranhängen und mit einer Hand abnehmen konnte.
16 OT Tilman Allert - Küchenblock
Dieser Küchenblock und überhaupt die Küchenausstattung, die heute es ermöglicht, dass man in der Küche Geselligkeit praktiziert, die bringt das, was Aicher in den 70er Jahren schon ausgedacht hatte, noch mal deutlicher auf den Punkt, nämlich die Küche als einen geselligen Ort zu begreifen, an dem man irgendwie kocht, etwas entstehen lässt, aber an dem die Kommunikation untereinander zentral ist, also der Aicher ist auf eine Weise modern, wie er sich das selbst damals wohl gar nicht hat vorstellen können.
Musik 9: elephant parade – Z8003567126- 27 Sek
+ ATMOS Murmeln, Braten, Sekt
ERZÄHLERIN
Ist ja auch eine schöne Vorstellung: der Küchenchef, die Küchenchefin des Abends steht in der Mitte des Raums und kocht, gegenüber stehen die Gäste oder haben auf Barhockern Platz genommen, trinken einen Aperitif oder helfen beim Gemüseschnippeln. Später wechselt man an den großen Tisch gleich nebenan.
ERZÄHLER
Aber mal ehrlich: Wer kann sich das schon leisten? In Neubauten mit viel Grundfläche kann man so bauen, in einer Altbau-Mietwohnung ist das nicht umsetzbar.
17 OT Tilman Allert - Milieu
Das ist natürlich milieuspezifisch, das muss man sich erlauben können. Aber man muss hinzunehmen, dass in den einfachsten Wohnverhältnissen bis auf den heutigen Tag das berühmte Wohnzimmer, das es ja immer noch gibt, eigentlich vollkommen ungenutzt bleibt und alles Gesellige spielt sich in der Küche ab. Unabhängig vom Geldbeutel könnte man sagen ist die Küche der Ort, an dem man sich versammelt und an dem man Gedanken austauscht.
ERZÄHLERIN
Heute ist die offene oder auch „Wohnküche“ das Ding der Stunde – und eine Art Kompromiss: Arbeitsfläche, Spüle und Geräte sind oft immer noch in einer Zeile an der Wand angeordnet, aber der Kochende befindet sich zumindest im gleichen Raum mit den Gästen oder restlichen Familienmitgliedern. Das ist zwar nicht ganz so toll wie vis-á-vis mit den Gästen am zentralen Küchenblock zu hantieren, aber immerhin besser als in einem anderen Raum zu stehen und nur ab und zu mal einen Wortfetzen durch die Durchreiche zu erhaschen.
ATMOS Essen + Braten + Murmeln
ERZÄHLER
Zu ihrer Zeit gab es gute Gründe für die Entwicklung von Einbauküchen für nur eine Person. Im Verlauf der Küchengeschichte ist ihre Existenz aber doch nur ein Wimpernschlag. Kochen, Essen und Reden gehören heute wieder zusammen.
Wer kann, plant deshalb einen Tisch ein, im selben Raum, in dem auch gekocht wird. Selbst wer in einer Mietwohnung mit schlauchförmiger Küche wohnt, versucht wenigstens noch einen kleinen Klapptisch in die Küche zu bauen.
Dazu Musik 10: elephant parade – Z8003567126 – 35 Sek
ERZÄHLERIN
Noch besser ist ein großer Tisch. An dem wird nicht nur gegessen. Reden, Schreiben, Spielen, Basteln, wunderbar die große Zeitung ausbreiten, hier werden Hausaufgaben gemacht und Flickarbeiten ausgeführt, hier wird die Nähmaschine aufgebaut, eine Blumenvase hat darauf Platz oder eine Schüssel für Obst oder Briefe. Es ist ein Platz nicht nur fürs Essen – sondern fürs Leben.
Musik hoch und aus //
Erhardt, zunächst Radio-Moderator und Schauspieler, war der Humor-Star der Wirtschaftswunderjahre. Größten Erfolg allerdings hatte er mit seinen witzig und spritzig gereimten Erzeugnissen, erstmals gedruckt 1963 in dem Büchlein "Noch 'n Gedicht", das auch den Klassiker "Die Made" enthält. Heinz Erhardts Komik entstand aus bewusst unbeholfenen Handlungen und Reden, und sprachlicher Doppeldeutigkeit: "Wer den Schaden hat, spottet jeder Beschreibung....".
Credits
Autor/in dieser Folge: Petra Hermann-Boeck
Regie: Petra Hermann-Boeck
Es sprachen: Christiane Blumhoff
Redaktion: Brigitte Reimer
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ZUSPIELUNG 1
(C 140284 Das Beste von Heinz Erhardt
Disc 1, Take 3)
Nachdem ich mich he-ute, äh, heute, um dieses Mikrophon versammelt habe, ergreife ich außer der Gelegenheit auch noch das Wort, um es an Sie zu richten.
SPRECHERIN
Ein typischer Heinz-Erhardt-Satz. Bürgerlichen Ansprüchen scheinbar hilflos ausgeliefert nimmt er gewohnte Sprach-Versatzstücke auseinander, verdreht und verfremdet sie,
ZUSPIELUNG 2 (CD 63543, take 1/CD 146755, 1)
Ich würde mich ja gern ans Klaviezymbel setzen und etwas pianieren, aber….
SPRECHERIN
um sein Akademikerdeutsch dann im Spiel mit doppelten Wortbedeutungen auf den platten Fußboden der Alltagsprache herunterzuholen - aus einiger Bildungshöhe.
ZUSPIELUNG 3 (Anfang Interview)
Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt, flög ich zu Dir, da ich kein Vöglein bin und nur ein Flügel hab, spiel ich Klavier.
MUSIK, darüber:
SPRECHERIN
Heinz Erhardt, Musikant, Poet, Reimkünstler, Entertainer, wohl gerundetes Symbol der Wirtschaftswunderjahre. Meist in der Rolle des Biedermannes, der kein Brandstifter sein mag, aber tolpatschig und mit Hintersinn über manche Ungereimtheit des Lebens stolpert. Willy Astor:
ZUSPIELUNG 4 (Astor)
Also ich finde, das Tolle an Heinz Erhardt ist, dass seine ganzen Gedichte und Texte unheimlich zeitgemäß sind. Über die könnt man auch in 100 Jahren noch lachen, das sind einfach Kunstwerke und es hat einfach eine gute Kraft, es hat einen Körper und deswegen hat es immer Bestand.
ZUSPIELUNG 5 (Zehrer)
Ja, so eine Figur taucht bei uns in jeder Generation nur einmal auf ... vielleicht gibt es so eine Linie im 20. Jahrhundert der komischen Köpfe, die auch langlebig in Erinnerung geblieben sind. Das fängt an mit Otto Reuter zur Jahrhundertwende, geht über zu Karl Valentin, dann kommt aber auch schon Heinz Erhardt, wurde dann wohl abgelöst von Otto Waalkes ….
SPRECHERIN
Klaus Zehrer, Literaturwissenschaftler und Humorkritiker, über Heinz Erhardt,
der seine eigene Geschichte so beginnt:
ZUSPIELUNG 6 (Erhardt C 140284, take 3)
Also, es war vor etlichen Jahren, da erblickte ich das elektrische Licht der Welt... Der Winter war sehr kalt und ich lag so rum, was sollte ich machen, ich hatte schon Beine, aber ich konnte noch nicht laufen und ich fror so vor mich hin, denn meine Eltern waren ausgegangen, der Ofen auch und da beschloss ich dann, ein Dichter zu werden. Denn alle berühmten Dichter haben ja in ihrer Jugend gefroren.
SPRECHERIN
Und oft auch später noch. Wie der arme Poet, den man in der Schule kennen lernte, wo den Zöglingen auch die bekannten Klassikerballaden eingetrichtert wurden. Ein Kanon, auf den Heinz Erhardt noch zurückgreifen konnte. Und das Publikum? War froh und dankbar, dass da mal einer die Luft rausließ.
ZUSPIELUNG 7 (Erhardt CD 71819, disc 1, 7)
Sie hören als zweites Gedicht, gleich das erste. Johann Wolfgang von Frankfurt. Der König Erl
Wer reitet so spät durch Wind und Nacht?
Es ist der Vater. Es ist gleich sieben, nein acht. (Die Uhr ging nach)
Im Arm den Knaben er wohl hält,
er hält ihn warm, denn er ist erkält´.
Halb drei, halb fünf. Es wird schon hell.
Noch immer reitet der Vater schnell.
Erreicht den Hof mit Müh und Not---
der Knabe lebt, das Pferd ist tot!
SPRECHERIN
Auch Heinz Erhardt muss als Kind oft gefroren haben, vor allem seelisch:
seine Eltern trennen sich bereits kurz nach seiner Geburt. Der kleine Heinz wächst bei seinen Großeltern in Riga auf. Kurz bevor er eingeschult werden soll, entführt ihn die Mutter nach Petersburg. Dort allerdings leidet er unter solchem Heimweh, dass er zu den Großeltern zurückgeschickt werden muss.
ZUSPIELUNG 8 (Erhardt CD 63543, take 1))
Wer den Schaden hat, spottet jeder Beschreibung.
SPRECHERIN
Dann nimmt der Vater, ein Kapellmeister, den knapp 10jährigen Buben mit auf Tournee durch ganz Deutschland. Sohn Heinz wechselt 15 Mal die Schule, kann schließlich dort nicht mehr Fuß fassen und schmeißt das Abitur.
ZUSPIELUNG 9 (Erhardt CD 63543, take 1))
Jeder sollte sein eigener Hirte sein, jeder sollte sich hüten und zwar davor, dass einem die anderen Leute das Fell über das Ohren hauen.
SPRECHERIN
Der Großvater steckt ihn in seine Musikalienhandlung. Ein solides Geschäft. Neben der Arbeit studiert Erhardt jedoch am Konservatorium in Leipzig Musik.
ZUSPIELUNG 10 (Erhardt)
Ich wollte Pianist werden, Chopin, Schumann, und die Romantiker lagen mir besonders.
SPRECHERIN
Außerdem sammelt er erste Lorbeeren als Stegreifkomiker.
ZUSPIELUNG 11(Erhardt CD 63543, take 1))
Liebe Spottfreunde, es darf für uns kein Äußerstes geben, zu dem wir nicht entschlossen wären und keine Lauer, auf der wir nicht lägen.
SPRECHERIN
Dann stirbt der Großvater. Erhardt hat keine Lust auf den Musikalienhandel. Aber er lernt die Liebe seines Lebens kennen: Gilda Zanetti.
ZUSPIELUNG 12 (Erhardt)
Das war in Riga in einem Fahrstuhl. Ich stieg in den Fahrstuhl, sie war schon drinnen, und ich fragte, eine sehr dumme Frage: Verzeihen Sie, fahren Sie auch nach oben, wo soll man sonst hinfahren, wenn man im Parterre einsteigt. Und zufällig musste ich auch in die gleiche Wohnung, wo meine Frau wohnte und ein Jahr später haben wir geheiratet.
SPRECHERIN
Gilda ist es, die Heinz Erhardt darin bestärkt, sich endgültig für die Bühne zu entscheiden. Sie wird ihn lebenslang begleiten und unterstützen.
ZUSPIELUNG 13 (Erhardt CD 63543, take 1)
Nicht jeder, der die Bretter, die die Welt bedeuten, betritt, merkt, dass er auf dem Holzweg ist.
SPRECHERIN
Erhardt geht nach Berlin, sucht ein Engagement und hat´s schwer. Oft gibt es nichts anderes zu essen, als die mittägliche Erbsensuppe, die in der Volksküche ausgegeben wird. 1938, kurz vor Kriegsbeginn, schafft er den Durchbruch im renommierten „Kabarett der Komiker“.
ZUSPIELUNG 14 (Erhardt CD 63543, take 5))
Ich wollte durch mein Erscheinen gar nicht erst herkommen, weil ich so scheu von Hause aus bin, aber der Chef des Hauses meinte, komm Heinz, wirf alles von dir, was dich host, äh, hemmt, jetzt steh ich hier Cognak, äh, rum.....
SPRECHERIN
Er tourt durch ganz Deutschland und brilliert ausgerechnet an der Seite einer der schönsten Frauen dieser Zeit, der Tänzerin La Jana.
ZUSPIELUNG 15 (Erhardt)
mein erstes Autogramm: Herr Le Jana, könnt ich von Ihrer Frau ein Autogramm haben?
SPRECHERIN
Inzwischen manövriert Hitler die Welt in den Krieg. 1941 wird auch Heinz Erhardt einberufen – als Nichtschwimmer kommt er zur Marine. Dort schiebt man ihn glücklicherweise zur musikalischen Unterhaltung ab: Erhardt darf erst mal auf die große Pauke hauen.
ZUSPIELUNG 16 (Erhardt)
Da hatte ich 187 Takte Pause und dann kam ein Bums von mir, der war sehr wichtig, und der Obermusikmeister wusste dann, wo er war. Bei den Proben hatte mein Nachbar mir immer einen Tritt gegeben, da wusste ich: jetzt kommt der Schlag, da hab ich reingehauen, das stimmt jetzt auch. Aber bei der Aufführung hat der mich im Stich gelassen und schließlich habe ich auf gut Glück
reingehauen, weil ich dachte: jetzt ist der Höhepunkt, aber nein, es war falsch, die konnten nicht mehr blasen, vor Lachen. Es war eine Katastrophe. Nachher kam der Obermusikmeister zu mir und meinte, Sie mögen ein guter Mensch sein, aber Sie sind ein schlechter Schlagzeuger, wir werden Sie abkommandieren, Sie kommen zur Wehrbetreuung nach Kiel. Da hab ich erst meine richtige künstlerische Laufbahn begonnen.
SPRECHERIN
Dank der Auftritte in Riga und mit La Jana hat Heinz Erhardt bereits allerhand Repertoire: selbstverfasste Gedichte und Chansons. Das berühmteste wird das „Fräulein Mabel“.
ZUSPIELUNG 17 (Erhardt)
Das Chanson hatte ich schon in Riga gedichtet und war sehr stolz auf diesen Reim, Mabel, eibel. Meine Verwandten sagten immer: Was für einen Quatsch.
ZUSPIELUNG 18 (CD 141509, 14)
Kennen Sie denn schon das Fräulein Mabel
würden Sie sie sehn, wird’s ihnen eibel.
Beine hat se krumm so wie ein Säbel
meine süße kleine Freundin Fräulein Mabel.
(AB HIER EV UNTER TEXT)
Kennen Sie denn schon das Fräulein Mabel.
Immer nimmt sies Messer statt der Geibel.
Trotzdem habe ich für sie ein Fabel,
für die süße kleine Freundin Fräulein Mabel.
Manche gibt es, die mir heute, dieses stille Glück nicht gönnen
nur deshalb, weil diese Leute so was nicht verstehen können.
Kennen Sie denn schon das Fräulein Mabel.
Sie bewohnt gleich nebenan ne meibel -
lierte kleine Wohnung unterm Geibel,
meine süße kleine Freundin, Fräulein Mabel.
ZUSPIELUNG 19 (Zehrer)
Heinz Erhardt war ein Humorist, ein volkstümlicher Humorist im besten Sinne. Er hat keine hohen intellektuellen Hürden aufgestellt, sondern er war einfach, er war allgemeinverständlich. Aber er war dabei niemals platt...
SPRECHERIN
findet Klaus Zehrer, Humorkritiker und Kolumnist bei dem Satiremagazin „Titanic“.
ZUSPIELUNG 20 (Zehrer)
Ich seh ihn in der Tradition der Volkssänger, das kommt alles aus dem 19. Jahrhundert, wo es auch schon eine große Tradition des Wortspiels gab. Und wenn man H. E. genau liest, dann sieht man, dass er sehr viel von Wilhelm Busch gelernt hat.
SPRECHERIN
Von Heinz Erhardt gelernt hat dagegen der bayerische Kabarettist, Musiker und Komponist Willy Astor. Ihm ist der Komiker geradezu ans Herz gewachsen.
ZUSPIELUNG 21 (Astor)
Dieses Feinstoffliche, das Heinz Erhardt mitgebracht hat in seinem Humor, das hab ich erst später durch das Lesen seiner Sachen ergründet und ich hab ihn immer schon sehr gern gemocht. Ich mochte es gut leiden, dass er ein stiller Mann war außerhalb seiner Arbeit. Er hat ja auch Musik komponiert. Er war ein super Musiker.
ZUSPIELUNG 22 (Erhardt Interview 14.35))
Das Gedicht ist nur durch Zufall gekommen, sie waren meist nicht länger als 4 Zeilen. Und immer wenn ich vier Zeilen zu ende hatte, dann sagte ich: noch n Gedicht.
ZUSPIELUNG 25 (Erhardt CD 63543, take 1))
Das Leben kommt auf alle Fälle
aus einer Zelle.
Doch manchmal endet´s auch – bei Strolchen! -
in einer solchen.
SPRECHERIN
Es war sicher ein Glück für Heinz Erhardt, dass sein fast zeitloser Humor keine tagesaktuellen oder politischen Bezüge suchte. So kommt er relativ unbeschadet durch die Nazi-Zeit, den Krieg und kann 1946 beim NWDR wieder neu beginnen. Selbst die Engländer, die jede Sendung im voraus absegnen müssen, sind begeistert. Er sei der einzige Deutsche, über den sie lachen könnten, ohne ein Wort zu verstehen. Dabei arbeitet Erhardt hart an seinen Texten, oft kosten ihn seine Pointen, die nur scheinbar leicht und improvisiert daherkommen, schlaflose Nächte....
ZUSPIELUNG 27 (Zehrer)
Das glaub ich ihm sofort.
ZUSPIELUNG 28 (Erhardt)
Manchmal aber fallen einem auch die Pointen aus dem Ärmel. So war es zum Beispiel in der Waldbühne, in Berlin, 25 000 Menschen, irrsinnig heiß und wie ich auftrete, umschwirrten mich einige Wespen. Ich wagte nicht, den Mund aufzumachen, weil ich dachte, ich verschluck gleich eine. Und ich hatte einen 10 Minuten langen Kampf mit den 5 Wespen. Das war ein so großer Erfolg, dass man sagte, warum machen Sie es nicht immer? Aber wo kriegt man immer gleich Wespen her. Aber da war noch was anderes. Als die Wespen dann verscheucht waren, trug ich ein Gedicht von mir vor, das ich schon mindestens 1000 mal vorgetragen hatte, blieb aber mittendrin stecken, vielleicht war die Hitze dran schuld, Totenstille. Ich errötete bis unter die Haarwurzeln: Mit einem Mal bücke ich mich, tu so, als ob ich etwas hochhebe und sage: ach. Ich hatte den Faden verloren und stecks dann oben in die Tasche. Das war die Rettung.
ZUSPIELUNG 29(CD 71819, disc 2, take 16)
Aber das passt jetzt ganz genau hinein. Urlaub im Urwald.
Ich geh im Urwald für mich hin.
Wie schön, dass ich im Urwald bin.
Man kann hier noch so lange wandern,
ein Urbaum steht neben dem andern.
Und an den Bäumen Blatt für Blatt
hängt Urlaub.
Schön, dass man ihn hat.
SPRECHERIN
Der Erfolg beim Radio zieht Theaterauftritte nach sich. Lustspiele sollen die Entbehrungen der Nachkriegszeit vergessen lassen. „Lieber reich, aber glücklich“ mit Heinz Erhardt sehen 1947 allein in Hamburg 35.000 Zuschauer.
ZUSPIELUNG 30 (Erhardt)
Das Wort Schauspieler möchte ich da vielleicht doch etwas vorsichtiger gebrauchen – ich kann mich eben nur selbst spielen.
SPRECHERIN
Mancher Text funktioniert auch als Szene mit verteilten Rollen. Ein Dramolett auf den Buchstaben G.
ZUSPIELUNG 26 (Erhardt CD 63543, take 1)
Gong
Geliebte Gisela. - Geliebter Gregorius. Günstige Gelegenheit - Gatte ging? - Geschäftsreise - Guckshaven – Großgerau - Glänzende Geldgegend - Getränk gefällig? - Genialer Gedanke. Gerade Gewürzgurke gegessen. - Gesundheit - Gleichfalls – Gutes Gesöff – Glücklich? - Gewiss - Geht ganz gut, gell?
SPRECHERIN
In den 50er Jahren kommt dann der Film. Körperlich inzwischen für die Breitwand geradezu geschaffen gibt Erhardt den kleinen, großen Mann. So ist er „Der müde Theodor“: Liebevoll, gutmütig bis zur Trotteligkeit. Immer mit Brille. Aber nicht ohne Durchblick. Meist mimt er den Familienvater, auch alleinerziehend wie in „Witwer mit fünf Töchtern“. Partnerverlust als Kriegsfolge.
ZUSPIELUNG 31 (Zehrer)
Ja das war sicher ein Thema der Zeit, das aber umgekehrt wurde. Es war ja ein viel eklatanteres Thema, dass Frauen ihre Männer verloren haben und als Witwen gelebt haben. Der Witwer, der alleinstehende Mann, der war ja ein eher seltenes Phänomen, aber das ist eine übliche Technik des Humoristischen, das man das Wohlbekannte so leicht verfremdet und umgekehrt und so in eine Form bringt, die einen nicht so ganz an die schmerzhafte Realität erinnert.
ZUSPIELUNG 32 (Erhardt)
An sich war ich sehr glücklich mit diesen Vaterrollen.
SPRECHERIN
Ausgerechnet diese Filme - von der Kritik nicht ganz zu Unrecht als Klamauk abqualifiziert - sollten in den 80er Jahren ein Comeback erleben. Für junge Leute sind sie plötzlich Kult.
ZUSPIELUNG 33 (Zehrer)
Es gab eben tonangebende Stimmen in den Medien, die spätestens ab den 60er Jahren doch verlangt haben, dass Komik nicht so apolitisch daherkommen darf wie es Heinz Erhardt doch immer verkörpert hat, dass sie mehr sein muss, dass sie aufklären muss und da kamen dann etwa Formen des Politkabaretts höher in Kurs und Heinz Erhardt galt als altbacken und antiquiert. Mittlerweise sieht man das wieder entspannter. Man sieht auch wieder genauer auf das Handwerk des Humors und kann das wieder wertschätzen, dass Heinz Erhardt da einfach sehr sehr gutes Handwerk geliefert hat.
ZUSPIELUNG 34 (CD 71819,disc 1, take 8)
Der Berg
Hätte man sämtliche Berge der ganzen Welt
zusammengetragen und übereinandergestellt,
und wäre zu Füßen dieses Massivs
ein riesiges Meer, ein breites und tiefs,
und stürzte dann unter Donnern und Blitzen
der Berg in dieses Meer ----, na, das würd spritzen!
ZUSPIELUNG 35 (Zehrer)
Da baut Erhardt so eine Kulisse der Spannung auf, gibt etwas sehr Dramatisches vor, und dann fällt das in einer sehr plötzlichen und überraschenden Pointe in etwas sehr Banales ab. Das ist eine sehr klug und gut und sicher gehandhabte Technik, die etwa Immanuel Kant schon in seiner Humortheorie vorweg genommen hat. Kant sagt, das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts.
ZUSPIELUNG 35, b (CD 63543, take 1)
Man fasse sich, aber kurz, das ist das hüpfende Komma, der springende Punkt.
ZUSPIELUNG 36(Astor)
Für mich ist Heinz Erhardt auf einer absolut gleichen Stufe wie Ringelnatz zum Beispiel. Und Ringelnatz hat ja gesagt: Humor ist der Knopf, auf den wir drücken müssen, damit uns nicht der Kragen platzt und das hat Heinz Erhardt gemacht und er hat es phantastisch gemacht. Das hat eine wahnsinnige Qualität. Ich finde dass Heinz Erhardt auch ein Komiker war, der eine unheimlich starke Poesie verbreitet hat in seinen Texten.
ZUSPIELUNG 35, c (Erhardt CD 63543, take 5)
Himmel, Gesäß und Nähgarn
SPRECHERIN
Und welches Gedicht fällt Willy Astor als erstes ein, wenn er an Heinz Erhardt denkt? Natürlich: die Made
ZUSPIELUNG 37 (CD 63543, take 5/7)
Die Made
Hinter eines Baumes Rinde
wohnt die Made mit dem Kinde.
Sie ist Witwe, denn der Gatte,
den sie hatte, fiel vom Blatte.
Diente so auf diese Weise
einer Ameise als Speise.
Eines Morgens sprach die Made:
„Liebes Kind, ich sehe grade,
drüben gibt es frischen Kohl,
den ich hol. So leb denn wohl!
Halt, noch eins! Denk, was geschah,
geh nicht aus, denk an Papa!“
Also sprach sie und entwich.-
Made junior aber schlich
hinterdrein; und das war schlecht!
Denn schon kam ein Sprecht
und verschlang die kleine fade
Made ohne Gnade. Schade!
SPRECHERIN
Das Gedicht von der Made. Wahrlich ein Klassiker und ein Fix-Stern am Himmel deutscher humoristischer Dichtung. Geradezu genial – die Klimax der vielen Aaas und seine verzögerte Schlusspointe. Ein Markenzeichen von Heinz Erhardt.
ZUSPIELUNG 38 (Erhardt, wie vorhin)
Nein noch nicht, da kommt doch noch was...Hinter eines Baumes Rinde ruft die made nach dem Kinde ... ja jetzt ist es aus....BEIFALL
ZUSPIELUNG 39 (Zehrer)
Die Texte, wenn man sie sich genauer ansieht, sind natürlich alles andere als harmlos. Da geht es auch um Tod und Leben. Aber er bringt das immer wieder so charmant und unschuldig rüber, dass einem das gar nicht so richtig auffällt. Und das hat Heinz Erhardt so gut gemacht, dass er immer wieder als der unschuldige Witzemacher in Erscheinung getreten ist, der er im privaten auch gar nicht war.
SPRECHERIN
Der erfolgreiche Komiker, der liebenswerte und immer lustige Heinz Erhardt, gestorben am 5. Juni 1979, hat mit Problemen zu kämpfen.
ZUSPIELUNG 40 (Zehrer)
Es gibt eine große Kluft zwischen dem öffentlichen Heinz Erhardt, den wir als Bühnenfigur kennen und dem Menschen, der von großen Ängsten und Problemen besetzt war, der wie man heute weiß, ein massives Alkoholproblem hatte, der wohl auch in der Familie nicht der gemütliche Familienvater war, als der er immer wieder in seinen Filmen erscheint.
ZUSPIELUNG 41 (Erhardt CD 63543, take 1 oder take 4))
Ja ja, manchmal kommt man mit einem blauen Auge davon, das man einem anderen geschlagen hat/
Immer wenn ich traurig bin, trink ich einen Korn (gesungen)
ZUSPIELUNG 42 (Astor)
Er war auch ein nervöser Bühnenkünstler. Das ist aber unheimlich sympathisch, dass da nicht irgend so ein ausgebuffter Typ auf der Bühne steht. Leider hat er die letzten Jahre seines Lebens stumm verbringen müssen, weil er durch seinen Schlaganfall halt die Stimme verloren hat, was die größte Grausamkeit ist für einen Komiker, aber ich muss sagen, des ist mir wahnsinnig nahe gegangen und ich fühl mich mit ihm seelenverwandt.
ZUSPIELUNG 43 (Zehrer)
Es gibt so einen kleinen Vierzeiler von ihm, den ich sehr schätze.
Ich kann nichts dafür, dass der Mond schon scheint
und dass nicht der Mond seinen Mondschein schont
und das Frau Adele im Wohnheim weint
weil sie nicht wie früher in Weinheim wohnt.
Also, da ist nun wirklich der Inhalt nichts. Das ist reine Sprache, das ist reiner sound, im Grunde genommen ist das ein Urvater des deutschen Hip Hop.
ZUSPIELUNG 45 (Erhardt)
Ich freue mich, wenn man über mich lacht. Aber man soll so über mich lachen, dass man sich hinterher nicht schämt, über mich gelacht zu haben
MUSIK, darüber:
ZUSPIELUNG 46 (Astor)
Ich finde, dass man sich vor diesem Mann verneigen soll, weil er einfach großartig war.
ZUSPIELUNG 47 (Erhardt CD 63543, take 5)
Na also ruhig.
Sizilium, sizilium.
Zu den unterschiedlichsten Anlässen kommen Geschenke zum Einsatz: Ob Geburtstag, Weihnachten, Hochzeit - die Kultur des Schenkens hat eine lange Tradition und viele Gesichter: Geschenke können erfreuen, aber auch unter Druck setzen. (BR 2018) Autorin: Veronika Wawatschek
Credits
Autor/in dieser Folge: Veronika Wawatschek
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Michael Hafner
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Frank Adloff (Professor);
Holger Schwaiger (Dr.);
Friedrich Rost (Dr.)
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MUSIK: Melodie „Morgen Kinder“ unterlegen
Kinderstimmen:
Ich mag Nikolaus am liebsten, weil der bringt immer Geschenke. // Ich mag des Christkind am liebsten, weil des Geschenke bringt // Mein schönstes Geschenk war der Bauernhof // Mein schönstes Geschenk war, wo wir in Zirkus Krone gegangen sind.
1. ZSP – Friedrich Rost
Der Reiz des Schenkens, das Besondere, was Weihnachten eben grade durch das Schenken ausmacht, der hat uns alle seit frühester Kindheit gepackt und wir kommen praktisch nicht von ihm los. Es hat eben eine Magie, einen Zauber, eine Hektik, die nur einmal im Jahr sozusagen wirklich nur in dieser Kulmination auftritt.
SPRECHERIN
… sagt Friedrich Rost. Der Erziehungswissenschaftler von der FU Berlin hat sich neben seiner pädagogischen Forschung viel mit der Kunst des Schenkens beschäftigt, mit diesem Zauber, der uns jedes Jahr vor allem zu Weihnachten in Kindheitserinnerungen schwelgen lässt, mit dieser so besonderen Stimmung, diesem Knistern, dieser Aufregung, dieser Vorfreude, bevor es dann endlich so weit ist:
ATMO: Glöckchen
Kinderstimmen:
Wenn man ne Glocke hört, dann weiß man, dass des Christkind da war. // Dann geh ich schnell die Treppe runter von unserem Kinderzimmer und will die Geschenke sehen, das Wohnzimmer ist dann voller Geschenke und alles glitzert …
SPRECHERIN
Keine Frage: Geschenke bekommen ist schön. Schenken macht Spaß - und zwar nicht nur zu Weihnachten. Auch wenn da am meisten Geld ausgegeben wird: Pro Kopf investieren die Deutschen laut Handelsverband Deutschland gut 450 Euro im Jahr in Weihnachtsgeschenke. Nicht immer erfolgreich:
Umfrage Teil 1: Kinder
Ich hab nicht immer gekriegt, was ich wollte. // Du musst Barbie sagen // Die Meerjungsfraubarbie hab ich nicht gekriegt!
SPRECHERIN
Der Wunschzettel ist kein Bestellschein und das Christkind bringt nicht immer das Ersehnte, wie eine Umfrage des Handelsverbands HDE von 2016 zeigt: So werden zwar häufig Uhren oder Elektrogeräte verschenkt, die finden sich aber nicht unter den Top Ten der beliebtesten Geschenke. Und statt der vielen Geschenkgutscheine unterm Christbaum hätte die Mehrheit der Deutschen lieber Geld.
Umfrage Teil 2: Mein schlimmstes Geschenk
Das schlimmste Geschenk, was ich jemals bekommen hab, das waren tatsächlich Cowboystiefel. Ich war einige Wochen zuvor zu Besuch bei meiner Tante und genau die gleichen Stiefel hat mein Cousin mal geschenkt bekommen, auf jeden Fall standen die da sehr auffällig im Flur, hab die so in die Hand genommen, weil ich so erschrocken war, wie man so was tragen kann. Und hab dann zu meinem Cousin gesagt: Och, das ist ja schön, so ein Stiefel, wollt ich ein Kompliment machen, obwohl ich das überhaupt nicht so empfunden hab und dann hat er sich gedacht, er findet die Stiefel so toll, dann schenk ich ihm die Stiefel.
002 #00:00:17-
Das war wirklich sehr schlimm. Das war eine Plastiktüte, die uns an den Balkon gehängt wurde, dann hieß es, da ist das Weihnachtsgeschenk drin und es war eingeschweißtes Geräuchertes.
SPRECHERIN
Ja, Geschenke können gehörig schiefgehen, bestätigt der Erlanger Soziologe Holger Schwaiger. Er nennt das Schenken einen Akt der Kommunikation. Und wie jede Form der Kommunikation kann auch das Schenken misslingen oder gar noch Schlimmeres auslösen:
2. ZSP – Holger Schwaiger
Es ist in dem Sinne bei den archaischen Völkern oftmals davon gesprochen worden, das ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, indem eben dann die Völker mit materiellen Geschenken so überhäuft wurden, dass sie überhaupt keine Chance mehr hatten, quasi eine Gegengabe zu geben, weil sie da einfach nicht mehr mächtig dazu waren.
SPRECHERIN
Im Alten Testament schenkt König David die Kriegsbeute seinen Freunden - zur Demonstration der eigenen Macht. Und auch in der griechischen Antike gaben Geschenke nicht nur Grund zur Freude:
Als Paris in Homers Schilderungen Aphrodite einen goldenen Apfel schenkt mit der Aufschrift „für die Schönste“, zieht er den Zorn und Neid von Hera und Athene auf sich.
Der Trojanische Krieg nimmt seinen Lauf. Und als Pandora verbotenerweise die ihr geschenkte Büchse öffnet, wird sämtliches Leid und Unheil über die Menschen gebracht. Warum also schenken wir überhaupt? Professor Frank Adloff von der Universität Hamburg antwortet mit einer ganz allgemeinen Beobachtung:
3. ZSP – Prof. Frank Adloff
Jedenfalls ist die Gabe in allen Gesellschaften konstitutiv für das Soziale kann man sagen, also für den Zusammenhalt der Gesellschaft ganz zentral.
SPRECHERIN
Der französische Soziologe Marcel Mauss bezeichnete die Gabe in seinem gleichnamigen Werk 1925 als eine Art ‚Gesellschaftsvertrag‘. Denn Geschenke können Frieden stiften oder bewahren, sie sind ein Zeichen der Freundschaft, der Solidarität oder des Interesses am Gegenüber - und sie kommen sogar im Tierreich vor:
ATMO Vogelgezwitscher
SPRECHERIN
Laubenvögel in Australien beschenken ihre Partnerinnen beispielsweise mit einer Beere, wenn sie ihnen in ihren Liebespavillon gefolgt sind.
Für das Turmfalkenweibchen gibt es beim Brüten eine Maus und welche Katze hat ihr Herrchen nicht schon mal mit einem toten Vogel vor der Terrassentür beglückt. Der Verhaltensbiologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt vermutete, dass sich diese tierischen Geschenke aus dem Paarungsverhalten und aus der Fürsorge für den Partner entwickelt haben: Sie befrieden, helfen dabei, einen intimen Kontakt anzubahnen und stechen damit möglicherweise sogar Konkurrenten aus.
TRENNER: WERBEMUSIK
SPRECHERIN
Ein Trick, auf den die Werbung bis heute setzt, wie der Berliner Erziehungswissenschaftler Friedrich Rost feststellt:
4. ZSP – Friedrich Rost
Werbegeschenke haben ja das Ziel, jemanden für sich zu gewinnen oder an sich zu binden.
SPRECHERIN
Diesen Mechanismus beobachtete auch der französische Soziologe und Anthropologe Marcel Mauss bei indigenen Völkern in Nordwestkanada oder auf Samoa. Frank Adloff, Professor für Soziologie und Sozialökonomie in Hamburg, hat sich eingehend mit dem Werk von Marcel Mauss beschäftigt:
5. ZSP – Frank Adloff
Wenn beispielsweise Gruppen aufeinanderstoßen und das ist tatsächlich das, was Marcel Mauss hauptsächlich in seinem Text geschrieben hat, die jetzt noch nicht eine gemeinsame Kultur haben oder nicht gemeinsame Normen haben, die sich noch nicht darauf verlassen können, dass Frieden herrscht. Da gilt die Gabe im Grunde als Eröffnungszeichen für Friedfertigkeit.
SPRECHERIN
Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Kula-Ring auf den Tobriand-Inseln bei Papua-Neuguinea. Zwei Arten von Schmuckstücken, Halsketten und Armbänder, kursieren in entgegengesetzter Richtung zwischen den Inseln. Sie zeigen: Wir leben friedlich zusammen.
Erst nach dem Überreichen dieser Schmuckstücke beginnt der Tausch von Gebrauchsgegenständen. Der Kula-Ring hat also die Basis für eine weitere Zusammenarbeit gelegt. Ganz anders dagegen ein Brauch beim nordwestamerikanischen Volk der Kwakiutl, der sogenannte ‚Potlatsch‘. In der Gegend um Vancouver und Seattle diente das Geschenk eher der Machtdemonstration:
6. ZSP Adloff
Sie haben sich wechselseitig Dinge geschenkt, Schmuckstücke, Wertgegenstände und die Personen, die hinterher aussteigen mussten, die nicht weiterkonnten, die hatte sozusagen diesen Wettlauf verloren.
SPRECHERIN
Ende des 19. Jahrhunderts verbot die kanadische Regierung den Potlatsch. Das ursprünglich spirituelle Ritual war zu einem Wettkampf des Schenkens verkommen – zu einem Kampf mit friedlichen Mitteln. Die Machtfrage wird hier nicht mit Waffengewalt ausgetragen, sondern mit immer üppigeren Geschenken. Nur wer etwas übrighat, kann geben. Geschenke können so ein Machtgefälle ausdrücken, Zeichen der Überlegenheit, aber auch Zeichen der Unterwerfung und Huldigung sein.
MUSIK : Wir kommen daher aus dem Morgenland
SPRECHERIN
Sie ist eine der bekanntesten Schenk-Geschichten der Bibel, an die Kinder bis heute rund um den Dreikönigstag am 6. Januar erinnern:
Als der Stern den Weisen aus dem Morgenland die Geburt eines Königs verkündet, machen sie sich auf den Weg zu dem Baby, das da so ärmlich in Windeln gewickelt in einer Futterkrippe liegt - edle Geschenke im Gepäck: Gold, Weihrauch und Myrrhe als Zeichen dafür, wer der wahre König ist, sagt Friedrich Rost:
7. ZSP – Friedrich Rost
Die haben ja Gaben gebracht, die auf die Einzigartigkeit dieses Kindes hinweisen und die sehr wertvoll sind, die Symbolik darin liegt ja, dass weltliche Herrscher sich dem geistlichen Führer unterwerfen und dieses mit Geschenken tun, das war wirklich ein Akt des Respekts und der Unterwerfung und dementsprechend hat das eine hohe Symbolkraft.
SPRECHERIN
Opfergaben oder Geschenke der Hingabe finden sich in vielen Religionen, stellt der Soziologe Holger Schwaiger fest. Dahinter stecke die Idee:
8. ZSP – Holger Schwaiger:
Der Mensch ist den Göttern oder seinen Gottheiten dadurch, dass er auf der Erde leben kann oder das Leben geschenkt bekommen hat, ist er ihnen auch etwas schuldig, etwas zurückzugeben und nachdem der Gott nicht so präsent ist wie der Nachbarsjunge haben sich eben Kulte um das Schenken entwickelt, dass man eben auf diese Art und Weise den Gottheiten etwas zurückgeben kann.
SPRECHERIN
Das Leben als das größte Geschenk, das der Mensch bekommen kann und das ihn zu Dankbarkeit verpflichtet: Ob Opfer, Spenden oder Almosen - immer verbunden waren diese Kulte mit der Hoffnung, dass solche Gaben den Weg ins Paradies erleichtern - und nebenbei auch das Zusammenleben auf Erden.
ZITATOR
"Was immer du auf Erden verschenkst, es wird dich in den Himmel begleiten."
SPRECHERIN
… heißt es im Koran und in den Sprüchen Salomos ist im Alten Testament zu lesen:
ZITATOR
"Wer Geschenke gibt, hat alle zu Freunden."
SPRECHERIN
‚Geschenke erhalten die Freundschaft‘, heißt es im Volksmund. ‚Brot und Spiele‘ - auf dieses Motto setzten auch Herrscher lange Zeit - die Loyalität des Volkes den Mächtigen gegenüber und im Kriegsfall verstand sich dann von selbst. Denn Geben und üppiges Schenken waren lange Zeit denjenigen vorbehalten, die mehr hatten als sie brauchten.
EVTL Flötenmusik / Barockmusik unterlegen
SPRECHERIN
Als Georg der Reiche im Jahr 1475 in Landshut Hedwig, die Tochter des polnischen Königs heiratet, isst und trinkt die ganze Stadt eine Woche lang auf Kosten des Herzogs. Und der österreichische Kaiser Franz Josef spendiert seinen Untertanen anlässlich seiner Hochzeit mit Sissi eine Amnestie für die Aufständischen von 1848.
Auch heute noch versuchen Unternehmen mit einem großzügigen Weihnachtsgeld, Gewinnbeteiligungen oder anderen Vergünstigungen ihr Ansehen bei ihren Mitarbeitern oder in der Öffentlichkeit zu steigern. Geschenke können gefügig machen - aber nach Meinung des Hamburger Soziologen Frank Adloff handelt es sich bei solchen Zweckgaben nicht mehr um wahre Geschenke:
9. ZSP – Frank Adloff
Wenn man das so in diese Haltung hineingibt, ich gebe, damit du gibst, do ut des, dann annulliere ich die Gabe eigentlich auch, weil dann ist es schierer Eigennutz.
SPRECHERIN
Die Gabe an sich ist nämlich qua definitionem an keine Bedingung geknüpft. Der Brockhaus spricht von einem Geben ohne die Erwartung einer Gegenleistung. Ähnlich sieht es auch die deutsche Rechtsprechung:
10. ZSP – Frank Adloff
Im bürgerlichen Gesetzbuch gibt es Passagen, in denen festgelegt ist, was ein Geschenk ist und da ist es beispielsweise so, dass es eine unentgeltliche Übertragung von Eigentum ist. Also ich gebe etwas, ohne etwas dafür zu bekommen.
SPRECHERIN
Wenn aber Firmen großzügig an bestimmte Parteien spenden, Pharmaunternehmen Ärzte in teure Hotels zu Tagungen schicken und Journalisten, die sich zum Essen einladen lassen, wohlwollende Restaurantkritiken verfassen, sind das nach den Worten des Erlanger Soziologen Holger Schwaiger keine Geschenke mehr. Bei solchen Wohltaten fehle ein ganz wesentlicher Aspekt:
11. ZSP – Holger Schwaiger
Korruption ist kein Geschenk. Ein Geschenk zeichnet sich in unserer heutigen Gesellschaft mal ganz banal und für jeden erkenntlich dadurch aus, dass zumindest mal ne Verpackung drum ist. Dass vielleicht eine Schleife, eine Widmung und ähnliches drum ist. Und genau das ist ja bei der Korruption nicht der Fall.
SPRECHERIN
Denn diese Geschenke stehen einem guten Miteinander eher im Weg. Echte Geschenke sind seiner Meinung nach dagegen für das gesellschaftliche Zusammenleben von einer immensen Bedeutung:
12. ZSP – Holger Schwaiger
Auf diese Weise lässt sich eben sehr viel an Emotion ausdrücken, in der Beziehung zwischen Schenker und Beschenktem. Weil das Schenken ist im Prinzip eine Kommunikation der Liebe. Und Liebe ist einfach bedingungslos, das ist das vorteilhafte daran.
SPRECHERIN
Geldgeschenke können für Holger Schwaiger deshalb nicht im engeren Sinne zu den Geschenken gezählt werden.
13. ZSP – Holger Schwaiger
Weil, wenn es sich um eine emotionale Form der Kommunikation handelt, kann man nicht sagen: Weißt du was, liebes Gegenüber, meine Beziehung zu dir, zwischen der Oma und mir beispielsweise ist 50 Euro wert. Das gibt es nicht, eine Beziehung ist nicht Geld wert, meines Erachtens.
SPRECHERIN
Schnell wäre man dann seiner Meinung nach auch einem gewissen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt:
14. ZSP – Holger Schwaiger
Dann kann man eben nicht sagen: Meine Beziehung zu dir ist 30 Euro wert und letztes Jahr hast du mir 50 Euro geschenkt, hat sich denn unsere Liebe oder unsere Beziehung abgekühlt?
SPRECHERIN
Außerdem gehe die persönliche Note verloren, also genau das, was ein Geschenk eigentlich ausmache, und es würden sich viel grundsätzlichere Fragen stellen:
15. ZSP – Holger Schwaiger
Die Personalisierung ist beim Geldgeschenk aufgehoben, mit der Begründung: Du kannst dir jetzt was kaufen, was dir gefällt, schließlich weiß ich nicht, was dir gefällt. Und da muss man natürlich fragen: Wenn ich schon nicht weiß, was dir gefällt? Was ist denn dann unsere Beziehung wert? Also wenn ich mich von einem Partner schon so weit entfernt habe, dass ich gar nicht mehr weiß, was ihm gefallen würde, dann ist möglicherweise die Beziehung schon in einem ganz anderen Status, als dass man sich noch viel schenken kann.
SPRECHERIN
Was also macht ein gutes Geschenk aus?
Umfrage #00:00:11-3#
Das schönste Geschenk, was ich je gekriegt hab, war zu meinem 18. Geburtstag, ein Ring, der zusammengeschweißt war aus den Eheringen meiner Eltern. Das war bedeutungsvoll und extrem wichtig für mich.
001 #00:00:16-2#
Das war tatsächlich, dass mein Großvater meiner Schwester mal Inliner geschenkt hat und ich, glaub ich, ziemlich traurig danebengestanden hab, weil ich mir das auch sehr gewünscht hab und eine Woche später kam er dann und hat mir dann auch ein Paket überreicht, wo diese Inliner drin waren und weiß auch, dass ich in Tränen ausgebrochen bin, das war das Allergrößte, es war wirklich das größte Geschenk, was er mir machen konnte.
#00:02:46-8#
Es muss persönlich sein, es muss von Herzen kommen, ich glaub, es hat nichts mit Geld zu tun, es hat nichts mit Wert zu tun, der Wert ist glaub ich eher emotionaler Natur und ich glaub, das macht ein gutes Geschenk auch aus.
SPRECHERIN
Helmut Kohl hat einmal ein Trimm-Dich-Fahrrad bekommen. Für Angela Merkel gabs beim Antrittsbesuch des französischen Premierministers Francois Fillon 2007 ein Buch über Radioaktivität und Bundeskanzler Gerhard Schröder schenkte George W. Bush eine Motorsäge als „Geschenk unter Männern“ - solche Staatsgeschenke sagen oft mehr über den Schenker aus, denn über den Beschenkten. Friedrich Rost:
17. ZSP – Friedrich Rost
Heute wird wahrscheinlich jeder aus seiner Alltagserfahrung heraus sagen, dass das Geschenk gelungen ist, was beim Gegenüber ankommt, was ihm Freude macht und diese Freude spiegelt sich zurück auf denjenigen, der das Geschenk gegeben hat.
SPRECHERIN
Klar ist: Zum Schenken gehören immer zwei.
Umfrage #00:02:09-0#
Die erste Regel meines Vaters war: Schenke nur, was du gerne behalten möchtest, das heißt, was er damit sagen wollte: du verschenkst das an jemanden anderen, was du letztendlich, wenn du es dann hast, auch gerne haben würdest, weil es dann so gut und so wichtig ist, dass du dir viele Gedanken darüber gemacht hast.
#00:01:56-0#
Das beste Geschenk, was ich verschenkt hab, das ist Zeit: Zeit verschenken, das mach ich immer mal gerne, grad mit den Patenkindern von mir. Die bekommene Zeit und dann machen wir einfach einen ganz tollen Tag.
SPRECHERIN
Früher ging es vor allem um den Willen des Schenkers, heute steht eher der Wunsch des Beschenkten im Vordergrund: Womit kann ich meinem Gegenüber eine Freude machen? Heute soll ein Geschenk persönlich sein, aber nicht einen bestimmten Zweck verfolgen – so die landläufige Meinung.
18. ZSP – Friedrich Rost
Wenn mit dem Geschenk signalisiert wird: Du musst dich ändern! Du bist nicht perfekt, das ist natürlich eine Aussage, die nicht dem Sinn des Schenkens entspricht.
SPRECHERIN
Also kein Hometrainer, um den Ehemann zum Abspecken zu bewegen und auch kein Matheübungsbuch für den Sohn, der sich beim Rechnen schwer tut. Darüber hinaus haben sich eine ganze Reihe weiterer Normen rund ums Schenken entwickelt, wie Holger Schwaiger ausführt:
19. ZSP – Holger Schwaiger
Man nimmt das Geschenk und schenkt es normalerweise nicht weiter und schenkt es auch nicht zurück, was zum Beispiel in archaischen Gesellschaften durchaus üblich war. Und man tauscht dieses Geschenk auch nicht um. (…) Und es gibt noch weitere Gebote, wie das Schenken ablaufen soll. Zum Beispiel ist natürlich auch Dank und Freude ein besonderer Faktor, der das Schenken immer begleitet. Es gibt nichts Ungewöhnlicheres, als wenn man sich für ein Geschenk nicht bedankt. Jeder sagt zu seinen Kindern, wenn das Kind etwas geschenkt bekommt: Hast du auch artig danke gesagt?
SPRECHERIN
Die Frau freut sich wirklich über diesen ganz besonderen Seidenschal, die Großeltern schauen sich das Fotoalbum der Enkel immer und immer wieder an und die Schwester strahlt übers ganze Gesicht, als sie die eigens für sie angefertigte Kette umlegt. Auch wenn die Tendenz zu immer mehr Gutscheinen geht, für den Soziologen Holger Schwaiger macht das Materielle, das was man auspacken und in der Hand halten kann gerade den besonderen Reiz am Schenken aus:
20. ZSP – Holger Schwaiger Geschenke, Materielles bleibt
Ein Geschenk hat einen Wert, es ist ein Gegenstand in der Regel. Der ist nicht flüchtig im Gegensatz zu Worten, zum Blick und so weiter. Dadurch, dass das Geschenk immer da ist und eine Art Erinnerungsfunktion oder Souvenircharakter hat, dadurch werde ich immer an diese Botschaft, die mit dieser Kommunikation übertragen wird, „ich hab dich lieb“, „ich habe Sympathie für dich“, „ich mag dich“, diese Botschaft kann nicht einfach weggewischt werden wie Worte die einfach verhallen.
SPRECHERIN
Geschenke können Zeichen sein, die überdauern: Ob es sich nun um den Ring am Finger handelt, der die Liebe auch dann noch symbolisiert, wenn die gerade im Alltag auf Eis gelegt scheint. Ob es das Sofa der Oma ist, das bleibt, auch wenn die Oma längst gestorben ist. Oder ob dadurch Politik sichtbar wird: sei es durch die Freiheitsstatue vor Manhattan, die Frankreich den USA zur Besiegelung der Unabhängigkeit von Großbritannien schenkte oder den Panda-Bären, den China Taiwan 2008 schenkte, um das gegenseitige Verhältnis zu verbessern. Geschenke sind weit mehr wert, als der Wert, den ihnen das Preisschild beimisst.
21. ZSP Adloff
Ich würde sagen: Ohne Gabe kein Zusammenleben. Also meine These ist im Grunde immer, dass jede Form von Sozialität, dass jedes sich aufeinander einlassen, ob das nun die kleinste Interaktion ist oder auch größere gesellschaftliche Zusammenhänge darauf beruhen, dass wir bereit sind, uns zu öffnen, dem anderen etwas zu geben und auch ein Risiko einzugehen. Es gibt immer einen Moment der Bedingungslosigkeit im Sozialen. Wir können nicht davon ausgehen, dass immer schon klar ist, dass ich etwas zurückbekomme. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Normen schon alles regeln. Oder dass aus eigenem Interesse heraus die Welt funktioniert. Sondern ohne dieses Moment des Überschusses, der Bedingungslosigkeit kann das eigentlich überhaupt gar kein verlässliches Zusammenleben geben.
MUSIK drunter und fade out: Morgen, Kinder, werden wir uns freuen!
Ein Floh tanzt vor einer staunenden Gesellschaft und ein Tuchhändler sieht ein Bakterium: Als in der Renaissance das Mikroskop erfunden wird, eröffnen sich neue Welten. (BR 2021) Autorin:
Credits
Autor/in dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel, Michael Atzinger
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Erdmann Spiecker, Lehrstuhl für Mikro- und Nanostrukturforschung & Center für Nanoanalysis and Electron Microscopy (CENEM), Universität Erlangen-Nürnberg, Werkstoffwissenschaftler;
Julia Böttcher, Zentralinstitut für Wissenschaftsreflexion und Schlüsselqualifikationen (ZiWis) der Universität Erlangen-Nürnberg, Wissenschaftshistorikerin;
Marion Maria Ruisinger, Direktorin des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt, Medizinerin, Medizinhistorikerin
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher/in 1:
Ein Haar erscheint wie ein armdickes Seil, Blütenpollen wirken wie exotische Früchte mit Stacheln und in einem klarer Wassertropfen tummeln sich Myriaden kleiner Monster: Unter dem Mikroskop offenbart die Natur, was dem reinen Auge verborgen bleibt – und eröffnet ungeahnte Dimensionen: Seit der Mensch die Welt um sich herum vergrößert, zeigt sie ihm ein immer detaillierteres Bild von sich selbst.
MUSIK M02
Sprecher/in 2:
Den ersten Blick auf diesen Mikrokosmos erhaschen Gelehrte am Anfang des 17. Jahrhunderts. Kaum vorstellbar, wie es sich angefühlt haben muss, mit eigenen Augen auf eine vollkommen unbekannte – weil bislang unsichtbare – Welt zu schauen.
01 Ruisinger:
Angefangen hat das mit etwas, was ganz Viele – ich auch – auf der Nase tragen, nämlich mit der Brille.
Sprecher/in 1:
… beschreibt Marion Maria Ruisinger [Aussprache wie geschrieben]. Sie ist Direktorin des Deutschen Medizinhistorischen Museums in Ingolstadt.
Sprecher/in 2:
Dass durchsichtige Linsen oder auch Wassertropfen vergrößernd wirken, ist damals schon lange bekannt. Ab dem Mittelalter gleichen sogenannte Lesesteine aus geschliffenem Beryll – einem durchsichtigen, glasähnlichen Mineral – Sehschwächen aus. Aus ihnen entwickeln sich Monokel und Brillen, vom Beryll leitet sich auch das Wort "Brille" ab. Dementsprechend sind die Brillenmacher im 17. Jahrhundert die Fachleute für gläserne Linsen, sagt die Medizinhistorikerin:
02 Ruisinger:
Brillenmacher waren tatsächlich auch die ersten, die es mal ausprobiert haben, was passiert, wenn man mehrere Linsen in einem Sehstrahl hintereinander anordnet. Dafür braucht man so eine Röhre, wo man diese Linsen dann fixieren kann und wenn man durchguckt – je nachdem wie die Linse geschliffen war, wie die Röhre gestaltet ist – konnte man plötzlich sehr Fernes deutlich näher sehen, das war dann das was wir heute Teleskop nennen. Oder man konnte ganz kleine Dinge sehr viel größer sehen. Das ist das, was wir heute Mikroskop nennen. Man kann also sagen, der Blick in die Ferne und die Entdeckung dieser kleinen Welt haben eine gemeinsame Geburtsstunde und einen gemeinsamen Geburtsort. Nämlich die Werkstatt des Brillenmachers, so um 1610/1620.
Sprecher/in 1:
Geburtshelfer für beide Instrumente ist das im ausgehenden Mittelalter allmählich erwachende Interesse, im Buch der Natur zu lesen.
03 Ruisinger:
Im Buch der Natur lesen, das heißt nicht nur die alten Schriften eines Dioskurides zum Beispiel untersuchen, sondern rausgehen und die Pflanzen vor Ort ansehen. Nicht nur die Anatomie des Galen studieren, sondern den Leichnam selbst öffnen und nachschauen. Dieses Lesen im Buch der Natur, das beginnt im Spätmittelalter in Norditalien, ist der Blick der Gelehrten in der Renaissance, und der wird immer weiter vorangetrieben. Man schaut immer genauer, erforscht den Menschen – zum Beispiel jetzt in der Medizin – immer mehr im Detail, bis die ganze makroskopische Anatomie erschlossen ist, also alles, was ich mich unbewehrtem Auge sehen kann, und dann, um es dann noch weiter vorantreiben zu können, da muss man eine Vergrößerung ansetzen.
Sprecher/in 1:
Zunächst mit der Lupe, später dann mit dem Mikroskop.
MUSIK M03
Sprecher/in 2:
Im Grunde entspricht das Prinzip des Mikroskops einer doppelten Lupe: Das von der ersten Linse – dem Objektiv – vergrößerte Bild wird von einer zweiten Linse – dem Okular – nochmals vergrößert. Die Werte beider Linsen vervielfachen sich dabei: Schafft das Objektiv beispielsweise eine 20-fache Vergrößerung und das Okular eine 10-fache, ergibt sich insgesamt eine 200-fache Gesamtvergrößerung des betrachteten Objekts.
Sprecher/in 1:
Und die Natur bietet reichhaltigen Lesestoff für das optisch unterstützte Auge der Forscher: menschliche Exkremente oder Säfte wie Blut, Speichel, Urin oder die Samenflüssigkeit lassen sich genauso unter die Lupe nehmen wie Pflanzen oder Naturphänomene wie etwa Schneeflocken. Den Anfang machen allerdings wohl Insekten:
Sprecher/in 2:
Als quasi "erste mikroskopische Abbildung" gilt eine Bienen-Zeichnung des italienischen Naturforschers Francesco Stelluti: Er zeichnet das gesamte Insekt überlebensgroß in unterschiedlichen Perspektiven, aber auch einzelne Details wie den Kopf, die Beine oder die Fühler.
MUSIK M05
Sprecher/in 1:
Und auch andere Insekten beschäftigen die Gelehrten – stellen sie doch ein geradezu ideales Untersuchungsmaterial dar:
Sie sind verfügbar und relativ robust, klein, aber auch nicht zu klein. Der englische Wissenschaftler Robert Hooke etwa stellt in seinem Werk "Micrographia" unter anderem mikroskopische Beobachtungen über den Floh an und schwärmt:
Zitator:
"Er ist über und über mit einer wunderbar polierten dunklen Rüstung geschmückt, deren Platten fein gefügt sind und viele scharfe Nadeln tragen. Diese ähneln den Stacheln des Stachelschweins oder blanken, spitz zulaufen den Stahlnadeln [...]. Er hat auch zwei Beißwerkzeuge, ein wenig wie die der Ameise, aber ich konnte keine Zähne entdecken.
Sprecher/in 1:
Folgerichtig werden die frühen Mikroskope auch Flohgläser genannt.
Sprecher/in 2:
Während das Teleskop dazu führt, dass das geozentrische, also erdzentrierte Weltbild ins Wanken gerät und der Erde und damit dem Menschen allmählich seine zentrale Position im Universum nimmt, verursachen die Studien mit dem Mikroskop übrigens keine Konflikte mit der Kirche. Die Untersuchung der Natur wird als Untersuchung der Schöpfung Gottes verstanden:
04 Ruisinger:
Man kann sagen Naturforschung, so betrachtet, ist eine Art von Gottesbeweis und damit ganz unproblematisch für die kirchliche Lehre.
Sprecher/in 1:
In der Praxis ist das Mikroskopieren allerdings ganz und gar nicht unproblematisch. Durch die Linse tatsächlich etwas zu sehen – eine Herausforderung, beschreibt Wissenschaftshistorikerin Julia Böttcher vom Erlanger Zentralinstitut für Wissenschaftsreflexion und Schlüsselqualifikationen:
05 Böttcher:
Man kann zum Beispiel für die Mikroskope des 17. Jahrhunderts anhand von Nachbauten sehr schön sehen, dass das Bild beispielsweise auf dem Kopf stand, wenn man da hindurchgeschaut hat. Das heißt, allein schon die Probe vor der Linse zu verschieben, war etwas, was man mit Erfahrung meistern musste, weil man sie intuitiv in die falsche Richtung geschoben hätte.
Sprecher/in 1:
Die größte Herausforderung der Zeit ist es allerdings, überhaupt erst einmal qualitativ hochwertige Linsen herzustellen. Das Ziel: ein scharfes, farbreines, unverzerrtes, stark vergrößertes Bild. Die Realität aber sieht meist anders aus:
06 Böttcher:
Linsen von Mikroskopen, die aus der Entwicklungszeit stammen, hatten zahlreiche Farbfehler beispielsweise, weil man nicht n der Lage war, die unterschiedliche Brechung verschiedener Farben in den Griff zu bekommen. (Das gelang erst im 19. Jahrhundert.)
MUSIK M03
Sprecher/in 2:
Denn Licht besteht aus unterschiedlichen Wellenlängen, also mehreren Farben – was beispielsweise sichtbar wird, wenn aus einem angeleuchteten Prisma das Licht in einer Art Regenbogen-Strahl wieder farbig austritt.
07 Böttcher:
Man sieht ein hochgradig künstliches Bild, etwas, das der normalen, alltäglichen Wahrnehmung teilweise richtiggehend entgegensteht. Und das man dann mehr oder weniger erst mal interpretieren muss oder deuten muss, um es dann entweder beschreibend oder als Zeichnung an andere zu vermitteln.
Sprecher/in 1:
Tüfteln ist also angesagt.
MUSIK M06
Sprecher/in 2:
Und das gelingt wohl keinem so gut, wie dem Niederländer Antonie van Leeuwenhoek [ˈantoːnɛɪ̯ ˈvɑn ˈleːwənhuk]. Als Tuchhändler hat er gelernt, mit starken Lupen die Qualität von Stoffen zu untersuchen. Und er treibt das Lupenprinzip zur Perfektion, löst das Problem der Farbfehler bei mehrlinsigen Mikroskopen auf seine ganz eigene Weise: Mit einer einzigen Linse. Medizinhistorikerin Marion Maria Ruisinger:
08 Ruisinger:
Der hat sich nicht bemüht, ein möglichst klares Glas zu finden, das dann möglichst gut geschliffen wird von einem Linsenschleifer, sondern der hat das selbst gemacht, in seinem Hinterstübchen, im Geheimen – er hat das Geheimnis auch mit ins Grab genommen – hat eine große Zahl von Mikroskopen produziert. Und vermutlich hat er diese winzig kleine Linse, so groß wie der Kopf von einer Glas-Stecknadel, wahrscheinlich hat er die dadurch produzieren können, dass er einen feinen Glasstab erhitzt hat, dass der vorne flüssig wurde und mit so einer drehenden Bewegung sich dann so eine kleine Kugel geformt hat. Und diese winzige Kugel an dieser Glasschmelze, die wurde dann seine Linse.
Sprecher/in 2:
Eine bis zu 270-fache Vergrößerung schafft Leeuwenhoek mit seiner Apparatur, die insgesamt nicht größer ist als eine Streichholzschachtel und die er sich ganz dicht vors Auge halten muss.
Sprecher/in 1:
Damit sieht er mehr als alle anderen zuvor – ohne zu wissen, was er da eigentlich sieht.
09 Ruisinger:
Er hat sich seinen eigenen Zahnbelag abgekratzt und angekuckt – gesehen, dass da irgendwas drinnen ist. Würmchen, Tierchen, was Schwarzes, was Dunkles, aber er hat das nicht weiter benennen können, er hat's nicht verstanden, nicht verstehen können, was das ist.
Sprecher/in 1:
… erläutert die Medizinerin und Medizinhistorikerin.
10 Ruisinger:
Es waren Bakterien. Aber um Bakterien sehen zu können, muss ich Bakterien kennen. Das heißt, hier wurde die Mikroskopie ganz wichtig für die Bakteriologie, aber zuerst musste das Konzept der Bakterien erdacht werden. Durch ganz andere Methoden. Und erst, nachdem man das Konzept auf dem Tisch lag, konnte man das, was man gesehen hat auch entsprechend einordnen.
Sprecher/in 1:
Sind diese Konzepte aber schon vorhanden, hilft das Mikroskop nun, sie auch zu beweisen. Auch dafür nennt Marion Maria Ruisinger ein Beispiel:
11 Ruisinger:
Als 1628 William Harvey seine Schrift publiziert in Frankfurt, in der er behauptet, dass das Blut im Kreis fließt. Da hat er ganz starken Gegenwind bekommen von seinen Kollegen, weil er damit das System der antiken Medizin, das fast 2.000 Jahre lang Gültigkeit gehabt hat, umgekippt hat. Das war eine Revolution. Das konnte man so nicht glauben. Und sie hatten ein starkes Argument, er konnte nämlich nicht wirklich schlüssig beweisen, nicht nachweisen, dass das Blut im Kreis fließt.
Ihm hat die Verbindung zwischen den Arterien und den Venen gefehlt, die konnte er nicht sehen mit bloßem Auge. Und das hat dann erst eine Generation später ein Anatom aus Italien leisten können, mit dem Mikroskop. An den Lungen des Frosches hat er nachweisen können, dass es tatsächlich Blutgefäße gibt, die so klein sind, so haarfein, dass sie die Arterien und die Venen verbinden ohne dass man sie mit bloßem Auge sehen kann: die Kapillaren, wie sie heute in der Medizin heißen, die Haargefäße.
MUSIK M07
Sprecher/in 1:
Insbesondere in der Medizin etabliert sich das Mikroskop relativ zügig zum anerkannten Arbeitsgerät.
Sprecher/in 2:
Spätestens im 18. Jahrhundert werden mikroskopische Bilder auch für eine breitere Masse populär: Die barocke Gesellschaft amüsiert sich kollektiv an der vergrößerten Natur. Mit Hilfe des "Beamers des 18. Jahrhunderts", dem sogenannten Sonnenmikroskop.
12 Ruisinger:
Es ist ein bisschen wie ein Diaprojektor. Die Lichtquelle ist die Sonne. Und dann muss das Sonnenlicht durch das Fenster fallen, das Fenster wird entsprechend mit einem schwarzen Tuch, mit einer schwarzen Platte verstellt, dass nur noch durch ein kleines Loch das Sonnenlicht reinfällt und dieser Lichtstrahl wird in einem dunklen Raum in dieses Sonnenmikroskop geleitet, fällt dort durch eine Linse und fällt dann durch das Objekt und wird vergrößert, so dass es wie bei einer Beamer-Projektion auf einer weißen Wand landet …
Sprecher/in 1:
… beschreibt Ruisinger den Aufbau. Und dann muss es atemberaubend gewesen sein.
13 Ruisinger:
Und stellen Sie sich jetzt vor, wenn da nicht irgendein langweiliger Objektträger eingeklemmt ist, sondern auf einer kleinen Nadelspitze sondern ein lebender Floh. Der wird groß wie ein Kalb auf die Wand projiziert, strampelt, bewegt sich. Das muss ein unglaublicher Effekt gewesen sein. In einer Zeit, die noch nicht so verwöhnt war von bewegten Bildern, wie wir es heute sind.
Sprecher/in 1:
Eine andere Art der Mikroskopie – irgendwo im Grenzgebiet zwischen Wissenschaft und gesellschaftlichem Amüsement.
MUSIK M08
Sprecher/in 2:
Im 19. Jahrhundert schließlich verbessert sich das mikroskopische Bild durch unterschiedliche Glassorten und Linsen-Schliffe immer weiter. Optiker wie Carl Zeiss fertigen Mikroskope von bis dahin ungeahnter Präzision – und Robert Koch, einer der Begründer der modernen Bakteriologie, dürfte nicht zuletzt dem Mikroskop seinen Nobelpreis für Medizin verdanken.
Sprecher/in 1:
Inzwischen gleichen bei modernen Licht-Mikroskopen zusätzliche Linsen Abbildungsfehler aus. Hochwertige Objektive etwa bestehen aus mehr als einem Dutzend Linsen. Spezielle Beleuchtungssysteme sorgen dafür, dass das Licht optimal auf das zu mikroskopierende Objekt konzentriert werden kann.
Sprecher/in 2:
Und heutzutage sind es nicht mehr nur Lichtwellen, die für den genauen Blick auf die Natur genutzt werden. Auch Elektronen oder Röntgenstrahlen erlauben in der modernen Mikroskopie immer detailliertere Einblicke.
ATMO
Sprecher/in 1:
Universität Erlangen, Institut für Mikro- und Nanostrukturforschung: In einem fensterlosen Raum steht ein großer weißer Kasten, im Inneren ausgekleidet mit silberner Folie und mit allerlei technischem Gerät bestückt. Es ist ein hochauflösendes Röntgenmikroskop, das optisch zunächst einmal nichts mehr mit einem Lichtmikroskop zu tun hat. Der Aufbau ist aber im Grunde genommen ähnlich, beschreibt Materialforscher Prof. Erdmann Spiecker: Statt Licht kommen hier eben Röntgenstrahlen zum Einsatz
14 Spiecker:
Wir haben links eine Röntgenquelle, da werden also Elektronen auf ein Metall beschleunigt – hier ist das ein Chrom-Material – und das erzeugt ganz spezielle Röntgenstrahlung einer Wellenlänge. Und diese Röntgenstrahlung wird dann hier in einem Kondensor-System gebündelt und auf die Probe gebracht. Die Probe sitzt hier auf einem ganz feinen Pin, also auf einer Spitze. Dann hat man hinten eben auch Linsen, man braucht spezielle Linsen, und dann wird das auf eine Kamera gelenkt.
MUSIK M02
Sprecher/in 2:
Auf dem feinen Pin sitzt – scheinbar nichts. Doch die Probe, die hier untersucht wird, ist einfach selbst schon so klein, dass sie nur unter dem Mikroskop auf die kleine Spitze übertragen werden kann.
Sprecher/in 1:
Neben dem Röntgenmikroskop hat der Werkstoffwissenschaftler ein Beispiel vorbereitet, wie es auch die frühen Mikroskop-Forscher auf dem Tisch gehabt haben können: Einen Schmetterling, einen grünen Zipfelfalter. Mit bloßem Auge wirkt der Flügel des kleinen Falters leicht pudrig.
Unter dem starken Lichtmikroskop dann zeigen sich schon kleine längliche Schuppen, die dachziegelartig übereinanderliegen und schillern. Im Röntgenmikroskop schließlich offenbart eine einzige dieser winzigen Flügelschuppen das ganzes Geheimnis ihrer Farbpracht:
15 Spiecker:
Wenn man genauer hinguckt in diese Flügelschuppen, besteht diese Schuppen aus ganz, ganz vielen ganz kleinen regulären Strukturen aus Chitin und die haben eine hochperiodische Struktur. Und diese Periodizität dieses 'Kristalls', kann man auch sagen, ist ungefähr im Bereich der Wellenlänge des grünen Lichts.
MUSIK M03
Sprecher/in 1:
Die grüne Farbe des Zipfelfalters kommt also nicht durch Pigmente zustande, sondern weil das mit bloßem Auge unsichtbare Muster in der Oberflächenstruktur hunderter einzelner Flügelschuppen bestimmte Wellenlängen des Lichts reflektiert – ohne extreme Vergrößerung nicht einmal zu erahnen.
Sprecher/in 2:
Ohne Hilfsmittel kann das menschliche Auge ein bis zwei Zehntelmillimeter große Strukturen erkennen und voneinander unterscheiden. Das genügt, um etwa am Blatt einer Pflanze noch Adern und Äderchen zu erkennen.
Sprecher/in 1:
Mit einem leistungsstarken Lichtmikroskop dagegen lassen sich schon Dinge im Mikrometer-Bereich darstellen – zum Beispiel die Zellen und Spaltöffnungen eines Blatts. Eine noch bessere Auflösung gelingt aber nicht, egal, wie viele und welche guten gute Linsen man einsetzen würde.
Sprecher/in 2:
Das liegt an der Wellenlänge des Lichts: Ist die größer als das, was man unter dem Mikroskop erkennen will, funktioniert es schlichtweg nicht. Der Grund: die sogenannte Beugungsbegrenzung.
16 Spiecker:
Diese Beugungsphänomene führen dazu, dass man einen Punkt nicht auf einen Punkt abbilden kann. Das heißt, wenn ich ein punktförmiges Objekt habe und ich habe eine Linse und bilde diesen Punkt ab auf eine Bildebene, dann ist das kein Punkt mehr, sondern ein verbreitertes Scheibchen. Und dieses Scheibchen hat eine Breite, die eben auf keinen Fall viel, viel kleiner als die Wellenlänge sein kann.
MUSIK M01
Sprecher/in 1:
Der Trick: kürzere Wellen benutzen. Und hier kommt das Röntgenmikroskop ins Spiel.
Sprecher/in 2:
Auch Röntgenstrahlen sind Wellen. Da sie aber eine deutlich kürzere Wellenlänge haben, können sie deutlich mehr Details abbilden. Eine Auflösung von etwa 50 Nanometern erreicht das Röntgenmikroskop in Erlangen .
Sprecher/in 1:
Zusätzlicher Vorteil: Die Röntgenstrahlen können das Objekt auch von allen Seiten durchleuchten wie in der Computertomographie beim Arzt. In der 3D-Animation bestehend aus den zahlreichen Einzelbildern kann man so dann durch die kleine Schmetterlingsflügel-Schuppe gleichsam hindurchfliegen. Kringel, Hohlräume und die gesamte Feinstruktur sind zu erkennen – und könnten etwa Rückschlüsse auf die komplexe Bildung der Flügel während der Verpuppung liefern.
Sprecher/in 2:
Schmetterlingsflügel sind aber freilich nicht die Standard-Materialien, die hier am Lehrstuhl für Mikro- und Nanostrukturforschung untersucht werden. Normalerweise be- und durchleuchten Erdmann Spiecker und sein Team Hochleistungsmaterialien, etwa für Flugzeugturbinen oder Solarmodule. Auch mit dem sogenannten Transmissions-Elektronenmikroskop, bei dem Elektronen die Funktion des Lichts übernehmen. Das Gerät leistet eine millionenfache Auflösung. Sogar Atome lassen sich hier identifizieren und verfolgen. Das Ziel: Verstehen, wie die innere Struktur und die Eigenschaften eines Materials zusammenhängen.
17 Spiecker:
Fast alle Metalle, die wir im täglichen Gebrauch nutzen, sind kristalline Materialien. Und da kann man dann die einzelnen Netzebenen des Kristalls auflösen, man kann nach Fehlern kucken, man kann kucken, wie sich solche Materialien auch verhalten unter äußeren Einwirkungen. Das ist auch ein Schwerpunkt hier bei uns. Wir betreiben sogenannte In-situ-Mikroskopie. Das heißt, wir kucken zu, während ein Material sich verändert als Folge einer mechanischen Verformung oder eines Wärmeeintrags. Und so können wir dann verstehen, wie Materialien auf dieser kleinen Längenskala funktionieren.
Sprecher/in 1:
Entsteht der sichtbare Riss in einer Flugzeugturbine vielleicht schon lange vorher auf atomarer Ebene? Und verändert eine Solarzelle beim Stromerzeugen ihre Eigenschaften?
Sprecher/in 2:
Die Mikroskope, die den Einblick zur Beantwortung solcher Fragen liefern, sind hochempfindliche Gerätschaften. Schon der Aufenthalt im Mikroskopie-Raum kann dabei stören, weil die Forschenden selbst Wärme, Schallwellen oder Erschütterungen einbringen.
Sprecher/in 1:
Grundsätzlich aber entstehen auch diese ultra-detaillierten Bilder nach dem Konzept, das schon die Pioniere der Mikroskopie genutzt haben: Ein Objekt wird beleuchtet – nur eben mit anderen Wellenlängen.
Sprecher/in 2:
Eine andere Art des modernen Mikroskopierens ist das Rastern. Hier wird mit einer Art Sonde, also etwa einem feien Elektronenstrahl, die Oberfläche eines Objekts Punkt für Punkt abgetastet. Ein Computer setzt die einzelnen Informationspunkte dann zu einem Bild zusammen.
Sprecher/in 1:
Den Anblick dieser spannenden, fast landschaftsähnlichen Oberflächen-Strukturen kennen wir etwa aus der Darstellung von Viren.
Sprecher/in 2:
Aber auch auf dem Gebiet der Lichtmikroskopie gab es zuletzt wieder bahnbrechende Entwicklungen: So ist es den Mikroskopikern nach mehr als 300 Jahren endlich gelungen, die Beugungsbegrenzung des Lichtmikroskops auszuhebeln und noch wesentlich feinere Details sichtbar zu machen.
18 Spiecker:
Das geht aber nicht mit jedem Mikroskop, man braucht sogenannte Fluoreszenz-Mikroskopie. Fluoreszenz-Mikroskopie heißt, man regt die Probe zur Fluoreszenz an, das heißt, sie leuchtet selber. Und mit dieser Fluoreszenzmikroskopie und neuen Techniken kann man dann eben diese hohen Auflösungen erreichen.
Sprecher/in 1:
Was ihren Entwicklern wiederum den Nobelpreis eingebracht hat.
Sprecher/in 2:
Die gesamte Stärke der modernen Mikroskopie liegt letztlich in der Kombination der verschiedenen Mikroskope. Das eine zeigt, dass es an einer bestimmten Stelle etwas zu sehen gibt, das nächste zeigt, was es dort gibt und ein weiteres durchleuchtet das Objekt bis zum kleinsten Atom oder Orbital.
Sprecher/in 1:
Das Gesehene dann zu interpretieren und einzuordnen – das obliegt dann wieder der Kunst des Forschers. Genauso wie im 17. Jahrhundert, als das Mikroskop erfunden wurde.
Schnee ist ein phänomenales Naturprodukt. Er beruhigt uns und lernt uns gleichzeitig das Fürchten. Doch bald wird er aus tiefen Lagen verschwinden. Dann haben wir nur noch ihn: Kunstschnee. (BR 2019) Autor: Georg Bayerle
Credits
Autor/in dieser Folge: Georg Bayerle
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Werner Härtl
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Raik Schaab (Wetterberater, Deutscher Wetterdienst München);
Gudrun Mühlbacher (Klimaexpertin, Deutscher Wetterdienst München);
Grete Smedal (Professorin; Kunsthochschule Bergen, Norwegen);
Nils Faarlund (Bergführer, Norwegen);
Michael Gebhardt (Bergführer, Garmisch-Partenkirchen);
Thomas Feistl (Geologe, Lawinenwarndienst Bayern);
Michael Manhart (Diplomingenieur, Lech am Arlberg);
Patrizia Pircher (Marketingleiterin Techno Alpin, Bozen)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Ein blühendes Märchenland voller Reichtümer, so wird Japan seit dem Mittelalter gesehen. Doch der Inselstaat isoliert sich von der Außenwelt und bleibt für das Ausland unerreichbar. Das will das Zarenreich jedoch nicht akzeptieren und lässt nichts unversucht, die Isolation des geheimnisvollen Landes zu durchbrechen. Autorin: Fiona Rachel Fischer
Credits
Autor/in dieser Folge: Fiona Rachel Fischer
Regie: Frank Halbach, Fiona Rachel Fischer
Es sprachen: Laura Maire, Christoph Jablonka, Henriette Schmidt, Andreas Neumann
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
David Wells, Curtin University in Perth, Australien
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ZUM PODCAST
Literaturtipps:
Wells, David N.: Russian Views of Japan 1792-1913. An Anthology of Travel Writing. London/New York 2004.
Lim, Susanna Soojung: China and Japan in the Russian Imagination. 1685-1922. To the Ends of the Orient. Abingdon 2013.
Wells, David N.: The Russian Discovery of Japan, 1670-1800. New York 2020.
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MUSIK
ERZÄHLER:
Hinter kristallklaren blauen Wassern ganz weit im Osten liegt eine wunderbare Inselgruppe. Die Sonne scheint warm über diesem fernen Land, seine Hügel sind von einem satten Grün, die Wälder üppig und unberührt. Es gibt Gold im Überfluss und Perlen so viele, wie man sich nur wünschen kann.
SPRECHERIN 1:
Japan.
ERZÄHLER:
Ein fernes Land von unermesslicher Schönheit. Ein reiches Land voller Wunder.
SPRECHER 2:
Am Anfang steht ein Märchen.
O-Ton 1: [Japan was invented] /
OV männlich.
Japan wurde erfunden, bevor es entdeckt worden ist.
MUSIK ENDE
MUSIK
SPRECHERIN 1:
So der Historiker David Wells von der Curtin Universität in Perth in Australien. Die Legende von dem unendlichen Reichtum Japans, die seit dem Mittelalter in Europa kursiert, stammt von Marco Polo. Zwar reiste dieser nie selbst nach Japan, dennoch schrieb er in seinen Berichten von riesigen Edelsteinen, Perlen und Goldvorkommen, die dort zu finden seien.
SPRECHER 2:
Das war im 13. Jahrhundert. Erst 3 Jahrhunderte später kommen die europäischen Mächte mit Japan in Kontakt. Doch das Bild von einem märchenhaft wohlhabenden Inselreich im fernen Osten hält sich noch immer.
SPRECHERIN 1:
Zuerst die Portugiesen, dann die Spanier, Engländer und Holländer bauen Mitte des 16. Jahrhunderts Handelsbeziehungen zu Japan auf. Auch ein kultureller Austausch entsteht: Vor allem Portugal und Spanien schicken Missionare, die den Katholizismus unter den Inselbewohnern verbreiten sollen. Mit Erfolg. Bis zu 500.000 Japaner nehmen den christlichen Glauben an.
SPRECHER 2:
Russland hat in dieser Zeit noch kein Interesse an dem Inselstaat. Doch ausgerechnet durch diese Christianisierung kommt ein früher Kontakt zustande. Ende des 16. Jahrhunderts reist ein japanischer Augustinermönch in Mission des Papstes durch das Zarenreich, wird festgenommen wegen Spionageverdachts und verlebt seine letzten Jahre in Russland. Doch Interesse an dem Inselstaat weckt ein einzelner japanischer Einwohner doch noch nicht.
SPRECHER 2:
Die japanischen Machthaber stoßen sich allerdings zunehmend am großen Erfolg der europäischen Missionare in ihrem Land.
MUSIK ENDE
O-Ton 2: [The Tokugawa Japanese government was not comfortable]
OV männlich.
Die japanische Regierung von Tokugawa fühlte sich mit dieser Situation nicht wohl und empfand sie als eine Herausforderung ihrer Macht, da die japanischen Christen eine Art Loyalität gegenüber einer ausländischen Macht hatten. Und obwohl einige der örtlichen Daimo, die örtlichen Adeligen, zum Christentum konvertierten, versuchte die Zentralregierung etwa in den 1630er Jahren, es auszurotten. Daher wurden die sogenannten Abschottungsgesetze verhängt.
Zunächst begannen sie mit der Verfolgung von Christen, so dass viele hingerichtet oder gemartert wurden. Und dann verhinderten sie schrittweise die Ankunft fremder Schiffe. Und sie machten es ausländischen Menschen unmöglich, dort Handel zu treiben und zu existieren.
SPRECHER 2:
Die Botschaft kommt im Westen an. Für den langen und gefährlichen Seeweg von Europa nach Japan ist das keine lohnende Aussicht. Und so bleiben die europäischen Mächte der verheißungsvollen Inselgruppe erst einmal fern.
MUSIK
ERZÄHLER:
Japan ist nun verschlossen wie eine Schatztruhe, zu der man den Schlüssel verloren hat.
SPRECHERIN 1:
Auch japanische Untertanen dürfen das Land nicht mehr verlassen. Tun sie es doch, so dürfen sie nicht mehr zurückkommen. Seit dem Jahr 1638 ist die Isolation gegen Westen allumfassend. – Mit einer Ausnahme:
Die Holländer. Da sie nie versucht haben, die Japaner zu missionieren, dürfen sie einen Handelsposten in Nagasaki behalten. Das ist jedoch alles, was sie die meiste Zeit von dem Land mitbekommen. Nur einmal alle fünf Jahre reist eine holländische Delegation in die Hauptstadt Edo. Auf dieser Hofreise huldigen sie den Shoguns, und berichten über die „westlichen Barbaren“, wie es die Japaner sehen.
SPRECHER 2:
Andersherum fließen die Informationen weitaus schlechter.
SPRECHERIN 1:
Viele Berichte schreiben die Holländer nicht über Japan und die wenigen, die es gibt, sind ungenau und werden oft erst viel später veröffentlicht.
SPRECHER 2:
So bleiben die Ambitionen in Bezug auf den isolierten Inselstaat erst einmal gedämpft. Wie gut die Informationssperre funktioniert, belegt eine wichtige Quelle, die überhaupt nichts mehr Offizielles hat – aber nun Russland ins Spiel bringt: Schiffbrüchige.
SPRECHERIN 1:
Immer wieder geraten Seeleute mit ihren Schiffen an der japanischen Küste in einen der vielen Stürme und werde abgetrieben. An der sibirischen Ostküste werden solche Matrosen oft von der Bevölkerung aus dem Meer gefischt. So kommt das Zarenreich, das sich gerade den gesamten asiatischen Kontinent entlang in Sibirien ausbreitet, immer mehr in Kontakt mit Bewohnern der mythisierten Inseln.
SPRECHER 2:
Einer von ihnen ist Denbei, ein wahrer Glücksfall für das Zarenreich, das gerade unter Peter dem Großen zu expandieren beginnt.
ERZÄHLER:
Denbeis Handelsschiff wird in den späten 1690ern nach Kamtschatka abgetrieben. Er ist der einzige Überlebende und wohnt eine ganze Weile bei den Einheimischen. Das Klima ist kalt, die Lebensweise einfach und die Kost aus fermentiertem Fisch bekommt Denbei schlecht. Da wird er ein zweites Mal gerettet: von Wladimir Atlassow, dem Entdecker und Unterwerfer Kamtschatkas.
SPRECHERIN 1:
Atlassow bringt Denbei 1702 nach St. Petersburg, wo Zar Peter der Große den Japaner begierig nach seiner Heimat befragt. Die russischen Ambitionen sind geweckt. Während Denbei den Rest seines Lebens in St. Petersburg und Sibirien verbringt, plant die zarische Regierung die nächsten Schritte Richtung Japan.
SPRECHER 2:
Einige Russen sollen in Japanisch ausgebildet werden.
MUSIK ENDE
O-TON 3: [Peter the Great had this idea that it would be useful]
OV männlich.
Allerdings hatte das aus mehreren Gründen einen schwankenden Erfolg: Erstens waren die Lehrer notwendigerweise schiffsbrüchige Japaner, es handelte sich also größtenteils um Seeleute, die nicht über ein sehr hohes Bildungsniveau verfügten und nicht unbedingt Standardjapanisch sprachen. Und sie waren sicherlich nicht an die Art von Japanisch gewöhnt, die in diplomatischen Verhandlungen verwendet wurde, und viele von ihnen konnten kein Japanisch schreiben. Das andere Problem bestand darin, dass niemand Japanisch lernen wollte, keiner der Russen wollte das, sodass die meisten Schüler dazu gezwungen werden mussten.
SPRECHER 2:
Ein paar Dolmetscher und Wörterbücher waren das Ergebnis. Also ein Projekt ohne großen Durchschlag.
SPRECHERIN 1:
Und es dauert auch noch bis 1739, bis Russen endlich japanischen Boden betreten. Eine Nebenmission der Großen Nordischen Expedition unter Vitus Bering, die Sibirien erforscht, soll nach Japan segeln. Martin Spanberg und William Walton erreichen tatsächlich die gesuchten Ufer. Doch:
O-TON 4: [In St. Petersburg nobody believed they had actually been]
OV männlich.
In St. Petersburg glaubte niemand, dass sie tatsächlich in Japan gewesen waren, weil die Koordinaten, an denen sie angeblich waren, nicht mit denen übereinstimmten, wo Japan auf den Karten liegen sollte, und so brauchten sie einige Zeit, um die Behörden davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich überhaupt in Japan gewesen waren.
MUSIK
SPRECHER 2:
So kurz der Kontakt war, so gering war der Eindruck, den die Russen hinterlassen hatten. Japan hat, wenn überhaupt eines, dann ein negatives Bild vom Zarenreich. Ihre einzigen Quellen: die Holländer. Und diesen berichtet ausgerechnet ein ungarischer Abenteurer namens Moritz Benjowski von feindlichen Absichten Russlands.
SPRECHERIN 1:
Benjowski war wegen aufständischer Aktivitäten gegen den russischen Einfluss in Polen gefangen genommen worden. Im Exil in Sibirien und Kamtschatka schafft er es jedoch, mit anderen politischen Gefangenen des Zarenreichs ein Schiff zu stehlen. Seine Flucht führt ihn 1771 auch nach Japan.
MUSIK ENDE
Ein paar kleinere, ergebnislose Expeditionen schickt das Zarenreich noch nach Japan, dann lenken die Kriege gegen das Osmanische Reich und Schweden die Aufmerksamkeit erst einmal auf andere Angelegenheiten.
MUSIK
SPRECHER 2:
Dann endlich - die entscheidende Wende: im Jahr 1792, sendet Zarin Katharina die Große Adam Laxman nach Japan, einen 26 Jahre jungen Leutnant finnisch-schwedischer Herkunft. Er soll eine Gruppe japanischer Schiffsbrüchiger nachhause bringen und unter diesem Vorwand Verhandlungen über Handelsverträge einleiten.
ERZÄHLER:
In feierlicher Prozession ziehen die Russen durch die Straßen von Matsumae, Leutnant Laxman getragen von acht feingekleideten Japanern. Auf dem Weg zu dem Botschaftsgebäude sehen sie die neugierigen Bewohner an den Fenstern ihrer Häuser stehen. Doch die Straßen sind wie leergefegt, nur Gardisten in offizieller Uniform stehen mit ihren Speeren an den Kreuzungen Spalier.
MUSIK ENDE
MUSIK privat Take 003 “Ivar Captured by Russian Riders”; Album: Vikings (Music From Season Six); Label: Sony Classical – 19439711182; Interpret: Trevor Morris; Komponist; Trevor Morris; ZEIT: 01:20
SPRECHERIN 1:
Die Gesandtschaft aus Edo hat eine klare Antwort für Laxman. Hier und jetzt wird es keinen Vertrag geben. Doch sie geben ihm die Erlaubnis, ein einziges Schiff nach Nagasaki zu schicken, wo sie über Handelsbeziehungen sprechen können.
SPRECHER 2:
Mehr hat er nicht erwartet.
SPRECHERIN 1:
Mit diesem Ergebnis, einigen Karten und japanischen Waren kehrt Laxman ins Zarenreich zurück. Doch die russische Regierung hat gerade andere Probleme: Das revolutionäre Gedankengut der französischen Revolution breitet sich in Europa zunehmend bedrohlich aus und Katharina die Große stirbt. Erst 10 Jahre später nimmt der neue Zar das Verhandlungsangebot der Japaner an und schickt eine Gesandtschaft unter Nikolai Resanow nach Nagasaki. Resanow ist der Vorsitzende der Russländisch-Amerikanischen Handelskompagnie und hat ein explizites Interesse an Japan als Zwischenstopp für seine Handelsschiffe.
SPRECHER 2:
Doch Resanow erhält mitnichten den Empfang, den er erwartet hat.
MUSIK ENDE
O-TON 6: [Rezanov certainly was kept very restrictive]
OV männlich.
Rezanov wurde sicherlich sehr restriktiv behandelt, er durfte sein Schiff eine Zeit lang nicht verlassen und als er sein Schiff verlassen durfte, wurde den Russen ein bestimmter Bereich im Hafen von Nagasaki zugewiesen, der von einer Art Barriere umgeben war, damit sie die Stadt nicht betreten konnten und es wurde ihnen auch jeglicher Kontakt mit der niederländischen Siedlung verwehrt. Die Japaner verteidigten also jede Information sehr eifersüchtig, das kann man meiner Meinung nach sagen.
SPRECHER 2:
Und die Gespräche über Handel? Ergeben, dass Japan keine solchen Verträge mit dem Zarenreich schließen wird. Resanow kehrt unverrichteter Dinge zurück. Fast.
MUSIK
SPRECHERIN 1:
Denn unterwegs schickt er noch zwei Marineoffiziere, Nikolai Chwostow und Gawriil Dawydow, nach Japan. Im Auftrag der russländisch-amerikanischen Handelskompanie überfallen die beiden mit ihren Schiffen japanische Siedlungen auf Sachalin.
ERZÄHLER:
Sie plündern, nehmen Gefangene und stecken Häuser in Brand. In Sachalin hinterlassen sie eine Botschaft: Weitere Überfälle werden folgen, drohen sie, wenn die Japaner weiter Handelsbeziehungen verweigern. Ein paar Monate später reiben sie die Garrison in Iturup auf und wenden sich wieder den japanischen Inseln zu. Kein Schiff ist vor ihnen sicher.
SPRECHERIN 1:
Auf dem Heimweg werden die beiden von einem Kommandanten des Zaren festgenommen und in St. Peterburg vor Gericht gestellt. Sie entgehen einer Strafe nur knapp. Der diplomatische Schaden ist jedoch angerichtet. Japan steht dem Zarenreich so misstrauisch gegenüber wie nie zuvor.
MUSIK ENDE
SPRECHER 2:
Aus japanischer Sicht ist es höchste Zeit, selbst Informationen über Russland einzuholen. Die Gelegenheit bekommen sie im September 1811 in Form einer russischen Expedition auf die Kurilen; eine Inselkette, an der sowohl Japan als auch Russland interessiert ist.
MUSIK
Kommandant Wassili Michailowitsch Golownin gerät mit einem Teil seiner Crew auf der Insel Kunaschir in einen japanischen Hinterhalt und wird festgenommen. Sein zweiter Mann, Rikord, der auf dem Schiff Diana zurückgeblieben ist, muss hilflos dabei zusehen. Gefesselt wird der verhaftete Trupp nach Hakodate gebracht und verhört.
ERZÄHLER:
In einem Käfig aus Rundhölzern sitzen die russischen Gefangenen. Den eisigkalten japanischen Winternächten sind sie schutzlos ausgeliefert. Stundenlang dauern oft die Verhöre. Die Japaner wollen alles über das Zarenreich und die Menschen dort erfahren.
SPRECHERIN 1:
Das Misstrauen der Japaner in ihre Gefangenen schwindet, doch eine Freilassung ist noch lange nicht in Sicht. Immerhin werden sie nach Matsumae verlegt, wo sich die Bedingungen ihrer Gefangenschaft deutlich verbessern.
MUSIK ENDE
Zeitgleich bemüht sich Rikord um die Befreiung Golownins. Im Oktober 1813 kann er schließlich die verlangten Dokumente der Zarenregierung vorlegen, die versichern, dass die Überfälle von Chwostow und Dawydow nicht vom russischen Staat befohlen worden sind. Daraufhin sind Golownin und seine Leute frei.
MUSIK privat Take 003 “Ivar Captured by Russian Riders”; Album: Vikings (Music From Season Six); Label: Sony Classical – 19439711182; Interpret: Trevor Morris; Komponist; Trevor Morris; ZEIT: 00:42
SPRECHER 2:
Doch für die ganzen nächsten 40 Jahre muss der russische Plan, mit Japan Handelsbeziehungen einzugehen, hintenanstehen.
SPRECHERIN 1:
Die Napoleonischen Kriege und die darauffolgende Neuordnung Europas lenken die Aufmerksamkeit der russischen Regierung zunächst nach Westen. Als der Blick zurück nach Osten geht, hat sich die Lage dort verändert: Die südasiatischen Gewässer sind nun endgültig zum Spielfeld des westlichen Imperialismus geworden. Und von diesem Schauplatz liegt Japan nicht weit entfernt.
MUSIK ENDE
O-TON 8: [It was not just Russia]
OV männlich.
Japan war auch einfach da und hatte keinen Kontakt mit dem Rest der Welt und in gewisser Weise war das meiner Meinung nach eine Art Herausforderung. Es war ein Gebiet, das es zu erforschen und in die Welt der Wissenschaft und die moderne Welt zu bringen galt, sie mochten keine Außenseiter, jemanden, der sich nicht an die gleichen Regeln hielt.
MUSIK
SPRECHERIN 1:
Japan, seine Häfen und seine Ressourcen sind begehrt. Das große Mysterium, das mit seiner Isolation Hand in Hand geht, macht es zu einem faszinierenden Ort. Im Zarenreich wird der Inselstaat auch jetzt noch stark romantisiert als ein reiches, geradezu paradiesisches Land, in dem auch barbarische Grausamkeit herrschen soll.
SPRECHER 2:
Japan auf der anderen Seite spürt, wie sich die Schlinge immer weiter zuzieht.
MUSIK ENDE
MUSIK
SPRECHERIN 1:
Der Opium-Krieg von 1838 bis ´42 zwischen Großbritannien und Japans Nachbar China öffnet gewaltsam die chinesischen Märkte für den europäischen Handel und entzieht dem Reich der Mitte die Souveränität über den eigenen Außenhandel. Die Angst vor einer ähnlichen Öffnung wächst in Japan.
SPRECHER 2:
Berechtigterweise. Denn im Oktober 1852 entsendet Zar Nikolaus I. eine große Expedition unter dem Kommando von Admiral Jewfimi Wassiljewitsch Putjatin nach Japan.
MUSIK ENDE
O-TON 9: [It looks like the Putjatin was partly sent]
OV männlich.
Es sieht so aus, als wäre Putjatin zum Teil deshalb geschickt worden, weil die Russen wussten, dass die Amerikaner und die Europäer ebenfalls Botschaften nach Japan entsandten und sie zuerst dort ankommen wollten. Und sie wollten nicht im Nachteil sein, wenn ein kommerzieller Durchbruch gelang.
SPRECHER 2:
Relativ zeitgleich mit den schwarzen Kriegsschiffen des US-amerikanischen Commodore Matthew Perry macht sich die russische Gesandtschaft auf den Weg in das verheißene Land.
SPRECHERIN 1:
Dafür segeln sie einmal um die halbe Welt: von Kronstadt vor St. Petersburg über London, einmal um Afrika herum nach Kapstadt und an der südlichen Küste Asiens zuerst nach China und dann nach Japan.
MUSIK
SPRECHER 2:
Der Homer dieser Reise, wie er sich selbst empfindet, soll Iwan Gontscharow sein. Heute gilt er als einer der großen Namen unter den russischen Autoren, auf einer Linie mit Tolstoi und Dostojewski. Damals ist er gerade einmal im Zarenreich als Schriftsteller etabliert und hauptberuflich Beamter. Diese große Fahrt holt ihn aus seinem eher biederen Alltag und wird das Abenteuer seines Lebens.
ERZÄHLER:
Eine verschlossene Schatulle, zu der man den Schlüssel verloren hat. So empfindet Gontscharow das märchenhafte Land, zu dem er sich aufmacht. Die Schönheit der Landschaft entzückt ihn, sie sei wie die malerische Kulisse eines Zauberballetts.
SPRECHERIN 1:
In seinem Reisebericht, der sein meistgelesenes Werk werden soll, gibt er sich nicht nur schwärmerischen Landschaftsbeschreibungen hin, sondern auch gierigen Kolonialisierungsfantasien.
ERZÄHLER:
Wie eifrige Kinder eilen die Japaner den Russen voraus, als sie zu Verhandlungen an Land gehen. Oft genug ein Grund für Gontscharow und seine Gesellschaft, lauthals zu lachen. In seinen Augen ist es Zeit, dass sich Europäer der reichen Ressourcen und fruchtbaren Böden der Insel annehmen.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN 1:
Am 31. März 1854 geben die Japaner dem immensen Druck des US-Amerikaners Perry nach und unterzeichnen den Vertrag von Kanagawa, der die Häfen Hakodate und Shimoda für amerikanische Schiffe öffnet. Genau dorthin segelt Putjatin nun, voller Ungeduld und ohne Genehmigung.
SPRECHER 2:
Er war das Warten leid und rückt nun der Regierung in Shimoda auf den Pelz. Doch ein Erdbeben zerstört seine Schiffe und den Großteil des Hafens. Nun müssen Russen und Japaner zusammenarbeiten, um der Katastrophe Herr zu werden. Das Ergebnis der freundschaftlichen Kooperation ist ein Handelsvertrag, der den der US-Amerikaner weit übersteigt: Drei Häfen werden geöffnet und ein russisches Konsulat soll auch errichtet werden.
O-TON 10: [It did give them access to ports]
OV männlich.
Es verschaffte ihnen Zugang zu Häfen für die Umrüstung von Schiffen […] Ob der Handel sich jemals auf das belief, was sie erhofft hatten, bin ich mir nicht sicher.
SPRECHERIN 1:
Ein Triumpf für das Zarenreich. Doch für die japanische Regierung sind diese ungleichen Verträge eine Blamage, eine Unterwerfung unter die Russen, die in ihren Augen Barbaren sind. Die Folge sind gravierend: eine umfassende politische Erneuerung und eine forcierte Entwicklung der Industrie und Kultur nach westlichem Vorbild. Für Japan bricht damit eine neue Ära an. Denn der Inselstaat schlägt nun einen völlig entgegengesetzten Weg ein. Von jetzt an wird er alle möglichen Mittel dafür aufbringen, mit den westlichen Mächten gleichzuziehen.
MUSIK
SPRECHER 2:
In Westeuropa und in Russland bricht die Faszination von Japan mit seiner Öffnung allerdings nicht ab. Im Gegenteil, alles reißt sich um Gegenstände aus dem Inselstaat, japanische Kunst wird gesammelt und in die europäische Malerei, Literatur und Musik integriert. Japonismus heißt diese Strömung, die die Sehnsucht nach dem märchenhaften Japan Kult werden lässt.
ERZÄHLER:
Fächer, Puppen, Holzdrucke, Porzellan und Kimonos. Das reiche Land der aufgehenden Sonne hat sich endlich geöffnet.
SPRECHER 2:
Ein Stück Märchenland für alle. Ein Märchenland, das nun alles daransetzen wird, um vom Mythos – selbst zu einer Weltmacht zu werden.
Tierversuche sind ein Grundpfeiler medizinischer Forschung, Labore die Lebenswelt zahlreicher Tierarten. Als Gesellschaft akzeptieren wir diese Tiernutzung, auch wenn sich dagegen immer wieder Proteste regen. Wie wird dem Wohlergehen dieser Tiere Rechnung getragen? Und gibt es vielleicht doch Alternativen? (BR 2021) Autorin: Christiane Seiler
Credits
Autor/in dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel, Rahel Comtesse
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. med. Stefan Hippenstiel, Sprecher Charité 3R;
Prof. Dr. med. vet. Christa Thöne-Reineke, FU-Berlin, Institut für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde;
Prof. Dr. Sina Bartfeld, TU-Berlin, Institut für medizinische Biotechnologie
Literaturtipp:
Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste Gemeinsame Wirklichkeit. München 2021, Kapitel 8: Sind Tierversuche ethisch vertretbar?
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Sprecher
Der Hamsterkauf — ein Phänomen, das zu Beginn der Corona-Pandemie zu absurden Szenen führte. Aber wer kennt das „Hamstermodell“?
MUSIK 2: Hydroxy Lemon (a) - C1592790123 – 35 Sek
Sprecherin
Dieser Begriff meint den Goldhamster als Versuchstier. Denn ausgerechnet in den Atemwegen des Syrischen Goldhamsters wütet das Virus Sars Cov 2 ähnlich wie beim Menschen und führt zu ähnlichen Erkrankungen. Der Hamster ist, neben genveränderten Mäusen und Frettchen, ein „Tiermodell“ für menschliche Infektionskrankheiten. Professor Stefan Hippenstiel leitet an der Berliner Charité eine Gruppe zur Erforschung von Infektionskrankheiten der Lunge:
O-Ton 1 Stefan Hippenstiel
Wenn wir bei dem Beispiel Sars Cov 2 bleiben ist eine wichtige Frage, wenn das Virus den Körper erreicht hat, wo vermehrt es sich denn überhaupt, was sind denn die Zellen im Körper, in denen das Virus wächst und von denen aus es sich verbreitet? Und das kann man auf zwei Weisen untersuchen, indem man zum einen entsprechend Tiere infiziert und in diesen Tieren das genau untersucht, und zum zweiten ergänzen wir es hier an der Charité durch menschliche Modelle, wo wir humane Proben nehmen in denen wir, als Alternativmethode zum Tierversuch, Infektionen im menschlichen Gewebe machen und gucken, ist das da genauso und diese Kombination macht dann die Aussagen auch sehr wertvoll. Dann sieht man, wo spiegelt das Tiermodell die Realität wieder, und wo finde ich in meiner Alternativmethode dasselbe wie in einem in vivo Experiment.
Sprecherin
In Stefan Hippenstiels Antwort klingt es schon an: Die Wissenschaft ist an Alternativen zu Tierversuchen sehr interessiert. Und sicher wäre es auch den meisten Menschen hierzulande lieber, wenn keine Tierversuche mehr durchgeführt würden. Jeder kennt wohl die mitleiderregenden Fotos von Katzen, denen Drähte aus dem Kopf ragen und Kaninchen mit kahlen, entzündeten Hautstellen. Andererseits haben viele Jahre Erforschung des Sars Cov Virus, das bereits in den Jahren 2002 und 2003 eine Pandemie ausgelöst hatte, die schnellen Fortschritte im Lauf des Jahres 2020 erst ermöglicht. Und dass Hamster sich gut für Versuche mit dem Sars Cov 2 Virus eigneten wusste man, weil er in dieser früheren Forschung bereits eine große Rolle spielte. Mit Hilfe der Hamster lernte man viel darüber, wie sich der Erreger im Körper ausbreitet und wie schnell er von Tier zu Tier übertragen wird.
Sprecher
Bei den Hamsterversuchen handelt es sich um Experimente der angewandten Forschung, mit denen man versucht, Krankheiten besser zu verstehen und neue Therapien zu entwickeln.
50% aller Tierversuche werden im Bereich der Grundlagenforschung durchgeführt, wo es darum geht, dem Funktionieren des Organismus und den Prozessen, die im Körper ablaufen, auf den Grund zu gehen. Auch für den Artenschutz, die Verhaltensbiologie, die Tiermedizinische Forschung und die Aus- und Weiterbildung wird mit Tieren experimentiert. Bei rund 30% aller Tierversuche handelt es sich um gesetzlich vorgeschriebene Tests von Chemikalien und Arzneimitteln, bevor sie mit Menschen in Kontakt gebracht werden. Dabei soll deren Wirksamkeit überprüft und eventuelle Schädlichkeit ausgeschlossen werden, auch für die Sicherheit von Menschen, die am Arbeitsplatz mit solchen Chemikalien umgehen. Tierversuche für Kosmetika sind übrigens EU-weit seit 2013 verboten. Dennoch enthalten fast alle in den Drogerien erhältlichen Kosmetika Stoffe, die irgendwann einmal an Tieren getestet wurden.
Sprecherin
In der Corona-Forschung ging es im Laufe des Jahres 2020 sehr schnell darum, Impfstoffe zu entwickeln, die vor der Krankheit schützen sollten. Ehe aber überhaupt ein Impfstoff oder eine Arznei an Menschen erprobt werden darf, muss an Tieren getestet werden. Auch diese sogenannten ‚Präklinischen Studien‘ sind gesetzlich vorgeschrieben. Am Beispiel des Impfstoffs von BioNtech/Pfizer lässt sich nachvollziehen, welche Tierarten mit wie vielen Individuen hier zum Einsatz kamen, nämlich 96 Mäuse, 204 Ratten und 21 Rhesusaffen. Die Affenversuche für den Impfstoff wurden übrigens nicht in Deutschland, sondern in den USA durchgeführt.
MUSIK 3: Hydroxy Lemon (a) - C1592790123 – 1:17 Min
Sprecher
Tierversuche sollen also garantieren, dass Chemikalien und Arzneimittel sicher sind, sie tragen dazu bei, uns vor ansteckenden Krankheiten zu schützen und führen zu Erkenntnissen, die unser Leben verlängern und verbessern. Dennoch ist gesellschaftlich kaum etwas so umstritten wie Tierversuche. Das ethische Dilemma, dass wir einerseits Tierleid ablehnen, aber andererseits eine sichere Umwelt und wirksame Arzneimittel haben möchten, scheint unauflöslich. Zudem sind viele falsche Informationen im Umlauf, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Tierversuche durchführen, werden immer wieder unter den Generalverdacht der Tierquälerei gestellt und nicht selten sogar zum Ziel von Hasskampagnen. Um mehr Fakten in die Diskussion zu bringen, ist die Allianz der Wissenschaftsorganisationen — dazu gehören unter anderen die Max-Planck-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft — in die Informationsoffensive gegangen: unter anderem mit der Plattform „Tierversuche verstehen“ stellt sie Informationen bereit und weicht auch unangenehmen Fragen nicht aus. Das Bundesinstitut für Risikobewertung informiert auf der Webseite „Animaltestinfo“ über Tierversuche, die in Deutschland stattfinden:
O-Ton 2 Thöne-Reineke
Ich glaube, dass wir gerade im Versuchstierbereich, weil wir so in der öffentlichen Kritik und Diskussion stehen, immer einen Schritt weiter sind, und aus meiner Sicht kann man tatsächlich aus dem Versuchstierbereich in den anderen Bereichen lernen.
Sprecherin
Professorin Christa Thöne-Reineke leitet an der Freien Universität Berlin das Institut für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde am Fachbereich Veterinärmedizin. Als Tierschutzbeauftragte hat sie das Wohlbefinden aller Tiere im Blick:
O-Ton 3 Thöne-Reineke
So bitter sich das jetzt vielleicht anhört, ganz viel sogenannte Qualzuchtrassen, in unserem Bereich der Versuchstiere, das wären genehmigungspflichtige Tierversuche, wenn man diese Tiere züchten wollte. Und da gibt es ganz klare Abbruchkriterien, wann die eingeschläfert gehörten. Da hat der Mensch Tiere gezüchtet, weil er das Kindchenschema schön findet, auch ohne Rücksicht auf das Tier, und das gibt es im Bereich Hund, Katze, bei Fischen, bei Vögeln, und wenn man ganz ehrlich hinschaut, ist es auch ein Problem bei den landwirtschaftlichen Nutztieren, wo wir natürlich nicht aus Schönheitsidealen, sondern auf Leistung selektiert haben, und wo dann auch die Tiere einfach überfordert werden.
MUSIK 4: „past behaviour“ – Z8001312105 - 1:06 Min
Sprecher
Von allen Tieren, die Menschen für ihre eigenen Zwecke nutzen und ausbeuten, machen die Versuchstiere nur einen verschwindend kleinen Prozentsatz aus. 2019 wurden in Deutschland 2,8 Millionen Tiere in Versuchen eingesetzt. Dem stehen allein 620 Millionen Hühner und 57 Millionen Schweine gegenüber, die in Deutschland jährlich geschlachtet und verspeist werden.
Die allermeisten Versuchstiere in Deutschland sind Mäuse, gefolgt von Fischen, Ratten und Kaninchen. EU-weit gilt seit September 2010 die RICHTLINIE 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere. Laut Artikel 4 dieser Richtlinie sind jegliche Tierversuche innerhalb der EU dem Grundsatz der Vermeidung, Verminderung und Verbesserung verpflichtet, sprich: dem sogenannten 3R-Prinzip. Stefan Hippenstiel hat mit einigen Kollegen „Charité 3R“ ins Leben gerufen:
O-Ton 4 Hippenstiel
Und eigentlich handelt es sich um eine ethische Handlungsanweisung für die Forschung mit Tieren. Und dieses 3R steht für die ersten Buchstaben von replace, reduce und refine. Refine heißt, dass ich einen Tierversuch im Sinne des Tierleids reduziere, ein Beispiel wäre hier bessere Tierhaltung, mit weniger Stress für die Tiere beim Umsetzen der Tiere, oder verbesserte Gabe eines schmerzstillenden Medikamentes. Reduce, verringern, bedeutet, ich mache einen Tierversuch, wo ich vorher 100 Tiere brauchte, jetzt mit 70 Tieren, bei der gleichen Aussagekraft oder besser noch einer besseren Aussagekraft, indem ich das Versuchsdesign ändere, andere Statistiken nutze oder was auch immer. Also Reduktion von Tieren in einem gegebenen Versuch. Und das einfachste zu verstehen ist replace, das heißt einfach Vermeiden oder Ersatz. Ich hatte einen Tierversuch, jetzt habe ich eine Alternativmethode und ich mache den Tierversuch nicht mehr.
MUSIK 5: „Playful explanation“ - Z8035998102 – 25 Sek
Sprecher
Was Alternativen zu Tierversuchen angeht, hat sich in den vergangenen Jahren sehr viel getan. Viele gesetzlich vorgeschriebene pharmakologische oder toxikologische Tests werden nicht mehr an Tieren, sondern an Zellkulturen durchgeführt. Und auch in der angewandten Forschung kommen mehr und mehr Alternativmethoden zum Einsatz:
O-Ton 5 Hippenstiel
Nehmen wir noch mal das Beispiel Covid: Wir haben bei uns ein ex vivo, also außerhalb des Körpers Infektions-Modell von menschlichem Lungengewebe aufgebaut. Das flankieren wir mit Organoiden, diesen kleinen Mini-Organen, menschlicher Lunge. Und daneben legen wir Proben von Verstorbenen an Covid. Und in diesen Modellen sind wir in der Lage, die Verbreitung des Virus, die Effekte auf die Körper außerhalb des menschlichen Körpers aber in menschlichem Gewebe nachzuvollziehen. Und das hilft uns dabei, auf bestimmte Tierversuche mit genau dieser Frage zu verzichten.
Sprecherin
In die Entwicklung von Organoiden setzt die Forschung große Hoffnungen. Einerseits, um Tieren Leid zu ersparen, andererseits sollen mit den kaum senfkorngroßen Miniorganen bessere Modelle des menschlichen Körpers entwickelt werden.
O-Ton 6 Bartfeld
Organoide sind definiert als dreidimensionale Zellkulturen, die aus Stammzellen generiert werden, aus jeder Stammzelle kann ein Organoid werden …
Sprecherin
Professorin Dr. Sina Bartfeld ist Zellbiologin. Von der Universität Würzburg wurde sie im September 2021 an die Technischen Universität Berlin an das Institut für medizinische Biotechnologie berufen. Dort will sie die Erforschung und Entwicklung der Miniorgane weiter vorantreiben:
O-Ton 7 Bartfeld
Ein Organoid ist gekennzeichnet dadurch, dass es aus verschiedenen Zelltypen besteht, also nicht nur ein Zelltyp, sondern verschiedene Zelltypen, und diese verschiedenen Zelltypen organisieren sich in einem Organoid ein bisschen ähnlich, wie es in einem echten Organ der Fall wäre. Und durch diese dreidimensionale Selbstorganisation bekommt so ein Organoid eine organähnliche Struktur.
Sprecherin
Organoide sind also wesentlich komplexer als einfache Zellkulturen und werden aus pluripotenten oder adulten Stammzellen gezüchtet. Pluripotente Stammzellen können virtuell zu jedem beliebigen Organ werden und finden bisher vor allem in der Grundlagenforschung Verwendung, weil sie wertvolle Einblicke in die Entwicklungsbiologie liefern. Für ihre Magenorganoide verwendet Sina Bartfeld sogenannte ‚adulte Stammzellen‘ aus dem menschlichen Magenepithel, also der äußeren Magenschleimhaut:
O-Ton 8 Bartfeld
Denen müssen wir nur ihre Umgebung nachbilden. Wie sie das im Körper auch hätten und kennen. Wir brauchen also eine Umgebung, in der sie sich wohlfühlen, in der sie die Signalstoffe bekommen, die sie auch im echten Organ bekommen würden. Und wenn wir das nachstellen, dann teilen die sich von ganz alleine und bauen von ganz alleine das, was sie aus im echten Leben tun würden, nämlich z.B. jetzt nur die Magenschleimhaut.
MUSIK 6: „Playful explanation“ - Z8035998102 – 12 Sek
Sprecherin
Kann man also heute schon mit Hilfe von Organoiden auf Tierversuche verzichten?
O-Ton 9 Bartfeld
Sobald ein Organoid die menschliche Physiologie entweder gleichwertig oder doch besser abbilden kann als ein Tierversuch, in dem Moment ist es sofort dem Tierversuch vorzuziehen, weil es aus ethischen Gründen eben dann vorzuziehen ist. Dennoch wird es in naher Zukunft und sicherlich auch in ferner Zukunft noch viele Tierversuche geben, die nicht so einfach ersetzbar sind. Aber, da Organoide aus humanen Stammzellen entstehen, handelt es sich hier eben um humane Zellen, also menschliche Zellen. Und menschliche Zellen können eben gerade in diesem 3d komplexen Miniaturorganmodellen viel besser abbilden, was in einem menschlichen Körper, in menschlichen Zellen passiert, als eine Maus das könnte. Deswegen besteht hier in bestimmten Aspekten sehr begründete Hoffnung, dass es hier Tierversuche ersetzen kann.
Sprecher
Ein Problem der Miniorgane liegt auf der Hand: Organoide aus adulten Stammzellen bilden nur einen Teil eines menschlichen Organs nach. Aber Organe sind in sich sehr vielschichtig und stehen mit allen anderen Organen des Körpers in ständigem Austausch. Auch darauf sucht die Forschung derzeit eine Antwort. Mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Charité baut die Technische Universität in den nächsten Jahren das Forschungszentrum „Der simulierte Mensch“ auf. Dort soll unter anderem das Problem der Vernetzung verschiedener Organoide untereinander gelöst werden. Schritte in diese Richtung wurden bereits getan, mit der sogenannten ‚Organ on a Chip-Technologie‘. So können auf einen Objektträger beispielsweise ein Leberorganoid und ein Hautorganoid appliziert werden:
O-Ton 10 Bartfeld
Und die beiden verbinde ich mit einem Minigefäßchen und dieses Gefäß kleide ich auch noch aus mit den Zellen, die das im echten Körper tun den Endothelzellen, und dann verbinde ich das Ganze noch mit einer Minipumpe, die dafür sorgt, dass da auch noch so ein Minikreislauf entsteht, und dann spült mein Minikreislauf die Substanzen, die mein Leberorganoid produziert, auf das Hautorganoid. Und dann kann ich hinterher mein Hautorganoid mikroskopisch analysieren, analysieren, was exponiert das für Gene, was macht denn das, wie stirbt das, lebt das, geht es dem gut oder nicht und so kann ich dann natürlich auch gucken, was passiert mit der Verstoffwechslung von Medikamenten, was ja eine zentrale Funktion der Leber ist und was passiert mit den Abbauprodukten und diese zwei-Organ-Chip Technologie, die ist tatsächlich schon Realität.
Sprecherin
Bei dieser Forschung geht es also einerseits darum, ethisch fragwürdige Tierversuche zu ersetzen und andererseits darum, Modelle zu entwickeln, die den menschlichen Organismus besser abbilden können, weil es sich um menschliche Zellen handelt. Doch bis es so weit ist, wird man sich in der Grundlagenforschung und angewandten Forschung weiterhin mit Tierversuchen behelfen müssen. Um zumindest das Tierleid zu mindern und unnötige Tierversuche zu vermeiden, kommen die beiden anderen ethischen Grundprinzipien Reduzieren und Verfeinern zum Tragen.
MUSIK 7: „Hydroxy Lemon (a) - C1592790123 – 52 Sek
Sprecher
Wer auch immer in Deutschland und der übrigen EU Tierversuche durchführen möchte, muss bei der zuständigen Behörde einen Antrag stellen. Und darin genau darlegen, warum er welche Tierarten und wie viele Individuen davon benötigt und welche Belastungen das Tier während des Versuchs ertragen muss. Übrigens sind nur Tierversuche an Wirbeltieren sowie Kopffüßlern genehmigungspflichtig. Auch die Methoden, wie ein Tier getötet werden soll, sind je nach Tierart gesetzlich geregelt. Denn meistens wird das Versuchstier nach dem Ende des Experiments getötet und seziert. Immer mehr achtet man darauf, die Ergebnisse einer Sektion so umfassend wie möglich auszuwerten, die Ergebnisse in Datenbanken einzuspeisen und Gewebeproben in Biobanken zu konservieren.
MUSIK 8 – „Small lab“ - C1490140001 – 34 Sek
Sprecher
Tiere, die für Tierversuche bestimmt sind, werden meist extra gezüchtet - ganz überwiegend handelt es sich um Mäuse. Alle Individuen werden in ein Zuchtbuch eingetragen, heute natürlich im Computer in eine Datenbank. So ist für jedes Tier nachvollziehbar, wer die Eltern sind und aus welcher Zuchtlinie es stammt.
Sprecherin
Bei Mäusen sind das häufig gentechnisch veränderte Zuchtlinien. Doch warum eignen sich Mäuse so besonders gut? Stefan Hippenstiel:
O-Ton 12 Hippenstiel
Mäuse erwiesen sich als Tiere, die man genetisch sehr gut verändern kann, sogenannte Knockout oder Knockin Mäuse. Man muss sich vorstellen, die Erbsubstanz ist ein Bauplan für den Körper und in diesem Bauplan hat man mit modernen Methoden die einzelnen Unterbaupläne, die einzelnen Gene identifizieren können. Und mit modernen Methoden kann man nun einzelne dieser Unterbaupläne ausschneiden, wegnehmen, man kann sie verändern oder man kann neue einfügen. Oder man kann etwas ganz Neues einbauen, z.B. ein menschliches Gen in eine Maus.
Sprecherin
Ob nun gentechnisch verändert oder nicht, diese Mäuse sollen ihr Leben im Labor so artgerecht wie möglich verbringen. In der Regel geschieht das in sogenannten IVCs - in individuell belüfteten Käfigen aus durchsichtigem Kunststoff, die an ein Belüftungssystem angeschlossen sind. So gelangt die Abluft nicht in den Raum, sondern über einen Filter nach draußen. Auch in den Laboren der Charité stehen viele dieser Käfige in Regalen übereinander, jeweils bewohnt von mehreren Tieren. An jedem Behälter hängt ein Zettel, der den Versuch beschreibt und die spezielle Maus-Zuchtlinie benennt. In den Käfigen liegen Pappröhren und Sägespäne, Futter und Wasser stehen rund um die Uhr zur Verfügung. Die Art, wie Mäuse im Labor gehalten werden, hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert, meint Christa Thöne-Reineke. Und auch der Umgang mit ihnen:
O-Ton 13 Thöne Reineke
Das nennt sich Cuphandling und Tunnelhandling. Gerade Mäuse wurden sonst früher häufig nur an der Schwanzwurzel hochgenommen, und jetzt kann man die eben so trainieren, dass sie in die Handfläche gehen oder man kann sie mit einem Tunnel transportieren und das kann man dadurch verbessern, dass man sie mit Klicker-Training trainiert, so wie viele ihre Hunde trainieren. Und dann gibt es aus verhaltensbiologischer Sicht noch weitergehende Untersuchungen, in wie weit man zum Beispiel ein seminaturalistisches Gehege bauen kann, wo man noch mal mehr versucht die wilde Lebensweise der Wildmaus für die Labormaus nachzuahmen, und wo man jetzt erst mal untersucht, was hat das für Effekte, bewährt sich das , ist das positiv, es ist auf jeden Fall deutlich schwerer mit dem Handling, weil die natürlich viel schwieriger einzufangen sind, und was das saubermachen angeht, also es ist sehr komplex, aber das ermöglicht uns, die Mäuse besser zu verstehen.
Musik 9 – „Small Lab“ - C1490140001 – 37 Sek
Sprecher
Die Mäuse wirklich verstehen ist tatsächlich ein Ziel, das sich die Versuchstierkunde gesetzt hat. Und dazu ist es nötig, die Perspektive des Tieres einzunehmen. Eine Doktorandin von Christa Thöne-Reineke hat untersucht, ob Mehrfachnarkosen für Mäuse besonders belastend sind. Der Hintergrund ist, dass man bei Versuchen statt einer Autopsie immer öfter bildgebende Verfahren, also MRT oder CT nutzt und dieselbe Maus im Lauf eines Experiments mehrfach untersucht. Da aber eine Maus beim MRT nicht still hält, muss sie vorher narkotisiert werden. Die Fragestellung war: Ist nicht vielleicht eine solche Mehrfachnarkose in einer Versuchsreihe für die Maus belastender als ein schneller Tod?
Sprecherin
Die Befindlichkeit der Maus lässt sich unter anderem an ihrem Gesicht ablesen, deshalb machte die Doktorandin nach jeder Narkose Porträts der Mäuse:
O-Ton 14 Thöne Reineke
Es gibt sogenannte Facial Expression Units, die man sich anguckt, das ist einmal die Stellung der Ohren, der Augen, die Nasenmuskulatur, und die Wiskers …
Sprecherin
… die Schnurrbarthaare. Auch deren Stellung verrät viel über die Verfassung des Tieres. Die Fotos wurden von drei Personen unabhängig voneinander beurteilt und führten zu eindeutigen Ergebnissen. Das Wohlbefinden der Mäuse verschlechtert sich nicht durch mehrfache Narkosen, MRT und CT helfen also tatsächlich, Tiere einzusparen.
MUSIK 10: „Circonflexe“ – Z8018372108 - 45 Sek
Sprecher
Experimente mit Tieren werden in absehbarer Zeit unverzichtbar bleiben - so lautet der wissenschaftliche Konsens. Obwohl Forschung und Medizin auf vielen Ebenen daran arbeiten, das Tiermodell zu ersetzen: mit Daten- und Biobanken, Zellkulturen und immer ausgereifteren Organoiden. Doch bis sich der menschliche Körper vollwertig simulieren lässt, wird wohl noch einige Zeit vergehen. Solange sollte alles getan werden, damit Tiere in den Laboren so artgerecht und qualfrei wie möglich leben können.
Musik aus. //
Axolotl, Rippenqualle oder Stachelmaus - es gibt einige Tiere, die unfassbare Selbstheilungskräfte besitzen: Sie können Körperteile wieder nachwachsen lassen wie einen Fuß oder auch im Extremfall den Kopf. Wie funktioniert das? Was kann die Humanmedizin davon lernen? Autorin: Katharina Hübel
Credits
Autor/in dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Karin Schumacher
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Kerstin Bartscherer, Biologie / Tierphysiologie, Universität Osnabrück, vormals Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster und Hubrecht Institut für Entwicklungsbiologie und Stammzellforschung, Utrecht;
Dr. Max Yun, TU Dresden (Zentrum für Regenerative Therapien Dresden und Exzellenzcluster Physik des Lebens) und Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik Dresden;
Jamileh Javidpour, Meeresökologin an der Süddänischen Universität in Odense, vormals Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (GEOMAR)
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Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion:
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Literaturtipps:
Kerstin Bartscherer: Wissenschaftliche Veröffentlichung in der „Nature“ aus dem Jahr 2021, nachdem das Team um Kerstin Bartscherer herausgefunden hat, dass sich Stachelmäuse sehr schnell und sehr gut von einem Herzinfarkt erholen können:
EXTERNER LINK | https://www.nature.com/articles/s41536-021-00188-2.epdf?sharing_token=8LIER7br3zc8dsCoFmaj2NRgN0jAjWel9jnR3ZoTv0PJIIceyGvd5uBrx-akO-Ml6FjX3iGeE359PLB5o28alIOattqzCEPc03DXb5DSBAfYBwmLo38JIGbrivLa8LH2tOAHtmWVLqPFNpg-DN3IZgyDY01FjASaDxppHrpa7mA%3D
Kerstin Bartscherer: Wissenschaftliche Veröffentlichung im „Science Advanced“ 2023, in der die Biologin mit ihrem Team die Mechanismen erklärt, die zur narbenlosen Wundheilung bei der afrikanischen Stachelmaus führt:
EXTERNER LINK | https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adf2331
Maximina Yun: Verschiedene wissenschaftliche Veröffentlichungen rund um die Forschung zum Axolotl und artverwandten Tieren und ihre Regenerationsfähigkeit:
EXTERNER LINK | https://www.theyunlab.com/publications
Jamileh Javidpour: Wissenschaftliche Veröffentlichung zur Ausbreitung der amerikanischen Rippenqualle und was ihre Fähigkeit der Regeneration damit zu tun hat:
EXTERNER LINK | https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rsbl.2013.0864
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher:
Winkerkrabben können ihren Arm abwerfen und nachwachsen lassen. Süßwasserpolypen machen das sogar mit ihrem Kopf, wenn er ihnen abgerissen wird. Der kanadische Waldfrosch kann sich nach dem Tod wieder selbst beleben. Bei minus zehn Grad gefriert das Wasser in seinem Körper, die Atmung setzt aus, das Herz hört auf zu schlagen. Nach einigen Wochen taut er wieder auf, wird wieder lebendig. Und es geht noch extremer: Ein Plattwurm kann in 200 Teile zerlegt werden – um zu 200 neuen und gesunden Tieren heranzuwachsen.
01 OT Kerstin Bartscherer
Da hab ich zufällig ein Video angeschaut von diesen Plattwürmen und hab gesehen, wie die den Kopf regenerieren, wenn man den abschneidet. Ich war so fasziniert davon, weil ich davor eigentlich noch nie was davon gehört hatte, und hab dann beschlossen, mit denen zu arbeiten als Postdoc, nach der Doktorarbeit. Das war eigentlich reine Faszination und das Interesse an diesem Regenerationsprozess.
MUSIK 2 (Z8038054114 Daniel Backes: New Method Reduced 1 0‘50)
Sprecher:
Regeneration. Die Fähigkeit, abgerissene Körperteile, zerstörte Zellen und kaputte Organe aus sich selbst heraus zu heilen und zu erneuern. Gar nicht so wenige Tiere haben sie – in einem Ausmaß, wie es für den Menschen kaum vorstellbar ist. Wissenschaftler verstehen zunehmend besser, wie Tiere das schaffen. Und sie haben ein großes Ziel: Diese Erkenntnisse auf den Menschen zu übertragen.
02 OT Kerstin Bartscherer
Unrealistisch ist das auf gar keinen Fall. Ich finde das sehr realistisch je mehr ich mich jetzt mit dieser Regenerationsfähigkeit beschäftige, umso mehr bin ich überzeugt, dass das wirklich in Zukunft gehen wird, dass wir solche Regeneration hinbekommen können.
Sprecher:
Professor Kerstin Bartscherer baut derzeit an der Universität Osnabrück ein Lab auf, um erstmals an menschlicher Haut ihre Erkenntnisse zu testen – und um das, was sie an Plattwürmen und Stachelmäusen beobachtet hat, auf den Menschen zu übertragen. Angefangen hat alles mit den Plattwürmern. 2007.
03 OT Kerstin Bartscherer
Wir haben das erstmal so angefangen, dass wir erstmal verstehen wollten, welche Gene da aktiviert werden im Regenerationsprozess. Wir haben den Wurm in Stücke geschnitten und aus jedem Stück regeneriert dann wieder ein eigenes Tier.
Sprecher:
Die Molekularbiologin hat dann die DNA der zerschnittenen Plattwürmer – auch Planarien genannt – untersucht und mit der von unzerschnittenen verglichen und so Gene gefunden, die im Regenerationsprozess aktiviert sind. Damit konnte sie dann experimentieren.
04 OT Kerstin Bartscherer
Wir haben uns angeguckt, in welchen Zellen werden die aktiviert und in Planarien, was man da so gut machen kann, man kann Gene gezielt ausschalten und dann schauen: Welchen Effekt hat jetzt dieser Knockdown von diesem Gen auf die Regeneration? Und so haben wir eben einige Gene gefunden, die an der Regeneration beteiligt sind.
MUSIK 3 (Z8039716122 Louis Edlinger / Tony Delmonte: Spread The Idea (Reduced) 0‘55)
Sprecher
Plattwürmer sind recht einfach gebaute, wurmförmige Organismen – das macht sie für die Forscher so interessant. Denn ihre Einfachheit macht es möglich, einen so komplexen Prozess wie den der Regeneration gut untersuchen zu können. 30.000 verschiedene Arten von Plattwürmen gibt es. Es sind in der Regel Räuber und Parasiten – Bandwürmer fallen zum Beispiel darunter. Die Tiere sind asexuell, das heißt: Sie vermehren sich, indem sie einfach in der Mitte auseinanderbrechen. Dem hinteren Teil wächst dann ein Kopf, dem vorderen ein Schwanz. Dass sich Plattwürmer so gut selbst heilen können, wenn sie stark verletzt werden, könnte also ein „Nebenprodukt“ ihrer Fortpflanzungsstrategie sein, vermuten die Wissenschaftler.
05 OT Kerstin Bartscherer
Was den Plattwurm besonders macht, dass er diese Stammzellen hat, die sich tatsächlich in sämtliche Körperzellen spezialisieren können. Solche Stammzellen haben wir nicht, das ist eine besondere Eigenschaft. Es reicht aber nicht, nur Stammzellen zu haben, es muss auch ein bestimmtes Koordinatensystem geben im Körper, weil die Stammzellen ja auch instruiert werden müssen, zu was sie sich entwickeln sollen. Sollen die eine Nervenzelle im Gehirn werden oder eine Darmzelle oder eine Hautzelle?
Sprecher
Für die Regeneration braucht der Plattwurm also Baumaterial, um etwas aufbauen zu können. Das sind die Stammzellen. Er braucht aber auch einen Bauplan.
06 OT Kerstin Bartscherer
Da wissen wir mittlerweile, dass dieser Bauplan in den Muskelzellen unter der Haut liegt, also praktisch jede Muskelzelle entlang der Körperachse hat ein unterschiedliches Set von Genen aktiviert. Und so können die Muskelzellen dann den Stammzellen sagen, wo im Gewebe sie sich gerade befinden.
Sprecher
Das heißt: Nur wenn der Signalweg stimmt, wenn die Information über den Ort der Verletzung korrekt weitergeleitet wird, „versteht“ auch die Stammzelle, in welche Art von Gewebe, Organ oder Körperteil sie sich umwandeln soll. Diese Signalwege hat Kerstin Bartscherer näher untersucht und erstmals verstanden. Um ihre Theorie vom Signalweg zu überprüfen, hat sie in einem Laborversuch die Plattwürmer etwas manipuliert.
MUSIK 4 (Z8046179104 Hauschka: Detached 0’50)
07 OT Kerstin Bartscherer
Wenn man zum Beispiel diesen Signalweg ausschaltet, dann bildet sich an jeder Wunde ein Kopf – also, die Stammzellen denken dann: hier muss ein Kopf gebildet werden, weil eben diese positionale Information schiefläuft.
Sprecher
Und es wachsen Köpfe, wo eigentlich gar keine hingehören. Die Molekularbiologin konnte schlussendlich dann auch mit ihrem Team herausfinden, was im Plattwurm der Auslöser für die Regeneration ist: die Wundsignale. Also die Signale, die bei einer Hautverletzung im Körper ausgelöst werden.
Diese so genannten pluripotenten Stammzellen klingen wie eine Zauberwaffe im Kampf gegen den Tod. Aber so einfach ist das nicht, zumindest nicht, wenn man an den Menschen denkt.
09 OT Kerstin Bartscherer
Es ist die Frage, ob das so ein Riesenfortschritt wäre. Wenn wir jetzt Zellen haben, die sich ständig im Körper teilen, dann kann das natürlich auch was kosten. Und da meine ich jetzt zum Beispiel, dass wir dann auch vielleicht Krebs bilden können, weil sich die Zellen unkontrolliert teilen können. Also es ist nicht so, dass das einfach for free kommt, diese Regeneration.
Sprecher
Jetzt ist der Wurm aber ein Wurm – und kein Mensch. Bis sich die Erkenntnisse über Regeneration auf Säugetiere übertragen lassen, ist es ein langer Weg in der Wissenschaft. Der erste Schritt in diese Richtung war für Kerstin Bartscherer eine Kooperation mit Forschern aus Ulm, bei der sie ihr Wissen über Plattwürmer bei Fischen anwenden konnte.
11 OT Kerstin Bartscherer
Also konnten wir diese Ergebnisse praktisch auf Wirbeltiere übertragen. Das war ein ziemlich guter Erfolg für uns, um das mal zu zeigen, dass man tatsächlich auch Ergebnisse aus Plattwürmern weitertragen kann in Wirbeltiere. Und ich hatte irgendwie das Bedürfnis, jetzt einen Schritt weiterzugehen und an einem Tier zu arbeiten, wo ich dann auch tatsächlich was für den Menschen finden kann. Das ist mir in den letzten Jahren immer wichtiger geworden.
MUSIK 5 (Z8046179105 Hauschka: Limitation Of Lifetime 0’58)
Sprecher
Kerstin Bartscherer wechselte von den Plattwürmern zur Stachelmaus. Und Experimente, die an Mäusen gelingen, lassen sich oft in weiterer Forschung dann auch irgendwann auf den Menschen übertragen.
Ein Mensch oder eine Maus – das sind Lebensformen, die es noch nicht so lange auf der Welt gibt – denkt man in den Zeitspannen der Evolution. Die allerersten Wirbeltiere sind vor rund 480 Millionen Jahren entstanden. Süßwasserfische oder auch Amphibien beispielsweise. Diese Arten gibt es nach wie vor. Das bedeutet: Sie haben sich über hunderte von Millionen Jahren weiterentwickelt. Recht auffällig ist, dass unter den Meerestieren und auch Amphibien etliche Arten existieren, die erstaunliche Fähigkeiten haben, sich zu regenerieren. Ein Zufall?
12 OT Javidpour
Viele Meeresbewohner zeigen diese Fähigkeit, weil sie sehr alt sind und sich daher sehr gut angepasst haben.
Sprecher
Jamileh Javidpour ist Meeresökologin; sie hat 17 Jahre lang am GEOMAR in Kiel geforscht, unter anderem zu den Rippenquallen.
13 OT Javidpour
Die Rippenqualle ist ein besonderes Tier, weil – wenn man die Rippenqualle in Hälften schneidet, aber auch zu einem Viertel – dann können sie alle Teile regenerieren, inklusive Schirm, Körperteile, aber auch Organe und Magenteile. Und sie sind auch sehr schnell. Innerhalb von maximum zwei Wochen von einer Hälfte des Körpers kann ein komplettes Tier stattfinden.
Sprecher
Für den Lebensraum der Rippenqualle entscheidend zum Überleben.
14 OT Javidpour
Besonders im Meer, wo die Bedingungen rau und rough sind, können viele Verletzungen stattfinden. Es gibt viele Raubtiere, in dem die Fähigkeit, ein Teil des Körpers zu opfern, um den Jägern zu entkommen, präsent ist.
MUSIK 6 (Z8046179107 Hauschka: Science 1’28)
Sprecher
Über Quallen ist bis vor wenigen Jahren gar nicht viel geforscht worden. Sie wurden für recht simpel und uninteressant gehalten. Doch seit der Klimawandel einige Arten sich über die Maßen hat ausbreiten lassen, so sehr, dass diese Vermehrung ökologisch an manchen Orten sogar zum Problem geworden ist, ist das Interesse der Forschung geweckt.
15 OT Javidpour
Wir haben die Rippenqualle Mnemiopsis leidyi untersucht. Wir haben uns gefragt, wie kann es sein, dass ein so einfaches Tier wie die Rippenqualle einen Weg von der amerikanischen Ostküste nach Europa findet und dazu sehr erfolgreich sich ausbreitet.
Sprecher
Mnemiopsis leidyi. Die amerikanische Rippen-Qualle, auch ‚Meer-Walnuss‘ genannt wegen ihrer bräunlichen Färbung. Dabei war für die Kieler Forscher vor allem interessant, ob es der Rippenqualle bei ihrer invasiven Ausbreitung hilft, dass sie sich so gut regenerieren kann. Denn die Reise in andere Meere ist beschwerlich – sie erfolgt oft über Schiffstanks. Die Quallen hungern, müssen eine Zeit unter sehr widrigen Bedingungen ausharren, und viele von ihnen werden durch die Pumpen in den Schiffen verletzt. Das Überleben zwar nicht alle Tiere, aber für die Art insgesamt ist das kein Hindernis.
16 OT Javidpour
Wir haben herausgefunden, dass gute Bedingungen, zum Beispiel vorhandenes Futter, sehr wichtig sind, um die Regeneration weiter zu treiben oder schneller zu haben. Aber auch unter schlechten Bedingungen ist ein Teil der Population wieder fähig, sich zu regenerieren und als komplettes Tier rauszugehen.
Sprecher
Die Regeneration bei der Qualle zu verstehen, bedeutet für die Wissenschaft jedoch noch mehr als nur ihre Ausbreitung zu erklären. Für Jamileh Javidpour hat die Rippen-Qualle eine interessante Stellung in der Evolution:
17 OT Jamileh Javidpour 13s
Durch genetische Untersuchungen hat man festgestellt, dass die Rippenquallen eine Schlüsselposition innehaben in unserem „tree of life“, unserem tierischen Stammbaum.
Sprecher
Anders als lange vermutet, ist die Qualle mitnichten eine evolutionäre „Sackgasse“. Im Gegenteil: Die Qualle könnte sogar ein Schlüsseltier in unserem Stammbaum sein, das ist derzeit die Annahme.
18 OT Jamileh Javidpour 16s
Daher stehen wir am Anfang einer großen Forschungsära, um von der Qualle zu lernen, und einen Heilungsprozess für andere Tiere, inklusive Menschen anbieten.
MUSIK 7 (Z8046179110 Hauschka: Magnanimity 1’15)
19 OT Max Yun
OVERVOICE Weiblich
Ich war fasziniert von der außerordentlichen Fähigkeit zur Regeneration und noch etwas ist sehr bemerkenswert: Dass diese Wirbeltiere einfach nicht altern. Es war für mich wirklich ein großes Rätsel, das ich lösen wollte.
Sprecher
Der Axolotl. Ein mexikanischer Schwanzlurch, der Zeit seines Lebens im Wasser bleibt. Weil er die Metamorphose von der Larvengestalt hin zum Salamander nicht vollzieht. Er wird nur größer – und schaut dann aus wie ein kleiner Wasserdrache. Oder eben: Wie eine Mega Larve. Optisch altert er also nicht, aber auch seine Körperfunktionen bleiben ewig jung:
20 OT Max Yun
Typical signs of aging that occur is erosion of bones, for example….
Sprecher
Seine Knochen bleiben stabil und seine Muskeln bauen nicht ab. Selbst als Greis ist der Axolotl weiter fortpflanzungsfähig und die Organe funktionieren. Abnutzung: Kennt diese Amphibie nicht.
21 OT Max Yun – frei stehen lassen
None of theses things have ever been seen in our salamanders.
Sprecher
Seit 2009 arbeitet Dr. Max Yun daran, Stück für Stück dieses Rätsel zu knacken: Was im Axolotl ist dafür verantwortlich, dass sein Körper nicht altert? Max Yun forscht dazu an der TU Dresden am Zentrum für Regenerative Therapien und für das Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik. Sie steht mit ihrer Forschungsfrage in einer langen Tradition, was die Salamander angeht. Seit dem 18. Jahrhundert wollen Wissenschaftler das herausfinden, was auch Max Yun umtreibt.
22 OT Max Yun
OVERVOICE Weiblich
Jedoch: Erst seit einem guten Jahrzehnt ist es möglich geworden, wirklich herauszufinden, was auf Zellebene und auf molekularer Ebene abläuft in den Tieren. Denn: Jetzt erst haben wir die Fähigkeit, uns das Genom der Salamander anzuschauen, wir können herausfinden, welche Gene im Axolotl für seine Fähigkeiten verantwortlich sind. Und das war in der Vergangenheit natürlich nicht möglich.
Sprecher
Max Yun hat in ihrem Labor eine Axolotl-Kolonie, die Tiere in allen Altersphasen umfasst.
23 OT Max Yun
OVERVOICE weiblich
Wir haben einige interessante Dinge herausgefunden, was die so genannten seneszenten Zellen angeht. Das sind gealterte Zellen, Zombie-Zellen, die großen Schaden und Stress im Körper verursachen. Eigentlich werden sie eliminiert, aber wenn wir altern, häufen sie sich im Körper an. In der Haut, im Herz, in der Leber. Und die sind dann Treiber von vielen Alters-Krankheiten. Bei den Salamandern haben wir herausgefunden, dass sie eben gerade nicht solche Zombie-Zellen anhäufen. Das ist sehr speziell. Wie geht das? Nun, sie haben eine sehr effiziente Methode, sie aus dem Weg zu räumen. Das hat mit Fress-Zellen zu tun, die Teil des Immunsystems sind.
Sprecher
Da Axolotl in ihrer ersten Lebensphase halb durchsichtig sind, kann Max Yun bestimmte innere Vorgänge im Tier ganz einfach beobachten, indem sie die Zellen so markiert, dass sie unter UV-Licht sichtbar werden. Doch der Axolotl eliminiert nicht nur einfach das Alter.
24 OT Max Yun
OVERVOICE weiblich
Salamander sind sehr berühmt dafür, ihre Körperteile wieder nachwachsen zu lassen. Auch innere Organe wie die Niere oder auch die Augenlinse. Und am beeindruckendsten finde ich, dass sie große Teile ihres Gehirns regenerieren können. Wir haben erst kürzlich herausgefunden, dass die Tiere ihren kompletten Thalamus neu bilden können – also einen großen Teil des Zwischenhirns, den man fürs Immunsystem braucht.
MUSIK 8 (Z8046179105 Hauschka: Limitation Of Lifetime 0’35)
Sprecher
Warum kann der Salamander das? Normalerweise sind im Körper ausgereifte Zellen spezialisierte Zellen. Zum Beispiel in der Lunge haben sie ganz bestimmte Aufgaben. Für eine Muskelfaser haben sich die Zellen ganz anders spezialisiert. Zell-Differenzierung nennt sich das. Normalerweise können sich spezialisierte Zellen auch nicht mehr zurückverwandeln. Anders beim Axolotl.
25 OT Max Yun
OVERVOICE weiblich
In einer Sache ist er wirklich gut: in der Zelldifferenzierung. Die Zellen können zurückfallen in ein früheres Stadium und sich dann wieder vermehren – und auch zu einer anderen spezialisierten Zelle dann werden. Trans-Differenzierung heißt das. Wir glauben, das ist vermutlich einer der Gründe, weshalb Salamander so gut regenerieren können und wir nicht.
Sprecher
Um diese Prozesse besser verstehen zu können, sind Max Yun und ihre Kollegen dabei, Moleküle aufzudecken, die dabei eine Rolle zu spielen.
26 OT Max Yun
OVERVOICE weiblich
Das ist wie ein großes Puzzle. Wir haben einige Teile schon, aber noch längst nicht das ganze Bild. Aber darauf arbeiten wir hin.
MUSIK 9 (Z8039716102 Louis Edlinger / Tony Delmonte: Tech Questions (Reduced) 0‘20)
Sprecher
Auch mit der Idee, die Erkenntnisse womöglich auf den Menschen übertragen zu können.
Kerstin Bartscherer will diesen Schritt jetzt an der Uni Osnabrück gehen. Ihr Wissen über die Regeneration beim Plattwurm und der Stachelmaus übertragen auf den Menschen.
27 OT Kerstin Bartscherer
Die Stachelmäuse sind da eben sehr geeignet, weil sie Haut narbenfrei regenerieren können, richtig große Regionen von Haut. Ich kenn kein anderes Tier, das das kann, zum Beispiel 70 Prozent des Rückenfells komplett regenerieren zu können. Das war eigentlich dann der Grund mit den Stachelmäusen zu arbeiten, weil ich was finden wollte, was den Menschen am Ende auch hilft.
Sprecher
Ihre Vision: Menschen, die beispielsweise schwere Verbrennungen haben und große Teile der Haut verloren haben, helfen. Die transplantierte Haut soll möglichst narbenfrei verheilen. Seit 2019 untersucht Kerstin Bartscherer daher die afrikanische Stachelmaus. Sie sieht unserer Hausmaus ähnlich, nur, dass sie hellbraun ist und borstig. Wenn eine Schlange sie verspeisen will und zubeißt, hat sie die Fähigkeit, ihre Haut am Rücken abzuwerfen. Danach regeneriert sie vollständig, sieht wieder aus wie vorher. Wie das gehen kann, interessiert Kerstin Bartscherer. Hat die Stachelmaus eine Wunde, kann die Biologin folgenden Prozess beobachten:
28 OT Kerstin Bartscherer
Wir haben eine Zelle, die schüttet ein Signal aus und dieses Signal bindet dann an die anderen Zellen und löst dort eine Reaktion aus, dann wird da so eine Signalkaskade in Gang gesetzt aus verschiedenen Proteinen, bis dann am Ende im Zellkern bestimmte Gene aktiviert werden. Der Unterschied, wenn wir das jetzt vergleichen mit einer normalen Hausmaus, die nicht regenerieren kann, dann konnten wir zeigen, dass dieser Signalweg auch in der Maus angeschaltet wird durch eine Wunde. Er wird aber relativ schnell wieder ausgeschaltet. Und in der Stachelmaus bleibt dieser Signalweg über längere Zeit an – eigentlich über den ganzen Regenerationszeitraum.
Sprecher
In einem Experiment hat Kerstin Bartscherer dann in der normalen Hausmaus den Signalweg so aktiviert, dass er nicht gleich wieder zu Ende war – und: die normale Hausmaus hatte tatsächlich eine bessere Wundheilung und vor allem: eine flexiblere Narbe. Die Proteine, die diese Narbe bilden, sind anders als sonst. Kerstin Bartscherer schaut sich das Genom der Stachelmaus genauer an, um den großen Unterschied zu finden. Wieso geht das bei der Stachelmaus so gut?
29 OT Kerstin Bartscherer
Wir haben auch schon einige Dinge gefunden, die eventuell wichtig sein könnten, dass wir bestimmte Proteine, die jetzt nur in den Stachelmäusen aktiviert werden, dass wir die dann eben auch benutzen können, um narbenfreie Regeneration im Menschen anzukurbeln. Und das ist das Hauptziel unserer Forschung.
MUSIK 10 (Z8038054114 Daniel Backes: Hauschka: Detached 1’05)
Sprecher
Doch die Stachelmaus kann noch mehr: sie kann nach einer Verletzung das Rückenmark regenerieren – und Herzinfarkte sehr gut überleben. Denn auch nach einem Infarkt entstehen Narben am Herzmuskel. Beim Menschen verursacht das große Probleme. Bei der Stachelmaus ist das nicht so. Denn ihre Narbe ist anders zusammengesetzt.
30 OT Kerstin Bartscherer
Das ist jetzt noch nicht publiziert, aber wir können zeigen, dass die Narbe in den Stachelmäusen ganz andere Eigenschaften hat, die ist viel weicher, viel flexibler. Wir glauben, dass das eventuell das Geheimnis ist, warum Stachelmäuse damit so gut zurechtkommen, sodass eben das Herz immer noch funktionieren kann. Das ist ein super neuer Ansatz.
Sprecher
Den Kerstin Bartscherer weiterverfolgen möchte. Sie ist sich sicher: Die Humanmedizin wird eines Tages davon profitieren können. Und zwar in naher Zukunft.
MUSIK Ende
Feuer spielt in den Mythen der Menschheit und in den Religionen eine große Rolle. Es gibt Feuergottheiten und die archaische Urkraft ist Symbol des Lebens, des Göttlichen und Heiligen, Zeichen der Erleuchtung oder des Neubeginns. (BR 2021) Autorin: Sylvia Schopf
Credits
Autor/in dieser Folge: Sylvia Schopf
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Carsten Fabian
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Monika Böhm-Tettelbach (Prof. i.R; Dr.; Indologin und ehemalige Fachbereichsleiterin am Südasien-Institut der Universität Heidelberg);
Jens-Uwe Hartmann (Prof. i.R; Dr.; Indologe mit Schwerpunkt Buddhismus, Universität München);
Thorsten Dietz (Prof. Dr.; Theologe an der Evangelischen Hochschule TABOR/Marburg);
Fateme Rahmati (Dr.; Studium Islamische Theologie und Philosophie im Iran, Promotion in Deutschland, z.Zt. Dozentin an der Universität Frankfurt im Fachbereich Vergleichende Religionswissenschaften)
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Das vollständige Manuskript zur Sendung gibt es HIER
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO: Gewitter/Donnergrollen
SPRECHER
Dunkle Wolken. Donner. Grelle Blitze zucken über den Himmel und dann schlägt ein Blitz ein, entfacht Feuer.
SPRECHERIN
So mögen Menschen vor Jahrtausenden die archaische Naturgewalt des Feuers erlebt haben, entfacht durch Blitze oder die Hitze der Sonne. Feuer, das Licht in die Dunkelheit brachte und wärmte, aber auch gefährlich und zerstörerisch sein konnte wie Brand oder ein Vulkanausbruch zeigten.
SPRECHER
Mit brennbaren Materialien gelang es den Menschen, Feuer am Leben zu erhalten. Dann schafften sie es, Feuer selber zu entfachen. Eine Errungenschaft mit weitreichenden Folgen!
SPRECHERIN
Nach Bedarf konnte nun Licht in die Dunkelheit gebracht werden; es gab eine Wärmequelle für kalte Jahreszeiten, Raubtiere konnten mittels Feuer ferngehalten werden, Metalle geschmolzen für die Herstellung von Geräten und Waffen, Nahrung konnte gekocht und dadurch verdaulicher werden und einige Pflanzen wurden erst durch das Erhitzen überhaupt genießbar.
SPRECHER
Für die Menschen früherer Zeiten stand außer Frage, was es mit diesem faszinierenden und doppelgesichtigen Phänomen Feuer auf sich hat! Es konnte nur etwas Heiliges, etwas Göttliches sein, eine Gabe der Götter.
ZITATOR
Feuer ist göttlich, ist eine Gottheit.
SPRECHERIN
In den sogenannten ‚Naturreligionen‘ wurde und wird Feuer - ebenso wie Wasser und Erde - als heiliges Element verehrt und in der Regel den Frauen zugeordnet. Sie sind die Hüterinnen des Herdfeuers. Andere Glaubenssysteme betrachten das Feuer als Gottheit – als weibliche oder männliche.
SPRECHER
Feuergottheiten können dem Leben und der Schöpfung zugeordnet sein wie die altägyptische Feuergöttin Tefnut oder einige Feuergottheiten der indigenen Völker Mittelamerikas.
SPRECHERIN
Mit dem heimischen Herdfeuer verknüpft ist z.B. die griechische Göttin Hestia ebenso wie ihr römisches Pendant, die Göttin Vesta.
SPRECHER
Wie das Feuer selbst so vereint auch der Feuer- und Schmiedegott aus dem antiken Griechenland gegensätzliche Eigenschaften. Hephaistos ist ein alter, hässlicher Schmied, der jedoch mit Hilfe des Feuers wunderschöne Kunstwerke und Waffen hervorbringt. Bei den Römern heißt er später Vulcanus.
SPRECHERIN
Als Vermittler zwischen Himmel und Erde gelten sowohl die irisch-keltische Licht- und Feuergöttin Brigid als auch der indische Feuergott Agni, der im Hinduismus bis heute eine zentrale Rolle spielt.
SPRECHER
Und auch das gibt es: die negativ besetzte Feuergottheit: Loki, der Luft- und Feuergott der Wikinger, ist ein hinterhältiger und verschlagener Charakter.
MUSIK
SPRECHERIN
Nicht als Gottheit, sondern als göttliches, heiliges Element wird das Feuer im Zoroastrismus verehrt, einer Religion, die vor mehr als 3.500 Jahren im Iran entstand und Jahrhunderte lang weit verbreitet war. In eigenen Feuertempeln und auch zuhause wurde das heilige Feuer verehrt, erzählt Monika Böhm-Tettelbach, Indologin und ehemalige Fachbereichsleiterin am Südasien-Institut der Universität Heidelberg:
O-TON 01 (0’28)
Das Feuer wird in eigenen Räumen, die wunderschön gestaltet sind von außen auch, kleine Feuertempel, aufgehoben. Es gibt so etwas wie Feuervasen, in denen das Feuer am Laufen gehalten wurde. Bei großen Festen, auch bei Familienfesten wird ein Altar aufgebaut, bei dem in einer Feuervase das Feuer brennt. Es ist einfach nur die Anwesenheit dieses heiligen Feuers mittels derer seiner Heiligkeit gedacht wird.
ZITATOR
Feuer als Symbol für Gott!
SPRECHER
Monotheistische Religionen wie Judentum, Christentum und Islam kennen natürlich keine Feuergottheit. Hier spielt das Feuer eine wichtige Rolle als Symbol für Gott, Allah, das Göttliche.
O-TON 02 (0’08)
Gott ist Licht und Licht ist eine Gottesmetapher schlechthin. Und Feuer sind kleine Lichter, in denen Gott hier und da präsent wird.
SPRECHERIN
Erklärt der Theologe Thorsten Dietz, Professor an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Die Geschichte von Moses und dem brennenden Dornbusch, der jedoch nicht verbrennt, ist ein Beispiel dieser Gottespräsenz, eine Geschichte, die übrigens ganz ähnlich auch im Koran erzählt wird.
SPRECHER
Als Moses in der Wüste die Schafe hütet, sieht er in der Ferne einen brennenden Busch. Neugierig nähert er sich. Aus dem brennenden Busch ertönt eine Stimme. Sie spricht Moses an und warnt ihn, nicht zu nahe zu kommen und seine Schuhe auszuziehen, da er sich auf heiligem Boden befinde.
O-TON 03 (0’29)
Es ist ein Symbol, ein Zeichen, etwas, das anzeigt: hier ist mehr im Spiel als Menschen begreifen können und darin ist es ein Symbol für das Geheimnis Gottes. Gott ist so wie dies Feuer. Er ist faszinierend und erschreckend. Er schenkt Leben, aber ist auch für Menschen in dieser Welt, die endlich sind, irgendwo bedrohlich, weil anders und fremd. Gotteserfahrung ist eben auch mit diesen beiden Seiten Verbunden, mit dem Schönen und dem Schrecklichen.
SPRECHERIN
Ein anderes biblisches Beispiel von Feuer bzw. Flammen, die Gott bzw. den Geist Gottes oder eine Gotteserfahrung repräsentieren, ist das Pfingstereignis, das 50 Tage nach der Auferstehung Jesu stattfindet.
SPRECHER
Während des großen jüdischen Erntefestes haben sich die Jünger in einem Haus versammelt, als ein mächtiges Rauschen zu hören ist. Das ganze Haus ist erfüllt davon und dann ist etwas wie Feuer zu sehen. Es zerteilt sich; lässt sich als kleine Flammenzungen über dem Kopf eines jeden Jüngers nieder und diese erhalten den Auftrag, die Lehre Jesu zu verbreiten.
O-Ton 04 (0’27)
Die Flämmchen auf dem Kopf sind Zeichen einer großen Ergriffenheit, einer großen Begeisterung. Oder die Liebe kann bezeichnet werden als Flamme, als Feuer des Herrn. Und Pfingsten, das Ergriffenwerden vom Heiligen Geist, wird in dieser Bildsprache beschrieben. Lauter Flämmchen, die deutlich machen: hier sind Menschen entzündet, durchglüht von dieser Begeisterung, Gott begegnet zu sein.
SPRECHERIN
Erklärt der Theologe. Und diese Begeisterung, dieses „Vom-Heiligen-Geist-ergriffen-sein“ befähigt die Jünger, in allen Sprachen predigen zu können.
ZITATOR
Feuer – Element des Wandels, der Ver-Wandlung. Alles was mit Feuer in Berührung kommt, verändert sich, wird zu Rauch und Asche.
SPRECHERIN
Diese transformatorische Kraft des Feuers wird beim Feueropfer eingesetzt. Die Gaben der Menschen, mit denen sie Gott bzw. einer Gottheit danken oder um etwas bitten, werden durch den Rauch, der beim Verbrennen aufsteigt, gen Himmel befördert - so die Vorstellung in verschiedenen Religionen.
SPRECHER
Feueropfer gehörten einst auch zum jüdischen Ritus. In der Thora und auch im Alten Testament gibt es Anweisungen wie Tiere, Pflanzen und Nahrungsmittel im Feuer geopfert werden sollen. Und dann ist da auch die Geschichte von Abraham, der von Gott geprüft wird, indem dieser ihn auffordert, seinen einzigen Sohn als Brandopfer darzubringen. Alles ist vorbereitet als im letzten Augenblick ein Engel Abraham aufhält, denn Abrahams Gehorsam ist bewiesen. Ein Widder wird schließlich statt des Sohnes geopfert.
SPRECHERIN
Im Hinduismus sind Feueropfer ein zentraler Bestandteil der religiösen Praxis – und das bis heute. Wie sie zelebriert wurden und zum Teil auch noch werden, erzählt die Indologin Monika Böhm-Tettelbach:
O-Ton 05 (0’37)
Es saßen Menschen um das Feuer herum, Priester, die den Kultus durchführten und die verschiedensten Arten von Opfergaben dahinein gaben. Das konnten Getreideprodukte sein, das konnten Milchprodukte sein, Fleisch; Tiere wurden auch geopfert. Und die zentrale Gottheit bei den Feueropfern: der Feuergott selber, Agni. Durch die Vermittlung des Feuers wurde das, was die Menschen gaben, in eine höhere Region transportiert und man sich vorstellte, dass dadurch ein Kontakt hergestellt wurde zwischen der hiesigen Welt und der Welt, die über uns liegt.
ATMO: zeremonieller Opfergesang
SPRECHERIN
Begleitet von Opfersprüchen, Lobgesängen und dem Singen von Mantren - das sind heilige Silben – wird das hinduistische Feueropfer zelebriert: in Tempeln oder zuhause. Dabei werden auch Ghee (sprich: Ghii) – das ist Butterschmalz – und Kräuteressenzen als Opfergaben ins heilige Feuer gegeben.
ATMO (s.o.) – kurz aufblenden und dem Folgenden unterlegen
SPRECHER
„Möge Agni dich dorthin bringen, wohin du gehen musst.“
SPRECHERIN
Lautet einer der priesterlichen Begleitsprüche bei einer hinduistischen Leichenverbrennung. Und diese Verbrennung ist für einen Hindu der letzte Opferakt, bei dem er sich selbst ins Feuer opfert. Das kann der Verstorbene natürlich nicht selber tun. In der Regel setzt der älteste Sohn oder der älteste Verwandte den Scheiterhaufen in Brand.
Was dann passiert, ist zentral für die hinduistische Glaubensvorstellung von der Wiedergeburt, erklärt die Indologin Monika Böhm-Tettelbach:
O-TON 06 (0’25)
Man hat sich vorgestellt, dass das Opfer im Rauch nach oben steigt, sich dort wieder Wolken bilden. Aus den Wolken kommt der Regen. Der Regen fällt auf die Erde, erzeugt dort Fruchtbarkeit, nicht nur der Natur, sondern auch im Menschen. Das führt wieder zur Geburt, es führt zum Tod, es führt zur Verbrennung und wieder steigt der Rauch auf.
SPRECHER
Wie in kaum einer anderen Religion sind Feuerrituale und Zeremonien nicht wegzudenken aus dem religiösen Alltag eines Hindus. So flackern und tanzen bei Tempelfesten all überall Flammen aus den Feuerschalen. Sie erleuchten den Tempelraum und werden vor Götterbildern oder Statuen geschwenkt. Auch zu jeder ‚puja’ (sprich: pudscha), - einer Art Andacht –, die im hinduistischen Haushalt oder im Tempel durchgeführt wird, gehört Feuer in Form von Räucherstäbchen oder Feuern, die in speziellen Gefäßen entzündet werden. Und ganz bedeutsam ist Feuer bei der Eheschließung.
SPRECHERIN
Das Brautpaar heiratet in einem Tempel im Angesicht des lodernden Feuers, das das Göttliche repräsentiert. Mit Ghee (sprich Ghii) und anderen Opfergaben halten Priester das göttliche Feuer am Brennen, das von den Brautleuten sieben Mal umrundet wird und damit ist der Bund der Ehe besiegelt.
SPRECHER
Welche große Bedeutung das Feuer im Hinduismus hat, zeigt sich auch in der Tradition des ‚Hausfeuers’, das – so die Indologin - früher zu jeder hinduistischen Familie gehörte:
O-Ton 07 (0’14)
Es ist das Merkmal, das Wesentliche, dass der Haushälter, also der verheiratete Mensch, ein Feuer unterhält und alles was er tut mit diesem Hausfeuer gemacht wird.
SPRECHERIN
Stirbt beispielsweise ein Familienmitglied, wird dieses Hausfeuer vorübergehend gelöscht:
O-Ton 08 (0’15)
D.h. die Familie kann in den Tagen nach dem Trauerfall kein Essen kochen, für mehrere Tage. Nachbarn müssen das Essen bringen oder sie müssen sich sonst irgendwie behelfen, weil das häusliche Opferfeuer erloschen ist.
SPRECHER
Anders als im Hinduismus, für den Feuer und Feuerzeremonien so zentral sind, ist Feuer im Buddhismus - der ja aus dem Hinduismus entstand - weit weniger bedeutsam. Feuerrituale und Feueropfer lehnten die frühen Buddhisten sogar vehement ab, erzählt Jens-Uwe Hartmann, der als Indologe mit Schwerpunkt Buddhismus an der Universität München lehrte:
O-Ton 09 (0’51)
Die Buddhisten, die wenden sich gegen die Opferpraktiken als nutzlos, moralisch-ethisch irrelevant und machen sich lustig über Feuerpriester. Es ist erst im indischen, im sogenannten tantrischen Buddhismus Indiens und das ist eine Zeit ab 6./7./8. Jh n. Chr., wo die Unterschiede zwischen Buddhismus und hinduistischen Strömungen ein bisschen zu verschwimmen beginnen. Wo beide voneinander entlehnen und wo auch im Buddhismus eine umfangreiche Kultpraxis hinzukommt und dabei gibt es auch ein Feueropfer. Da wird Weihrauch geopfert. Da werden Butterlampen bei den Tibetern oder in Indien Kerzen geopfert.
SPRECHERIN
Nur Tieropfer sind tabu. Doch wieso übernahm der Buddhismus die anfangs abgelehnten und belächelten hinduistischen Feuerriten? – Das hat mit den religiösen Spezialisten – also Priester, Mönche usw. – zu tun, die auf die Entlohnung ihrer Tätigkeiten angewiesen waren, erzählt der Indologe und Buddhismusfachmann. Wandte sich also der Herrscher oder die Bevölkerung hilfesuchend an einen Priester, wurde dieser dafür bezahlt.
O-TON 10 (0’29)
Da spielt es eine ganz große Rolle, welche Kultpraktiken als effizienter eingeschätzt werden. Wie beim Doktor. Man geht zu dem Doktor, den man für den erfolgreichsten, hält. Und das sind ganz wichtige Steuerungsmechanismen in einem religiösen Umfeld, wo die religiösen Spezialisten von Spenden abhängig sind. Das sind Geschäftsmodelle. Religionsökonomie und Heiligkeit, die hängen ganz eng zusammen. Das schließt sich gegenseitig nicht aus, fürchte ich.
SPRECHER
Eine wichtige Rolle spielt Feuer im Buddhismus nur in den Höllenvorstellungen. Und Hölle meint für Buddhisten eine Form der Wiedergeburt. Natürlich die schlechteste, in die man geraten kann.
O-Ton 11 (0’22)
Da gibt es die heißen und die kalten Höllen. In den heißen Höllen, da kann man in siedendem Öl gesotten werden oder verbrannt werden. Da sind die Texte ähnlich wie im Christentum auch sehr einfallsreich und erfinderisch, wenn es darum geht, Qualen, Martern darzustellen. Das hat ganz klar was mit Abschreckung zu tun.
ZITATOR
Feuer als Element der Reinigung.
SPRECHERIN
Feuer zur Reinigung zu nutzen ist für die Anhänger des Zoroastrismus, jener Religion aus dem Iran, von denen es heute noch kleine Glaubensgemeinschaften in Indien und China gibt, undenkbar, erklärt Monika Böhm-Tettelbach:
O-Ton 12 (0’19)
Es käme überhaupt nicht in Frage, dass man irgendeinen unreinen Gegenstand ins Feuer werfen würde. Oder die Vorstellung, dass das Feuer einen Verstorbenen in eine höhere Region befördern könnte. Deshalb gibt es auch keine Leichenverbrennung. Das wäre völlig ausgeschlossen.
SPRECHER
Eine häufig anzutreffende religiöse Praxis, bei der das Feuer zur Reinigung benutzt wird, um z.B. einen Ort zu reinigen, ist das Räuchern. Auch zur Einweihung von Wohnungen oder Geschäften werden wie beispielsweise in Indien gerne reinigende Feuerzeremonien abgehalten. Und Thorsten Dietz erinnert daran, dass auch Hinderliches durch Feuer be-reinigt werden kann wie eine biblische Geschichte aus dem Alten Testament zeigt:
O-TON 13 (0’19)
Der Prophet Jesaja wird von Gott berufen, sein Bote zu sein. Und dann merkt er aber auch ich kann das gar nicht. Ich bin gar nicht würdig. Und dann wird eine glühende Kohle gebracht, die seinen Mund berührt als symbolische Handlung dafür, dass er durch Reinigung befähigt wird, Gottes Bote zu sein.
ZITATOR
Feuer zerstört Negatives, Böses, Trennendes zum Zwecke der Reinigung und Läuterung.
SPRECHERIN
Die biblische Geschichte von Sodom und Gomorra, jenem Ort von Sünde und Unmoral, ist ein Beispiel dafür wie Gott mittels Feuer Negatives zerstört. Und ganz zentral ist die vernichtende Kraft des Feuers beim Jüngsten Gericht, so der Theologe:
O-TON 14 (0’16)
Der Tag des Gerichts wird mit Feuer alles Ungerechte zerstören. Das wäre diese richtende, zerstörerische Seite des Feuers. Dass Gott alles in dieser Welt zerstören wird was ungerecht, böse, was dem Leben entgegen steht, was ohne Liebe ist.
SPRECHER
Nach islamischer Vorstellung zeigt sich der Zorn Gottes am Tag des Jüngsten Gerichtes und zwar mittels Feuer, erklärt Fateme Rahmati (sprich Fateme Rachmati), die islamische Theologie und Philosophie im Iran studierte und derzeit an der Universität in Frankfurt unterrichtet:
O-Ton 15 (0’53)
Im Koran heißt es, wenn das Jüngste Gericht ist, dann werden alle Verstorbenen eine Brücke überqueren und diese Brücke ist so schmal und so scharf wie die Klinge des Degens. Und die Gläubigen oder guten Leute, die werden leicht diese scharfe Brücke überqueren, aber die anderen fallen runter und direkt unter dieser Brücke ist die Hölle mit brennendem Feuer. Und jeden Tag werden die Leute vollkommen bis auf die Knochen verbrannt, dann wiederhergestellt. Dann wieder von vorne das ganze wiederholt.
SPRECHERIN
Also Höllenqualen wie bei Sisyphos! Ob der Aufenthalt in der Hölle ewig ist, darüber gibt es unter den islamischen Gelehrten unterschiedliche Auffassungen, so die Dozentin für Religionswissenschaften:
O-TON 16 (0’29)
Einige sagen: keiner wird wirklich für immer und ewig in der Hölle bleiben. Das passt zu Gott, zu seiner Barmherzigkeit, die sehr im Islam betont wird. Aber einige andere sagen: diejenigen, die wirklich sehr, sehr hartnäckig in ihrem Unglauben gewesen oder ganz schlechte Taten hatten, die bleiben für immer.
SPRECHER
Das Höllenfeuer als Element der religiösen Reinigung und letztendlich Läuterung, als Durchgangsstation auf dem Weg ins Paradies, so war es im Christentum ursprünglich gemeint und möglicherweise auch im Islam. Und der Gedanke der Reinigung lag wohl auch der mittelalterlichen Hexenverbrennung zu Grunde. Doch diente sie vor allem dazu, Angst und Abschreckung bei den Gläubigen zu schüren ebenso wie die grausamen Höllenvorstellungen, die im Mittelalter entwickelt wurden, meint Thorsten Dietz:
O-TON 17 (0’17)
Da wurde sehr viel hinzugedichtet, sehr viele Folterqualen der Hölle. Das sind natürlich schreckliche Angstfantasien, denen man sich da überlassen hat, wo ganz zurücktritt der Gedanke der Reinigung. Der Reinigung, der Befreiung vom Bösen, was das Feuer bewirkt.
SPRECHERIN
Im Christentum und anderen Religionen gibt es auch religiöse Praktiken, bei denen Feuer als göttliche Prüfinstanz eingesetzt wird. So sollte der Lauf durchs Feuer oder über glühende Kohlen die Schuld oder Unschuld eines Menschen beweisen.
ZITATOR
Feuer – Element religiöser Zeremonien.
SPRECHER
Feueropfer und Feuerzeremonien wurden von jüdischer, christlicher und auch islamischer Seite als heidnisch abgelehnt. So war das Schwenken von Weihrauch wie es heute in der katholischen Kirche im Gottesdienst und bei Begräbnisfeiern als Element von Reinigung und Verehrung üblich ist, im Frühchristentum verpönt; wurde Weihrauch doch im römischen Kaiserkult verwendet. Doch der Leuchtkraft und Magie des Feuers konnte man sich im Juden- und Christentum nicht vollkommen entziehen.
ZITATOR
Brennende Kerzen und das „ewige Licht“.
SPRECHERIN
Ein ewiges Licht als Symbol für die Seele, die im dunklen Reich des Todes leuchtet, brennt in jüdischen Tempeln ebenso wie in katholischen Kirchen und auch in jedem römischen Tempeln gab es ein ständig brennendes Altarfeuer. Ein sogenanntes „ewiges Licht“ brannte bereits im antiken Griechenland vor wichtigen Gebäuden. Aus der Zeremonie vom ewigen Feuer, das im antiken Griechenland zu Ehren von Hestia, der Göttin des Herd- und Opferfeuers, entzündet wurde, entstand das bis heute praktizierte „Olympische Feuer“, Symbol für Reinheit, Frieden und Verbundenheit der Völker.
GERÄUSCH: Streichholz wird entzündet
O-Ton 18 (0’10)
Im Grunde gehört zum Gottesdienst, dass die Kerze auf dem Altar an ist. Was immer das Realsymbol dafür ist: Gott ist gegenwärtig. Dafür steht das Feuer im Gottesdienst.
SPRECHER
So der Theologe Thorsten Dietz. Kerzen als Symbol für die Gegenwart Gottes gehören nicht nur zum protestantischen Gottesdienst. Im Judentum wird das Lichterfest Chanukka mit Kerzenschein gefeiert und bei vielen christlichen Festen und Zeremonien werden Kerzen angezündet: z.B. im Advent, zu Weihnachten, an Ostern und die Taufkerze ist für die Gläubigen ein wichtiges Symbol des christlichen Glaubens.
SPRECHERIN
An Allerheiligen zünden Katholiken Kerzen auf den Gräbern ihrer Verstorbenen an und das ganze Jahr über gibt es an Altären in der Kirche die Möglichkeit, Kerzen zum Gedenken oder Dank zu entzünden. Ein Ritual, das inzwischen auch in manchen protestantischen Kirchen Einzug gehalten hat.
SPRECHER
Entsprechend symbolträchtig ist es also, wenn zu Ostern am Karfreitag alle Feuer und das heißt alle Kerzen in der Kirche gelöscht werden. Thorsten Dietz erklärt, welche tiefe Symbolik damit verbunden ist.
O-Ton 19 (0’33)
Am Kreuz Jesus Christi vollzieht sich eine Gottesfinsternis, ein Entzug Gottes. Hier ist das Leiden, der Tod, das Grauenhafte ganz real und kein Licht ist mehr spürbar. Und das Osterfest steht für das Geheimnis, dass Gott Menschen begleitet durch die äußerste Finsternis, auch die Gottverlassenheit und dass das Osterfeuer entzündet wird und dass Ostern die Lichter wieder aufflammen, steht dafür: das Licht Gottes ist stärker als die Finsternis. (Achtung Stimme oben!)
SPRECHERIN
Das Löschen aller Feuer als Zeichen eines Neubeginns existierte auch als religiöser Ritus bei den Azteken im alten Mexiko. Alle 52 Jahre endete nach aztekischem Glauben ein Zyklus. Zu diesem Zeitpunkt wurden alle Feuer im Land gelöscht und im Rahmen einer großen Feier neu entzündet. Damit begann ein neuer Zyklus.
SPRECHER
Feuer! Dieses mächtige und geheimnisvolle Element, ist nicht wegzudenken aus den Religionen. Seine Ambivalenz, das es sowohl eine positive als auch eine negative, zerstörerische Seite hat, spiegelt sich in den religiösen Glaubensvorstellungen wider. Es ist Element der Hölle, eines strafenden, zornigen Gottes. Und es ist Geschenk der Götter, heilig und göttlich, wird als Gottheit verehrt. Es ist in den monotheistischen Religionen von Judentum, Christentum und Islam Symbol für Gott und das Göttliche. Darüber hinaus symbolisiert Feuer auch das Leben, die Lebenskraft des Menschen, die Seele. Es steht für den Sieg des Lichtes über die Mächte der Finsternis. In seiner Eigenschaft etwas zu verwandeln spielt es eine wichtige Rolle bei Feueropfern, Reinigungszeremonien sowie der religiösen Reinigung also Läuterung. Und so manches, was heute zum Brauchtum gehört wie das Sonnwend- oder Johannisfeuer, hat sich aus nichtchristlichen Feuerritualen entwickelt.
SPRECHERIN
Die Bedeutungen von Feuer in Religion und Brauchtum sind in den weltlich orientierten, rationalen Gesellschaften mehr und mehr aus dem Blick geraten. Doch noch immer sitzen Menschen auf der ganzen Welt – wie zu Urzeiten - gerne am prasselnden Feuer. Noch immer werden Kerzen zu feierlichen Anlässen entzündet oder einfach nur, um eine besondere Stimmung zu schaffen. Man schaut dem magischen, geheimnisvollen Tanz der flackernden Flammen zu und lässt sich gerne von der heimeligen, wärmenden Atmosphäre, dem Licht des Feuers, verzaubern. Dem Faszinosum „Feuer“ kann sich Mensch offenbar nicht entziehen - ob mit oder ohne Religion.
Über fünf Tage hinweg wird das hinduistische Lichterfest Diwali begangen, das je nach Mondkalender im Oktober oder November stattfindet. Ein spirituelles Highlight, das auch in deutschen Hindu-Tempeln gefeiert wird und als eines der bedeutendsten Ereignisse des indischen Festtagkalenders gilt. Autorin: Margarete Blümel
Credits
Autor/in dieser Folge: Margarete Blümel
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Thomas Birnstiel
Technik: Jan Piepenstock
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Martin Baumann, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Luzern;
Dr. Johanna Buß, Indologin an der Universität Leipzig;
Prof. Gaya Charan Tripathi, Indologe (emeritus);
Trilok Gupta, Privatlehrer, Delhi; A.K. Jain, Religionssoziologe, Delhi
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Literaturtipps:
Axel Michaels „Der Hinduismus“, der Klassiker. Sehr differenzierte Darstellung der Hindu-Religionen mit vielen ihrer Facetten, die sich nicht nicht allein auf akademische Betrachtungen reduziert, sondern auch die Alltagsrituale bebildert.
Johanna Buß „Hinduismus für Dummies“, gelungener Versuch, eine der ältesten Religionen der Welt plastisch, theoretisch und zum Teil auch witzig darzustellen. Für „Anfänger“ und „Fortgeschrittene“ gleichermaßen gut geeignet.
Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion:
Paula sucht Paula
Das Tagebuch der jungen Undercover-Journalistin Paula Schlier gibt uns heute, 100 Jahre später, einen seltenen Einblick in die Anfänge des Nationalsozialismus in München. Aber wer war diese Frau, was hat sie motiviert, war sie überhaupt eine Heldin? Die BR-Reporterin Paula Lochte begibt sich auf Spurensuche.
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-TON 1: Prof. Martin Baumann
Diwali ist ein kalendarisches Fest, das also auf bestimmten Daten liegt, also wie die Stellung des Mondes ist. Und das ist eben ein Fest, das ähnlich einzustufen ist wie beispielsweise Geburtstagsfeste für bestimmte Götter wie den Gott Ganesha oder den Gott Krishna. Es gibt andere große Hindu-Feste und damit steht es nicht in Konkurrenz, sondern man hat es einzureihen als eines der großen Feste.
Musik 1: Hind. Ritualmusik
ERZÄHLERIN:
Diwali oder auch Deepavali steht für den Neubeginn und gilt als Symbol für den Sieg der Wahrheit über die Lüge und den Triumph des Lichts über das Dunkle, sagt Martin Baumann, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Luzern.
Musik 1: Hind. Ritualmusik bitte Kreuzblende mit Atmo 1: Diwali-Zeremonie
O-TON 2: Prof. Martin Baumann
Diwali ist ein Fest, bei dem Hindus den Sieg vom Guten, vom Hellen, über das Dunkle, über die Finsternis, über das Böse, feiern. Also wo die Götter dann über Dämonen, über Schlechtes, siegen. Verschiedene Legenden gibt es, die sich mit ganz bestimmten Göttern verbinden und wo auch Helden-Geschichten von diesen Göttern erzählt werden, wie sie letztendlich auch wieder das Böse, die Dunkelheit besiegen und das Gute am Ende siegt dann.
ERZÄHLERIN:
Weil die Gläubigen sich beim mehrtägigen Lichterfest oft als ausgesprochen großzügig erweisen, sind zur Diwali-Zeit ganz besonders viele Bettler zu sehen. Greise in löchrigen Hüfttüchern, Blinde, Leprakranke, alleinstehende Frauen mit Kindern – in schier endlosen, doppelten Reihen sitzen die Bittsteller zu Diwali vor den Tempelportalen. Viele sind von weither in eine der nordindischen Metropolen angereist, weil das Fest hier besonders populär ist.
Atmo 1: Diwali-Zeremonie
O-TON 3: Prof. Martin Baumann
Gerade in Nordindien wird groß gefeiert, eben Diwali in Verbindung mit dem Gott Rama und seiner Frau Sita. Hier ist der Hintergrund eine Götter-Legende, dass der Gott Rama auf seinen Thron verzichten musste und eben 14 Jahre ins Exil ging. Während der Exil-Zeit ist auch seine Frau dann geraubt worden von einem Dämon, Ravana. Und Rama gelingt es, seine Frau Sita aus den Fängen von Ravana zu bringen und eben dann gemeinsam ziehen Sita und Rama zurück, sowohl als neuer König als auch als wiedervereint, als Ehepaar, in die Stadt Ayodhya. Und dieser Wiedereinzug wird dann gefeiert, durch ein großes Lichterfest, durch ein großes Lichtermeer und zeigt eben, dass hier das Helle, die Lichter-Symbolik eben. Dieses Helle siegt über das Dunkle, über das Schlechte dann, und damit hat sozusagen am Ende das Gute gesiegt.
Atmo 1: Diwali-Zeremonie
O-TON 4: Dr. Johanna Buß
Also ich würde erst mal sagen, dass es ein großes mehrtägiges Lichterfest ist, bei dem viele Gottheiten verehrt werden, bei dem aber vor allem die Glücks-Göttin Lakshmi im Zentrum steht. Und dass man zu diesem Fest dann mit der Familie und den Freunden zusammenkommt, sich gegenseitig beschenkt und gutes Essen genießt.
ERZÄHLERIN:
So die Indologin Dr. Johanna Buß von der Universität Leipzig. Ihr indischer Kollege Professor Gaya Charan Tripathi kann das Gesagte nur bestätigen. Außerdem, betont er, sei da noch etwas:
O-TON 5: Prof. Gaya Charan Tripathi “Every nook and corner of the house is to be lighted up… try to gain spiritual knowledge. That is the time when one should start doing it.”
VO-SPRECHER-männlich:
Wenn Diwali gefeiert wird muss jeder Winkel des Hauses erhellt sein. Die Dunkelheit auszusperren ist ein Symbol für die spirituelle Erleuchtung. Wenn sich die Gläubigen darum bemühen, die Unwissenheit zu verbannen und ihr Geist schließlich frei davon ist, können sie spirituelle Kenntnisse erwerben. Diwali ist der richtige Zeitpunkt dafür.
Atmo 1: Diwali-Zeremonie
ERZÄHLERIN:
Fünf Tage lang währen die Diwali-Festlichkeiten. Wie bei fast allen hinduistischen Festen hängt der Zeitpunkt, an dem Diwali begangen wird, von den jeweiligen Mondphasen ab. 2023 ist der Beginn auf den 10.11. festgelegt. Neben Ganesh Chaturthi, dem Geburtstag von Gott Ganesha, zählt Diwali zu den besonders beliebten Events des hinduistischen Festtagskalenders. Dazu tragen schon allein die Freude am Beisammensein mit Familie und Freunden und die hellerleuchteten Häuser, Tempel und Straßenzüge bei. Auch die Chance auf einen spirituellen Zugewinn, den Professor Gaya Charan Tripathi erwähnt hat. Und, nicht zu vergessen: Mit Diwali beginne für Indiens Handeltreibende das neue Geschäftsjahr, betont Dr. Johanna Buß.
O-TON 6: Dr. Johanna Buß
Das eine ist der Lunar-Kalender, der dahinter steht mit der anderen Zeitrechnung, wo einfach das neue Jahr beginnt und das ist natürlich jetzt nicht mehr offiziell gültig. Aber trotzdem spielen solche Dinge in rituellen Abläufen ja immer eine Rolle.
Musik: CD968510206 Praise for Krishna 0‘32
ERZÄHLERIN:
Vor allem die Mitglieder der „Bania“-Hindu-Kaste haben das alljährlich nach dem Mondkalender variierende Datum dick in ihren Kalendern angestrichen. Traditionell sind sie als Händler, Großgrundbesitzer und Geldverleiher tätig – und möchten sich das Wohlwollen der Glücksgöttin Lakshmi sichern, weil ...
O-Ton 7: Dr. Johanna Buß
Lakshmi als Göttin des Wohlstands und des Reichtums besonders prädestiniert ist, um einen neuen Beginn zu segnen, das passt ja ganz gut zusammen. Also Beginn des neuen Jahres und eben Lakhsmi als Glücks-Göttin, sodass sie quasi das kommende Geschäftsjahr dann auch wieder segnet sozusagen.
ERZÄHLERIN:
Auch andere Gläubige haben zur Diwali-Zeit gute Gründe, der Glücksgöttin Lakhsmi ihre Ehrerbietung zu erweisen und sie um Hilfe zu bitten, sagt der Religionssoziologe A.K. Jain:
O-TON 8: A.K. Jain “Maha Lakhsmi is worshipped in the early morning and we offer our prayers..then the statues ... immerse it in some holy river or something.”
VO-SPRECHER-männlich:
Wir führen eine Zeremonie für unsere Göttin Lakshmi durch. Wir bieten ihr Süßigkeiten und Früchte an. Dann verfassen wir einen kurzen Brief, der die Namen aller Familienangehörigen enthält. Wir bedanken uns bei Lakshmi dafür, dass sie sich im vergangenen Jahr so gut um uns gekümmert hat und bitten sie, auch weiterhin für unsere Gesundheit und unser finanzielles Auskommen zu sorgen. Dieser Brief wird dann bis zum nächsten Diwali-Fest in der Nähe der Lakshmi-Statue aufbewahrt. Und dann, nach einem Jahr, wird das Schreiben in einem heiligen Fluss versenkt.
ERZÄHLERIN:
Hinduistische Feiertage wie das „Lichterfest“ Diwali bieten so die Gelegenheit, das Bündnis mit den Gottheiten zu stärken und sich die alten religiösen Überlieferungen wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Dazu gehört zu Diwali auch der Mythos um Gott Krishna, dem am zweiten der fünf Festtage besondere Huldigung zukommt.
Atmo 2: Hindus singen zu Ehren Krishnas
O-TON 9: A.K. Jain “Second day is the day on which Lord Krishna... they celebrate second day of Divali.”
VO-Sprecher-männlich:
Der zweite Tag von Diwali gilt Gott Krishna. Dann feiern wir, dass Krishna einst, zur Freude aller, einen besonders bösen Dämon getötet hat.
Atmo 2: Hindus singen zu Ehren Krishnas
ERZÄHLERIN:
Millionen von Krishna-Anhängern versammeln sich an Diwali, um Krishna zu Ehren zu beten, zu singen und zu tanzen. Der Gott mit der Bambusflöte und der Pfauenfeder im Haar soll einst den Dämon Naraka getötet und so mehr als 16.000 Frauen gerettet haben, die viele Jahre ein trauriges Dasein in Gefangenschaft Narakas gefristet hatten.
Von Autorin: Musik 2: Raga 1‘55
ZITATOR:
Naraka, Sohn von Gott Vishnu, war ein grausamer und machthungriger Dämon. Nachdem er es geschafft hatte, viele Königreiche auf der Erde unter seine Kontrolle zu bringen, richtete er seine ganze Aufmerksamkeit darauf, Svargaloka, das Paradies Gott Indras, zu erobern. Naraka gründete ein Dämonenheer, nahm Svargaloka ein und schwang sich zum Herrn von Himmel und Erde empor.
Er stahl die Ohrringe der Himmelsgöttin Aditi und entführte mehr als 16.000 Frauen. Mit Indra an der Spitze wandten sich die Götter an Vishnu, den Vater des Dämons. Vishnu versprach zu helfen, musste die Götter aber vertrösten. Erst wenn er als Krishna wiedergeboren werde, könne er tun, was getan werden müsse.
Musik 2: Raga
ZITATOR:
Äonen verstrichen, in denen Naraka seine Schreckensherrschaft fortsetzte. Erst als Gott Krishna endlich die Weltenbühne betrat, wendete sich das Schicksal gegen Naraka und sein Dämonenheer. Krishna bestieg den Himmelsadler Garuda und flog zu Narakas Palastfestung. Ohne zu zögern, ergriff Krishna seine Wurfscheibe und trennte dem Dämon den Kopf ab. In wilder Flucht stob das Dämonenheer in alle Himmelsrichtungen. Die in Gefangenschaft gehaltenen Frauen wurden befreit und kehrten in ihre Heimat zurück. Krishna galt fortan als Retter der Welt und als Gottheit des unendlichen Bewusstseins um das Universum.
ERZÄHLERIN:
Solche Legenden sind den meisten Hindus auch heute noch bekannt. Im Vertrauen auf die Kraft und Macht ihrer Gottheiten sind daher zu Diwali besonders viele Gläubige bestrebt, Gelübde abzulegen und die Gunst der Götter zu gewinnen, um ein Problem aus dem Weg zu räumen oder einfach etwas, das ihnen sehr am Herzen liegt, zu erreichen. Indem sie den Gottheiten huldigen und ihnen ihre Lieblingsspeisen und Lieder darbringen, erwerben Hindus religiöses Verdienst, das sich in dieser oder in der nächsten Existenz positiv für sie auswirkt.
Aber auch Mitglieder einiger anderer Religionsgemeinschaften feiern das Fest, wenngleich mit unterschiedlichen religiösen Bezügen.
O-TON 10: Dr. Johanna Buß
Weil das ja nun auch so ein allgemeines Thema ist, also Sieg des Lichts über die Dunkelheit oder der Götter über die Dämonen, kann man natürlich auch alle möglichen Traditionen anschließen und das passiert eben auch in ganz Indien... Dass es eben auch im Sikhismus und Jainismus gefeiert wird. Und da ist es ja auch so, dass hier eigene Inhalte einfach eingesetzt werden.
ERZÄHLERIN:
So erfahren Mahavira, der Begründer des Jainismus und ein Sikh-Guru, der zu Diwali aus der Gefangenschaft freikam, beim „Lichterfest“ besondere Ehrung.
O-TON 11: Dr. Johanna Buß
Also das heißt, im Jainismus haben wir dann, was da gefeiert wird, das Wissen des Erleuchteten, und das wird dann als Tag der Erleuchtung und Erlösung Mahaviras gefeiert oder eben im Sikhismus als Tag der Rückkehr Guru Har Gobind Singhs nach Gwalior. Also das heißt, da haben wir dann verschiedene Bezüge, die neu hergestellt werden.
Von Autorin: MUSIK 3: Lakhsmi-Raga 1‘00
Erzählerin:
Was alle Menschen Indiens wiederum beim Diwali-Fest eint ist, dass Tag drei der Festivitäten - Lakshmi Puja – ein offizieller Feiertag ist. Banken, Schulen und Betriebe haben geschlossen. Die Arbeit ruht, damit die schöne Göttin, die auf den Abbildungen meist auf einer Lotosblüte steht und von zwei Elefanten flankiert wird, die Gläubigen auch antrifft, wenn sie von Haus zu Haus wandert.
MUSIK 3: Lakhsmi-Raga
ERZÄHLERIN:
Der Überzeugung ihrer Anhänger gemäß kehrt Glücksgöttin Lakhsmi nur in Tempel oder Häuser ein, die sauber und aufgeräumt sind und vor denen Lichter stehen. Sind diese Bedingungen erfüllt, wird Lakhsmi die Gläubigen segnen und dafür sorgen, dass ihnen das Glück bis zum nächsten Diwali-Fest hold ist.
MUSIK 3: Lakhsmi-Raga bitte in Kreuzblende verbinden mit Atmo 3: Feuerwerk
ERZÄHLERIN:
Daran kann auch eine Gepflogenheit nicht rütteln, die zu Diwali gehört wie die auf allen Märkten erhältlichen „Diwali Floating Flower Bowls“ - Tonschalen, die Wasser enthalten und über und über von schwimmenden Blüten und Teelichten bedeckt sind. Oder wie die Jalebis, die frittierten Teigkringel. Wie die mit Öllämpchen und Lichterketten geschmückten Häuser – das Stakkato der Feuerwerkskörper.
Atmo 3: Feuerwerk
O-TON 12: Trilok Gupta “This has been going on for a long time that we used to crack crackers.“
(kein VO, wird von der Erzählerin übersetzt)
ERZÄHLERIN:
Den Brauch, zu Diwali Feuerwerkskörper zu entzünden, gebe es schon lange, sagt der Lehrer Trilok Gupta aus Delhi:
ATMO 3: Feuerwerkskörper
O-TON 13: Trilok Gupta “We used to crack a lot of crackers ...This has been going on for a long time the smoke which has accumulated inside that all can go out.”
VO-Sprecher-männlich:
Das haben wir von klein auf so gemacht. Aber jetzt sollte das eigentlich verboten werden! Nach dem Diwali-Fest vor zwei Jahren war der Smog hier in Delhi noch schlimmer als er es ohnehin schon ist. In meinem Viertel hat buchstäblich jeder nach Herzenslust seine Feuerwerkskörper abgeschossen. Ich bekam keine Luft mehr, bin ins Haus zurück gegangen und habe die Aircondition eingeschaltet. Und das im November! Erst nachdem ich den Ventilator angestellt hatte, ging es mir ein wenig besser.
ERZÄHLERIN:
Doch Diwali ohne Feuerwerk? Undenkbar!
Musik: Z8019017127 Secret proofs red 0‘38
Dennoch hat Indiens Oberster Gerichtshof zumindest den Versuch unternommen, das Ganze einzudämmen – durch ein Verbot des Verkaufs und Besitzes von Feuerwerkskörpern in Delhi etwa. Denn in der besonders smoggeplagten indischen Hauptstadt ist die Feinstaubbelastung nach Diwali inzwischen so hoch, dass die Werte nicht einmal mehr den Messpunkten der Skala entsprechen. Das weiß auch Dr. Johanna Buß. Bei der Recherche über Feste wie Diwali und Holi, wo Gläubige einander mit Farben bemalen oder auch bewerfen, sagt die Indologin ….
O-TON 14: Dr. Johanna Buß
Das ist mir auch schon bei Holi aufgefallen, aber auch bei Diwali, wenn man dazu Artikel googelt, dass dann als erstes Artikel nicht zur Geschichte oder zur Mythologie kommen, sondern bei Diwali zur Luftverschmutzung durch das Feuerwerk und bei Holi kommt es dann, gibt es ganz viele medizinische Artikel zu Hautirritationen und Haut-Problemen. Das fand ich ganz spannend, dass man hier schon auch sozusagen als Niederschlag in der Literatur hat, was eben die Feste auch für Probleme auslösen, was natürlich nicht so schön ist.
Musik: Z8019017127 Secret proofs red 0‘08
O-TON 15: Professor Martin Baumann
Man sieht jedes Jahr - und jedes Jahr wird es publiziert - die sozusagen Staubwerte sind extrem angestiegen um die Diwali-Zeit. Diwali wird ein oder auch fünf Tage gefeiert dann und man hat schon versucht in Indien, in einzelnen Bundesstaaten, dass man Feuerwerk nicht verboten hat, aber man hat den Verkauf von Feuerwerk untersagt. Aber indische Feiernde sind dann so innovativ und haben sich selber Feuerwerk hergestellt dann und die Staubwerte sind trotzdem sehr hoch gewesen, also jedes Jahr um Diwali ist dann die Luft für einige Tage sehr schlecht in den nordindischen, aber auch in den südindischen Städten.
ERZÄHLERIN:
Bemängelt Professor Martin Baumann. Doch wenn man diese zur Gewohnheit gewordene „Unsitte“ religionswissenschaftlich und mythologisch einordne, könne man das Verhalten der Gläubigen zumindest nachvollziehen.
O-TON 16: Professor Martin Baumann
Das ist etwas, was hier aber schwer abzustellen ist, weil einfach diese Freude quasi über diese, ja, sozusagen, der Sieg des Guten über das Böse ... Und die Götter haben wieder gesiegt. Dann, das wird groß gefeiert, sehr ausgelassen gefeiert und dazu gehört Krach, mit dem man den Dämonen vertreibt. Und Licht, was aus dem Feuerwerk dann herauskommt, in dem eben das Zeichen für die Götter ist dann.
Musik: M0011556000 Malabar Saz 0‘30
ERZÄHLERIN:
Wie prägend diese religiösen Traditionen sind, wissen auch Hindus, Sikhs und Jainas, die im Ausland leben. Der Glaube an Gott Rama, der nach vielen Jahren aus dem Exil als König in seine Heimat zurückgekehrt ist. Die Briefe, die an Glücksgöttin Lakhsmi gerichtet sind. Der Triumph Gott Krishnas über den Dämon Naraka. Die Feuerwerkskörper, die zur Diwali-Zeit den Himmel über Delhi, Montreal, Sydney, London oder Leicester erhellen…. Diwali hat längst mühelos den Himmel durchquert und die Ozeane überwunden.
O-TON 17: Prof. Martin Baumann
In bestimmten Städten, den Midlands in London, und in Leicester, was ungefähr 100 Kilometer nördlich von London liegt, haben wir eine große Konzentration von Sikhs, von Hindus, von Jaina und hier wird im Herbst dann jedes Jahr dann im Oktober, November, wenn das Diwali-Fest ist, wird eben an der Straße, an der die meisten indischen Geschäfte auch sind, wird ganz groß gefeiert. Groß gefeiert heißt, es wird die Straße geschmückt mit Lichter-Girlanden, es wird abends Feuerwerk angezündet dann, und es wird eben gerade in der Straße der sogenannten Golden Mile in Leicester, das ist die Belgrave Road, dort sind sehr viele Juwelier-Geschäfte von indischen Händlern. Dort wird eben groß öffentlich gefeiert, Prozessionen durchgeführt, Tanz-Vorführungen durchgeführt und hier ist sozusagen ein Little India. Das verändert sich quasi, diese Stadt hat ein Drittel südindische oder südasiatische Zuwanderer, hier ändert sich sozusagen die Öffentlichkeit.
ERZÄHLERIN:
Inoffiziell gilt Diwali in Leceister als Feiertag. Nein - Feiertage. Denn die “Diwali-Festivities“ währen in der Stadt in den englischen East Midlands vierzehn Tage lang.
O-TON 18: Prof. Martin Baumann
Diwali ist hier sehr präsent in dieser Öffentlichkeit, der Stadt, dann, wo dann im Herbst dies groß gefeiert wird durch die Stadt. Eben mit Lichterketten, mit großem Licht, Feuerwerke werden gezündet, jeden Abend dann. Und hier hat sozusagen die hinduistische Minderheit, die dort stark vertreten ist, mit mehreren zehntausenden Personen, dann hat hier sozusagen einen großen Auftritt, eine große Präsenz durch diese Lichter, durch diese Öffentlichkeit. Und das ist eben quasi als öffentlicher Feiertag anerkannt, ist im Festkalender der Stadt. Das ist eben anders in Deutschland, Schweiz, anderen Ländern Westeuropas, dann, wo eben noch kleinere Bevölkerungsteile von Hindus sind und wo dann eigentlich Diwali ja oft gar nicht wahrgenommen wird.
ERZÄHLERIN:
Das sollte sich unbedingt ändern.
Von Autorin: Musik 4 (wie Musik 1): Hind. Ritualmusik 0‘50
O-TON 19: Dr. Johanna Buß
Also ich hab eigentlich gedacht, das ist doch ein spannendes Fest. Als ich mich jetzt noch ein bisschen drauf vorbereitet hab und ich eigentlich mir das einfach noch ein bisschen genauer anschauen sollte… Weil doch eine ganze Menge drinsteckt. Also ja. Weil auch gerade mit diesen verschiedenen Bezügen, die hergestellt werden, von den einzelnen Traditionen und Religionen, denke ich.
Musik 4 (wie Musik 1): Hind. Ritualmusik
O-TON 21: Dr. Johanna Buß
Ich find das einfach ein schönes Fest. Ich mag das einfach mit den Lichtern und vor allen Dingen, was ja in Indien, dann auch… In Indien ist ja immer alles groß durch die vielen Menschen, also auch zahlenmäßig groß, diese großen Lichtermeere und dann auch die Lichter auf der Ganga, auf den Flüssen, das ist einfach schön und festlich und auch die Rangolis, also die Muster, die da gelegt werden, sind einfach schön anzusehen.
ERZÄHLERIN:
Wenn nach Tag 5 die letzten Feuerwerkskörper in die Luft geflogen sind und der Lärm erstorben ist, bei vielen die Waage ein paar Kilo mehr und das Konto deutlich weniger anzeigt und nachdem die Bettler mit einer kleinen Rücklage in ihre Heimatstadt zurückgekehrt sind, ist Diwali zwar offiziell vorbei, aber immer noch nicht ganz vorüber. Erinnerungen wirken nach – an die alten Legenden, an das freudige Lächeln, das über das Gesicht eines Kindes gehuscht ist, an den vom Alter gebeugten Obdachlosen, der am Straßenrand eine Votivkerze für Glücksgöttin Lakhsmi entzündet hat - und an das Gefühl der Verbundenheit.
Von Autorin: Musik 4 (wie Musik 1): Hind. Ritualmusik 0‘27
O-TON 22: A.K. Jain “Divali is a festival … good done by Divali.”
VO-Sprecher-männlich:
Diwali wird ja hier in Indien von vielen Religionsgemeinschaften gefeiert – von Hindus, Jainas, Sikhs, Christen und sogar von Muslimen. Wir freuen uns sehr darüber, einen solchen Berührungspunkt zu haben, bei dieser Gelegenheit Grußkarten miteinander auszutauschen und das Fest gemeinsam mit den anderen zu begehen. Es ist wirklich gut, dass Diwali so etwas leisten kann.
Musik 4 (wie Musik 1): Hind. Ritualmusik
Mit unbemannten Ballonen spionieren Wetterforscher die Atmosphäre aus. Die so gewonnenen Daten werden für präzisere Wettervorhersagen genutzt. Bis heute sind die Wetterballone unersetzlich. Welche Geheimnisse entlocken sie der Atmosphäre? Und: Können Sie auch für andere Zwecke missbraucht werden? Autorin: Roana Brogsitter
Credits
Autor/in dieser Folge: Roana Brogsitter
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hans Jürgen Stockerl, Rahel Comtesse
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Prof. Cornelia Lüdecke, Meteorologin und Wissenschaftshistorikerin;
Gertrud Nöth, Sprecherin Deutscher Wetterdienst DWD;
Markus Garhammer, Meteorologe Ludwig-Maximilians-Universität Mün-chen
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ATMO Gewitter
SPRECHER
Seit jeher will der Mensch wissen, wie das Wetter morgen wird. Oft
genug vernichteten Unwetter überlebenswichtige Ernten und entschie-den sogar über Schlachten. Nachdem im Krimkrieg 1854 ein heftiger Sturm zahlreiche Schiffe der anti-russischen Koalition versenkt hatte, analysierte der französische Astronom Urbain Jean Joseph Le Verrier nachträglich Wetterbeobachtungen in Europa und stellte fest: Die Flotte hätte rechtzeitig telegrafisch gewarnt werden können. Es war die Ge-burtsstunde des französischen Wetterdienstes.
ATMO Gewitter
SPRECHER
Doch Prognosen auf Basis von Wetterbeobachtungen und Messungen in geringer Höhe waren nicht ausreichend. Deshalb richtete sich der Blick der Meteorologen immer mehr gen Himmel. Es dauerte aber bis in die späten 1920er Jahre, bis sie eine Methode fanden, mit der sie
zuverlässig, kostengünstig und gefahrlos Wetterdaten aus der freien
Atmosphäre bekamen.
1. O-TON GARHAMMER
Der Wetterballon ist das A und O in der Meteorologie. Wenn man wissen will, wie die Struktur oder die Stabilität in der freien Luftschichtung draußen ist, in der Atmosphäre über unseren Köpfen, dann muss man dort selbst messen. Und es geht am besten mit Wetterballonen, an die man Sensoren dranhängt.
SPRECHERIN
Der Meteorologe Markus Garhammer vom Meteorologischen Institut der Ludwig-Maximilian-Universität München betreut dort die sogenannten Radiosondenaufstiege und bringt seinen Studentinnen und Studenten das dafür not-wendige Know-How bei. Dazu gehört der Aufbau der At-mosphäre.
2. O-TON MARKUS GARHAMMER
Wo wir leben, das ist die Grenzschicht. Das kann man sehr gut vom Bo-den aus ermessen und auch erkunden. Darüber ist die sogenannte freie Atmosphäre, das ist so ab drei Kilometer Höhe bis zehn Kilometer, wo auch der Flugverkehr drin stattfindet, wo sich die Wolken darin bewe-gen. Gewitterwolken erreichen die Tropopause, das ist dann bei zehneinhalb, elf Kilometer Höhe. An die Troposphäre schließt sich
jenseits der Tropopause eben nach oben hin die Stratosphäre an, die dann in höhere Luftschichten reicht.
SPRECHERIN
Bis in 50 Kilometer Höhe reicht die Stratosphäre. Da diese mit dafür verantwortlich ist, wie sich das Wetter darunter entwickelt, bräuchten Meteorologen für ihre Vorhersagen Daten aus den Schichten zwischen rund zehn und 30, 40 Kilometern Höhe, erklärt Markus Garhammer.
MUSIK: „Fly“
SPRECHER
Bis Ende des 18. Jahrhunderts waren die Möglichkeiten, sich den
Wolken zu nähern sehr begrenzt. Eine waren die Berge. 1781 wurde beispielsweise auf dem oberbayerischen Hohenpeißenberg eine
meteorologische Station eingerichtet. Doch die Bedingungen waren we-gen der besonderen Wetterverhältnisse nahe des Gebirges nicht reprä-sentativ. Eine andere Methode der vertikalen Erforschung der freien Atmosphäre schien deshalb viel erfolgsversprechender, erzählt die Me-teorologin und Wissenschaftshistorikerin Prof. Cornelia Lüdecke: Be-mannte Aufstiege mit Heißluftballonen, die 1783 begannen.
ATMO Heißluftballon
3. O-TON CORNELIA LÜDECKE
Das ist dann aufgegriffen worden von einem Wissenschaftler, Gay-Lussac, der hat tatsächlich dann Messgeräte mitgenommen, und er hat es geschafft, 1804 bis auf 7.000 Meter etwa hinaufzukommen. Dann kam James Glaisher, 1862, 66, und ein Aufstieg, der ist fast bis 9.000 Meter Höhe gegangen. Die waren zu zweit. Und er selber hat so einen richtigen Messtisch gehabt mit allen möglichen Instrumenten, die er dann jeweils abgelesen hat. Aber in der großen Höhe sind sie ohn-mächtig geworden. Sie haben dann gerade noch die Reißleine ziehen können, dass sie lebend unten angekommen sind.
SPRECHERIN
Wetterballone steigen ohne Menschen an Bord in den Himmel auf. Sie bestehen aus Naturkautschuk, ein günstiges und sehr robustes Materi-al. Es gibt sie in verschiedenen Größen, je nachdem, wie viel Gewicht sie tragen müssen und wie hoch sie steigen sollen. Doch ein Ballon allein kann keine Daten sammeln. Dazu braucht er ein paar Komponenten und die sind, egal ob eine Forschungseinrichtung, Schule, ein Wetter-dienst oder Hobby-Meteorologe den Ballon aufsteigen lässt, dieselben. Gertrud Nöth vom Deutschen Wetterdienst DWD beschreibt den Aufbau eines fertigen Gespanns.
4. O-TON GERTRUD NÖTH
Das besteht aus dem Wetterballon, an dem befindet sich dann ein
Ventil, und über dieses Ventil wird der Ballon mit Helium gefüllt. Daran hängt so eine Art Schnur, wir nennen es Abwickler, an dem sich dann wiederum ein Fallschirm befindet und am Ende von dieser Abwickler-schnur wird dann die eigentliche Sonde befestigt. Das ist ein kleines Kästchen, fast so groß wie ein iPhone vielleicht und etwas größer als ei-ne Computermaus.
SPRECHERIN
Auch wenn die Ballone nach dem Aufblasen mit ein bis zwei Metern Durchmesser das größte Volumen ausmachen, ist die Sonde das Herz-stück jedes Gespanns. In ihr stecken die Messinstrumente.
5. O-TON MARKUS GARHAMMER
Die Sonde selber hat zwei Sensoren, Luftdruck wird in der Sonde
gemessen. Aber Temperatur und Feuchte sind auf einem kleinen
Metall-streifen, der aus der Sonde herausragt. Am unteren Ende gibt es noch die Antenne, die für die Datenübermittlung verantwortlich ist.
SPRECHERIN
Windgeschwindigkeit und Windrichtung werden indirekt über die
gesendeten GPS Koordinaten gemessen, ergänzt der Meteorologe Mar-kus Garhammer und erklärt auch, warum die Schnur mit rund 30 Me-tern so lang ist. Da die Sensoren der Sonde sehr empfindlich sind, wird so verhindert, dass diese während des Fluges an den Ballon stößt, egal wie stark der Wind ihn beutelt. Die Sonden werden auch bei ihrer Rückkehr zum Boden geschützt – durch einen Fallschirm.
6. O-TON MARKUS GARHAMMER
Das ist so ein kleines Folienschirmchen, das, wenn man es aufspannt, so 40 Zentimeter Durchmesser hat und der fängt quasi die fallenden Kom-ponenten so weit ab, dass man so mit vier bis sechs Meter pro Sekunde einen stabilen, geordneten Sinkflug haben und eine reelle Chance, dass alle Teile am Boden so ankommen, dass sie nicht zerplatzen oder zer-brechen.
SPRECHERIN
Die Gespanne, die Markus Garhammer an der Universität benutzt, wie-gen rund 230 Gramm. Der Standard des DWD ist mit 500 Gramm et-was größer und schwerer, da der Wetterdienst mit rund 36 Kilometern Höhe etwas höher hinaus will, als das Forschungsinstitut mit rund 25.
MUSIK: „Fly“ (1:05)
SPRECHER
Bereits in der Frühzeit der ersten Ballonaufstiege mit Menschen an Bord wurden zusätzlich kleine Ballone eingesetzt, um vor dem Start die Windrichtung zu bestimmen. Ende des 19. Jahrhunderts bestanden sie noch aus sogenannter Goldschlägerhaut, der äußersten Hautschicht von Rinderblind-därmen, erzählt die Meteorologin und Wissenschaftshistori-kerin Prof. Cornelia Lüdecke.
7. O-TON-CORNELIA LÜDECKE
Die war einfach luftdicht. Man hat die mit Wasserstoff aufgefüllt, die Ballons, und die sind so weit geflogen, wie sie nach oben konnten und eben dann nicht mehr weiter aufsteigen konnten. Die sind dann
gedriftet. Die spätere Entwicklung war, dass man eben Kautschuk ver-wendet hat, dann um 1900. Und das war natürlich günstiger.
ATMO Einströmen des Gases (vorhanden)
SPRECHERIN
Im Labor des Meteorologischen Instituts der LMU München
demonstriert Markus Garhammer das Befüllen eines Ballons. Er schließt dessen Ventil an einen Gaszylinder an und lässt langsam Helium ein-strömen. Helium ist zwar teurer als Wasserstoff, hat aber den Vorteil, dass es nicht brennbar ist.
8. O-TON MARKUS GARHAMMER
Unser Ballon ist jetzt vorbereitet, als nächstes müssen wir die Emp-fangseinheit hochfahren und wir schalten jetzt mal den Empfänger ein… klick, [ATMO EMPFÄNGER vorhanden]…so, die Software gibt uns jetzt alle Schritte vor, das einzige, was dem Operator jetzt zu tun bleibt, ist die Sonde aus der Verpackung nehmen und dann wird der
Sondenkörper auf die Kalibriereinheit gelegt…das nächste, was passiert, das System fragt die Sonde ab, dann wird der Kalibrierprozess automa-tisch gestartet, die Referenzwerte kommen von der nebenan stehenden Wetterstation, die Daten werden eingespeist und dann sind wir start-klar.
MUSIK: „Flying & Flockin“ – K/I: Zoe Keating (1:10)
SPRECHERIN
Auf dem Bildschirm sind bereits drei Linien für Temperatur, Luftdruck und Feuchtigkeit zu sehen. Jetzt muss Markus Garhammer nur noch den Fallschirm mit Abwickler und Sonde am Ballon festmachen und dann könnte das Gespann gestartet werden, vorausgesetzt es ist bei der Flugsicherung angemeldet und hat eine Freigabe der Bundesnetza-gentur für eine Frequenz, auf der die Sonde ihre Daten senden kann. Ein Wetterballon ist ein Flugobjekt, das in den internationalen Luftraum eintritt, deshalb muss jeder Aufstieg vorab genehmigt werden.
ATMO/MUSIK Symbolgeräusch aufsteigender Ballon?
SPRECHERIN
Ein Wetterballon-Gespann steigt mit einer Geschwindigkeit von vier
Metern pro Sekunde auf. Je nach Größe erreicht es nach 90 Minuten bis zwei Stunden seine maximale Flughöhe und der Ballon platzt. -
ATMO platzender Ballon
SPRECHERIN
Das Gas, mit dem die Ballone befüllt werden – ganz gleich, ob Helium oder Wasserstoff – dehnt sich mit dem in der Höhe sinkenden Luftdruck aus und bläht
einen Ballon, der beim Start einen Durchmesser von einem Meter hatte, auf bis zu fünf Meter. Dann ist der Druck im Inneren des Ballons so groß, dass er zerreißt.
Danach beginnt der rund einstündige Sinkflug. Wo der Fallschirm mit der Sonde am Ende landet, hängt von Windstärke- und Richtung ab. Die Distanzen, die Wetterballone zurücklegen, sind sehr unterschiedlich, erklärt Markus Garhammer:
10. O-TON MARKUS GARHAMMER
Auf Messkampagnen im Ausland hatten wir schon Ballone, die knapp 300 Kilometer Distanz erreicht haben. Das schaffen wir hier in Süd-deutschland nicht, es sind die Bedingungen einfach nicht ideal genug, aber zwischen 20 und 40 Kilometer vom Startplatz schaffen wir auch hier.
SPRECHERIN
Am Ende ist unerheblich, wie weit ein Wetterballon fliegt, was zählt sind die Daten wie Luftdruck und Feuchte, die die Sonde vom Start weg bis zur Landung alle zwei Sekunden sendet. Gertrud Nöth vom DWD:
11. O-TON GERTRUD NÖTH
Und diese Radiosonde liefert sowohl im Aufstieg als auch im Abstieg die-ses Profil der Atmosphäre. Deshalb wird ja auch dieses Gespann sehr gerne als ein Fahrstuhl durch die Atmosphäre bezeichnet.
MUSIK: „Fly“ (1:20)
12. O-TON CORNELIA LÜDECKE
1894 hat man begonnen mit den koordinierten wissenschaftlichen Bal-lonfahrten in Paris, Straßburg, Berlin und Moskau. Etwa gleichzeitig hat man auch Registrierballone gehabt, frei fliegende Ballone, wo man dann gehofft hat, das Registriergerät später wiederzufinden, wenn es mit dem Fallschirm dann irgendwo wieder landet, nachdem der Ballon ge-platzt ist.
SPRECHER
Neue Möglichkeiten boten Anfang des 20. Jahrhunderts auch
Fesselballone, die an kilometerlangen Leinen hingen. Dazu wurden an mehreren Standorten in Deutschland Windenstationen eingerichtet.
13. O-TON CORNELIA LÜDECKE
Mit einer quasi Windmühle, die sich 360 Grad herumdrehen kann. Da-rauf war die Winde. Von dort aus wurden dann die großen Kastendra-chen oder Ballone gestartet, an denen dann die Registriergeräte wa-ren, mit einem Schrieb, wo dann die Temperaturkurven, die Feuchtig-keitskurve und die Druck Kurve dann auf dem Papier aufgezeichnet wurde.
MUSIK aus
SPRECHERIN
Heute starten von 16 Standorten in ganz Deutschland Wetterballons des DWD. Unterstützt wird er dabei vom Geoinformationsdienst der Bundeswehr. Die Uhrzeiten für die Starts sind international festgelegt: um 0 und um 12 Uhr UTC, koordinierte Weltzeit, das entspricht in Deutschland im Sommer 2 und 14 Uhr, im Winter 1 und 13 Uhr. An manchen Standorten gibt es um 6 Uhr und 18 Uhr UTC zwei zusätzliche Aufstiege. Jedes ihrer Wetterballon-Gespanne koste 280 Euro, erzählt Gertrud Nöth. Doch der Aufwand sei gerechtfertigt:
14. O-TON GERTRUD NÖTH
Es ist das einzige Messsystem, das uns tatsächlich Echtzeitdaten durch die Atmosphäre liefert, und insofern auch momentan schlicht und er-greifend unverzichtbar.
SPRECHERIN
Das bestätigt auch Markus Garhammer:
15. O-TON MARKUS GARHAMMER
Wettervorhersagen sind Computermodelle, die leben und sterben mit der Qualität der Anfangsdaten. Das gilt insbesondere für die tieferen Schichten in der Atmosphäre, wo wir sehr wenige Daten haben. Die ein-zigen Messwerte, die uns zur Verfügung stehen, kommen von den Wet-terballonen und von einzelnen wenigen Flugzeugmessungen. Damit sind sie essentiell. Und wenn ich sage, die Wetterprognose wäre nur halb so gut, dann ist es wahrscheinlich untertrieben. Sie wäre einfach nicht verlässlich.
SPRECHERIN
Doch wie werden aus den übermittelten Daten Wettervorhersagen?
16. O-TON GERTRUD NÖTH
Die Daten werden umgehend sozusagen prozessiert im Rechner. Das sind mathematische Gleichungen, die dann gelöst werden in der Wet-tervorhersage, und es passiert praktisch konstant und jede Stunde wird eine Deutschland-Vorhersage gerechnet und alle drei Stunden eine glo-bale Vorhersage.
SPRECHERIN
Die UN-Organisation World Meteorological Organization, kurz WMO, hat die Wetterbeobachtungen weltweit standardisiert und koordiniert den Datenaustausch.
17. O-TON GERTRUD NÖTH
Ohne diesen Datenaustausch kann niemand eine Wettervorhersage produzieren, beziehungsweise durchführen. Und gerade in Europa ist es so, dass die nationalen Wetterdienste starten allesamt Radiosonden nach diesen Vorgaben auch der WMO. Das heißt, alle nutzen auch die gleichen Zeitpunkte. Und damit werden auch die Daten vergleichbar.
MUSIK: „The escape“ (0:43)
SPRECHERIN
Weltweit gibt es rund 800 Stationen, die Radiosonden starten. In die Berechnungen der Wetterdienste fließen allerdings nicht nur die von den Wetterballonen ermittelten Werte ein, sondern auch Daten von Sa-telliten, Schiffen, Flugzeugen und Bodenstationen. Erst dieses Zusam-menspiel ergebe eine genaue Wettervorhersage, erklärt Gertrud Nöth, die am Ende ein Bild ergibt, das jeder kennt und intuitiv versteht: Eine Landkarte mit Wolken, Sonne, Regen oder Gewitter-Symbolen.
ATMO Wettervorhersage TV?
SPRECHERIN
Für jeden Radiosondenflug gibt es allerdings auch ein
thermodynamisches Diagramm, aus dem Meteorologen wie Markus Garhammer auch ohne Software sehr viel herauslesen können.
18. O-TON MARKUS GARHAMMER
In diesem Beispiel vom Deutschen Wetterdienst ist es so, dass der Steigflug in blau dargestellt ist und man erkennt schön, wie der Ballon angestiegen ist…
SPRECHERIN
Auf dem Diagramm ist die Temperatur mit einer durchgezogenen Linie dargestellt. Links davon ist eine gestrichelte Linie, die den sogenannten Taupunkt darstellt, an dem das in der Luft enthaltene Wasser
kondensiert, das heißt Tröpfchen bildet. Der Abstand der beiden Linien für die Luft- und die Taupunkttemperatur, zeigt das Feuchtemaß der Luft an.
19. O-TON MARKUS GARHAMMER
Wenn die gestrichelte Linie auf der durchgezogenen Linie liegt, dann fliege ich durch eine Wolke, weil dann bewege ich mich in Wasser-dampf gesättigter Luft die Wolkentröpfchen hat. In dem Moment, wo sich beide Linien wieder voneinander wegbewegen, da wird es auf ein-mal sehr trocken.
SPRECHERIN
Das thermodynamische Diagramm zeigt dem Meteorologen an, wie viel Energie in der Atmosphäre steckt. Dadurch kann er Aussagen über die Gewitterneigung treffen. Einen wichtigen Hinweis liefert auch die Wind-stärke, die im Diagramm durch Fähnchen dargestellt wird. Ist die Schichtung stabil, das heißt, sind Windrichtung- und stärke in den un-terschiedlichen Luft-schichten ähnlich, hat eine Messung länger Be-stand. Anders bei instabilen Lagen, dann stehen in der Regel Wetterän-derungen bevor und das nächste Diagramm liefert ein deutlich anderes Bild.
MUSIK: „Fly“ (0:35)
20. O-TON CORNELIA LÜDECKE
Der nächste Schritt war dann die Entwicklung der Pilotballone, die dann in große Höhen gingen, bis 20 Kilometer oder noch höher, die dann mit einem speziellen Theodoliten verfolgt wurden und daraus konnte man dann die Geschwindigkeit und die Windrichtung feststellen, was ja dann mit dem entwickelnden Luftverkehr sehr wichtig war, dass man weiß, wie man gut starten kann vom Flughafen und so weiter. Die Meteorolo-gie hat leider schon im Ersten Weltkrieg eine riesig große Rolle ge-spielt, nämlich im Gaskrieg. Da musste man ja wissen, aus welcher Rich-tung kommt der Wind in der Höhe. Nicht, dass man dann die Gas-bomben abwirft und das mit dem Wind, das den eigenen Soldaten dann auch tödlich wird. Also da gab es regelrechte Feldwetterwarten, ganz, ganz wichtig war das.
MUSIK aus
SPRECHERIN
Für gravierende Zwischenfälle in Zusammenhang mit Wetterballons gibt es keine Belege. Kleinere gibt es schon, wenn auch sehr selten, sagt Gertrud Nöth vom DWD. Immer wieder fallen Sonden beispielsweise auf Autodächer oder Gewächshäuser und beschädigen diese. Auch deshalb tragen Radiosonden grundsätzlich Aufkleber mit dem Namen und der Adresse ihres Besitzers. Ohne diese könnten im Fall des Falles keine Schadensansprüche reguliert werden. Das größte Problem sei aber der Mensch, sagt Markus Garhammer:
21. O-TON MARKUS GARHAMMER
Wenn eben Leute Sonden hängen sehen in irgendwelchen Leitungen oder über Straßenbrücken, zum Beispiel. Die Zwischenfälle mit Wetter-ballonen sind eher jener Natur, dass die Leute, die sie zurückholen
wollen, am Boden irgendwo runterfallen, ihnen der Ast abreißt, wo sie dranhängen, sie unvernünftigerweise die Sonde anfassen, obwohl sie in einer Stromleitung hängt.
SPRECHERIN
Manchmal werden Wetterballone auch fälschlicherweise für Ufos oder andere un-erklärliche Flugobjekte gehalten. Natürlich nicht von Piloten, sagt Gertrud Nöth
22. O-TON GERTRUD NÖTH
Die wissen, wenn im deutschen Luftraum beispielsweise so ein creme-farbener Ballon ihnen irgendwo begegnet, dann ist es ein Wetterballon vom DWD in aller Regel.
SPRECHERIN
aber beispielsweise von Flugzeugpassagieren, erklärt Markus
Garhammer:
23. O-TON MARKUS GARHAMMER
Ein Wetterballon, der nicht voll aufgeblasen ist, hat an der Oberseite so eine untertassenförmige Struktur. Und wenn sich das Licht in diesem leeren oder halbgefüllten Gaskörper nicht spiegelt, sieht es wahrschein-lich auf den ersten Blick aus wie irgendetwas sehr Seltsames. Ein Ver-kehrsflugzeug fliegt mit 700, 800 Stundenkilometer. Der Ballon schwebt mit Windgeschwindigkeiten, 200 KMH, im schlimmsten Falle Gegenwind, das heißt, es macht Foop. Das Objekt ist vorbei, und das Gehirn muss mit dem Eindruck zurechtkommen.
MUSIK: „Fly“ (1:40)
SPRECHER
Der bahnbrechendste Durchbruch für die Erforschung der freien Atmo-sphäre mit Wetterballons, wie wir sie heute kennen, gelang Ende der 1920er Jahre.
ATMO Knistern Frequenzen
24. O-TON CORNELIA LÜDECKE
Durch die Entwicklung des Funks führte es dann dazu, dass die Radio-sonden entwickelt wurden, wo dann die Registriergeräte eben nicht mehr registriert haben, sondern die Messdaten wurden elektrisch um-gesetzt und dann per Funk zu einer Empfangsstation auf der Erde ge-sendet, um dann wiederum in Messdaten umgewandelt zu werden. Da gab es parallele Entwicklung hier in Deutschland oder auch in Russland und anderen Ländern, dass man gesagt hat für den Wetterdienst, man richtet das so ein an vielen Stellen, dass dort um 12 Uhr mittags diese Radiosonden gestartet werden, weil man dann mit vielen Stationen zu-sammen mit den Daten dann Wetterkarten von der Höhe zeichnen kann.
SPRECHER
Ab den 1930er Jahren wurde das Bild der Atmosphäre nach und nach dreidimensional. Seit dieser Zeit habe sich an der Technik nicht mehr viel geändert, erzählt die Meteorologin und Wissenschaftshistorikerin Cornelia Lüdecke. Weiterentwicklungen gab es seither vor allem auf dem Gebiet der Datenverarbeitung, aber auch hinsichtlich der verwendeten Materialien.
MUSIK aus
SPRECHERIN
Rund 15.000 Starts von Wetterballons gibt es laut der Deutschen Flug-sicherung pro Jahr in Deutschland, viel Material also, das in der Umwelt verbleibt, wenn ihre Reste nicht gefunden werden.
25. O-TON GERTRUD NÖTH
Grundsätzlich sind alle Bestandteile dieses Gespanns recycelbar. Das heißt, wenn man das auffindet, kann man es dem Wertstoffkreislauf wieder zuführen.
SPRECHERIN
Ein Problem sind Reste, die in Gewässern landen oder an Land nie ge-funden werden. Einige Materialien wie der Ballon aus Naturkautschuk oder das Seil sind schon länger biologisch abbaubar, andere nicht. Dazu zählen die Batterien, die laut Gertrud Nöth aktuell noch unverzichtbar sind, da es keine ähnlich robuste Energiequelle gibt. Die restlichen Ma-terialien der Sonde werden von den Herstellern ständig weiterentwi-ckelt, um sie ebenfalls komplett abbaubar zu machen.
Markus Garhammer freut sich über die neueste Entwicklung, die den Anteil der nicht abbaubaren Bestandteile einer Sonde von 60 auf 20 Gramm zu reduziert. Die Verkleidung sieht aus wie ein harter Eierkar-ton.
26. O-TON MARKUS GARHAMMER
Laut Herstellerangaben ist es ein Material, das aus Getreidestärke
gewonnen wird, mit Hilfe von Mikroorganismen, nach dem Einsatz mit Feuchtigkeit und UV-Licht Einstrahlung zu Zucker und Wasser zerset-zen lässt.
MUSIK: „Flying & Flockin“ – K/I: Zoe Keating (0:32)
SPRECHERIN
Aber 95 Prozent der Sonden, die an Land herunterkommen, würden ohnehin gefunden, sagt Markus Garhammer. Da die Sonden im Flug konstant ihre Daten senden, kann jeder ihre Flugbahn über die GPS Koordinaten nachvollziehen, um sie nach ihrer Landung einzusammeln. Noch leichter geht das dank diverser Internetseiten, wie sie auch der DWD anbietet. Die Messgeräte gelten als Trophäen und es gibt Sonden-jäger, die bereits stattliche Sammlungen der irdischen Reste von meh-reren hundert Wetterballons gehortet haben.
Er trank sein eigenes Blut, um in der Sahara nicht zu verdursten. Heinrich Barths Expedition nach Afrika gilt heute als Pionierleistung der Afrikaforschung. (BR 2017) Autor: Linus Lüring
Credits
Autor/in dieser Folge: Linus Lüring
Regie: Dorit Kreissl
Es sprachen: Rahel Comtesse, Rainer Buck, Jerzy May
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher
Vor 24 Stunden hatte Heinrich Barth zum letzten Mal etwas getrunken. Jetzt steigt die Sonne erbarmungslos immer höher. An Schatten ist nicht zu denken, die wenigen Bäume sind verdorrt. Der junge Deutsche ist allein unterwegs und weiß, dass er bald verdursten wird. In seiner Verzweiflung schneidet er sich in den Arm und trinkt sein eigenes Blut, um den Durst zu stillen. Dann fällt er in Ohnmacht. In der sengenden Hitze dämmert Barth dahin. Doch am Abend weckt ihn plötzlich der Schrei eines Kamels.
Zitator
Der klangreichste Ton, den ich je im Leben gehört! Ich erhob mich etwas vom Boden und sah einen Targi in einiger Entfernung langsam nach allen Seiten umherspähend, vor mir vorbeireiten. Ich öffnete meine trockenen Lippen, mit meiner geschwächten Stimme „Wasser, Wasser“ rufend.
Sprecher
Die Rettung für Heinrich Barth kommt in letzter Minute. Beinahe wäre sein Traum – das nördliche Afrika zu erforschen – schon hier im kargen Idinen-Gebirge am Rand der Sahara zu Ende gewesen. Jetzt aber lernt Barth aus dieser Erfahrung. Er teilt seine Kräfte künftig besser ein und riskiert nie wieder bei Alleingängen sein Leben. Das ist die Basis für eine beeindruckende Pionierleistung, die aber jahrzehntelang völlig in Vergessenheit geraten wird.
Sprecherin
Einige Wochen vorher, im März 1850, hat sich Heinrich Barth in Tripolis mit einer Expedition im Auftrag der britischen Regierung auf den Weg in Richtung Süden gemacht. Neben dem damals 29-jährigen Barth sind noch der deutsche Geologe Adolf Overweg und der Leiter der Expedition dabei, der britische Missionar James Richardson. Begleitet werden sie von einheimischen Führern und dutzenden Kamelen. Zuerst wollen sie die Sahara durchqueren und dann weiter in Richtung Tschadsee vorstoßen. Ihr Auftrag: Sie sollen das nördliche Afrika erforschen und dabei Absatzmärkte für britische Waren erschließen. Vor den Männern liegt ein Gebiet, das zur damaligen Zeit in Europa größtenteils noch unbekannt ist. Es gibt wenig verlässliche Informationen, stattdessen Gerüchte über angriffslustige Nomadenvölker, wilde Tiere und Dürren. Wie gefährlich die Expedition ist, das werden die Europäer schnell spüren. Barth wird der einzige der drei sein, der die Forschungsreise überlebt.
Sprecher
Nachdem sich Barth von seinem lebensgefährlichen Alleingang erholt hat, zieht die Karawane weiter in Richtung Air-Gebirge. Die wasserlose Region ist sagenumwoben, noch nie waren Europäer bis hierher vorgedrungen.
Sprecherin
Schon nach wenigen Tagen gerät die Expedition in einen Hinterhalt. Dutzende Tuareg, bewaffnet mit Schwertern und Speeren, überfallen die Karawane. Sie haben es auf die mit unzähligen Kisten und Gepäckstücken beladenen Kamele abgesehen. Die Expedition verliert etwa ein Viertel der Lebensmittelvorräte und andere Güter. Während Expeditionsleiter Richardson schon mit dem sicheren Tod rechnet, tritt Heinrich Barth den Nomaden entschlossener entgegen.
Schließlich kommen die drei Christen nach zähen Verhandlungen mit dem Leben davon.
Sprecher
Immer wieder wird Heinrich Barth bei der weiteren Reise bedrohliche Situationen erleben. Dennoch begegnet er den Einheimischen mit großem Respekt. Stets sucht er den Kontakt mit Ihnen und schließt viele Freundschaften. Dies ermöglicht ihm tiefe Einblicke in die Kulturen Nordafrikas. Dass Barth in Afrika so gewinnend auftritt, war keineswegs zu erwarten gewesen. In Deutschland galt Heinrich Barth als Einzelgänger, ja sogar als beziehungsunfähig.
Sprecherin
Im Februar 1821 wurde er als Sohn einer Kaufmanns-Familie in Hamburg geboren. Seine Eltern achteten auf Fleiß und eiserne Disziplin, Merkmale, die Barths Persönlichkeit prägten. Ein Mitschüler beschrieb ihn zwar als kränklich und schwach, fügte aber bewundernd hinzu, dass er im Winter in Eiswasser schwamm, um seinen Körper zu stärken. Bald soll Barth dann eine stattlichere Statur gehabt haben, trotzdem fanden ihn viele ziemlich merkwürdig, wie ein Klassenkamerad festhielt.
Zitator
Namentlich hieß es von ihm, dass er sich privat und ohne alle Anleitung mit dem Arabischen beschäftige, was uns gedankenlosen Schuljungen denn freilich als der Gipfel aller Verrücktheit erschien.
Sprecherin
Auch später im Studium hatte er wenig Kontakt zu anderen, stattdessen war er getrieben vom Wissensdrang, also studierte er in Berlin nicht nur Geschichte, sondern gleich auch noch Geografie, Jura und Germanistik. Nach der Promotion brach er zu einer Reise ums südliche Mittelmeer auf.
Dass er unterwegs angeschossen und ausgeraubt wurde, warf ihn nur kurz aus der Bahn. Zu fasziniert war er von den antiken Stätten und den unterschiedlichen Kulturen denen er in Tunesien oder Syrien begegnete.
Sprecher
Obwohl ständig von Hunger und Geldsorgen geplagt, notierte er doch alle möglichen Details zu Namen, Entfernungen und Begegnungen. Daraus verfasste er später seine Habilitationsschrift in Geographie. Trotz dieser enormen Leistung erfüllte sich sein großer Wunsch nicht – eine eigene Professur. Er schafft es nicht, andere mit seinen enormen Kenntnissen zu begeistern. Seine Vorlesungen sind schlecht besucht. Entmutigt zieht Barth sich zurück und blickt einer unsicheren Zukunft entgegen. Sein Schwager charakterisiert ihn so:
Zitator
Sein Selbstgefühl erlaubt ihm nicht, sich zur rechten Zeit zu beugen. Er ist ein kühner und ausdauernder, aber kein gewandter Schwimmer auf dem Strome des Lebens.
Sprecherin
Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für eine Expedition in unbekannte Gebiete, bei der es auf Diplomatie und Offenheit ankommen wird. Trotzdem: Für Barth kam die Einladung zur Teilnahme gerade recht. Die Briten wollten von seiner akribischen Arbeitsweise profitieren. Und dem ehrgeizigen Wissenschaftler wurde zugesichert, dass er - wenn er mit herausragenden Ergebnissen nach Europa zurückkehrt - eine passende Professur bekommt.
Darauf verließ sich Barth. Hochmotiviert brach er auf nach Afrika. Während der Expedition wird er ein anderer Mensch werden.
Sprecher
Im Januar 1851, knapp neun Monate nach dem Aufbruch, haben die Männer um Heinrich Barth bereits dreieinhalbtausend Kilometer zurückgelegt. Langsam lassen sie die Sahara hinter sich und sehen jetzt die ersten Kornfelder im Norden des heutigen Nigeria.
Sprecherin
Für Barth kommt die Karawane zu langsam voran, außerdem nerven ihn die ständigen finanziellen Sorgen, denn der Geldnachschub aus England ist schon seit längerem ausgeblieben. Allein wäre er nicht nur schneller und günstiger, sondern auch unauffälliger und damit sicherer unterwegs, hofft er. Expeditionsleiter Richardson stimmt schließlich zu, dass die drei Europäer sich trennen. Für die umfangreichen Forschungsarbeiten Barths und auch des anderen Wissenschaftlers Adolf Overweg hat er ohnehin immer weniger Verständnis. Die Männer vereinbaren, sich drei Monate später im 700 Kilometer entfernten Kukawa wiederzutreffen, der Hauptstadt des mächtigen Bornu-Reiches am Tschad-See.
Sprecher
Heinrich Barth zieht mit neuer Energie und nur wenigen Begleitern weiter. Dass er nun seinen Weg selbst bestimmen und ungehindert die Gegenden, die vor ihm liegen, erforschen kann, macht ihn glücklich. Wie besessen versucht er jedes Detail festzuhalten. Seine breite Bildung in Archäologie, Geographie und Linguistik ist dabei ein Schlüssel für bemerkenswerte Erkenntnisse.
Sprecherin
Schon kurz nach der Abreise hatte der deutsche Forscher im heutigen Libyen einige jahrtausendealte Felsbilder entdeckt. Weil er dort, mitten in der Wüste, Zeichnungen von Elefanten und Flusspferden sah, begriff er als erster überhaupt, dass die Region einen gewaltigen Klimawandel erlebt hat. Solche Erkenntnisse notiert er akribisch. Seine Schriften gibt er dann von Zeit zu Zeit Karawanen in Richtung Norden mit. Barths Briefe sind monatelang unterwegs, bis sie in Europa eintreffen.
Sprecher
Im März 1851, kurz vor Kukawa, dem vereinbarten Treffpunkt der drei Europäer, reiten Boten Heinrich Barth entgegen. Die Nachricht, die sie überbringen dämpft seinen Optimismus empfindlich. Expeditionsleiter Richardson ist vor wenigen Tagen an Entkräftung gestorben. Auf einmal muss sich Barth die Frage stellen, wie es mit der Expedition weitergeht. Er schreibt deshalb an die britische Regierung in London mit der Bitte um Anweisungen. Dabei steht er vor einem weiteren Problem: Der Deutsche weiß nicht, wie der mächtige Scheich von Bornu ihn in Kukawa empfangen wird. Weil Adolf Overweg noch nicht eingetroffen ist, muss er allein, ärmlich gekleidet und nach Richardsons Tod auch ohne offiziellen Auftrag in die Stadt einreiten.
Sprecherin
Unsicher reitet Heinrich Barth auf die in der Sonne schimmernden, weißen Lehmmauern der Stadt zu. Doch er wird erst vom Wesir, dem wichtigsten Minister des Scheichs und später von Scheich Omar selbst wohlwollend begrüßt und dann zu einem üppigen Abendessen eingeladen. Und obwohl er fast keine Gastgeschenke mitbringt, wird Barth sogar ein geräumiger Lehmziegelbau zugewiesen.
Sprecher
Schon nach wenigen Tagen ist es ihm gelungen, das Vertrauen des Scheichs zu gewinnen. Er wird mit Unterbrechungen insgesamt über ein Jahr in Kukawa verbringen.
Sprecherin
Es scheint paradox. In Europa ist Heinrich Barth noch der zurückgezogene, abweisende Einzelgänger. In Afrika tritt er dagegen völlig anders auf, erklärt Professor Klaus Schneider, Präsident der Heinrich-Barth-Gesellschaft:
ZUSP Schneider 1
Er hatte anscheinend ein ganz großes Geschick oder große Ausstrahlung diesen Menschen gegenüber. Er hatte überall, wo er war, und das sagt er in einem ganz berühmten Satz, überall wo ich gewesen bin, habe ich Freunde hinterlassen. Und das hat er auch ganz früh zu einer Methode gemacht und er sagte, man muss mit diesen Menschen persönlich in Kontakt geraten, und sie müssen sich um dich kümmern. Sonst wird das nicht gut gehen.
Sprecherin
Barth profitiert dabei auch von seinem außerordentlichen Sprachtalent. Innerhalb weniger Wochen schafft er es oft die Sprachen der Regionen, durch die er gerade reist, zu lernen und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Dolmetscher braucht er so gut wie nie. Und noch etwas hilft ihm. Er hat keine Berührungsängste mit dem Islam, der in Nordafrika dominierenden Religion. Im Gegenteil, während in Europa im 19. Jahrhunderts der Antiislamismus weit verbreitet ist, faszinieren ihn die islamischen Einflüsse auf Wissenschaft und Kunst. In vielen Gegenden kleidet er sich sogar wie ein Muslim und reist unter dem Pseudonym „Abd el Karim“, übersetzt: „der Diener des Höchsten“. Ein gewaltiger Unterschied zu anderen Afrika-Forschern vor ihm, wie etwa Mungo Park. Sie bevorzugten bewusst europäische Kleidung um sich als Höherstehende abzugrenzen.
Sprecher
Mitte des Jahres 1852 ist Kukawa, die Hauptstadt des Bornu-Reiches, für Heinrich Barth seine „afrikanische Heimat“ geworden, wie er selbst sagt. Von hier aus unternimmt er monatelange Exkursionen ins Umland, begleitet von Adolf Overweg, der mit einigen Wochen Verspätung doch noch angekommen ist. Dabei bereisen sie Gebiete, die in Europa nicht mal dem Namen nach bekannt sind. Dann, nach über einem Jahr, kommt endlich ein Brief aus London.
Für Barth wird das einer der „glücklichsten Tage seines Lebens“, wie er sagt: denn die britische Regierung bestimmt ihn zum neuen Leiter der Expedition.
Mit diesem offiziellen Auftrag kann er schließlich den Handelsvertrag für Großbritannien mit dem Scheich abschließen – eines der Hauptziele der Expedition ist damit erreicht. Außerdem bekommt Barth lang ersehnte finanzielle Unterstützung. Nun kann er die weitere Route der Expedition selbst bestimmen. Und da fasst Heinrich Barth einen Ort ins Auge, der in Europa damals einen mythischen Ruf hatte – Timbuktu.
Sprecherin
Unvorstellbar reich soll die Wüstenstadt sein. Es heißt sogar, dass die Häuser mit Gold überzogen seien. Allerdings sind das eben nur Erzählungen. Wohl erst zwei Europäer haben Timbuktu bisher erreicht. Ihre jahrzehntealten Berichte sind ent-weder nicht überliefert oder werden angezweifelt. Barth möchte herausfinden, wie es in der Stadt wirklich aussieht. Er weiß, dass die Reise etwa ein Jahr dauern wird: von Kukawa nach Timbuktu sind es mehr als 2000 Kilometer. Trotzdem ist der deutsche Wissenschaftler voller Tatendrang. Aber kurz vor dem geplanten Aufbruch dann ein Rückschlag: Adolf Overweg stirbt an Malaria. Barth ist tief erschüttert, denn Overweg war für ihn zu einem wichtigen Freund geworden. Den-noch bleibt er bei seinem Ziel - er will Timbuktu unbedingt erreichen. Im November 1852 bricht er mit acht Begleitern sowie einigen Pferden und Kamelen auf.
Sprecher
Auf dem Weg nach Westen, in Richtung Timbuktu erlebt Barth, wie er später schreibt, „ununterbrochene Kriegsführung und Gewalttätigkeit“. Immer wieder müssen er und seine Begleiter deshalb große Umwege machen. Einmal reiten sie 30 Stunden ohne wirkliche Rast, in der ständigen Angst entdeckt zu werden. Dabei spürt Heinrich Barth die Überanstrengung immer deutlicher. Seit knapp drei Jahren ist er jetzt schon unterwegs. Rheuma, Fieber oder Skorpionstiche quälen ihn immer wieder. Dazu kommt die einseitige Ernährung: Auf dem Weg nach Timbuktu zum Beispiel gibt es monatelang fast nur Hirsebrei. Trotzdem treibt ihn eiserne Disziplin vorwärts, mit teilweise bizarren Folgen:
Zitator
Bald begann ich die Qual der Übermüdung zu fühlen. Um nicht im schläfrigen Zustande vom Kamele zu fallen, war ich genöthigt, einen großen Teil der Nacht mich zu Fuße hinzuschleppen, was nicht eben angenehm war.
Sprecher
Dass Barth es dabei schafft, seine Forschungsarbeiten nicht zu vernachlässigen, wirkt fast übermenschlich. Doch genau das bringt ihn jetzt in zusätzliche Schwierigkeiten. Weil er ständig Gebäude oder Landschaften zeichnet und sogar lange Vokabellisten für verschiedenste Sprachen anlegt, ist er vielen Afrikanern suspekt. In die Zeit fallen auch Berichte, dass französische Truppen beginnen, den Nordwesten Afrikas zu erobern. Für viele Einheimische steht deshalb fest: Barth muss ein Spion sein, der eine Invasion vorbereitet. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall.
Sprecherin
Während viele Europäer Afrika zur damaligen Zeit als Kontinent ohne Geschichte sehen und Afrikaner für primitive Wilde halten, fehlen bei Heinrich Barth solche rassistischen Bemerkungen. Er ist überzeugt, dass den afrikanischen Gesellschaften eine große Gefahr droht. Professor Klaus Schneider:
Zusp. Schneider 2
Also ich glaube der Kolonialismus, der sich anbahnte, der war für Barth schon gefühlt. Er war sicher, dass die Europäer Afrika überrennen würden. Und er sagt dann ja auch an manchen Stellen, er hätte davon geträumt, dass er an der Spitze eines panafrikanischen Heeres gegen die europäischen Kolonialmächte angehen würde. Und damit war er der einzige überhaupt zu der Zeit, der sich in irgendeiner Art und Weise wirklich artikuliert auf die Seite der Afrikaner gestellt hat.
Sprecherin
Ein Europäer an der Seite Afrikas – Heinrich Barth wird noch spüren, dass er sich mit dieser Einstellung nicht nur Freunde macht.
Sprecher
Endlich. Im September 1853 hat es Heinrich Barth trotz aller Widrigkeiten geschafft. In der Ferne taucht vor ihm die Stadt seiner Sehnsucht auf -Timbuktu. Doch der Anblick ist für den mittlerweile 32-jährigen eine Enttäuschung.
Zitator
Ihre dunklen, schmutzigen Tonmassen waren kaum vom Sande und umher aufgehäuften Schutt zu unterscheiden. Denn der Himmel war dick überzogen und mit Sand erfüllt.
Sprecher
Für Barth wird Timbuktu trotzdem eine der wichtigsten Stationen. Denn hier freundet er sich mit Scheich Al-Bakkai an, einem der berühmtesten Koran-gelehrten Westafrikas. Der mächtige Mann beschützt Barth als feindliche Herrscher herausbekommen, dass der Fremde Christ ist. Außerdem führen die beiden Männer lange Gespräche über die Gemeinsamkeiten von Islam und Christentum. Und Al-Bakkai gewährt ihm Einblicke in bedeutende historische Dokumente. So kann Barth die Geschichte der westafrikanischen Reiche erstmals umfassend nachvollziehen. Dabei bleibt seine Lage lebensgefährlich, mehrmals muss der Forscher Timbuktu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. In dieser Zeit reißt auch der Kontakt nach Europa völlig ab. In der Heimat kursiert bereits die Nachricht, dass Heinrich Barth ums Leben gekommen sei, und zahlreiche Nachrufe werden verfasst.
Sprecherin
Nach sechs Monaten in Timbuktu macht sich Heinrich Barth Anfang 1854 auf den Rückweg nach Europa. Im August 1855 erreicht Barth völlig erschöpft wieder Tripolis. Hinter ihm liegen über 15.000 Kilometer in fünfeinhalb Jahren.
Als Heinrich Barth sich dann nur wenige Tage später auf die Weiterreise nach London macht, ist er sich sicher, dass das, was er zu berichten hat, in Europa für Furore sorgen und ihn in Wissenschaftskreisen weit bringen würde.
Sprecher
Doch angekommen in London erfährt er, dass England und Frankreich ihre Interessensgebiete in Nordafrika inzwischen abgesteckt haben. Die Gebiete, in denen Heinrich Barth Handelsverträge für England abgeschlossen hat, liegen jetzt im französischen Einflussbereich. Die zähen Verhandlungen Barths waren umsonst. Schwer enttäuscht schreibt er seinen Reisebericht. Bereits zwei Jahre später erscheint das Werk auf Deutsch und Englisch. Auf 3.500 Seiten erklärt Heinrich Barth in fünf Bänden geografische und sprachliche Details, schildert politische und wirtschaftliche Beziehungen und beschreibt Personen, die er getroffen hat. Doch anders als die Bücher früherer Afrikareisender wird das Werk ein Ladenhüter. Es ist zu detailliert, zu wenig spannend geschrieben. Der nächste Rückschlag für Barth. Wehmütig denkt er an seine Reisejahre zurück:
Zitator
Wie sehne ich mich nach einem freien Nachtlager in der Wüste. Wo ohne Ehrgeiz, ohne Sorge um die tausend Kleinigkeiten, die hier den Menschen quälen, ich mich im Hochgenuss der Freiheit nach Beendigung des Tagesmarsches auf meine Matte zu strecken pflegte.
Sprecher
Aber statt nach Nordafrika, kehrt Barth nun nach Deutschland zurück und wird wieder enttäuscht. Die versprochene Professur bekommt er nicht, stattdessen spürt er breite Ablehnung. Viele nehmen ihm übel, dass er im Auftrag der Briten unterwegs war. Und dass er dazu den Kolonialismus deutlich kritisiert und den Islam bewundert, passt so gar nicht zum damaligen Zeitgeist. Professor Klaus Schneider:
ZUSP: Schneider 4
Er hatte keine Möglichkeit in diese Wissenschaftskreise zu gelangen, von denen er sich dann die weitere Karriere versprochen hat. Das ist für ihn, glaube ich, auch ein Grund gewesen, zu resignieren und vielleicht auch durch diese Umstände depressiv zu werden und in Kombination mit einigen Krankheiten, die er aus Afrika mitgebracht hatte, dass er daran auch verstarb.
Sprecher
Mit nur 44 Jahren stirbt Heinrich Barth zurückgezogen im November 1865 in Berlin. Lange gerät er dann in Vergessenheit. Erst 100 Jahre später wird sein Werk wiederentdeckt und die Bedeutung seiner Arbeit gewürdigt. Gerade weil er vorurteilsfrei den direkten Kontakt suchte, erkannte er als einer der ersten Forscher die reiche Vergangenheit Afrikas und wies nach, dass die These vom Kontinent ohne eigene Geschichte nicht haltbar ist. Doch das passte nicht in eine Zeit, die gerade die Kolonialisierung Afrikas vorbereitete.
Sie sind nicht nur beeindruckende Kunstwerke, sie sind das Gedächtnis eines ganzen Volkes in Westafrika. Was sie genau zeigen, ist allerdings noch nicht vollständig entschlüsselt. Und nach einem Raubzug der britischen Kolonialmacht sind tausende Benin-Bronzen in der ganzen Welt verteilt. Wie soll die Rückgabe ablaufen? Autor: Linus Lüring
Credits
Autor/in dieser Folge: Linus Lüring
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Hemma Michel, Jerzy May, Katja Schild
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Stefan Eisenhofer, Leiter Leiter der Abteilungen Afrika und Nordamerika im Museum Fünf Kontinente, München;
Dr. Oluwatoyin Sogbesan, nigerianische Kulturhistorikerin, Lagos
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SPRECHER
Die afrikanischen Verteidiger sind chancenlos gegen die gewaltige Armee, die sich Anfang des Jahres 1897 an der Westküste Afrikas formiert hat. Rund 1200 schwer bewaffnete britische Soldaten, Begleittruppen und hunderte Träger machen sich auf den Weg ins Landesinnere. Ihr Ziel: Das Königreich Benin und deren Hauptstadt, Benin-City. Als einziges Gebiet in der Region ist es noch nicht von einem europäischen Staat unterworfen und zur Kolonie erklärt worden.
SPRECHERIN
Zu groß ist die Übermacht der Europäer, die mit Maschinengewehren vorrücken. Nach zehn Tagen ist der Kampf vorbei und Benin-City wird eingenommen. Bevor die Briten die Stadt anschließend niederbrennen, durchsuchen sie systematisch den Palast des Oba, des Herrschers von Benin. Dabei machen sie einen überraschenden Fund. Der britische Marineoffizier Reginald Bacon erinnert sich später so:
ZITATOR
In den Lagerhäusern war jede Menge Krempel. Alte Uniformen oder hässliche Schirme. Aber in einem Haus befanden sich - bedeckt von Schmutz - einige hundert einzigartige Bronzeplatten - wahrscheinlich ägyptischen Ursprungs. Es waren wirklich hervorragende Güsse. Die Vielfalt der Details war fantastisch.
SPRECHER
Zum damaligen Zeitpunkt ist den britischen Soldaten nicht wirklich klar, was sie da vor sich haben. Erstmal nehmen sie alles mit, was sie finden können. Mehrere tausend Kunstwerke werden verschleppt. Vor allem Platten und Güsse aus Bronze und anderen Legierungen, aber auch Schnitzereien aus Elfenbein oder Holz. Für all diese Stücke setzt sich der Sammelbegriff "Benin-Bronzen" durch.
SPRECHERIN
Als die ersten Stücke nach Europa kommen, lösen sie eine gewaltige Begeisterung aus. Vor allem unter den Museen beginnt ein Wettlauf um die Benin-Bronzen. Ein Mitarbeiter des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin telegraphiert an den deutschen Konsul in Westafrika, er solle von den erbeuteten Dingen “was immer erreichbar und ohne Rücksicht auf den Preis” kaufen.
SPRECHER
Etwas später kommen Bronzen auch nach Bayern. Die Münchner Neuesten Nachrichten melden im Dezember 1898:
ZITATOR
Sämtliche größere Museen Europas, Amerikas, ja selbst Australiens sind alarmiert und haben sich teilweise arm gekauft. Auch in unserem Münchner Ethnographischen Museum ist eben die erste derartige Sendung eingetroffen und wird demnächst zur Ausstellung kommen.
SPRECHER
Mehr als 120 Jahre später geht der Ethnologe Stefan Eisenhofer die imposante Haupttreppe im Museum Fünf Kontinente nach oben, wie das Ethnographische Museum heute heißt. Er ist Leiter der Abteilungen Afrika und Nordamerika. Sein Ziel: Die ausgestellten Benin-Bronzen in der zweiten Etage. Er bleibt vor einer der Vitrinen stehen. Darin ein Kopf aus dunklem Metall, etwa 30 Zentimeter hoch…
ZUSPIELUNG 1 (Eisenhofer Beschreibung Kopf)
Also hier sehen wir so einen typischen Ahnen-Gedenkkopf wie er auf den Ahnen-Altären im Reich Benin gestanden ist. Das ist ein menschlicher Kopf, sehr stark stilisiert, Sie sehen um den Hals diese Ringe, sind Korallen, Ketten, Perlenketten, die Ausweis der Majestät und des hohen Ranges des Königs waren. Und da oben auf dem Kopf, sehen Sie so diese Öffnung, da steckte ein Elefantenstoßzahn drin, der in der Regel dann eben noch beschnitzt war mit mythischen oder tatsächlichen Szenen aus der Vergangenheit des Reiches.
SPRECHER
Etwa 20 Objekte, die zu den Benin-Bronzen gezählt werden, umfasst die Sammlung im Münchner Museum. Ein vergleichsweise kleiner Bestand. Das Ethnologische Museum in Berlin verfügt über mehr als 500 Exponate. Die meisten Benin-Bronzen finden sich in britischen Museen. Und sie alle verbindet die Frage, die Stefan Eisenhofer stellt, als er vor dem kunstvoll gestalteten Kopf aus Bronze steht.
ZUSPIELUNG 3 (Eisenhofer Frage)
Ja, es ist tatsächlich die die Frage – wo gehören diese Ahnen-Gedenkköpfe hin? In die Museen der Welt, in Museen in Nigeria, in den Königspalast in Benin City, in ein Nationalmuseum von Nigeria oder zu anderen Familien, die vielleicht auch solche Köpfe besessen haben?
SPRECHERIN
Wie soll man umgehen mit den Benin-Bronzen, die zum großen Teil geraubt wurden und jetzt in Museen und privaten Sammlungen weltweit verteilt sind? Diese Debatte wird seit einigen Jahren hochemotional geführt. Vor allem in Nigeria, dem Staat, in dem sich das Gebiet des Königreich von Benin heute befindet - nicht zu verwechseln mit dem Staat Benin, der weiter westlich liegt. Die Nigerianerin Oluwatoyin Sogbesan [sprich:Olluwateun Schóbessahn, Aussprache auch im Digas-File, wo Frau Sogbesan ihren Namen einspricht] ist Kunsthistorikerin und Spezialistin für Fragen des kulturellen Erbes Afrikas. Die Benin-Bronzen sind für sie nur ein Beispiel für ein größeres Problem.
ZUSPIELUNG 4 (Toyin - Afrika ist von außen leichter zu studieren als von innen )
Overvoice weiblich
Es ist leichter, afrikanische Kultur in Museen auf der ganzen Welt zu erleben, als in Afrika. Alles wurde geplündert. Wie sollen wir unsere Geschichte zusammenfügen und verstehen? Denn das sind ja eigentlich Dinge, die die Kreativität und Fähigkeiten unserer Vorfahren verdeutlichen. So wird klar, was wir waren und wer wir sind.
SPRECHER
Es geht also bei der Diskussion um die Benin-Bronzen darum, wie Unrecht aus der Kolonialzeit wieder gut gemacht werden kann und auch um die Frage, wie sehr kolonialistisch geprägtes Denken bis heute wirkt. Auf der Suche nach Antworten muss man erstmal zurück an den Anfang.
SPRECHERIN
Denn schon im Jahr 1897, kurz nach dem britischen Raubzug, sorgen die Benin-Bronzen für Diskussionen. So heißt es im Bericht der Münchner Neuesten Nachrichten damals weiter:
ZITATOR
[Es] wurden Bronzegüsse aufgedeckt in einer Größe und in einer Vollendung…
SPRECHER
… wie man sie den Schwarzen niemals zugetraut hätte. Die Kunstwerke stellen alte Gewissheiten in Frage. Ja sogar die Argumentation, die der Unterwerfung des afrikanischen Kontinentes zugrunde lag, gerät ins Wanken, als die Benin-Bronzen nach Europa kommen.
ZUSPIELUNG 5 (Eisenhofer Kolonialkritik)
Der Tenor war ja, wir müssen Afrika kolonisieren, um die an die höheren Weihen der Zivilisation heranzuführen. Und jetzt stieß man auf diese tollen Kunstwerke, und das brachte die Befürworter des Kolonialismus in Erklärungsnot. Und kolonialkritische Kreise hatten halt gesagt, ihr erzählt uns immer Afrikaner, sind ohne unsere kolonisierende Hand ja nicht fähig, großartige Sachen zu schaffen. Wie erklärt ihr uns das jetzt? Und es wurden dann sehr schnell Erklärungsmodelle geschaffen, indem es hieß ja, das ist ja auch nicht von Afrikanern geschaffen worden, sondern wahrscheinlich von Arabern, die irgendwie aus dem Norden da waren, oder vielleicht von Europäern, die dort an Land gingen und dort blieben.
SPRECHER
So erklärt sich auch die Deutung des britischen Offiziers Reginald Bacon. Er war schnell von ägyptischem Einfluss ausgegangen. Aber es werden nicht nur die Fähigkeiten der Künstler des Königreiches von Benin angezweifelt. Es wird auch verkündet, man müsse die Benin-Bronzen nach Europa bringen und damit “retten”. Würden sie vor Ort in Westafrika bleiben, wären sie bald zerstört und damit Kunst von Weltrang unwiederbringlich verloren. Eine Sichtweise, die überheblicher kaum sein könnte.
SPRECHERIN
Dass die Benin-Bronzen tatsächlich vor Ort hergestellt wurden, wird inzwischen von niemandem mehr angezweifelt. Die Kunst der Bronze-Guss-Technik wird bis heute in Benin-City in Handwerkerfamilien von Generation zu Generation weitergegeben.
SPRECHER
Während die Herstellung der Benin-Bronzen also sehr konkret beschrieben werden kann, ist die Antwort auf eine andere Frage komplexer - nämlich warum die Kunstwerke geschaffen wurden.
SPRECHERIN
Dies ist eines der Schwerpunkte in der Forschung von Oluwatoyin Sogbesan. Die Kulturhistorikerin möchte dabei zuerst ein Missverständnis aufklären.
ZUSPIELUNG (8 Toyin – mehr als Kunst)
Overvoice weiblich
Was oft als afrikanische Kunst bezeichnet wird, sind eigentlich Objekte, die eine wichtige Funktion haben. Sie werden genutzt für rituelle Zeremonien, für traditionelle Verehrung. Für die Menschen in Benin waren Sie ein Zeichen für die Macht des Oba, des Königs. Sie waren heilig, weil sie die früheren Könige ehrten. Viele der Benin-Bronzen stellen einen verstorbenen Oba dar. Sie galten als ein Medium, durch das der amtierende Oba mit seinen Vorfahren kommunizieren konnte. [Auch deshalb mussten sie so hochwertig ausgearbeitet werden.] Nochmal: Die Benin-Bronzen waren viel mehr als nur Kunstwerke.
SPRECHERIN
Die Benin-Bronzen sollten also vor allem durch ihre prunkvolle Gestaltung die Macht des Oba, also des Herrschers über das Königreich von Benin, symbolisieren. Aber die Objekte hatten noch eine zweite Funktion. Denn während in europäischen Kulturen Ereignisse seit Jahrhunderten schriftlich festgehalten wurden, gab es diese Tradition in den meisten afrikanischen Gesellschaften nicht. Daher spielen die Benin-Bronzen eine besonders wichtige Rolle, vor allem die Reliefplatten.
ZUSPIELUNG (9 Toyin - historical recording)
Overvoice weiblich
Sie waren auch Objekte der Geschichtsschreibung. Das ist sozusagen die Art und Weise, wie Afrika schreibt. Jede Platte ist damit wie eine Seite in einem Geschichtsbuch. Man kann zum Beispiel Leoparden sehen, also Tiere mit denen die Menschen früher zu tun hatten. Die Benin-Bronzen waren also für die Menschen eine Möglichkeit, Ereignisse festzuhalten.
SPRECHER
Im Münchner Museum Fünf Kontinente erklärt Stefan Eisenhofer, der Kurator der Afrika-Abteilung, wie das konkret aussehen kann. Er zeigt im Ausstellungsraum einer dieser Bronzeplatten. Darauf sind unter anderem portugiesische Seefahrer zu sehen.
ZUSPIELUNG 10 (Eisenhofer Portugiesen)
Die Portugiesen erkennt man an diesen geraden Haaren, an diesen Schnittlauchhaaren und den sehr geraden Nasen. Also Europäer wurden von den Gießen in Benin sehr stereotyp dargestellt. Lange, glatte Schnittlauchhaare und eben sehr spitze, lange Nasen, während sie die Einheimischen mit sehr breiten Nasen dargestellt haben. Sie sehen hier auch zwei Würdenträger dargestellt auf dieser Benin-Platte.
SPRECHERIN
Die Erforschung der Benin-Bronzen ist enorm kompliziert. Es ist nicht nur oft schwer zu deuten, was genau auf den Platten zu sehen ist oder wen ein Ahnenkopf darstellen soll - auch eine genaue Datierung ist meist nicht möglich, weil eben weitere Erklärungen oder schriftliche Ergänzungen fehlen. Es wird davon ausgegangen, dass die ältesten Bronzen aus dem 12. Jahrhundert stammen.
SPRECHER
Dass so wenig bekannt ist, liegt auch daran, dass die Briten 1897 den Palast des Oba weitgehend zerstörten und auch viele Würdenträger ermordeten. Diese gaben oft historisches Wissen mündlich an folgende Generationen weiter.
SPRECHERIN
Die Folge ist für Oluwatoyin Sogbesan eine Wissenslücke zwischen den Generationen - bis heute.
ZUSPIELUNG 12 (Toyin - Gap)
Ohne Overvoice
SPRECHERIN
Gerade weil die Benin-Bronzen so zentral sind für die Geschichtsschreibung eines ganzen Volkes und damit auch für dessen Identität, wurde der Raubzug zu einem zentralen Beispiel für koloniales Unrecht. Die Debatten um eine Restitution, also die Rückgabe, wird international verfolgt.
SPRECHER
Ein Rückblick: In den 1930er Jahren fordert der Hof von Benin erstmals offiziell von der britischen Krone die Rückgabe der Kulturgüter. Der Erfolg ist gering. Doch der Wunsch bleibt bestehen. 1960 wird Nigeria 1960 unabhängig von Großbritannien. Das Königreich von Benin ist nun Teil dieses neuen Staates. Der traditionelle Herrscher, der Oba, übt wieder großen Einfluss aus.
SPRECHERIN
1972 wird in Benin-City ein Museum geplant, in dem auch Benin-Bronzen ausgestellt werden sollen. Nigerianische Diplomaten bitten darum, einige Stücke als Dauerleihgaben aus Deutschland zu bekommen. Sie stützen sich damals auf den Internationalen Museumsrat. Das Gremium hat empfohlen, geraubte Kulturgüter den noch jungen afrikanischen Staaten zurückzugeben. So soll ihnen ein besserer Zugang zur eigenen Kultur ermöglicht werden.
SPRECHER
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin lehnt die Anfrage aus Nigeria damals allerdings umgehend ab. Sie besitzt die zweitgrößte Sammlung von Benin-Bronzen weltweit. Das Land habe keinen „moralischen Anspruch“ auf die Objekte und die Erwerbungen der Berliner Museen seien “von jedem Makel frei”.
SPRECHERIN
An dieser Haltung wird sich in den folgenden Jahren wenig ändern. Es entsteht das, was die Kunsthistorikerin Benedicte Savoy eine “Sperrmauer der Institutionen” nennt. Währenddessen blüht der internationale Markt für die Benin-Bronzen weiter.
SPRECHER
Noch 2007 ersteigert ein privater Bieter beim Auktionshaus Sotheby`s einen bronzenen Kopf aus Benin für fast fünf Millionen Dollar. Eine Versteigerung ähnlicher Stücke einige Jahre später muss dann allerdings gestoppt werden. Die öffentliche Kritik ist zu groß geworden.
SPRECHERIN
Auch auf Ebene der Wissenschaft tut sich etwas. 2010 wird in Deutschland die Benin-Dialogue-Group gegründet. Es geht um eine engere Zusammenarbeit zwischen deutschen, britischen oder niederländischen Museen, die Benin-Bronzen besitzen, und Einrichtungen in Nigeria. Die Restitution ist dabei erstmal kein Thema. Stattdessen soll der Austausch von Informationen zu Sammlungen oder einzelnen Objekten intensiviert werden.
SPRECHER
Nach und nach tritt auch die nigerianische Seite deutlicher auf. Sie bittet nicht mehr. Oluwatoyin Sogbesan und andere fordern die Rückgabe mit Nachdruck ein.
ZUSPIELUNG 14 (Toyin Fliegen)
Overvoice weiblich
Menschen machen sich von Nigeria aus auf den Weg, um die Benin-Bronzen in Museen überall in der Welt zu sehen. Warum können nicht Menschen aus aller Welt nach Nigeria reisen? Ihr könnt ja Kopien haben. Und wenn ihr das Original sehen wollt, dann müsst ihr eben nach Nigeria kommen. Lasst uns den Spieß umdrehen!
SPRECHERIN
Eine Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron Ende 2017 beschleunigt dann die Entwicklung. In seiner fast zweistündigen Rede vor Studierenden in Burkina Faso verkündet er ein Umdenken:
ZUSPIELUNG 15 (Rede Macron)
Overvoice männlich
Ich kann nicht hinnehmen, dass sich ein Großteil des kulturellen Erbes vieler afrikanischer Staaten in Frankreich befindet. Es gibt historische Erklärungen dafür, aber keine wirkliche Rechtfertigung. Das Erbe Afrika darf nicht nur in privaten Sammlungen und europäischen Museen zu finden sein.
SPRECHER
Damit kündigt Macron wohl so deutlich wie kein anderer europäischer Staatschef vor ihm die Rückgabe von Kulturgütern an. Ein Schritt, der auch Museen und Politik in Deutschland unter Druck setzt. Wie soll man weiter mit den Benin-Bronzen umgehen?
SPRECHERIN
Zur Erinnerung: Jahrzehntelang waren Forderungen aus Nigeria nicht ernst genommen und abgelehnt worden. Anfang der 1970er Jahre hieß es noch, Nigeria habe keinen Anspruch auf die Benin-Bronzen. Auf einmal geht es dann schnell: Im Juli 2022 unterzeichnen die deutsche Bundesregierung und die Regierung Nigerias eine gemeinsame Erklärung. Darin heißt es gleich am Anfang:
ZITATOR
Wir bekräftigen das Ziel, die Benin-Bronzen ohne Bedingungen an Nigeria zurückzugeben.
SPRECHER
Und wenige Monate später werden in Nigeria die ersten Objekte feierlich übergeben. Mehrere hundert weitere sollen folgen. Teilweise sollen aber auch Bronzen als Dauerleihgaben in deutschen Museen bleiben - mit dem Hinweis auf die neuen Eigentümer. In allen Erklärungen und Vereinbarungen schwingt die Hoffnung mit, dass mit diesen Regelungen die jahrzehntelangen Debatten beendet werden können.
SPRECHERIN
Aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Innerhalb Nigerias entwickelt sich eine neue Kontroverse um die Benin-Bronzen. Wem sollen sie gehören? Wer soll sich um die Aufbewahrung und Ausstellung kümmern? Und da wird es kompliziert. Dem Staat Nigeria wurden die Bronzen offiziell übergeben. Aber auch der amtierende Oba, der traditionelle Herrscher über das Königreich von Benin, hat Ansprüche angemeldet.
SPRECHER
Mit Erfolg: Der frühere nigerianische Staatspräsident Buhari hat die Bronzen inzwischen dem Oba übergeben. Die Begründung: Er sei der rechtmäßige Eigentümer, weil seine Vorgänger die meisten Werke in Auftrag gegeben und im Königspalast aufgestellt hatten. Allerdings ist die Sorge vieler Beobachter, dass die Bronzen nun dort verschwinden und nicht mehr in einem öffentlichen Museum gezeigt würden. So war es eigentlich geplant.
SPRECHERIN
Und eine weitere Partei hat sich eingeschaltet. Denn ein weiterer Aspekt gehört zu den Benin-Bronzen: Ihre Herstellung wurde auch durch einen florierenden Sklavenhandel finanziert. Dieser wiederum wurde vom Königshaus von Benin durch aggressive Eroberungskriege am Laufen gehalten. Die Nachfahren dieser Sklaven bezeichnen die Benin-Bronzen deshalb als “Blut-Metalle” und kritisieren die pauschale Rückgabe an Nigeria. Sie sehen die Kunstwerke auch als Teil des eigenen kulturellen Erbes und möchten mitbestimmen, was mit ihnen passiert.
SPRECHER
Stefan Eisenhofer vom Münchner Museum Fünf Kontinente wirbt für, eine ruhige Auseinandersetzung.
ZUSPIELUNG 16 (Eisenhofer überhastet)
Also ich würde allen Parteien eigentlich wünschen, dass man sich nicht von der Politik her treiben lässt, wie das zum Teil im Moment so der Fall ist. Also ich würde mir wünschen, dass man sich viel mehr Zeit nimmt, um Gespräche zu führen mit unterschiedlichen Akteuren in Nigeria, auch um um einfach , ja, zu sehen, die angemessenste Lösungen zu finden, wie man damit umgeht, also so, wie es im Moment so stattfindet, möglichst schnell zurückgeben, um irgendwie Schuld gutzumachen. Und dann haben wir unsere Ruhe - also das ist in meiner Sicht nicht der richtige Weg.
SPRECHERIN
Oluwatoyin Sogbesan warnt allerdings vor einer weiteren Einmischung. Sie betont, dass die Rückgabe bedingungslos erfolgt sei. Was mit den Bronzen weiter passiere, sei allein eine Angelegenheit Nigerias.
ZUSPIELUNG 17 (Toyin in dein Haus kommen)
Overvoice weiblich
Es ist, als würde ich in dein Haus kommen, ohne zu fragen, die Tür öffnen und dann sage ich, was du mit deinen eigenen Sachen machen sollst. Die Debatte ist zum Teil immer noch nicht an einem Punkt angelangt, wo wir eine gemeinsame Grundlage haben.
SPRECHER
Es sind also trotz jahrzehntelangen Debatten immer noch zentrale Aspekte ungeklärt. Ein Rätsel konnte aber gelöst werden - mit überraschendem Ergebnis. Es ging dabei um die Frage, woher das Metall kam, das für den Guss der Benin-Bronzen verwendet wurde. Schon länger war vermutet worden, dass es aus einer einzigen Region stammt.
SPRECHERIN
Wissenschaftler aus Bochum konnten das bestätigen und mit chemischen Analysen nachweisen, dass das Metall für die Benin-Bronzen vor allem aus Deutschland stammt. Genauer aus der Region zwischen Köln und Aachen. Das Messing, das dort hergestellt wurde, war vor allem wegen seiner besonderen Fließfähigkeit begehrt bei Gießern in Benin.
SPRECHER
Auch wenn die Benin-Bronzen damit eine deutlich größere Verbindung zu Deutschland haben als lange bekannt war - die Restitutionsdebatte verändert die Erkenntnis nicht. Denn ein legitimer Anspruch auf die Kunstgüter lässt sich daraus nicht ableiten.
Wie kaum ein anderer hat der englische Kinderarzt und Analytiker Donald Winnicott die Pädagogik geprägt. Er war ein Pionier in der Mutter- Kind- Forschung. Seine Sendungen in der BBC, in denen er fachkundig und einfühlsam Mütter beriet, hatten Kultstatus. (BR 2021) Autorin: Valerie von Kittlitz
Credits
Autorin dieser Folge: Valerie von Kittlitz
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Stefan Merki, Rahel Comtesse
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Thomas Auchter (Psychoanalytiker);
Lesley Caldwell (Psychoanalytikerin)
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
O-Ton 01 (Winnicott, alleinstehend) (00’16)
The only true basis for a relation of a child to mother and father and to other children and eventually to society, is the first successful relationship between the mother and baby.
Musik: Z8014761141 Playing children 0’15
Sprecherin 1
Ein Kind erblickt das Licht der Welt. Wie es sich zu anderen verhalten wird, das hängt vor allem von einem ab, sagt Donald Winnicott: Von der Beziehung zur Mutter in den ersten Lebensmonaten.
O-Ton 02 (Caldwell) (00’21)
What are relationships between parents and children about? What does it mean to think about an internal world in the place of the child? When does that develop? All those sorts of really interesting questions that we’re still working on are there in the 30s and 40s.
Sprecherin 2 (Caldwell unterlegen)
Worum geht es in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern? Was wissen wir über die innere Welt eines Kindes? Wie entwickelt sich die? All diese wirklich interessanten Fragen, die uns bis heute beschäftigen, kamen in den 30er und 40er Jahren auf.
Sprecherin 1
Die britische Psychoanalytikerin Lesley Caldwell hat die gesammelten Werke von Winnicott herausgegeben. Auch ihr deutscher Kollege Thomas Auchter hat sich intensiv mit ihm beschäftigt.
O-Ton 03 (Auchter) (00’28)
Das heißt zu einer Zeit, erstens zur Nazizeit, zweitens zur Kriegszeit, und dann zu einer Zeit wo vielleicht nicht nur bei uns in Deutschland eine sehr autoritäre Erziehung geherrscht hat, wo es darum ging, dass die Kinder brav und anständig sind und wo es nicht darum ging, dass die Kinder in ihrem Ich oder ihrem Selbst möglichst lebendig werden.
Musik: Z8029880107 Premium 0‘31
Sprecherin 1
Ein lebendiges, authentisches Selbst. Einer der Kernpunkte in seiner Theorie. Donald Woods Winnicott gilt als einer der bedeutendsten Psychoanalytiker. Allerdings werden seine Werke erst nach seinem Tod auch außerhalb Englands wirklich bekannt. Da hatten andere seine Ideen zu antiautoritärer Erziehung längst aufgegriffen. Winnicott war also ein Vorreiter, sein Ideenreichtum wird oft mit Sigmund Freuds verglichen. Anders als Freud konzentrierte er sich auf die ersten Lebensmonate – auf die Beziehung zwischen Mutter und Kind.
Sprecher 3 Winnicott
„Das Baby“ - das gibt es doch gar nicht! Wenn Sie mir ein Baby zeigen, zeigen sie mir immer auch die Person, die sich um es kümmert. Ein aufeinander bezogenes Paar.
Sprecherin 1
So entschieden unterbrach Winnicott einmal eine Diskussion unter Kollegen im Krankenhaus. Viele seiner psychoanalytischen Theorien speisten sich aus seinen Beobachtungen als Kinderarzt.
Musik: Z8034319107 Creative ideas 0‘9
Sprecher 3 Winnicott (Hintergrund)
Die hinreichend gute Mutter.
Die haltende Umgebung.
Das wahre und das falsche Selbst.
Sprecherin1
Winnicott hatte ein Ziel: Die Psychoanalyse in einfachen, verständlichen Worten zu vermitteln – und zwar möglichst vielen. Das gelang ihm nicht zuletzt durch seine lebhaften und empathischen Vorträge im Radio der BBC.
O-Ton 04 (Winnicott) 00’15
You’ll be relieved to know that I am not going to tell you what to do. I’m a man, and so I can never really know what it is like to see wrapped up over there in the cot a bit of my own self.
Sprecher 3 Winnicott
Es wird Sie erleichtern zu hören, dass ich Ihnen keine Anweisungen geben werde. Ich bin ein Mann – ich werde nie genau wissen, wie es sich anfühlt, ein Baby in der Wiege liegen zu sehen, dass einmal Teil von mir war.
Musik: Z8034755101 Bright ideas 0‘30
Sprecherin 1
Winnicott war bekannt für seinen Humor. Spontaneität und Lebendigkeit waren ihm wichtig. Ein Ziel der Psychoanalyse sah er darin, dass die Patientin oder der Patient die Fähigkeit wieder entdecke, sich selbst zu überraschen.
Sein letztes großes Ziel kritzelte er in ein Notizbuch.
Sprecher 3 Winnicott
„Oh Gott, lass mich lebendig sein, wenn ich sterbe!“
Atmo: Krankenhaus 0‘16
Sprecherin 1
Ein langer Krankenhausflur im Londoner Paddington Hospital. Der 27-jährige Winnicott arbeitet hier als Kinderarzt. Vor seinem Sprechzimmer warten Mütter mit ihren Babys.
O-Ton 05 Winnicott
I’m used to having mothers bring their children to me. And when this happens, we see what we want to talk about right before our eyes. The child is jumping about on the mother’s knee, reaching out for things on my desk, climbing down onto the floor...
Sprecher 3 Winnicott
Wenn die Mütter mit ihren Kindern kommen, wird gleich deutlich, worum es geht. Das Kind zappelt auf dem Schoß der Mutter herum, will nach etwas greifen, herunterklettern. Vielleicht klammert es sich auch an ihr fest und hat Angst vorm Arzt im weißen Kittel! – Es ist tatsächlich von großer Bedeutung, wie ein Baby gehalten wird. Es gibt Menschen, die als Babys sozusagen niemals „fallengelassen“ wurden und daher die besten Chancen haben, sich am Leben zu freuen.
Sprecherin 1
Ein zentraler Begriff, den Winnicott prägt, ist „Holding Environment” –eine „haltende Umgebung“. Das ist zuerst der Mutterleib. Außerhalb von ihm fühlt sich alles weit und grenzenlos an. Deswegen ist das Halten so wichtig.
O-Ton 06 Auchter (00’24)
Ich hab dafür ein schönes Beispiel, wo er schreibt, „Das Baby ist ein Bauch, der lose Gliedmaßen, vor allem aber einen losen Kopf hat. Alle diese Teile werden von der Mutter zusammengefasst, und in ihren Händen werden sie zu einer Einheit.“
Sprecherin 1
Der Aachener Psychoanalytiker Thomas Auchter schätzt Winnicott für seine lebhaften Beschreibungen und sein Einfühlungsvermögen. Wie kann man sich die Wahrnehmung eines Neugeborenen vorstellen? Vielleicht so: Es muss erstmal lernen, dass es nicht mehr in der Mutter lebt, sondern im eigenen Körper. Und dabei hilft sie ihm.
O-Ton 07 Auchter (00’17)
Oder die mütterliche Bezugsperson, es muss ja nicht immer die Mutter sein; er nennt das an anderer Stelle das „Einhausen der Seele in den Körper“, ich finde das eine sehr schöne Formulierung, dass das erst ein Produkt der guten, hilfreichen Beziehung zwischen Mutter und Kind ist.
Musik: Z8014761106 Political efforts red. 0‘42
Sprecherin 1
Winnicott entwickelt seine Theorien zu einer Zeit, in der teilweise sehr rigide Methoden propagiert werden. In Deutschland kursiert der nationalsozialistische Ratgeber “Die deutsche Mutter und ihr Kind” von Johanna Haarer - bis 1987. Die Kinderärztin empfiehlt strikt, jegliche Zärtlichkeit zu unterbinden um Kinder nicht zu verwöhnen. In England liest man Frederic Truby King, der schreibt in seinen Bestsellern, ein Baby müsse von Anfang an zu ganz regelmäßigen Zeiten gefüttert werden. Winnicott sieht das völlig anders:
O-Ton 08 Winnicott (Original) (00’20)
Babies are not born with an alarm clock hanging around their necks with instructions: Feed three-hourly. A baby doesn’t necessarily start off wanting a regular feed. In fact I think that what an infant expects to find is a breast that comes when it’s wanted and disappears when it’s not wanted.
Sprecher 3 Winnicott (Original unterlegen)
Ein Baby kommt nicht mit einem Wecker um den Hals zur Welt und einer Bedienungsanleitung: Alle drei Stunden füttern. Vor allem am Anfang, denke ich, erwartet ein Säugling, dass ihm die Brust gegeben wird, wenn er sie will, und sie verschwindet wenn er sie nicht mehr will.
Sprecherin 1
Ein gewisses Omnipotenzgefühl gehört am Anfang dazu. Die Mutter hinter der Brust, die erkennt das Baby erst nach und nach. Es taucht aus seiner verschwommenen Welt auf und beginnt, einen Bezug zu ihr zu entwickeln – und mit dem Bezug zu ihr auch einen zu sich. Ein Selbst, wie Winnicott es nennt. Dazu gehören auch aggressive Impulse, dass es zum Beispiel mal beißt. Dahinter stecken aber keine bösen Intentionen. Und hier ist die Reaktion der Mutter entscheidend.
O-Ton 09 Auchter (00’48)
Winnicott sagt an einer Stelle, die Mutter darf sich nicht rächen, sondern muss es so sehen: Das passiert, das gehört zur normalen Entwicklung dazu. Und in dem Maße in dem sie böse oder destruktiv reagiert, kriegt das Kind ein Bild von sich, „Oh, was hab ich gemacht, wie schrecklich, wie böse bin ich!“ Weil es ja alles so grenzenlos ist, jetzt habe ich die Mutter umgebracht, jetzt habe ich sie getötet. Furchtbar! Und wenn das Kind dann erleben kann, ok – ich hab diese Impulse gehabt, aber die Mutter kommt zwei Minuten später und reicht mir die Brust, dann wird diese Aggression eingedämmt, sie wird eingegrenzt.
Sprecherin1
Das ist ganz wichtig. Denn wenn die Mutter wiederholt überreagiert, kann sich im Baby ein „falsches Selbst“ entwickeln, wie Winnicott es nennt. In anderen Worten, es passt sich den Reaktionen, den Ansprüchen und Vorstellungen der Mutter an. Sein authentisches, oder wahres Selbst wird dadurch verzerrt. Zu einem gewissen Grad, sagt der Kinderarzt, ist das normal. Keine Mutter ist perfekt. The Good Enough Mother - die hinreichend gute Mutter. Das ist ein Schlüsselbegriff in Winnicotts Theorie.
Er erkennt an, dass eine Mutter ihrem Kind und ihrer Aufgabe gegenüber auch mal gemischte Gefühle hat. Ein Thema, das bis heute hochaktuell ist. Winnicott diskutiert es mit Müttern in der BBC schon 1960.
O-Ton 10 Winnicott (Original) 00’14
It’s only too easy to idealize a mother’s job. We know very well that every job has its frustrations and its boring routines, and at times being the last thing anyone would choose to do.
Sprecher 3 Winnicott (Original unterlegen)
Es ist allzu leicht, die Arbeit einer Mutter zu idealisieren. Jeder Job kann frustrierend sein, und langweilige Routinen haben, und sich anfühlen wie das Letzte, was irgendwer machen wollen würde.
Musik: Z8033060101 Ice investigator 0‘25
O-Ton 11 Auchter 00‘29
Wie bei allen Menschen, allen Wissenschaftlern die was schreiben oder so, hat das, womit sie sich zentral beschäftigen auch sehr viel mit ihrer Entwicklungsgeschichte zu tun. Und es ist ja nun ganz klar, dass Winnicott die Mütterlichkeit ins Zentrum seiner Arbeit gestellt hat. Der Vater taucht vergleichsweise sehr viel weniger auf.
Atmo: Meer 0‘20
Musik: C1490150018 Valse enigmatique 0‘57
Sprecherin 1
Die südenglische Hafenstadt Plymouth, im Jahr 1896. Donald Woods Winnicott wird in eine gutbürgerliche, protestantische, wohlhabende Familie geboren. Der Vater ist Geschäftsmann, politisch aktiv, und viel außer Haus. Der junge Donald zieht sich zurück in den Garten, macht seine Schulaufgaben auf einem Baum. Er schreibt später, dass er sich wie ein Einzelkind mit mehreren Müttern fühlt: zwei Schwestern, über fünf Jahre älter als er, einem Kindermädchen, einer Gouvernante – und seiner eigenen Mutter. Eine schattenhafte Figur. Mit 67 schreibt Winnicott ein Gedicht über sie. Eine Mutter weint, unter einem Baum.
Sprecher 3 Winnicott (Auchter nach hinten untermischen)
Ich lernte, sie zum Lachen zu bringen. Mein Leben war, sie zu beleben.
O-Ton 12 (Ende) Auchter 00’20
…to enliven her was my living.
Der Psychoanalytiker André Krien hat einmal von der toten Mutter gesprochen, und tote Mutter heißt nicht, dass die Mutter nicht da ist, sondern dass die Mutter da ist aber nicht lebendig für ihr Kind da ist. Und so etwas hat Winnicott glaube ich mit seiner Mutter erlebt, und man weiß fast nichts über sie!
Sprecherin 1
Über den Vater schreibt Winnicott dafür umso ausführlicher. Meistens voller Verständnis; egal, wie roh er ihm gegenüber war. Regelmäßig singt der Vater z.B. vor seinem dreijährigen Sohn Donald ein Lied, mit hämischer Stimme. Über eine Wachspuppe, die den Schwestern gehört und Rosie heißt.
Sprecher 3 Winnicott
“Rosie sagt zu Donald - Ich liebe dich. Donald sagt zu Rosie - Ich glaube dir nicht.” Vielleicht ging das Lied auch andersherum, ich weiß es nicht mehr. Ich nahm jedenfalls meinen Krocketschläger und schlug der Puppe die Wachsnase platt. Mein Vater nahm Streichhölzer, erwärmte ihr die Nase und machte wieder ein Gesicht daraus. Ich war sehr beeindruckt von ihm.
Sprecherin 1
Obwohl sich Winnicott in seinen privaten Aufzeichnungen so viel mit dem Vater beschäftigt - in seinen Theorien klammert er die Väter weitestgehend aus. Kritiker werfen ihm vor, die ödipale Beziehung, also das Dreiecksgeflecht zwischen Mutter, Vater und Kind, zu stark außer Acht zu lassen. In zwei langen Psychoanalysen setzt sich Winnicott mit der eigenen Kindheit auseinander. Er entdeckt seine Lebendigkeit – sein wahres Selbst – aber die Vaterrolle kritisch zu betrachten wird ihm nie ganz gelingen.
Musik: Z8019017133 Nocturnal research 0‘40
Sprecherin 1
Immerhin setzt er sich vor ihm durch mit seinem Wunsch, Arzt zu werden. Während des Studiums liest er Freuds „Traumdeutung“ – und ist begeistert. Die Kinderheilkunde mit der Psychoanalyse zu verbinden, das wird sein Ziel.
Sprecher 3 Winnicott
Ich bin absolut dafür, dass man objektiv bleibt und die Dinge klar untersucht und sorgfältig abhandelt; aber ich bin dagegen, dass man deswegen langweilig wird, und die Fantasie – die unbewusste Fantasie – aus dem Spiel lässt. –
Wenn ich nicht Arzt geworden wäre, dann wahrscheinlich Kabarettist!!
Atmo: Bomben / Krieg 0‘39
Sprecherin 1
1940: während des zweiten Weltkriegs bombardiert die deutsche Luftwaffe England und plant die Invasion der Insel. Die Britische Psychoanalytische Gesellschaft tagt in London, als ein Angriff beginnt. Die Teilnehmer sitzen im Saal, als im Minutentakt Bomben zu fallen beginnen. Man duckt sich, aber die Diskussion wird fortgeführt. Nur einer erhebt sich: Winnicott.
Sprecher3 Winnicott
Ich möchte darauf hinweisen, dass ein Luftangriff im Gange ist.
Sprecherin 1
Die Szene ist typisch für ihn: Während andere sich in Debatten verlieren, bewahrt Winnicott den Bezug zur Realität. Die Britische Psychoanalytische Gesellschaft ist zu dieser Zeit tief gespalten:
Eine Gruppe fühlt sich Anna Freud verbunden, der Tochter von Sigmund Freud. Die andere Melanie Klein - einer der prägendsten Figuren in der Geschichte der Psychoanalyse.
O-Ton 13 (Auchter) 00’19
Da hat Winnicott das Gefühl gehabt, da kommt eine interessante, eine liberale Analytikerin. Und es ist dann so, dass Melanie Klein in seinem Erleben, und ich denke das teilen andere auch, immer rigider und immer dogmatischer geworden ist.
Musik: Z8019016121 Research aktivity 0‘43
Sprecherin 1
Ein Streit entbrennt. Anna Freud ist überzeugt, dass die äußeren Umstände entscheiden für die Entwicklung des Kleinkinds sind. Melanie Klein hingegen meint, dass es angeborene innere Muster sind, die das Baby prägen. Winnicott sieht beide Faktoren im Zusammenspiel: die Umwelt beeinflusst das Innere erleben und umgekehrt. Das deckt sich auch mit seinen Erfahrungen als Arzt. Er versucht im Streit zu vermitteln, aber die Fronten haben sich verhärtet. Also schließt er sich der “Middle Group” an – einer Gruppe von Psychoanalytikern, die sich als unabhängig deklarieren.
Winnicott geht es immer wieder um Unabhängigkeit. Um Dynamik. Während viele seiner Kolleginnen und Kollegen bei ihren Patienten von “Haltung” oder “Disposition” sprechen, ist ihm das zu starr, er nutzt lieber das Wort “Fähigkeit”. Einer seiner bedeutendsten Essays heißt “Die Fähigkeit, Allein zu sein.” Und im Grunde geht es ihm genau darum auch bei der hinreichend guten Mutter: Dass sie ihr Kind hält und ihm trotzdem Raum gibt. Es auch mal in Ruhe lässt.
O-Ton 14 Winnicott (00’30)
I’ve known mothers whose enjoyment of their motherhood was somehow spoilt by the fact that they felt somehow responsible for the aliveness of the baby.
If the baby was sullen, they would play about and poke his face, trying to produce a smile which of course meant nothing to the infant, it was just a reaction. Some children are never allowed even at earliest infancy just to lie back and float. They lose a great deal.
Sprecher 3 Winnicott
Ich kenne Mütter, die ihre Mutterschaft weniger genossen haben, weil sie das Gefühl hatten, irgendwie verantwortlich dafür zu sein, dass ihr Kind lebendig ist. Wenn das Kind still war, haben sie ihm in die Backe gepiekst, so dass es lachte. Dem Kind bedeutet das natürlich gar nichts, es war bloß eine Reaktion. – Manchen Kindern wird, selbst wenn sie ganz klein sind, nicht erlaubt einfach mal da zu liegen und sich treiben zu lassen. Ihnen entgeht einiges.
Sprecherin 1
Bei einem seiner Vorträge Anfang der 40er Jahre werden zwei Redakteurinnen der BBC auf Winnicott aufmerksam. So beginnt seine Tätigkeit für’s Radio, die über 15 Jahre dauert. Wegen seiner weichen Stimme halten ihn viele anfangs für eine Frau. Er ist beliebt, bekommt säckeweise Leserbriefe. Vielleicht, weil es Ratgeber zuhauf gibt, Erklärungen wie seine dafür weniger.
O-Ton 15 Winnicott 00’20
…this time he is a bundle of discontent. A human being to be sure, but one who has raging lions and tigers inside him. He is almost certainly scared by his own feelings. If no-one has explained all this to you, you may become scared, too.
Sprecher 3 Winnicott
Und plötzlich ist ihr Baby ganz unzufrieden. Ein Mensch, sicher, aber einer mit brüllenden Löwen und Tigern in sich. Das Baby erschrickt ziemlich sicher vor seinen eigenen Gefühlen. Und wenn Ihnen das niemand erklärt hat, bekommen Sie vielleicht auch Angst!
O-Ton 16 Caldwell (00’24)
If you listen to the BBC broadcasts, you have to get over the accent, which puts Winnicott in a particular class position. People might find that off-putting. They’re outdated in one way, in another, they’re sympathetic.
Sprecherin 2 Caldwell
Wenn man sich die BBC Sendungen anhört heutzutage muss man erstmal über seinen Akzent hinwegkommen. Er klingt schon sehr nach Upper Class. Das mag einige nerven. Die Beiträge wirken etwas altmodisch, aber auch sympathisch.
Sprecherin 1
Und dennoch erstaunlich modern. Winnicott ist Realist, der nichts idealisiert.
O-Ton 17 Winnicott (Original) (00’25)
A woman’s life changes in many ways when she conceives a child. Up to this point she may have been a person of wide interests, perhaps in business. Or a keen politician. She may have tended to despise the relatively restrictive lives of friends who’ve had a child, even making rude remarks about their resemblance to vegetables.
Sprecher 3 Winnicott
Das Leben einer Frau verändert sich in vielerlei Hinsicht wenn sie ein Kind erwartet. Sie mag bis dahin zahlreiche Interessen gehabt haben, eine Unternehmerin gewesen sein oder politisch involviert. Vielleicht hat sie verächtlich auf das relativ eingeschränkte Leben von Freunden mit Kindern geschaut, oder sogar grobe Bemerkungen gemacht – sie würden Gemüse ähneln.
Musik: Z8014761114 Foreboding of war 0‘40
Sprecherin 1
Die Kriegsjahre zerreißen Familien und setzen sie neu zusammen. 1939 beginnt die britische Regierung mit ihrem Evakuierungsprogramm: In nur zwei Tagen werden über 1,5 Millionen Kinder in ländliche Gebiete geschickt, um sie vor den Bombenangriffen in Sicherheit zu bringen. Winnicott wird psychiatrischer Berater dieses Programms. Auf der einen Seite ist er strikt dagegen, Kinder von ihren Eltern zu trennen. Auf der anderen Seite hat man keine Wahl. Trotzdem beobachtet er in vielen Kindern nach der Evakuierung antisoziale Tendenzen.
O-Ton 18 (Caldwell) (00’26)
The impact of the evacuation program depended a great deal, and Winnicott wrote about this and emphasized it, on what kind of homes, what kinds of families, the children came from, and what homes, families and institutions they went to. And of course he did the work with Clare Britton, who then became Clare Winnicott, his second wife.
Sprecherin 2 Caldwell
Die Folgen dieser Evakuierung, und darüber hat Winnicott ausführlich geschrieben, hingen davon ab, aus was für einem Umfeld die Kinder kamen, und in was für Familien oder Institutionen sie geschickt wurden. Und natürlich hat er diese Arbeit zusammen mit Clare Britton gemacht, die dann seine zweite Frau wurde.
Sprecherin 1
Clare Britton, eine Sozialarbeiterin im Evakuierungsprogramm, wird einen erheblichen Beitrag zu Winnicotts Arbeit leisten. 1948 stirbt sein Vater. Winnicott erleidet den ersten von mehreren Herzinfarkten. Gleichzeitig fühlt er sich befreit von einer strengen Instanz. Er bittet seine erste Frau Alice, mit der er fünfundzwanzig Jahre zusammen war, um die Scheidung, und heiratet Clare. Die beiden arbeiten bis an ihr Lebensende zusammen.
Pause
Musik: Z8014761135 Pensive pondering red 0‘28
1971 stirbt Winnicott an einem weiteren Herzinfarkt. Es ist Clare zu verdanken, dass viele seiner Schriften posthum veröffentlicht werden. Winnicotts Werk spiegelt seine optimistische Art: Er beschreibt Delinquenz als Zeichen von Hoffnung auf Aufmerksamkeit. Krankheit als Schlüssel zur Erkenntnis.
O-Ton 19 (Auchter) (00’28)
Er weist darauf hin dass wir uns in der Vergangenheit in der Psychoanalyse viel zu sehr fixiert haben auf das Pathologische. Und ihm ist es wichtig, nicht zu sagen, dass ist ein Neurotiker, ein Psychotiker, schrecklich. Sondern ihm geht es darum zu verstehen warum ist jemand so wie er ist oder warum ist er geworden wie er ist, und welche Bedeutung das für denjenigen hat hervorzuheben.
O-Ton 20 (Caldwell) 00’26
His analytic work was inspiring, inspiring about human possibility really. The sense of an attention to the idea of people being alive and open is one of the things that he thinks analysis is about.
Sprecherin 2 Caldwell
Seine analytische Arbeit war inspirierend, wirklich inspirierend was unsere Möglichkeiten betrifft. Er hat daran geglaubt, dass es in einer Analyse darum geht, im Blick zu behalten dass Menschen lebendig und offen sind.
Musik: Z8014761138 Thinking of better times red 0‘53
Sprecherin 1
Und immer hatte er dabei den Anfang im Blick. Die ersten Momente einer wachsenden Beziehung.
O-Ton 21 (Winnicott) (00’37)
Even in the womb, your baby is a human being unlike any other human being. It is of course easy to read into the face of newborn babies things that are not there. Though to be sure a baby may look very wise at times, even philosophical. But if I were you, I shouldn’t wait until the psychologists have decided how human a baby is at birth. I should just go right ahead and get to know the little boy or girl. And let him get to know you.
Sprecher 3 Winnicott
Selbst im Bauch ist ihr Baby wie kein anderes Baby. Natürlich lässt sich ins Gesicht eines Neugeborenen leicht etwas hineininterpretieren. Und Babys können ja wirklich sehr weise aussehen, sogar philosophisch.
Ich würde an Ihrer Stelle jedenfalls nicht darauf warten, dass die Psychologen entscheiden, wie menschlich ein Baby bei der Geburt ist. Ich würde einfach gleich loslegen und den kleinen Jungen oder das kleine Mädchen kennenlernen. Und zusehen, dass es Sie kennenlernt.
Die Globalisierung hat dem Phänomen der Wanderarbeiter neuen Schwung verliehen. Aber die Wanderarbeiter sind kein neues Phänomen. Schon die Arbeiter, die im Alten Ägypten die Pyramiden bauten, kamen aus dem ganzen Land und lebten nur zeitweilig nahe der Baustelle. (BR 2021) Autorin: Susanne Hofmann
Credits
Autor/in dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Bürkle, Christian Schuler
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Willi Kulke, Historiker und Museumsleiter im LWL-Industriemuseum Ziegelei Lage;
Lars Petersen, Archäologe, Ägyptologe und Kurator im Badischen Landesmuseum
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER
Nach der sengenden Hitze des Tages legt sich die kühlende Nacht über das Land, diesen südlichsten Teil der ägyptischen Wüste. Beinahe lautlos gleitet das Boot des deutschen Ägyptologen Johannes Dümichen den Nil entlang, der Mond erhellt die zerklüfteten Felsen am Ufer in dieser Sommernacht des Jahres 1869. Fasziniert lässt der Reisende seinen Blick schweifen – und traut seinen Augen nicht:
ZITATOR
„War es Täuschung oder Wirklichkeit? … Wir kamen näher und ich konnte nun die Erscheinung in ihrer ganzen Grossartigkeit, konnte die riesenhafte Gestalt, wie die der anderen, ganz ebenso gebildeten neben ihr, deutlich übersehen, wie sie, mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, die Hand auf das Knie gestützt, in imposanter Ruhe dasassen und auf den Strom zu ihren Füssen herniederschauten.“
ERZÄHLERIN
Vier gigantische Statuen. Sie sitzen vor dem Felsentempel Ramses des Zweiten in Abu Simbel. Gut 20 Meter ragen sie in die Höhe. Ein Monument, das vom Selbstbewusstsein des Pharaos zeugt, der sich vor mehr als 3.000 Jahren in diesen Statuen verewigen ließ: Ramses der Große.
M Middle East Sunrise weg
Seine größte Errungenschaft ist jedoch nicht die Vielzahl imposanter Bauwerke, die er hinterlässt. Die Ägypter verdanken ihm eine nie dagewesene Blütezeit, ein halbes Jahrhundert in Wohlstand und Frieden.
ERZÄHLER
Denn Ramses gelingt die Aussöhnung mit den Erzfeinden Ägyptens, den Hethitern. Die Herrscher beider Länder schließen den ersten erhaltenen schriftlichen Friedensvertrag der Geschichte, und beide Höfe nehmen einen regen Austausch auf, schildert der Ägyptologe Lars Petersen. Er arbeitet am Badischen Landesmuseum in Karlsruhe.
1. ZUSPIELUNG Petersen (09:20)
„Man will dann ja auch sich weiterhin gut vertragen. Und dazu gehörten dann natürlich Prestigeobjekte und wertvolle Geschenke, die dann von beiden Seiten ausgetauscht worden sind.“
ERZÄHLERIN
Bei diesen diplomatischen Beziehungen spielt eine Personengruppe eine besondere Rolle: ägyptische Ärzte, die die damalige Welt in Erstaunen versetzen. Für Lars Petersen sind diese ägyptischen Ärzte die ersten Wanderarbeiter der Antike, von denen man sicher weiß. Wanderarbeiter - also Menschen, die, so die Definition des Duden, ihren „Arbeitsplatz weit entfernt von ihrem Wohnort aufsuchen“ müssen. Der Ägyptologe Lars Petersen:
2. ZUSPIELUNG Petersen (09:20)
„Weil diese ägyptischen Ärzte so bedeutend waren, hat dann der hethitische Herrscher darum gebeten, dass für eine Zeit die Ärzte zu ihm kommen, um da auch die Bevölkerung medizinisch zu versorgen - also die ganze Bevölkerung wahrscheinlich nicht – das ist dann der Königshof gewesen. Also die ägyptische Medizin war in der Zeit sehr, sehr fortschrittlich, man hatte erste chirurgische Eingriffe, die für die damalige Zeit, das ist ja 3.300 Jahre her, so bedeutend waren, dass sich die gesamte damalige Welt die Hände nach ihnen geleckt hat, um auch die an ihren Hof zu bekommen.“
ERZÄHLER
Allerdings dürfte die zeitweilige Betätigung am hethitischen Hof nicht wie bei den späteren und heutigen Wanderarbeitern aus ökonomischer Notwendigkeit erfolgt sein, so Petersen, sondern im Rahmen eines Austausches im Dienste der Diplomatie.
ERZÄHLERIN
Die ägyptischen Ärzte waren hoch spezialisiert, davon zeugen Papyrus-Quellen. Sie praktizierten beispielsweise als Augen-, Zahn- oder Ohrenärzte. Und Untersuchungen der erhaltenen Mumien mit den Mitteln der Endoskopie und der Computertomographie haben ergeben: Die ägyptischen Chirurgen konnten sogar Amputationen vornehmen und Prothesen einsetzen – eine Kunst, die in anderen Kulturen damals wahrscheinlich unbekannt war. Der Ägyptologe Petersen ist überzeugt, dass diese frühen Wanderarbeiter,
3. ZUSPIELUNG Petersen 12:04
„die Fachkräfte der damaligen Zeit dann natürlich ihre Techniken und ihr Wissen auch weitergegeben haben. Und so hat sich natürlich auch die gesamte antike Welt immer auch weiterentwickelt. … Für einen Ägypter war es sehr, sehr wichtig, von seiner Religion her, dass er wieder zurück kehrt nach Ägypten, … dass er, wenn er verstirbt, in der Erde Ägyptens nahe beim Nil bestattet wird … Deshalb wissen wir auch, dass diese ägyptischen Ärzte auch wieder zurück nach Ägypten kamen.“
M Moresca da gamba (a) C1601420112 Länge 0´31´´ unter:
ERZÄHLER
Ebenfalls im antiken Ägypten finden sich erste Spuren einer weiteren Gruppe historisch bedeutsamer Wanderarbeiter: Als Anfang des 19. Jahrhunderts europäische Abenteuerreisende die monumentalen Ramses-Statuen im ägyptischen Abu Simbel wiederentdecken, machen sie an den Figuren eine spannende Beobachtung. Lars Petersen:
4. ZUSPIELUNG Petersen 21:00
„Die waren ganz erstaunt, dass sie neben den ägyptischen Hieroglyphen auch griechische Inschriften gefunden haben, also keine offiziellen Inschriften, die wirklich gezielt in Stein gemeißelt waren, sondern wie heute, so Graffiti, also „I was here“.
ERZÄHLERIN
Die griechischen „Graffiti“ geben den Archäologen zunächst Rätsel auf. Wie haben sich Griechen nach Ägypten verirrt, mehrere Tausend Kilometer südlich ihrer Heimat?
5. ZUSPIELUNG Petersen 21:00
„Da haben sich griechische Söldner, die unter einem bestimmten Pharao tätig waren, nämlich dem Pharao Psammetich dem Zweiten im sechsten Jahrhundert, die haben sich da verewigt, und die haben dann quasi so aufgeschrieben ihren Namen und ihre Kompagnie und unter wem sie gedient haben. Die müssen da irgendwie eine Rast gehalten haben.“
ERZÄHLER
Griechische Söldner sind ab 600 vor Christus im östlichen Mittelmeerraum überaus gefragt – nicht nur bei den ägyptischen Herrschern. In der Region kommt es immer wieder zu militärischen Konflikten, gute Kämpfer sind gefragt. In den Quellen werden die griechischen Söldner „eherne Männer“ genannt, in Anspielung auf ihre Rüstung und ihre Waffen, die aus Eisen geschmiedet sind, so Lars Petersen:
6. ZUSPIELUNG Petersen 24:47
„Die waren sehr gut ausgebildet, aber auch ausgerüstet, und das war vor allem das, was man schätzte. Die kamen mit Sack und Pack, also die hatten ihre Rüstung, ihre selbstgeschmiedeten oder die sie sich haben fertigen lassen, die sie natürlich gut schützten. Sie hatten präzise, gute Waffen, die sie selbst verwendeten, und die einfach dann den Gegnern überlegen waren. … also das muss wohl so eine richtige Eliteeinheit gewesen sein, … vielleicht so etwas wie die französische Fremdenlegion, die bestimmte Aufgaben dann im Militärdienst in Ägypten übernommen haben.“
M Moresca da gamba (a) C1601420112 Länge 0´47´´ unter:
ERZÄHLERIN
Für ihre Dienste unter fremden Herrschern und in fremden Regionen werden diese frühen militärischen Wanderarbeiter fürstlich entlohnt. In Ägypten erhalten sie pures Gold. Dafür müssen sie allerdings auch fern der Heimat kämpfen, und manch einer muss in der Fremde auch sein Leben lassen.
ERZÄHLER
Daheim ist das Ansehen von Söldnern eher gering, sie gelten als Außenseiter, leben meist abseits der Polis. Aber oft sehen Männer keinen anderen Ausweg: Die Bevölkerung Griechenlands wächst und im gebirgigen Land werden die Lebensmittel knapp. Viele Männer müssen sich anderswo nach einer Lebensgrundlage umschauen und entscheiden sich oft für ein Leben als Söldner auf fremden Territorien.
M weg
M Arabesk C1601420116 Länge 0´31´´ unter:
ERZÄHLERIN
Im gleichen Zeitraum, um 500 vor Christus, sind andere frühe Wanderarbeiter dokumentiert: Im antiken Persien entsteht die heutige Weltkulturerbe-Stätte Persepolis, die Stadt der Perser. Eine riesige, prachtvolle Palast- und Tempel-Anlage. Erbauen ließen sie die persischen Großkönige, so Lars Petersen:
M weg
7. ZUSPIELUNG Petersen
„Die haben wirklich gezielt aus ihren neuen Provinzen oder Satrapien, so hieß es bei den Persern, haben die sich dann die interessanten Leute geholt. Also da gibt es …Quellen aus Persepolis, die dann sagen: Auf unserer Baustelle des Königspalastes haben 200 Ägypter und 200 Syrer gearbeitet… teilweise Namen und die Gehaltsforderungen und was die bekommen haben und was die auch gemacht haben - also das waren Steinmetze, das waren Holzhandwerker, also Schreiner, die auf diesen Baustellen dann auch gearbeitet haben, und dann wahrscheinlich auch wieder in die Regionen zurückgegangen sind, wo sie ursprünglich herkamen.“
ERZÄHLER
Auch für das römische Reich ist der Einsatz diverser Wanderarbeiter verbürgt. Insbesondere in der Landwirtschaft waren sie gang und gäbe. Zu Erntezeiten waren Kolonnen von Erntehelfern aus anderen Regionen für Großgrundbesitzer tätig, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
ERZÄHLERIN
Schon die frühen Wanderarbeiter kommen bei Tätigkeiten zum Einsatz, die besondere Kenntnisse und Fähigkeiten erfordern – und, wenn die heimische Bevölkerung nicht damit dienen kann oder will. Der Historiker Willi Kulke, der das Industriemuseum in Lage leitet, hat dem Phänomen der Wanderarbeit in Geschichte und Gegenwart eine Ausstellung gewidmet. Er ist davon überzeugt: Wanderarbeiter gab es schon immer.
8. ZUSPIELUNG Kulke 1:39
„Es gab immer schon Gegenden, in denen Mehrbedarf war an Arbeit, und wo weniger Bedarf war und Wanderarbeit ist ganz häufig auch davon bestimmt, dass die Arbeit nur saisonal anliegt. … in der Landwirtschaft gibt‘s ganz viele Bereiche, die nie existieren würden, … ohne dass Menschen aus Gegenden kommen, in der sie noch weniger verdienen und die deswegen ein Interesse daran haben, für einen bestimmten Zeitraum auch in der Fremde zu arbeiten.“
M En seumeillant NC079510114 Länge 0´49´´ unter:
ERZÄHLER
Gerade im Mittelalter gab es viele Handwerker, die davon lebten, mit ihrem Leiterwagen über Land von Ort zu Ort zu ziehen, um den Menschen ihre Dienste und Waren anzubieten. Viele waren gezwungen, längere Zeit auf der Straße zu leben, sie schliefen in Schuppen oder Unterständen. Liefen die Geschäfte schlecht, waren sie auf Almosen angewiesen. Kesselflicker, Bürstenbinder, Scherenschleifer, genauso wie etwa auch Hausierer – alle zählen zum fahrenden Volk. Viele von ihnen sind Juden, Sinti und Roma, die sich nicht in den Städten niederlassen dürfen und von den Zünften ausgeschlossen sind. Der Historiker Willi Kulke:
M weg
9. ZUSPIELUNG Kulke 12:12
„Das waren vor allen Dingen Berufe, die in der Menge in der Stadt nicht gebraucht wurden – so ein Kesselschmied, der konnte ein ganzes Jahr nicht davon in einer Stadt leben. Genauso wenig ein Scherenschleifer, … der zog durch ein bestimmtes Gebiet und war halt eins, zwei, vielleicht auch viermal im Jahr in den entsprechenden Dörfern für einen Tag oder zwei, verrichtete seine Arbeit, aber dann war das auch erledigt mit der Menge der Scheren und Messer, die entsprechend nachzuschleifen waren, und er zog weiter in den nächsten Ort nach. Also bei diesen Berufen ist es vor allen Dingen ein Gewerbe, bei dem die Nachfrage in den einzelnen Orten nicht so groß war, zum anderen aber auch eine gewisse Fachkenntnis notwendig war, um Messer, Scheren entsprechend richtig zu schleifen oder einen Kupferkessel also wirklich wieder dicht zu bekommen, der unter Umständen durchgescheuert war oder aus anderen Gründen Löcher bekommen hatte.“
M En seumeillant NC079510114 Länge 0´28´´ unter:
ERZÄHLERIN
Diese Wanderhandwerker und-kaufleute decken Nischen ab, die die ansässigen Handwerker und Kaufleute nicht bedienen. So bieten die Hausierer ein buntes Sortiment an Kurzwaren, Tüchern, Bändern, Kerzen, aber auch Tee, Kaffee oder Schmuck an. Die niedergelassenen Krämer betrachten sie oft als lästige Konkurrenz, sie werden als arbeitsscheu und sittlich verdorben verunglimpft. So heißt es in einem Bericht aus dem Jahr 1769:
M weg
ZITATOR
„Sie betrügen den geringen Mann nicht nur mit schlechten Waren und übersetzen ihn im Preise, sondern bestehlen ihn auch noch manchmal dazu. Sie verführen die Weiber zu unnützer Pracht und Üppigkeit; sie schleppen ihnen heimlich Kaffee und starke Getränke zu, und verleiten sie gar oftmals zu andern Ausschweifungen.“
ERZÄHLER
Die Dienste der umherziehenden Hausierer und Handwerker werden zwar benötigt, dennoch müssen sie eher am Rande der Gesellschaft leben, so der Historiker Willi Kulke. Man beäugt sie mit Argwohn. Fehlt irgendwo ein Silberlöffel, fällt der Verdacht schnell auf diese wandernden Arbeiter.
10. ZUSPIELUNG Kulke 13:31
„Es waren halt Menschen, von denen man nicht so genau wusste, wo sie herkamen, wo sie lebten, wie sie lebten. … Das war dieser Makel der unehrenhaften Handwerker, Gewerke oder Gewerbe, die halt eben nicht wie ein Kaufmann oder ein Tischler oder ein Schumacher fest am Ort etabliert waren und entsprechend anerkannt. So waren halt eben Scherenschleifer, Kesselflicker oder andere halt schon eher ein unehrbares Handwerk.“
11. ZUSPIELUNG Museum (mit Musik)
ERZÄHLERIN
Das Ziegelei-Museum Lage. Eine eigene Ausstellung ist hier einer besonderen Gruppe von Wanderarbeitern aus dem westfälischen Lippe gewidmet. Die lippischen Wanderziegler haben vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg nicht nur ihre Heimat-Region geprägt, sagt der Leiter des Ziegeleimuseums, Willi Kulke.
12. ZUSPIELUNG Kulke
„Ich würde einfach mal so vereinfacht sagen: Die Lipper haben Berlin aufgebaut. Die saßen in Glindow, Zehdenick rund um Berlin und haben Millionen von Ziegeln produziert, mit denen dann später diese riesen Mietskasernen mit drei, vier bis zu sieben Hinterhäusern entstanden, mit denen große Fabriken entstanden – und ohne die Lipper wäre diese Industrialisierung so nicht möglich gewesen, weil sie den Baustoff lieferten eben dafür.“
ERZÄHLER
Am Anfang ist die Not. Im damaligen Fürstentum Lippe leben die meisten Menschen von der Handspinnerei und -weberei in Heimarbeit. Mit dem Aufkommen der Textilfabriken ab Mitte des 19. Jahrhunderts verlieren sie ihr Einkommen. Die Landwirtschaft wirft zu wenig ab, um die ganze Bevölkerung davon zu ernähren. Da bietet der Bauboom in Städten wie Berlin, Hamburg oder Bremen den arbeitssuchenden Lippern eine Chance. Der Historiker Willi Kulke:
13. ZUSPIELUNG Kulke 7:56
„Die schaffen einen Baustein, einen von vielen, um Industrialisierung in Deutschland überhaupt möglich zu machen. … Und da konnte man aber auch nur Wanderarbeiter gebrauchen, weil Ziegel kann man nur von März bis Oktober herstellen, danach es zu kalt und friert dieser Lehm. Und es ist nicht möglich, also Steine zu formen, die nicht wieder auseinanderbröseln. Dafür braucht man dann Wanderarbeiter, die bereit sind, genau das tun, in einer bestimmten Saison zu arbeiten und dann das Land aber auch wieder zu verlassen oder die Gegend wieder zu verlassen, weil man sie nicht haben wollte, wenn sie keine Arbeit hatten.“
ERZÄHLERIN
In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ beschreibt Theodor Fontane 1873 das arbeitsame Leben der lippischen Wanderarbeiter vor den Toren Berlins:
ZITATOR
„Die Lipper, nur Männer, kommen im April und bleiben bis Mitte Oktober. Die Leute sind von einem besonderen Fleiß. Sie arbeiten von drei Uhr früh bis acht oder selbst neun Uhr abends, also nach Abzug einer Eßstunde immer noch nah an siebzehn Stunden. Sie verpflegen sich nach Lipper Landessitte, das heißt im wesentlichen westfälisch. Man darf sagen, sie leben von Erbsen und Speck, die beide […] aus der lippeschen Heimat bezogen werden, wo sie diese Artikel besser und billiger erhalten. Mitte Oktober treten sie, jeder mit einer Überschußsumme von nahezu 100 Talern, den Rückweg an […].“
M Lights Z8033153109 Länge 2´31´´ unter:
ERZÄHLER
In geschlossenen Gruppen fahren die Wanderziegler mit der Bahn jedes Frühjahr in die Fremde, um dort auf den Ziegeleien in Akkordarbeit ihr Geld zu verdienen. Vor allem die Familienväter schicken den Großteil ihres kargen Lohns sofort zurück in die Heimat, behalten nur ein kleines Taschengeld für sich. Die finanzielle Lage der Ziegler bessert sich erst in den 1920er Jahren – da können sich einige den Luxus eines eigenen Fahrrads oder Radios leisten, allerdings nur, wenn sie dafür monatelang eisern sparen.
ERZÄHLERIN
Die Männer werden in der Fabrik angelernt und eingearbeitet, jeder spezialisiert sich auf eine bestimmte Tätigkeit in der Produktion – sei es als Tongräber, Former oder Brenner. Bei schlechtem Lehm, Krankheit oder Unfällen müssen alle den Verlust tragen.
ERZÄHLER
Meist leben zwei Dutzend Arbeiter zusammen in einem Wohnhaus, manchmal auch nur in einer einfachen, spartanisch eingerichteten Bretterbude, immer jedoch in unmittelbarer Nähe zur Fabrik mit dem Ziegelofen. Immer wieder kommt es deshalb zu Bränden. Die Männer teilen sich einen Schlafsaal, jeder hat eine einfache Bettstatt, als Unterlage dient ein mit Stroh gefüllter Leinensack. Oft werden die Jüngsten, vielfach erst 14-Jährigen, abstellt zum Kochen, später leisten sich viele Mannschaften eine Haushälterin. Die Mahlzeiten nehmen sie gemeinsam ein. Man bildet eine Ersatzfamilie, hat kaum Kontakt zur Außenwelt -das schweißt zusammen.
ERZÄHLERIN
Die Familie bleibt während dieser Monate zuhause. Die meisten Frauen bewirtschaften einen kleinen Hof, halten Hühner und vielleicht ein Schwein, bauen Gemüse an, ziehen die Kinder groß und müssen zum Teil für die Pacht ihres Hofes beim Großbauern arbeiten. Ein richtiges Familienleben, einen Alltag, den Frau und Mann teilen, findet nur im Winter statt. Kontakt halten sie während der Monate der Trennung über Briefe, immer wieder bekommen die Wanderziegler auch ein Stück Schinken oder Speck aus der Heimat geschickt. Der Lohn für die Zieglerarbeit soll schließlich am Ende der Saison möglichst vollständig in den gemeinsamen Haushalt fließen.
ERZÄHLER
Die Hochphase der Wanderarbeit der lippischen Ziegler endet nach dem Ersten Weltkrieg. In Lippe entwickelt sich eine eigene Industrie und die Ziegler werden zunehmen durch Maschinen ersetzt.
M weg
ERZÄHLERIN
Und heute? Heute sind weltweit ganze Wirtschaftszweige auf Wanderarbeiter angewiesen – Menschen, die ihrer Heimat vorübergehend oder regelmäßig für etliche Monate oder Jahre den Rücken kehren, um dorthin zu ziehen, wo es Arbeit und ein Auskommen für sie gibt. Viele von ihnen werden ausgebeutet und wie Sklaven behandelt.
China: Abermillionen von Chinesen ziehen durch das riesige Land und ermöglichen dort unter härtesten Arbeitsbedingungen den gigantischen Bauboom. Indien: Rund 40 Millionen Wanderarbeiter kommen vom Land in die Städte, um dort meist als Tagelöhner in Fabriken, auf dem Bau oder für Transportunternehmen zu schuften. Unzählige leben in den Slums buchstäblich von der Hand in den Mund, etliche schlafen auf der Straße.
ERZÄHLER
Deutschland: Altenpflegerinnen aus Osteuropa stemmen ein Gros der häuslichen Pflege hierzulande; sie leben im Haushalt mit den Pflegebedürftigen, um die sich für einen kargen Lohn kümmern, fern der eigenen Familie in der Heimat. Spanien: Ein Heer an Saisonarbeitern schwärmt alljährlich auf die Felder, um Salat zu pflanzen, Melonen und Tomaten zu ernten oder Spargel zu stechen.
ERZÄHLERIN
In Europa arbeiten die Saisonarbeitskräfte zum Mindestlohn – zumindest auf dem Papier. Doch immer wieder ziehen die Arbeitgeber einen großen Anteil ab und behalten ihn ein -– für die Verpflegung, Arbeitsgeräte und die Unterbringung; eine Unterbringung, oft in einfachen Containern oder überfüllten Sammelunterkünften. Gewerkschaften kritisieren die Arbeitsbedingungen als Sklaverei: Oftmals muss ohne Ruhetage durchgearbeitet werden, Zehn-Stunden-Tage sind bei der körperlichen schweren Arbeit keine Ausnahme. Die Betriebe müssen für die Arbeiter während eines Zeitraums von drei Monaten keine Sozialabgaben zahlen.
M Jour Triste Z8028908106 Länge 0´55´´ unter:
ERZÄHLER
Auch wenn der Auszug in die Fremde quer durch die Geschichte sicherlich abenteuerliche Aspekte hat - als schiere Wanderslust ist das Massenphänomen der Wanderarbeit nicht zu erklären. Freiwillig lassen die wenigsten ihr Zuhause und ihre Familie zurück, um der Arbeit nachzuwandern. Davon ist Willi Kulke überzeugt. Der Arbeit wegen zeitweise oder langfristig seiner Heimat den Rücken zu kehren, bedeutet für die Menschen schließlich den Sprung ins kalte Wasser, das Kappen von gewachsenen Beziehungen und den Verlust der Heimat. Für viele eröffnet Wanderarbeit aber auch eine Perspektive, oftmals die einzige. Daran hat sich in den letzten Jahrhunderten nichts geändert.
M weg
14. ZUSPIELUNG Kulke 10:32
„Solange, wie Menschen arm sind irgendwo und Arbeit suchen, wird es immer Wanderarbeit geben. Und genauso wird es immer das Bedürfnis geben, für einen bestimmten Zeitraum möglichst billige Arbeitskräfte anzuwerben, die Dinge tun, die die heimische Gesellschaft selber so nicht tun will, so wie sie heute fast niemanden mehr finden, der bereit ist, für diese Löhne Erdbeeren zu pflücken oder Spargel zu stechen. … Solange wie keine gerechten, also wirklich auskömmliche Löhne dafür gezahlt werden für eine wirklich sehr, sehr schwere körperliche Arbeit, solange wird man immer andere Arbeitskräfte anwerben, die oft aus eigener Not halt eben bereit sind, jetzt zum Beispiel aus der Ukraine zu kommen, um hier Spargel zu stechen.“
Oft verliert sich unser Denken in endlosen Schleifen und unausweichlichen Wiederholungen und lässt einem keine Ruhe. Dieses Grübeln zeigt, dass nicht wir es sind, die grübeln, sondern dass es in uns grübelt. (BR 2014) Autor: Rolf Cantzen
Credits
Autor/in dieser Folge: Rolf Cantzen
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Irina Wanka, Dtlef Kügow, Thomas Loibl
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Dr. Burkhard Meyer-Sickendiek, FU-Berlin;
Dr. Tobias Teismann, Geschäftsführender Leiter des Zentrums für Psychotherapie in Bochum
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50 Kilometer quer durch ein Gebirgsmassiv: Moderne Tunnelbau-Technik macht es möglich. Doch schon die Römer bahnten sich ihren Weg durch etliche hundert Meter Fels und Gestein - ohne Maschinen und die Hilfe von Geologen. (BR 2019) Autor: David Globig
Credits
Autor dieser Folge: David Globig
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Susanne Schroeder
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Dr. Klaus Grewe, Vermessungsingenieur und Archäologe;
Prof. Kurosch Thuro, Lehrstuhl für Ingenieurgeologie, TU München;
Sebastian Heer, Bahnigenieur und ehemals Teamleiter eines Tunnelbauprojekts der Deutschen Bahn;
David Salameh, Projektmanager, Herrenknecht AG
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Am 15. Oktober 2010 findet in den Alpen ein Ereignis statt, das weltweit für Aufsehen sorgt und so einzigartig ist, dass das Schweizer Fernsehen live davon berichtet. Schauplatz: die Baustelle des Gotthard Basistunnels.
01 ZUSPIELUNG Reportage SF, darüber:
SPRECHERIN:
Einige hundert Bauarbeiter und Offizielle starren wie gebannt auf eine Spritzbeton-Wand. Ein Rumpeln ist zu hören, immer mehr Risse durchziehen die Fläche. Dann brechen die ersten Teile der Wand zusammen und ein riesiger rotierender Bohrkopf wird sichtbar. Jubel brandet auf. Mitten im Fels der Schweizer Alpen sind die Röhren, die die Arbeiter von zwei Seiten aus ins Gestein getrieben haben, exakt aufeinander gestoßen. Der erste Durchbruch für den 57 Kilometer langen Gotthard Basistunnel ist geschafft.
GERÄUSCH Hammer und Meißel, darüber:
SPRECHERIN:
Tunnel sind keine Bauwerke unserer Zeit. Die Anfänge reichen zurück bis zu den Menschen der Frühkulturen.
Sie haben mit primitiven Werkzeugen bereits Stollen und Kammern gegraben. Die ersten Tunnel im eigentlichen Sinne entstanden dann in der Antike. Angelegt mit Hammer, Meißel und Schaufel.
Eine wichtige Rolle spielte dabei anfangs das Wasser, erklärt der Vermessungsingenieur und Archäologe Klaus Grewe.
02 O-TON Grewe:
"Es beginnt mit den sogenannten Quanaten. So heißen die Tunnel, die die alten Iraner schon gebaut haben - wahrscheinlich schon 1000 vor Christus -, um Oasen und Siedlungsplätze mit Wasser zu versorgen. Da musste man Wasservorkommen weit entfernt erforschen und dann dieses Wasser heranbringen. Und dazu baute man Tunnel in einer ganz speziellen Technik, dass man nämlich in gewissen Abständen Schächte anlegte und von der Sohle der Schächte aus einen Vortrieb zum nächsten Schacht machte und sich so dann langsam auf einen Schacht vorarbeitete, den man am Anfang angelegt hatte, um zu erkunden wo überhaupt Wasser im Boden vorhanden ist."
SPRECHERIN:
Alle paar Dutzend Meter entstand so eine Art umgedrehtes T: ein Schacht, der in die Tiefe führte; und von dem aus nach zwei Seiten jeweils ein Querstollen angelegt wurde. Irgendwo zwischen den Schächten trafen die Querstollen aufeinander und bildeten schließlich eine durchgehende Verbindung.
AKZENT
SPRECHERIN:
Die Wasserversorgung sollte auch der Hiskia-Tunnel von Jerusalem sicherstellen, der etwa 700 vor Christus gegraben wurde.
Vermutlich ist er das erste Tunnelbauwerk, für das sich Menschen – anders als bei den Quanaten - von zwei Seiten aus durch einen Berg gearbeitet haben. Das geschah nicht einfach aufs Geratewohl.
03a O-TON Grewe:
"Man sieht im Tunnel sehr deutlich, dass man immer wieder Richtungskorrekturen vorgenommen hat. Und das bedeutet, dass man gemessen haben muss. Man hat also in gewissen Abständen, nach ein paar Metern Vortrieb, immer nachgemessen, wo bin ich eigentlich. Und wenn man falsch war, hat man korrigiert und es in eine andere Richtung weiter vorgetrieben. Dann wieder kontrolliert, bis man sich endlich gefunden hat, getroffen hat."
SPRECHERIN:
Auf den letzten Metern konnten sich die Tunnelarbeiter dabei jeweils am Geräusch der Werkzeuge im anderen Tunnelabschnitt orientieren. Irgendwann standen sich die beiden Arbeitstrupps tatsächlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
03b O-TON Grewe:
"Und darüber gibt es sogar eine Inschrift, die im Tunnel angebracht war: Man war sehr stolz, dass man das geschafft hatte. Und damit kann dieser Hiskia-Tunnel als der erste Großtunnel der Geschichte gelten."
SPRECHERIN:
Wobei sich das Bauwerk, trotz seiner Länge von mehr als 500 Metern, geradezu bescheiden ausnimmt im Vergleich zu einem Tunnel, der gut 100 Jahre später, also im sechsten Jahrhundert vor Christus auf der Insel Samos entstand. Der durquerte einen über 200 Meter hohen Berg. Darüber berichtete sogar der griechische Historiker Herodot ganz begeistert.
In seinen Augen war das, was die Bewohner von Samos geschaffen hatten, eines der gewaltigsten Bauwerke in ganz Griechenland.
ZITATOR:
"Sie gruben einen Tunnel, der am Fuße des Berges beginnt und zu beiden Seiten Öffnungen hat. Seine Länge beträgt sieben Stadien."
SPRECHERIN:
Nach heutigem Maß sind das etwa 1040 Meter: mehr als jeder andere Tunnel zu dieser Zeit. Und wieder einmal ging es dabei um die Wasserversorgung.
ZITATOR:
"Durch seine ganze Länge ist ein anderer Kanal geführt, durch den das Wasser in Röhren zur Stadt geleitet wird; es kommt aus einer starken Quelle. Baumeister dieses Tunnels war Eupalinos aus Megara, Sohn des Naustrophos."
SPRECHERIN:
Nicht nur durch seine Abmessungen ist dieser Tunnel etwas Besonderes: Eupalinos hatte ihn offenbar vorab ganz genau geplant. Trotzdem wurde es noch einmal spannend: nämlich in dem Moment, als sich die Tunnelbauer, die von beiden Seiten aus begonnen hatten, in der Mitte des Berges treffen sollten. Klaus Grewe.
05 O-TON Grewe:
"Eupalinos wendet ein ganz intelligentes Verfahren an, um sich wirklich zu treffen. Er hat nämlich in dem Moment, wo er sich eigentlich hätte treffen müssen, so ein bisschen Angst bekommen, es könnte nicht gelingen und er wäre dann der Blamierte gewesen. Und deswegen erfindet er etwas ganz Tolles, was nachher auch die Römer noch angewandt haben, nämlich einen, ich nenne das so, einen finalen Versicherungshaken. Das heißt, er stellt auf einer Seite den Vortrieb ein und auf der anderen Seite fährt er nicht geradeaus weiter vor, sondern macht einen Schlenker, so wie eine Sichel. Sichelförmig fährt er um den Treffpunkt herum und stößt dann von der Seite auf das Gegenbaulos. Und damit musste er sich eigentlich zwangsläufig immer treffen. Das war das Geniale des Eupalinos."
SPRECHERIN:
Noch heute ist das Bauwerk über die gesamte Länge begehbar – nachdem Archäologen es in den 1970er Jahren freigeräumt haben.
Spätestens seit Eupalinos hatten die Tunnelbaumeister der Antike sämtliche mathematischen, technischen und organisatorischen Grundlagen beisammen, die selbst riesige Vorhaben ermöglichten.
06 O-TON Grewe:
"Die Römer haben es natürlich, wie immer, ein bisschen übertrieben. Sie haben beispielsweise einen Tunnel angelegt, um dem Fuciner See einen Hochwasserschutz zu gewähren. Der Fuciner See ist in Mittelitalien, hat keinen natürlichen Abfluss. Und es gab immer bei Schneeschmelzen und starkem Regen Hochwasser, die das Land um den Fuciner See herum überfluteten. Und so haben schon die Marser, die da siedelten, haben schon dem Caesar in den Ohren gelegen: Bau uns doch einen Tunnel, damit das Wasser abfließen kann, wenn es ansteigt. Und Claudius macht es dann. So um 50 nach Christus baut Claudius einen Tunnel. Und der ist sechs Kilometer lang und hat Bauschächte von über 120 Metern Tiefe. Also ein gewaltiges Bauwerk, was natürlich auch ein Prestigeobjekt für den Kaiser war."
SPRECHERIN:
Alles immer noch in Handarbeit, nur mit Hammer, Meißel und Schaufel.
Der tägliche Baufortschritt war deshalb in den einzelnen Tunnelabschnitten wahrscheinlich nicht besonders groß. Immerhin haben die Archäologen hierfür Anhaltspunkte.
07 O-TON Grewe:
"Es gibt einen Tunnel, in dem hat man nach den Tagesschichten Markierungen angebracht. Und man kann danach sehen, dass man im durchaus festen Stein, also im Sandstein, pro Tag etwa 30 Zentimeter schaffte. Also für einen Tunnel, der zwei Meter hoch und 1,20 m breit war, ist das schon eine Leistung. Man kann sich ausrechnen, wie lange man dann für einen Kilometer braucht."
SPRECHERIN:
Trotzdem ist der Claudius-Tunnel am Fuciner See nach rund elf Jahren fertig.
Allerdings: mit dem Römischen Reich endete die Blütezeit des Tunnelbaus erst einmal. Während des gesamten Mittelalters entstanden, bis auf ganz wenige Ausnahmen, keine Tunnel von Bedeutung. Gebaut wurden höchstens kürzere Angriffs- oder Fluchtstollen unter Wehranlagen hindurch. Erst in der Neuzeit begann man wieder, "richtige" Tunnel zu planen. Und ab dem 17. Jahrhundert lernten die Tunnelbauer, auch unter Tage ein wirkungsvolles Hilfsmittel einzusetzen: Schwarzpulver.
GERÄUSCH Sprengung unter Tage
SPRECHERIN:
Die Möglichkeit, festes Gestein zu sprengen, erleichterte und beschleunigte die Arbeit immens; und die Sprengtechnik erlaubte auch größere Tunnel.
Mit der industriellen Revolution und dem Siegeszug der Eisenbahn setzte schließlich ein wahrer Boom beim Tunnelbau ein.
MUSIK, darüber:
SPRECHERIN:
Im 19. Jahrhundert machte die Technik gewaltige Fortschritte: Stützende Schildkonstruktionen wurden entwickelt, die man langsam vorschieben konnte.
Sie schützten die Arbeiter, die den Tunnel vorantrieben, vor nachrutschendem Gestein und herabfallenden Felsbrocken. Druckluftbetriebene Bohrmaschinen hielten Einzug unter Tage. Alfred Nobel erfand das Dynamit. Eisenbahntunnel von zehn, 15 Kilometer Länge entstanden.
Doch je größer die Vorhaben wurden, desto deutlicher wurde auch, dass man schon vorher möglichst genau wissen sollte, auf welches Gestein man da tief unter der Erde trifft – und wie es sich verhält.
Solche Fragen können Fachleute wie Kurosch Thuro beantworten, Professor für Ingenieurgeologie. Er lehrt an der Technischen Universität München.
09 O-TON Thuro:
"Vor so einem Tunnelprojekt wird der Aufbau des Gebirges oder des Untergrundes sehr genau untersucht. Dafür gibt's auch Standards oder Vorschriften, wie man das tun soll. Und wenn das ordentlich gemacht wird und nach den Regeln der Technik erfolgt, dann weiß man eigentlich auch, was einen erwartet."
SPRECHERIN:
Dazu erkunden die Experten erst einmal die Oberfläche über dem künftigen Tunnel. Welche Gesteine sind dort zu finden? Oft gibt es bereits geologische Karten, die aber meist noch ergänzt und in einen kleineren Maßstab überführt werden müssen. Dann folgt ein erster Blick in die Tiefe – und zwar ein indirekter Blick. Etwa mit seismischen Verfahren. Denn Schallwellen sind in unterschiedlichen Gesteinen unterschiedlich schnell unterwegs. Und an Gesteinsgrenzen werden sie auf ganz charakteristische Weise reflektiert, gebrochen und gestreut.
Auch die elektrische Leitfähigkeit des Bodens verrät etwas über Strukturen unter der Oberfläche. Genauso wie Veränderungen des Magnetfelds der Erde und ihres Schwerefelds, also ihrer Anziehungskraft. Die ist über lockerem Gestein oder einem Hohlraum z.B. ein winziges bisschen geringer.
10 O-TON Thuro:
"Der nächste Schritt ist dann erstmal ein Profil zu zeichnen, ein sogenanntes geologisches Profil, wo man eben diesen Gesteins- und Gebirgsverband mal darstellt und sich überlegt, wie die Schichten im Untergrund verlaufen; welche Gesteine grundsätzlich vorkommen, wie sie angeordnet sind, wie ihre Lagerungsverhältnisse sind. Und anhand dieses Schnittes kann man dann schon mal die Problemzonen sehen und sich überlegen, was kann denn für den Tunnelbau Schwierigkeiten bereiten. Der zweite Schritt ist dann: In regelmäßigen Abständen werden Bohrlöcher gemacht, sodass man aus dem Untergrund auch wirklich die Gesteine zu Gesicht bekommt, ..." STIMME OBEN!
SPRECHERIN:
... die dann z.B. im Labor der Technischen Universität München untersucht werden. Etwa daraufhin, wie stark sich die Proben unter Druck verformen. Oder wie leicht sich bei schieferartigen Gesteinen einzelne Schichten voneinander trennen lassen.
11 O-TON Thuro:
"Wir versuchen da, die höchsten und auch die geringsten Festigkeiten herauszubekommen. Die höchsten Festigkeiten zeigen uns an, mit welcher Maschine man da durch fährt; also in Richtung Werkzeug und wie bewältige ich das auch technisch. Die geringsten Festigkeiten sagen mir etwas über die Stabilität aus."
SPRECHERIN:
Diese Daten fließen unter anderem in Computer-Simulationen ein. Die liefern z.B. die Information, wie standfest das Gebirge um den Tunnel herum ist. Davon wiederum hängt ab, ob und wie schnell man die Tunnelröhre beim Vortrieb mit Beton sichern muss - oder mit gebogenen Fertigelementen; und wie dick die endgültige Auskleidung der Röhre sein sollte.
Ob sie ein festes Material wie Granit vor sich haben oder ein weniger festes wie Mergel, das ist den Ingenieuren letztlich egal. Für beides gibt es die passenden Bauverfahren. Problematischer kann es jedoch werden, wenn sich unterschiedliche Gesteine abwechseln.
12 O-TON Thuro:
"Wenn die Festigkeiten sehr stark schwanken, dann hat man eigentlich die Schwierigkeiten, weil man seine Gerätschaften eigentlich drauf einstellen muss."
SPRECHERIN:
Je genauer die Geologen angeben können, durch was für Gesteinsschichten eine Tunneltrasse läuft, desto besser lässt sich der Bau planen und vorbereiten - und desto weniger Überraschungen gibt es.
Z.B. kann es ziemlich unangenehm werden, wenn ein Tunnelbau-Team ohne Vorwarnung auf eine sogenannte Störungszone trifft, betont Kurosch Thuro.
13 O-TON Thuro:
"In Störungszonen kann das Gebirge zerschert, zerbrochen und völlig zermahlen vorliegen. Sie können sich vorstellen, wenn Sie von was Festem in was reinkommen, was also so ist: völlig zerlegt bis hin zum Sand oder sogar noch feiner, und dann rieselt - oder mit Wasser wird es sogar reinfließen in den Hohlraum -, hat man also ganz große Probleme."
SPRECHERIN:
Wenn die Tunnelbauer aber auf solche Störungszonen vorbereitet sind, können sie gut damit umgehen. Auch in einem anderen Bereich ist die Vorarbeit durch Geologen wichtig: beim Grundwasser. Man kann heute zwar problemlos Tunnel unter einem Gewässer und durch grundwasserführende Schichten hindurch bauen – doch das kann sich auf die Umgebung auswirken: weil der Tunnel Wasser ableitet.
14 O-TON Thuro:
"Dadurch, dass jeder Tunnel grundsätzlich als Drainage wirkt, beeinflussen wir natürlich den Grundwasserspiegel. Wenn ich den Grundwasserspiegel absenke, können Landwirtschaftsflächen trockengelegt werden oder es können Quellen versiegen. Deswegen wird im Vorfeld auch eine sehr ausführliche Untersuchung hydrogeologischer Art gemacht, um zunächst eine Beweissicherung zu machen: Wo gibt es welche Quellen, wie stark schütten die und so weiter. Und dann wird simuliert, was passiert, wenn ich den Grundwasserspiegel absenke, ..."
STIMME OBEN! BITTE ABNEHMEN!
SPRECHERIN:
... woraus wiederum folgt, wie stark der Tunnelvortrieb das Grundwasser überhaupt beeinflussen darf.
MUSIK, darüber:
ATMO Baustelle, darüber:
SPRECHERIN:
Eine Tunnelbaustelle der Deutschen Bahn in Stuttgart im Jahr 2018. Teamleiter Sebastian Heer steht vor einer groben, grauen Betonwand. Sie soll vorläufig verhindern, dass sich Steine aus dem Fels lösen können.
Von hier aus wollen sich die Tunnelbauer in den Berg vorarbeiten. Etwas abseits steht dafür schon ein Spezialbagger bereit. Der muss sich zunächst durch die provisorische Betonschicht arbeiten, erklärt Sebastian Heer.
15 O-TON Heer:
"D.h., die jetzt hergestellte Wand nach vorne wird wieder aufgebrochen. Es wird ca. ein Meter Gebirge ausgebrochen und das ausgebrochene Gebirge wird dann abtransportiert; und die freigewordenen Bereiche werden dann mit Stahlmatten, Ausbaubögen und Spritzbeton wiederum gesichert. Dieser Prozess wird dann immer wieder wiederholt, ..."
SPRECHERIN:
... damit sich nirgendwo Steine aus der Tunneldecke oder den Wänden lösen können. Graben, sichern, graben, sichern – Meter für Meter. Sobald die Arbeiter in einem freigebaggerten Tunnelabschnitt Ausbaubögen und Stahlmatten befestigt haben, fährt die Betonspritzmaschine heran.
16a ATMO Betonspritze, darüber:
SPRECHERIN:
Aus einer ferngesteuerten, beweglichen Düse schießt flüssiger Beton und bedeckt innerhalb kürzester Zeit die Metallstrukturen. Wobei die graue Masse kaum verläuft und innerhalb weniger Sekunden erhärtet.
Allerdings ist die Spritzbeton-Schicht nur ein erster, vorübergehender Schutz. Damit der Bahntunnel hundert Jahre oder mehr überdauert, bekommt er noch eine Innenschale aus konventionellem Beton. Diese kann auch ganz anderen Kräften standhalten als eine vergleichsweise dünne Spritzbeton-Auskleidung. Gerade im Stuttgarter Raum ist das ein entscheidender Punkt.
17 O-TON Heer:
"Bei normalen Tunnelbauwerken hat man eine Innenschalenstärke von ungefähr 40 cm. Wir haben hier bei unserem Tunnelbauwerk teilweise Innenschalen-Stärken von einem Meter; die einfach erforderlich werden, um den geologischen Randbedingungen Rechnung zu tragen."
SPRECHERIN:
Zu diesen geologischen Randbedingungen zählt auch Anhydrit, ein Mineral, das sich bei Feuchtigkeit zu Gips umwandelt und dabei aufquillt.
Passiert das rund um einen Tunnel, können extreme mechanische Spannungen auftreten, mit denen die Tunnelröhre zurechtkommen muss.
MUSIK, darüber:
SPRECHERIN:
Auf vielen Tunnelbaustellen wird nach wie vor mit Bohrhammer, Bagger und Dynamit gearbeitet. Doch bei großen Bahn- und Straßentunnelprojekten kommen seit den 1970er Jahren verstärkt auch riesige Tunnelbohrmaschinen zum Einsatz. Z.B. beim Bau des Eurotunnels zwischen Frankreich und England. Auch im Gotthard Basistunnel arbeiteten sich insgesamt vier dieser Maschinen durch den Fels.
Die Bohrer sind regelrechte "Tunnelfabriken": mehrere hundert Meter lang, mit einem Stromverbrauch, wie ihn eine Ortschaft mit einigen tausend Einwohnern hat.
ATMO Tunnelbohrmaschine (aus ZUSPIELUNG 01), darüber:
SPRECHERIN:
An der Spitze der "Fabrik" frisst sich der Bohrkopf drehend ins Gestein, erklärt David Salameh.
Er ist Projektmanager bei der Herrenknecht AG, dem weltweit führenden Hersteller von Tunnelbohrmaschinen. Der Bohrkopf kann einen Durchmesser von bis zu 19 Metern haben, also etwa so groß wie ein sechsstöckiges Gebäude.
18 O-TON Salameh:
"Es ist eine große, flache Stahlscheibe, auf der die Werkzeuge dann sitzen. Und diese Werkzeuge sind, bei einem Hartgestein sind das sogenannte Schneidrollen, sind einzelne Rollen, Ringe, die auf der Scheibe angebracht sind. Und diese Ringe drücken sich in den Fels und der Fels platzt dadurch ab."
SPRECHERIN:
Bei jeder Umdrehung sammelt der Bohrkopf das abgeplatzte und zerkleinerte Material ein und lässt es auf ein Förderband im Inneren der Tunnelbohrmaschine fallen. Nächster Arbeitsschritt der "Tunnelfabrik": die Sicherung und Abdichtung der Tunnelröhre. Das geschieht z.B. mit Hilfe von Ringen aus Beton-Fertigteilen, Tübbings oder Tübbinge genannt. <David Salameh.
19 O-TON Salameh:
"Diese Tübbingsegmente sind typischerweise ca. zwischen 1,50 Meter und zwei Meter lang. Für einen kompletten Ring besteht der Ring aus ca. sechs bis acht einzelnen Segmenten, mit einem Gewicht zwischen ca. sechs und zwölf Tonnen pro Stück.
Und diese werden dann in den Tunnel gebracht, in den Bereich der Maschine; und werden dann in der Regel durch einen speziellen rotierenden Arm aufgenommen. Und dieser bringt sie dann in die entsprechende Position, wo sie dann verbaut wird.">
SPRECHERIN:
Das alles passiert im Schutz eines zylinderförmigen Stahlschildes, der direkt hinter dem Bohrkopf der Maschine sitzt.
In einem Arbeitsgang entsteht so die Innenschale des Tunnels. Nur der vordere Teil der Tunnelbohrmaschine bewegt sich durch den nackten Fels.
20 O-TON Salameh:
"Und das hintere Nachlaufsystem fährt auf Rädern praktisch schon im fertig gebauten Tunnel und wird hinten nachgezogen."
SPRECHERIN:
Je nach Gesteinsart "frisst" sich die "Tunnelfabrik" pro Tag bis zu 40, 45 Meter durch das Gebirge – und hinterlässt dabei eine gleichmäßige Betonröhre.
MUSIK, darüber:
SPRECHERIN:
In vielen Ländern spielen Tunnel eine wichtige Rolle in den Verkehrskonzepten für die nächsten Jahre. Aktuell wird z.B. am Brenner Basistunnel zwischen Österreich und Italien gearbeitet.
MUSIK kurz hoch, dann darüber:
SPRECHERIN:
Die erfolgreichen Riesen-Tunnelprojekte der vergangenen Jahrzehnte beflügeln die Phantasie von Planern und Ingenieuren.
So soll an der norwegischen Westküste nördlich von Bergen ein 1,7 Kilometer langer Schiffstunnel entstehen. Groß genug für kleinere Frachter und Kreuzfahrtschiffe, die so einen schwierigen Abschnitt in den norwegischen Gewässern umfahren könnten.
Selbst über einen Eisenbahntunnel unter dem Himalaja hindurch wird nachgedacht: von Tibet in die nepalesische Hauptstadt Kathmandu.
MUSIK kurz hoch, dann darüber:
SPRECHERIN:
Auch wenn so etwas eher phantastisch klingt: Dank moderner Technologien und mehr als 2000 Jahren Erfahrungen im Tunnelbau sind solche Projekte heute durchaus realisierbar.
MUSIK hoch bis Schluss
Die Naturalisten schreiben im Bann der magischen Neuerungen wie elektrische Straßenbeleuchtung und Fotografie: Sie thematisierten aber auch die gnadenlosen Schattenseiten ihrer Zeit. "Naturalismus - der realistischere Realismus". (BR 2020) Autorin: Astrid Mayerle
Credits
Autor/in dieser Folge: Astrid Mayerle
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Rainer Bock, Stefan Wilkening
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Wolfgang Bunel (Literaturwissenschaftler, Frankfurt)
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Der Krieg gilt als männliches Terrain. Frauen spielen eher eine untergeordnete Rolle. Umso wichtiger sind weibliche Berichterstatterinnen. Denn Tod und Gewalt machen nicht vor Geschlechtergrenzen Halt. (BR 2020) Autorin: Justina Schreiber
Credits
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Rahel Comtesse, Katja Amberger
Technik: Robin Auld
Redaktion: Susanne Poelchau
Interviewpartner/innen:
Romy Fröhlich (Professorin für Kommunikationswissenschaften in München);
Susanne Gelhard (Leiterin des ZDF-Landesstudios Rheinland-Pfalz und Süd-Ost-Europakorrespondentin während des Jugoslawienkrieges)
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Im Interview:
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Redaktion: Nicole Ruchlak
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Quint Buchholz, Michael Krüger, Wer das Mondlicht fängt, Sanssouci Verlag, 2001.
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Autor/in dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Christian Baumann, Beate Himmelstoß
Technik: Wnfried Messmer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Veronika Settele, Universität Bremen, Autorin von „Revolution im Stall“ und „Geschichte der Fleischarbeit“;
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Veronike Settele (2020): Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945 – 1990. Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATORIN:
Vertikalfutterverteiler mit Volumendosierung
Ovulationssynchronisation mit terminorientierter Besamung
Mechanisierung der Stalldungwirtschaft
K (gespr. Kay) per H
SPRECHER:
Wer Tiere im Stall hielt, musste sich in den letzten 70 Jahren jede Menge Technik- und Management-Kenntnisse aneignen. Die guten alten Zeiten, als der Bauer oder die Bäuerin noch liebevoll eine überschaubare heterogene Tierherde individuell betreuten, sind längst vorbei. Aber: Gab es sie überhaupt jemals? War früher wirklich alles besser?
O-TON 1 Wilhelm Pflanz
Also in der Stallhaltung geht es den Tieren heute sicher besser als früher.
Im Sommer war das gut, vor allem, weil die Tiere auch fast alle Auslauf und Weidezugang hatten. Wenn Sie in der Wintersituation die Ställe anschauen: Die hatten manchmal keine Lüftung. Das waren kleine Tropfsteinhöhlen, weil so ein Tier auch Feuchtigkeit entwickelt, also über Wasserdampf und so weiter. Und das heißt, es war oftmals Anbindehaltung. Also da sind wir heute sicherlich weiter.
O-TON 2 Veronika Settele
Gleichzeitig waren die Umgangsformen, ja, also ich würde einfach nicht sagen für die Tiere früher besser. Also ich wehre mich gegen jede Form von Agrarromantik. Dazu habe ich jetzt in den Quellen wenig gefunden, was dazu Anlass gäbe. Also das Leben war karg, die Tierhaltung war anstrengend, sie war schmutzig und sie hatte nicht so das beste Standing. Es war kein attraktiver Beruf, als Knecht in einem Kuhstall Kühe zu melken.
SPRECHER:
Prof. Dr. Wilhelm Pflanz von der Hochschule für Landwirtschaft Weihenstephan-Triesdorf und die Historikerin Dr. Veronika Settele von der Uni Bremen sind sich einig: Weder für Mensch noch Tier war das Leben im Stall früher ein Zuckerschlecken. Wobei mit „früher“ die Zeit bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gemeint ist, denn dann erst vollzieht sich in den ost- wie westdeutschen Ställen das, was Veronika Settele in ihrer preisgekrönten Dissertation „Revolution im Stall“ nennt.
O-TON 3 Veronika Settele
Und auch ist es dann nicht so zu imaginieren, dass alle Ställe gleich wurden zwischen 1950 und 90, aber dass doch im Wesentlichen eine starke Angleichung stattfand, wohingegen eben Ställe, also einfach Räume, in denen Tiere gehalten waren, sich sehr stark unterschieden, bevor industrialisierte oder rationelle Arbeitstechniken eingeführt worden waren.
MUSIK Decesive Minds (LC-05908; EAN/GTIN: 5055312813263) 0’18
SPRECHER:
In den Wirtschaftskrisen und Weltkriegen der vergangenen Jahrzehnte hatten die Menschen so viel Mangel erfahren, dass der Landwirtschaft einmütig das klare Ziel gesetzt wurde: Schluss mit der Not. Her mit dem Fleisch. Denn Fleisch gehört zum guten Leben!
O-TON 4 Wilhelm Pflanz
Das war gesellschaftlicher Konsens. Und deshalb hat sich die Landwirtschaft hier auch so entwickelt. Also es war ja nicht irgendwie von den Landwirten selber, sondern es hat die Politik, das hat die Wissenschaft, also meine Zunft, das haben wir gemeinsam entwickelt.
SPRECHER:
Ideen zur Produktivitätssteigerung gab es schon längst, sie wurden nur von den Landwirten kaum angenommen. Das änderte sich jetzt. Denn: Es fehlte an Arbeitskräften. Eimer schleppen, Ställe ausmisten, Karren schieben, das alles ist harte Handarbeit und Stallgeruch war keineswegs attraktiv. Also wanderten viele Arbeitskräfte in die Industrie ab, in der höhere Löhne, bessere Arbeitszeiten und Perspektiven winkten.
O-TON 5 Veronika Settele
Und diese Gemengelage führte nun in ein agrarpolitisches Programm, das versuchte, daraus das Beste zu machen, also den Bau von Ställen anzuregen, in denen mit wenig menschlicher Arbeitskraft viel Fleisch erzeugt werden konnte.
MUSIK Elliptyk News (LC-10483) 0’15
SPRECHER:
Eine bahnbrechende technische Innovation und enorme Arbeitserleichterung war hier die Melkmaschine, die zwar schon Ende des 19. Jahrhunderts erfunden worden war, sich aber erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts flächendeckend durchsetzte.
O-TON 6 Veronika Settele
Während der Marketingkampagnen zur Einführung der Melkmaschine gab es die Messzahl. Die gibt es immer noch, aber sozusagen da ist sie aufgekommen so Kühe pro Stunde also K/h und mit dieser Kennzahl wurde versucht, Rinderhalter zum Kauf einer Melkmaschine zu überzeugen.
SPRECHER:
Per Hand konnten 6 – 8 Tiere pro Stunde gemolken werden, mit der Melkmaschine wurden daraus 50 bis 75 Kühe.
Wichtig war jetzt, mit der Maschine umgehen zu können. Das war alles andere als leicht. Immer wieder durchkreuzten Euter-Entzündungen die Pläne der Produktivität. Die Zitzen der Kühe passten nicht zur Maschine. Das führte einerseits dazu, dass man die Maschinen verbesserte, andererseits glich man die Kühe den technischen Notwendigkeiten an:
Durch gezielte Züchtung wurden sie melkmaschinentauglich. Ein Prozess, der sich in der Tierhaltung stets wiederholen sollte: Neue Techniken verursachen neue Probleme. Man reagiert mit wieder neuer Technik, inklusive Zucht und Gentechnik. Dem zu Grunde liegt ein enormer Fortschrittsglaube.
MUSIK Elliptyk News (LC-10483) 0’15
Hielt man früher Rinder auch als Zugtiere und Düngelieferanten, wurden sie jetzt ausschließlich Produzenten von Milch und Fleisch. Ihr Kot wurde dabei mit Aufkommen des Kunstdüngers zum Problem.
O-TON 7 Veronika Settele
Weil eben die Aufstallung der Tiere zunehmend einstreulos wurde. Also es war kein Mist mehr, der mit Stroh vermengt war, sondern eben eine reine konzentrierte Version der Exkremente. Und heute haben wir ein Gülleproblem. Wohin mit der Gülle? Die Nitratbelastung steigt, die Eutrophierung der Gewässer ist nicht mehr beherrscht, durch eben die Konzentration vieler Tiere auf wenig Raum.
SPRECHER:
Bisher kostete das Entmisten der Ställe extrem viel Zeit, Kraft und Personal. Das änderte sich mit der Einführung des Spaltenbodens. Seitdem erledigen diese Arbeit die Tiere selbst, indem sie ihre Exkremente einfach nach unten treten. Dort werden diese dann über Rohre zu einer Dung-Sammelstelle transportiert. Voraussetzung dafür: Kein Stroh mehr im Stall, damit die Exkremente fließen. „Nichts tragen, was fließen kann!“, lautete ein Motto von damals.
O-TON 8 Veronika Settele
In der Rinderhaltung haben wir auch so einhergehend mit dem Spaltenboden die Anbindehaltung, also die gab es auch schon davor, sozusagen wurde jetzt nur der Bewegungsradius nochmal eingeschränkt, damit sichergestellt ist, dass die Tiere über den Spalten abkoten und urinieren, damit sozusagen die Entmistung tatsächlich möglichst rationalisiert werden konnte und man nicht doch mit Schaufel oder Besen unter der Kuh ausmisten musste.
SPRECHER:
Auch in der Schweinehaltung wurde der Spaltenboden Standard. Man erhoffte sich dadurch auch mehr Platz für noch mehr Tiere. Denn bisher brauchte es einen eigenen Mist-Platz für Schweine. Von Natur aus koten Schweine auf einem Extra-Platz, also nicht da, wo sie liegen. Dieser Mist-Platz fiel nun weg. Ihren so genannten Abortinstinkt konnten die Tiere nicht mehr ausleben. Ihr Bewegungsradius wurde immer geringer. 1975 betrug er für ein Schwein unter 35kg 0,45 Quadratmeter.
MUSIK Genetic curiosity (LC-92557) 0’58
Die hohe Konzentration von Schweinen auf geringem Raum brachte jede Menge neuer Probleme. Die Luft wurde so schlecht, dass Schweine erstickten. Also wurden Lüftungssysteme entwickelt, die das verhinderten. Die Enge im Raum führte zu „Stress“. Die Schweine begannen sich gegenseitig aufzufressen, vor allem bissen sie die Schwänze ihrer Artgenossen ab. Die Lösung war nicht mehr Platz für die Tiere, sondern das Abtrennen der Schwänze im Ferkelalter mit einem heißen Messer. Parallel züchtete man stressresistentere Schweine. Ausschlaggebende Kriterien bei allen Lösungsansätzen waren nicht das Tierwohl, sondern Rentabilität und Produktivität, wie Veronika Settele in ihrem Buch „Deutsche Fleischarbeit. Geschichte der Massentierhaltung von den Anfängen bis heute“ immer wieder klar darstellt.
O-TON 9 Veronika Settele
Weil sich der Gesundheitsbegriff in der Tierhaltung mit ihrer Industrialisierung veränderte und zwar insofern, als dass gesundheitliche Probleme, die die Produktivität nicht beeinträchtigten, zunehmend hingenommen wurden und aber gesundheitliche Probleme, die die Produktivität beeinträchtigten, sehr stark in den Fokus der Tiermedizin rückte, die generell zu einer kontinuierlichen Begleiterin der Tierhaltung wurde.
SPRECHER:
Eine weitere Neuheit im Schweine-Stall: Die Kastenhaltung. Das Problem: Nach der Geburt erdrücken manche Muttersauen beim Hinlegen einige ihrer Ferkel durch ihr bloßes Gewicht. Die Lösung: Die Sau wird in einen Kasten bzw. eine Gitterbox gesperrt, die dies verhindert. Die Ferkel können gefahrlos an den Zitzen saugen, die Aufzuchtszahlen steigen. Die Sau kann sich dabei kaum bewegen und das mehr als die Hälfte ihres Lebens, da Sauen zwei bis dreimal im Jahr Ferkel werfen.
O-TON 10 Veronika Settele
Das kann man klar sagen, dass die Intensivierung der Tierhaltung einherging mit einer Verkleinerung des Bewegungsradius der Tiere. Beispiele dafür sind natürlich allen voran die Geflügel-Käfighaltung, also das ist stärkste Verknappung des Bewegungsradius. Es waren Käfige im Einsatz, in denen sich die Tiere nicht einmal mehr richtig umdrehen konnten.
SPRECHER:
Auch Ferkel hielt man übrigens – inspiriert von der Hühnerhaltung - eine Zeit lang in übereinander gestapelten und beheizten Käfigen. Der Raum wurde so optimal genutzt, die Ställe gab es von der Stange.
O-TON 11 Veronika Settele
Das ist auch eine Neuigkeit. Ställe wurden lange Zeit in nachbarschaftlicher Selbsthilfe gebaut, also das Baumaterial wurde organisiert. Und dann wurde aber in Eigenarbeit ein Stall erweitert oder umgebaut. Jetzt gibt es zunehmend vorgefertigte Lösungen und auch nur die versprechen auch die Rationalisierungsvorteile, und das heißt Ställe werden zunehmend nach dem Prinzip wie sozusagen eine Fabrik gebaut. Es gibt eine Halle, und in dieser Halle sind dann vorgefertigte Einrichtungen für die einzelnen Produktionsschritte.
SPRECHER:
Aufbau und Gliederung der Räume veränderten sich auch, weil eine zunehmende Spezialisierung der Tierhaltung aufkam. Abferkel-, Aufzucht-, und Mastställe wurden voneinander getrennt. Während ein Landwirt also früher Kühe, Schweine und Hühner besaß, gab es jetzt welche, die nur Ferkel hielten.
O-TON 12 Veronika Settele
Wobei der wichtigere Trend vermutlich ist, dass die Arbeit am Einzeltier weniger wurde oder zum Erliegen kam und das hinging zu einer Bewirtschaftung der Herde. Also sozusagen es ging weniger um die Bewirtschaftung einzelner Tiere, sondern es ging darum, die Gesamtproduktivität einer Tiergruppe im Blick zu behalten und die möglichst gewinnträchtig zu umsorgen.
MUSIK Calculated momentum (LC-07573; EAN/GTIN: 4020771220021) 0’17
SPRECHER:
Um Hühner in großen Mengen auf wenig Platz halten zu können, musste erst vitaminisiertes Futter Standard werden. Dieses Futter war die Voraussetzung, Hühner das ganze Jahr rund um die Uhr in Ställen zu sperren.
O-TON 13 Veronika Settele
Solange Hühner rumlaufen mussten und sich aus dem Boden ihre Nährstoffe zusammen picken mussten, begrenzten sie die Größe ihrer Haltung, weil sie sich ungefähr nicht weiter als 40 Meter von ihrem Stall wegbewegten. Und weil eine gewisse Quadratmeterzahl für eben einen ausreichenden Nährstoffbedarf des Huhnes notwendig war.
SPRECHER:
Waren Hühner-Herden früher auf 200-300 Tiere begrenzt, konnte und kann man sie jetzt zu zig Tausenden halten. Licht- und Temperatur-Anlagen gaukelten den Tieren permanenten Frühling vor und sorgten somit für eine kontinuierlich hohe Eierproduktion. In neben- und übereinander gestapelten Drahtkäfigen stand ein Huhn auf einer Fläche, die kleiner als ein DINA4-Blatt war. Aus der unbedeutenden Hühnerhaltung als Zubrot der Bauersfrau war ein gewinnbringender eigener Unternehmenszweig geworden.
MUSIK Calculated momentum (LC-07573; EAN/GTIN: 4020771220021) 0’22
Gerade an der Hühnerhaltung sieht man, wie tradiertes Wissen über den Umgang mit Tieren ersetzt wurde durch eine reine Kosten-Nutzen-Kalkulation. Um neue teure Ställe zu bauen und technisch hochzurüsten, brauchten die Landwirte erstmal Geld. Auch das veränderte die Landwirtschaft.
O-TON 14 Veronika Settele
In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hielt der Kredit Einzug in die Tierhaltung. Und das veränderte natürlich die Konzeption des Unternehmens generell, also weil Kredite, die dann bedient werden wollen, einen Kostendruck auf die Produktion legen. Und das hat sich als wirksamster Anreiz in der Geschichte erwiesen, die Tierhalter zur Rentabilitätssteigerung zu bewegen.
SPRECHER:
Mit der Vergrößerung der Ställe ging auch ein Ortswechsel einher. Im Dorf war für sie kein Platz mehr, also errichtete man Ställe auf der grünen Wiese. Damit wurden lebende Nutztiere für einen Großteil der Bevölkerung unsichtbar. Tote Tiere waren dafür umso präsenter: 1950 konsumierte ein Bürger der Bundesrepublik 37kg Fleisch, 1990 waren es dreimal so viel, 100,2 Kilo
MUSIK Creative percussion (LC-07573; EAN/GTIN: 4020771207756) 0’28
Ein Grund, Mensch und Tier gründlich zu trennen, bestand auch darin, Seuchen im Stall zu vermeiden. Krankheiten konnten schließlich das ganze System zum Einsturz bringen. Der Entzug natürlicher Lebensbedingungen und das Leben auf engstem Raum machen Tiere empfindlich. Die Lösung war auch hier wieder erst einmal: Chemie und Technik. Ein rigides Hygieneregime wurde etabliert.
O-TON 15 Veronika Settele
Das wurde Anfang der 70er-Jahre ausgetüftelt und dann eingeführt, weil Seuchengefahr im Massenstall die größte Bedrohung der Wirtschaftlichkeit wurde. Und durch Infektionsschutzverordnungen und Infektionsschutzgesetze war es beispielsweise dann betriebsfremden Menschen tatsächlich auch verboten, ohne Voranmeldung und ohne Hygieneprozeduren die Ställe überhaupt zu betreten.
SPRECHER:
Wer einen Schweinestall von innen sehen wollte, musste nun z.B. ab einer bestimmten Viehbestands-Größe desinifizierbare Schuhe und Schutzkleidung anziehen. Es wurden mit Natronlauge gefüllte Durchfahrbecken gebaut, mittels derer auch die Räder der Fahrzeuge desinfiziert werden konnten.
O-TON 16 Veronika Settele
Also es war nicht so, dass das jetzt eine rund um negative Entwicklung war, die wir betrauern sollten, sondern erst mal ist es auch Produkt gesellschaftlicher Wünsche und Vorstellungen, dass es da zu einer räumlichen Trennung kam, weil gerade Schweinehaltungen zunehmend auch deshalb verschwanden, weil mit jedem Stallneubau innerhalb eines Dorfes eine Bürgerinitiative einherging, die sich gegen den Geruch und gegen den Schweinegestank aus der Massenhaltung sozusagen in Stellung brachte.
SPRECHER:
Räumliche Trennung, gefüllte Kühlschränke, günstige Preise – das alles führte dazu, dass Fragen um das Tierwohl lange Zeit in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle spielten. Nur die Hühnerhaltung, Stichwort Hühner-KZ, geriet bereits in den 70ern in die Kritik. Rinder und Schweine kamen erst ab den 90ern in den Blick.
MUSIK Genetic curiosity (LC-92557) 0’44
SPRECHER:
Der gesellschaftliche Konsens ist heute ein anderer. Laut einer Umfrage von 2017 möchten drei Viertel der Bevölkerung strengere Gesetze, die eine „artgerechte“ Haltung gewährleisten. Es gibt inzwischen zahlreiche Gesetze und Verordnungen, die für mehr Tierwohl sorgen sollen. So ist die Hühner-Käfighaltung heute verboten. 2020 wurde die Kastenhaltung von Schweinen mit einer Übergangszeit von 15 Jahren auf wenige Tage verkürzt. Wilhelm Pflanz von der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf sieht die Entwicklungen positiv.
O-TON 18 Wilhelm Pflanz
In der Hühnerhaltung haben wir sicherlich den größten Umbruch erlebt die letzten 20 Jahren. Das heißt, wir haben hier eine sehr starke Entwicklung zur Bodenhaltung hin und auch zur Bodenhaltung in Kombination mit Freilandhaltung. Und wir sehen das ja heute auch, wenn Sie übers Land fahren, die schönen Hühnermobile.
SPRECHER:
Ein Hühnermobil ändert im Schnitt alle 14 Tage seinen Platz, in manchen leben 200 Legehennen, in anderen 1500. Nachts werden sie im Stall eingeschlossen, um sie z.B. vor Füchsen zu schützen, tagsüber haben sie Auslauf.
O-TON 19 Wilhelm Pflanz
Wir haben aber ein voll funktionsfähiges Innenleben in diesem Stall, das heißt da ist eine Fütterungsanlage drin, ein Legenest, Entmistungs- Bereich, Kaltscharr-Raum, also alles Dinge, die wir sonst immer baulich fest im Stall haben, haben wir hier mobil. Und auch viele konventionelle Betriebe haben sich für so ein Hühnermobil entschieden, weil sie damit unmittelbar auch Zugang haben zu ihren Verbrauchern in unmittelbarer Nähe, das ist ja heute ein großer Trend neben der Ökologisierung der Landwirtschaft eben auch die Regionalisierung
SPRECHER:
Während die Veränderungen in der Geflügel-Haltung v.a. durch Druck von außen kamen, waren es bei der Rinderhaltung eher die Landwirte selbst, die für mehr Tierwohl sorgten. Unter anderem aus einem naheliegenden Grund.
O-TON 20 Wilhelm Pflanz
Gerade im Milchbereich ist es nach wie vor eine Win-win-Situation: Mehr Tierwohl im Kuhstall, wir haben eine höhere Tiergesundheit und die Kühe danken es auch oft mit sehr guten Leistungen. Da gab es ganz wenig gesetzlichen Druck, da gibt es natürlich auch Vorgaben im Rinderbereich, aber hier hat sich die landwirtschaftliche Praxis wirklich viele Lorbeeren verdient.
SPRECHER:
So gibt es heute Laufställe mit Melkrobotern, die der Kuh ermöglichen gemolken zu werden, wann sie es will. Ist der Druck im Euter zu groß, geht sie hin.
O-TON 21 Wilhelm Pflanz
Die Kuh ist somit völlig frei in ihrer Tagesgestaltung, auch das Futtermaterial wird ständig vorgelegt über sogenannte stationäre Grundfutter-Vorlage-Systeme. Gleichzeitig gibt es im Milchvieh-Bereich auch sehr viele Innovationen im Bereich des Position Livestock Farming. Das heißt, wir können heute über Digitalisierung auch den Gesundheitszustand der Tiere überwachen. Die Milchkühe haben zum Beispiel Halsbänder. Damit können wir das Laufverhalten über diese Halsbänder detektieren und können zum Beispiel sehen, wenn die Kuh in die Brunst kommt und solche Dinge oder auch das Wieder-Kauverhalten.
MUSIK Spheres of live (LC-89310) 0’13
SPRECHER:
Nach wie vor werden also Lösungen v.a. über neue Techniken gesucht. Auch in der Schweinehaltung gibt es heute mehr Ställe, in denen die Tiere Auslauf haben oder zumindest Kontakt mit Außentemperaturen.
O-TON 22 Wilhelm Pflanz
Gleichzeitig haben wir auch einen großen Trend hin zu mehr Beschäftigungsmaterial, mehr Raufutter in die Ställe zu bekommen, damit die Tiere einfach sich auch mehr betätigen können, auch Futter suchen können. Hierzu bedarf es natürlich auch Technik.
SPRECHER:
Zum Raufutter, also rohfaserreichem Futter, passt nicht mehr die herkömmliche Entmistungsanlage, die nur mit flüssigen Exkrementen nicht verstopft. Ebenso braucht es andere Fütterungsanlagen, denn bisher wurde homogeneres Kraft-Futter über Rohrleitungen in den Stall transportiert. Insgesamt hat sich in der Schweinhaltung aber am wenigsten getan, denn: es rechnet sich nicht…
O-TON 23 Wilhelm Pflanz
Also die Tierwohl-Entwicklung ist eine sehr positive Entwicklung. Gleichzeitig müssen wir aber schauen, dass die Landwirte, die Familienbetriebe natürlich es auch schaffen, dann ihre Ställe auch so umzurüsten und es auch ökonomisch schaffen. Also das ist eigentlich hier die Herausforderung. Und da tut man sich etwas schwerer, weil das Schwein vielleicht nicht sofort dieses Mehr an Tierwohl auch in höhere Leistungen umsetzt. Natürlich, es ist dann auch gesünder. Aber das Schwein ist eben auch schon ein relativ gut leistendes Tier.
SPRECHER:
Wollen die Landwirte weiterhin ökonomisch sein, müssen sie bei Einhaltung der neuen Tierwohl-Regelungen bzw. Wünsche entweder ihren Bestand vergrößern oder sie müssen mehr Geld verlangen. Sie sind aber vom Markt abhängig. Die Lösung sieht Wilhelm Pflanz in weniger Fleisch-Verzehr und dem Sichtbar-Machen ihrer Haltungsformen in Form von Labels.
O-TON 24 Wilhelm Pflanz
Das ist eigentlich der richtige Weg: Weniger Tiere mit höheren Standards und gleichzeitig diese Standards sichtbar gemacht.
MUSIK Spheres of live (LC-89310) 0’22
SPRECHER:
Alle genannten Trends gelten für die konventionelle wie ökologische Landwirtschaft, die hier eine Vorreiter-Rolle spielt. Mehr Platz, mehr frische Luft, mehr Abwechslung im Stall – das alles ist v.a. in der ökologischen Landwirtschaft gewährleistet.
O-TON 25 Wilhelm Pflanz:
Das heißt, ökologische Betriebe müssen eigentlich zwingend über einen Auslauf respektive Weide verfügen, oftmals eben im Rinder-Bereich. Gleichzeitig haben wir im Innenbereich der Stallungen immer einen hohen Anteil an Festfläche, mindestens 50 Prozent. Und diese Festfläche muss auch eingestreut sein mit einer satten Stroheinstreu, es dürfen maximal 50 Prozent Spaltenböden im Stall sein. Dann muss eben auch die Öko-Tierhaltung über Raufutter verfügen. Das heißt Raufutter zur Beschäftigung, aber auch zur Futteraufnahme.
MUSIK Calculated momentum (LC-07573; EAN/GTIN: 4020771220021) 1’10
SPRECHER:
Der Anteil der ökologischen Tierhaltung in Deutschland beträgt 10%, bei der Schweinehaltung nur 1%. Vegetarier, Veganer und Flexitarier nehmen zu, aber die Deutschen essen immer noch 20kg mehr Fleisch pro Person und Jahr als der globale Durchschnittsmensch. Vor allem aber: in anderen Ländern des globalen Nordens wird der Hunger nach Fleisch immer größer, allen voran in China:
O-TON 26Veronika Settele
Da passieren die krassesten Sachen. Also da werden Schweine-Hochhäuser gebaut, die jährlich 2,1 Millionen Schweine in einem Betrieb produzieren können, die eben in Hochhäusern mit Aufzügen und Entmistungs-Robotern gehalten werden.
Das Leben der Bäuerin hat sich in den letzten 100 Jahren rasant verändert. Viele Bäuerinnen mussten ihre Höfe aufgegeben, andere haben sich behauptet. Es ist die Geschichte einer Emanzipation, nicht nur als Frau, sondern auch als Bäuerin innerhalb unserer Gesellschaft. (BR 2022) Autorin: Julia Zantl
Credits
Autor/in dieser Folge: Julia Zantl
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Michael Hafner, Beate Himmelstoß
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Sabine Schindler (Kreisbäuerin Schwandorf);
Carola Wimschneider (Tochter von Anna Wimschneider);
Simone Helmle (Dr.; promovierte und habilitierte Soziologin);
Barbara Steinberger (Landwirtin)
Linktipps:
Eine sehenswerte Dokumentation über den Beruf Bäuerin finden Sie in der ARD Mediathek (Online bis 01.03.2024):
Beruf Bäuerin - 100 Jahre FrauenGeschichte
BR Fernsehen | Bayern erleben
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Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Anna Wimschneider - Naturalismus auf Niederbayerisch
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Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ERZÄHLER:
(Traktorgeräusch…) Barbara Steinberger fährt mit einem GPS betriebenen Traktor Düngemittel aus. Was auf der Straße noch Zukunftsmusik ist, ist in modernen Agrarbetrieben gelebte Realität. Barbara muss nicht mehr lenken. Der Boardcomputer berechnet, wann der Traktor auf dem Feld wendet, um in den richtigen Abständen zu düngen. Eine riesige Arbeitserleichterung, denn Barbara kultiviert auf diesem Feld so genannte Sonderkulturen wie Margeriten zur Samenvermehrung. Daher gibt es keine Fahrrinnen, nach denen sie sich ohne GPS einfach orientieren könnte.
1 BABI STEINBERGER:
(Traktorgeräusch…) bei unseren Sonderkulturen bauen wir keine Fahrgassen. Und deswegen ist es für uns eine extreme Erleichterung, weil wir eben die Spuren anlegen und mit einem Düngestreuer oder mit der Spritze ist es halt für uns so viel einfacher, weil wir von Haus aus wissen, wo müssen wir jetzad mit einer Arbeitsbreite von 24 Meter fahrn? Weil früher haben wir das Ganze dann manuell ausgesteckt mit flexible Stecker, damit wir halt wissen, wo mir fahrn und das sparen wir uns so!
ERZÄHLER:
Barbara hat Landwirtschaft studiert und wird in den nächsten Jahren den elterlichen Betrieb im niederbayerischen Leibelfing übernehmen. Außerdem arbeitet sie in Teilzeit als Produktmanagerin in einem großen Landtechnikunternehmen. Und als Lebenspartner hat sie sich keinen Landwirt, sondern einen Steuerberater ausgesucht.
Entscheidungsmöglichkeiten, von denen eine Bäuerin vor 100 Jahren nur hätte träumen können. Eine Bauerstochter wurde entweder Magd oder Bäuerin durch Heirat. Kaum eine entkam diesem Schicksal.
Barbara hingegen hat sich bewusst und nach reiflicher Überlegung für den Beruf entschieden.
Als „Bäuerin“ würde sie sich allerdings nicht bezeichnen.
2 BABI STEINBERGER:
I dad mi als Landwirtin bezeichnen. Unter Bäuerin versteh ich wirklich eher wie es damals war, also z.B. meine Oma, die würde ich als Bäuerin bezeichnen und Landwirtin find I unterstreicht eher des Moderne. Also I dad mi ned als Bäuerin bezeichnen.
ERZÄHLER:
Barbara Steinberger ist mit ihrer Meinung nicht allein. Nur jede zweite Landfrau in Bayern, die in einer Studie 2019 befragt wurde, würde sich selbst als „Bäuerin“ bezeichnen. „Bäuerin“ ruft bei vielen teils negative Assoziationen hervor wie: „altbacken“, „kein Beruf“ oder „aussterbend“. 86% der Befragten nehmen das Ansehen der Bäuerin im Vergleich zu anderen Berufen als niedrig wahr. Und fast alle schmerzt es, dass das Image ihres Berufs so schlecht sei. Ein Blick ins Agrarlexikon verrät folgendes über den Begriff Bauer bzw. Bäuerin:
ZITATOR:
Traditionelle Bezeichnung für Landwirte/Landwirtinnen. Sie wird heute weiterhin benutzt, weil sie in der Bevölkerung fest verankert ist. Sie erinnert auch an den früheren Stand der Bauern.
ERZÄHLER:
Das Berufsbild „Bäuerin“ hat sich in den letzten 100 Jahren stark gewandelt. Harte körperliche Arbeit, hohe Kindersterblichkeitsrate und Kampf gegen Hunger waren keine Seltenheit. Vor allem in Bayern, wo es schon immer viele kleine Höfe gab, waren die Bauern oft Selbstversorger und kamen gerade so über die Runden.
Eine der bekanntesten Bäuerinnen erblickte 1919 im Landkreis Rottal-Inn das Licht der Welt: Anna Traunsbuger. Als Anna Wimschneider wurde sie später berühmt. Ihre Lebenserinnerung „Herbstmilch“, welche sie in den 1980er Jahren aufschrieb, ist das vielleicht authentischste und persönlichste Zeugnis einer Bäuerin ihrer Zeit und wurde zu einem ungeahnten Erfolg.
Die gleichnamige Verfilmung von Joseph Vilsmaier heizte den Rummel an. Monate lang blieb „Herbstmilch“ auf Platz 1 der Spiegel Bestsellerliste.
Ihre Erzählung beginnt mit dem traumatischen Erlebnis ihrer Kindheit.
MUSIK: „Wintersonnwende“ – CD80466#002 – (0:36)
ZITATORIN, aus Herbstmilch, S.7:
Wir warteten. Dann zogen wir die Stiege hinauf in die obere Stube. Es begegneten uns zwei Männer in weißen Kitteln. Zwei Nachbarinnen standen da, und der Vater und alle weinten. Die Mutter lag im Bett, sie hatte den Mund offen und ihre Brust hob und senkte sich in einem Röcheln. Im Bettstadl lag ein kleines Kind und schrie, was nur rausging. Wir Kinder durften zur Mutter ans Bett gehen und jedes einen Finger ihrer Hand nehmen.
ERZÄHLER:
Anna war gerade einmal acht Jahre alt, als ihre Mutter im Kindsbett starb. Sie war das vierte von neun Kindern und die älteste Tochter und musste von nun ab die Hausarbeit übernehmen: Einheizen, Kochen, Wäsche mit der Hand waschen und sich um ihre kleineren Geschwister kümmern. Wenn alle im Bett waren, flickte Anna die durchlöcherte Wäsche der Großfamilie, bevor sie selbst Schlafen gehen durfte. Oft fielen ihr schon vorher die Augen zu. Morgens stand Anna um 5 Uhr auf, macht Frühstück für den Vater und die älteren Brüder, melkte die Kühe und versorgte schließlich die kleinen Geschwister, bevor Sie selbst in die Schule gehen konnte.
MUSIK: „Wintersonnwende“ – CD80466#002 – (0:24)
ZITATORIN, aus Herbstmilch, S. 23
„So kam ich immer zu spät. Der Lehrer hatte viel Verständnis, aber der Pfarrer nie. Der schimpfte mich jeden Tag, weil ich nicht zur Schulmesse kam. Er sagte, ich müsse eben früher aufstehen, meine Brüder kämen ja auch.“
ERZÄHLER:
Anna ging nur fünfeinhalb Jahre in die Schule und wurde dann wegen der Notlage am Hof befreit.
Annas älteste Tochter, Carola Wimschneider, erinnert sich noch gut daran, dass ihre Mutter gern länger in die Schule gegangen wäre und einen Beruf erlernt hätte.
3 CAROLA WIMSCHNEIDER: (09:51)
Sie wollte immer Krankenschwester werden. Der Wunsch hat sich für Sie nie erfüllt. Ja. Inoffiziell muss man sagen, weil sie hat ja dann die alten Leute in Schwarzenstein am Hof, den Onkel Albert, Tante Linie und Onkel Otto. Die hatte sie dann über Jahre hin zur Pflege, und da hat sie den Beruf ausreichend ausüben können. Ja, aber eben dieses offizielle Krankenschwester-lernen, das hat sich für sie nicht erfüllt.
MUSIK: „Knechtl“ – C141555#013 – (0:07)
4 SIMONE HELMLE0:09:40:
Frauen hatten in dieser Zeit eigentlich kaum Chance auf Bildung. Sie haben oft ein bisschen lesen gelernt, ein bisschen rechnen gelernt. Wenn sie nicht Mägde geblieben sind, sondern verheiratet wurden, muss man, glaube ich, fast noch sagen, dann sind sie sozusagen: war Kinder bekommen, den Hof sichern, aber auch für die Arbeitskräfte sorgen, den Haushalt zusammenhalten und in der Sozialgemeinschaft funktionieren.
ERZÄHLER:
Dr. Simone Helmle ist habilitierte Sozialwissenschaftlerin und hat Gartenbau studiert. Sie hat sich intensiv mit der Geschichte der Bäuerin in Bayern beschäftigt – auch aus soziologischer Perspektive.
5 SIMONE HELMLE0:09:40:
So als Einzelperson, so wie wir Frauen uns heute sehen und das ist ja auch das, was Anna Wimschneider sehr eindrücklich schildert, kamen Frauen damals eigentlich nicht vor. Das galt aber für alle Menschen auf dem Hof. Also dieses „ich“, was wir heute kennen, was uns ja auch antreibt, was wir ständig reflektieren, über was wir unsere Persönlichkeitsreife oder -Entwicklung auch definieren, das gab es in bäuerlichen Familien, vor 100, 120 oder 50 Jahren so eigentlich nicht. Das war eine Sozialgemeinschaft.
ERZÄHLER:
Eine Sozialgemeinschaft, die das eigene Überleben sicherte, aber aus der es auch kaum ein Entkommen gab.
Für Anna war klar, um den Hof des Vaters zu verlassen, muss sie einen heiratswilligen Mann finden. Und sie hatte Glück, mit 18 Jahren traf sie ihren Albert. Doch schon wenige Wochen nach der Hochzeit 1939 wurde er in den 2. Weltkrieg eingezogen. Und so fand sich Anna auf dem Hof ihres Mannes wieder mit vier alten Leuten, darunter einer Schwiegermutter, der sie nicht gut genug war.
Im Sommer ging ihr Alltag noch früher los.
MUSIK: „Wintersonnwende“ – CD80466#002 – (0:36)
ZITATORIN aus Herbstmilch, S. 91:
„Um zwei Uhr morgens mußte ich aufstehen, um zusammen mit der Magd mit der Sense Gras zum Heuen zu mähen. Um sechs Uhr war die Stallarbeit dran, dann das Futtereinbringen für das Vieh, im Haus alles herrichten und wieder hinaus auf die Wiese. Ich musste nur laufen. Die Schwiegermutter stand unter der Tür und sagte, lauf Dirndl, warum bist du Bäuerin geworden? Sie aber tat nichts.“
ERZÄHLER:
Anna war während des Krieges einer enormen Doppelbelastung ausgesetzt wie viele andere Bäuerinnen. Die Männer waren an der Front und kamen nur selten zum sogenannten Fronturlaub nach Hause. So mussten die Frauen sich um den Haushalt und gleichzeitig um die harte Feld- und Stallarbeit kümmern. Als Anna auch noch schwanger war, erkämpfte sie sich einen sogenannten „Betriebshelfer“ bei der Kreisbauernschaft, der von nun ab mitarbeitet.
1944 waren fast die Hälfte aller Beschäftigten in der Landwirtschaft Zwangsarbeiter.
6 SIMONE HELMLE0:09:40:
In der Nazizeit, nicht ganz einfach letztendlich darüber zu reden, aber in der Propaganda ist die Frau, insbesondere die Bäuerinnen, aber auch die Frauen im ländlichen Raum sehr stark überhöht worden. Also man hat es eben so propagiert, dass diese Frauen gesünder, stabiler, belastbar sind. Und das war in der jüngeren Geschichte das erste Mal, dass Frauen, die in der Öffentlichkeit eine sehr starke Aufmerksamkeit bekommen haben, also wirklich ambivalent zu betrachten. Teil der Propaganda, aber eben auch Teil der Aufmerksamkeit.
ERZÄHLER:
In der Nachkriegszeit hat Deutschland vor allem ein Anliegen: die Ernährungssicherheit der Gesellschaft zu gewährleisten und die Wirtschaft anzukurbeln. Die Bäuerinnen leisten dazu einen beträchtlichen Teil.
7 SIMONE HELMLE:
Ich war jetzt selbst wirklich noch einmal erstaunt zu sehen, dass eben in den 50er Jahren dreifach so viele Frauen in der Landwirtschaft gearbeitet haben wie Männer. Das geht eben auf die Berufstätigkeiten, die Zuerwerbe der Männer zurück. Und dass die Frauen eben insbesondere in den kleineren Höfen wie so eine Art Subsistenz-Landwirtschaft gemacht haben.
ERZÄHLER:
Dr. Simone Helmle hat vor allem ab der Nachkriegszeit die Bäuerinnen-Studien und die Landwirtschaftlichen Wochenblätter durchforstet. In den 50er Jahren war vor allem die Überlastung der Bäuerinnen und die Landflucht ihrer Töchter ein großes Thema. Dr. Helmle fasst es in ihrem Buch „Bäuerinnen, Versorgerinnen, Botschafterinnen“ so zusammen :
ZITATOR, S. 86:
„Bäuerin darfst Du mir einmal nicht werden! Sei der Ratschlag, welchen die Bäuerinnen ihren Töchtern mitgäben. Als wichtigste Ursache der Abwanderung der weiblichen Dorfbewohner wurde die überarbeitete Mutter und ihre „ständige Übermüdung und Freudlosigkeit“ angesehen.
ERZÄHLER:
Das waren auch die großen Themen, denen sich die 1948 gegründete Landfrauengruppe im Bauernverband annahm. In den 50er und 60er Jahren gründeten die Landfrauen die Bäuerinnenschule, das Erholungsheim in Oberammergau und den Bäuerlichen Hilfsdienst. Doch die Abwanderung vieler junger Frauen in städtische Regionen konnten sie nicht abwenden. Auch Anna Wimschneider riet ihren Töchtern einen anderen Beruf zu erlernen. Carola erinnerte sich noch gut daran, wie sie ihrer Mutter mitteilte, wofür sie sich entschieden hatte.
8 CAROLA WIMSCHNEIDER 10:30:
Wie ich ihr das erzählt hab, da saß sie im Stall bei einer Kuh. Und da hab i gsagt: Mutti, I lern Krankenschwester und dann hat sie auf der Stelle den Kopf an die Kuh hingelegt und hat angefangen zu weinen. Des hat sie soo gfreit.
MUSIK: „Knechtl“ – C141555#013 – (0:07)
ERZÄHLER:
Währenddessen vollzog sich ein rasanter Strukturwandel in Bayern - nach dem Motto „Wachsen oder Weichen“. Dank des technischen Fortschritts konnten die Bauern nun immer mehr Nahrungsmittel produzieren, mussten auf der anderen Seite jedoch in teure Technik investieren. Summen, die nicht alle stemmen konnten oder wollten. So nahm die Zahl der Betriebe kontinuierlich ab. Während es 1950 in Deutschland noch ca. 2 Millionen Bauernhöfe gab, waren davon 1970 fast nur 1 Millionen übrig. Auch die Wimschneiders fällten schließlich die Entscheidung aufzuhören: 1971 verpachteten sie ihre Grundstücke und gaben auf. Ihr Buch „Herbstmilch“ endete Anna Wimschneider mit den Worten:
MUSIK: „Wintersonnwende“ – CD80466#002 – (0:14)
ZITATORIN:
„Wenn ich noch einmal zur Welt käme, eine Bäuerin würde ich nicht mehr werden.“
ERZÄHLER:
Doch die 70er Jahre waren auch eine Zeit des Umschwungs. In München tobten die Studentenrevolten. Die Landwirtschaft stand wegen schädlicher Einträge in Boden, Gewässer und Luft in der Kritik und die Umweltbewegung erstarkte.
Auch in der Landfrauengruppe tat sich was: Sie erstrittet sich endgültig das Wahlrecht für alle Ortsbäuerinnen. Eine Landfrau erinnerte sich in einem Brief an Dr. Simone Helmle:
ZITATOR:
(aus „Bäuerinnen, Versorgerinnen, Botschafterinnen“, S. 46):
„Einer von den Kollegen, der hat gesagt, „aber liebe gnädige Frau, die Männer wissen doch besser, welche Ortsbäuerin zum Ortsobmann passt und das ist doch bis jetzt gut gegangen.(…) da hab ich mich zu Wort gemeldet und gesagt: „ich verstehe gar nicht, was sie überhaupt für eine Meinung von Frauen haben. Die Frauen sind doch jetzt selbst fähig und können doch selber wählen.“
9 SIMONE HELMLE (2_00:42):
Frauenbewegung, Studentenproteste, eigentlich eine Gesellschaft in Aufruhr und während dieser Zeit läuft eine Debatte, ob die Frauen im Bayerischen Bauernverband in der Lage seien, ihre Vertreterinnen als Ortsbäuerinnen und Kreisbäuerinnen selbst zu wählen. Und das war eine Ungleichzeitigkeit, die man sich größer erst einmal kaum vorstellen kann. Die Frauen haben es durchgesetzt, das erscheint uns aus heutiger Sicht total skurril, ((aber vielleicht steht sie auch wirklich für die Lebensentwürfe, die unterschiedlicher kaum hätten sein können zwischen Frauen die in der Frauenbewegung engagiert waren und den Lebensrealitäten von Frauen, auf Höfen in den 60er Jahren.))
10 CAROLA WIMSCHNEIDER
Die Achtundsechziger Zeit hat bei uns noch keine Rolle gespielt. Aber im Grunde waren immer diese Bäuerinnen die graue Eminenz, die hinten gesteuert haben, die bestimmt haben was wird gekauft? Wie wird der Hof weitergeführt? Was wird als nächstes angeschafft. Die waren nicht Heimchen am Herd, die sich alles gefallen lassen. Sie haben zwar nicht die politische Anerkennung gehabt, aber sie waren in ihrer Rolle durchaus dominant und auch sehr selbstbewusst.
MUSIK: „Stork‘s Walk“ - C158779#108 – (1:03)
ERZÄHLER:
Viele Bäuerinnen, das zeigt die Geschichte, sind einen alternativen Weg zu „Wachsen oder Weichen“ gegangen. So ruhten die Einnahmen der Höfe bereits vor 100 Jahren meist auf mehreren Standbeinen. Wenn möglich hatte man, um Risiko zu streuen, „von jedem etwas“: ein paar Schweine, ein paar Hühner, ein paar Kühe und vielfältigen Anbau. Als die Betriebe immer mehr zu Spezialisierung gezwungen wurden, schauten sie sich nach weiteren Einnahmequellen um.
So vermieteten schon in den 60er Jahren viele Bäuerinnen Fremdenzimmer – in denen zuvor Flüchtlinge untergebracht waren. Bereits 1969 stellte die Landfrauengruppe in mühsamer Recherche ein erstes Adressverzeichnis der Höfe zusammen, welche „Urlaub auf dem Bauernhof“ anboten. Durch den direkten Kontakt mit den Sommerfrischlern entdeckten die Landfrauen in den 70er Jahren auch die Direktvermarktung der Erzeugnisse wieder für sich, welche die Nationalsozialisten in den 1930er Jahren verboten hatten.
11 SIMONE HELMLE
Das Standbein der Direktvermarktung, das war ja früher also was ganz, ganz klassisches. Andere Vermarktungswege gab es sehr lange Zeit überhaupt nicht. Aber das ist sozusagen in den 70er-Jahren wieder entdeckt worden. Im Ökolandbau total stark, heute mit den Grünen Kisten mit den Abo-Services. viele Höfen, auch konventionellen Höfe haben Automaten, wo Eier, Butter, vakuumiertes Fleisch, Käse, Milch - solche Produkte eben gezogen werden. Heute haben diese ganzen Selbst-Erntefelder Blumen, Erdbeeren eine relativ große Bedeutung. Und hier bei dieser Diversifizierung da waren oft die Frauen die treibenden Kräfte.
ERZÄHLER:
Und die Landfrauen brachten immer öfter eigene Berufe mit in die Betriebe und setzten damit so Impulse.
Heute haben 60 % der Landfrauen einen außerlandwirtschaftlichen Beruf – von der Gärtnerin bis zur Sozialpädagogin. Viele bringen ihr Wissen in den Betrieb ein oder arbeiten nebenbei:
12. OTON: SIMONE HELMLE:
„Heute würde ich sagen, es ist eigentlich nicht die Frage wachsen oder weichen, sondern es ist die Frage des unternehmerischen Geschicks. Und wie gestalte ich den Hof so, dass er zu den Menschen, die den Hof machen, mit den Bedingungen, die der Hof hat - das ist der Naturraum, aber es ist auch das Umfeld, die Nachbarschaften, Kooperationsmöglichkeiten, so dass es zu den Menschen passt, die den Hof machen.
ERZÄHLER
Laut statistischem Landesamt geben zwar weiterhin viele Höfe auf, doch die Anzahl der Betriebe, die auf ökologischen Landbau umsteigen, nehmen zu. Wer heute eine Landwirtschaft übernehmen will, der braucht eine Zukunftsvision, eine Menge Wissen, Kreativität und Leidenschaft für seinen Beruf.
13 SABINE SCHINDLER1 [0:00:36] :
Da fehlt das „-ung“ in der Überschrift also ich glaube, das hängt unmittelbar zusammen. Das ma Bäuerin… des ist nicht, ein Beruf, den ma ausübt, des ist a Lebensmodell.
ERZÄHLER:
Ein Lebensmodell, in das Sabine Schindler, die sich heute gerne Bäuerin nennt, selbst erst noch hineinwachsen musste. Seit 2007 lebt sie auf dem Hof ihres Mannes in Nittenau im Landkreis Schwandorf. Eigentlich ist sie Sozialpädagogin und stammt auch nicht von einem Bauernhof. Doch wie das Schicksal es wollte, verliebte sie sich Hals über Kopf in einen Landwirt.
14 SABINE SCHINDLER [0:14:07] :
Eine Bäuerin zu werden. Ich sag's ganz knallhart. Das war die Vorstellung, nur noch zu Hause sein, genau dieses Klischee „Hausmütterchen“. Und das konnte ich mir 0,0 vorstellen. Ich habe dem Martin zu der Zeit immer gesagt, solltest du mal diesen Nebenerwerbs-Bauernhof vergrößern wollen oder irgendwie einen Stall bauen, dann haue ich ab, und das war zwischen uns ganz klar ausgesprochen. ((Und irgendwann kam er aber dann mit der Idee und mit der Vorstellung, er kann aber nicht leben ohne Bauernhof und er muss Landwirt werden, weil er in seinem anderen Beruf nicht glücklich sein wird. Und dann hat Gott sei Dank, kam jemand vom Landwirtschaftsamt, die uns damals begleitet haben auch mit dem Stallbau beraten haben und der hatte dann die zündende Idee mit dieser Erlebnisbäuerin und ob das nicht als Zusatzqualifikation jetzt als Sozialpädagogin im besonderen eine gute Idee wäre, dass ich das als Nische sozusagen, als meinen Bereich hier auf dem Hof ausüben könnte und der Herr Wagner hat tatsächlich uns damals gerettet als Paar. ))
ERZÄHLER:
Die Zusatzqualifikation zur Erlebnisbäuerin war der Startschuss für Sabines eigene berufliche Laufbahn. Über zehn Jahre führte sie Besucher aller Altersklassen über den Hof und erklärte woher die Lebensmittel kommen, wie die Tiere leben und wie sie arbeitet.
Offiziell nennt sich das „Verbraucheraufklärung“ – ab den 90er Jahren ein großes Thema der Landfrauen.
MUSIK: „Stork‘s Walk“ - C158779#108 – (1:45)
ERZÄHLER:
So fand etwa 1998 fand auch der erste Kindertag auf bayerischen Bauernhöfen statt, schon damals ein unerwarteter Erfolg: 60 000 Kinder besuchten über 1000 Betriebe. Projekte wie „Landfrauen machen Schule“ folgten.
15 SABINE SCHINDLER:
Wir waren ganz gut frequentiert und dadurch ist der Hof wieder lebendig geworden, es hat sich was bewegt und da hat‘s gewuselt. Und das hat uns allen, glaube ich, sehr gut getan.
ERZÄHLER:
Mittlerweile ist Sabine Schindler Kreisbäuerin von Schwandorf. Mit diesem Ehrenamt will sie sich für die Landfrauen, aber auch für die Gesellschaft im Allgemeinen einsetzen. Und damit ist sie nicht allein. Laut einer Studie von 2019 sind fast zwei Drittel der Landfrauen trotz hoher Arbeitsbelastung ehrenamtlich aktiv.
Bäuerinnen - das sind heute Hofmanagerinnen, Landwirtinnen, Sozialpädagoginnen, Bürofachangestellte und vieles mehr. Der Beruf „Bäuerin“, das ist ein Lebensmodell mit vielen Facetten, das die Landfrauen bis heute vor große Herausforderungen stellt - gleichberechtigt mit Zukunftsvision und Leidenschaft für ihren Beruf.
Scham geht ganz besonders tief - wir schämen uns 'bis auf die Knochen' oder möchten am liebsten 'im Erdboden versinken'. Doch: Schamgrenzen haben uns als soziale Lebewesen auch enorm erfolgreich gemacht. (BR 2020) Autorin: Prisca Straub
Credits:
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Julia Fischer
Technik: Robin Auld
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Dr. Daniel Tyradellis (Philosoph);
Dr. Jens Tiedemann (Psychoanalytiker, Psychotherapeut und Buchautor)
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WIE WIR TICKEN - EUER PSYCHOLOGIE-PODCAST
Das Inzesttabu ist ein in Mythen, Dichtung, Musik und Film immer wieder kehrendes Motiv. Sigmund Freud entwickelte seine Psychoanalyse vor allem anhand literarischer Texte. Aus der Tragödie "Ödipus" des antiken Dichters Sophokles leite er den menschlichen für die Entstehung von Kultur ausschlaggebenden Trieb ab. Autor: Frank Halbach
Credits
Autor/in dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Bürkle, Stefan Wilkening, Sven Hussock
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Susanne Poelchau
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ZUM PODCAST
Literaturtipps:
Dagmar von Hoff: Familiengeheimnisse: Inzest in Literatur und Film der Gegenwart (Literatur - Kultur - Geschlecht: Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. (Ehem. Große Reihe), Band 28.
Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 9. Hg. v. Anna Freud u. a. Imago, London 1940.- 8. Aufl. S. Fischer, Frankfurt am Main 1986.
Klaus Thraede: Blutschande (Inzest). In: Reallexikon für Antike und Christentum. Supplementband 2, Lieferung 9. Hiersemann, Stuttgart 2002.
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1964 bekam das Radio eine neue Stimme: Radio Caroline. Allen Widerständen zum Trotz verbreitete der erste Privatsender Englands die Musik einer jungen Generation weit über die Landesgrenzen hinaus. (BR 2018) Autorin: Christiane Neukirch
Credits
Autor/in dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Bürkle, Johannes Hitzelberger, Rainer Buck, Thomas Albus, Friedrich Schloffer
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Thomas Morawetz, Petra Hermann-Boeck
Im Interview:
Ronan O'Rahilly (Gründer Radio Caroline);
Peter Philips (Programmleiter Radio Caroline);
Kevin Turner (Stellvertretender Programmleiter Radio Caroline, Moderator (DJ));
Johnny Lewis (Moderator Radio Caroline (DJ));
Michael Attrill (Hörer)
Linktipp:
Das Jubiläum im BR
100 Jahre Radio in Deutschland
Unter dem Motto "100 Jahre Radio - Hört. Nie. Auf." feiert der Bayerische Rundfunk mit allen anderen ARD-Sendern und dem Deutschlandradio den 100. Geburtstag des Radios in Deutschland! Nicht nur im Radio selbst, sondern auch auf allen anderen Ausspielwegen: in der ARD Audiothek, in der ARD Mediathek, auf ARD Kultur, im Ersten und in den Dritten Fernsehprogrammen:
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Barmherzig sein, anderen helfen in Zeiten der Not - das ist ein ureigenes Bedürfnis des Menschen. Und doch geraten engagierte Helfer immer wieder in allerlei Konflikte: Mit dem Staat, mit anderen Menschen, mit sich selbst. (BR 2020) Autorin: Constanze Alvarez
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Autor/in dieser Folge: Constanze Alvarez
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Stefan Merki, Irina Wanka, Martin Fogt
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Stephan Reichel (Historiker und Flüchtlingshelfer, Geschäftsführer der kirchlichen Hilfsorganisation Matteo - Kirche und Asyl);
Brendan Röder (Dr.; Historiker, Dozent an der LMU München)
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Pilze sind im wahrsten Sinne des Wortes steinalt. Schon vor 400 Millionen Jahren gab es eine große Vielfalt. Bio-Paläontologen untersuchen fossile Pilze und rekonstruieren, wie frühe Ökosysteme funktioniert haben. Das Fazit: Ohne Pilze hätten sich die heutige Flora und Fauna nicht entwickelt. Autorin: Katharina Hübel
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Autor/in dieser Folge: Katharina Hübel
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Es sprachen: Caroline Ebner
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Iska Schreglmann
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Prof. Michael Krings, Paläobotaniker an der Ludwig-Maximilians-Universität München;
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Michael Krings: „Angriff und Abwehr vor 410 Millionen Jahren. Die Pilzpartner der Rhynie Chert Landpflanzen und ihre Parasiten“. Frei verfügbarer populärwissenschaftlicher Aufsatz von 2022: https://www.researchgate.net/publication/361092383_Angriff_und_Abwehr_vor_410_Millionen_Jahren_Die_Pilzpartner_der_Rhynie_Chert_Landpflanzen_und_ihre_Parasiten#fullTextFileContent
Liane Benning: „Molecular identification of fungi microfossils in a Neoproterozoic shale rock“; Link zur Originalstudie:
EXTERNER LINK | https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.aax7599
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Autor/in dieser Folge: Joachim Budde
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In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brennen im deutschen Reich die Synagogen. Was die NS-Propaganda als spontanen Ausbruch des "Volkszorns" darstellt, ist ein von Staat und Partei gelenkter Pogrom. (BR 2013) Autor: Klaus Uhrig
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Autor/in dieser Folge: Klaus Uhrig
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel, Stefan Wilkening
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Redaktion: Thomas Morawetz
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
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Das Tagebuch der jungen Undercover-Journalistin Paula Schlier gibt uns heute, 100 Jahre später, einen seltenen Einblick in die Anfänge des Nationalsozialismus in München. Aber wer war diese Frau, was hat sie motiviert, war sie überhaupt eine Heldin? Die BR-Reporterin Paula Lochte begibt sich auf Spurensuche.
Paula sucht Paula | Folge 1/3 | Alles Geschichte - History von radioWissen
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Zivilcourage - klingt gut, fällt aber vielen nicht leicht. Es kostet Überwindung, ohne Rücksicht auf eigene Nachteile für andere und deren Unversehrtheit einzutreten. Dabei ist das Plädoyer danach ziemlich alt. (BR 2017) Autorin: Daniela Remus
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PD, Nils Zurawski, Kriminologe Hamburg
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Fast sein gesamtes Werk ist eine Annäherung an sich selbst, aber trotz dieser literarischen Egozentrik hat der Schweizer Autor Max Frisch ein internationales Publikum begeistert. Wie kaum ein zweiter deutschsprachiger Autor der Nachkriegszeit hat Frisch über sich geschrieben und die Welt gemeint, oder wie sein Landsmann Friedrich Dürrenmatt es wendete: Frisch nahm seinen Fall für die Welt. (BR 2019) Autor: Thomas Morawetz
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Wie schon der erste diente auch der zweite Opiumkrieg dazu, das große chinesische Reich gewaltsam für westliche Warenströme zu öffnen. Mit Kanonenbooten und Opium, mit Soldaten, Missionaren und "Ungleichen Verträgen" stürzten fremde Mächte, allen voran Europäer, das China des 19. Jahrhunderts in eine tiefe Krise. Autor: Thomas Grasberger
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Alan Gauld, A.D. Cornell: „Poltergeists“. White Crow Books 2017
Anna Lux: „Wissenschaft als Grenzwissenschaft. Hans Bender und die deutsche Parapsychologie“. De Gruyter 2020
Richard Sugg: „A Century of ghost stories“. CreateSpace Independent Publishing 2017
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In manchen Räumen fühlen wir uns besonders wohl, andere meiden wir nach Möglichkeit. Gebäude, Orte und Plätze scheinen über ein eigenes, energetisches Potenzial zu verfügen. Der Mensch kann damit in Resonanz gehen. (BR 2018) Autorin: Gerda Kuhn
Credits
Autor/in dieser Folge: Gerda Kuhn
Regie: Gerda Kuhn, Petra Hermann
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christian Baumann
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Nicole Ruchlak, Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Gernot Candolini (Biologe, Pädagoge, Autor, Innsbruck);
Stefan Brönnle (Dipl.-Ing.; Landschafts-Ökologe, Leiter der Geomantie-Schule Inana)
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Der Blutdruck steigt morgens stark an. Die Blase füllt sich mittags am schnellsten. Und die Haut erneuert sich vor allem nachts. Viele Funktionen unseres Körpers schwanken im 24-Stunden-Takt, im sogenannten zirkadianen Rhythmus. (BR 2018) Autorin: Maike Brzoska
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Carsten Fabian
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Gerda Kuhn, Nicole Ruchlak
Im Interview:
Ulf Landmesser (Direktor der Klinik für Kardiologie am Campus Benjamin Franklin der Charité Berlin);
Björn Lemmer (emeritierter Professor für Pharmakologie und Toxikologie an der Universität Heidelberg);
Martin Midekke (Leiter des Hypertoniezentrums in München);
Achim Kramer (Professor für Chronobiologie und Leiter der medizinischen Immunologie an der Charité, Berlin);
Angela Relógio (Forscherin am Institut für Theoretische Biologie der Charité, Berlin)
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In der Quantenwelt sind Dinge möglich, die völlig absurd erscheinen. Teilchenpaare sind etwa auf rätselhafte Weise miteinander verbunden, trotz riesiger Distanz zwischen ihnen. Die Quantenphysik hat unser gesamtes Weltbild verändert. (BR 2020) Autor: David Globig
Credits
Autor/in dieser Folge: David Globig
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Florian Schwarz
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Ernst Peter Fischer, Wissenschaftshistoriker;
Prof. Harald Lesch, Theoretische Astrophysik, Ludwig-Maximilians-Universität München;
Dr. Kurt Bräuer, Physiker, Tübingen;
Prof. Harald Weinfurter, Physik, Ludwig-Maximilians-Universität München;
Dr. Rupert Ursin, Experimentalphysiker, Wien
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHERIN:
Ein Basketballspiel in seiner entscheidenden Phase. Mit dem Ball dribbelt der Angreifer an die Drei-Punkte-Linie. Dort stoppt er – und zielt.
ATMO Basketballspiel (weniger Geräusche auf dem Spielfeld, Ball wird nicht mehr geprellt, Publikum wartet gespannt), darüber
SPRECHERIN:
Den Korb fest im Blick wirft er genau im richtigen Winkel und mit der passenden Geschwindigkeit. Gebannt verfolgt das Publikum die Flugbahn des Balls...
GERÄUSCH Applaus, darüber
SPRECHERIN:
... bis er schließlich im Korb landet. Dass wir die Flugbahn eines Objekts exakt vorausberechnen können; und dass wir dadurch, dass wir dieses Objekt beobachten, jederzeit genau wissen, wo es sich gerade befindet: Das ist für uns eine völlig normale Alltagserfahrung.
SPRECHERIN:
Was beim Basketballspiel funktioniert, das klappt genauso ein paar Nummern größer: Auch die Bahnen der Planeten, die um die Sonne kreisen, können wir präzise bestimmen. Doch wenn wir uns umgekehrt in die Welt der kleinsten Teilchen begeben, in die Welt der Atome, Elektronen und Photonen, dann sieht die Sache plötzlich ganz anders aus.
SPRECHER:
Die Quantentheorie - Ein Abschied von alten Gewissheiten
SPRECHERIN:
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren sich die Physiker ziemlich einig: Die Prinzipien, nach denen die Welt 'funktioniert', die haben wir verstanden. Besonders Galileo, Kepler und Newton hatten mit ihren Erkenntnissen entscheidend dazu beigetragen. Für wie vollständig die Forscher ihr Weltbild hielten, schilderte Max Planck 1942 in einem kurzen Film. Er erinnerte sich an die Worte, die ihm sein Münchner Physikprofessor Philipp von Jolly gut 60 Jahre zuvor mit auf den Weg gegeben hatte. Damals wollte Planck sein Studium in Berlin abschließen.
01 O-TON Planck (Selbstdarstellung von 1942):
"Er sagte mir nämlich: 'Theoretische Physik, das ist ja ein ganz schönes Fach, obwohl es gegenwärtig keine Lehrstühle dafür gibt. Aber grundsätzlich Neues werden Sie darin kaum mehr leisten können. Denn mit der Entdeckung des Prinzips der Erhaltung der Energie ist wohl das Gebäude der theoretischen Physik ziemlich vollendet. ((Man kann wohl hier und da in dem einen oder anderen Winkel ein Stäubchen noch auskehren, aber was prinzipiell Neues, das werden Sie nicht finden."))
SPRECHERIN:
Ein kolossaler Irrtum, wie sich einige Jahre später zeigen sollte. Und es war ausgerechnet Max Planck, der - eher unfreiwillig – eine Revolution der Physik einleitete. Dabei wollte er nur eine scheinbar einfache Frage beantworten: In welcher Farbe leuchtet ein Körper, den man stark erhitzt? Wann glüht er dunkelrot, wann sieht man Weißglut? Dabei fand Planck im Jahr 1900 eine Formel, die besagte, dass ein Material Energie nur in Form winzigster Portionen aufnehmen und abgeben kann. Planck nannte diese Energie-Pakete "Quanten". Für ihn war das erst einmal nur so etwas wie ein Rechentrick. Doch Forscher wie Albert Einstein und Niels Bohr griffen die Idee in den folgenden Jahren auf. Sie zeigten, dass z.B. Licht tatsächlich in Form solcher kleinen Portionen unterwegs ist: den Lichtquanten oder Photonen. Das widersprach völlig dem damaligen physikalischen Weltbild, erklärt der Wissenschaftshistoriker Prof. Ernst Peter Fischer.
02 O-TON Fischer 01:
"Man wusste seit so etwa 1800, dass das Licht eine Welle ist. ((Damals hatte ein Engländer namens Thomas Young bewiesen, dass Licht interferieren kann, dass Licht plus Licht Dunkelheit ergeben kann. Mit anderen Worten: Licht ist eine Wellenbewegung.)) Und die Physiker dachten, das ist entschieden. Mit dem Quantum bekommt das Licht wieder so einen Teilchencharakter, nicht. Da kommen so einzelne Wellenpakete. Und diese Wellenpakete sind aber dann als Teilchen zu deuten."
SPRECHERIN:
Dass in der Natur etwas nicht kontinuierlich abläuft, sondern in winzigen Quanten-Stufen: Viele Physiker empfanden diese Vorstellung damals regelrecht als Zumutung. Doch nur so lassen sich etliche physikalische Phänomene erklären.
Für den jungen dänischen Physiker Niels Bohr war die Quantentheorie Ausgangspunkt für ein anschauliches Atommodell. Bohr nahm an, dass die Elektronen wie die Planeten in unserem Sonnensystem um den Atomkern kreisen: auf ganz bestimmten Bahnen. Sie können allerdings von einer Umlaufbahn auf eine andere wechseln, wenn sie ein Licht- oder Energiequant aufnehmen - oder es abgeben. Das ist übrigens der vielzitierte "Quantensprung".
Allzu lange hatte Bohrs Atommodell allerdings nicht Bestand. Ab Mitte der 1920er Jahre krempelte ein anderer junger Wissenschaftler, Werner Heisenberg, das physikalische Weltbild noch einmal komplett um.
03 O-TON Fischer 02:
"Er hatte plötzlich die Idee, dass man aufhören müsste, die Physik der Atome von alltäglichen Modellen her zu konstruieren. Also z.B. von der Annahme ausgehend, dass die Elektronen eine Bahn haben. Vielleicht gibt es gar nicht so etwas wie die Bahn eines Elektrons; denn beobachten kann man die ja nicht."
SPRECHERIN:
Heisenberg bildete deshalb ein mathematisches Schema, in das unter anderem die Frequenz, also die "Farbe" des Lichts einging, das ein Atom aussenden kann. Diese Frequenz lässt sich beobachten. Damit begründete er die "Quantenmechanik" – nur, um kurze Zeit später etwas noch Revolutionäreres zu formulieren: die Unschärfe- bzw. Unbestimmtheitsrelation.
Erinnern wir uns an das Basketballspiel
GERÄUSCH Basketballspiel, darüber
SPRECHERIN:
Wir sehen in jedem Moment genau, wo sich der Ball befindet - und mit welcher Geschwindigkeit er Richtung Korb fliegt. Mit Messgeräten könnten wir die Werte sogar exakt ermitteln.
Heisenberg erkannte, dass das in der Welt der kleinsten Teilchen nicht geht. Wenn man dort etwa die Geschwindigkeit eines Elektrons exakt misst, dann kann man seinen Ort gleichzeitig nur ungenau bestimmen – und umgekehrt. Wie müssen wir uns also z.B. Elektronen in einem Atom vorstellen?
04 O-TON Lesch 01:
"Das wichtigste ist, dass man nicht mehr genau weiß, wovon man eigentlich spricht. Weil man keine klare Lokalisation mehr vornehmen kann: Das ist da, und das ist auch zu einer bestimmten Zeit genau an diesem Ort. Dass all diese Genauigkeiten auf einmal schwammig wurden, also dass man nur noch statistische Aussagen machen kann."
SPRECHERIN:
... betont der Astrophysiker Harald Lesch. Er ist Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Man kann also nur noch angeben, in welchem Bereich sich ein Elektron wahrscheinlich aufhält. Das Planetenmodell hat damit endgültig ausgedient. Und versucht man, die Eigenschaften von Elektronen, Photonen usw. zu beschreiben, wird die Sache richtig merkwürdig, erklärt Dr. Kurt Bräuer. Er hat am Institut für Theoretische Physik der Eberhard-Karls-Universität Tübingen lange Zeit Studierende in die Grundlagen der Quantenmechanik eingeführt. Die Eigenschaften etwa eines Elektrons sind nämlich nicht eindeutig.
05 O-TON Bräuer 02:
"Es hat ganz viele Aspekte und man kann es so anschauen und so anschauen. Und wie es dann erscheint, als Teilchen oder Welle, das hängt vom Beobachter ab."
SPRECHERIN:
Bzw. davon, wie man es beobachtet oder was man misst. Erst durch diese Messung bekommt ein Elektron – oder auch ein Photon, also ein Lichtquant - seine Eigenschaften. Daraus ergeben sich ziemlich seltsame Konsequenzen.
SPRECHER:
Welle, Teilchen, Quantenspuk – Erstaunliche Phänomene im Mikrokosmos
SPRECHERIN:
In der Quantenwelt gelten völlig andere Gesetze als in der makroskopischen, klassischen Welt; also der Welt, mit der wir es tagtäglich zu tun haben. Besonders deutlich wird das beim sogenannten Doppelspalt-Versuch. Man nehme: eine Quelle, die Elektronen aussendet – einzeln, ein Elektron nach dem anderen. Außerdem braucht man einen Schirm, auf dem jedes Elektron, das dort auftrifft, einen kleinen Lichtblitz erzeugt. Diese Blitze aufzeichnen zeichnet man auf. Zwischen Quelle und Schirm kommt dann noch eine Blende mit zwei Spalten - parallel zueinander.
Anschließend schaltet man die Elektronenquelle ein und schaut, was passiert, wenn die winzigen Teilchen Richtung Schirm rasen.
06 O-TON Bräuer 05:
"Und dann denkt man natürlich: Okay, jetzt kann das Elektron entweder durch den einen Spalt oder den anderen durch. Und ich sehe hinten auf meinem Schirm praktisch das Schattenmuster von der Blende. Einfach da, wo die durchgehen, da gehen die auf den Schirm und sonst ist der Schirm dunkel. Und das ist nicht der Fall."
SPRECHERIN:
Zeichnet man die Lichtblitze über längere Zeit auf, dann erscheint statt zweier meist etwas unscharfer, leuchtender Flächen, die ineinander übergehen, eine deutlich sichtbare Struktur: Viele helle und dunkle Streifen nebeneinander. Es ist ein typisches Interferenz-Muster, das anzeigt: Hier überlagern sich Wellen. Trifft Wellenberg auf Wellenberg, wird daraus ein höherer Berg. Das bedeutet: heller Streifen. Trifft Wellenberg auf Wellental, löschen sie sich gegenseitig aus. Es entsteht: ein dunkler Streifen. D.h. jedes einzelne Elektron scheint als Welle durch beide Spalte zu laufen.
07 O-TON Bräuer 07A + 07B:
"Wie kann das sein? Also, ich weiß doch, Elektronen sind Teilchen. Ich guck einfach. Ich mach einen Detektor, der nachguckt, ob das Elektron durch den unteren oder oberen Spalt geht. Und jetzt wird das ein bisschen verrückt."
SPRECHERIN:
Denn baut man diesen Detektor, also eine Messvorrichtung ein, die registrieren kann, wo das Elektron entlangfliegt, und startet den Versuch erneut, dann ist plötzlich alles anders.
08 O-TON Bräuer 07C:
"Wenn man das macht, gell, man sieht dann tatsächlich: In 50 % der Fälle spricht mein Detektor an, mein Wege-Detektor, sonst nicht. Dann ist aber auch das Muster weg."
SPRECHERIN:
Sobald man also misst, welchen Weg ein Elektron nimmt, verhalten sich die Elektronen wie Teilchen. Mal geht eines durch den einen Spalt, mal durch den anderen. Ohne Wege-Detektor zeigt die Verteilung der Elektronen auf dem Leuchtschirm deren Wellencharakter. Es gibt demnach mehr als eine korrekte Beschreibung des Elektrons - auch wenn sich diese Beschreibungen scheinbar widersprechen. Niels Bohr hat dafür den Begriff "Komplementarität" geprägt. Die unterschiedlichen Eigenschaften lassen sich aber nicht gleichzeitig registrieren.
Welle - Teilchen: Diesen "Dualismus" können Forscher sogar bei erstaunlich massiven Objekten nachweisen. ((Der Physiker Prof. Harald Weinfurter von der Ludwig-Maximilians-Universität München erläutert.
09 O-TON Weinfurter 11:
"Die Gruppe von Markus Arndt an der Uni Wien, die führen Experimente durch, bei denen sie Interferometrie mit Materie machen. Aber jetzt nicht mit einzelnen Atomen, sondern mit riesengroßen Molekülen. Und diese Moleküle werden immer größer, größer, sind schon organische Moleküle, wie sie auch in unserem Körper regelmäßig vorkommen."
SPRECHERIN:
Photonen, Elektronen, Atome, Moleküle - in dieser Welt der Quanten fällt eine entscheidende Rolle dem Beobachtenden zu. Er legt durch seine Beobachtung, seine Messung, die Eigenschaften der winzigen Objekte fest.
Solange er nicht misst, ist z.B. ein Elektron nur so etwas wie die Summe oder die Überlagerung "aller Möglichkeiten, die es sein kann", beschreibt Ernst Peter Fischer.
10 O-TON Fischer 03:
"Die Physiker haben dafür den hübschen Ausdruck des Superpositionsprinzips. D.h. es ist ein kreativer Akt des Wissenschaftlers, der die Natur schafft. Das ist übrigens die eigentlich sensationelle Entdeckung, die in der Quantentheorie drin steckt: Die Beteiligung des Beobachters ist ja nicht, dass er das Experiment stört, sondern die Phänomene erschafft."
SPRECHERIN:
... aus dieser "Summe aller Möglichkeiten". Er legt einen Zustand fest. Wobei "beobachten" sich nicht auf Messungen bei Experimenten beschränkt. Auch die Wechselwirkung der Quantenobjekte mit ihrer Umgebung ist so etwas wie eine Messung, eine Beobachtung. Irgendwann geht so ihr quantenmechanischer Zustand verloren.
Bis das passiert stellen die Quantenphänomene unseren am Alltag geschulten Verstand allerdings auf eine ziemlich harte Probe. Z.B. auch dadurch, dass Atomkerne in der Lage sind, auf geradezu magische Weise Barrieren zu durchdringen. Man spricht vom Tunneleffekt. Er spielt unter anderem in Sternen wie unserer Sonne eine Rolle, erklärt Harald Lesch, wenn bei der Kernfusion aus Wasserstoff Helium wird.
11 O-TON Lesch 12:
"Wie können zwei Teilchen miteinander zu einem neuen Atomkern verschmelzen, wo sie doch beide positiv geladen sind z.B.? Und positive Ladungen stoßen sich ab. Und zwar umso stärker, je näher sie beieinander sind."
SPRECHERIN:
... was eigentlich verhindern müsste, dass sie verschmelzen. Und trotzdem klappt es. Weil – der Quantenmechanik sei Dank – die Teilchen unbestimmt sind. D.h. mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kommen sie sich eben doch nahe genug.
12 O-TON Lesch 12B:
"Und so entsteht z.B. in der Sonne bei einem Zusammenstoß von einer Trillion Zusammenstößen, und eine Trillion ist immer eine Eins mit 18 Nullen. Also d.h. mit einer sehr, sehr geringen Effizienz entstehen immer wieder neue Atomkerne."
SPRECHERIN:
... wodurch die Energie frei wird, der wir das Sonnenlicht und somit unsere Existenz verdanken.
Dass sich Teilchen an Orten aufhalten, die ihnen – zumindest nach den Gesetzen der klassischen Physik - eigentlich "verboten" sind, das macht auch technische Anwendungen möglich, wie das Rastertunnelmikroskop. Man kommt bis auf die Größe einzelner Atome... Mit seiner Hilfe lassen sich selbst einzelne Atome abbilden.
Und da wäre noch eine dieser "Verrücktheiten" aus der Quantenwelt:
13 O-TON Ursin:
"Die Quantenmechanik sagt vorher, dass zwei Teilchen miteinander in Verbindung bleiben – über unendlich lange Distanzen."
SPRECHERIN:
Erklärt der österreichische Experimentalphysiker Dr. Rupert Ursin. Er forscht mit genau solchen Teilchen - man bezeichnet sie als "verschränkt".
Ein Laser und ein spezieller Kristall genügen z.B., um verschränkte Photonen-Paare zu erzeugen. Die kann man nun in zwei verschiedene Richtungen losschicken. Möglichst weit.
14 O-TON Ursin:
"Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, quantenmechanische Verschränkung, quantenmechanische Phänomene nicht nur im Labor nachzuweisen, über die Distanzen von einigen Metern, die man im Labor nachweisen kann, sondern über sehr weite Distanzen."
SPRECHERIN:
Von einer Insel zur nächsten etwa, oder von einem Satelliten zur Erde. An einem dieser Photonen misst man nun die Schwingungsebene des Lichts, die Polarisation. Damit legt man von den möglichen Schwingungsrichtungen eine fest. Aber nicht nur bei diesem Photon, sondern im selben Augenblick auch bei dem weit entfernen anderen. So, als seien sie eine Einheit. Das würde selbst über eine Entfernung von mehreren Lichtjahren funktionieren. Nutzen kann man das unter anderem, um für verschlüsselte Verbindungen einen digitalen Schlüssel zu verteilen – einen Schlüssel, der sich nicht unbemerkt abfangen lässt, betont der Physiker Prof. Harald Weinfurter.
15 O-TON Weinfurter 16A:
"Die Informationen, die ein möglicher Abhörer, der bei dieser Erzeugung dann irgendwie attackiert haben könnte, erhalten hat, die kann man messen.
SPRECHERIN:
Denn jede Beobachtung, jede Messung durch eine dritte Person ändert den Zustand der Quantensysteme.
Verschränkung spielt auch bei Quantencomputern eine wichtige Rolle. Genauso wie die Superposition, also diese merkwürdige Überlagerung von Zuständen, die sich eigentlich ausschließen. Anders als "normale" Bits sind Quanten-Bits während der Berechnung nicht auf den Wert 1 oder 0 festgelegt. Das geschieht erst, wenn der Rechner am Ende ein Ergebnis ausliest.
Noch sind Quantencomputer in erster Linie Forschungsobjekte. Andere Quantentechnologien hingegen haben längst in unserem Alltag Einzug gehalten: vom Laser über die Atomuhr bis zur Magnetresonanztomographie in Arztpraxen und Kliniken.
Doch die Quantentheorie hat auch noch etwas ganz anderes bewirkt: Sie hat unsere Weltsicht verändert.
SPRECHER:
Neu betrachtet - Wie Quantenphänomene für einen anderen Blick auf die Dinge sorgen
SPRECHERIN:
Woher kommen wir? Und warum ist die Welt so, wie sie ist? Es sind ganz grundlegende Fragen, die die Quantenphysik berührt. Das fängt schon damit an, dass es uns gar nicht gäbe, wenn nur die Gesetze der klassischen Physik gelten würden, betont Harald Lesch.
16 O-TON Lesch 9:
"Die Quantenmechanik erklärt vor allen Dingen die Stabilität der Materie, warum die Elektronen eben nicht in den Atomkern hineinfallen. Eigentlich müssten sie im Affenzahn in den Kern rein spiralieren; und da müssten sich Neutronen bilden. Tun es aber nicht."
SPRECHERIN:
Und weil sie es nicht tun, sondern die Atome stabil sind, existiert diese Welt - und gibt es uns.
Die Quantenmechanik erklärt den Aufbau der Atome, ihre Position im Periodensystem der Elemente, ihre chemischen Eigenschaften.
Und dank der Quantenphysik können wir exakt berechnen, welche elektromagnetische Strahlung Atome unter bestimmten Bedingungen abgeben: Licht, aber auch Radiowellen. Das eröffnet völlig neue Perspektiven beim Blick ins All.
17 O-TON Lesch 8A:
"Damit können wir zum Beispiel die Rotations-Kurven von sehr weit entfernten Galaxien messen. Wir können das gesamte Universum durchmustern damit. Also ohne die Quantenmechanik hätten wir gar keine Instrumente, um das Universum dermaßen zu untersuchen, wie wir es heute können. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt Astrophysik machen zu können."
SPRECHERIN:
Woher kommen wir? Warum ist die Welt so, wie sie ist? Aber auch: Was können wir wissen? Das sind nicht nur naturwissenschaftliche Fragen, sondern genauso philosophische. Etwa für Werner Heisenberg waren Physik und Philosophie nicht voneinander zu trennen. Er machte sich unter anderem Gedanken darüber, ob klassische philosophische Konzepte auch in Zeiten der Quantenmechanik noch Bestand haben. Wenn es z.B. um den Aspekt geht, was denn ein Quantenobjekt wirklich ist; etwa ein Elektron, das mal so und mal ganz anders erscheinen kann – je nachdem, wie man es durch seine Beobachtung festlegt.
Hier wird es auch für Harald Lesch philosophisch.
18 O-TON Lesch 10:
"Es gibt Eigenschaften, die wir diesem Objekt zuordnen können. Aber was es tatsächlich ist, wissen wir nicht. Im besten kantschen Sinne könnte man davon sprechen: Wir werden nie erfahren, was das 'Ding an sich' eigentlich ist."
SPRECHERIN:
Niels Bohr glaubte ebenfalls, dass Erkenntnisse aus der Quantenphysik auch jenseits der Naturwissenschaften eine wichtige Rolle spielen. Er sah z.B. in der Komplementarität ein allgemeines erkenntnistheoretisches Prinzip. Also, dass zwei komplementäre Eigenschaften sich zu widersprechen scheinen, man aber beide braucht, um etwas korrekt zu beschreiben. So wie beim Licht, das eben Wellen- und Teilchencharakter hat. Bohr übertrug dieses Prinzip unter anderem auf die Biologie und Psychologie.
Auch der Physiker Wolfgang Pauli sah Parallelen zwischen der Quantenphysik und der Psychologie. Über Jahre tauschte er sich mit dem Psychologen C. G. Jung aus, erklärt Kurt Bräuer.
19 O-TON Bräuer:
"Und der sagt, eigentlich ist die Welt und unsere Existenz uns gar nicht bewusst, sondern, so wie die Spitze von einem Eisberg, dringen Inhalte ins Bewusstsein. Also etwas, was gar nicht fassbar ist, das sich aber auf ganz unterschiedliche Weise im Bewusstsein äußert und sich dann manifestiert."
SPRECHERIN:
Ähnlich, wie sich eine physikalische Eigenschaft eines Quantenobjekts erst durch eine Messung manifestiert – aus der "Summe aller Möglichkeiten, die es sein kann".
((Ideen aus der Quantenphysik haben aber auch Künstler aufgegriffen: So spielt z.B. in der Musik von John Cage der Zufall eine wichtige Rolle. Begriffe wie "Quantisierung" und "Komplementarität" wurden zur Anregung für Skulpturen an. Und auf der documenta in Kassel waren einmal Quantenexperimente des österreichischen Physikers Anton Zeilinger zu sehen.))
Immer wieder muss die Quantenphysik allerdings auch für pseudo-wissenschaftliche Erklärungen herhalten – für Dinge, die mit Wissenschaft rein gar nichts zu tun haben, ärgert sich Harald Weinfurter.
20 O-TON Weinfurter:
"Der ganze Missbrauch, muss ich wirklich sagen, der mit Quanten-Blabla betrieben wird: Es ist einfach fürchterlich."
SPRECHERIN:
Aber da es nun mal in der Welt der kleinsten Teilchen ein ganzes Stück verrückter zugeht, als wir es aus unserem Alltag gewohnt sind, lässt sich eben so mancher vom Wort "Quanten" blenden.
Und es gibt da noch einen – naja, Missbrauch ist vielleicht zu viel gesagt: das besonders bei Politikern und in der Wirtschaft beliebte Wort "Quantensprung", für einen großen Fortschritt. Die Entdeckung des Quantensprungs war zwar revolutionär, aber letztlich ist er nur das, was ein winziges Elektron in einem winzigen Atom vollführt.
((21 O-TON Lesch 13:
"Naja, rein qualitativ ist das ja ein vernünftiger Begriff. Also, dass man sagt, okay, da findet etwas völlig Neues statt. Aber quantitativ ist es natürlich ziemlich mickrig. Insofern sollte man mit der Verwendung dieses Begriffes eher vorsichtig sein."))
Eine Mischung aus theoretischem Physiker und Zirkusdirektor: Richard Feynman revolutionierte die Quantenphysik und setzte dabei auch auf den großen Auftritt. (BR 2020) Autorin: Sophie Stigler
Credits
Autor/in dieser Folge: Sophie Stigler
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Johannes Hitzelberger, Benedikt Schregle
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Finn Ravndal (Doktorand bei Feynman am Caltech von 1968-74)
Harald Fritzsch (Forscher in Gruppe Murray Gell-Mann am Caltech, 1972-76)
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO großer Hörsaal, voll, Gemurmel, Gespräche
MUSIK Beschwingt, positiv, bouncy
OTON Ravndal 1
[00:36:57] I remember the first very first time I saw Feynman in the lecture hall.
VOICE-OVER – Sprecher: Ravndal 1
Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich Feynman gesehen habe, im Hörsaal war das.
OTON Ravndal 2
((That must have been during my first year and that time I hadn't seen him yet on campus.)) And I was sitting in the audience. And then I saw this man walking down on my left side towards the blackboard and he had a white shirt and gray black pants and he had long black gray hair.
VOICE-OVER – Sprecher: Ravndal 2
Ich habe bei den Zuhörern gesessen und sehe dann diesen Mann, der links von mir zur Tafel runtergeht. Er hatte ein weißes Hemd an und eine grauschwarze Hose und lange grauschwarze Haare.
SPRECHERIN 2
Finn Ravndal erzählt – einer von Richard Feynmans wenigen Doktoranden.
OTON Ravndal 3
((And he was moving.)) He was almost gliding down towards the blackboard. And he was smiling and he looked in many ways divine.
VOICE-OVER – Sprecher: Ravndal 3
Er ist fast runter zur Tafel geschwebt. Und er hat gelächelt und hatte dabei sowas… göttliches.
OTON Ravndal 4
I think I thought about Jesus [freistehen lassen], because he almost, you know, he was in a different sphere because he looked so happy and so content. And it was very, it made a very special impression that time.
VOICE-OVER – Sprecher: Ravndal 4
Ich glaube, ich dachte da an Jesus. Weil er fast, naja, er war irgendwie in anderen Sphären unterwegs, so glücklich, so zufrieden sah er aus. Und das hat auf mich damals ziemlich Eindruck gemacht.
SPRECHERIN 3
Aber dann spricht Jesus über Theoretische Physik.
OTON Ravndal 5
[00:38:32] Yes. Yes. Yes.
ATMO Hörsaal keine Gespräche mehr, nur noch Raumgeräusch??
MUSIK bouncy steht frei, auch immer wieder mit Akzenten in Pausen von folgendem Sprechertext
SPRECHERIN 4
Richard Feynman ist nicht nur theoretischer Physiker. Er hat das Herz eines Zauberers, der das Staunen der Zuschauer liebt – ein Entertainer eben. In einer Vorlesung beschwert er sich halb ironisch, halb ernst: Seine Vorredner erwähnten immer nur, was für ein guter Trommler er sei.
SPRECHER Feynman 6
Sie scheinen es nie für nötig zu halten, dass ich auch theoretische Physik betreibe.
MUSIK bouncy endet mit Akzent
SPRECHERIN 5
Vielleicht waren die Kollegen der Meinung, Feynman brauche keine lange Vorstellung. Schließlich gehört sein Name in die Reihe der bekanntesten Physiker der USA. Und auch, wer in Deutschland einen Physik-Hörsaal betritt, hat gute Chancen, an der Tafel Richard Feynmans Vermächtnis zu sehen: Abstrakte Kunstwerke aus Strichen, Schlangenlinien, Pfeilen – die Feynman-Diagramme. Sie zeigen, was zwischen Elementarteilchen vor sich geht. Und sie haben Feynman einen Nobelpreis eingebracht. Nicht für die eine große Theorie, sondern für den Anspruch, dass Physik einfach und verständlich sein sollte – selbst, wenn es Quantenphysik ist. Das machte ihn zu einem der besten Lehrer, den die Physik je hatte. Das und ein gutes Gefühl für einen dramatischen Auftritt. Schon mit elf, zwölf Jahren. Feynmann erinnert sich in seiner Anekdotensammlung “Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!“
MUSIK nostalgisch, fröhlich, Ende 20er/ Anfang 30er Jahre
SPRECHER Feynman 7
Wir haben oft Zauberkunststücke – chemische Zaubereien – für die Kinder aus der Straße vorgeführt.
MUSIK Ende
SPRECHERIN 7
Am MIT und später an der Universität Princeton gehört Feynman Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre zur ersten Generation von Physikern, die Quantenphysik im Studium lernen. Man weiß damals noch nicht allzu lange, dass seltsame Dinge passieren, wenn man immer tiefer in die Materie hineinschaut. In der Welt der kleinsten Teilchen, der Quanten, gibt es plötzlich keine Gewissheiten mehr, sondern es regieren der Zufall und Wahrscheinlichkeiten. Leider wollen die neuen Gesetze der Quantenmechanik so gar nicht zu den „alten“ Gesetzen passen, die die Welt der großen Dinge doch vorher so gut beschrieben haben. Selbst für Feynman wird diese Erkenntnis problematisch:
OTON Feynman 9
3:15 We see things that are far from what we would guess.
SPRECHERIN 8
Feynmans Vorlesung mit dem Titel “Wahrscheinlichkeit und Unsicherheit“, 1964 aufgenommen von der BBC.
OTON Feynman 10
Our imagination is stretched to the utmost just to comprehend the things that are there.
VOICE-OVER/SPRECHER Feynman 10 (nicht drüberlegen, bitte)
Wir sehen Dinge, die weit weg sind von allem, was wir erwartet hatten. Unsere Vorstellungskraft wird aufs Äußerste gefordert, nur, um die Dinge zu erfassen, die da sind.
SPRECHERIN 9
Genau das ist Feynmans Mission: Diese neue unvorstellbare Quantenwelt zu versöhnen mit der bewährten Physik. Aber das reicht ihm noch nicht, erinnert sich sein früherer Doktorand Finn Ravndal. Er ist heute emeritierter Professor der Universität Oslo.
OTON Finn Ravndal 11
[00:51:25] He used to say that if you if you have found a truth about nature, something which is of fundamental importance on the basic level, then whatever this level is, when the truth, when it's right, when it's really true, then you should be able to go out and tell an arbitrary person on the street about this truth and this insight. And this arbitrary person should understand right away that this is really right. (…) And it sounds almost hopeless to do that in theoretical physics, in elementary particles. But that was his attitude.
VOICE-OVER Ravndal 11
Er sagte immer, dass, wenn du etwas Wahres über die Natur rausgefunden hast, etwas, das grundlegend wichtig ist, dann solltest du in der Lage sein, auf die Straße zu gehen und deine Erkenntnis der nächstbesten Person zu erklären. [Und diese Person sollte sofort verstehen, dass deine Erkenntnis auch stimmt.] Das klingt hoffnungslos in der Theoretischen Physik oder in der Teilchenphysik. Aber das war seine Einstellung.
SPRECHERIN 10
Feynman nimmt schon im Physikstudium nichts als gegeben hin, leitet sich alle Gesetze selbst her. Aber noch bevor seine Karriere in der Wissenschaft richtig angefangen hat, wird er vor die Wahl gestellt.
MUSIK Spannung sanft
SPRECHERIN 11
Ein Kollege berichtet ihm von einem geheimen Projekt, bei dem Feynman unbedingt mitmachen müsse.
SPRECHER Feynman 12
Dann erzählte er mir von der Aufgabe, verschiedene Uranisotope voneinander zu trennen, um daraus schließlich eine Bombe zu machen. Er erzählte mir davon und sagte: „Es findet ein Treffen…“ Ich sagte, ich wolle nicht daran mitarbeiten. Er sagte: „Na gut, um drei Uhr findet ein Treffen statt. Bis dann.“
SPRECHERIN 12
Feynman erklärt dem Kollegen noch einmal, dass er nicht mitmachen wird [und wendet sich wieder seiner Doktorarbeit zu – für ungefähr drei Minuten].
SPRECHER Feynman 13
Dann begann ich auf und ab zu gehen und mir die Sache zu überlegen.
SPRECHERIN 13
Er denkt an Hitler und dessen Versuche, eine Atombombe zu entwickeln, und an die Möglichkeit, dass es ihm gelingen könnte. Um drei Uhr ist er beim Treffen. Um vier Uhr sitzt er an einem Schreibtisch und rechnet los. So erinnert sich Richard Feynman jedenfalls in seiner Anekdotensammlung „Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!“.
MUSIK bleibt noch frei stehen und endet dann
SPRECHERIN 14
Am Kernforschungsstützpunkt in Los Alamos, New Mexico arbeitet Feynman also mit an der US-amerikanischen Atombombe. Eine seiner Aufgaben: die Explosionskraft der Bombe berechnen. Wenn er kann, fährt Feynman die knapp zwei Stunden ins Krankenhaus, um seine Frau Arline zu besuchen.
Seine große Jugendliebe hat eine lebensbedrohliche Form der Tuberkulose. Feynman gelingt es dennoch, ihre Krankheit und den Erfolgsdruck immer wieder wenigstens für kurze Zeit zu vergessen – etwa mit Streichen, die man einem Physiker, der gerade an der Atombombe forscht, nicht unbedingt zutrauen würde. Er macht sich einen Spaß daraus, die Tresore der Kollegen zu knacken und wird richtig gut darin.
SPRECHER Feynman 14
Wir hatten in Los Alamos keine Unterhaltung, und wir mussten uns selbst irgendwie amüsieren. (S. 188)
SPRECHERIN 15
Im Manhattan Project gehen Größen in der Physik ein und aus. Paul Dirac etwa, der Mitbegründer der Quantenphysik, und die Kernphysiker Enrico Fermi und Niels Bohr. Feynman hat am Anfang nicht mal einen Doktortitel, verdient sich aber Respekt mit seinem klugen Kopf und seiner unerschrockenen Art. [Noch während seiner Zeit in Los Alamos bekommt er Angebote von Universitäten.]
MUSIK traurig, sanft
SPRECHERIN 16
Im Sommer 1945 erreicht Feynman schließlich der lange befürchtete Anruf. Auf dem Weg zum Krankenhaus hat sein Auto drei platte Reifen. Er schafft es noch rechtzeitig – Arline stirbt wenige Stunden später. Die Frau, mit der er sein Leben verbringen wollte, wird 25 Jahre alt.
MUSIK steht frei
SPRECHERIN 17
Wenige Wochen später explodiert die erste Atombombe der USA.
SPRECHER Feynman 15
BANG, und dann ein Grollen, wie Donner. Wir schauten alle stumm zu. (178)
SPRECHERIN 18
Feynman selbst wird erst danach klar, was er mit angestoßen hat.
ATMO Park, Vögel, leiser Verkehr in der Nähe
SPRECHERIN 19
Nur selten spricht er darüber, mit seinem Doktoranden Finn Ravndal kommt das Thema ausgerechnet an einem sonnigen, warmen Freitagnachmittag auf.
OTON Ravndal 16
[00:09:48] I remember especially one afternoon we were standing in my office and it was a beautiful afternoon. And we looked out over the landscape, the city outside campus, which was very green and a wonderful afternoon.
VOICE-OVER – Sprexcher: Ravndal 16
Wir standen in meinem Büro und schauten raus über die grüne Landschaft und die Stadt hinter dem Campus. Es war ein wunderschöner Nachmittag.
ATMO steht nochmal kurz frei
OTON Ravndal 17
And Feynman came to discuss atomic weapons and his involvement with atomic weapons during the war. And then he said that: When I look at this beautiful landscape, I never thought it would survive so long without being destroyed by atomic weapons. And so he was very well aware of the danger from atomic weapons. Which he had helped to develop.
VOICE-OVER – Sprecher: Ravndal 17
Und Feynman fing an, von Atomwaffen zu reden und seiner Rolle dabei während des Kriegs. Und dann sagte er: Wenn ich mir diese schöne Landschaft so ansehe – ich hätte nie gedacht, dass sie so lange überdauert, ohne von Atomwaffen zerstört zu werden. Er war sich also der Gefahr durch die Atombombe sehr wohl bewusst. Und er hatte geholfen, sie zu entwickeln.
ATMO fadet langsam aus
SPRECHERIN 20
Nach dem ersten Atomwaffentest kehrt Feynman zurück in die Zivilisation, auf eine gutbezahlte Stelle als junger Professor. Aber mit seinen 27 Jahren fühlt er sich ausgebrannt, ohne Perspektive. Er hat sich schon damit abgefunden, dass er nie mehr etwas leisten wird, da macht er eine interessante Beobachtung in der Cafeteria.
ATMO Kantine wird unter Sprechertext langsam lauter. Rufe ertönen, als Teller geworfen wird
SPRECHER Feynman 18
Und irgendjemand, der herumalbert, wirft einen Teller in die Luft. Als der Teller durch die Luft flog, sah ich, dass er eierte.
ATMO fadet aus oder endet mit markantem Klappern
SPRECHERIN 21
Feynman macht sich daran, die Bewegung zu berechnen. Er entdeckt, dass der Teller bei kleinem Winkel doppelt so schnell rotiert wie er eiert. Als ein Kollege ihn fragt, was daran so wichtig sei, antwortet er nicht ohne Trotz:
SPRECHER Feynman 19
Ha! Daran ist überhaupt nichts wichtig. Ich mache das nur aus Jux und Tollerei.
SPRECHERIN 22
Feynman erinnert sich wieder daran, was ihm in der Physik immer am wichtigsten war: Der Spaß am Entdecken. Das ist seine Rettung, wie er in seiner Anekdotensammlung schreibt.
SPRECHER Feynman 20
Es war, wie wenn man eine Flasche entkorkt: Alles floss mühelos heraus. Es war nichts wichtig an dem, was ich tat, aber schließlich doch. Die Diagramme und die ganze Geschichte, wofür ich den Nobelpreis erhielt, das kam von dem Herummachen mit dem eiernden Teller.
SPRECHERIN 23
Der eiernde Teller führt Feynman zu rotierenden Elektronen und schließlich zurück zu den Widersprüchen, die sich in der Quantentheorie ergeben, wenn man zu genau hinschaut. Beim Versuch, die geladenen Teilchen umfassend zu beschreiben, tauchen damals an allen Ecken und Enden lästige Unendlichkeiten auf, die verhindern, dass man realistische Ergebnisse erhält. 1947 kommt ein weiterer, ganz konkreter Beweis, dass etwas mit der Theorie nicht stimmt. Wissenschaftler der Columbia University in New York haben Elektronen so genau wie noch nie vermessen und herausgefunden: Die geladenen Teilchen halten sich nicht an die bisherigen Vorhersagen – weder ihre Energieniveaus noch ihre magnetischen Eigenschaften sind wie erwartet. Erstmal eine unschöne Überraschung, aber auch eine große Chance. Feynmans Chance. Er stürzt sich auf das Problem – aber anders als andere.
O-TON Fritzsch 21
2 /10:39 Ja ja, für ihn, er war net interessiert an Mathematik, mathematische Symbole haben für ihn gar nix bedeutet. Er wollte die Sache verstehen, richtig verstehen.
SPRECHERIN 24
Der theoretische Physiker Harald Fritzsch hat in den USA länger mit Feynman zusammengearbeitet. Sie wurden Freunde.
O-TON Fritzsch 22
2/ [0:25:03] Er hat alle Probleme intuitiv gelöst, er hat lange nachgedacht über das, bis er dann die richtige Antwort hatte und erst danach hat er die Mathematik dazu gemacht, aber er hat das alles intuitiv gemacht.
SPRECHERIN 25
Feynman hat seine eigene Art, die Dinge zu betrachten. Beim Elektron interessiert ihn: Wo geht es hin, wo kommt es her? Der Clou in der Quantenwelt ist: Das Elementarteilchen muss sich nicht „entscheiden“, ob es hierhin oder dahin fliegt, sondern es nimmt alle Wege gleichzeitig. Natürlich sind nicht alle Wege gleich wahrscheinlich – aber wenn man alle Wege und Wahrscheinlichkeiten zusammen betrachtet, bekommt man ein gutes Gesamtbild davon, was das Elektron so treibt und welche Eigenschaften sich daraus ergeben. Feynmans Methode ist noch nicht ganz ausgefeilt, da kommt ihm ein Physiker der Harvard University zuvor.
O-TON Fritzsch 23
2/ 28:20 Julian Schwinger. Schwinger hat einen Vortrag gehalten, und dann hat er auf komplizierte Weise dieses magnetische Moment ausgerechnet, und was er gerechnet hatte, stimmte genau überein mit dem Experiment.
SPRECHERIN 26
Schwinger gilt damals als wahrer Mathematikakrobat. Seine komplexen Rechnungen zum Elektron erzeugen großes Staunen – aber keiner kapiert sie.
O-TON Fritzsch 24
2/ 28:30 Und der Feynman, für ihn war das alles zu kompliziert.
SPRECHERIN 27
Ganz ohne Mathematik geht es nicht. Aber Feynman verpackt sie geschickt – in Diagrammen. [Fritzsch zeigt auf eines davon.]
O-TON Fritzsch 25
C [0:01:21]: Diese Wellenlinie sind Photonen und die geraden Linien, wie das da oder das, sind Elektronen oder Positronen. [Positronen sind die Antiteilchen zum Elektron] und diese Diagramme sind keine Spielsachen, sondern damit kann man rechnen.
SPRECHERIN 28
Mithilfe von Feynmans Diagrammen kann man nachvollziehen, wann ein Elektron Energie abgibt oder aufnimmt, und wie schnell es dabei unterwegs ist. Klingt erstmal simpel – es kann sich dabei aber vorwärts oder rückwärts in der Zeit bewegen. Und es können Teilchen aus dem Nichts entstehen und wieder verschwinden. Solche Phänomene konnte man bis dahin überhaupt nicht berechnen.
O-TON Fritzsch 26
2 [0:25:50]: Es war eine großartige Idee mit dem Diagramm.
MUSIK Spannung, sanft, mit positivem Ende
SPRECHERIN 29
Nur glaubt erstmal niemand an Feynmans Hilfszeichnungen. Anfang 1949 kommt schließlich seine große Chance. Auf einer Konferenz der Amerikanischen Physik-Gesellschaft in seiner Heimatstadt New York. Ein Kollege stellt vor, was er in sechs Monaten zum Elektron ausgerechnet hat. Feynman nimmt die Herausforderung an.
O-TON Fritzsch 27
2/ 29:30 Er ging dann in sein Hotel. Er hat die ganze Nacht drüber gearbeitet.
SPRECHERIN 30
Er rechnet alles nochmal durch.
O-TON Fritzsch 28
2/ 29:40 Und Feynman hatte es am nächsten Morgen auf ‚ner halben Seite ausgerechnet mit seinem Diagramm. Und dann hat er einen Vortrag darüber gehalten. Und die Leute waren sehr beeindruckt. … [Er hatte dasselbe ausgerechnet in ganz, ganz schnell. Das war schon ein wesentlicher Schritt.]
SPRECHERIN 31
Zusammen mit Schwinger und einem japanischen Kollegen, der noch eine dritte Rechenvariante entwickelt hat, bekommt Feynman knapp 20 Jahre später den Nobelpreis. Seine Diagramme gehen um die Welt. Sie werden erweitert und heute gibt es kaum eine Veröffentlichung auf dem Gebiet, in der nicht mindestens ein kleines Feynman-Diagramm zu finden ist.
MUSIK endet mit Akzent
SPRECHERIN 32
Richard Feynman zieht es kurz nach seinem Durchbruch mit den Diagrammen zu dem Ort für Elementarteilchenphysiker.
Zum California Institute for Technology, kurz Caltech. Er holt den jüngeren Murray Gell-Mann ans Institut und beide arbeiten zusammen als Dream-Team– zumindest vorerst, erzählt Harald Fritzsch.
O-TON Fritzsch 29
1 /15:59 Gell-Mann war mathematisch orientiert, er mochte nur die Mathematik, nicht die eigentliche Physik. Und Feynman war das umgedrehte: Er war interessiert an der Physik und die Mathematik war Nebensache.
SPRECHERIN 33
Eine Weile ergänzten sich beide in ihrer Arbeit wunderbar.
O-TON Fritzsch 30
1/11:00 Danach muss es einen Krach gegeben haben. … Was genau weiß ich nicht. Jedenfalls haben sie schon miteinander geredet, aber sie haben nicht mehr zusammengearbeitet.
SPRECHERIN 34
Sie werden zu Rivalen, die sich manchmal wie Jungs auf dem Spielplatz zanken. Fritzsch versteht sich gut mit beiden, mit Gell-Mann und Feynman.
O-TON Fritzsch 31
2/ 2:15 Ich musste nur aufpassen, dass der Gell-Mann uns nicht sieht, wenn wir diskutieren.
SPRECHERIN 35
Denn Harald Fritzsch arbeitet eigentlich im Team von Gell-Mann. Zusammen versuchen sie, Ordnung in das Teilchenchaos damals zu bringen.
Was, wenn man annimmt, dass manche Elementarteilchen gar nicht so elementar sind und sich in NOCH kleinere Bausteine zerlegen lassen? Gell-Mann nennt solche – rein hypothetischen – Bausteine: Quarks, geschrieben wie der deutsche Quark.
O-TON Fritzsch 32
2/21:40 Aber es bedeutet indirekt auch Unsinn, und das wusste Gell-Mann halt nicht. … Ich habe ihm gesagt, die heißen eigentlich unsinnige Teilchen. (lacht)
SPRECHERIN 36
Die meisten halten die Quarks nur für einen mathematischen Trick – sogar Gell-Mann selbst. Wären da nicht die Ergebnisse eines neuen Teilchenbeschleunigers an der Uni Stanford.
ATMO/MUSIK rhythmisches Prasseln, Rieseln
SPRECHERIN 37
Dort wurden Elektronen auf Wasserstoffkerne, also Protonen, geschossen und es passierten seltsame Dinge. Eigentlich hätte man erwartet, dass die Elektronen relativ unbeeindruckt durch die schwammige Ladungswolke der Protonen fliegen – wie Gewehrkugeln, die man durch eine Matratze schießt. Aber einige Elektronen prallten in alle möglichen Richtungen ab – so als hätte die Matratze Metallfedern im Innern. Ein Physiker in Stanford versucht, sich einen Reim darauf zu machen. Aber kaum einer versteht, was er da gerechnet hat. Es braucht jemanden, der hinter die Mathematik schauen kann. Einen wie Feynman.
O-TON Fritzsch 33
2 / 04:07 Ja, das war vor allem die Idee der Partonen.
SPRECHERIN 38
Feynman nimmt an, dass Protonen wirklich aus kleineren, realen Teilchen bestehen könnten. Er nennt sie aber nicht Quarks, sondern Partonen.
O-TON Fritzsch 34
1 /12:50 Gell-Mann hatte immer gelacht über den Ausdruck Partonen, er nannte das immer Put-onen. Ein Kunstwort aus dem englischen, das heißt sowas wie Unsinn.
SPRECHERIN 39
Feynman lässt sich nicht beirren und denkt die Idee weiter: Wie sieht die Kollision aus Sicht des Elektrons aus, wie aus Sicht des Protons? Er kommt zu dem Schluss, dass Protonen wirklich aus realen, noch kleineren Teilchen bestehen müssen. An denen sind die Elektronen in den Kollisionsexperimenten abgeprallt.
O-TON Fritzsch 35
1/13:20 Jedenfalls habe ich mit Feynman darüber gearbeitet und habe ihn dann auf die Idee gebracht, dass die Partonen eventuell weiter nichts sind wie die Quarks. Und es hat sich ja auch herausgestellt, die Partonen sind genau, die Quarks … und dazu auch die Gluonen, die die Quarks zusammenhalten, das sind dann die sogenannten Partonen.
SPRECHERIN 40
Trotz Fritzsch´ Überzeugungsversuchen dauert es noch einige Jahre, bis beide – Feynman und Gell-Mann – überzeugt sind, dass sie das Selbe meinen. Feynman fusioniert die Ideen schließlich einfach.
O-TON Fritzsch 36
1 [0:32:00] Er nannte sie Quark-Partons… Das ging dann schon.
SPRECHERIN 41
Für seine Überlegungen bekommt Gell-Mann schließlich einen eigenen Nobelpreis. Die Erkenntnis, dass sich die angeblich kleinsten Teilchen noch weiter aufspalten lassen, gibt der Teilchenphysik in den nächsten Jahrzehnten einen großen Schub. Und Feynman? Kehrt in seiner Forschung immer wieder zu den Quarks zurück.
O-TON Fritzsch 37
2 [1:00:00] Feynman hat dann später eine Menge Sport gemacht und auch Dauerlauf gelaufen. Er ist einmal sogar von seinem Haus in Altadena hoch zum Mount Wilson und zurückgelaufen und das ging sehr gut, und einmal ist er beim Dauerlauf zusammengebrochen, und dann ging's ab ins Hospital, und da hat man entdeckt, dass er Krebs hatte. [Pause] Und dann hat man das operiert, war es wieder weg. Dann kam es wieder, noch mal operiert, wieder dasselbe, noch einmal operiert. So ging das halt.
MUSIK startet traurig, sanft, wird positiver
SPRECHERIN 42
Feynman stirbt im Jahr 1988, mit 69 Jahren. Was hinterlässt er?
O-TON Fritzsch 38
2 /52:09 Feynman selber hatte oft gesagt, er selber hätte keine richtige Theorie machen können. Er kam nie auf eine Theorie. Er hat immer nur Theorien, die schon existierten, da hat er dann die Details ausgearbeitet. Das hat ihn immer gewurmt, dass er nicht so was gemacht hat.
MUSIK endet
SPRECHERIN 43
Feynman ist inzwischen weniger bekannt als großer Physiker denn als Wissenschaftsvermittler und Visionär, der Forschungsgebiete wie die Nanotechnologie und Quantencomputer vorhergesehen hat – lange bevor irgendjemand davon redete. Seine Vorlesungen sind bis heute legendär. In einem wahren Feuerwerk der Physik fuchtelt Feynman, reißt Witze, doziert mit vollem Körpereinsatz. Eine Mischung aus theoretischem Physiker und Zirkusdirektor, schreibt einmal die New York Times.
O-TON Fritzsch 39
2/42:30 (lacht) Ja, so kann mans sagen.
MUSIK lustig, beschwingt, gerne 40er/50er Jahre
SPRECHERIN 44
Vielleicht war Feynman auch deshalb so beliebt, weil er immer Spaß hatte. An der Physik und auch sonst im Leben. Zugegebenermaßen: Manchmal auch auf Kosten anderer.
O-TON Fritzsch 40
C [0:02:09] In Kalifornien kann man Nummernschilder draufmachen nur mit einem Wort. Das sind spezifische Nummernschilder, und die dürfen nicht zweimal vorkommen. Natürlich. Und Feynman hatte er ein Nummernschild. Da stand einfach drauf: Quarks. Quarks. Und als mein Kollege Gell-Mann, der die Quarks erfunden hat, selber auch so ein Nummernschild haben wollte, wollte er auch Quarks. Und das ging halt nicht, weil der Feynman das hatte. Er war sehr ärgerlich, denn er hatte ja die Quarks erfunden, nicht der Feynman.
SPRECHERIN
Eins kann man Richard Feynman nicht absprechen – er hatte Sinn für Humor.
Friedrich der Große förderte noch mehr als nur die Kartoffel und die Künste: Auch den Seidenbau. Ausgerechnet im unwirtlichen Brandenburg. Ein historisches Kapitel voller Anstrengungen und Kuriositäten. (BR 2020) Autorin: Katharina Hübel
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Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Heiko Ruprecht, Katja Schild, Axel Wostry
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Susanne Evers,
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Unser Gehirn verändert sich ständig. Sonst wäre es nicht möglich, dass wir uns in neuen Situationen zurechtfinden. Im Alter nimmt die Formbarkeit unseres Gehirns allerdings ab. Wie können wir sie erhalten? (BR 2018) Autorin: Maike Brzoska
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Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Peter Weiß
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Redaktion: Gerda Kuhn
Interviewpartner/innen:
Nicolas Schuck (Forscher am Max Planck Institut für Bildungsforschung, Berlin);
Gerd Kempermann (Professor; Professor für Neurowissenschaften, TU Dresden);
Astrid Lunkes (Wissenschaftsmanagerin am Helmholtz Zentrum München);
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Ulf Ziemann (ärztlicher Direktor der Neurologie am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, Tübingen)
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"Krabat", Preußlers düsterstes Werk. Das Motiv geht zurück auf eine alte sorbische Sage, in der ein Betteljunge in einer geheimnisvollen Mühle Arbeit, Lohn und Brot findet, zugleich jedoch in den Bann des Müllers gerät, der einen Pakt mit dem Bösen geschlossen hat. Autorin: Carola Zinner (BR 2013)
Credits
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Carola Zinner
Es sprachen: Detlef Kügow, Werner Härtl, Burchard Dabinnus
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Petra Hermann-Boeck, Susanne Poelchau
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Cholesterin besteht aus Eiweißen und Fetten. Es hat zwei Seiten: Zum einen ist es ein lebensnotweniger Bestandteil des Organismus. Zum anderen kann ein zu hoher Cholesterinspiegel krank machen. (BR 2020) Autorin: Veronika Bräse
Credits
Autor/in dieser Folge: Veronika Bräse
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Matthias Eggert
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Im Interview:
Johannes Preiser-Kapeller, Historiker Wien;
Kristin Skottki, Historikerin Bayreuth
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Bei jedem vierten Erbfall kommt es zu einem Familienstreit. Oft brechen bislang unterdrückte emotionale Konflikte auf. Zum Beispiel kann das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, dafür sorgen, dass sich Geschwister oder andere Verwandte in den Haaren liegen. Es geht dann im Grunde nicht ums Geld, sondern um Liebe. (BR 2021) Autorin: Justina Schreiber
Credits
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Frank Manhold
Technik: Robin Auld
Redaktion: Susanne Poelchau
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Im Interview:
Gabrielle Rütschi, Familientherapeutin und Psychologin;
Claudia Denscherz, Psychoanalytikerin
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Streit ums Erbe - Ein Blick in die Geschichte
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
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Forscher, Tüftler, Abenteurer und Weltrekordler - das alles sind die Piccards. Drei Generationen von Pionieren: Auguste Piccard, der als Erster Mensch in die Stratosphäre aufgestiegen ist, sein Sohn Jacque, der als Erster in die Tiefsee tauchte - und der Enkel Bertrand, der als Erster im Ballon die Welt umrundete. (BR 2022) Autorin: Miriam Garufo
Credits
Autor/in dieser Folge: Miriam Garufo
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Birnstiel, Peter Lersch, Clemens Nicol, Florian Schwarz
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Iska Schreglmann
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Im Interview:
Bertrand Piccard;
Susanne Dieminger, Piccard-Kennerin;
Prof. Kurt Möser, Technikhistoriker
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"Gullivers Reisen" ist vor allem als Kinderbuchversion weltberühmt geworden, als Abenteuerreise ins Land der Zwerge und Riesen. Der irische Schriftsteller Jonathan Swift hatte mit seinem Roman, der 1726 erschien, anderes im Sinn: nämlich eine Satire auf Politik und Wissenschaft (nicht nur) seiner Zeit. In Liliput werden wahre Glaubenskriege um die Frage ausgefochten, von welchem Ende man ein Frühstücksei aufschlägt, und auf dem Berg Balinaris versuchen Wissenschaftler, Sonnenlicht aus Gurken zu gewinnen. Die allem zugrunde liegende Frage ist die Frage nach der Identität. Wer wir sind, das bestimmt unser Verhältnis zum Fremden. Im Land der Zwerge ist Gulliver der Größte, aber die Riesen machen ihn zum Spielzeug... (BR 2013) Autorin: Brigitte Kohn
Credits
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Petra Hermann-Boeck
Es sprachen: Christiane Blumhoff, Stefan Merki, Frank Manhold
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Über 100 Jahre prangt das Sannikowland auf den Arktis-Karten - obwohl es nie gefunden wird. Keine der Expeditionen kann die Existenz einer warmen Insel im Eis bestätigen, einige lassen bei der Suche ihr Leben. Bis die technische Entwicklung das Sannikowland schließlich als Mythos enttarnt und von der Karte tilgt. Autorin: Fiona Rachel Fischer
Credits
Autor/in dieser Folge: Fiona Rachel Fischer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Laura Maire, Christian Baumann
Redaktion: Thomas Morawetz
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Im Interview:
Prof. Andreas Renner, Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Russland-Asien-Studien
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Für ihre Gegner waren sie banditi und ribelli, für die meisten Landsleute Helden: Rund 300.000 italienische Widerstandskämpfer bekämpften in den letzten Kriegsjahren die deutschen Besatzer und deren italienischen Vasallen. (BR 2020) Autorin: Christiane Büld-Campetti
Credits
Autorin dieser Folge: Christiane Büld Campetti
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Andreas Neumann, Jerzy May
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
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Im Interview:
Matthias Durchfeld;
Giacomo Notari;
Giacomina Castagnetti
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Im Sommer 1943 wird Mussolini gestürzt, dann aber von deutschen Fallschirmjägern befreit. Kurz darauf gründet er südlich der Alpen die "Republik von Salň", in der er versucht, als Staatschef von Hitlers Gnaden einen noch radikaleren Faschismus durchzusetzen. Das Unternehmen endet im Desaster. Autor: Rainer Volk
Credits
Autor/in dieser Folge: Rainer Volk
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Jungwirth, Peter Weiß, Silke v. Walkhoff
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
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Im Interview:
Amedeo Osti Guerazzi;
Roberto Vivarelli
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Pflanzen wie die Kanadische Goldrute oder das Indische Springkraut sind zwar schön anzusehen, doch können solche Neophyten, die aus anderen Kontinenten in Europa eingeschleppt wurden, für heimische Arten zur Bedrohung werden. Und auch uns Menschen schaden: So lösen die Pollen der Ambrosia oft heftige Allergien aus. Iska Schreglmann spricht mit dem Biologen Thassilo Franke.
Credits
Autorin: Iska Schreglmann
Gesprächspartner: Dr. Thassilo Franke, Biotopia Lab München
Redaktion: Bernhard Kastner
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Nie war die Freiheit des Menschen in der Geschichte größer: Wohnort, Beruf, Partnerschaft - bis hin zum Geschlecht: Scheinbar alles eine Frage des freien Willens. Wirklich? Warum machen wir eigentlich so wenig aus dieser Freiheit? (BR 2019) Autor: Fabian Mader
Credits
Autor/in dieser Folge: Fabian Mader
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Martin Vogt
Technik: Chris Schimmöller
Redaktion: Bernhard Kastner
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Versöhnung nach 30 Jahren erbitterten Krieges? Über 100 oft tief zerstrittene Gesandtschaften unter einen Hut bringen? Das ist schwer, fast unmöglich! Doch 1648 gelang genau dieses einmalige Kunststück: Der Westfälische Frieden beendet den Dreißigjährigen Krieg. Autor: Hans Hinterberger
Credits
Autor/in dieser Folge: Hans Hinterberger
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Frank Manhold, Johannes Hitzelberger
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Redaktion: Nicole Ruchlak
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Literaturtipp:
Siegrid Westphal, „Der Westfälische Frieden“, C.H. Beck Wissen
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Die italienische Publizistin Oriana Fallaci hat viele bekannte Politiker interviewt und als erste Kriegsberichterstatterin aus aller Welt berichtet. Eine kompromisslose Kämpferin, die aneckte. (BR 2020) Autorin: Ulrike Beck
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Autor/in dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Stephanie Schönfeld, Katja Schild
Technik: Robin Auld
Redaktion: Susanne Poelchau
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Im Interview:
PD Dr. Angela Oster, Literaturwissenschaftlerin am Institut für Italienische Philologie der LMU München
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Natalia Ginzburg - Schreiben um die Existenz
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Natalia Ginzburg ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Italiens, Chronistin des Widerstands. Vater und Brüder kamen wegen antifaschistischen Widerstands in Haft, ihr Mann Leone wurde 1944 von den Deutschen ermordet. (BR 2019) Autorin: Julie Metzdorf
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Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Axel Wostry, Irina Wanka, Christian Schuler
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Susanne Poelchau
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Im Interview:
Maja Pflug, Übersetzerin und Biografin
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Unbehandelte Traumata können zu lebenslangen Folgestörungen führen. Sie verursachen Depressionen, Schlafstörungen und Angststörungen oder machen die Betroffenen aggressiv. Erst allmählich erkennen die Wissenschaftler, was Traumata alles bewirken... (BR 2020) Autorin: Daniela Remus
Credits
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Florian Gebhard (Professor, Unfallchirurg, Universität Ulm);
Andreas Maercker (Professor, Psychotherapeut, Universität Zürich);
Annette Streeck-Fischer (Professorin, Psychoanalytikerin, International Psychoanalytic University, Berlin);
Peter Zimmermann (Dr.; PD, Psychotherapeut, Bundeswehr Krankenhaus, Berlin)
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Kooperation oder Konkurrenz, Gewalt oder Frieden, Toleranz oder Ausgrenzung, Ausbeutung oder Umweltschutz? Die Konvivialisten machen sich stark für eine neue, gerechtere Art des Zusammenlebens. (BR 2019) Autorin: Daniela Remus
Credits
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Stefan Wilkening, Benedikt Schregle
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
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"1968" hat einer ganzen Generation ein Etikett verpasst, das sie nie wieder losgeworden ist: Die "68er" gelten bis heute als Generation der Revolte, des Aufbegehrens gegen den Muff der Nachkriegsjahre. (BR 2018) Autor: Michael Zametzer
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Autor/in dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
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Im Interview:
Dr. Wolfgang Kraushaar, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur
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Mit dem Bau der Mauer 1961 zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine baldige Wiedervereinigung, und da die Kontakte massiv erschwert waren, setzte eine Entfremdung zwischen beiden deutschen Staaten ein. Doch hüben wie drüben revoltierten die Jugendlichen und verlangten mehr Freiheiten. Autorin: Julia Devlin
Autor/in dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprach: Katja Bürkle
Technik: Robert Miller
Redaktion: Thomas Morawetz
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Pilze gibt es in allen Formen und Farben. Das wahre Reich der Pilze liegt tief unter der Erde. Pilze spielen in der Natur eine wichtige ökologische Rolle. (BR 2018) Autorin: Iska Schreglmann
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Regie: Irene Schuck, Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Detlef Kügow
Technik: Susanne Harasim, Adele Kurdziel
Redaktion: Bernhard Kastner, Gerda Kuhn
Im Interview:
Christoph Hahn (Dr.; Präsident der Bayerisch-Mykologischen Gesellschaft);
Susanne Ehlers (Dr.; Agrarwissenschaftlerin, Buchautorin);
Thomas Efferth (Professor; Universität Mainz)
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Wälder sind komplizierte Ökosysteme, in denen Tiere eine tragende Rolle spielen. Im ökologischen Gleichgewicht wirken sie zusammen, um das Wachstum des Waldes zu fördern. (BR 2019) Autorin: Christiane Seiler
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Regie: Susi Weichselbaumer
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Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interesse an noch mehr Fakten über Eichhörnchen?
BR Wissen hat eine Sammlung an interessanten Beiträgen zu den schlauen, schnellen und vergesslichen Waldbewohnern:
BR WISSEN | EICHHÖRNCHEN - IMMER AUF DEM SPRUNG
Machen Sie mit: Eichhörnchen beobachten und melden!
Der Bund Naturschutz in Bayern ruft erneut dazu auf, Eichhörnchen zu melden. Mit der Aktion soll herausgefunden werden, wie und wo genau Eichhörnchen in Bayern leben und wie sie sich entwickeln:
EXTERNER LINK | BUND-NATURSCHUTZ.DE | EICHHÖRNCHEN BEOBACHTEN UND MELDEN
Sie wollen den Eichhörnchen noch mehr helfen?
Unsere Kollegen von Bayern1 haben gute Tipps für Sie:
BAYERN1 | WIE WIR EICHHÖRNCHEN HELFEN KÖNNEN
Unsere Empfehlung für Naturinteressierte:
Wilde Winkel. Bayerns Natur-Podcast
„Wilde Winkel“ nimmt Dich mit auf Entdeckungstour in Bayerns wertvollste Natur. Jeden Monat geht’s in einen anderen wilden Winkel Bayerns zwischen den Alpen und der Rhön, dem Nördlinger Ries und dem Fichtelgebirge.
EXTERNER LINK | SPOTIFY.COM | WILDE WINKEL.
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Für viele ist der Stadtwald eine nette Kulisse beim Spaziergang. Aber mancherorts hat sich seine alte Bedeutung erhalten: Energielieferant und Anzeichen für Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung der Bürger. (BR 2020) Autorin: Bettina Weiz
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Autor/in dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Annette Wunsch und Peter Veit
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Wunderwerk Pilz - Gift, Heilpflanze und Delikatesse
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Tierische Waldpfleger - Insekten, Vögel, Eichhörnchen
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Der Lebensweg des Alfred Bernhard Nobel führt vom so begabten wie begüterten Kind über den glücklich-genialen Erfinder und Unternehmer zum entschlossenen Kriegsgegner und "Wohltäter der Menschheit." Dabei zerbrach Nobel selbst beinahe an den Widersprüchen zwischen Anspruch und Handeln. Er ertrug nur mit großer Selbsttäuschung, wie sich seine Erfindungen - er hielt mehrere hundert Patente - in der Welt auswirkten. Wie viele andere herausragende Forscher erlebte auch Alfred Nobel Gewissensqualen eines Menschen, dessen Erkenntnisse seinen Mitmenschen zum Segen wie zum Fluch gereichen. Das ließ ihn zum Stifter des wohl bekanntesten Wissenschaftspreises der Welt werden - und des hochangesehenen Friedensnobelpreises. (BR 2011) Autor: Gregor Hoppe
Credits
Autor/in dieser Folge: Gregor Hoppe
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Es sprachen: Beate Himmelstoß, Gert Heidenreich, Thomas Loibl, Jerzy May, Hemma Michel
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Brigitte Reimer
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Dynamit - Ein Sprengstoff macht Geschichte
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Ocker ist traditionell eine beliebte Farbe für Schlösser, Klöster, Museen und andere repräsentative Gebäude. Die meisten Malerfarben in Ocker-Tönen werden heute synthetisch hergestellt. In Südfrankreich wird aber noch natürliches Ocker abgebaut. Die Ockerfelsen dort sind spektakulär. Autor: Bernd-Uwe Gutknecht
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Autor/in dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Julia Fischer, Andreas Neumann, Frank Manhold, Caroline Ebner
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Stéphane Legal, Geologe, Naturpark Luberon;
Ludivine Roubaud-Rey, Geschäftsführerin „Ocres de France“;
Sandra Poezevara, Restauratorin, Museum von Apt;
Christine Jouval, Künstlerin, Apt;
Lucille Reynal, Ocker-Ökomuseum, Roussilllon;
Elisabeth Klaiber, Bergwerks-Guide, Minen von Ruoux;
Marlies Schulte, Künstlerin, Hamburg
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Silber – Im Schatten von Gold
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Im Reich der Kristalle - Wie entstehen Mineralien und ihre Formen?
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Granit – Der Stein aus der Tiefe
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Literaturtipps:
„Schätze der Erde“ von Peter Rothe.
Wissenswertes über natürliche Rohstoffe auf der Erde. Minerale, Metalle, Salze, Edelsteine etc. Ein Kapitel ist auch dem Ocker gewidmet.
„Das Geheimnis der Farben. Eine Kulturgeschichte“ von Victoria Finlay.
Spannende Fakten und Anekdoten über ausgewählte Farben wie Indigo, Violett und auch Ocker.
Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion:
Ob Hoodie, Crop Top oder Trainingsanzug: Manche Kleidungsstücke sind so ikonisch, dass Trends ihnen kaum etwas anhaben können. Aminata Belli nimmt Euch mit in die Geschichte Eurer Lieblingsteile. Woher kommt ihre Coolness? Wie schaffen sie es, für große popkulturelle Momente, Subkulturen oder Underdogs zu stehen?
ICONIC - Modegeschichte mit Aminata Belli
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In den Religionen wird Essen unterschiedlich spiritualisiert und symbolisch überhöht. Doch auch moderne Ernährungslehren finden gläubige Anhänger, ohne dass Gott eine Rolle spielt. (BR 2016) Autorin: Brigitte Kohn
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Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Dorit Kreissl
Es sprachen: Krista Posch, stefan Wilkening
Technik: Andreas Lucke
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Eine große Anzahl von Philosophen machte sich Gedanken über die Bedeutung des Essens, seine Auswirkungen auf unser Denken, sowie die Verbindung von Nahrungsaufnahme und philosophischen Disziplinen. (BR 2019) Autor: Michael Reitz
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Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Bernhard Kastner
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Technik: Robin Auld
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Interviewpartner/innen:
Tilman Kühn (Dr.; Ernährungswissenschaftler, Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg)
Birgit Zyriax (Dr.; Ökotrophologin, Universitätsklinikum Eppendorf, Hamburg)
Stephan Martin (Professor; Diabetologe, Verbund katholischer Kliniken, Düsseldorf)
Andreas Michalsen (Professor; Naturheilkundler Charité Berlin)
Silke Restemeyer (Ökothophologin, Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Bonn)
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Esskultur 1945 bis heute - Vom Jägerschnitzel zu Sushi
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Spanende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BR PODCAST | BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
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Vegetarische oder gar vegane Ernährung liegen im Trend. Und auch die Religionen verändern gerade den Blick auf das Mitgeschöpf Tier. Einige Religionen haben zum Umgang mit dem Tier erstaunliche Gedanken. (BR 2013) Autor: Christian Feldmann
Credits:
Autor/in dieser Folge: Christian Feldmann
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christian Baumann, Wolfgang Pregler
Technik: Ruth Ostermann
Redaktion: Bernhard Kastner
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Das Tierschutzgesetz - Leitfaden zum Wohl der Tiere?
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Tiere als Therapeuten - Wenn Tiere Seelen heilen
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Tierisch bewusst - Denken und empfinden Tiere?
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Tierversuche - Immer noch unverzichtbar?
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Die Volksrepublik China betrachtet Taiwan als "abtrünnige Provinz". Taiwan selbst - eine der stabilsten Demokratien Asiens - betont hingegen seine Eigenständigkeit. Die USA treten als Verbündeter der Insel auf - auch weil man einen Machtausbau Chinas im Südchinesischen Meer verhindern will. Autorin: Claudia Steiner
Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christiane Baumann, Rahel Comtesse, Andreas Dirscherl
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Dr. Christine Moll-Murata, Fakultät für Ostasienwissenschaften, Leiterin der Taiwanforschungsstelle an der Ruhr-Universität Bochum;
Anna Marti, Leiterin des Taipeher Büros der Friedrich Naumann Stiftung.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Mao Zedong - Kaiser, Dichter, Massenmörder
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MrWissen2go | Greift China bald Taiwan an? Und dann?
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Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion:
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
Wie wir ticken - Euer Psychologie-Podcast
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Literaturtipps:
Die geteilte Nation. Nationale Verluste und Identitäten im 20. Jahrhundert, Hilger, Andreas, von Wrochem, Oliver (Hrsg.).
Geschichte Taiwans: vom 17. Jahrhundert bis heute, Oskar Weggel.
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Die Weimarer Republik schien in der Ära der "emanzipierten Frau" angekommen zu sein. Doch die Verwirklichung der Emanzipation blieb eine Herausforderung in BRD und DDR. Sie ist bis heute nicht abgeschlossen. (BR 2016) Autorin: Ulrike Beck
Credits
Autor/in dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Stefan Wilkening, hemma Michel, Carsten Fabian
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Ute Gerhard, em. Prof. für Soziologie mit Schwerpunkt Geschlechterforschung, Universität Frankfurt;
Ilse Lenz, em. Prof. für Geschlechter und Sozialstrukturforschung, Ruhr-Universität Bochum;
Paula-Irene Villa, Prof. für Allgemeine Soziologie und Gender Studies, LMU München.
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Bäuerinnen - Emanzipationsgeschichte auf dem Hof
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges kontrollierten europäische Staaten fast die gesamte Welt. Wie hatten sie das geschafft? Und warum konnten Chinesen, Japaner oder Osmanen ihnen nichts entgegen setzen? (BR 2018) Autorin: Maike Brzoska
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Carsten Fabian
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Gerda Kuhn
Im Interview:
Wolfgang Reinhard, emeritierter Professor für Neuere Geschichte der Universität Freiburg;
Urte Evert, Volkskundlerin und Leiterin des Museums in der Zitadelle Berlin-Spandau;
Gerhard Quaas, Militärhistoriker
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Nachhaltig handeln - das soll die Umwelt zu schützen. Doch für viele Ökologen reicht das nicht mehr, sie plädieren inzwischen für einen weiter gefassten Ansatz: den der "regenerativen Kulturen". Doch was heißt das? (BR 2021) Autor: Geseko von Lüpke
Credits
Autor/in dieser Folge: Geseko v. Lüpke
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Hemma Michel, Heiko Ruprecht, Christopher Mann
Technik: Christine Frey
Redaktion: Matthias Eggert
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Unser Boden - Unser Schatz!
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Kreislaufwirtschaft - Wirtschaften ohne Ressourcenverschwendung
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Ziegen sind neugierige, intelligente Tiere mit einer engen Bindung an die Menschen, die sie versorgen. Wie funktionieren sie als Herde? Können sie Biotope schützen und damit einige Folgen des Klimawandels begrenzen? Im Naturschutz setzt man zunehmend auf wiederkäuende Weidetiere wie die Ziegen.
Autor/in dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia FIscher & Johannes Hitzelberger
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Sabine Denell, Tierärztin, Landwirtin
Hanspeter Dill, Landwirt
Dr. Christian Nawroth, Biologe, FBN-Dummerstorf
Thomas Volpers, Biologe, Naturschutzgebiet Kleine Schorfheide
Christoph-Johannes Ingelmann, Zuchtleiter Schaf- und Ziegenzuchtverband Brandenburg
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Ein Glas Wein hier, eine Halbe Bier dort - der Genuss von Alkohol ist in Deutschland kulturell verankert und gesellschaftlich voll akzeptiert. Die gesundheitlichen Risiken werden dabei völlig unterschätzt. (BR 2019) Autor: Andreas Kegel
Credits
Autor/in dieser Folge: Andreas Kegel
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Anna Greiter
Technik: Simone Peter
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Barbara Herrmann (Rettungssanitäterin);
Helmut K. Seitz (Professor; Alkoholforscher, Gastroenterologe, Heidelberg);
Patrick (Alias) (Alkoholpatient);
Sebastian Müller (Professor; Oberarzt, Alkoholforscher);
Barbara Braun (Dr.; Institut für Therapieforschung)
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Viele Künstler veröffentlichen unter Pseudonym. Bei den meisten kennt oder findet man die reale Person hinter der Geheimidentität heraus wie bei Elena Ferrante. Bei einigen aber sucht man vergeblich nach dem Namen hinter dem Namen. (BR 2018) Autor: Martin Trauner
Credits
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Peter Weiß, Karin Schumacher
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Petra Hermann
Im Interview:
Dr. Franz Maria Sonner (schreibt unter dem Pseudonym "Max Bronski", Schriftsteller aus München)
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Automaten und Maschinen gab es vereinzelt schon seit der Antike, doch sie dienten eher dem Showeffekt. Im 18. Jahrhundert wurde dann aber das Unterhaltungsmoment fast völlig von der Nutzanwendung verdrängt. (BR 2016) Autor: Ulrich Zwack
Credits
Autor/in dieser Folge: Ulrich Zwack
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Thomas Loibl, Eva Gosciejewicz, Oliver Nägele
Technik: Christiane Voitz
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Frank Dittmann, Kurator für Automatisierungstechnik, Deutsches Museum, München
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Die Industrielle Revolution - Kohle, Stahl und Dampfmaschinen
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Bier-und Whiskeyliebhaber kennen zwar den Begrifft , aber nur wenige können sagen: Was genau ist Malz? Die Antwort: Künstlich zum Keimen gebrachtes und dann wieder getrocknetes Getreide. (BR 2016) Autorin: Sabine Kienhöfer
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Autor/in dieser Folge: Sabine Kienhöfer
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Johannes Hitzelberger, Peter Weiß
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Gerda Kuhn
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Bier ist in zahlreiche Mythen eingegangen. Doch wie genau wird aus Wasser, Gerste, Hopfen und Hefe - Bier? Und warum gibt es so viele Sorten und unterschiedliche Qualitäten? (BR 2007) Autor: Herbert Becker
Credits:
Autor/in dieser Folge: Herbert Becker
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Alexander Duda, Andreas Borcherding, Kai Taschner, Lilian Naumann
Redaktion: Brigitte Reimer
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Das Meer übt seit jeher eine große Faszination auf die Menschen aus. Gerade die Unberechenbarkeit des lebensfeindlichen Elements zog den menschlichen Forschergeist an, inspirierte ihn, zu philosophieren. (BR 2019) Autorin: Christiane Neukirch
Credits
Autor/in dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Stefan Wilkening, Irina Wanka
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Bernahrd Kastner
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Linktipp:
Auf der Seite des ARD Themenschwerpunkts #UNSERWASSER finden Sie Beiträge, Filme, Dokumentationen und Aktionen zum Thema Wasserknappheit.
DAS ERSTE | #UNSERWASSER
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Es gibt Leitwölfe und Platzhirsche, aber auch Bienen- oder Ameisenköniginnen und Leitkühe. Tatsächlich haben in der Tierwelt nicht immer Männchen das Sagen. Oft geben auch Alpha-Weibchen, furchtlose Kämpferinnen und Clan-Chefinnen den Ton an, so zum Beispiel bei Elefanten oder Tüpfelhyänen. (BR 2022) Autorin: Claudia Steiner
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Katja Schild
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
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Monarchien im Tierreich - Königinnen ohne Zepter
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Warum singen Tiere? Welchen biologischen Vorteil bringt es mit sich? Es gibt wenige Säugetiere, die singen: Wale, Delphine, aber auch: Affen. Die kleinen Menschenaffen - Gibbons. Sie sind wahre Meister des Gesangs. Ein Ausflug in die Bio-Akustik und zu den Ursprüngen der menschlichen Musik. Autorin: Katharina Hübel
Credits
Autor/in dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Thomas Geissmann, Primatologe am Anthropologischen Institut der Universität Zürich;
Prof. Tecumseh Fitch, Evolutions- und Kognitionsbiologe an der Universität Wien
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Linktipps:
Einige Artikel von Thomas Geissmann rund um die Gibbons und den Schutz von Gibbons:
EXTERNER LINK | http://www.gibbonconservation.org/09_media/pdf/15_UZH_Magazin.pdf
EXTERNER LINK | www.gibbons.de
EXTERNER LINK | http://www.gibbonconservation.org/
Literaturtipps:
Karen Bakker: „The sounds of life“. 2022 publiziert, erzählt Karen Bakker, die Professorin an der University of British Columbia ist, wie Wissenschaftler sich Töne aus der Natur zugänglich machen.
Angela Stöger: „Von singenden Mäusen und quietschenden Elefanten. Wie Tiere kommunizieren und was wir lernen, wenn wir ihnen zuhören.“ 2022 in Österreich als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet, geht es in dieser gut verständlichen Publikation nicht nur um Gesang, sondern ganz generell um Tiergeräusche und Kommunikation von Tieren und um deren kognitiven und emotionalen Fähigkeiten. Angela Stöger hat viel zu Elefanten geforscht und kann Erhellendes über die – für Menschen meist nicht hörbaren – tief frequenten Brummlaute der Tiere erzählen. Funfacts über Elefanten: Sie können nicht nur andere imitieren, sie haben auch Dialekte.
Bernie Krause, „Das große Orchester der Tiere. Vom Ursprung der Musik in der Natur“: Ein ganz grundlegender populärwissenschaftlicher Klassiker der Bioakustik mit Klangbeispielen. Bernie Krause ist ein bekannter Filmmusik-Komponist und hat über Bio-Akustik promoviert. Auf seinen Weltreisen hat er an die 15.000 Tierarten mit seinem Mikrofon aufgenommen. Macht Lust auf die Welt und ihre Artenvielfalt.
Dr. Roger und Katy Payne: „Songs of the Humpback Whale“, Audio-Aufnahmen, die seinerzeit in den 1970ern mit einer Platin-Schallplatte geehrte wurden, weil sie sich so unfassbar gut verkauft hatten. Die Wissenschaftler haben die Gesänge der Buckelwale auf Schallplatte bekannt gemacht, aber auch untersucht und die Muster und inneren Strukturen in den Gesängen analysiert. 1972 erließen die Vereinten Nationen ein zehnjähriges Walfangmoratorium. Es heißt: Unter anderem wegen dieser berühmten Schallplatte.
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Eine antike City der Superlative: Uruk. Die Stadt war die erste Stadt der Welt - eine Megapolis mit bis zu 50 000 Menschen. Sie entstand im 5. Jt. v.Chr. im Süden des heutigen Irak. Von Christine Hamel
Credits
Autorin dieser Folge: Christine Hamel
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle, Christian Baumann, Friedrich Schloffer, Katja Amberger
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Nicole Ruchlak
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In Mesopotamien, im heutigen Irak, entstand vor rund 5.200 Jahren die erste Schrift. Die Keilschrift war kompliziert und dennoch sehr weit verbreitet. Lesen und Schreiben war der Oberschicht vorbehalten.
Die Erfindung der Schrift - Vom Bild zum Symbol
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Raubbau an den natürlichen Ressourcen der Erde, massive Klimaveränderungen, eine Kultur, die nur noch am Konsum ausgerichtet zu sein scheint: Unser Lebensstil birgt auf Dauer mehr Gefahren als Vorteile. Mäßigung ist daher keine Forderung, sondern eine Notwendigkeit für unsere Zeit. (BR 2022) Autor: Michael Reitz
Credits
Autor/in dieser Folge: Michael Reitz
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Bürkle, Peter Lersch
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
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Im Interview:
Professor Thomas Vogel, Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg;
Philosoph Ralf Konersmann, Kiel;
Karlsruher Gastronomen- Ehepaar Andrea und Marcello Gallotti;
Psychologin Nicole Jäckle
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Alles anders, alles neu? Die Psychologie des Umbruchs
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Glück beginnt im Kopf - Erkenntnisse der Neurobiologie
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Fasten - Verzicht und innerer Gewinn?
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Verbote verboten? - Über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit
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Literaturtipps:
Thomas Vogel: Mäßigung. Was wir von einer alten Tugend lernen können; Oekom-Verlag, 2018
Ralf Konersmann: Welt ohne Maß; Fischer-Verlag, 2021
Platon: Charmides-Dialog, Rowohlt-Verlag,2011
Konfuzius: Das Buch von Maß und Mitte, Reclam-Verlag, 2015
Demokrit: In: Die Vorsokratiker, Reclam-Verlag, 1987
Antisthenes: Die Weisheit der Kyniker, Kröner-Verlag, 1987
Seneca: Das große Buch vom glücklichen Leben, Anaconda-Verlag, 2014
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Im Regenwald Mittelamerikas erlebte vor über tausend Jahren die Kultur der Maya ihre Blüte. Sie errichteten gigantische Pyramiden und betrieben eine durchdachte Landwirtschaft. Doch lange vor der Ankunft der spanischen Eroberer verließen sie ihre erstaunlichen Königsstädte plötzlich. Warum? (BR 2022) Autor: Frank Halbach
Autor/in dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel, Burchard Dabinnus, Christoph Jablonka, Carsten Fabian
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Urmutter der Mexikaner - Malinche
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Literaturtipps:
Diego de Landa: Bericht aus Yucatan. Übersetzt aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann. Reclam, Stuttgart 2007.
Nikolai Grube (Hrsg.): Maya, Gottkönige im Regenwald. Könemann, Köln 2000.
Nikolai Grube / Alexander Schubert (Hrsg.): Maya, Das Rätsel der Königsstädte. Hirmer, München 2016.
Berthold Riese: Die Maya: Geschichte, Kultur, Religion. 6., durchges. Aufl., Beck, München 2006.
Jens S. Rohark (Hrsg.): Poopol Wuuj, Das Heilige Buch des Rates der K’ichee-Maya von Guatemala. Übersetzt, illustriert und kommentiert von Jens S. Rohark, Hein-Verlag, Ostrau.
John Lloyd Stephens: Begebenheiten auf einer Reise in Yucatan. Übersetzt aus dem Englischen von Nicolaus N.W. Meissner. Dyk'sche Buchhandlung, Leipzig 1853.
Der polnische Autor Witold Gombrowicz lässt seine Figuren mit Konventionen brechen. Und zeigt zugleich, wie sie in der Masse ihre Individualität verlieren. Gegen diesen Zwang zur Anpassung hat sich der Provokateur Gombrowicz, Meister des grotesken Humors, sein Leben lang gewehrt. (BR 2011) Autorin: Hanna Dragon
Credits
Autor/in dieser Folge: Hanna Dragon
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Martin Umbach, Ruth Geiersberger, Burchard Dabinnus, Detlef Kügow, Stefan Merki, Werner Haindl, Ilse Neubauer, Matthias Grundig, Werner Haindl, Stefan Merki
Redaktion: Petra Hermann-Boeck, Thomas Morawetz
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Hoffnung und Halt gab die Literatur den Polen in allen Epochen ihrer oft tragischen Geschichte. Als ihr Land geteilt wurde und von der Landkarte verschwand, bewahrten die Literaten die Identität und Sprache der Nation. Bis heute sind sie eine moralische Autorität, das sozialpolitische Gewissen in Polen. Autorin: Dagmara Dzierzan
Credits
Autor/in dieser Folge: Dagmara Dzierzan
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Amberger, Franziska Ball, Andreas Dirscherl
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
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Im Interview:
LiteraturnobelpreisträgerInnen: Czesław Miłosz, Wisława Szymborska, Olga Tokarczuk;
Zbigniew Herbert, poln. Dichter, Petrarca-Preisträger;
Prof. Teresa Walas, Polonistin (Jagellonen Universität Krakau);
Prof. Oliver Peter Loew, Leiter des Deutschen Polen-Institut in Darmstadt.
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Witold Gombrowicz - Lachen, das im Halse stecken bleibt
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Literaturtipps:
Karl Dedecius, der bedeutende Vermittler und Übersetzter polnischer Lyrik und Literatur ins Deutsche, begründete 1982 die 50-bändige Literaturreihe polnischer Werke vom Mittelalter bis in die Gegenwart, die bis 2000 als „Polnische Bibliothek“ im Suhrkamp-Verlag erschien, darunter:
- „Mickiewicz Dichtung und Prosa“, Ein Lesebuch von Karl Dedecius;
- „Milosz- Gedichte“ 1933 – 1981, Polnische Bibliothek Suhrkamp;
- „Wyspianski Die Hochzeit“, Drama in der Übertragung von Karl Dedecius
- „Juliusz Słowacki. Beniowski“, Eine Versdichtung, Polnische Bibliothek Suhrkamp
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Es war die erste Pipeline der Welt: Die Soleleitung von Reichenhall nach Traunstein war ein Wunderwerk der Ingenieurskunst. Nur durch Wasserkraft betrieben, beförderte sie seit 1619 das salzhaltige Wasser von der Quelle ins 30 Kilometer entfernte Sudhaus und überwand dabei dank mehrerer Pumpwerke einen Gebirgszug. Autorin: Julia Devlin
Credits
Autor/in dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Peter Lersch
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
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Im Interview:
Anette Grimm, Leiterin des Museums Salz & Moor, Grassau;
Dr. Klaus Thiele, Förster i. R., Marquartstein
Noch weiter westlich wurde auch von etwa 1600 bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein ungewöhnlicher Rohstoff abgebaut: Pechkohle! Wenn Sie mehr darüber hören wollen, empfehlen wir Ihnen diese Folge von radioWissen:
Pechkohle - Kumpel in Penzberg
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Literaturtipps:
Martin Kuglstatter: Die bayerischen Soleleitungen. Grassau 2015.
Kurt Enzinger: Bayerisches Salz. Freilassing 1995.
Mark Kurlansky: Salt. A World History. New York 2003.
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Bier, Brathendl und Blasmusik - nur ein paar Facetten eines Spektakels, das als das größte Volksfest der Welt gilt. Im Verlauf seiner fast 200-jährigen Geschichte hat sich das Oktoberfest oft gewandelt. (BR 2006) Autorin: Carola Zinner
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Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Sabine Kienhöfer, Dorit Kreissl
Es sprachen: Alexander Duda, Harry Täschner, Johannes Hitzelberger, Michael Tregor
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Brigitte Reimer, Thomas Morawetz
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Im Tierreich gibt es weit mehr als nur männlich oder weiblich. Einige Tiere leben als Zwitter, andere können ihr Geschlecht wechseln, wieder andere sehen aus wie Weibchen, sind jedoch Männchen. Doch erst langsam beginnt die Wissenschaft, die verschiedenen Erscheinungsformen von Sexualität und Gender im Tierreich zu verstehen. Bernhard Kastner im Gespräch mit der Biologin Ismeni Walter, Professorin für Umweltjournalismus an der Hochschule Ansbach.
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Autor/in dieser Folge: Bernhard Kastner im Gespräch mit Ismeni Walter
Redaktion: Iska Schreglmann
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Jahreszeiten außer Takt? Alles Natur!
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Prof. Dr. Ismeni Walter ist Biologin und Wissenschaftsjournalistin. Im Studiengang Ressortjournalismus an der Hochschule Ansbach ist sie verantwortlich für den Schwerpunkt „Umwelt“. Die Studierenden bekommen bei ihr Einblicke in wichtige Themen wie Biodiversität, Mensch und Umwelt, Klimawandel und Klimapolitik.
Hochschulpage Ismeni Walter:
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Im Tierreich scheinen viele Partnerschaften durch klare Regeln wie "nur das dominante Männchen paart sich" gekennzeichnet, manchmal sogar durch lebenslange Treue. Doch der genaue Blick zeigt: Auch hier gibt es haufenweise Seitensprünge, heimliche Liebhaber, "uneheliche" Kinder. und: gehörnte Partner. (BR 2020) Autor: Niklas Nau
Credits
Autor/in dieser Folge: Niklas Nau
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Andreas Neumann, Franziska Ball, Frank Manhold, Julia Fischer
Technik: Christine Frey
Redaktion: Bernhard Kastner
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Im Interview:
Maren Huck (Dr., University of Derby);
Bart Kempenaers (Professor, Max-Planck-Institut für Ornithologie);
Hope Klug (Professor, University of Tennessee)
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Das Geheimnis der Partnerwahl - Konvention und Evolution
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Rache ist süß, heißt es landläufig. Und in der Antike war Rache ein Mittel zur Rechtswahrung. Doch so verführerisch Rachephantasien sein mögen, in der Praxis ist Rache meist keine gute Idee. (BR 2020) Autor: Daniela Remus
Credits
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Rahel Comtesse, Peter Weiß, Berenike Beschle, Peter Lersch, Diana Gaul
Technik: Peter Preuss
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Fabian Bernhardt (Dr.; Philosoph, Freie Universität Berlin);
Mario Gollwitzer (Professor; Sozialpsychologe, LMU München);
Tonio Walter (Professor; Jurist, Universität Bayreuth)
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Gut 20 Prozent der Amerikaner geben an, sie hätten deutsche Wurzeln und Vorfahren. Doch anders als die Irish oder die Italian Americans stehen die German Americans selten im Rampenlicht (und feiern auch ihre deutsche Herkunft in geringem Maße.) Wie entwickelte sich das deutsch-amerikanische Selbstbewusstsein, das nach zwei Weltkriegen stark angeschlagen war und erst in jüngster Zeit wieder Auftrieb bekommen hat? Autor: Florian Kummert
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Stefan Wilkening, Franziska Ball, Annette Wunsch
Technik: Till Wollenweber
Redaktion: Iska Schreglmann
Im Interview:
Kathy Jolowicz, dt.-amerik. Historikerin
Dr. Alexander Emmerich, Autor von „Die Geschichte der Deutschen in Amerika“
Katja Sipple, Leiterin German American Heritage Museum, Washington D.C.
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Immer diese Bayern - Ein Podcast über bayerische Extrawürste
Bayern polarisiert. Schon immer. Weil Bayern ständig eine Extrawurst braucht. Dieser Podcast erzählt die Geschichten von Menschen, deren Leben sich durch diese Extrawürste verändert hat. Und erklärt dabei die speziellen Wege der bayerischen Politik und Bayerns besondere Rolle in Deutschland.
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Der Playboy? - Ein Hedonist? - Na klar! Er hat viel Geld und mag Frauen. Heute hat sich das Modell des "homo ludens" überlebt. Nur in der Unterhaltungsbranche führt der Playboy ein Weiterleben. (BR 2021) Autor: Martin Trauner
Credits
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Hans Jürgen, Jerzy May
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Andrea Bräu
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Im Interview:
Florian Boitin (Chefredakteur des deutschen "Playboy");
Holger von Hartlieb (Rechtsanwalt und Zeitzeuge)
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Punk oder Poesie? Für Patti Smith gibt es beides nur zusammen. Die Sängerin und Poetin hat sich nie um Grenzen und Formen in der Kunst geschert. Rock n´Roll kann Lyrik sein. Gedichte können manchmal härter sein als ein schneller, roher Punk-Song. Auch heute, nach über 45 Jahren auf der Bühne, zeigt Patti Smith noch immer, was mit Rock ´n Roll gemeint ist.
Autor/in dieser Folge: Christian Schaaf
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Stefan Wilkening, Maren Ulrich, Annette Wunsch
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Patti Smith
Peter Urban, Musikjournalist
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Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
Wie wir ticken - Euer Psychologie-Podcast
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Der 1748 geborene Lorenz Westenrieder avancierte vom Jesuitenpfarrer zum Volkserzieher, gar zum Missionar der Aufklärung - und er verschrieb sich der "Geschichte der Baiern". (BR 2011) Autor: Martin Trauner
Credits
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Ilse Neubauer, Wolfgang Pregler, Martin Umbach
Redaktion: Brigitte Reimer
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Im Interview:
Wilhelm Haefs, LMU, Autor des Buches Aufklärung in Altbayern. Leben, Werk und Wirkung Lorenz von Westenrieders
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Die junge Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg wird dominiert von ausländischen Gelehrten. Ausgerechnet der undisziplinierte Fischersohn Lomonossow schafft es sich gegen die etablierten europäischen Wissenschaftler durchzusetzen und sich als erster russischer Professor einen Namen in ganz Europa zu machen. Autorin: Fiona Rachel Fischer
Credits
Autor/in dieser Folge: Fiona Rachel Fischer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Annette Wunsch, Katja Amberger, Friedrich Schloffer
Technik: Jan Piepenstock
Redaktion: Thomas Morawetz
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Im Interview:
Prof. em. Dr. Dr. Friedrich Naumann, für Wissenschafts-, Technik-, Hochschulgeschichte, TU Chemnitz
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Literaturtipps:
M. W. Lomonossow: Ausgewählte Schriften II. Berlin 1961. – Schriften von Lomonossow, unter anderem Briefe, aus denen auch zitiert wird.
Peter Hoffmann: Michail Vasil´evič Lomonosov (1711-1765). Ein Enzyklopädist im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt a. M. 2011. – Ausführliche Biographie, die den Lebensalltag des Wissenschaftlers in einen historischen Kontext setzt.
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Er war niemals albern wie etwa Elvis Presley, sein ehemaliger Weggefährte. Auch nach seinem Tod gilt Johnny Cash, der legendäre Man in Black, als einer der größten Country-Sänger aller Zeiten. Durch Auftritte in Haftanstalten, durch Texte, die sich kritisch mit dem american dream auseinandersetzen, bezeugte der Sänger sein Engagement für die Ausgegrenzten und die sogenannten kleinen Leute. Cash, der einst als junger GI in Landsberg am Lech mit dem Musikmachen begonnen hat und selbst mit Drogensucht zu kämpfen hatte, wurde zuletzt von einem jungen Publikum als Kultfigur und glaubwürdiger Künstler wiederentdeckt. (BR 2009) Autor: Markus Mayer
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Autor/in dieser Folge: Markus Mayer
Regie: Markus Mayer
Es sprachen: Irina Wanka, Armin Berger, Jochen Striebeck
Redaktion: Petra Hermann-Böck
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Mirjam war zunächst einmal ein ganz normales jüdisches Mädchen aus einem Bergdorf in Galiläa, das ein armseliges Leben führte. Als 'Maria' wurde sie erst später im Christentum als die Mutter von Jesus Christus verehrt. (BR 2006) Autor: Christian Feldmann
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Autor/in dieser Folge: Christian Feldmann
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Margit Carls, Wolfgang Pregler
Redaktion: Bernhard Kastner
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Sie ist ziemlich unscheinbar, dabei hat sie es in sich: Die Minze. Sie ist eine Pflanze, die die Menschen seit Tausenden von Jahren nutzen. Und zwar für alle möglichen und unmöglichen Zwecke.... (BR 2018) Autorin: Renate Kiesewetter
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Autor/in dieser Folge: Renate Kiesewetter
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann, Carsten Fabian
Redaktion: Gerda Kuhn
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Wandern ist beliebt und gesund, immer mehr Menschen suchen Erholung in der Natur. Doch die Geschichte des Wanderns beginnt eigentlich erst im 18. Jahrhundert, als Freizeitvergnügen von Adel und vermögendem Bürgertum. (BR 2020) Autor: Georg Gruber
Credits
Autor/in dieser Folge: Georg Gruber
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Johannes Hitzelberger, Diana Gaul
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Im Interview:
Claudia Selheim (Kuratorin der Ausstellung "Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns", Leiterin der Sammlungen Volkskunde, Spielzeug und Judaica, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg);
Friederike Kaiser (Kuratorin der Ausstellung "Die Berge und wir", Deutscher Alpenverein München);
Thomas Lehner (Hüttenwirt Hallangerhaus, Karwendel):
Kuno Hottenrott (Professor; Sportwissenschaftler, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg);
Christine Thürmer (Weitwanderin, http://christinethuermer.de/);
Wolfgang Büscher (Journalist, Schriftsteller)
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Kann es gutgehen, wenn Menschen sich Ressourcen teilen, oder ist die Tragödie vorprogrammiert, weil jeder sich ungehemmt bedient? Eine Frage, die in Zeiten von Klimawandel, Überfischung und Artensterben hochaktuell ist. (BR 2019) Autor: Niklas Nau
Credits
Autor/in dieser Folge: Niklas Nau
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Peter Veit, Rahel Comtesse, Christian Baumann
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Marcel Dorsch, Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen;
Prof. Sabine Fuss, Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change;
Silke Helfrich, Autorin, Mitgründerin des Commons-Instituts
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Die Langlebigkeit mancher Tierarten gibt Rätsel auf. Etwa der Pfeilschwanzkrebs: Er überlebte mehr als 300 Millionen Jahre, ohne sich anzupassen. Altertümliche Lebensformen sind manchmal Überlebenskünstler. (BR 2015) Autorin: Prisca Straub
Credits
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Caroline Ebner, Detlef Kügow, Frank Manhold
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Bernhard Kastner
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Auf der Atlantikinsel Ascension entstand ab Mitte des 19. Jahrhunderts das erste künstlich geschaffene Ökosystem der Welt. Die Briten siedelten zahlreiche neue Pflanzen und Tiere an. Doch die koloniale Unterwerfung der Insel durch die Briten zeigt bis heute Schattenseiten. Autor: Lukas Grasberger
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Autor/in dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer
Technik: Regina Staerke, Christine Frey
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Im Interview:
João Vitor Tossini, Politikwissenschaftler, Universidade Estadual Paulista, São Paulo;
Dr. Nicola Weber, Senior Lecturer in Marine Ecology and Conservation, Univeryity of Exeter;
Prof. David Wilkinson, School of Life Sciences, University of Lincoln
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Auch wenn heute niemand mehr von Menschenrassen spricht: Die Vorstellung, Menschen in verschiedene Rassen aufteilen und hierarchisch ordnen zu können, hat jahrhundertelang eine enorme Wirkmacht entfaltet. (BR 2019) Autorin: Susanne Hofmann
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Autor/in dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Friedrich Schloffer, Julia Cortis, Andreas Neumann, Wolfgang Pregler
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Iska Schreglmann
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Im Interview:
Christian Geulen (Professor; Rassismushistoriker und Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Koblenz-Landau);
Susan Arndt (Professorin; Professorin für englische und afrikanische Literaturen an der Universität Bayreuth);
Susanne Wernsing (Historikerin und freie Kuratorin)
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Mord, Totschlag und andere Gewaltverbrechen: Krimis sind die Erzählform der Stunde, ob im Fernsehen, Kino oder auf dem Büchermarkt. Boomt das Genre, weil unser Leben so friedlich geworden ist? (BR 2019) Autorin: Daniela Remus
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Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Johannes Hitzelberger
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Susanne Poelchau
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Wer wird hier zu Recht, wer zu Unrecht verdächtigt? Was, wenn Menschen unschuldig verurteilt werden und ihnen niemand glaubt? Oder andersherum: Wenn der wahre Täter oder die wahre Täterin ohne Strafe davonkommen?
"Unter Verdacht" - In der 7. Staffel des erfolgreichen BAYERN 3 True Crime Podcasts sprechen Strafverteidiger Dr. Alexander Stevens und BAYERN 3 Moderatorin Jacqueline Belle über neue spannende Kriminalfälle. Diesmal geht es um Menschen, die unter Verdacht geraten sind. Wer ist schuldig? Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Und werden am Ende immer die Richtigen verurteilt?
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Dromedar oder Kamel? Die Zahl der Höcker macht den Unterschied, Dromedare sind die mit einem Höcker. Der darin gespeicherte Fettspeicher ist einer der vielen Überlebenstricks der Schwielensohler in der Wüste. (BR 2019) Autor: Bernd-Uwe Gutknecht
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Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Xenia Tiling, Jerzy May
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Bernhard Kastner
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Im Interview:
Konstantin Klages, Leiter des Kamelhofs in Grub, Oberbayern;
Prof. Dr. Gerd Sutter, Virologe an der LMU München;
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Michail Gorbatschow war von 1985 bis 1991 Generalsekretär der KPdSU und das letzte Staatsoberhaupt der Sowjetunion. Er leitete in den 80er Jahren mit seiner Reformpolitik das Ende des Kalten Krieges ein. Er ist Urheber der Begriffe, die auch ohne Übersetzung in der ganzen Welt bekannt wurden: "Perestrojka" und" Glasnost". Seine demokratischen Reformen führten zu einem völligen Wandel des Ostblocks und schließlich auch zur deutschen Wiedervereinigung. Doch sein eigenes riesiges Land zerbrach. Viele Russen haben dies Gorbatschow bis heute nicht verzeihen können. (BR 2010) Autorin: Julia Smilga
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Autor/in dieser Folge: Julia Smilga
Regie: Martin Trauner, Eva Solloch
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Stefan Wilkening, Reiner Buck, Johannes Hitzelberger
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Brigitte Reimer
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Das Gebot 'du sollst nicht lügen' ist moralphilosophisch vielschichtig. Die Frage muss immer sein: Hat der andere ein Recht auf die Wahrheit? Oder beraube ich ihn seiner Freiheit? Wahrheit, eine komplexe Herausforderung. (BR 2018) Autorin: Karin Lamsfuß
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Autor/in dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Diana Gaul, Stefan Merki, Berenike Beschle
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Bernhard Kastner
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Im Interview:
Dr. Simone Dietz, Philosophieprofessorin;
Ulrich Beer-Bercher, Theologe;
Stephan Potting, Familientherapeut;
Dr. Matthias Thöns, Palliativmediziner
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"Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.” So beschreibt Edith Stein ihr Leben und ihre Überzeugung. 1891 in einer jüdisch-orthodoxen Familie geboren, konvertiert sie zum Katholizismus und tritt in ein Kloster ein. Dort wird sie denunziert, deportiert und in Auschwitz ermordet. Autorin: Daniela Remus
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Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling, Rahel Comtesse
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
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Im Interview:
Dr. Tonke Dennebaum, Regens, Priesterseminar Mainz;
Prof. em. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Religionsphilosophin, Philosophisch-Theologische Hochschule, Heiligenkreuz bei Wien;
Klaus-Rüdiger Mai, Sachbuchautor, Berlin
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Haskala - Die jüdische Aufklärung
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Literaturtipps:
Biographie von Edith Stein:
Klaus-Rüdiger Mai: Edith Stein. Geschichte einer Ankunft.
Kösel Verlag München, 2022;
Zum Denken von Edith Stein:
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Unerbittliches Licht. Versuche zur Philosophie und Mystik Edith Steins.
Text und Dialog Leipzig, 2022
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Die Sonne versorgt uns mit Licht und Wärme. Manchmal bekommen wir auch die Folgen gewaltiger Eruptionen auf der Sonne zu spüren. Stromnetze und elektronische Geräte reagieren sensibel auf solche Sonnenstürme. (BR 2019) Autor: David Globig
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Autor/in dieser Folge: David Globig
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Katja Amberger, Carsten Fabian, Axel Wostry, Peter Lersch
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Iska Schreglmann
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Im Interview:
Dr. Bernd Inhester, Leiter einerArbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Göttingen;
Dr. Stefan Kraft vom Europäischen Satellitenkontrollzentrum ESOC;
Dr. Jürgen Matzka vom Deutschen GeoForschungsZentrum;
Dr. Thomas Berger, Leiter der Arbeitsgruppe Biophysik am Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Köln
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Im Nibelungenlied, einem mittelalterlichen Epos, geht es um Liebe und Eifersucht, um Verrat, Rache und Mord. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei wunderschöne Frauen von höchst unterschiedlichem Charakter: Kriemhild und Brünhild. (BR 2020) Autorin: Carola Zinner
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Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Tristan Marquardt, Stefan Merki
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Andrea Bräu
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Im Interview:
Andrea Sieber (Professorin für Literaturwissenschaften an der Universität Passau)
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Die Superheldin: Als Wonder Woman, Black Widow oder Catwoman heute Teil der Popkultur. Und bis heute gedeckelt von patriarchalen Konstrukten: Sie muss erotischer und friedfertiger sein als der männliche Superheld. Weiblich eben - oder verlieren. Fragt sich, wie lange die Superheldin sich das noch gefallen lassen wird. Autor: Frank Halbach
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Autor/in dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Stefan Wilkening, Christiane Roßbach, Edith Saldanha
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Andrea Bräu
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Im Interview:
Dr. phil. Véronique Sina, Medienwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Gender und Medien, Kultur- und Medientheorie
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Die Geierwally - Von der Malerin zum Mythos
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Literaturtipps:
Lukas Etter/Thomas Nehrlich/Joanna Nowotny (Hg.): Reader Superhelden. Theorie – Geschichte – Medien. Bielefeld 2018.
Jill Lepore: Die Geschichte von Wonder Woman. Aus dem Englischen von Werner Roller. München 2022.
Florian Nieser (Hg.): Die Dechiffrierung von Helden. Aspekte einer Semiotik des Heroischen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bielefeld 2020.
Véronique Sina: Comic- Film – Gender. Zur (Re-)Medialisierung von Geschlecht im Comicfilm. Bielefeld 2016.
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Die Nabatäer hatten ihre Blütezeit zur Zeit Jesu. Sie beherrschten die Weihrauchstraße und organisierten den Handel zwischen Arabien und dem Mittelmeerraum. (BR 2016) Autor: Bernd-Uwe Gutknecht
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Autor/in dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Silke von Walkhoff
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Thomas Morawetz
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In der BR Mediathek finden Sie einen spannenden Beitrag von ARD alpha zur Stadt Petra (online bis 12.02.2027):
Petra (Jordanien) - Die Totenstadt der Nabatäer
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Lange bevor Erdöl und Erdgas die Arabischen Emirate reich machten, wurde von dort Fernhandel bis nach Indien betrieben. Gold, Perlen, Waffen im Tausch gegen Edelsteine, Hölzer, Gewürze. Die Region um Dubai war schon in der Stein-, Bronze-und Eisenzeit ein wichtiges Handelszentrum. Autor: Bernd-Uwe Gutknecht
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Autor/in dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Rahel Comtesse, Thomas Birnstiel, Christian Baumann, Jenny Güzel
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
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Im Interview:
Christian Velde, Archäologe Ras al Khaimah;
Ali Al Mansoori, Dattelbauer;
Aisha Ahmet, Nationalmuseum Ras al Khaimah;
Dr. Mansour Boraik, Saruq al Hadid-Museum Dubai ;
Abdullah Mansouri, Bootsbauer ;
Abdulla Rashed Al Suwaidi, Perlenzüchter
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Literaturtipps:
Eduard Glaser, „Skizze der Geschichte und Geographie Arabiens von den ältesten Zeiten bis zum Propheten Mohammad“. Sehr detaillierte Fachlektüre über den gesamten Arabischen Raum.
Tim Mackintosh-Smith, „Arab“. 3000 Jahre arabische Geschichte. Der Autor beschreibt auch die ersten Nomaden der Arabischen Halbinsel, das Buch reicht aber bis in die Gegenwart.
Philip Parker, „Legendäre Handelsrouten“. Ein interessantes Werk über frühe Handelswege, auch über die Karawanen auf der Arabischen Halbinsel.
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Wer ist der bessere Läufer? Tier oder Mensch. Die Evolution hat einen eindeutigen Sieger hervorgebracht, in Ausdauer, Effizienz und Erfolg. Dass der Gewinner seine Fähigkeiten zur Freizeitbeschäftigung degradiert hat, ist dabei unverständlich. Wer ist der bessere Läufer? Tier oder Mensch. Die Evolution hat einen eindeutigen Sieger hervorgebracht, in Ausdauer, Effizienz und Erfolg. Dass der Gewinner seine Fähigkeiten zur Freizeitbeschäftigung degradiert hat, ist dabei unverständlich. (BR 2020) Autor: Johannes von Creytz
Credits
Autor/in dieser Folge: Johannes von Creytz
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Madelaine Böhme (Paläontologin und Naturforscherin, Universität Tübingen);
Roman Schniepp (Dr.; Leiter der Forschungsgruppe Gang und Standkontrolle an der LMU München);
Daniel Rixen (Professor; TUM, Lehrstuhl für angewandte Mechanik)
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Für uns Menschen wirkt ein Bienenvolk ziemlich chaotisch. Unzählige Tierchen, die über- und untereinander krabbeln. Tatsächlich ist dieses Chaos aber genau orchestriert. Ähnlich wie Zellen unseres Körpers arbeiten Bienen, aber auch Ameisen oder Termiten, reibungslos zusammen. Wie schaffen die Tiere das? Autorin: Maike Brzoska
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Susanne Foitzik, Professorin an der Universität Mainz;
Randolf Menzel, Professor an der Freien Universität Berlin
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Ameisen - Staatenbildende Insekten der Superlative
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Literaturtipps:
Bert Hölldobler, Edward Wilson: Der Superorganismus. Der Erfolg von Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten. Springer Verlag, 2015.
Bert Hölldobler, Edward Wilson: Blattschneiderameisen - Der perfekte Superorganismus. Springer Verlag, 2011
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Was wären wir ohne die Exzentriker, wie Klaus Kinski, Karl Lagerfeld oder Albert Einstein? - Vermutlich ziemlich langweilig. Aber gibt es sie heute noch, die wirklich echten Exzentriker? (BR 2020) Autor: Martin Trauner
Credits
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Rahel Comtesse, Rainer Buck
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
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Im Interview:
Albrecht Schnabel, Diplompsychologe
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Besonnenheit gilt seit der Antike nicht nur als persönliche Eigenschaft, sondern als politische Tugend. In der Mediendemokratie der Gegenwart wird sie besonders gebraucht. Ein Gegenentwurf zur Skandalisierung und zur Manipulation der Wahrheit. Was macht Besonnenheit aus? Kann man sie lernen? Autorin: Beate Meierfrankenfeld
Credits
Autor/in dieser Folge: Beate Meierfrankenfeld
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Stefan Wilkening, Katja Bürkle, Thomas Lettow
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
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Im Interview:
Heidemarie Bennent-Vahle, Philosophin;
Prof. Martina Thiele, Medienwissenschaftlerin
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Literaturtipps:
Heidemarie Bennent-Vahle, „Besonnenheit – eine politische Tugend. Zur ethischen Relevanz des Fühlens“: Einführung in die philosophischen Aspekte des Themas, ein Schwerpunkt liegt auf Besonnenheitserziehung (Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2020).
Bernhard Pörksen, „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“: Medienwissenschaftliche Untersuchung zur Dynamik digitaler Öffentlichkeit – mit dem Entwurf zur Utopie einer „redaktionellen Gesellschaft“ (Hanser Verlag, 2018).
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Das Blut im Fluss halten - das ist die Garantie für ein gesundes Herz-Kreislaufsystem. Entscheidend ist der Lebensstil mit einer ausgewogenen Ernährung und ausreichend Bewegung. Also das, was dem gesamten Organismus gut tut. (BR 2018) Autorin: Ingeborg Hain
Credits
Autor/in dieser Folge: Ingeborg Hain
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Julia Fischer, Johannes Hitzelberger, Peter Veit
Technik: Siglinde Hermann
Redaktion: Matthias Eggert
Im Interview:
Stephan Achenbach (Professor; Direktor der Medizinischen Klinik 2 - Kardiologie und Angiologie des Universitätsklinikums Erlangen);
Michael Joner (Professor; Deutsches Herzzentrum München);
Helmut Gohlke (Professor; Deutsche Herzstiftung)
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August Bebel gilt bis heute als Identifikationsfigur der deutschen Sozialdemokratie, als derjenige, der es im Deutschen Kaiserreich geschafft hat, den Weg der Partei zur Massenbewegung zu ebnen. (BR 2014) Autorin: Ulrike Beck
Credits
Autor/in dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Thomas Loibl, Peter Weiß
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz, Nicole Ruchlak
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In Italien war was zu hören und zu lernen, in England was zu verdienen. So munkelte man in Musikerkreisen vor 300 Jahren. Also machte sich der in Halle geborene Georg Friedrich Händel (1685-1759) im Jahr 1713 auf nach London und avancierte dort zum Weltstar der Barockmusik. (BR 2013) Autor: Martin Trauner
Credits
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Stefan Wilkening, Hans-Jürgen Stockerl, Peter Weiß
Technik: Siglinde Hermann
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Interviewpartnerin dieser Folge:
Dr. Konstanze Musketa, Händel-Haus in Halle
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Aale sind außergewöhnliche Fische: Sie beginnen und beenden ihr Leben mit einer langen Reise: Von ihrem Geburtsort in der Sargassosee in die europäischen Flüsse und Seen und nach einigen Jahren zurück. Unbeirrbar schwimmt der Aal dann zurück zu seinem Geburtsort, paart sich, vermehrt sich ... und stirbt. (BR 2017) Autor: Bernhard Kastner
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Autor/in dieser Folge: Bernhard Kastner
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Andreas Neumann, Anne-Isabelle Zils, Stefan Merki
Technik: Fabian Zweck
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Martha Muchow war Anfang des 20. Jahrhunderts eine der noch wenigen Frauen in der jungen Wissenschaft Psychologie. Ihr Blick auf das Subjekt Kind gilt heute als Meilenstein der deutschen Sozialforschung. (BR 2016) Autorin: Daniela Remus
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Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Loibl, Caroline Ebner, Julia Cortis, Peter Veit
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Susanne Poelchau, Thomas Morawetz
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Im Interview:
Prof. Hannelore Faulstich-Wieland, Universität Hamburg;
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Wie kann ein kleines Insekt so laute Geräusche erzeugen? Diese Frage stellt sich mancher Mittelmeer-Urlauber beim Gesang der Zikaden. Längst nicht alle Zikadenarten singen, manche sind lästige Pflanzenschädlinge. (BR 2017) Autorin: Christiane Seiler
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Autor/in dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Irina Wanka, Christian Baumann, Julia Cortis
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Bernhard Kastner
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Wo bin ich? Diese Frage war für Seeleute immer schon wichtig, aber schwer zu beantworten. Vor allem die Bestimmung des Längengrades bereitete Probleme, bis sich ein britischer Uhrmacher ihrer annahm. (BR 2016) Autorin: Christiane Neukirch
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Autor/in dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Eva Gosciejewicz, Thomas Loibl, Heiko Ruprecht, Martin Fogt
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Bernhard Kastner
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Mineralien, Pflanzen, Trophäen und Kuriositäten: Vom kleinsten Falter über den größten Käfer bis zum längst ausgestorbenen Riesenalk, einem pinguinähnlichen Seevogel, lagern in naturkundlichen Depots wertvollste Schätze. Systematisch geordnet und weit mehr als ein Sammelsurium wachsen die Sammlungen weiter, aus gutem Grund. Autorin: Inga Pflug
Credits
Autor/in dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Hemma Michel, Ron Schickler, Friedrich Schloffer
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Iska Schreglmann
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Im Interview:
Herbert Fiederling, Spix-Verein Höchstadt/Aisch;
Prof. Dr. Gerhard Haszprunar, langjähriger Leiter der Zoologischen Staatssammlung (bis 03/2023), Professor Emeritus;
Gabriele Prasser, Vorsitzende der naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg (NHG);
Claudia Frosch-Hoffmann, NHG, Abteilung Herbar;
Dieter Theisinger, NHG, Obmann der Abteilung Botanik;
Norbert Meyer, NHG, Abteilung Herbar
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Farne - Urgestalten der Pflanzenwelt
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Linktipps:
Website der Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns (SNSB):
EXTERNER LINK | https://snsb.de/
Website des Spix-Museums:
EXTERNER LINK | https://spix-museum.de/
Website der naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg (NHG):
EXTERNER LINK | https://www.nhg-nuernberg.de/main.php
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Auf der Spur - Die ARD Ermittlerkrimis
Mysteriöse Morde und kuriose Kriminalfälle im Fadenkreuz! Ob Kommissar-Genie, Privatdetektivin, Profilerin oder Hobbyschnüffler: Im Krimi-Podcast für alle Fans von Whodunit begeben sich Ermittler im Kampf gegen das Verbrechen auf die Spurensuche.
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Ohne Feuer wäre die Erde nicht der Planet geworden, der sie heute ist. Es brodelt in ihrem Inneren, doch auch auf der Erdoberfläche brennt es. 300 bis 600 Millionen Hektar Vegetation fallen jedes Jahr den Flammen zum Opfer. In vielen Regionen spielen Feuer auch eine elementare Rolle für den Erhalt der Ökosysteme. Feuer bedeutet hier nicht Vernichtung, sondern Leben. (BR 2020) Autorin: Roana Brogsitter
Credits
Autor/in dieser Folge: Roana Brogsitter
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Rahel Comtesse
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Matthias Eggert
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Im Interview:
Johann Goldammer (Dr.; Professor; Direktor des Global Fire Monitoring Center (GFMC) am Max-Planck-Institut für Chemie in Freiburg sowie Leiter der Arbeitsgruppe Feuerökologie an der Forstwissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg);
Susanne Winter (Dr.; Programmleiterin Wald, WWF Deutschland);
Christian Wirth (Dr.; Professor, Leiter der AG "Spezielle Botanik und Funktionelle Biodiversität", Universität Leipzig)
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Frankreichs Küsten - ein Urlaubsparadies. Doch Waldbrände im Hitzesommer 2022 zerstörten Pinienwälder und Campingplätze - welche Folgen hat das für den Tourismus? Wir besichtigen eine schillernde Villa an der Côte d'Azur und klären in der Normandie, ob der Cidre so gerne getrunken wie vermarktet wird (Online bis 13.10.2023):
RADIOREISEN | Frankreichs Küsten: Cidre in der Normandie
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Die Weichen für den Selbstwert werden früh gestellt. Circa 50% der Menschen haben eine sichere Elternbindung, der anderen Hälfte fehlt das Urvertrauen. Doch nicht nur die eigene Biografie beeinflusst den Selbstwert. (BR 2015) Autorin: Sabine Kienhöfer
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Autor/in dieser Folge: Sabine Kienhöfer
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Es sprachen: Christian Baumann, Ruth Geiersberger, Heinz Peter, Carsten Fabian
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Redaktion: Susanne Poelchau
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Megastar Madonna hat nicht nur das MTV Age dominiert. Die New Yorkerin hat erkannt, dass Mainstream Pop spannend sein kann und angemessen präsentiert werden muss: mit Gesang, Tanz, Mode und brisanten Themen. (BR 2020) Autor: Markus Mayer
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Im Interview:
Kerstin Grether (Berliner Popmusik-Journalistin);
Didi Neidhart (Salzburger Popmusik-Journalist)
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Kurfürst Maximilian I. war einer der bedeutendsten Herrscher Bayerns. Er war einer der maßgeblichen Akteure des Dreißigjährigen Krieges. Seine besondere Marienfrömmigkeit prägt Bayern bis heute. (BR 2019) Autorin: Steffi Illinger
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Es sprachen: Axel Wostry, Jennifer Güzel, Jerzy May
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Dr. Gerhard Immler, Leiter des geheimen Hausarchivs der Wittelsbacher
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Immer mehr Menschen lassen Fleisch ab und zu weg. Inzwischen ist ein großer Markt für Ersatzprodukte entstanden, vom Aufschnitt auf Pflanzenbasis über das Hülsenfrüchte-Hack bis hin zu Pilz-Quinoa-Burgern. Oder auch Insekten, unterschiedlich zubereitet. Doch wie gesund sind diese Alternativen? Autor: Hellmuth Nordwig.
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Autor/in dieser Folge: Hellmuth Nordwig
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Iska Schreglmann
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Dr. Nils Grabowski, Leiter Hygiene und Technologie von Insekten, Tierärztliche Hochschule Hannover;
Dr. Alison Stille, Walding Foods, Freising; Christian Zacherl, Geschäftsfeldmanager Lebensmittel, Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung, Freising;
Dr. Susanne Gola, Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung, Freising;
Prof. Christina Holzapfel, Institut für Ernährungsmedizin, TU München
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Inside Klimaprotest - Welcher Protest wirkt? (1/3)
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Wenn von einer tief empfundenen Liebe nur noch ein alter, abgetragener Schlafanzug übrig bleibt, weil der dazugehörige Mensch die Tür endgültig hinter sich zugeschlagen hat, muss irgendwann entschieden werden: Wie soll mit dem Liebesballast umgegangen werden? Selber tragen, zurückgeben, wegschmeißen oder gar verbrennen? (BR 2012) Autorin: Prisca Straub
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Es sprachen: Beate Himmelstoß, Sabine Kastius, Andreas Neumann
Technik: Roland Boehm
Redaktion: Bernhard Kastner
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In der Jungsteinzeit, dem Neolithikum, haben die Menschen das Überlebensprinzip "Arbeit" erfunden. Sie wurden Bauern, sesshaft, kreativ, innovativ und offenbar auch gewalttätiger, als sie es bislang waren. (BR 2016) Autor: Matthias Hennies
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Interviewpartner/innen:
Dr. Martin Hinz, Universität Kiel;
Dr. Helmut Schlichtherle, ehem. Landesamt für Denkmalpflege, Hemmenhofen/Bodensee;
Manuela Fischer und Margarethe Schweikle, Landesamt für Denkmalpflege, Hemmenhofen/Bodensee;
Professor Thomas Saile, Universität Regensburg;
Dr. Heiner Schwarzberg, Archäologische Staatssammlung München
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Der aufrechte Gang kam zuerst, danach entwickelte sich das menschliche Gehirn in Millionen Jahren zu der Größe und Leistungsfähigkeit, wie es den modernen Menschen auszeichnet. Ist der Grund dafür ein Wechsel in der Ernährung oder haben veränderte Lebensbedingungen den Ausschlag dafür gegeben? Autorin: Daniela Remus
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Anne Schoenholtz ist Geigerin im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, kurz BRSO - einem Orchester, das in Rankings immer wieder unter den zehn besten Orchestern der Welt landet. Als Host des Orchesterpodcasts nimmt Anne uns mit hinter die Kulissen des BRSO und entlockt ihren Kolleg*innen so manches intime Geständnis und auch lustige Geschichten aus dem Orchesterleben. Aber sie lädt sich auch Menschen aus ganz anderen Bereichen als der Klassischen Musik zum Gespräch in den Orchester-Container im Werksviertel-Mitte in München ein, z.B. einen Sternekoch. Dabei entdecken Anne und ihre Gäste ganz überraschende Parallelen zwischen ihren Lebenswelten.
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Es ist eine Revolution der kleinen Leute. Im März 1871 weht plötzlich über Paris eine rote Fahne. Die Pariser Kommune hält sich nur 72 Tage, aber als Mythos hat sie überlebt. (BR 2017) Autorin: Bräuer Elsbeth
Credits
Autor/in dieser Folge: Elsbeth Bräuer
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Alexander Duda, Katja Schild, Carsten Fabian
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im Interview:
Dr. Mareike König vom Deutschen Historischen Institut;
Dr. Judith Prokasky von der Stiftung Humboldtforum
Linktipps:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki brach ein neues Zeitalter an. Wie veränderte die Atombombe die Welt? (BR 2015) Autor: Christian Schaaf
Credits
Autor/in dieser Folge: Christian Schaaf
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Amberger, Friedrich Schloffer, Diana Gaul
Technik: Cordula Wanschura, Max Meyke
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Hiroshima und Nagasaki - Atombomben auf Großstädte
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Kühle Nordlichter, feurige Südländer - solche Stereotypen sind weit verbreitet. Aber ist da was dran? Auch einige Wissenschaftler wollen wissen, ob das Klima Einfluss auf den Charakter eines Menschen hat. (BR 2018) Autorin: Maike Brzoska
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Jerzy May, Clmens Nicol
Technik: Chris Schimmöller
Redaktion: Gerda Kuhn
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Im Interview:
Peter Walschburger (Professor; Biopsychologe und emeritierter Professor der Freien Universität Berlin);
Franz Mauelshagen (Historiker der Universität Duisburg-Essen);
Nico Stehr (Kulturwissenschaftler an der Zeppelin Universität, Friedrichshafen)
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Mit Max Stirner (1806-1856) verbindet man vor allem seinen Leitsatz: "Mir geht nichts über mich!" Schon seine Zeitgenossen hatten so ihre Probleme mit dem Philosophen, der sich nicht einordnen lassen wollte. (BR 2013) Autor: Martin Trauner
Credits
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Claus Brockmeyer, Anton Figl
Technik: Lydia Schön
Redaktion: Bernhard Kastner
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Der Egoismus - Das Zukunftsmodell?
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Schon Julius Cäsar entwickelte ein Verfahren, Botschaften sicher zu verschlüsseln. Heute ist Kryptografie nicht mehr Kriegsherren und Geheimdiensten vorbehalten, sondern umgibt uns - meist unbemerkt - im Alltag. (BR 2019) Autor: Oliver Buschek
Credits
Autor/in dieser Folge: Oliver Buschek
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Julia Fischer, Christian Schuler
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Mikrochips - Halbleiter als Global Player
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Die Erfindung der Schrift - Vom Bild zum Symbol
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Zähne, Münzen, Moleküle - wer weit zurückliegende Ereignisse erforscht, ist froh über alle Indizien, auf die er stößt. Um sie zu entschlüsseln, landen sie im Labor, wo die archäologischen Funde analysiert werden. Was haben unsere Vorfahren gegessen? Wen haben sie geheiratet? Und mit wem haben sie Handel getrieben? Archäologie ist wie in Krimi, der immer neue Folgen hervorbringt. Autor: Matthias Hennies
Credits
Autor/in dieser Folge: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Frank Manhold, Peter Weiß
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Im Interview:
Stefan Burmeister, Geschäftsführer Museum und Park Kalkriese;
Klaus von Carnap-Bornheim, wissenschaftlicher Direktor Varusschlacht-Kalkriese;
Hannes Knapp, Dendrochronologie, Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie;
Ronny Friedrich, C-14-Analysen, Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie;
Corina Knipper, Isotopie, Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie
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Eine Vielzahl spannender Sendungen zur Archäologie:
Archäologie erleben - Akte Jungsteinzeit
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Im „Museum und Park Kalkriese“ erfahren die Besucherinnen und Besuchern u.a. Hintergründe über die Varusschlacht und die Ausgrabungen vor Ort:
Museum & Park Kalkriese – VarusRegion
EXTERNER LINK | https://www.varusregion.de/poi/varusschlacht-im-osnabruecker-land-museum-und-park-kalkriese
Curt-Engelhorn-Zentrum für Archäometrie:
Ceza
EXTERNER LINK | https://ceza.de/
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"Ein guter Soundtrack ist der, den man nicht hört." Das galt lange als vermeintliches Qualitätssiegel für Filmkomponisten. Doch mittlerweile führen die Soundtracks vieler Filme ein künstlerisches Eigenleben. (BR 2016) Autor: Martin Trauner
Credits
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Berenike Beschle, Petra Mörk, Clemens Nicol
Technik: Helge Schwarz, Andreas Lucke
Redaktion: Petra Hermann
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Ministerpräsident Johannes Hoffmann hatte keine leichte Aufgabe. Ab März 1919 sollte der Sozialdemokrat die noch junge Demokratie in Bayern etablieren und ihr feste Spielregeln geben - die Bamberger Verfassung. (BR 2019) Autor: Hans Hinterberger
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Autor/in dieser Folge: Hans Hinterberger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Werner Härtl, Rahel Comtesse, Johannes Hitzelberger, Frank Manhold, Katja Schild
Technik: Siglinde Hermann
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Wolfgang Ehberger, Institut für bayerische Geschichte München
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Mit der Revolution von 1918 verloren die Wittelsbacher den bayerischen Königsthron, doch die ehemalige Herrscherfamilie behielt politischen und gesellschaftlichen Einfluss. Immer wieder träumten manche Monarchisten von der Rückkehr der Monarchie in Bayern, während die Nationalsozialisten Teile der Familie ins KZ Flossenbürg einsperrten. Herzog Franz von Bayern, der heutige Chef des Hauses Wittelsbach berichtet in seinen Erinnerungen als Zeitzeuge über diese Jahre. Autorin: Marita Krauss
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Autor/in dieser Folge: Marita Krauss
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann, Carsten Fabian, Herbert Schäfer, Clemens Nicol
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Johannes Hoffmann - Die Bamberger Verfassung
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Ludwig der Bayer - Ein Wittelsbacher auf dem Kaiserthron
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Ludwig II. - Der Mondkönig
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Literaturtipp:
von Bayern, Franz, Zuschauer in der ersten Reihe. ERINNERUNGEN. Beck Verlag, 2023
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Libellen sind Insekten mit erstaunlichen Fähigkeiten und klangvollen Namen. Ihr Lebensraum sind Bäche und Gewässer. Sie sind wichtig für das Ökosystem, doch viele der 75 Libellenarten in Bayern sind aktuell vom Aussterben bedroht. (BR 2018) Autor: Werner Bader
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Autor/in dieser Folge: Werner Bader
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Jennifer Güzel, Christian Baumann, Gabi Hinterstoisser
Technik: Lydia Schön-Krimmer
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Klaus Kuhn (Autor und Libellenexperte, Augsburg)
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Ist der Mensch im Grunde gut oder schlecht? Eine Frage, die nicht nur die Philosophie seit Jahrhunderten beschäftigt. Letztlich dient ihre Beantwortung immer auch der Legitimation von Macht. Muss man den Mensch mit Regeln zähmen oder ihm Gelegenheit geben sein grundsätzlich kooperatives Wesen entfalten zu können? (BR 2021) Autorin: Silke Wolfrum
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Autor/in dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Xenia Tiling, Burchard Dabinnus
Technik: Jan Piepenstock
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Dr. Martin Oppelt, Politikwissenschaftler, Universität Augsburg;
Rutger Bregman, Historiker und Autor von „Im Grunde gut“;
Prof. Dr. med Reinhard Haller, Psychologe, Psychotherapeut, Neurologe, Autor von „Das Böse“
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Philosophie heute - Ratgeber statt Welterkenntnis?
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Philosophie der Schönheit - Was den Menschen "schön" macht
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Humanismus - Wie menschlich ist der Mensch?
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Literaturtipps:
Bregman, Rutger: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Hamburg [Rowohlt Verlag] 2020.
Ein spannendes Plädoyer für eine positive Sicht auf den Menschen, untermauert mit einer Vielzahl an Studien aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Bereichen
Haller, Reinhard: Das Böse. Die Psychologie der menschlichen Destruktivität. Salzburg [Ecowin] 2019.
Ein aufschlussreiches Buch des gefragten Gerichtspsychiaters Haller über die Zusammenhänge, die zu exzessiver Gewalt bei Schwerstverbrechern führen können.
Hare, Brian & Woods, Vanessa: The Survival of the Friendliest. Understanding Our Origins and Rediscovering Our Common. [Oneworld Publications] 2020.
Eine verblüffende Theorie über die Selbst-Domestizierung des Homo Sapiens, die seiner Spezies das Überleben sicherte, ein neuer Blick auf unsere Wurzeln.
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Schon zu Lebzeiten gilt Dostojewski als einer der ganz Großen der russischen Literatur. In seinem Schaffen nimmt er zentrale Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts vorweg: den Versuch, den Menschen in seinen Tragödien und der Zerrissenheit zu verstehen. (BR 2021) Autorin: Julia Smilga
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Autor/in dieser Folge: Julia Smilga
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Peter Veit, Diana Gaul, Marlen Reichert, Stefan Wilkening
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Christoph Garstka, Professor für russische Kultur Universität Ruhr- Bochum;
Vera Biron, stellvertretende Leiterin Dostojewski Museum St. Petersburg;
Professor Igor Volgin, Literaturwissenschaftler und Dostojewskij Biograph, Lomonossow Universität Moskau
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Literaturtipps:
Verbrechen und Strafe: Roman (Fjodor M. Dostojewskij, Werkausgabe), Verlag: FISCHER Taschenbuch; Übersetzung: Swetlana Geier;
Die Brüder Karamasow: Roman (Fjodor M. Dostojewskij, Werkausgabe), Verlag : FISCHER Taschenbuch; 1. edition (24 Mar. 2021) Übersetzung: Swetlana Geier;
Anna Grigorjewna Dostojewskaja : Vospominanija Moskwa, Hudozhestvennaja Literatura, 1981, Übersetzung : Autorin
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Bis vor wenigen Jahren befand sich im Zentrum von München das traditionsreiche Geschäft "Wallach", spezialisiert auf Trachten und bunt bedruckte Stoffe. Wallach war entscheidend am Siegeszug des "Dirndls" beteilig, stattete Oktoberfestzüge aus und prägte entscheidend das folkloristische Bayern-Bild. (BR 2007) Autorin: Carola Zinner
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Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Julia Fischer, Thomas Loibl, Tim Karhöhammer-Löw, Heidi Treutler
Redaktion: Brigitte Reimer
Linktipps:
Dirndl, Truhen, Edelweiss - Die Volkskunst der Brüder Wallach
Vom 26. Juni bis 30 Dezember 2007 zeigte das Jüdische Museum München eine Ausstellung über die Brüder Wallach. Weitere Informationen finden Sie im Ausstellungsarchiv des Jüdischen Museums:
EXTERNER LINK | JUEDISCHES-MUSEUM-MUENCHEN.DE | SAMMELBILDER 03
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Das Schwarze Meer war einst ein Süßwassersee. Hier soll sich einst die Sintflut ereignet haben. Große Gebiete wurden überflutet. Seit Jahrrausenden ringen und kämpfen verschiedene Völker um den strategisch wichtigen Lebensraum. Autorin: Claudia Steiner
Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Hemma Michel, Florian Schwarz
Technik: Ralph Bienzeisler
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Dr. Udo Schlotzhauer, Referent für Klassische Archäologie des nördlichen Schwarzmeerraums am Deutschen Archäologischen Institut in Berlin;
Prof. Dr. Emil Stanev (Aussprache des Namens bei Stenev 0.14), Institut für Küstensysteme, Helmholtz-Zentrum Hereon in Geesthacht;
Prof. Dr. Stefan Troebst, bis 2021 Professor für Kulturgeschichte des östlichen Europa an der Universität Leipzig
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Die Straße von Gibraltar - Nadelöhr der Weltgeschichte
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Linktipps:
BR Fernsehen | EUROBLICK
Rumänien: Seeminen als tödliche Gefahr im Schwarzen Meer und andere Themen
Video verfügbar: bis 13.05.2024
Das Magazin "EUROBLICK" hat sich zum Ziel gesetzt, europäische Zusammenhänge zu erklären und dabei die farbigen Unterschiede europäischer Regionen lebendig darzustellen.
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Das Erste | Verrückt nach Meer
Folge 107: Willkommen im Schwarzen Meer
Video verfügbar: bis 05.05.2024
"Die Grand Lady" erreicht den ersten Hafen im Schwarzen Meer. Im rumänischen Konstanza verwirrt Kadettin Inka Praktikant Andreas mit alter Seefahrertechnik. Und Küchenpraktikantin Jannicke hat mit einer alten Reisekrankheit zu kämpfen.
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Früher ging der Fernseh-Nachmittag auf den Privatsendern so: Talksendungen, Reality-Shows, ein paar amerikanische Serien. Heute sind all diese Inhalte verdrängt worden, von einer neuen Unterhaltungsform, die dokumentarisch daherkommt, aber tatsächlich die reine Fiktion ist: Scripted Reality. Billigste Produktionsbedingungen, authentisch wirkende Laienschauspieler und eine ausgeklügelte Social-Media-Strategie haben Scripted Reality zur neuen Premiumdisziplin des Fernsehnachmittags gemacht. Aber warum funktioniert diese Mischung so gut? Und, bei aller vorgeblicher Realitätsnähe: Hält das eigentlich irgendjemand tatsächlich für echt? (BR 2017) Autor: Klaus Uhrig
Credits
Autor/in dieser Folge: Klaus Uhrig
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Shenja Lacher, Anne-Isabelle Zils
Technik: Christiane Voitz
Redaktion: Petra Hermann, Thomas Morawetz
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Im Interview:
Daniel Klug, Universität Basel
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Warum wir Krimis lieben - Tödliches Verlangen auf dem Sofa
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Die Folgen des Klimawandels sind nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch in den wohlhabenden Industriestaaten Europas bereits heute spürbar: Ob Ernteeinbußen, Hitzetode oder Überflutung. Aber der Klimawandel trifft nicht alle Menschen gleichermaßen, er wird soziale Ungerechtigkeiten verschärfen. (BR 2022) Autorin: Daniela Remus
Credits
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling, Friedrich Schloffer
Technik: Viktor Veress
Redaktion: Iska Schreglmann
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Im Interview:
Ann-Kathrin Beermann (Politologin, Forum Ökologisch-soziale Marktwirtschaft, Berlin)
Matthias Garschagen (Professor; Anthropogeograph, LMU, München)
Andreas Matzarakis (Professor; Umweltmeteorologe, Deutscher Wetterdienst, Freiburg)
Claudia Traidl-Hoffmann (Professorin; Umweltmedizinerin, Uni Augsburg)
Martin Voss (Professor; Sozialwissenschaftler, FU Berlin)
Leonie Wenz (Dr.; Mathematikerin, PIK, Potsdam)
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Der Bergwald – Schutzbedürftiger Schutzwall
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Ob mild, süß oder scharf - Senf ist ein vielfältiges Würzmittel in Soßen, im Salatdressing oder auf der Weißwurst. Aber Senf ist auch gesund. Schon im alten Griechenland war der Scharfmacher als Heilmittel bekannt. (BR 2019) Autorin: Sabine Kienhöfer
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Autor/in dieser Folge: Sabine Kienhöfer
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Rahel Comtesse, Frank Manhold
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Matthias Eggert, Iska Schreglmann
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Im Interview:
Ehrentraud Bayer (Dr.; Leitende Sammlungsdirektorin, Botanischer Garten, München-Nymphenburg);
Kristina Honrath (Marketingleiterin bei Develey, Unterhaching bei München);
Barbara Katharina Prinz (Pflegedienstleiterin, Krankenhaus für Naturheilweisen, München)
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Das 20. Jahrhundert war die Ära der Mülldeponien. Gefährliche Abfälle aus der Industrie lagerten auf denselben Kippen wie auch der Hausmüll. Die Natur, so glaubte man, könne die Bestandteile des Mülls durch selbstreinigende Kräfte zersetzen. Doch der Gestank, Ungeziefer und Giftstoffe machten sich bald schon bemerkbar. Und aus der Abfallwirtschaft wurde eine Wissenschaft. Ihr Ziel: begreifen, was im Inneren der Deponie geschieht und wie sich die Umwelt vor den Schadstoffen schützen lässt. Autor: Arndt Reuning
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Autor/in dieser Folge: Arndt Reuning
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Berenike Beschle
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Im Interview:
Dr. Ralf Grau – Niederlassungsleiter der Sonderabfalldeponie Knapsack am Deponiestandort Vereinigte Ville, REMONDIS Industrie Service GmbH;
Prof. Dr. Heike Weber – TU Berlin, Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- & Technikgeschichte;
Henning Schreiber – Geschäftsführer der Kreisabfallverwertungsgesellschaft des Kreises Minden-Lübbecke.
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Bodenschätze in der Tiefsee - Das Schürfen von Rohstoffen
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Linktipp:
ARD Mediathek | hr-fernsehen | Ressource Müll
Das System Müll im Land der bunten Tonnen zeigt die Schattenseiten des Konsums auf. Mehr als 450 Kilogramm Abfall produziert jeder von uns pro Jahr. Was geschieht damit? Die Reporterinnen Isabell Kramer und Daniela Möllenkamp wollten es genauer wissen und sind dem Inhalt ihrer Mülltonnen hinterhergefahren.
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Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion:
Simon und Wolli wollen auffallen und provozieren. Sie sind Klimaaktivisten und gehören zur Gruppe "Letzte Generation". Die Presse hat sie längst als "Klimakleber" und Störenfriede betitelt. Von Autofahrern werden sie beschimpft, als Pisser und Arschlöcher. Heute sind sie auf dem Weg ins Stadion, um sich vor vielen Tausend Fußballfans an eines der Tore zu ketten und zu protestieren ... Autorin: Anna Dannecker
Inside Klimaprotest - Welcher Protest wirkt? (1/3)
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Literaturtipps:
Günther E. Thüry: Müll und Marmorsäulen. Siedlungshygiene in der römischen Antike; Verlag: Zabern, Mainz 2001; ISBN 3-8053-2675-0.
Roman Köster: Hausmüll. Abfall und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1990; Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, ISBN 978-3-525-31720-4.
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Die Bilder der Kinder von Seveso, denen Chlorakne das Gesicht verätzte, gingen um die Welt. Sie waren das neue, erschreckende Symbol für die Chemie, das bis dahin kaum jemand als Sicherheitsrisiko wahrgenommen hatte. (BR 2011) Autor: Hellmuth Nordwig
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Autor/in dieser Folge: Hellmuth Nordwig
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Diana Gaul, Jerzy May
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Im Interview:
Jörg Sambeth (bis 1984 technischer Direktor der Givaudan-Gruppe);
Adolf Jann (ehemaliger Konzernchef von Hoffmann-la-Roche);
Christian Jochum (Professor; Dr.; leitete bis 1997 die Sicherheitsabteilung der früheren Hoechst AG);
Tessa Fox (Politikwissenschaftlerin an der Universität von Maastricht);
Linktipp:
Ein Bericht über Umweltkatastrophe in Seveso durch die Explosion in einer Chemie-Fabrik und Freisetzung von Dioxin:
ARD Mediathek | Panorama | Umweltkatastrophe in Seveso
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Mythos Woodstock. Das dreitägige Spektakel vom August 1969 war ein Ereignis mit einzigartiger Symbolkraft für das Lebensgefühl der Flower-Power Generation, der Bürgerrechtsbewegung und von Jugendprotesten. (BR 2017) Autor: Markus Vanhoefer
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Autor/in dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Markus Vanhoefer
Es sprachen: Andreas Neumann, Burchard Dabinnus, Anna Greiter
Technik: Josuel Theegarten
Redaktion: Petra Hermann
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Janis Joplin - Grenzgänge einer Rockpionierin
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Jimi Hendrix - Virtuose der E-Gitarre
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Wer an Rockmusik denkt, denkt an die Beatles und die Rolling Stones, denkt an Jimi Hendrix, Led Zeppelin und vielleicht auch an Punk. Doch eigentlich sind es "The Who" die schon früh zeigten, was Rockmusik in ihrem Innersten ausmacht: Laute Verstärker, eine wilde Bühnenshow, zerstörte Hotelzimmer, Jugendkultur und Identitätsfindung. Autor: Markus Mähner
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Autor/in dieser Folge: Markus Mähner
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Es sprachen: Ditte Ferrigan
Technik: Andreas Lucke
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Interviewpartner/innen:
Christoph Geisselhart, Autor und Musiker
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Woodstock - Der rebellische Sound der Utopie
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Maximum Rock
Die inszenierte Autorenlesung der dreibändigen Rockmusikbiografie "Maximum Rock" führt mitten hinein ins Lebensgefühl der Sechziger- und Siebzigerjahre. Literatur, Musik und Kunst werden am Beispiel der englischen Kultrockgruppe The Who anspruchsvoll präsentiert und unterhaltsam aufbereitet - exklusiv vom Autor Christoph Geisselhart gelesen, begleitet von dem erfahrenen Musiker Fernando Bernhardt. Mehr Infos gibt es hier:
EXTERNER LINK | http://thewho-lesung.com
Literaturtipp:
Christoph Geisselhart: The Who – Maximum Rock: Die Geschichte der verrücktesten Rockband der Welt. 3 Bände. Hannibal Verlag. 2008-2009
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Die Philosophie 'Ubuntu' steht für Brüderlichkeit, Vergebung, Solidarität, Mitgefühl und gemeinsame Verantwortung. Diese Philosophie der Menschlichkeit wurde durch den früheren Präsidenten Nelson Mandela repräsentiert. (BR 2016) Autor: Geseko von Lüpke
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Autor/in dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Ruth Geiersberger, Armin Berger, Beate Himmelstoß
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Bernhard Kastner
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Im Interview:
Augustine Shutte (Professorin; Philosophieprofessorin, Kapstadt);
Dirk Louw (Professor; Philosophieprofessor, Stellenbosh);
Lesbila Teffo (Professorin; Philosophieprofessorin, Pretoria);
Didintle Ntsie (Sozialarbeiterin, Kapstadt);
Barbara Nussbaum (Autorin, Stellenbosh);
Johan Broodryk (Autor und Philosophie, Pretoria);
Elaine Miller (Gastwirtin, Hermanus)
Ein Porträt über Nelson Mandela finden Sie ebenfalls auf radioWissen:
Nelson Mandela - Der lange Weg zur Freiheit
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Im Gedächtnis der Nachwelt ist Hedwig vor allem als Braut lebendig geblieben. 1475 hat sie in Landshut den Herzog Georg geheiratet. Glücklich geworden ist sie in der Ehe wohl nicht: abgeschoben auf die Burg von Burghausen verbrachte sie den Großteil ihres Lebens getrennt von ihrem Ehemann. (BR 2009) Autorin: Brigitte Kohn
Credits
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Christoph Jablonka
Redaktion: Hildegard Hartmann
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Der Landshuter Herzog Ludwig der Reiche machte seinem Namen alle Ehre: Im Jahr 1475 lud er zur Vermählung seines Sohns Georg mit der polnischen Prinzessin Hedwig in sein niederbayerisches Herzogtum ein. (BR 2005) Autorin: Carola Zinner
Credits
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Carola Zinner
Es sprachen: Ulrich Frank, Andreas Neumann, Christiane Blumhoff
Redaktion: Hildegard Hartmann
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Badekultur hat eine bewegte Geschichte: Man badete zusammen, gemischt, streng getrennt, mit und ohne Essen, man traf sich und knüpfte Bekanntschaften. Baden - ein wohliger Genuss zwischen Lust und Prüderie. (BR 2015) Autorin: Dorit Kreissl
Credits
Autor/in dieser Folge: Dorit Kreissl
Regie: Dorit Kreissl
Es sprachen: Armin Berger, Katja Schild, Stefan Wilkening
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
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Wasser ist unser wichtigster Rohstoff. 97,5 Prozent des Wassers finden sich als Salzwasser in den Meeren. Von den restlichen 2,5 Prozent ist nur ein knappes Drittel sauberes Grundwasser, Tendenz fallend. (BR 2015) Autorin: Dorit Kreissl
Credits
Autor/in dieser Folge: Dorit Kreissl
Regie: Dorit Kreissl
Es sprachen: Rahel Comtesse, Stefan Merki
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Johannes Cullmann (Dr.; Direktor des UNESCO-Wasserinstituts Koblenz);
Torsten C. Schmidt (Professor; Vorstandsvorsitzender der Wasserchemischen Gesellschaft Müöheim an der Ruhr)
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Weizen, Reis, Hafer, Zuckerrohr ... sie alle haben eines gemeinsam: Es sind Gräser, die für das Überleben der Menschheit eine zentrale Rolle spielen. Gräser gibt es in unzähligen Formen und unterschiedlichsten Lebensräumen, der kultivierte, uni-grüne Rasen ist nur eine davon. Was auf den ersten Blick also eher alltäglich erscheint, bekommt bei genauerer Betrachtung eine völlig neue Dimension: Ohne Gräser sähe unsere Welt ganz anders aus. Iska Schreglmann im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke
Credits
Iska Schreglmann im Gespräch mit dem Biologen Dr. Thassilo Franke vom Biotopia Lab in München
Redaktion: Bernhard Kastner
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Joggen, Rad fahren, Gewichte stemmen - Bewegung und Körpertraining versprechen Fitness und Schönheit und: Sport ist gesund. Aber nicht immer. Es gibt auch ein Zuviel. Denn Sport kann süchtig machen. Und das ist alles andere als gesund. Denn es drohen ernsthafte Entzugserscheinungen. (BR 2021) Autorin: Daniela Remus
Credits
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Gudrun Skupin, Frank Manhold
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Matthias Eggert, Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Robert Gugutzer (Professor; Sportsoziologe, Universität Frankfurt/Main);
Jens Kleinert (Professor; Sportpsychologe, Deutsche Sporthochschule Köln);
Rüdiger Reer (Professor; Sportmediziner, Universität Hamburg);
Heiko Ziemainz (PD Dr.; Sportwissenschaftler, Universität Erlangen-Nürnberg)
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Schweiß besteht zu 99 Prozent aus Wasser, der Rest sind Mineralsalze sowie Tau-sende anderer Stoffe. Frischer Schweiß ist geruchlos, erst Bakterien produzieren Stoffe wie die streng riechende Buttersäure. (BR 2016) Autorin: Katrin Kellermann
Credits
Autor/in dieser Folge: Katrin Kellermann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Michael Schneider
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Gerda Kuhn, Iska Schreglmann
Im Interview:
Ulrich Pohl (Dr.; Professor; Vegetative Physiologie, LMU München);
Christoph Schick (Gründer des Deutschen Hyperhidrose Zentrums München);
Hanns Hatt (Dr.; Dr.; Dr.; Professor; habil.; Zellphysiologie an der Ruhr-Universität Bochum);
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1895 entdeckte der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen spezielle Strahlen, die unterschiedlichste Materialien durchdringen. Kurz darauf erlangte das Röntgenbild von der Hand seiner Gattin Berühmtheit. Seitdem wurde die Technik immer weiter entwickelt. (BR 2015) Autorin: Anne Kleinknecht
Credits
Autor/in dieser Folge: Anne Kleinknecht
Regie: Markus Köbnik
Es sprachen: Sabine Gietzelt
Technik: Christiane Schmidbauer
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Im Interview:
Prof. Dr. Dr. h.c. Maximilian Reiser, emeritierter Direktor des Instituts für klinische Radiologie, Klinikum Großhadern (LMU);
Dr. Johannes-Geert Hagmann, Deutsches Museum, München;
Dr. Elke Nekolla, Bundesamt für Strahlenschutz, Bereich medizinische Strahlenexposition, Neuherberg;
Prof. Dr. Clemens Cyran, Radiologe, Klinikum Großhadern (LMU);
Dr. Martin Dierolf, Physiker, Zentralinstitut für Medizintechnik an der TU München
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Sie besaß eine Leuchtkraft aus Sehnsucht, Glanz und Verlangen und gilt als größte Leinwandgöttin des 20. Jahrhunderts: Marilyn Monroe. Ihr früher Tod mit 36 Jahren verstärkte ihren Mythos der verführerischen und doch so fragilen Frau, ein Mythos der seit nunmehr einem halben Jahrhundert nichts von seiner Magie verloren hat. (BR 2012) Autor: Florian Kummert
Credits
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christiane Roßbach, Stefan Wilkening, Katja Schild, Friedrich Schloffer, Stefan Merki
Technik: Josuel Theegarten
Redaktion: Petra Hermann-Boeck, Susanne Poelchau
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Mit "Common Sense" schreibt Thomas Paine das Pamphlet, das Grundlage werden wird für die amerikanische Revolution und später für die Unabhängigkeitserklärung. Seine Streitschrift verbreitet sich auch in Europa. Paine reist nach Frankreich, ist dort bald wieder an der Spitze einer Revolution. Doch wie in den USA folgt der Absturz, denn Paine ist zwar ein großer Revolutionär, im Umgang mit anderen Menschen aber wenig diplomatisch.
Autor/in und Regie dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Dorothea Anzinger, Berenike Beschle, Andreas Neumann, Stefan Merki
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
Interviewpartner/innen:
Prof. Volker Depkat, Universität Regensburg, Amerikanistik
Prof. Heli Monot, LMU München, Amerikanistik;
Gary Berton, Präsident Thomas Paine National Historical Association
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Eis im Sommer, Kirschen im Winter und Tiefkühlkost, wann immer wir wollen: Die Gefriertruhe hat unseren Speisezettel revolutioniert - und Klima- und Kältetechnik unseren Alltag. Aber: wie funktioniert künstliche Kälte eigentlich? (BR 2018) Autorin: Inga Pflug
Credits
Autor/in dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tilling, Jerzy May, Rahel Comtesse
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
Interviewpartner/innen:
Matthias Murko (langjähriger Mitarbeiter und Leiter Museum Industriekultur, Nürnberg);
Thomas Röber (Deutsches Museum München, Kurator für Kraftmaschinen);
Reinhard Hüßner (Kirchenburgmuseum Mönchsondheim, Museumsleiter);
Günter Wolf (Kirchenburgmuseum Mönchsondheim, Museumsvorstand);
Jonas Bollmann (Lehrstuhl für Technische Thermodynamik, Universität Erlangen-Nürnberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter);
Stefan Will (Universität Erlangen-Nürnberg, Leiter Lehrstuhl für Technische Thermodynamik)
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Weltweit gibt es mehr als 300 Arten von Beuteltieren. Die meisten leben in Australien. Doch was ist das Besondere an den Beutelsäugern? Und warum stehen heute so viele Spezies auf der Roten Liste? (BR 2020) Autorin: Claudia Ruby
Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Ruby
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Werner Härtl, Jennifer Güzel
Technik: Robin Auld
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Dr. Vera Weisbecker, Flinders Universität, Adelaide;
Mario Chindemi, Tierpfleger, Koalahaus, Zoo Duisburg;
Volker Grün, Biologe, Zoo Duisburg;
Dr. Jürgen Schmitz, Evolutionsbiologe, Universität Münster
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Woher kommt unser Geld? Und wie bekommt es seinen Wert? Die Antworten darauf sind alles andere als beruhigend. Ganz normale Geschäftsbanken können zum Beispiel Geld quasi aus dem Nichts erschaffen. (BR 2016) Autor: Klaus Uhrig.
Credits
Autor/in dieser Folge: Klaus Uhrig
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Andreas Neumann, Ruth Geiersberger
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Prof. Hans-Peter Burghof, Professor für Bankwirtschaft, Universität Stuttgart-Hohenheim;
Prof. Helge Peukert, Professor für Finanzwissenschaft und Finanzsoziologie, Universität Erfurt
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"Das Schwert ist die Seele des Samurai". Viele blutrünstige Geschichten sind über Japans legendären Kriegeradel in Umlauf. Aber welche sind wahr und welche einfach nur Legende? (BR 2015) Autorin: Isabella Arcucci
Credits
Autor/in dieser Folge: Isabella Arcucci
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Thomas Birnstiel, Axel Wostry, Martin Fogt
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Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Reinhard Zöllner (Universität Bonn)
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Im alten China galt die Zubereitung einer guten Tasse Tee als eine Kunst. Mönche, Dichter und sogar Kaiser wie Song Huizong schrieben Abhandlungen über Teeanbau, Ernte, Konservierung und Zubereitung. Nicht genug: in Japan wurde die Teezeremonie schließlich weiter verfeinert. Autorin: Astrid Mayerle
Credits
Autor/in dieser Folge: Astrid Mayerle
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Laura Maire, Stefan Merki
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Andrea Bräu
Interviewpartner/innen:
Thomas O. Höllmann, Sinologe;
Anette Kolb, Schülerin der Urasenke Teeschule München;
Reiner Goedl, Referent des Olympischen Komitees 1972 und Planungsleiter des Teehauses im Englischen Garten
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11KM: der tagesschau-Podcast
Geschichten zum Weitererzählen und Recherchen, die bewegen.
Victoria Michalczak und die besten Journalist:innen der ARD tauchen mit euch ab und gehen mit jeder Folge in die Tiefe. Dort nehmen sie sich Zeit für ein aktuelles Thema aus Politik, Wirtschaft, Kultur oder Sport. Bei 11KM gibt es handverlesene Geschichten und Recherchen – spannend, investigativ und hochwertig. Wir nehmen euch mit ins Geschehen und liefern euch neue Perspektiven.
ZUM PODCAST
Linktipps:
Thomas O. Höllmann: Schlafender Lotos, trunkenes Huhn. Kulturgeschichte der chinesischen Küche. C. H. Beck, 2010.
Thomas O. Höllmann: China und die Seidenstraße. Kultur und Geschichte von der frühen Kaiserzeit bis zur Gegenwart, C. H. Beck 2022.
Beide Bücher zeichnen sich durch immenses Hintergrundwissen aus. Zur Teekultur finden sich in beiden verschiedene kleinere Abschnitte und Kapitel, aber auch Abbildungen zu Tee-Objekten.
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Wer zart leuchten kann, muss noch lange nicht harmlos sein! Glühwürmchen haben Fähigkeiten, die uns sehr schnell ahnen lassen: Diese Käfer sind mehr als fliegende Lämpchen. (BR 2020) Autorin: Anja Mösing
Credits
Autor/in dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Stefan Ineichen (Biologe, Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaften);
Santiago Vargas (Umweltingenieur, Zürich)
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Federn wiegen fast nichts und können fast alles. Sie schützen vor Wind, Wasser und Kälte, sie tarnen und werben und ließen die Dinosaurier abheben. Auch der Mensch nutzt diese geniale Erfindung der Natur. (BR 2017) Autorin: Felicia Englmann
Credits
Autor/in dieser Folge: Felicia Englmann
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Axel Wostry, irina Wanka
Technik: Christine Frey
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner:
Einhard Bezzel, Ornithologe und Buchautor
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Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Stefan Merki
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Redaktion: Bernhard Kastner
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Im Interview:
Robert Mucha (Dr.; Fachbereichsleiter Philosophie und Religion der VHS München)
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Wir leben im Informationszeitalter: Millionen Berichte, Bilder, Kommentare sind jederzeit verfügbar. Doch wie lässt sich die Überfülle des Materials sortieren? Das ist eine Herausforderung für Aufmerksamkeit und Denken. (BR 2018) Autorin: Beate Meierfrankenfeld
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Regie: Irene Schuck, Andreas Mangold
Es sprachen: Hemma Michel, Johannes Hitzelberger, Peter Weiß
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Elke Wagner (Professor; Dr.; Soziologin, Universitär Würzburg);
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Redaktion: Bernhard Kastner
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Professorin Dr. Christa Dürscheid, Universität Zürich
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Gefräßige Monster oder sanfte Riesen? Schwarze Löcher gehören zu den faszinierendsten Objekten im Universum! Um zu verstehen wie unser Universum entstanden ist und wie es sich entwickelt sind Schwarze Löcher ein großer Schatz. Doch sie zu fassen - das stellt Forschende vor große Herausforderungen. Von Stefan Geier (BR 2023)
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Regie: Sabine Kienhöfer
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Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Iska Schreglmann
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EXTERNER LINK | https://www.wissenschaftsjahr.de/2023/
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Autor/in dieser Folge: Aeneas Rooch
Regie: Martin Trauner
Es sprach: Andreas Neumann
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Dr. Claudia Stern, DLR;
Timo Frett, DLR;
Christian Eigenbrod, Universität Bremen;
Prof. Dr. Rupert Gerzer, Skoltech University
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Am 8. November 1960 wird John F. Kennedy zum 35. Präsidenten der USA gewählt. Er bleibt es nur drei Jahre: Die Schüsse von Dallas zerstören den Aufbruchstraum einer ganzen Generation. (BR 2007) Autorin: Gerda Kuhn
Credits
Autor/in dieser Folge: Gerda Kuhn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Reinhard Glemnitz, Sabine Kastius, Friedrich Schloffer
Redaktion: Brigitte Reimer
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Am 20. November 1945 begann vor dem Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg der erste der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher des "Dritten Reiches". Unter den Angeklagten, die sich wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden verantworten müssen, befand sich auch Baldur von Schirach. (BR 2010) Autorin: Gerda Kuhn
Credits
Autor/in dieser Folge: Gerda Kuhn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Axel Wostry, Ilse Neubauer, Stefan Merki
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Brigitte Reimer
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Wenn an bayerischen Seen oder Flüssen Gläubige in weißen Gewändern ihr Tauf-Ritual zelebrieren, sind es möglicherweise Mitglieder der alten Glaubensgemeinschaft der Mandäer. Sie beten auf Aramäisch, der Sprache von Jesus, ihr Messias ist aber Johannes der Täufer. Seit ihrer Flucht aus dem Irak haben sich kleine Gemeinden in Bayern gebildet. (BR 2022) Autor: Bernd-Uwe Gutknecht
Credits
Autor/in dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Katja Schild, Hans Jürgen Stockerl
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Die Jesiden - Das Volk des Engel Pfau
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Der Zoroastrismus - Die Religion zwischen Glauben und Philosophie
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Chassidismus - Die Welt der frommen Mystiker
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Literaturtipps:
Im Namen des Großen Lebens. Gabriele Mayer. Harrassowitz Verlag
Haran Gauaita. Ein Text zur Geschichte der Mandäer. Bogdan Burtea. Harrassowitz Verlag
Kleines Lexikon des Christlichen Orients. Hubert Kaufhold. Harrassowitz Verlag
Sie galten als krank, ohne krank zu sein: Lange hat die Medizin Trans*menschen missverstanden und pathologisiert - aber ihnen auch Schutz geboten und mit Operationen geholfen. Die Geschichte eines schwierigen Verhältnisses. (BR 2020) Autorin: Elsbeth Bräuer
Autor/in dieser Folge: Elsbeth Bräuer
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Hemma Michel, Frank Manhold
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Thomas Morawetz
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Willkommen im Club - der queere Podcast von PULS
Willkommen im Club der LGBTIQ*-Community! Aber wer ist das eigentlich und wieso braucht sie so viele Buchstaben im Titel? Welche Klischees ärgern Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans* und andere queere Menschen so richtig? Was beschäftigt sie gerade? Gemeinsam mit euch entdecken Kathi und Julian, die eine lesbisch, der andere schwul, die wunderbare Welt der "Alle-Buchstaben-Community":
BR PODCAST | PULS | WILLKOMMEN IM CLUB
Tanzen ist etwas universal Menschliches. Es schafft Identität und Verbindung und kann als eine der ersten Kommunikationsformen bezeichnet werden. Die Hingabe an Rhythmus und vielleicht sogar Ekstase scheint einem Urbedürfnis zu entsprechen. (BR 2018) Autorin: Birgit Magiera
Credits
Autor/in dieser Folge: Birgit Magiera
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Beate Himmelstoß, Martin Fogt
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Iska Schreglmann
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Interviewpartner/innen:
Prof. Gabriele Klein, Kultur- und Tanzwissenschaften, Uni Hamburg;
Dr. Katja Schneider, Tanz- und Theaterwiss. LMU München;
Kilta Reinprechter, Tänzerin, Tanzpäd., Choreografin, Regensburg;
Dr. Rainer Polak, Rhythmus/Tanzmusikforscher, MPG für empir. Ästhetik Frankfurt
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Tango Argentino - Gefühle die man tanzen kann
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Nach 20 Jahren als Kameramann beginnt Joseph Vilsmaier mit seinem Regiedebüt "Herbstmilch" eine erfolgreiche Karriere als Filmemacher. Immer wieder faszinieren ihn historische Stoffe. (BR 2019) Autor: Florian Kummert
Credits
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Susanne Poelchau
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Seit mehreren Jahrhunderten gibt es immer wieder neue Spielarten des Kapitalismus. Und ebenso lange gibt es die Kritik daran. Trotzdem hat es der Kapitalismus bislang immer vermocht, sich neu zu erfinden. (BR 2020) Autorin: Maike Brzoska
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Axel Wostry, Friedrich Schloffer, Julia Fischer
Technik: Christine Frey
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Jürgen Kocka (Historiker und emeritierter Professor der Freien Universität Berlin);
Andrea Maurer (Wirtschaftssoziologin und Professorin an der Universität Trier)
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Amartya Sen dürfte einer der wenigen Nobelpreisträger sein, die persönlich eine große Hungersnot miterlebt haben. Er selbst musste aber nie fürchten, zu verhungern. Genau das hat ihm zu denken gegeben - und eines der spannendsten ökonomisch-philosophischen Werke hervorgebracht. Mehr dazu von Bettina Weiz.
Credits
Autor/in dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Julia Fischer, Rainer Buck
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Nicole Ruchlak
Interviewpartner/innen:
Amartya Sen;
Wulf Gärtner (Wirtschaftswissenschaftler, Osnabrück);
Julia Leininger (Politikwissenschaftlerin, Bonn)
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Podcasttipps:
Dreimal besser | von BR24
„Dreimal besser“ ist ein Info-Podcast, der nach vorne schaut. Statt sich darauf zu fokussieren, was gerade schief läuft, erzählen Euch die Kolleginnen und Kollegen von BR24, wie es besser werden kann. Denn es gibt schon Lösungen, sie sind oft nur nicht sichtbar. Dreimal besser will das ändern.
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Wir empfehlen außerdem die spannende Staffel „Die Armen“ von ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN:
DIE ARMEN - Bettelei als Lebensform
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DIE ARMEN - Pauperismus und Elend
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DIE ARMEN - Galbraiths Ideen gegen Armut
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DIE ARMEN - Bedürftige und Arbeitshäuser
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Weiterführende Literatur:
Sen, Amartya: Zuhause in der Welt. Erinnerungen. München [C. H. Beck] 2022.
Eine inspirierende Lebensgeschichte von einem zwischen Indien, Großbritannien und den USA und zugleich eine Tour de Raison durch die Geistesgeschichte.
Sen, Amartya, The Impossibility of a Paretian Liberal, in: The Journal of Political Economy, Vol. 78, Nr. 1 (Jan. – Feb.) 1970, Seiten 152 – 157.
Eines der meistberachteten Werke des Autors über das Themenfeld des liberalen Paradoxons.
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Mistkäfer sind die Müllmänner der Natur. Sie rollen Dung zu Kugeln als Nahrung für sich und als Nest für ihre Brut. Ohne die Käfer würden viele Gegenden innerhalb kurzer Zeit in tierischen Hinterlassenschaften versinken. (BR 2019) Autorin: Claudia Steiner
Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Dr. Dag Encke, Tiergartendirektor in Nürnberg;
Dr. Lars Hendrich, Zoologischen Staatssammlung München;
Dr. Sylvia Schoske, Staatliches Museum Ägyptische Kunst in München.
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Käfer - Unverzichtbar für die Natur
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Tierische Waldpfleger - Insekten, Vögel, Eichhörnchen
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Ameisen - Staatenbildende Insekten der Superlative
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Der Borkenkäfer - Der Schädling, der Trockenheit und Fichten liebt
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Podcasttipp:
"Tierisch! – Entdeckungsreise in die wilde Welt der Tiere" - Der erste lustig-leichte, zoologischen Plauderpodcast mit bodenlos wissenschaftlicher Tiefe. Moderiert von Lydia Möcklinghoff und Dr. Frauke Fischer, zwei wildnisverrückten Abenteurerinnen und studierten Zoologinnen. Hier geht es zum Podcast:
EXTERNER LINK | https://weltwach.de/tierisch/
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Sterben gehört zum Leben dazu. Die Kadaverökologie versucht herauszufinden, welche Rolle tote Tiere für unsere Natur und ihre Ökosysteme spielen. Denn allzu oft werden tote Tiere bisher aus dem Wald entfernt - doch zahlreiche Organismen leben auch vom Aas. Autorin: Franziska Konitzer
Credits
Autor/in dieser Folge: Franziska Konitzer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Berenike Beschle
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
René Krawczynski, Ökologe, Energiequelle GmbH;
Christian von Hoermann, Ökologe, Nationalpark Bayerischer Wald;
Jens Schlüter, Förster, Nationalpark Bayerischer Wald;
Hannah Reuter, Jägerin, Bayerischer Jagdverband
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Newsjunkies | Ein Podcast von rbb24 Inforadio
Ein Tag, ein großes Nachrichten-Thema. Das liefert "Newsjunkies". Wir fragen nach dem Warum und geben Antworten und Hintergründe.
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"Tierisch! – Entdeckungsreise in die wilde Welt der Tiere" - Der erste lustig-leichte, zoologischen Plauderpodcast mit bodenlos wissenschaftlicher Tiefe. Moderiert von Lydia Möcklinghoff und Dr. Frauke Fischer, zwei wildnisverrückten Abenteurerinnen und studierten Zoologinnen. Hier geht es zum Podcast:
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Literaturtipp:
Carrion Ecology, Evolution, and Their Applications. Taylor & Francis Ltd. 2015.
Das Standardwerk zum Thema Kadaverökologie.
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Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in Hamburg die erste Reformsynagoge der Welt errichtet. Wenige Jahre vorher hatten sich Hamburger Juden zum Israelitischen Tempelverein zusammengeschlossen. Im Geiste der Aufklärung wurde das Reformjudentum zu einem wichtigen Pfeiler des deutsch-jüdischen Lebens. (BR 2021) Autorin: Daniela Remus
Credits
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Irina Wanka, Jerzy May
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Prof. Andreas Brämer, Historiker, Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg;
Prof. Michael A. Meyer, Historiker, Hebrew Union College, Cincinnati;
Prof. Miriam Rürup, Historikerin, Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam;
Prof. Christoph Schulte, Judaist, Universität Potsdam
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Das Judentum in Deutschland - Die Anfänge
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Literaturtipps:
Michael A. Meyer: Jüdische Identität in der Moderne, Jüdischer Verlag, Frankfurt/M. 1992.
Michael A. Meyer: Antwort auf die Moderne, Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Böhlau, Wien1988.
Andreas Brämer et al: Der Israelitische Tempel in Hamburg, Institut für die Geschichte der Deutschen Juden, Broschüre.
Steffen Markus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert, Rowohlt Berlin, 2015.
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Vor 150 Jahren kam der Rabbiner Leo Baeck zur Welt. In der NS-Zeit stellte er sich den nationalsozialistischen Machthabern entgegen und verhalf zahlreichen Juden zur Emigration. Vertreter des liberalen Judentums verfasste aber auch ein Standardwerk jüdischer Theologie in Deutschland. Autorin: Barbara Schneider
Credits
Autor/in dieser Folge: Barbara Schneider
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Merki, Florian Schwarz
Technik: Adele Meßmer
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Michael A. Meyer, Professor em. für Jüdische Geschichte am Hebrew Union College in Cincinnati und ehemaliger Präsident des Leo Baeck Institutes;
Elias H. Füllenbach, Kirchenhistoriker
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Das Reformjudentum - Emanzipation und Aufklärung
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Literaturtipps:
Michael A. Meyer, Leo Baeck, Rabbiner in bedrängter Zeit. Eine Biographie, C.H. Beck 2021.
Walter Homolka, Elias H. Füllenbach, Leo Baeck: eine Skizze seines Lebens, Gütersloher Verlagshaus 2006.
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Italiener oder Imbiss. Puccini oder Punkrock. Die Herkunft prägt den Geschmack ein Leben lang. Davon ist der Franzose Pierre Bourdieu überzeugt. Wer ist der Mann, der die Soziologie als Kampfsport bezeichnet?
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Stefan Merki, Andreas Dirscherl
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Donald Trump, der Brexit, Populismus in Europa: Viele politische Phänomene lassen sich aktuell mit einem Zorn auf Machteliten begründen. Aber was steckt hinter dem Begriff, und wie gehören Machtelite und Demokratie zusammen?
Autor/in dieser Folge: Marie Schoeß
Regie: Kirsten Böttcher
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Technik: Regina Staerke
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Wer war Robin Hood? Ein edler Gesetzloser oder nur die Verkörperung der Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit, ein Traum von der großen Freiheit in den Wäldern? Greifbar ist lediglich der Widerhall seiner Geschichte in zahllosen Balladen und Bühnenspielen. Eine faszinierende Spurensuche über die Jahrhunderte hinweg. (BR 2015) Autor: Christian Feldmann
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Regie: Sabine Kienhöfer
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Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner/innen:
Judith Klinger, Mittelalter-Germanistin, Potsdam
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Das Geheimnis der Mythen - Metaphern von Ursprung und Wandel
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"Beowulf" ist das englische Nationalepos. Entstanden um 730, erzählt es von den Kämpfen des archetypischen Kriegers gegen Monster. Beowulf hat es mittlerweile zum Popart-Superhelden gebracht. Aber hat er das nicht vor allem unserer Faszination für die Monster, die er erschlägt, zu verdanken? Autor: Frank Halbach
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Regie: Frank Halbach
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Redaktion: Thomas Morawetz
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Dr. Alan Lena van Beek, Literaturwissenschaftler*In
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Ludwig Ettmüller (Hg): Beowulf. Heldengedicht des achten Jahrhunderts. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Ludwig Ettmüller. Zürich 1840.
J.R.R. Tolkien: Gute Drachen sind rar. Drei Aufsätze. Hg. von Christopher Tolkien. Aus dem Englischen von Wolfgang Krege. Stuttgart 1984.
Alan van Beek: Hypersexualized Monsters in ‚Beowulf‘ Director’s Cut. In: Mittelalter Digital 2, Ausgabe 1 (2021). S. 1-11.
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Berge! Diese gewaltigen, ehrfurchtgebietenden und rätselhaften Phänomene der Natur! Sie haben Religionen, Mythen und Philosophien bewegt und beeinflusst. Was geben uns Berge zu denken? Was lehren und erzählen sie uns? (BR 2019) Autorin: Sylvia Schopf
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Autor/in dieser Folge: Sylvia Schopf
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Katja Schild, Johannes Hitzelberger
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Bernahrd Kastner
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Interviewpartner/innen:
Jens Badura (Professor; Kulturphilosoph, Professor an der Hochschule der Künste, Zürich, Gründer und Geschäftsführer "Bergkulturbüro" Ramsau);
Ursel Klein (leidenschaftliche Bergwanderin und Physiotherapeutin);
Michael Thomann (leidenschaftlicher Wanderer, Bergwanderführer und Systemingenieur)
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Der Zufall bringt das Neue in die Welt. Er steht für die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrung. Aber gibt es den Zufall überhaupt? Steckt nicht vielmehr ein göttlicher Plan dahinter? (BR 2016) Autorin: Brigitte Kohn
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Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Christian Baumann
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Professor Dr. Konrad Utz, Philosoph, Universidade Federal do Ceará (UFC), Fortaleza, Brasilien
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Das Publikum hielt sich die Bäuche vor Lachen, wenn Friederike Kempner mit einem neuen Gedichtband aufwartete. Als "Schlesischer Schwan" wurde zur sie zur Stammmutter der schrägen Lyrik. Doch sie nahm ihre Dichtung ernst, genauso wie ihren Kampf gegen Tosdesstrafe und Tierquälerei. (BR 2016) Autor: Thomas Morawetz
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Autor/in dieser Folge: Thomas Morawetz
Regie: Martin Trauner
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Technik: Regina Staerke
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Bereits Zeitgenossen erschien das Schicksal des Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz, des "Winterkönigs", als ein mahnendes Beispiel dafür, wie schnell sich das Glück wenden kann. (BR 2020) Autor: Christian Lappe
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Redaktion: Thomas Morawetz
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Prof. Dr. Axel Gotthard, Department Geschichte, Geschichte der Frühen Neuzeit, Friedrich Alexander Universität Erlangen
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"Barock! Bayern und Böhmen" – so heißt die diesjährige Landesausstellung 2023/24. Es gibt sie sowohl in Bayern als auch in Tschechien zu sehen. Sie zeigt wieder einmal mehr die verbindende Geschichte zwischen Bayern und Böhmen.
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Fahrraddiebstahl - das ist ein Verbrechen, fast so schlimm wie Mord. Denn es raubt dem Menschen nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern ein Symbol der Freiheit seines Seins und Denkens. "Das Fahrrad an den Hörnern zu packen und hinauszuschwärmen in eine Welt voller Abenteuer: Das ist seit fast 200 Jahren die Leidenschaft von Visionären und Nonkonformisten, von emanzipierten Frauen oder genießerischen Poeten", heißt es im Vorwort einer Sammlung von Fahrradgeschichten namhafter radelnder Autoren, unter ihnen Mark Twain, Heinrich Böll und Arthur Conan Doyle. Ja, auch Sherlock Holmes war Radfahrer; und es bleibt zu hoffen, dass er mehr als einem Freiheitsräuber das Handwerk gelegt hat. Diesen und anderen Reifen-Spuren ist Christiane Neukirch nachgefahren. (BR 2011)
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Der Klimawandel und ein wachsendes Gesundheitsbewusstsein machen das Fahrrad zu einem der großen Hoffnungsträger in der Verkehrspolitik. Radeln - die Anfänge dieser Fortbewegungsart reichen weit zurück - vielleicht sogar bis Leonardo da Vinci. Bis das Rad aber endgültig straßentauglich ist, vergehen noch Jahrhunderte. (BR 2009) Autor: Herbert Becker
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radioWelt | Dank Laufrad - Kinder radeln immer früher und besser
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Auch im 21. Jahrhundert ist das Hochzeitsfest durchdrungen von Bräuchen. Da wird das Brautpaar beim Verlassen des Standesamtes mit Reis beworfen, am Auto, das Braut und Bräutigam in die Flitterwochen bringt, hängen Schuhe, und beim Polterabend am Tag vor der Eheschließung wird altes Porzellan zerscherbelt. Allein schon die Vielzahl dieser Bräuche zeigt die Bedeutung, die man auch heute noch der Hochzeit als "rite de passage" zumisst, also als Übergangsritual, das die Betroffenen in den Zeitabschnitten ihrer Biographie begleitet. (BR 2013) Autorin: Carola Zinner
Credits
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Julia Fischer
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Bernhard Kastner
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Am 20. November 1952 begann vor dem Landgericht Frankfurt a. M. die Zeugenvernehmung im Prozess gegen die I.G. Farben. Das ehemals größte Chemieunternehmen der Welt hatte in Auschwitz Häftlinge für sich arbeiten lassen. (BR 2012) Autor: Michael Marek
Credits
Autor/in dieser Folge: Rainer Volk
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Ilse Neubauer, Rainer Buck
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Brigitte Reimer
Interviewpartner/innen:
Professor Stephan H. Lindner, Wirtschafts- und Technikhistoriker in München;
Margit Szöllösi-Jantze, Historikerin, Autorin einer Biographin über Fritz Haber
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Je detaillierter Pflanzen untersucht werden, desto deutlicher zeichnet sich ihre Intelligenz und Sensibilität. Pflanzen kommunizieren untereinander und rufen bei einem Angriff sogar "um Hilfe". (BR 2016) Autorin: Jenny von Sperber
Credits
Autor/in dieser Folge: Jenny von Sperber
Es sprachen: Jenny von Sperber, Andreas Dirscherl, Clemens Nicol, Axel Wostry
Technik: Thomas Palzer
Redaktion: Susanne Poelchau
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Ist die Welt, die wir erleben, schon alles, oder gibt es noch etwas dahinter, etwas Jenseitiges, Geistiges, Großes und womöglich Besseres? Diese Frage, welche die Menschen von je her beschäftigt, ist der Ursprung aller Religionen und auch der Metaphysik, einer Kerndisziplin der Philosophie. (BR 2012) Autor: Michael Conradt
Credits
Autor/in dieser Folge: Michael Conradt
Regie: Martin Trauner, Noemi Beiterlrock
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christoph Jablonka, Detlef Kügow
Technik: Roland Boehm
Redaktion: Bernhard Kastner
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Von dem großen Philosophen Parmenides existieren heute nur noch wenige Textfragmente, sie füllen gerade mal ein paar DIN A4 Seiten. Dennoch ziehen diese wenigen Zeilen seit 2.500 Jahren die größten Denker der Menschheitsgeschichte in ihren Bann. Autor: Fabian Mader
Credits
Autor/in dieser Folge: Fabian Mader
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Susanne Schroeder, Robert Dölle, Friedrich Schloffer
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Thomas Buchheim;
Prof. Dr. Christoph Rapp;
Dr. Gerhard Stamer
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Literaturtipps:
Hermann Diels: Parmenides. Lehrgedicht. Mit einem neuen Vorwort von Walter Burkert und einer revidierten Bibliographie von Daniela de Cecco (= International Pre-Platonic Studies. Bd. 3). Academia, Berlin 2003.
Gerhard Stamer: Parmenides. Kurzer Traktat über die Ursprungserfahrung der Philosophie. Edition Dialogos, Hannover 1999.
Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
Karl R. Popper: Die Welt des Parmenides – Der Ursprung des europäischen Denkens. Piper, München 1998.
Christoph Rapp: Vorsokratiker, C.H.Beck, München, 2., überarbeitete Edition (15. März 2007).
Thomas Buchheim: Die Vorsokratiker – ein philosophisches Porträt, C.H.Beck, München, 1. Edition (6. September 1994).
Ekkehart Martens (Hrsg.): Platon: Parmenides. Reclam, Stuttgart 2001.
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Die Wetteranomalien El Niño und la Niña wirbeln alle paar Jahre das Weltwetter durcheinander. El Niño erhöht global die Temperaturen, La Niña kühlt sie ab. Doch was löst die Veränderungen der Meeres- und Luftströmungen aus? Forscher weltweit versuchen, das Rätsel zu lösen. Und welche Auswirkungen hat der Klimawandel? Autorin: Roana Brogsitter
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Autor/in dieser Folge: Roana Brogsitter
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Jerzy May, Rahel Comtesse
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Daniela Domeisen, Institut für Atmosphäre und Klima, ETH Zürich; Universität Lausanne, Schweiz;
Dr. Tobias Bayr, Abteilung Maritime Meteorologie am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel;
Ernst Rauch, Chefklimatologe Munich Re
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Annette von Droste-Hülshoff - ein Adelsfräulein mit Hang zur Dichtkunst. Hieße es wohl, wären da nicht diese Höhenflüge in ihrem Werk, etwa die Ballade "Der Knabe im Moor" oder die Novelle "Die Judenbuche". (BR 2014) Autorin: Carola Zinner
Credits
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Claus Brockmeyer, Caroline Ebner
Technik: Michael Zöllner
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Wenn die Eltern alt werden, gibt es viele offene und versteckte Forderungen an die Kinder: etwa "Kümmere dich um mich!". Manche Kinder machen das gerne, andere verweigern sich - meist mit großen Schuldgefühlen. (BR 2020) Autorin: Karin Lamsfuß
Credits
Autor/in dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christian Baumann
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Barbara Bleisch (Dr.; Philosophin);
Elmar Struck (Dr.; Psychoanalytiker und langjähriger Leiter einer kath. Familienberatungsstelle);
Birgit Lambers (Sozialpädagogin und Autorin, gibt Seminare im Umgang mit alten Eltern);
Elke (hat den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen);
Frank (hat lange eine Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern geleitet)
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Die Geschichte der Wolkenkratzer begann im 19. Jahrhundert. Heute bestimmen sie die Skylines der Metropolen und stehen für wirtschaftliche und politische Macht. (BR 2018) Autorin: Renate Eichmeier
Autor/in dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Kirsten Böttcher
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Redaktion: Nicole Ruchlak
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Bis in die 1950er Jahre kosteten Lynchmorde in den USA vielen tausend schwarzen Menschen das Leben. In dem Song "Strange Fruit" werden die Grausamkeiten in aufwühlenden Metaphern beschrieben, die Jazzsängerin Billie Holiday hat ihn berühmt gemacht. (BR 2021) Autor: Michael Zametzer
Credits
Autor/in dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Thomas Loibl, Annette Wunsch, Gudrun Skupin, Johannes Hitzelberger
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Dr. Christine Knauer, Eberhard Karls Universität Tübingen;
Michael Keul, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst München
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Der Lebensabend - ein Jammertal? Das muss nicht sein, es kommt auf die innere Einstellung an: bin ich dankbar für das, was ich hatte, kann ich heiter auf meine Fehler blicken, nehme ich Anteil am Weltgeschehen? (BR 2019) Autorin: Mechthild Müser
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Autor/in dieser Folge: Mechthild Müser
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Caroline Ebner, René Dumont, Anna Greiter
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Bernhard Kastner
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Fulbert Steffensky (Theologe und Religionspädagoge);
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Egoismus als Zukunftsmodell? Lange Zeit galt der Egoist als größtes Hindernis für eine funktionierende Gemeinschaft. Heute rückt er als Taktgeber ins Zentrum der modernen Gesellschaft. Als empathischer Egoist. (BR 2018) Autor: Martin Trauner
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Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Peter Weiß, Gudrun Skupin
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Stephan Sellmaier (Professor; Dr.; Forschungsstelle für Neurophilosophie und Ethik der Neurowissenschaften LMU München);
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Erde, Mars, Jupiter, Neptun... Wie entstehen Planeten? Weshalb sind sie so unter-schiedlich - manche groß, manche klein, manche aus Stein, andere aus Gas...? Und wie werden aus Staubkörnchen Giganten? (BR 2021) Autor: Aeneas Rooch
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Regie: Martin Trauner
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Redaktion: Nicole Ruchlak
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Geschrieben zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Cáo Xueqín und von Mao einst verehrt und dann verboten, hat "Hóng lóu mèng" zu Deutsch "Der Traum der roten Kammer" in China bis heute nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. Der Roman erzählt vom Untergang der Aristokratenfamilie Jia, von Schönheit, Poesie, kaltblütigen Intrigen und: einer tragischen Liebesgeschichte! Doch das Buch ist viel mehr als ein opulentes Familienepos. (BR 2017) Autorin: Isabella Arcucci
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Regie: Petra Hermann
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Redaktion: Petra Hermann
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Lebensnotwendig und unersetzbar: Mit dem Grundwasser liegt ein vielfältig genutzter Schatz unter Bayerns Boden. Doch dieser Schatz ist vielen Gefahren ausgesetzt und muss besonders geschützt werden. (BR 2019) Autorin: Inga Pflug
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Regie: Sabine Kienhöfer
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Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Markus Hymon (Wassermeister Stadtwerke Ansbach);
Martin Schüler (Technischer Leiter Stadtwerke Ansbach);
Gloria Godzik (Fachbereichsleiterin Wasserversorgung, Grundwasser- und Bodenschutz beim Wasserwirtschaftsamt Ansbach);
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Fragmente von Flöten, die in den Höhlen der Schwäbischen Alb gefunden worden sind, zählen zu den ältesten künstlerischen Zeugnissen der Menschheit. (BR 2019) Autor: Stefan Schomann
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Regie: Rainer Schaller
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Redaktion: Susanne Poelchau
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Interviewpartner/innen:
Patricia Däubler, Leiterin des Archäoparks;
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Rund 100.000 Tierarten produzieren Giftstoffe. Und einige davon werden auch in der Medizin genutzt, darunter ein Blutdrucksenker und Schmerzmittel. Doch viele Tiergifte harren noch der Erforschung. (BR 2019) Autor: Hellmuth Nordwig
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Käfer gibt es überall, außer in der Antarktis. Das macht sie mit zu den erfolgreichsten Tieren. Doch Käfer sind, wie alle Insekten, bedroht. Mit noch nicht absehbaren Folgen für das ökologische Gleichgewicht. (BR 2017) Autorin: Yvonne Maier
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Kann die Grüne Gentechnik helfen, den Pestizidverbrauch zu verringern? Können "genomeditierte" Pflanzen schädlich sein - auch wenn sie sich mittels Genanalyse nicht von klassischen Züchtungen unterscheiden lassen? Und kann es für solche Pflanzen zukünftig noch spezielle gesetzliche Regelungen geben? Autorin: Renate Ell
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Redaktion: Iska Schreglmann
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Interviewpartner/innen:
Dr. Ralf Wilhelm, Institut für die Sicherheit biotechnologischer Verfahren bei Pflanzen, Julius-Kühn-Institut – Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen, Quedlinburg;
Prof. Dr. Kai P. Purnhagen, Lehrstuhl Lebens-mittelrecht, Universität Bayreuth;
Dr. Ricarda Steinbrecher, Co-Director von EcoNexus, Oxford, UK und Mitglied in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler
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Es war einer der größten Wandel in der Menschheitsgeschichte: als aus Wildbeutern Bauern wurden. Schon damals zeigten sich die Zivilisationprobleme, mit denen die Menschheit heute noch kämpft - von Gewalt bis zu Krankheiten. (BR 2020) Autorin: Dagmar Röhrlich
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Es sprachen: Hemma Michel, Martin Fogt, Peter Weiß
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Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Larson Clark (Professor; University of Ohio in Columbus);
Hermann Parzinger (Professor; Stiftung Preußischer Kulturbesitz);
Reinder Neef (Dr.; Deutsches Archäologisches Institut);
Jens Notroff (Dr.; Archäologe, Deutsches Archäologisches Institut);
Julia Gresky (Dr.; Deutsches Archäologisches Institut);
Johannes Krause (Professor; Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie);
Sebastian Calvignac (Robert-Koch-Institut)
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Pandemie, Flutkatastrophe, Waldbrände - alles menschengemachte Krisen. Ob diese Ereignisse wirklich zu einem Umbruch führen werden, ist noch unklar. Bisher hatten diese Krisen keine tiefgreifenden Konsequenzen. Stehen wir jetzt an der Schwelle? Voraussetzung ist, dass ein neuer Geist entstehen wird. (BR 2021) Autorin: Karin Lamsfuß
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Autor/in dieser Folge: Mechthild Müser
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Katja Amberger
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Prof. Martin Dinges, em. Medizinhistoriker;
Prof. Björn Enno Hermans, Medical School Hamburg, und Familientherapeut;
Thomas und Susanne Wigger, Neurentner;
Marita Nowack, Neurentnerin;
Carol Smolawa, Neurentner
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Literaturtipp:
Claus Eurich: Endlichkeit und Versöhnung (mit eigenem Kapitel über die Erkenntnis). Claudius Verlag, 2022
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Vom Pissoir bis zur Banane, vom Hai in Formaldehyd bis zu Kot in Dosen: Kunst besteht schon lange nicht mehr nur aus Marmor und Ölfarbe, edle Einfalt und stille Größe haben ausgedient. Aber ist jedes Ergebnis eines kreativen Prozesses gleich Kunst? Wann nennen wir etwas Kunst - und wann nicht? (BR 2021) Autorin: Julie Metzdorf
Credits
Autor/in dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Katja Bürkle, Andreas Dirscherl, Gudrun Skupin
Technik: Jan Piepenstock
Redaktion: Susanne Poelchau
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Interviewpartner/innen:
Dr. Bernhart Schwenk, Bayerische Staatsgemäldesammlungen
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"Kinder der Flucht - Frauen erzählen". Was bedeutet es, die Heimat zu verlassen? Wie kann das Ankommen gelingen? Shahrzad Osterer präsentiert die bewegenden Geschichten von vier Frauen und Müttern, deren Leben von einer Flucht geprägt wurde. Zu hören in der ARD Audiothek: https://1.ard.de/kinder-der-flucht-frauen-erzaehlen-audiothek-podcast
JETZT IN DER ARD AUDIOTHEK HÖREN
Außerdem empfehlen wir die TV-Doku-Serie:
ARD History – Kinder der Flucht
Doku-Serie | ARD Mediathek
Sie gehören zu den letzten noch lebenden Zeitzeug:innen von Flucht, Vertreibung und Deportation am Ende des Zweiten Weltkrieges. Heute sind sie weit mehr als 80 Jahre alt; damals waren sie Kinder. Noch nie haben sie in der Öffentlichkeit so emotional und schonungslos über ihre traumatischen Erlebnisse am Kriegsende und in den frühen Nachkriegsjahren berichtet.
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Das Büchlein wurde in den 60er-Jahren des 20. Jh. weltweit verbreitet. In China diente es bald der totalitären Kontrolle durch Mao Tse Tung, in Westeuropa galt es als Zeichen gegen das Establishment. (BR 2016) Autor: Ulrich Chaussy
Credits
Autor/in dieser Folge: Ulrich Chaussy
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Shenja Lacher, Katja Bürkle
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner/innen:
Shi Ming, chinesisch-deutscher Publizist
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Ende des 20. Jahrhunderts gelingt der Volksrepublik China unter kommunistischer Herrschaft der Wiederaufstieg vom bitterarmen Bauernland zur global agierenden Hightech-Nation. Die Protagonisten dieser Erfolgsgeschichte sind die Machthaber und Vordenker der Kommunistischen Partei, in bislang fünf Führungsgenerationen. Autor: Thomas Grasberger
Credits
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Andreas Neumann, Ditte Ferrigan, Christopher Mann
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner/innen:
Cornelia Hermanns, Historikerin, Autorin von „Chinas Strategen“;
Thomas Heberer, Professor für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg-Essen
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Literaturtipps:
Cornelia Hermanns, Chinas Strategen. Die Staatslenker von Mao Zedong bis Xi Jinping. 2021 Drachenhaus Verlag Esslingen.
Thomas Heberer (zusammen mit Claudia Derichs und Gunter Schubert): "Die Politischen Systeme Ostasiens. Eine Einführung, 4. (komplett überarbeitete) Auflage, Wiesbaden 2023".
Thomas Heberer (zusammen mit Armin Müller): Entwicklungsstaat China. Politik, Wirtschaft, sozialer Zusammenhalt und Ideologie. Berlin: Friedrich Ebert Stiftung, 2020.
Linktipps:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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John Stuart Mill war einer der Begründer des Utilitarismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seine Idee: Gerechtigkeit orientiert sich am größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl von Menschen. (BR 2008) Autor: Michael Reitz
Credits
Autor/in dieser Folge: Michael Reitz
Redaktion: Bernhard Kastner
Regie: Irene Schuck
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Er bringt ans Tageslicht, was die Mächtigen verbergen - Kriegsverbrechen, Korruption, Umweltfrevel. US-Reporterlegende Seymour Hersh. Seine Enthüllungen zeigen der Weltöffentlichkeit das hässliche Gesicht der USA. (BR 2021) Autorin: Susanne Hofmann
Credits
Autor/in dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Andreas Neumann, Katja Amberger, Jörg Puls, Thomas Birnstiel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Iska Schreglmann
Interviewpartner/innen:
Volker Depkat (Professor für Amerikanistik an der Universität Regensburg);
Mark Feldstein (Professor für Rundfunk-Journalismus an der University of Maryland)
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Endet die Presse- und Meinungsfreiheit, wenn es um die Sicherheitspolitik der Regierung geht? Die SPIEGEL-Affäre wurde 1962 zur Reifeprüfung für die junge Demokratie. (BR 2015) Autor: Ulrich Chaussy
Autor/in dieser Folge: Ulrich Chaussy
Regie: Ulrich Chaussy
Es sprachen: Hemma Michel, Friedrich Schloffer, Heinz Peter
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Er war berühmt für seinen Schnurrbart wie für seine exzentrischen Auftritte: Der spanische Künstler Salvador Dalí liebte es, sein Publikum zu schockieren - ideale Voraussetzungen für seine Aufnahme bei den Pariser Surrealisten. (BR 2019) Autorin: Carola Zinner
Credits
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Axel Wostry, Peter Veit, Friedrich Schloffer, Christian Baumann, Anna Greiter, Beate Himmelstoß
Technik: Christine Frey
Redaktion: Andrea Bräu
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Interviewpartnerin dieser Folge:
Annabelle Görgen-Lammers (Dr.; Surrealismus-Expertin und Kuratorin, Hamburger Kunsthalle)
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Rastlos war er bis ins hohe Alter. Maler, Bildhauer, Zeichner, Lithograph, Keramiker. Pablo Picasso hat neue Stile wie den Kubismus mit entwickelt. Seine spanische Heimat liebte er, doch das Spanien Francos hasste er abgrundtief. Autorin: Gabriele Knetsch
Credits
Autor/in dieser Folge: Gabriele Knetsch
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Caroline Ebner, Anna Greiter, Peter Veit, Carsten Fabian
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Andrea Bräu
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Interviewpartner dieser Folge:
Prof. Siegfried Gohr, Kunsthistoriker
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Der Besuch des Leibarztes - Per Olov Enquists Roman
gelesen von Gert Heidenreich
In seinem historischen Roman „Der Besuch des Leibarztes“ erzählt der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist (1934-2020) vom Aufstieg und Fall des Arztes Johann Friedrich Struensee.
15 Folgen ab sofort in der ARD Audiothek
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Literaturtipps:
Siegfried Gohr, „Ich suche nicht, ich finde“: Pablo Picasso - Leben und Werk“ – erhellende bebilderte Einführung in das Werk von Pablo Picasso – allerdings klammert Gohr das berühmteste Werk „Guernica“ aus.
Fernande Olivier, „Picasso et ses amis“, die 1930 in Form von Zeitungsartikeln veröffentlichten Memoiren von Picassos erster Freundin. Anschauliche Beschreibung der Frühzeit des Malers und seiner Bekanntschaften.
Carsten-Peter Warncke, „Pablo Picasso 1881-1973“, zweibändiger Bildband mit erläuternden kunsthistorischen Ausführungen zu seinen wechselnden Stilen und Werken.
Jörg Martin Merz, „Guernica oder Picassos ‚Abscheu vor der militärischen Kaste‘“ – Diskussion um Titel und Intention von Picassos berühmtem Anti-Kriegsbild.
Wilfried Wiegand, „Pablo Picasso mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“ – einführende Biographie mit den wichtigsten Lebensstationen Picassos.
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Das Raufen war in Bayern eine Ehrensache wie die Fehde oder das Duell. Die Obrigkeit mischte sich lange Zeit nicht ein. Spuren von dieser Tradition der "Triebabfuhr" haben sich bis heute erhalten. (BR 2005) Autor: Thomas Grasberger
Credits
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Es sprachen: Alexander Duda, Michael Lerchenberg, Peter Weiss
Redaktion: Helga Montag, Brigitte Reimer
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Der menschliche Körper als Leistungsmaschinen - so haben es die Menschen nicht immer gesehen. Erst in der Aufklärung bekommt der Körper diese Funktion. (BR 2019) Autorin: Daniela Remus
Credits
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Carsten Fabian
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Prof. Marcel Reinold, Sportwissenschaftler, Universität Münster;
Prof. Maren Lorenz, Historikerin, Universität Bochum;
PD. Heiko Stoff, Medizinhistoriker, Medizinische Hochschule Hannover;
Prof. Malte Thießen, Historiker, Universität Münster;
Dr. Lars Bluma, Historiker, Historisches Zentrum, Wuppertal
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Jahrtausendelang hat der Mensch die Taube verehrt, beschützt und gezüchtet. Doch als sie als halbwildes Tier in Massen in die Städte vordrang, fiel sie in Ungnade. Aus dem Sinnbild des Heiligen Geistes wurde die "Ratte der Lüfte". (BR 2014) Autorin: Brigitte Kohn
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Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Ditte Schupp, Friedrich Schloffer
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Daniel Haag-Wackernagel, Biologe, Universität Basel;
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Stimmenimitator, Formationsflieger, Obsträuber: Der europäische Star begegnet uns in vielen Rollen, nicht alle sind uns Menschen angenehm. Und meistens tritt er in Massen auf, denn der schimmernde Vogel ist ausgesprochen gesellig. Die Wissenschaft stellt er vor faszinierende Rätsel. Autorin: Christiane Seiler
Credits
Autor/in dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Christopher Mann
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Jochen Haferland, Nationalparkführer und Hobbyornithologe, Mescherin im Oderbruch;
Dr. Jörg Böhner, Verhaltensbiologe, Berlin
Podcast-Tipp:
Wie die Digitalisierung unsere Umgebung akustisch verändert. Darum geht es in der aktuellen Ausgabe des Tech-Podcasts Umbruch:
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Dawn Chorus: Tausende Vogelkonzerte aus aller Welt
Von Bayern bis Brasilien - Neue Rekordbeteiligung beim Citizen-Science und Kunst-Projekt Dawn Chorus
Zahlreiche Menschen haben im Rahmen von Dawn Chorus das morgendliche Vogelkonzert bewusst erlebt und aufgezeichnet.
Über 14.800 Aufnahmen haben Naturbegeisterte aus aller Welt seit Jahresbeginn bereits hochgeladen. Jede Aufnahme erweitert die Sammeldatenbank und unterstützt die Forschung zur Biodiversität.
Unter dem Motto „Same place, same time" ruft Dawn Chorus deshalb alle bisherigen Teilnehmenden dazu auf, im Mai 2024 an denselben Ort zurückzukehren und wieder bei Dawn Chorus mitzumachen.
Mehr Infos gibt es hier:
EXTERNER LINK | https://dawn-chorus.org/
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Vom Bettelruf zur Bravour-Arie - Warum Vögel singen
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Literaturtipps:
Giorgio Parisi: Der Flug der Stare. Das Wunder komplexer Systeme. Frankfurt a. M, Fischer, 2022.
Magdalena und Oskar Heinroth: Die Vögel Mitteleuropas, Bd. 1, 1926.
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Im Jahr 328 reiste die römische Kaiserin Helena nach Jerusalem. Angeblich fand sie dort das Kreuz Christi. Es entstand die Legende einer Frau, die der Welt eine der wichtigsten christlichen Reliquien wiedergeschenkt hat. (BR 2019) Autorin: Imogen Rhia Herrad
Credits
Autor/in dieser Folge: Imogen Rhia Herrad
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Diana Gaul, Axel Wostry, Stefan Merki, Julia Fischer
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Julia Hillner (Professorin für Geschichte an der Universität Sheffield, Historikerin, Bonn)
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Die Hinrichtung Jesu Christi am Kreuz ist ein zentrales Element des Christentums. Aber musste Jesus wirklich sterben? Juristisch betrachtet ist das strittig. 2000 Jahre später streiten sich Rechtshistoriker und Philologen immer noch über den Fall. Hätte ein geschickter Anwalt den Opfertod verhindern können? (BR 2009) Autor: Gerhard Richter
Credits
Autor/in dieser Folge: Gerhard Richter
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Wolfgang Pregler, Friedrich Schloffer, Hemma Michel
Redaktion: Bernhard Kastner
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Der Deutsche Philipp Reis konstruierte Mitte des 19.Jahrhunderts einen Apparat, mit dem man gesprochene Sprache übertragen konnte: Das Telefon. Der Ruhm blieb dem Hobbyphysiker jedoch zeitlebens verwehrt. (BR 2020) Autor: David Globig
Credits
Autor/in dieser Folge: David Globig
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christoph Jablonka, Frank Manhold
Technik: Regina Stärke
Redaktion: Iska Schreglmann
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Interviewpartner/innen:
Dr. Wolfram Weimer, Verleger und Buchautor ("Der vergessene Erfinder – Wie Philipp Reis das Telefon erfand");
Dr. Erika Dittrich, Kunsthistorikerin, Leiterin des Stadtarchivs der Stadt Friedrichsdorf und des Philipp-Reis-Museums;
Lioba Nägele, Kustodin für Nachrichtentechnik, Museum für Kommunikation Frankfurt
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Das Deutsche Museum - Technikgeschichte zum Anfassen
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Wir empfehlen außerdem die spannende Staffel „ALLES WÄRE ANDERS OHNE …“ von ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN:
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Richard Wright: Mit dem Roman "Native Son" aus dem Jahr 1940 wird er der erste afroamerikanische Bestsellerautor der USA. Der seines Buches "Black Power" von 1954 wird zum Slogan, der die schwarze Bürgerrechtsbewegung prägte. (BR 2019) Autor: Frank Halbach
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Autor/in dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Thomas Loibl
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Andrea Bräu
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1947 beschließen die USA den Marshall-Plan und vergeben großzügige Kredite an Europa. Die Wirtschaft erholt sich, es kommt zum westdeutschen Wirtschaftswunder. Hätte das ohne Marshall-Plan nicht stattgefunden? (BR 2017) Autor: Christian Schaaf
Credits
Autor/in dieser Folge: Christian Schaaf
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Peter Lersch
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Prof. Dr. Knut Borchardt, Wirtschaftshistoriker;
Prof. Dr. Wolfgang Krieger, Historiker;
Prof. Werner Dr. Abelshauser, Wirtschaftshistoriker;
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Klimawandel, Artensterben, Wasserknappheit - nicht nur diese Probleme zeigen: Das System Erde ist in Schieflage geraten. Um ihre Zukunft zu sichern, wird es nicht genügen, einzelne Symptome zu behandeln. (BR 2018) Autor: Hellmuth Nordwig
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Autor/in dieser Folge: Christian Schaaf
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Herbert Schäfer, Christiane Rossbach, Heinz Peter
Technik: Roland Boehm
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Die großen Jäger wie Bär und Wolf kehren in unsere Wälder zurück. Das kann nicht nur zu Übergriffen auf Nutztiere führen, sondern wie Trentino zeigt, im Extremfall auch Menschen gefährden. Der Beitrag aus dem Jahr 2016 zeigt die Herausforderungen, die Freude über die Rückkehr der Wildnis mit dem Wunsch nach einer gefahrlosen Landschaft in Einklang zu bringen. Ist in unserer menschgemachten Kulturlandschaft ein friedliches Zusammenleben mit wilden Tieren möglich? (2016) Autor: Lutz Reidt
Credits
Autor/in dieser Folge: Lutz Reidt
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Sabine Straßer, Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Georg Brosi (Veterinär, Amtsleiter, Jagd und Fischerei im Kanton Graubünden);
Ulrich Wotschikowsky (Wildbiologe, Oberammergau);
Hannes Jenny (Wildbiologe, Amt für Jagd und Fischerei, Kanton Graubünden);
Britta Habbe (Biologin, Wolfsmonitoring Niedersachsen, bis Juli 2016)
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Sie öffnen ihre Blüten erst, wenn andere sie schließen. Sogenannte Nachtblüher locken Insekten nach Sonnenuntergang mit hellen Farben und intensivem Duft an. Der berufstätige Gartenbesitzer dankt es ihnen. (BR 2016) Autorin: Maike Brzoska
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Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Katja Schild
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Redaktion: Gerda Kuhn
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Rachedurst und Hass sind Gefühle, die oft auftauchen, wenn man Opfer einer Lüge, einer Kränkung oder eines Verbrechens geworden ist. Zu verzeihen wäre ein Neuanfang, aber wie gelingt das? (BR 2019) Autorin: Daniela Remus
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Technik: Roland Böhm
Redaktion: Susanne Poelchau
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Interviewpartner/innen:
Mathias Allemand (Professor; Psychologe, Universität Zürich);
Fabian Bernhardt (Dr.; Philosoph, Humboldt Universität, Berlin);
Svenja Flaßpöhler (Dr.; Philosophin, Philosophie Magazin, Berlin)
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Wie soll er sein, der "neue" Mann? Auf der Suche nach einer Antwort versuchen Männer heute den Spagat zwischen Ernährer und modernem Partner, beruflich erfolgreichem Macher und sensiblem Vater - selbstbewusst und selbstkritisch, cool und einfühlsam zugleich. Das Problem: Es fehlt an Vorbildern. (BR 2018) Autor: Michael Zametzer
Credits
Autor/in dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Xenia Tiling, Carsten Fabian, Gudrun Skupin
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Gerda Kuhn
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Interviewpartner/innen:
Christoph May, Männerforscher;
Dr. Reinhard Winter, Pädagoge, Geschlechterforscher
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Edgar Allan Poe gilt als großer Klassiker der amerikanischen Literatur. Seine düsteren, katastrophal endenden Erzählungen wirkten stark auf die europäische Literatur und begründeten das Genre des Krimis. (BR 2006) Autor: Fritz Dumanski
Credits
Autor/in dieser Folge: Fritz Dumanski
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Sabine Kastius, Paul Herwig, Axel Milberg, Christiane Blumhoff
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Mehr Freiheit - so haben Kunden die 1917 patentierte Idee der Selbstbedienung im Supermarkt empfunden. Aber noch viel mehr hat sich getan: neue Produkte, neues Design, Massenproduktion und Massenkonsum. (BR 2017) Autor: Lukas Grasberger
Credits
Autor/in dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Stefanie Ramb
Es sprachen: Susanne Schroeder, Clemens Nicol
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Wolfgang König, Professor für Technikgeschichte (em.) und Autor „Geschichte der Konsumgesellschaft“, TU Berlin;
Joachim Zentes, Professor am Institut für Handel und internationales Marketing, Universität des Saarlandes;
Michael Luck, Forscher an der Universität Rostock, Autor der Studie „Wenn sich fremde Konsumenten am POS zu nahe kommen – Der Einfluss der räumlichen Distanz auf die Aufenthaltsdauer“
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
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Lebensmittelskandale sind keine Erscheinung der Moderne. Wo wachsende Bevölkerungen ernährt werden mussten, war schon immer Tür und Tor offen für "Fälscherei und Beschiss". (BR 2016) Autorin: Renate Eichmeier
Credits
Autor/in dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Rainer Buck
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner/innen:
Vera Hierholzer, Historikerin
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Literaturtipp:
Vera Hierholzer, Nahrung nach Norm. Regulierung von Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871–1914. Vandenhoeck und Ruprecht 2010.
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Die Tiefsee beginnt ab 200 Metern Tiefe, ein Reich von unermesslicher Größe. Weitestgehend unerforscht strebt der Mensch heute dorthin, um die auf dem Grund liegenden Rohstoffe zu erbeuten. Doch die Tiefsee ist auch das größte Ökosystem des Planeten. Was gilt es zu entdecken und was zu schützen? Autor: Marko Pauli
Credits
Autor/in dieser Folge: Marko Pauli
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Christian Baumann
Technik: Adele Messmer
Redaktion: Iska Schreglmann
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Interviewpartner/innen:
Dr. Claudia Wienberg, Marine Geologin am MARUM - Zentrum für Marine Umweltwissenschaften in Bremen;`
Dr. Saskia Brix, Deutsches Zentrum für Marine Biodiversitätsforschung (Forschungsinstitut Senckenberg), Schwerpunkt: Biodiversitätsforschung;
Prof. Dr. Elda Miramontes García, Sedimentologin MARUM und am Fachbereich Geowissenschaften der Universität Bremen
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Digitale Führung durchs MARUM:
EXTERNER LINK | https://www.marum.de/Entdecken/Fuehrungen.html
Das MARUM-Meeresbodenbohrgerät:
EXTERNER LINK | https://www.marum.de/Entdecken/Lot-MeBo/MARUM-MeBo-2.html
Eine Vorstellung des Deutschen Zentrums für Marine Biodiversitätsforschung des Senckenberg-Instituts:
EXTERNER LINK | https://www.senckenberg.de/de/institute/sam/dzmb/dzmb-fachbereiche/
Studie der Universität Exeter und der Greenpeace Research Laboratories zu den möglichen Auswirkungen des geplanten großflächigen Abbaus von Manganknollen:
EXTERNER LINK | https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fmars.2023.1095930/full
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Freiheit und Sicherheit sind Grundwerte, die in Konflikt geraten können. Corona und die Klimakrise haben das deutlich gemacht. Wie definiert der moderne Mensch sich und diese Werte, und wie sehr sind sie historisch bedingt und wandelbar? Lässt sich das Spannungsverhältnis auflösen? (BR 2021) Autorin: Inka Kübel
Credits
Autor/in dieser Folge: Inka Kübel
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle
Technik: Robin Auld
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Dr. Christoph Quarch – Philosoph;
Prof. Nora Markard - Verfassungsrechtlerin
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Im Grunde gut? - Das Menschenbild im Wandel
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Die Toleranz - Respekt für das Andere
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Literaturtipps:
Hans Meier, Horst Denzer (Hg.)
Klassiker des politischen Denkens, Band 1/2
Beck´sche Reihe, 2008
Dieter Oberndörfer, Beate Rosenzweig (Hg.)
Klassische Staatsphilosophie
Texte und Einführungen
C.H. Beck, 2015
Jonas Pfister (Hg.)
Texte zur Freiheit
Reclam, 2014
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In den 1970er Jahren, als die keynesianische Wirtschaftspolitik an ihre Grenzen stieß, kam seine große Zeit. Milton Friedman gilt neben John Maynard Keynes als einer der wichtigsten ökonomischen Denker des 20. Jahrhunderts. Statt staatlicher Programme predigte er die Freiheit der Märkte, aus denen sich der Staat möglichst heraushalten solle. (BR 2012) Autorin: Christine Bergmann
Credits
Autor/in dieser Folge: Christine Bergmann
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Detlef Kügow, Ulrich Frank
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber, Christian Schimmöller
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Wenn Ökonomen und Ökonominnen von einem Markt sprechen, meinen sie eine bestimmte Idee. Für sie ist er ein Mechanismus, der unter idealen Bedingungen die größte Wohlfahrt erzeugt. In der Praxis gibt es diese Bedingungen allerdings nie. Dennoch hat die Markt-Theorie die Welt verändert. Wie hat sie das geschafft? Autorin: Maike Brzoska
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Katja Bürkle, Ron Schickler, Andreas Dirscherl
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Lisa Herzog, Professorin für Politische Philosophie an der Universität Groningen in den Niederlanden;
Joseph Vogl, Professor an der Humboldt-Universität Berlin;
Katrin Hirte, Forscherin am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft der Universität Linz
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Literaturtipps:
Lisa Herzog: Die Erfindung des Marktes: Smith, Hegel und die Politische Philosophie. wbg. 2017.
Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Diaphanes. 2010.
Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt. Diaphanes. 2015.
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Indigene leben nicht nur am Amazonas oder in Tundra. In Deutschland leben seit dem sechsten Jahrhundert Sorben als "autochthones" Volk, sprechen eine eigene Sprache, folgen eigenen kulturellen Traditionen. Autor: Geseko v. Lüpke (BR 2017)
Credits
Autor/in dieser Folge: Geseko v. Lüpke
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Merki, Irina Wanka, Berenike Beschle
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Bernhard Kastner
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Otfried Preußler - Und sein Jugendroman Krabat
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Mediziner müssen bei der Forschung Daten aus konkreten Untersuchungen interpretieren. Doch wie können sie daraus verlässliche Schlüsse ziehen? Und welche typischen Fehler tauchen bei der Auswertung von Statistiken auf? (BR 2018) Autor: Aeneas Rooch
Credits
Autor/in dieser Folge: Aeneas Roock
Regie: Sabine Kienhöfer, Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Andreas Dirscherl
Technik: Susanne Harasim, Peter Preuß
Redaktion: Christiane Neukirch, Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Jörg Rahnenführer (Professor; Dr.; TU Dortmund);
Tim Friede (Professor; Dr.; Universität Göttingen);
Iris Burkholder (Professor; Dr.; FHS Saarland)
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Die WHO arbeitet normalerweise im Hintergrund. Wenn sie dann im öffentlichen Rampenlicht steht, hagelt es oft Kritik. Wie gerechtfertigt ist diese Kritik und welche Erfolge hat die WHO erzielt? (BR 2021) Autor: Joachim Budde
Credits
Autor/in dieser Folge: Joachim Budde
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Jerzy May, Peter Veit, Carsten Fabian, Andreas Discherl, Katja Schild
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
David Heymann (London School of Hygiene and Tropical Medicine, London, Großbritannien);
Robert Yates (Chatham House, The Royal Institute of International Affairs, London, Großbritannien);
Ilona Kickbusch (Graduate Institute for international and development studies, Genf, Schweiz);
Gavin Yamey (Center for Policy Impact in Global Health, Duke University, Durham, NC, USA)
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Ein hilfreicher Überblick über die Aufgaben der WHO:
ARD alpha | Weltgesundheitsorganisation WHO | Die Gesundheit der Welt im Blick
ZUM BEITRAG
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Die Gesellschaft wird immer älter. Doch statt die künftige Mehrheit der Alten sinnvoll zu nutzen, werden sie abgeschoben. Das war nicht immer so und heute wird eine soziale, kulturelle Tradition neu entdeckt. (BR 2017) Autor: Geseko v. Lüpke
Credits
Autor/in dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Hemma Michel, Burchard Dabinnus, Jerzy May, Martin Fogt
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
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Schon im alten Griechenland spielten Musiker auf Orgeln. Im Mittelalter hielt die Orgel in europäischen Kirchen Einzug. Seitdem hat jede Epoche und jedes Land in Europa eine ganz spezielle Orgelkultur herausgebildet und die Instrumente sind von bescheidenen Begleithilfen für den Choralgesang zu klanglichen Gesamtkunstwerken herangewachsen. Autorin: Miriam Stumpfe (BR 2010)
Credits
Autor/in dieser Folge: Miriam Stumpfe
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christoph Jablonka, Christiane Blumhoff
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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An Schulen und Universitäten durften Frauen im Mittelalter nicht studieren. Diejenigen, die es trotzdem nach Gelehrsamkeit dürstete, fanden im Kloster eine Heimat. Autorin: Imogen Rhia Herrad (BR 2018)
Credits
Autor/in dieser Folge: Imogen Rhia Herrad
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Beate Himmelstoß, Jerzy May, Julia Fischer
Technik: Peter Urban
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner/innen:
Alison Beach, Professorin für Geschichte, Ohio State University;
Gisela Muschiol, Professorin für mittlere und neuere Kirchengeschichte, Universität Bonn
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Frauen in geweihten Ämtern der Frühkirche - Priesterin, Diakonin, BischöfinLinktipp:
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Wetterfühligkeit: Viele führen Kopfschmerzen, Schwindel oder Müdigkeit auf das Wetter zurück. In der Wissenschaft ist man sich aber nicht einig: Kann das Wetter tatsächlich schuld sein, wenn wir uns unwohl fühlen? (BR 2020) Autor: Thomas Kempe
Credits
Autor/in dieser Folge: Thomas Kempe
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Peter Veit, Marlen Reichert, Heinz Peter
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Karl Messlinger (Professor; Dr.; Physiologe, Institut für Physiologie und Pathophysiologie Universität Erlangen);
Andreas Matzarakis (Professor; Dr.; Meteorologe, Deutscher Wetterdienst, Zentrum für Medizin);
Angela Schuh (Professor; Dr. Dr. Dipl.-Met. Medizinerin und Meteorologin, Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung);
Robert N. Jamison (Professor; Ph. D., Arzt, Schmerzexperte, Departments of Anesthesia and Psychiatry, Brigham and Women's Hospital Harvard Medical School);
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Egon Erwin Kisch, der rasende Reporter, setzte sich sein ganzes Leben für die Wahrheit ein. Und damit wird er zu einem der berühmtesten Journalisten und zum Erfinder der modernen Reportage. (BR 2018)
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Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Johannes Silberschneider
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Andrea Bräu
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Interviewpartner/innen:
Ulrike Robeck (Dr.; Historikerin, Kaarst bei Düsseldorf);
Leo Brod (Prager Schriftsteller, Kisch-Zeitgenosse)
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Was macht uns zu dem Menschen, der wir sind? Erziehung und Erfahrungen spielen dabei eine große Rolle. Doch die Wissenschaft kommt mehr und mehr zu dem Schluss: Die Rolle der Gene bei der Entwicklung von Persönlichkeit und Intelligenz ist lange unterschätzt worden. Autor: Oliver Buschek
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Autor/in dieser Folge: Oliver Buschek
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Christopher Mann
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Iska Schreglmann
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Interviewpartner/innen:
Martin Diewald, Prof. für Soziologie, Universität Bielefeld;
Dr. Anne Gärtner, Psychologin, Technische Universität Dresden
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Literaturtipp:
„Das Gen: Eine sehr persönliche Geschichte“ von Siddhartha Mukherjee. Fischer Taschenbuch, 768 Seiten
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In den Chromosomen sind alle Erbinformationen gespeichert. Mehrere Tausend Gene stecken in ihren Zellkernen. Das ist bei allen Lebewesen so. Der Mensch hat insgesamt nur 46 Chromosomen - eine Krabbe bringt es auf 254. Was macht den Menschen eigentlich zum Menschen? Autorin: Veronika Bräse
Credits
Autor/in dieser Folge: Veronika Bräse
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Prof. Frank Sprenger, Institut für Biochemie, Genetik und Mikrobiologie an der Universität Regensburg
Dr. Astrid Wasmann, Biologin, einst Studienleiterin für Pädagogik in der Lehrerbildung
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Cleghorn, Elinor: Die kranke Frau - wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen, kiwi-Verlag, 2022.
Wasmann, Astrid: Biologie Begreifen: Genetik, 12 anschauliche Modelle zu Chromosomen, DNA und Gentechnik, AOL-Verlag, 2020.
Uhlenbrock, Karlheinz: Fit fürs Abi: Biologie Oberstufenwissen, Westermann-Verlag, 2018.
Tariverdian, Gholomal: Chromosomen, Gene, Mutationen: Humangenetische Sprechstunde, Springer-Verlag, 2008.
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Die Komponistin Fanny Mendelssohn-Hensel stand zeitlebens im Schatten ihres Bruders; ihre eigene Familie untersagte ihr eine musikalische Karriere. Erst nach ihrem Tod wurde ihr Werk bekannt und berühmt. Autorin: Julia Smilga (BR 2019)
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Autor/in dieser Folge: Julia Smilga
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Irina Wanka, René Dumont, Kathrin v. Steinburg
Technik: Christiane Voitz
Redaktion: Andrea Bräu
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Interviewpartner/innen:
Cornelia Bartsch, Musikwissenschaftlerin
Andreas Holzer, Musikwissenschaftler
Sarah Nemtsov , Komponistin
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Auf die Klospülung gedrückt und alles verschwindet im Kanal. Schnell und sauber. Aber um das Kanalsystem wurde lange Zeit gestritten. Heute führen Tausende Kilometer durch den Untergrund unserer Städte. (BR 2015) Autorin: Inga Pflug
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Autor/in dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Armin Berger, Johannes Hitzelberger
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Volker Nachtmann (technischer Werksleiter Stadtentwässerung Nürnberg);
Burkard Hagspiel (ehemaliger Werkleiter Stadtentwässerung Nürnberg);
Michael Diefenbacher (Dr., ehemaliger Leiter Stadtarchiv Nürnberg);
Susanne F. Kohl (Dr., Historikerin aus Augsburg);
Fritz Dross (Dr., Medizinhistoriker Uni Erlangen)
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Viele weiße Menschen denken, ihre Hautfarbe sei ohne Bedeutung. Ist das wirklich so? Sicher ist, dass sie oft besser gestellt sind als Nicht-Weiße und im Alltag Vorteile haben. Aber müssen weiße Menschen sich deswegen mit ihrer Hautfarbe auseinandersetzen? Sind sie ansonsten diskriminierend? Autorin: Julia Fritzsche (BR 2021)
Credits
Autor/in dieser Folge: Julia Fritzsche
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Katja Schild, Friedrich Schloffer
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Charlotte Wiedemann, Journalistin;
Prof. Andrea Geier, Literaturwissenschaftlerin, Uni Trier
Wir empfehlen außerdem die spannende Staffel „Rassismus und Sklaverei“ von ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN:
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Der Kompromiss ist zwar ein unverzichtbarer Bestandteil des sozialen Miteinanders, aber er ist auch etwas, was der Mensch zunächst nur gezwungen eingeht. Denn einen Kompromiss zu schließen, bedeutet eine Einigung durch Einschränkung. Als "faul" oder gar "stinkend" wird ein Kompromiss bezeichnet, der die moralische Integrität verletzt. Und faule Kompromisse in der Politik sind ebenso zahlreich wie im sozialen Zusammenleben. (BR 2012) Autor: Rolf Cantzen
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Autor/in dieser Folge: Rolf Cantzen
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Eva Gosiewicz, Rainer Bock, Nico Holonics
Technik: Marcus Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
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Nur 13 Monate dauerte Hitlers Haft in Landsberg nach dem Putschversuch vom November 1923. Während der Haft genießt er Privilegien und beginnt damit, den ersten Teil seines Buches "Mein Kampf" zu schreiben. (BR 2015)
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Autor/in dieser Folge: Thies Marsen
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Katja Amberger, Werner Härtl, Axel Wostry
Technik: Siglinde Hermann
Redaktion: Thomas Morawetz
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Stau, Lärm, Dreck - der motorisierte Individualverkehr ist ein Auslaufmodell. RadioWissen mit Denkanstößen und Konzepten für einen Paradigmenwechsel in der Mobilität. (BR 2018) Autorin: Susanne Hofmann
Credits
Autor/in dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Andreas Neumann, Ruth Geiersberger, Peter Veit, Irina Wanka
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Gerda Kuhn, Matthias Eggert
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Interviewpartner/innen:
Harald Kipke (Professor; Verkehrsplaner an der Technischen Hochschule Nürnberg);
Konrad Goetz (Dr.; Mobilitätsforscher am Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt am Main);
Wasilis von Rauch (Geschäftsführer des Bundesverbandes Zukunft Fahrrad; ehemals Bundesvorsitzender des VCD);
Hermann Knoflacher (Wiener Verkehrsplaner)
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Der Klimawandel zerstört Ökosysteme und damit den Lebensraum vieler Tiere. Im Vorteil sind wärmeliebende Arten oder solche, die ihr Verhalten oder ihre Temperaturtoleranz verändern können. Doch so schnell wie sich die Umweltbedingungen verändern, wird eine Anpassung wohl kaum gelingen. Autorin: Katrin Kellermann (BR 2023)
Credits
Autor/in dieser Folge: Katrin Kellermann
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Christian Baumann, Berenike Beschle
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Prof. Dr. Gerhard Haszprunar, Lehrstuhl für Systematische Zoologie LMU (ab März in Rente) & Direktor der Zoologischen Staatssammlung München;
Prof. Dr. Ann-Marie Waldvogel, Institut f. Zoologie, Universität zu Köln;
Prof. Dr. Annette Menzel, Professur für Ökoklimatologie an der TUM;
Dr. Wolfgang Fiedler, Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie Radolfszell
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Podcasttipp:
"Tierisch! – Entdeckungsreise in die wilde Welt der Tiere" - Der erste lustig-leichte, zoologischen Plauderpodcast mit bodenlos wissenschaftlicher Tiefe. Moderiert von Lydia Möcklinghoff und Dr. Frauke Fischer, zwei wildnisverrückten Abenteurerinnen und studierten Zoologinnen. Hier geht es zum Podcast:
EXTERNER LINK | https://weltwach.de/tierisch/
Literaturtipps:
Thor Hanson: „Von schrumpfenden Tintenfischen und windfesten Eidechsen. Faszinierende Antworten der Natur auf die Klimakrise“, Kösel, München 2022.
Josef Settele: „Die Triple-Krise: Artensterben, Klimawandel, Pandemien. Warum wir dringend handeln müssen.“, Edel Books, Hamburg 2020.
Michael Schrödl: „Unsere Natur stirbt. Warum jährlich bis zu 60.000 Tierarten verschwinden und das verheerende Auswirkungen hat.“, Komplett Media, 2018.
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Markante Federhaube, orange-schwarzes Gefieder, langer Schnabel: im Frühjahr kann man den seltenen Wiedehopf beobachten. Dann kehren die vom Aussterben bedrohten Vögel zurück aus ihren Winterquartieren in Afrika. In Deutschland, wo sie noch bis in die 1950iger Jahre sehr häufig waren, gibt es gerade mal 450 Brutpaare. (BR 2021) Autor: Werner Bader
Credits
Autor/in dieser Folge: Werner Bader
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Neumann
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Margarete Siering (Obere Naturschutzbehörde Regierung von Schwaben);
Anna Wadenstorfer (Untere Naturschutzbehörde Landkreis Donau-Ries);
Anna Schramm (Landesbund für Vogelschutz, Kreisgruppe Donau-Ries)
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Linktipps:
Glückwunsch an den Wiedehopf zur Ausszeichnung "Vogel des Jahres 2022". Mehr Infos dazu gibt es auf der Website des Naturschutzbund Deutschland e.V.:
EXTERNER LINK | https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/aktionen-und-projekte/vogel-des-jahres/wahl-2022/30667.html
Einfach mal innehalten, den Klängen der Natur lauschen – und sie aufnehmen!
Dawn Chorus ist ein Projekt von BIOTOPIA - Naturkundemuseum Bayern und dem Landesbund für Vogelschutz in Bayern e.V. (LBV), das Menschen weltweit dazu einlädt, Vogelstimmen zu sammeln:
EXTERNER LINK | https://www.biotopia.net/de/jetzt-schon-erleben/19-dawnchorusprojekt2020/199-dawnchorus
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Darstellungen von Tieren - wie zum Beispiel das Bild einer Ratte - geben versteckte Hinweise auf das längst vergangene Leben einer Stadt. Auf Fassaden, in Bildern oder Textilien erzählen sie Geschichten von den Menschen, ihrem Alltag und ihren Gefühlen. Kunsthistoriker versuchen, diese Hinweise zu entschlüsseln. Von Jenny von Sperber (BR 2023)
Credits
Autorin dieser Folge: Jenny von Sperber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Andreas Neumann
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Iska Schreglmann
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Interviewpartner/innen:
Prof. Maurice Saß: Kunsthistoriker, Alanus Hochschule, Institut für philosophische und ästhetische Bildung;
Prof. Stefano Riccioni: Kunsthistoriker, Universität Venedig;
Dr. Robert Bauernfeind: Kunsthistoriker, Universität Augsburg
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Kann man in dem unwirtlichen Insel-Archipel vor Kap Hoorn überhaupt leben? Ja, man kann. Das bewiesen die Yagans, die als Seenomaden umherzogen und in ihren Kanus aus Baumrinde stets ein Feuer transportierten. (BR 2017)
Credits
Autor/in dieser Folge: Mechthild Müser
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Susanne Schroeder, Rainer Buck, Andreas Neumann
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Maurice van de Maele, chilenischer Sozialanthropologe;
Fritz Jantschke, Zoologe
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Der Geruchssinn. Er war es, der schon unseren urzeitlichen Vorfahren zur Orientierung diente. Und Gerüche oder Düfte leiten uns noch heute, nur sind wir uns dessen selten bewusst. Dichter und Denker erleben und schreiben seit je über die Vielfalt der Auswirkungen von Düften auf uns Menschen. (BR 2009) Autorin: Anja Mösing
Credits
Autor/in dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Anja Mösing
Es sprachen: Sabine Kastius, Stefan Hunstein, Beate Himmelstoß
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
Interviewpartner/innen:
Barbara Vinken (Professorin);
Thomas Rommel (Professor);
Hanns Hatt (Professor)
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Anfang des 20. Jahrhunderts kamen zahlreiche Polen, Masuren und Kaschuben aus den Ostprovinzen des Deutschen Reichs ins Ruhrgebiet. Sie arbeiteten im Bergbau und pflegten im Pott ihre eigene Kultur. Die preußische Obrigkeit wollte die Ruhrpolen germanisieren. Wie erfolgreich war sie damit? Autorin: Maike Brzoska
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel, Peter Lersch
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Yvonne Maier
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Interviewpartner/innen:
Anne Friedrichs, Historikerin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte der Universität Mainz;
Dietmar Osses, Museumsleiter der Zeche Hannover in Bochum
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Literaturtipps:
Ralf Karl Oenning: „Du da mitti polnischen Farben…“. Sozialisationserfahrungen 1918 bis 1939. Waxmann. 1991.
Christoph Kleßmann: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870 – 1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft. Vandenhoeck & Ruprecht. 1978
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Millionen von Afroamerikanern verließen zwischen 1910 und 1970 den Süden der USA und zogen in den industriell geprägten Norden und Westen des Landes. Sie flohen vor Rassismus und suchten neue Hoffnung. (BR 2018) Autor: Florian Kummert
Credits
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Rainer Buck
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner/innen:
Britta Waldschmidt-Nelson (Professorin)
Wir empfehlen außerdem die spannende Staffel „Black History“ von ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN:
BLACK HISTORY - We shall overcome
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Was ein Kind ist, darüber gab es im Lauf der Zeit unterschiedliche Meinungen. Der Historiker Philippe Ariès hat diesen Lebensabschnitt untersucht und dabei die Geschichtsforschung beeinflusst. (BR 2016)
Credits
Autor/in dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Carsten Fabian
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner/innen:
Dr. Christiane Richard-Elsner, Historikerin, Projektleitung „Draußenkinder“ im ABA Fachverband Dortmund;
Dr. Imbke Behnken, Historikerin, Leitung Archiv „Kindheit, Jugend & Biografie“ Universität Siegen;
Prof. Dr. Helga Kelle, Erziehungswissenschaftlerin und Kindheitsforscherin, Universität Bielefeld.
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Über Bücher und Fibeln beeinflusste die Propaganda der Nationalsozialisten bereits die Jüngsten. Wie elementar es ist, gerade Kinder und Jugendliche mit anderem, europäischen Lesestoff zu versorgen, zeigt der Erfolg der ersten Kinderbuchausstellungen im besetzten Deutschland.
Credits
Autor/in dieser Folge: Leo Hoffmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Frank Manhold, Silke Walkhoff
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner/innen:
Dr. Christiane Raabe, Leiterin der Internationalen Jugendbibliothek IJB
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Er machte München zum "Isar-Athen". Ludwig I. von Bayern liebte die Kunst und die Frauen. Die Affäre mit der Tänzerin Lola Montez wurde ihm zum Verhängnis. (BR 2010)
Credits
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber, Kirsten Böttcher
Es sprachen: Heiko Ruprecht, Harry Täschner, Detlef Kügow, Christiane Blumhoff
Technik: Roland Boehm
Redaktion: Brigitte Reimer
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Im Frühjahr 1848 wurde das monarchisch geprägte Europa von revolutionären Unruhen erschüttert. Auch in den deutschen Staaten führten Massenarmut, bürgerliches Emanzipationsstreben und der Wunsch nach einem Nationalstaat zu einem Angriff auf die monarchischen Autoritäten, den diese aber letztendlich niederschlugen.
Credits
Autor/in dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Christian Baumann, Christiane Roßbach
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartnerin:
Prof. Dr. Sabine Freitag, Universität Bamberg, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte
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Literaturtipps:
Freitag, Sabine: Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49. München, 1997. (Spannende biographische Studien zu einzelnen Beteiligten).
Hachtmann, Rüdiger: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution. Bonn 1997. (Detailreiche und umfassende Darstellung der Ereignisse in Berlin).
Jansen, Christian; Mergel, Thomas: Die Revolutionen von 1848/49. (Sammlung von Essays zu verschiedenen Themen/Fragestellungen bezüglich der Ereignisse 1848/49).
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Vögel singen: Von der Drossel bis zur Meise, von der Lerche bis zur Nachtigall. Aber warum eigentlich? Forscher versuchen diese Frage seit Jahrzehnten zu beantworten - haben sie aber bis heute nicht endgültig geklärt. (BR 2019) Autor: Martin Schramm
Credits
Autor/in dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Martin Schramm
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Andreas Neumann
Technik: Andreas Ummenhofer
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartner/innen:
Hans-Heiner Bergmann (Professor; Ornithologe);
Uwe Westphal (Dr.; Biologe);
Stefan Leitner (Dr.; MPI Seewiesen)
Dawn Chorus: Tausende Vogelkonzerte aus aller Welt
Von Bayern bis Brasilien - Neue Rekordbeteiligung beim Citizen-Science und Kunst-Projekt Dawn Chorus
Zahlreiche Menschen haben im Rahmen von Dawn Chorus das morgendliche Vogelkonzert bewusst erlebt und aufgezeichnet.
Über 14.800 Aufnahmen haben Naturbegeisterte aus aller Welt seit Jahresbeginn bereits hochgeladen. Jede Aufnahme erweitert die Sammeldatenbank und unterstützt die Forschung zur Biodiversität.
Unter dem Motto „Same place, same time" ruft Dawn Chorus deshalb alle bisherigen Teilnehmenden dazu auf, im Mai 2024 an denselben Ort zurückzukehren und wieder bei Dawn Chorus mitzumachen.
Mehr Infos gibt es hier:
EXTERNER LINK | https://dawn-chorus.org/
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Hier gibt es außerdem eine spannende Podcastfolge von IQ "Alles Natur":
Alles Natur: Singvögel! Iska Schreglmann im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke
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Er will Kriegsverbrecher vor Gericht bringen - und manchmal klappt das sogar: Der Internationale Strafgerichtshof. (BR 2018) Autor: Michael Zametzer
Credits
Autor/in dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Dorit Kreissl
Es sprachen: Thomas Loibl, Rahel Comtesse
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Interviewpartner/innen:
Prof. Christoph Safferling, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
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Am 20. März 2003 beginnt US-Präsident Bush junior mit "Operation Iraqi Freedom" den Krieg gegen Irak. Es ist der dritte militärische Konflikt in der Golf-Region, in dem eine "Koalition der Willigen" zwar Diktator Saddam Hussein stürzen kann. Das Ziel, Stabilität und Frieden zu installieren, erreicht sie aber nicht. Autor: Thomas Grasberger
Credits
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Nicole Ruchlak, Thomas Morawetz
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Interviewpartner:
Herfried Münkler, Politikwissenschaftler
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Die Weine des Juliusspitals in Würzburg sind weltberühmt. Einst dienten sie dazu, ein Krankenspital zu finanzieren, gestiftet vom Bischof und Landesherrn Julius Echter. Echter ist vielleicht bedeutendste Fürst auf dem Bischofsstuhl des Heiligen Kilian, doch sein Name ist nicht nur verbunden mit Landesausbau und Erneuerung des Glaubens, sondern auch mit Hexenverfolgungen.
Credits
Autor/in dieser Folge: Christian Lappe
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel
Technik: Robin Auld
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Martin Luther - Ein Mönch erschüttert das Abendland
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Prof. Dr. Wolfgang Weiß, Institut für Historische Theologie der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg;
PD Dr. Andreas Flurschütz da Cruz, Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Otto-Friedrich-Universität zu Bamberg
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Marin Luther war ein Meister des theologischen Bonmots und der rhetorischen Zuspitzung. Doch wie konnte ein öffentlichkeitsscheuer Augustinermönch aus der deutschen Provinz eine solche Wirkung entfalten?! (BR 2017)
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Autor/in dieser Folge: Christian Schuler
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Bijan Zamani, Jerzy May
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
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Prof. Dr. Jörg Lauster, Systematische Theologie an der LMU München.
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Der Oscar hat einen Materialwert von 300 Dollar. Sein Marktwerkt für die Filme und die prämierten Künstler ist aber um ein Vielfaches höher. Er ist der wichtigste Filmpreis der Welt, bei dem auch politische Debatten ausgefochten werden. Autor: Florian Kummert (BR 2021)
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Für Christen ist er eine der sieben Todsünden, für Buddhisten ein "leidbringender Geisteszustand" und im Islam ist Neid eine schlechte Eigenschaft, die zu Unheil führen kann. Aber kann Neid nicht auch Ansporn sein? Für mehr Leistung oder eine gerechtere Gesellschaft?
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Literaturtipps:
DECHER, Friedhelm, Das gelbe Monster – Neid als philosophisches Problem, Verlag zu Klampen, Springe, 2005. ISBN 3-934920-73-X
(Nur antiquarisch erhältlich. Ein guter, leicht zu lesender Überblick über Ursachen, Ausprägungen, Folgen Beschwichtigungsstrategien von Neid und Missgunst in der Philosophie von der Antike bis heute)
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Das Auto - vielgeliebt und vielgehasst. Was für die einen die absolute Freiheit bedeutet, ist für andere nur ein lärmender Klimakiller. Doch es dauerte lange, bis das Auto zum Massenvehikel wurde. Auf dem Weg dahin wurden auch einige Möglichkeiten ausgelassen - z.B. der Antrieb durch Elektromotor. Autor: Markus Mähner (BR 2021)
Credits
Autor/in dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Peter Weiß
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner:
Prof. Kurt Möser, KIT Karlsruhe
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Verkehrspolitik der Zukunft - Effizienter und umweltschonender?
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
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Es geht um Leben oder Tod. Deshalb sind Debatten um Tempolimits auf Autobahnen oft sehr hitzig. Befürworter meinen, sie schützen Umwelt und Klima und führen zu weniger Unfällen. Gegner wenden ein, dass hiesige Autobahnen zu den sichersten Straßen überhaupt gehören. Was ist dran an den Argumenten? Autorin: Maike Brzoska
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Schild, Frank Manhold, Patrick Zeilhofer, Stefan Wilkening
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak, Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner/innen:
Claudia Kemfert, Professorin an der Universität Lüneburg und Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung;
Stefan Bauernschuster, Professor für Public Economics an der Universität Passau
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Literaturtipps:
Kurt Möser: Geschichte des Autos. Campus Verlag, 2002.
Stefan Bauernschuster, Christian Traxler: Tempolimit 130 auf Autobahnen. Eine evidenzbasierte Diskussion der Auswirkungen. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 2021
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Er gehört neben Dostojewski und Tolstoi zu den drei ganz großen russischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts: Iwan Turgenjew, der Deutschland besonders liebte. Ein leiser Realist im Spagat zwischen Russland und West-Europa. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Christine Hamel
Regie: Petra Hermann
Es sprachen: Stefan Wilkening, Carsten Fabian, Franziska Ball, Johannes Hitzelberger
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Petra Hermann
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Prof. Aage Hansen-Löve
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Sie erzeugen faszinierende Naturschauspiele: hunderte von Vögeln ziehen gleichzeitig über den Himmel - chaotisch und doch geordnet. Tausende von Sardinen bilden im Ozean Formationen bilden - scheinbar zufällig bleiben sie zusammen. Autor: Stefan Geier (BR 2012)
Credits
Autor/in dieser Folge: Stefan Geier
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Gerda Kuhn
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Der Verlust der Artenvielfalt gilt heute neben dem Klimawandel als eine der wichtigsten Bedrohungen für unser Überleben auf dem Planeten Erde. Edward O. Wilson ist einer der wichtigsten Streiter für die Biodiversität - ein Biologe, der im Alter vom Wissenschaftler zum Aktionisten geworden ist. Autorin: Christiane Seiler (BR 2021)
Credits
Autor/in dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Jörg Puls, Frank Manhold
Technik: Jan Piepenstock
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Interviewpartner:
Jürgen Heinze (Professor. Doktor an der Universität Regensburg, Lehrstuhl für Zoologie / Evolutionsbiologie)
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Artenschutz und grüne Energie - Lösung für beides möglich?
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Bereits vor der Geburt hört der Mensch. Der Hörsinn ist von allen fünf Sinnen der differenzierteste. Bis zu 20 einzelne akustische Signale kann der Mensch pro Sekunde unterscheiden. (BR 2015)
Credits
Autor/in dieser Folge: Susanne Nessler
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Jennifer Güzel, Armin Berger, Carsten Fabian
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Gerda Kuhn
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Nashörner sind wahre Dickhäuter. Ihre bis zu viereinhalb Zentimeter dicke Haut schützt die Tiere aus der Urzeit vor Verletzungen durch Stacheln und Dornen und im Falle eines Angriffs von Artgenossen. Gegen den einzigen Feind hilft dies aber nicht - den Menschen, der es auf das Horn der kolossalen Landsäuger abgesehen hat.
Autor/in dieser Folge: Margarete Blümel
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Maren ulrich, Patrick Zeilhofer, Julia Cortis
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
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Elefanten – Die sanften Giganten
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Wale - Faszinierende Wanderer der Ozeane
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Der Narwal - Einhorn des arktischen Ozeans
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Literatur:
„Nashörner – Ein Porträt“ / Autor: Lothar Frenz / Verlag: „Naturkunden“ Matthes & Seitz Berlin / erschienen: September 2017.
„Black Rhino“ / Autor: Malcolm Penny / Verlag: Hodder Wayland / erschienen: 2001.
Interviewpartner/innen dieser Folge:
Dr. Sabrina Linn, Biologin und Kuratorin Zoo Frankfurt;
Dr. Jacques Flamand, Wildtier-Veterinär und Leiter des Projekts Black Rhino Range Expansion (World Wildlife Fund for Nature);
Neha Sinha, Naturschutzbiologin und Referentin bei der Bombay Natural History Society
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Immer mehr Elefanten oder Nashörner haben wegen massenhafter Bejagung keine Stoßzähne mehr oder bilden nur noch kleine Hörner aus - ein Mechanismus der Evolution. Was passiert aber, wenn Elefanten nicht mehr im Boden wühlen können? Und wie überleben Fischarten, die wegen systematischer Befischung immer kleiner werden?
Credits
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Hemma Michel, Johannes Hitzelberger
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER
Interviewpartner/innen:
Thorsten Reusch, Ökologe, Geomar;
Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, Kiel;
Jochen Wolf, Evolutionsbiologe, LMU München;
Axel Meyer, Evolutionsbiologe, Universität Konstanz
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Spanende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BR PODCAST | BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
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Autark werden, sich unabhängig machen: Dies klingt gerade in krisenhaften Zeiten nach einem erstrebenswerten Ziel. Doch der Weg zur Autarkie ist steinig, das Konzept birgt Fallstricke - und kann dem Einzelnen wie größeren Gemeinwesen beträchtliche Nachteile bringen. Autor: Lukas Grasberger
Credits
Autor/in dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
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Interviewpartner/innen:
Markus Hörmann, Eigentümer eines energieautarken Hauses und Solar-Unternehmer, Zusmarshausen;
Oliver Weber, Philosoph und Autor, promoviert zur Ideengeschichte des politischen Eigentumsbegriffs im frühen Liberalismus, Regensburg;
Maik Fielitz, wissenschaftlicher Referent am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft, Jena;
Thieß Petersen, Volkswirtschaftler, Senior Adviser Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
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Objektivität! Beobachten!! Einfache Sprache!!!- Schlagworte einer literarischen Strömung der Weimarer Republik. Heute nennt man diese Art der Literatur "Neue Sachlichkeit". (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Johannes Silberschneider, Caroline Ebner, Christian Schuler
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Andrea Bräu
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Die meisten haben sie ohne darüber nachzudenken: Eine Staatsangehörigkeit. Wer sie dagegen verliert oder nie hatte, kommt immer wieder in Schwierigkeiten - zum Beispiel beim Reisen. Millionen Menschen weltweit sind staatenlos, und der internationale Wille, ihre Situation zu verbessern, fehlt.
Autor/in dieser Folge: Linus Lüring
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Christian Baumann, Andreas Neumann
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
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Die Geschichte des Reisepasses - Ein Papier öffnet Grenzen
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Literaturtipps:
Arendt, Hannah (1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt.
Beyer, Judith (2022): The common sense of expert activists: practitioners, scholars, and the problem of statelessness in Europe. In: Dialectical Anthropology (2022).
Gosewinkel, Dieter (2021): Struggles for Belonging. Citizenship in Europe, 1900-2020. Oxford: Oxford University Press.
Interviewpartner/innen dieser Folge:
Dr. Judith Beyer, Professorin für Ethnologie, Universität Konstanz;
Dr. Roland Bank, Leiter Rechtsabteilung UNHCR Deutschland;
Christiana Bukalo, Staatenlose und Gründerin von „Staatefree e.V.“;
Dr. Dieter Gosewinkel, Professor für neuere Geschichte an der FU Berlin, Wissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
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Keine Reise ohne das richtige Dokument. Das galt bereits für Martin Luther, als er mit einem Geleitbrief des Kaisers nach Worms reiste. Heute ist der Reisepass standardisiert, doch sein Zweck ist geblieben: Er bestätigt die Identität des Reisenden und gibt die Erlaubnis, unterwegs sein zu dürfen.
Autor/in dieser Folge: Isabel Röder
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Christoph Jablonka, Katja Amberger, Frank Manhold
Technik: Roland Böhm
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Die "Grand Tour" - Eliten auf Bildungsreise
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Márta Fata, außerplanmäßige Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen;
Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität Berlin;
Andreas Reisen, Buchautor und Mitarbeiter im Bundesinnenministerium
Literaturtipps:
Fata, Márta (2020): Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit, Göttingen.
Groebner, Valentin (2004): Der Schein der Person, München.
Oltmer, Jochen (2015): Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin/München/Boston.
Reisen, Andreas (2012): Der Passexpedient. Geschichte der Reisepässe und Ausweisdokumente - vom Mittelalter bis zum Personalausweis im Scheckkartenformat, Baden-Baden.
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Früher waren Wälder oft aufgeräumt. Reisigsammler "putzten" den Wald. Inzwischen bleiben umgestürzte Bäume oft liegen und verrotten. Dies ist gut, denn viele Tiere und Pflanzen sind auf Totholz angewiesen. (BR 2021)
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Jerzy May
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
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Holz - Die Mär von der sauberen Energie
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Ranger Andreas Angermann vom österreichischen Nationalpark Hohe Tauern;
Professor Wolfgang W. Weisser vom Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie an der Technischen Universität München in Weihenstephan, Freising;
Doktorand Pascal Edelmann Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie an der Technischen Universität München in Weihenstephan
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Gelassenheit. Viele suchen sie - wenige finden zu ihr. Ist Gelassenheit überhaupt möglich angesichts der vielen globalen Krisen? Und was unterscheidet diesen Seelenzustand von Resignation oder Gleichgültigkeit? Eine Annäherung aus philosophischer und psychologischer Sicht.
Autor/in dieser Folge: Inka Kübel
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Anna Graenzer, Jerzy May
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Interviewpartnerin dieser Folge: Dr. Ina Schmidt, Philosophin
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Michael Schmidt-Salomon, Entspannt Euch! Eine Philosophie der Gelassenheit, Piper, München 2020.
Louis Lewitan, Die Kunst, gelassen zu bleiben, Ludwig, München 2009.
Peter Lauster, Wege zur Gelassenheit, Rowohlt, Reinbek, 1988.
SENECA, Vom glücklichen Leben, (u.a.) Anaconda, München, 2016.
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Viele Menschen fühlen sich fremd: im Job, in ihren Beziehungen, in der rasant getakteten Welt. Ihre Sinne verkümmern, sie vereinsamen, werden krank und brennen aus. Warum tun sie sich das an? Gibt es einen Ausweg? (BR 2018)
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Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Bernhard Kastner
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Nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl 1943 beschlossen der Student Hans Leipelt und seine Freundin Marie-Luise Jahn deren Widerstand gegen die NS Diktatur fortzusetzen. Sie fanden Unterstützung in einem losen Netzwerk regimekritischer Freundes- und Familienkreise in Leipelts Heimatstadt Hamburg. (BR 2022)
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Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
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DIE BEFREIUNG - ein Gemeinschaftsprojekt des Bayerischen Rundfunks mit der KZ-Gedenkstätte Dachau und der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft:
Ein virtueller Rundgang über die KZ-Gedenkstätte Dachau. Hier erzählen wir, wie das KZ Dachau am 29. April 1945 durch die Amerikaner befreit wurde:
ZUR WEBSITE
Weiter eintauchen im Podcast: Die Geschichten einzelner Häftlinge und Befreier aus dem Rundgang werden hier vertieft und um Schicksale aus dem KZ Flossenbürg ergänzt:
ZUM PODCAST
Außerdem interessant:
KL Dachau – die zweiteilige historische TV-Dokumentation über das KZ Dachau, die aus unterschiedlichen Perspektiven die Lagerzeit von März 1933 bis Ende April 1945 nacherzählt:
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BR MEDIATHEK I KL Dachau - Im Lager (2/2)
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BOTTIN, Angela: Enge Zeit. Berlin 2021
Umfangreiche Informationen zu den Hamburger Widerstandsnetzwerken, u.a. zu den AkteurInnen der Weißen Rose Hamburg.
SCHULTZE-JAHN, Marie-Luise: "… und ihr Geist lebt trotzdem weiter!" Widerstand im Zeichen der Weißen Rose.
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WAGNER, Hans u.a. (Hsg): Hans Leipelt und Marie-Luise Jahn – Studentischer Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus am Chemischen Staatslaboratorium der Universität München. München 2003
Viele Informationen auch zum Chemischen Labor und zu Professor Wieland, Essay des Historikers Jürgen Zarusky mit prägnanter Darstellung von Leipelt und der Weißen Rose Hamburg
Sophie Scholl, bekannteste Widerstandskämpferin der "Weißen Rose", war noch als Jugendliche engagiert in den NS-Jugendorganisationen. Ihren Weg hin zur aktiven Regimegegnerin bezahlte sie mit dem Leben. (BR 2021)
Credits
Autor/in dieser Folge: Steffi Illinger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Florian Schwarz
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
Interviewpartner/innen:
Dr. Robert M. Zoske (Biograph "Sophie Scholl: Es reut mich nichts")
Dr. Maren Gottschalk (Biographin "Wie schwer ein Menschenleben wiegt. Sophie Scholl. Eine Biographie")
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Fensterglas ist schon im Mittelalter ein begehrter Baustoff. Seit dem 19. Jahrhundert verändern große Glasfassaden die Innenstädte, die Konsum- und Wohnkultur und die Arbeitswelt; sein Siegeszug hält an. (BR 2020)
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Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Irene Schuck
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Interviewpartner/innen:
Dietrich Erben, Professor für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design an der Technischen Universität München;
Andres Lepik, Professor für Architektur an der Technischen Universität München, Direktor des Architekturmuseums in der Münchner Pinakothek der Moderne
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Von Anfang an umgab die Autorin Colette der Ruf des Skandals. Ihr Thema war die Liebe in all ihren Schattierungen - jenseits von Kitsch und Sentimentalität. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Gabriele Knetsch
Regie: Irene Schuck
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Technik: Roland Böhm
Redaktion: Andrea Bräu
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Frédéric Maget, Verfasser einer Colette-Biographie
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Um seine frühen Jahre rankte Hitler in "Mein Kampf" den Mythos von Armut und Unterdrückung. Was ist von dieser Selbstbeschreibung zu halten? Und wie wurde aus dem ziellosen Kunststudenten ein charismatischer Demagoge? (BR 2019)
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Konservative Eliten des deutschen Bildungsbürgertums begrüßten die Machtübergabe an Hitler als Abkehr von der ungeliebten Weimarer Republik, als konservativ-nationale Revolution. Die Weimarer Intellektuellen, die für das republikanische Kulturhoch gesorgt hatten, standen auf verlorenem Posten.
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Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner dieser Folge:
Dr. Tillman Allert, Soziologe, Autor und emeritierter Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
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In der Antike wurden arme Menschen bespuckt und verhöhnt. Im vorindustriellen England hat man sie in Arbeitshäuser interniert. Erst Karl Marx sah in der Armut weniger ein persönliches Versagen, sondern hielt sie für systemisch bedingt. Über die Zeit hinweg hat sich so die Sicht auf Armut immer wieder stark gewandelt. (BR 2019)
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Axel Wostry, Gudrun Skupin
Technik: Daniela Röder, Moritz Mayer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Philipp Lepenies (Professor f. Vergleichende Politikwissenschaft a.d. freien Universität Berlin);
Josef Brüderl (Professor am Institut für Soziologie der LMU München)
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Der französische Komödiendichter Molière war ein mutiger Autor, der sich des Öfteren mit den Mächtigen seiner Zeit anlegte - und dabei nie seinen Humor verlor. Er machte die Komödie salonfähig. Bis heute ist er für seine Stücke wie "Tartuffe" oder "Der eingebildete Kranke" berühmt. (BR 2022)
Autor/in dieser Folge: Michael Reitz
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Schild, Johannes Hitzelberger
Technik: Robin Auld
Redaktion: Andrea Bräu
Interviewpartner/innen dieser Folge:
Lea Goebel (Dramaturgin)
Anne Lenk (Regisseurin)
Ursula Hennigfeld (Professorin für Romanistik)
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Voltaire - Dichter, Philosoph, Freigeist
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Andreas Gryphius - Dichter der menschlichen Vergänglichkeit
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Ein geeigneter Ort für eine spirituelle Reise zu sich selbst ist der Ashram, ein klosterähnliches Zentrum, in dem Suchende die Lehren eines spirituellen Meisters (Gurus) studieren und praktizieren können. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Sylvia Schopf
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Andreas Neumann, Friedrich Schloffer, Hemma Michel
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
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Der heilige Raum - Resonanz zwischen Ort und Mensch
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Swami Gurupriyananda, hinduistischer Mönch;
Florian Meyer, Hinduismus-Forscher;
Herbert Eisenschenk, Dokumentarfilmer und Buchautor;
Dr. Wolf Klehm, Psychotherapeut
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Ohne einen einzigen Schuss abzugeben, brachte er das britische Weltreich ins Wanken. Mahatma Gandhi ist die Leitfigur der gewaltfreien Revolte. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel, Reinhard Glemnitz, Oliver Nägele
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Interviewpartner dieser Folge:
Prof. Dr. Gita Dharampal-Frick, Historikerin und Leiterin der Abteilung Geschichte am Südasien-Instituts der Universität Heidelberg
Sie haben großen Einfluss und sie wirken im Hintergrund. Sie entwickeln Gesetzesvorhaben, erstellen Expertisen und gestalten so die Zukunft ganzer Gesellschaften mit: Die Think Tanks. (BR 2017)
Credits
Autor/in dieser Folge: Klaus Uhrig
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Shenja Lacher, Anne-Isabelle Zils, Friedrich Schloffer
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Nicole Ruchlak
Interviewpartner/innen:
Prof. Winand Gellner, Uni Passau
Dr. Rudolf Speth
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Beihilfe zum Suizid, Forschung an Mensch-Tier-Mischwesen, Priorisierung bei Corona-Impfstoffen - im Ethikrat geht es oft um Fragen von Leben oder Tod. Es handelt sich aber keineswegs nur um einen illustren Gesprächskreis. Vielmehr ist es ein Gremium mit weitreichendem Einfluss.
Credits
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Yvonne Maier
Interviewpartner/innen:
Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrates und Professorin für Medizinethik an der Technischen Universität München;
Joachim Vetter, Geschäftsführer des Deutschen Ethikrates;
Alexander Bogner, Soziologe und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie;
Peter Dabrock, Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen und ehemaliger Vorsitzender des Ethikrats
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Sterbehilfe - Selbstbestimmung bis zum Schluss?
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Tierversuche - Immer noch unverzichtbar?
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Literaturtipps:
Alexander Bogner: Die Ethisierung von Technikkonflikten. Studien zum Gestaltungswandel des Diskurses. Velbrück Wissenschaft, 2012.
Bogner, A., und Torgersen, H. (Eds.): Wozu Experten? Ambivalenzen der Beziehung von Wissenschaft und Politik. Verlag für Sozialwissenschaften, 2005.
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Die jüdische Aufklärungsbewegung Haskala bewirkte auch eine Modernisierung der Synagogenmusik. Im Stil der Romantik entstand eine reiche Musiklandschaft, komponiert von den Kantoren der jüdischen Gemeinden. Hierbei kam auch der Orgel eine bedeutende Rolle zu.
Autor/in dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Kathrin von Steinburg
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
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JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND (3) - Das Reformjudentum
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Literaturtipps:
Mit seinen Palisaden aus Holz oder den steinernen Mauern war der Limes mehr als nur ein militärisches Bollwerk. Er war eine bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Steuerungs- und Kontrolllinie - durchlässig und flexibel in beide Richtungen. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Bürkle
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Thomas Morawetz
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Wir empfehlen außerdem die spannende Staffel „Weltmacht Rom“ von ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN:
Weltmacht Rom - Die Legion
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Weltmacht Rom - Badekultur und Herrschaft
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Weltmacht Rom - Cambodunum, aka Kempten
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Weltmacht Rom - Brot und Spiele
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Mehr Infos zum Donaulimes finden Sie auf dieser Beitragsseite von ARD alpha:
Limes in Bayern - Den römischen Grenzwall erleben
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Mediterranes Leben mitten im Allgäu: Das gab es bereits vor 2000 Jahren. Damals wurde die Römerstadt Cambodonum - heute Kempten - gegründet. Die Römer in der neuen Nord-Provinz Rätien verband eine wechselvolle Beziehung mit den Kelten, die ursprünglich im Alpenvorland siedelten.
Autor/in dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Rahel Comtesse, Peter Lersch
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Thomas Morawetz
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Weltmacht Rom - Der Limes
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Interviewpartner/innen dieser Folge:
Dr. Maike Sieler, Leiterin des Archäologischen Parks Cambodunum, Kempten
Tobias Esch, M.A. Leiter Kelten Römer Museum Manching
Dr. Bernd Steidl, Leiter Abteilung Römerzeit, Archäologischen Staatssammlung, München
PD Dr. Markus Schußmann, Archäologe + Autor „Die Kelten in Bayern“
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Kinder sind oft genügsame Soldaten, lernwillig, anspruchslos und einfach zu manipulieren. Die Geschichte der Kindersoldaten beginnt schon in der Antike - und leider ist sie noch lange nicht zu Ende. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Elsbeth Bräuer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Hemma Michel, Lenz Schuster, Michael Hafner
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Thomas Morawetz
Interviewpartner/innen dieser Folge:
Okot (ehemaliger Kindersoldat aus Uganda - Name geändert)
Michael Pittwald (Dr.; Politikwissenschaftler)
Anett Pfeiffer (Psychologin)
Krispus Ayena Odongo (Anwalt)
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Brechts episches Theater brach mit Konventionen seiner Zeit und war explizit politisch. Seine Mittel sind im Regietheater der Gegenwart angekommen. Aber hat sich auch ihre kritische Stoßrichtung gehalten? (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Stephanie Metzger
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Kathrin von Steinburg, Katja Bürkle, Stefan Zinner
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Andrea Bräu
Interviewpartner/innen dieser Folge:
Matthias Warstat (Professor; FU Berlin, Theaterwissenschaft)
Alexander Karschnia (andcompany&Co)
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Von allen Übeln stets verschont, das wäre gut! Doch Verlust, Trennung, Tod gehören zum Leben. Ist die Wucht des Unglücks zu groß, droht das Leid uns zu erdrücken. Dann brauchen wir Kraft und Mut zum Aufstehen: Wir brauchen Trost. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Simon Demmelhuber, Volker Eklkofer
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Peter Weiss, Beate Himmelstoß, Frank Manhold
Technik: Regina Stärke
Redaktion: Bernhard Kastner
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Sprache macht Spaß, gereimte ganz besonders. Wer reimt, der kostet Ton und Klang der Sprache aus, der spürt der geheimnisvollen Verwandtschaft nach, die zwischen ähnlich lautenden Wörtern walten mögen. Seit alters her haben sich die Menschen viele Möglichkeiten einfallen lassen, den Gleichklang der Wörter auszukosten. (BR 2013)
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Ilse Neubauer, Rainer Buck
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland schätzungsweise zehn bis zwölf Millionen entwurzelter Menschen, meist Opfer des nationalsozialistischen Regimes. Um ihnen zu helfen, wurde die UNRRA gegründet. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann
Technik: Andreas Lucke, Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
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Wir empfehlen Ihnen die spannende Staffel „Rettung!“ von ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN:
Rettung! - Geschichte der Feuerwehr
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Rettung! - Hilfe auf hoher See
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Zwangsarbeiter - von den Nationalsozialisten aus ihrer Heimat verschleppt, um im Deutschen Reich die Wirtschaft am Laufen zu halten. Doch als Kriegsopfer wurden sie lange nicht anerkannt. Im ehemaligen Zwangsarbeiterlager Neuaubing bei München entsteht jetzt ein Erinnerungsort.
Autor/in dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Anna Graenzer, Benedikt Schregle
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
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Die UNRRA - Hilfe für Entwurzelte
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Er hat Sophie und Hans Scholl zum Tode verurteilt - und tausende weitere Menschen: Roland Freisler, deutscher Jurist und von 1943 bis 1945 Präsident des deutschen Volksgerichtshofes. (BR 2013)
Autor/in dieser Folge: Sabine Straßer
Regie: Sabine Kienhöfer, Bernhard Kastner
Es sprachen: Katja Amberger, Claus Brockmeyer
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Brigitte Reimer, Thomas Morawetz
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Sophie Scholl - Eine junge Frau im Widerstand
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Jugendliche im NS-Widerstand - Gegen den Strom
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DIE BEFREIUNG - ein Gemeinschaftsprojekt des Bayerischen Rundfunks mit der KZ-Gedenkstätte Dachau und der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft:
Ein virtueller Rundgang über die KZ-Gedenkstätte Dachau. Hier erzählen wir, wie das KZ Dachau am 29. April 1945 durch die Amerikaner befreit wurde:
ZUR WEBSITE
Weiter eintauchen im Podcast: Die Geschichten einzelner Häftlinge und Befreier aus dem Rundgang werden hier vertieft und um Schicksale aus dem KZ Flossenbürg ergänzt:
ZUM PODCAST
Außerdem interessant:
KL Dachau – die zweiteilige historische TV-Dokumentation über das KZ Dachau, die aus unterschiedlichen Perspektiven die Lagerzeit von März 1933 bis Ende April 1945 nacherzählt:
BR MEDIATHEK I KL Dachau - Das System (1/2)
BR MEDIATHEK I KL Dachau - Im Lager (2/2)
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Ein Walross ist auf den ersten Blick zu erkennen: Lange Stoßzähne, teils bedeckt von üppigen Barthaaren, tonnenschwerer Leib. Gelegentlich verirrt sich eins in die Nord- oder Ostsee, doch heimisch ist es in arktischen Gewässern, wo das Treibeis stark genug ist, um sein Gewicht zu tragen.
Autor/in dieser Folge: Mechthild Müser
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Hemma Michel, Peter Weiß
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
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Es scheint eine besondere Kunst zu sein, rechtzeitig aufzuhören. Viele Menschen beherrschen sie nicht. Sie machen weiter, bis sie zusammenbrechen oder zum Aufhören gezwungen werden. Zu einer Kunst wird das Aufhören, wenn der Mensch in sich hinein-hört und sich dann entschließt, "auszusteigen", mit etwas bewusst Schluss zu machen. Ein solches Aufhören ist ein Akt der Freiheit. (BR 2011)
Autor/in dieser Folge: Rolf Cantzen
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christiane Bachschmidt, Stefan Merki, Ulrich Frank
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
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Der Skitourismus in Zeiten des Klimawandels verändert sich rasant. Die Skigebiete der Alpen rüsten immer mehr auf - auf Kosten der Natur. Doch lohnen sich die Investitionen? Und gibt es überhaupt einen anderen Weg? (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Moritz Pompl
Regie: Martin Tauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Neumann
Technik: Christine Frey
Redaktion: Matthias Eggert
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Südafrika in den 70er Jahren: Gnadenlos lässt die Regierung jeden Widerstand gegen das brutale Apartheidregime nieder knüppeln. Das Ausland ist fassungslos aber nicht handlungsunfähig: Die Konsumenten boykottieren Importe aus dem brutalen Paria-Staat. US-amerikanische Städte und Gemeinden werfen Aktien mit Südafrika-Bezug aus ihren Pensionsfonds. Die UNO beschließt ein Waffenembargo gegen Südafrika. Aber ist die rassistische Apartheidregierung tatsächlich von den teils jahrzehntelangen, weltweiten Boykotten und Sanktionen in die Knie gezwungen worden? (BR 2008)
Autor/in dieser Folge: Cathrin Hennicke
Regie: Martin Trauner, Sabine Kienhöfer, Dorit Kreissl
Es sprachen: Andreas Neumann, Ilse Neubauer, Rainer Buck, Peter Veit
Technik: Susi Harasim, Gerhard Wicho
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Energie-Embargos und harte wirtschaftliche Maßnahmen - die Sanktionspakete gegen Russland nach dessen Angriff auf die Ukraine waren schnell verkündet. Sie sollen das Regime möglichst hart treffen und zum Einlenken bringen. Aber wie realistisch ist das eigentlich?
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Schuler
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
Spanende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BR PODCAST | BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Literaturtipps:
Gary Clyde Hufbauer, Jeffrey Schott, Kimberly Ann Elliott, Barbara Oegg: Economic Sanctions Reconsidered. Peterson Institute for International Economics. 2009.
Interviewpartner/innen dieser Folge:
Carola Westermeier, Soziologin und Vertretungsprofessorin am Institut für Politikwissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt;
Michèle Knodt, Politikwissenschaftlerin Professorin an der TU Darmstadt;
Rolf Langhammer, Ökonom am Institut für Weltwirtschaft Kiel;
Thomas Apolte, Wirtschaftshistoriker und Professor an der Universität Münster
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Sie war ein Star, die erste wilde, selbstbewusste, schwarze Sexbombe Europas. Aber sie kämpfte auch für die Freiheit im französischen Untergrund. Und ihre "Regenbogenfamilie" sollte ein Zeichen setzen für friedliches Zusammenleben. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Katalin Fischer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Axel Wostry
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Petra Hermann-Böck
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Burlesque ist am Ende des 19. Jahrhunderts in den USA entstanden und hatte ihren Höhepunkt im New York der 1930er Jahre. Burlesque ist viel mehr als ein glamouröser Striptease: die Tänzerinnen erzählen humorvolle, oft emanzipatorische, Geschichten, feiern Weiblichkeit und Erotik mit einem Augenzwinkern.
Autor/in dieser Folge: Birgit Magiera
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Burchard Dabinnus, Franziska Ball, Peter Veit, Kia Ahnsen
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Andrea Bräu
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Literaturtipps:
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Ihr Überleben verdankte Anita Lasker-Wallfisch wohl nur der Tatsache, dass sie Cello spielen konnte. Als Cellistin im Mädchenorchester von Auschwitz überlebte sie das NS-Vernichtungslager. (BR 2014)
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christoph Jablonka, Caroline Ebner, Peter Weiß
Technik: Cordula Wanschura, Monika Gsänger
Redaktion: Thomas Morawetz
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Judentum in NS-Deutschland - Entrechtet, deportiert, ermordet
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Eingeschleust nach Auschwitz - Witold Pilecki
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Das Tagebuch der Anne Frank
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Mythen entstanden in allen Kulturen, sie sind faszinierend und gefährlich zugleich: Sie liefern den Menschen Symbole und Modelle für eigene Konflikte, Übergänge und sie können Orientierungshilfe sein. Von Geseko von Lüpke (BR 2017)
Credits:
Autor dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Christian Baumann, Ruth Geiersberger, Carsten Fabian
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
In diesen Folgen erzählt radioWissen spannende Mythen aus Religionen und Kulturen:
Wahrheit oder Legende? Den Heiligen Drei Königen auf der Spur. Die christliche Tradition kennt zahlreiche Legenden über die drei Weisen aus dem Morgenland. Gab es sie wirklich? Oder sind sie eine christliche Erfindung? Was wir heute wirklich über die Heiligen Drei Königen wissen können. Autorin: Barbara Schneider
Credits
Autor/in dieser Folge: Barbara Schneider
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel, Stefan Wilkening
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Simone Paganini (Professorin; für Biblische Theologie an der RWTH, Aachen Aachen);
Manfred Becker-Huberti (römisch-katholischer Theologe und Brauchtumsforscher);
Manuela Beer (Stellvertretende Direktorin am Museum Schnütgen in Köln);
Ansgar Wucherpfennig (Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt);
Jana Steuer (Astrophysikerin)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Die Weihnachtskrippe - Szenerie der Menschwerdung
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Der Stern von Bethlehem - Wegweiser des Himmels
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Hugo Kehrer, Die Heiligen Drei Könige in Literatur und Kunst, 1. Band, Leipzig 1908.
Hans Hofmann, Die Heiligen Drei Könige, Ludwig Röhrscheid Verlag, Bonn 1975.
Manuela Beer u.a. (Hg), Die Heiligen Drei Könige, Mythos, Kunst und Kult, Hirmer Verlag, 2014.
Claudia Paganini/Simone Paganini, Der große Faktencheck zur Weihnachtsgeschichte, Gütersloher Verlagshaus, 2020.
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Das Manuskript zur Folge:
SPRECHER
Norditalien im Jahr 1162. Seit Monaten belagern die Truppen von Friedrich Barbarossa Mailand. Der Stauferkaiser will seine Macht in Norditalien ausbauen und den Einfluss des römischen Papsttums zurückdrängen. Und so hat sein Heer die für den Papst strategisch wichtige Metropole umstellt.
SPRECHER
Die Soldaten brennen die Getreidefelder rund um Mailand nieder. Sie kontrollieren die Handelswege, so dass keine Lebensmittel mehr in die Stadt geliefert werden können. Die Bevölkerung ist dem Hungertod nahe, letztlich bleibt nur die Kapitulation. Mit fatalen Folgen: Barbarossas Heer marschiert in Mailand ein, brennt die Stadtmauern nieder, verwüstet und plündert die Stadt.
01 ZSP BECKER-HUBERTI
Barbarossa ist 1162 runter nach Italien, hat Mailand belagert und erobert.
SPRECHER
Sagt der katholische Theologe Manfred Becker-Huberti. Er forscht zu Brauchtum und Heiligenverehrung im Rheinland.
02 ZSP BECKER-HUBERTI
Und da man in diesen Zeiten keine Honorare oder Gehälter für seine Soldaten bezahlte, hieß es, dass die anschließend die Stadt plündern durften. Und was bei der Plünderung an Sakralem gefunden wurde, das gehört aber dem Feldherrn. Und genau das ist ein Punkt. Man fand nämlich in einer Kirche versteckt Reliquien der Heiligen Drei Könige.
SPRECHERIN
Wie die Reliquien nach Mailand gekommen sind, liegt im Dunkeln. Der Legende nach soll Helena, die Mutter von Kaiser Konstantin, die Gebeine in Palästina um das Jahr 300 entdeckt haben. Für Barbarossa sind die Reliquien ein Glücksfund. Sie helfen ihm dabei, seinen Herrschaftsanspruch gegenüber dem Papst abzusichern. Wer so wertvolle Reliquien besitzt, so das Denken, braucht keinen Papst mehr, sondern seine Herrschaft ist unmittelbar von Gott eingesetzt. Und so bringt sein Kanzler und Vertrauter, der Erzbischof Rainald von Dassel, den kostbaren Fund 1164 nach Köln, was der Stadt bald eine wirtschaftliche und religiöse Blüte beschert.
03 ZSP BEER
Die Ankunft der Reliquien befördert den Reichtum Kölns und damit sozusagen auch die Voraussetzungen für den Bau der gotischen Kathedrale.
SPRECHER
Manuela Beer ist stellvertretende Direktorin am Museum Schnütgen in Köln. 2014, zur 850-Jahr-Feier der Ankunft der Gebeine in Köln, hat sie eine große Ausstellung zu den Heiligen Drei Königen konzipiert.
04 ZSP BEER
Es kommt ganz viel Geld in die Stadt durch die Pilgerströme, die ziemlich alsbald nach der Ankunft der Reliquien nach Köln ziehen, so dass man auch genötigt war, ein Gehäuse zu schaffen, in dem die Reliquien ansprechend präsentiert werden konnten und den Pilgern die Nähe ermöglicht wurde.
SPRECHER
Nikolaus von Verdun, einer der berühmtesten Goldschmiedemeister seiner Zeit, erhält den Auftrag, einen eigenen Schrein für die Reliquien anzufertigen. Aus allen Ländern der damals bekannten Welt kommen Pilger nach Köln. Aus Belgien, Holland oder Frankreich. Selbst der englische König Edward III. reist an den Rhein, mit wertvollen Geschenken für die Heiligen Drei Könige im Gepäck. Erzbischof Rainald von Dassel spendiert jedes Jahr ein großes Schauspiel zu Ehren der Drei Könige. Eine große Prozession zieht dabei durch die Stadt, in einer Messe werden die Reliquien verehrt. Die Drei Könige werden bald zum Markenzeichen Kölns, drei Kronen sind bis heute Teil des Stadtwappens. Wer allerdings in dem goldenen, mit Edelsteinen verzierten Schrein tatsächlich liegt, ist unklar.
05 ZSP BECKER-HUBERTI
Vor dem 700 Jahres-Jubiläum hat man 1864. … den Schrein geöffnet und dabei mal in den Schrein etwas genauer hineingeschaut und versucht festzustellen, was ist eigentlich drin? Und festgestellt hat man, da war natürlich sehr viel mehr drin ist als das, was man eigentlich meint. Es sind nicht nur die Gebeine von den sogenannten Drei Königen drin, sondern da sind auch Reliquien von anderen. … Jedenfalls: Man hat nicht geordnete Reliquien gefunden. Man hat drei Gebeine gefunden von Personen unterschiedlichen Alters, die dann als die Heiligen Drei Könige gedeutet wurden. Interessant ist, dass genau diese Reliquien in ganz besondere, kostbare Seiden gehüllt waren…. Damast, das ist Luxus, den es in der Zeit des zweiten bis vierten Jahrhunderts gab. Das heißt, offensichtlich sind diese Gebeine uralt, aber näher untersucht wurden sie eigentlich nie.
SPRECHERIN
Dass es die Drei Heilige Könige so wirklich gegeben hat, ist mehr als fraglich. Belege dafür, dass die Reliquien echt sind, gibt es nicht. Einzige historische Quelle ist das Matthäusevangelium, und das erzählt eine ganz andere Geschichte. Von drei Königen ist in der Bibel an keiner Stelle die Rede.
ZITATOR (Matthäus 2, 1-2)
Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten.
06 ZSP PAGANINI
Es kommen auf Griechisch „Magoi ton Anatolion“, also Magier … Das waren in der altorientalischen Tradition so etwas wie Astronomen oder Astrologen. Um sich das etwas besser vorstellen zu können: sie waren so etwas wie Priester, die natürlich durch die Beobachtung der Gestirne versucht haben, den Willen der Götter irgendwie für sich zu erschließen. Und diese Magier kommen aus dem Orient.
SPRECHERIN
Die biblische Erzählung berichtet von Sterndeutern, nicht von Königen oder Herrschern. Dazu werden die Astronomen aus dem Osten erst in Legenden im 6. oder 7. Jahrhundert, sagt Simone Paganini, Professor für Biblische Theologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Er vermutet dahinter den Versuch, den neugeborenen Jesus in ein würdiges Umfeld zu stellen und gewissermaßen seine Geburt im Stall aufzuwerten. In den ältesten erhaltenen Darstellungen findet sich diese Interpretation jedoch nicht.
07 ZSP BEER
Die frühesten Bilder der Magier, die zur Anbetung des Kindes herbeieilen, sind an der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert entstanden. Und die sehen ganz anders aus wie die Bilder, die wir jetzt sofort im Kopf haben, wenn wir an die Heiligen Drei Könige denken - kostbar gewandelte Herrscherpersönlichkeiten mit den Kronen auf dem Kopf -, sondern es sind mit langem Strumpfhosen bekleidete, mit kurzen Tuniken gegürtete und mit sogenannten phrygischen Mützen auf dem Kopf herbeieilende Männer und diese phrygischen Mützen, die sehen so ein bisschen aus wie so Zipfelmützen oder wie so Nikolausmützen, wie wir uns das vorstellen. Und das war der Darstellungs-Typus, den man aus der Antike genommen hat.
So stellte man die unterworfenen fremdländischen Völker dar, also Orientalen, die sich dem römischen Kaiser unterwarfen.
SPRECHER
Die Christenheit ringt von Anfang an darum, wie sie sich die biblischen Figuren vorstellen soll, sagt die Kunsthistorikerin Manuela Beer. Elfenbeintafeln, Skulpturen, Goldschmiedearbeiten und Gemälde zeigen die Heiligen Drei Könige mal zu Pferd, mal mit Krone auf dem Kopf, mal mit schlichtem Hut, mal mit prächtigem, exotischem Gewand, mal mit einfachem Umhang. Um die biblische Erzählung entstehen zahlreiche Legenden. Manche kennen drei Könige andere sprechen von vier, wieder andere berichten von zwölf Königen, die zur Krippe nach Bethlehem kommen.
SPRECHERIN
Wie viele Personen es letztlich waren, darüber kann heute nur spekuliert werden. Das lässt das Matthäus-Evangelium offen, sagt Ansgar Wucherpfennig, Professor für Exegese des Neuen Testaments an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main.
08 ZSP WUCHERPFENNIG
Die Zahl der Sterndeuter ist nicht angegeben, aber es ist auch möglich, dass Frauen darunter waren, bis zu zehn ist überhaupt kein Problem, dass das eine Gruppe bezeichnet, zu denen auch Frauen gezählt haben können, das ist nicht ausgeschlossen.
SPRECHERIN
Weil die Magier die drei symbolischen Geschenke Gold, Weihrauch und Myrrhe dabeihaben, schlussfolgert der Kirchenvater Origenes schon im dritten Jahrhundert: Es müssen drei Personen gewesen sein. Die Deutung setzt sich durch. Ein paar Jahrhunderte später entwickelt Augustin die Idee, dass die Sternendeuter nicht aus dem Morgenland, sondern aus allen Himmelsrichtungen und von allen damals bekannten Kontinenten kommen. Theologisch will er damit sagen: Die ganze Welt verneigt sich vor dem Kind in der Krippe. Schließlich beginnt man, den Königen Namen zu geben.
MUSIK weiter:
SPRECHER/SPRECHERIN (im Wechsel)
Apellus, Amerus, Damasius
Galgalat, Balthasar, Melchior
Minsuram, Badsiba, Likon
Thaddadia, Melchior, Balytora
Wiscara, Melikona, Walastar
Tanisuram, Mika, Sisisba
Gaspar, Baldesar, Melchion
09 ZSP BECKER-HUBERTI
Irgendwann sind die Namen dann auf Caspar, Melchior und Balthasar festgelegt.… Es kommen drei Altersstufen dazu. Das heißt nun, sie sind unterschiedlich alt. Der Vornehmste ist der Dunkelhäutige und der Jüngste. Und dann ist der Melchior, der Mittelalte, und der Caspar ist der Älteste. Das ist der Europäer, dann hat man, um sie den Kontinenten zuzuordnen Asien, Afrika und Europa mit entsprechenden Reittieren ausgestattet, nämlich dem Dromedar, dem Kamel und dem Pferd.
SPRECHER
In der Volksfrömmigkeit spielen die Drei Könige eine wichtige Rolle. In Rouen, Freising, Madrid, Zagreb, Padua oder Neapel entstehen im Mittelalter Prozessionen, bei denen prunkvolle Dreikönigsumzüge durch die Städte ziehen. Am Dreikönigstag wird bei einem großen Festmahl ausgelassen gefeiert.
Im Mittelalter ist aber auch der Glaube weit verbreitet, dass die Drei Könige magische Kräfte besitzen. Mit Gold, Weihrauch und Myrrhe sollen sich alle möglichen Leiden kurieren lassen. Die Menschen des Mittelalters lösen sogenannte Dreikönigskreide in Wein auf, um damit Krankheiten zu heilen. Sie glauben an die Kraft eines Dreikönigswassers, das Wunder bewirken soll. Und: Die Drei Könige sollen böse Geister fernhalten können.
10 ZSP BECKER-HUBERTI
Die schlimmste Rauhnacht war, das heißt, die Geister tobten ganz besonders, und man musste dann das Haus ausräuchern. Etwas, was bis zum heutigen Tag ja noch in vielen Gegenden Deutschlands geschieht. Denn dieser Weihrauch, das ist das Parfum Gottes, und das vertragen die Dämonen nicht. Deshalb haben sie keine Chance, dagegen anzukommen. Hinzu kommt, dass man das Zeichen der Dreikönige benutzte, um die Dämonen abzuhalten. Es gab Wetterglocken in vielen Kirchen, die läutete man, … weil man dieses Unwetter auf diese Art und Weise bannen wollte. Wenn man mit der Wetterglocke läutete, musste das Unwetter verschwinden und auf diesen Glocken angebracht war in der Regel auch ein Zeichen der Heiligen Drei Könige, oft ein Wallfahrtszeichen, das man aus Köln mitgebracht hatte. Und diese Belege gibt es quer durch Europa.
SPRECHERIN
Die Legendenbildung kennt keine Grenzen. Gleichzeitig haben aber Theologen und Naturwissenschaftler immer wieder versucht, historische Fakten aus der biblischen Erzählung abzuleiten und letztlich auch damit einen Beleg für die historische Existenz der Weisen aus dem Morgenland zu finden. Besonders der Stern von Bethlehem, von dem die biblische Geschichte erzählt, hat dabei zu Theorien und Erklärungsversuchen angeregt.
ZITATOR (Matthäus 2, 9-11)
Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. Als sie den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe.
11 ZSP BECKER-HUBERTI
Wenn Sie sich heute Krippen anschauen, gemalt, gebastelt, gebaut, dann haben sie meistens einen Stern mit Schweiß, der kometenartig aussieht. Wir wissen heute, dass die Geburt Jesu nicht zu dem Zeitpunkt stattgefunden hat, der der Zeitrechnung zugrunde liegt, also im Jahr Null, sondern vier bis sechs Jahre früher, weil es ein Rechenfehler bei der Zusammenstellung der Jahre gegeben hat. Und wenn man dies untersucht und den Himmel untersucht durch die entsprechenden Fachleute, dann stellt man fest, dass es eine Konstellation am Himmel gegeben hat, … die ist unter den entsprechenden Fachleuten der damaligen Zeit gedeutet worden, dass im Reich der Juden ein König neu geboren wird.
SPRECHER
Über die Jahrhunderte hinweg haben sich Astronomen und Theologen den Kopf darüber zerbrochen, was es mit dem Himmelsphänomen auf sich hat. War der Stern von Bethlehem ein Komet, wovon schon der Theologe Origenes im dritten Jahrhundert nach Christus spricht? Oder war er eine Supernova, also ein sterbender Stern, der am Nachthimmel explodiert ist?
SPRECHERIN
Beide Theorien hält die Astrophysikerin Jana Steuer von der Münchner Volkssternwarte - wie die meisten Astronomen heute - für unwahrscheinlich. Noch eher, sagt sie, kann es sich um eine Planeten-Konjunktion gehandelt haben. Also eine optische Täuschung, bei der sich mehrere Planeten scheinbar ganz nahekommen.
12 ZSP STEUER
wenn es eine Supernova oder ein Komet gewesen wäre, dann müssten wir das in anderen Aufzeichnungen finden. Also wir müssten andere Berichte aus der Zeit haben eben, und nicht nur diese Geschichte von Jesu Geburt, die von von solchen Ereignissen sprechen. Das müsste anderen Menschen aufgefallen sein, und das fehlt einfach. Was wir aber haben, sind babylonische Aufzeichnungen über eben eine große Konjunktion sieben vor Christus. In der Zeit wird ja auch ungefähr Jesu Geburt vermutet.
SPRECHER
Im Jahr sieben vor Christus, sagt Jana Steuer, haben sich Jupiter und Saturn sehr nahe aneinander vorbei bewegt. Diese Planeten-Konjunktion dürfte damals aufgefallen sein und könnte eine Erklärung für den Stern sein, dem die Weisen aus dem Morgenland gefolgt sind. Beweisen lässt sich das allerdings nicht, dass die Magier aus dem Orient tatsächlich dieses Himmelsphänomen beobachtet haben.
13 ZSP STEUER
Es bleiben viele Fragen offen. Wir wissen eben, dass diese Konjunktion stattgefunden hat. Was das Problem an dieser Konjunktionstheorie ist, Jupiter und Saturn kamen sich zwar damals sehr nahe, aber sie kamen sich gewiss nicht so nahe, dass man sie für einen einzigen Stern hätte halten können. Das heißt, man muss deutlich damals auch gesehen haben, dass das zwei getrennte Objekte am Himmel sind. Letztendlich, glaube ich, ist es zumindest aus astronomischer Sicht so, dass wir halt nur sagen können das einzige astronomische Phänomen, von dem wir wissen, dass das stattgefunden hat, ist diese Konjunktion. Supernova und Kometen gibt es einfach keinerlei Beweise dafür. Und dann muss man sich natürlich einfach auch als eine religiöse Geschichte darauf berufen, dass das Ganze halt eine symbolische Aussagekraft haben sollte und dementsprechend wahrscheinlich auch dramatisiert wurde.
SPRECHER
Für den Stern gibt es deshalb noch eine ganz andere Erklärung. Immer wieder finden sich in der antiken Welt Berichte darüber, wie eine Himmelserscheinung die Geburt einer wichtigen Persönlichkeit ankündigt. Als Alexander der Große zur Welt kam, soll ein sehr heller Stern am Himmel erschienen sein.
Bei der Geburt des Herrschers Mithridates des Großen im zweiten Jahrhundert vor Christus soll 70 Tage lang ein Stern am Himmel geleuchtet haben. Auch über Augustus gibt es ähnliche Erzählungen. Hat der Stern also rein symbolischen Charakter?
SPRECHERIN
Solche Himmelserscheinungen dienen in der Literatur dazu, auf ein besonderes Ereignis aufmerksam zu machen, sagt der Bibelwissenschaftler Simone Paganini. Auch die Erzählung von den Sterndeutern aus dem Morgenland, die den Stern von Bethlehem gesehen haben, lässt sich so interpretieren. Und nicht nur das: Wer sich die biblische Erzählung anschaut, findet immer wieder Motive, die es auch in anderen Religionen und Erzählungen gibt. Etwa wenn sich die Sterndeuter aus dem Morgenland auf den Weg nach Bethlehem zu Jesus, dem Sohn Gottes, machen.
14 ZSP PAGANINI
Wenn wir zum Beispiel, die Geburt von Buddha anschauen, passiert genau das gleiche. Es kommen wichtige Leute, die ihn huldigen. Es ist … also etwas was immer wieder wiederholt wird. Das Gleiche gilt übrigens für die Geschichte. Herodes hat alle kleine Kinder getötet, um Jesus zu töten. Das ist ein Topos, also, wenn wichtige Leute geboren werden, die … sind in Gefahr, und die müssen gerettet werden. Und das finden wir nicht nur in der Mythologie. In der griechischen Mythologie Herkules zum Beispiel. Der wird geboren. Er wird in seine Krippe gelegt und es kommen zwei Schlangen, die ihn fressen wollen.
SPRECHERIN
Also doch alles Legende? Ein Mythos, der sich so oder ähnlich auch in anderen Religionen findet?
Und der die besondere Rolle und Bedeutung von Jesus unterstreichen soll? Bei der biblischen Geschichte geht es vor allem um die theologische Aussage, so Professor Ansgar Wucherpfennig.
15 ZSP WUCHERPFENNIG
Das, was beschrieben wird, ist ziemlich klar ein Wunder. Natürlich haben immer wieder Astronomen danach gesucht, ob es ein astronomisches Phänomen ist, mit dem man das erklären kann. Das ist eigentlich der Erzählung nach nicht der Fall. Denn es ist ein Stern, der vor den Weisen herwandert, das ist ein Stern, der die Menschen, die keine Juden waren auf ihre Weise zu Jesus dem Messias geführt hat. Und das ist die eigentliche Aussage der Geschichte.
SPRECHERIN
Wer die Sterndeuter waren, davon erzählt die Bibel nichts. Genauso wenig wie davon, aus welcher Stadt sie kamen. Letztlich bewegt sich das Matthäusevangelium im Rahmen theologischer Geschichtsschreibung, sagt deshalb auch der Bibelwissenschaftler Simone Paganini.
16 ZSP PAGANINI
Da wird jemand geboren. Jemand, der ganz wichtig ist, nämlich Jesus, und sogar aus diesem fernen Land gibt es Priester, die die Zukunft voraussehen können, indem sie den Himmel anschauen, und weil sie einen Stern sehen erkennen sie: Da ist etwas Wichtiges passiert. Dass es solche Menschen gab, das ist historisch - also, es gab solche Priester, ob die wirklich jemals einen Stern gesehen haben, genau zu der Zeit, wo Jesus geboren ist …..da sind wir nicht mehr in der historischen Quellenauswertung, sondern, da sind wir in der ersten Legendenbildung.
SPRECHERIN
Über die Jahrhunderte hinweg wurde diese erste Legende immer weiter ausgeschmückt. Aus den Sterndeutern wurden Könige, die später die verschiedenen Erdteile und Altersstufen repräsentierten. Sie erhielten Namen. Ihre Reliquien werden bis heute in Köln verehrt. Wer die Heiligen Drei Könige allerdings tatsächlich waren, bleibt letztlich Glaubenssache.
Als Maria Mitchell 1847 zufällig einen Kometen entdeckte, der bis heute "Miss Mitchell´s Komet" genannt wird, wurde die Hobbyastronomin und Bibliothekarin auf einen Schlag berühmt. Mitchell, die nie eine Universität besucht hatte, sondern ihr Wissen aus Büchern bezog, wurde die erste weibliche Astronomie-Professorin in den USA. Sie setzte sich fortan auch für Frauenrechte ein und gründete verschiedene Organisationen mit, um die Bildung von Frauen zu verbessern. Denn, wenn eine Frau Erfolg haben will, so soll Mitchell gesagt haben, muss sie mehr leisten als ein Mann. (BR 2014)
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Dr. Iris Traulsen, Astrophysikerin am Leibniz-Institut in Potsdam.
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DAS KALENDERBLATT
Literaturtipps:
Er wollte an die Quellen des Orinoco vordringen, was ihm nie gelingen sollte. Doch für seine ethnographischen Studien, seine lebendigen Beschreibungen und seine exzellenten Fotografien wurde er berühmt: Theodor Koch-Grünberg war einer der großen Pioniere der deutschen ethnologischen Amazonasforschung.
Autor/in dieser Folge: Ulrike Prinz, Michael Kraus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Johannes Hitzelberger, Clemens Nicol, Patrick Zeilhofer
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
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Sie wollen mehr über Entdecker, Forscher und Expeditionen erfahren? RadioWissen hat weitere spannende Folgen zum Thema:
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Das Thema "Energiesparen" ist zwar hochaktuell, aber es ist keine Erfindung dieser Zeit. Schon vor über 2000 Jahren hat der Philosoph Sokrates Häuser beschrieben, die so gebaut waren, dass die Sonne das ganze Jahr über für behagliche Temperaturen sorgen konnte. Die Menschen haben sich immer erst dann wieder Gedanken darüber gemacht, wenn die Brennstoffe - also Holz oder später Kohle und Öl - schwieriger zu bekommen waren und teurer wurden. Ein Rückblick von David Globig. (BR 2011)
Autor/in dieser Folge: David Globig
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Johannes Hitzelberger
Technik: Gerda Kuhn
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Anfang 1917 bricht in Sankt Petersburg eine Hungerrevolte aus. Bis zum Herbst wird daraus die bolschewistische Revolution Lenins. Sie beseitigt das Zarentum und propagiert die Herrschaft von Räten, den Sowjets. (BR 2014)
Wir empfehlen außerdem eine spannende Staffel von ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN:
Auch hörenswert zum Thema:
Die Rauhnächte - diese Zeit zwischen den Jahren - nirgendwo sonst im Jahr fühlten sich die Menschen den magischen Mächten so nahe. Und wo Percht, Drud oder gar die Wilde Jagd ihr Unwesen treibt, gilt es gewappnet zu sein. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Johannes Marchl
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Julia Fischer, Peter Weiß
Technik: Robin Auld
Redaktion: Bernhard Kastner
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Freilebende Raubtiere in Deutschland? Die größten sind die Kegelrobben, niedlich als flauschige Heuler, bissig, sobald sie erwachsen sind und ihren Harem verteidigen. Seit die Jagd auf sie verboten ist, vermehren sie sich rapide. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Mechthild Müser
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Andreas Discherl
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernahrd Kastner
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Linktipps:
Schweinswale sind die einzige in Deutschland heimische Walart. Doch die kleinen Meeresbewohner sind in Not: Stellnetze, Kies- und Sandabbau, Bohrinseln, Unterwasserlärm und Umweltgifte bedrohen die Tiere.
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Bernhard Kastner
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Die Kegelrobbe - Deutschlands größtes Raubtier
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Das Seepferdchen - Ein ganz besonderer Fisch
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Wale - Faszinierende Wanderer der Ozeane
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Der Narwal - Einhorn des arktischen Ozeans
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Podcasttipp:
"Tierisch! – Entdeckungsreise in die wilde Welt der Tiere" - Der erste lustig-leichte, zoologischen Plauderpodcast mit bodenlos wissenschaftlicher Tiefe. Moderiert von Lydia Möcklinghoff und Dr. Frauke Fischer, zwei wildnisverrückten Abenteurerinnen und studierten Zoologinnen. Hier geht es zum Podcast:
EXTERNER LINK | https://weltwach.de/tierisch/
Linktipps:
Ein interessanter Artikel des Naturschutzbunds Deutschland e.V.:
NABU | Schweinswale als Opfer verfehlter Meerespolitik
EXTERNER LINK | https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/meere/lebensraum-meer/30886.html
Erkunden Sie die Nordsee mit dem interaktiven Angebot des Naturschutzsbunds Deutschland e.V.:
NABU | Nordsee LIFE
EXTERNER LINK | https://www.nordseelife.de/de/
Das Bundesamt für Naturschutz hat mehr Fakten zum Schweinswal:
BFN | Phocoena phocoena - Schweinswal
EXTERNER LINK | https://www.bfn.de/artenportraits/phocoena-phocoena
Ein lesenswerter Artikel zu Beifängen in der Stellnetzfischerei:
THÜNEN | Beifänge in der Stellnetzfischerei:
EXTERNER LINK | https://www.thuenen.de/de/themenfelder/fischerei/beifang-und-andere-nebenwirkungen/beifaenge-in-der-stellnetzfischerei
Mehr Infos zu akustischen Warngeräte für Schweinswale finden Sie auf der Seite des Bundesamts für Naturschutz:
BFN | Wie wirksam sind akustische Warngeräte für Schweinswale?
EXTERNER LINK | https://www.bfn.de/aktuelle-meldungen/wie-wirksam-sind-akustische-warngeraete-fuer-schweinswale
Literaturempfehlung:
Ist "hochsensibel" eine freundlich gemeinte Umschreibung für besondere Dünnhäutigkeit und eine niedrige Belastungsgrenze? . Forscher sind dem Phänomen "Hochsensibilität" seit einigen Jahren verstärkt auf der Spur. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Christian Baumann, Katja Amberger, Beate Himmelstoß
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Susanne Poelchau
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Die Softwarepionierin Grace Murray Hopper war schon zu Lebzeiten eine Legende. Sie glänzte in zwei Domänen, in denen bislang nur Männer das Sagen hatten - beim Militär und in der Informatik. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Christian Jungwirth, Hemma Michel
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
180 Milliarden US-Dollar, so viel hat die Games-Branche 2021 weltweit umgesetzt. Computerspiele boomen - und das seit Jahren. Dabei fing alles ganz klein an, mit einem eckigen Ball und zwei Strichen als Schläger.
Autor/in dieser Folge: Christian Schiffer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Martin Trauner
Eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
Alltagsmanipulation durch Spiele - Trend Gamification
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Räuchern ist "in"! Und das nicht erste seit Corona. Schon seit Menschengedenken wollen Priester und Schamanen mit dem Rauch reinigen, heilen, segnen. Denn wo es gut riecht, ist das Böse fern.
Autor/in dieser Folge: Johannes Marchl
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christoph Jablonka, Christiane Roßbach, Patrick Zeilhofer, Katja Schild
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Literaturtipps:
Wo fängt Russland an, wo hört es auf? Für die Ideologen im Kreml hat es keine klaren Grenzen. Denn sie propagieren den "Russkij Mir" - die Russische Welt: eine imperiale Idee, deren Wurzeln ins Zarenreich zurückreichen und die den Nachbarn heute Krieg und Zerstörung bringt.
Autor/in dieser Folge: Jerzy Sobotta
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel, Christopher Mann
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Thomas Morawetz
Eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
Außerdem empfehlen wir folgenden Artikel von BR24:
Literaturtipps:
Der unglaubliche Wert von Zobel- und Fuchspelzen lockte Trapper und Kosaken in die Weiten Sibiriens. Auf der Suche nach neuen Jagdgründen stießen sie bis zum Pazifik vor. Dicht gefolgt vom wachsenden Verwaltungsapparat des Zaren. Doch für den Profit des aufsteigenden Weltreichs bezahlten Jagdtiere und sibirische Indigene einen hohen Preis.
Autor/in dieser Folge: Fiona Rachel Fischer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Johannes Hitzelberger
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
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Allein in Deutschland werden jedes Jahr rund 1500 Fälle von Legionärskrankheit gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte aber weit darüber liegen. Größere Warmwasseranlagen werden deshalb regelmäßig kontrolliert: Ist das Wasser heiß genug, um Legionellen in den Leitungen abzutöten? Und wie viele der Bakterien findet man in Wasserproben? (BR 2021)
Autor/in dieser Folge: David Globig
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Birnstiel
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Matthias Eggert
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Weitere interessante Folgen von radioWissen:
Spanende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BR PODCAST | BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Demütigungen, also verletzende Herabsetzungen der menschlichen Würde und die Verweigerung des Respekts, verletzen zutiefst und können sogar die Ursache für kriegerische Auseinandersetzungen sein. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Rolf Cantzen
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Stefan Merki
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Bernhard Kastner
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Am Anfang steht meistens eine Diät. Danach geraten nicht wenige Mädchen und junge Frauen in einen Teufelskreis aus Essens-Verzicht, der sie immer stärker hungern lässt. Und trotz aller unterschiedlichen Therapieversuche, gelingt es nur rund die Hälfte aller von Magersucht Betroffenen zu heilen.
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Die Vernunft bringt die Wahrheit ans Licht - dieser programmatische Satz kennzeichnet eine Denkepoche, die man als Aufklärung bezeichnet. Sie begann bereits im 17. Jahrhundert. (BR 2009)
Autor/in dieser Folge:Michael Reitz
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Detlef Kügow, Andreas Neumann, Gert Heidenreich
Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Der Haushalt als zentrale Institution menschlichen Zusammenlebens hat viel Wandel erlebt, bedingt durch Industrialisierung, aushäusiger Erwerbsarbeit und einem veränderten Rollenverständnis von Frauen. Von Brigitte Kohn (BR 2017)
Credits:
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Ilse Neubauer, Gerd Anthoff, Diana Gaul
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Thomas Morawetz
Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Von der Romantik bis in unsere Tage hinein hat die Lebensform Ehe manchen Wandel mitgemacht und die Handlungsspielräume für Ehemänner und Ehefrauen, für Familien und Kinder sehr verändert. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Renate Kiesewetter
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Detlef Kügow, Katja Amberger, Rainer Buck
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
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Über 300 Millionen verkaufte Alben: Das Londoner Quartett ist eine der wichtigsten Bands des Hard- und Bluesrock. Trotzdem weigerten sich britische Kritiker lange, die Leistungen der Gruppe zu würdigen.
Autor/in dieser Folge: Markus Mayer
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Sabine Gietzelt, René Dumont
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Literaturtipps:
Unser Körper ist intelligent. Bei Verletzungen wie Schnittwunden oder Knochenbrüchen kann er sich oft selbst heilen. Dann tritt ein ausgeklügeltes System an Botenstoffen, Struktur- und Reparaturzellen in Aktion. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Yvonne Maier
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Gerda Kuhn
Wie viele Schwächen dürfen Helden haben und wie dunkel der Schatten sein, den diese übermenschlich wirkenden Figuren werfen? Von Volodymyr Selenskij über Coco Chanel bis hin zu Jan Ullrich: Welche Helden braucht die Welt?
Autor/in dieser Folge: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Thomas Loibl
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Bernhard Kastner
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Literaturtipps:
"O todo, o nada" - alles oder nichts, das ist das Lebensmotto der spanischen Mystikerin Teresa von Avila. Ihre Reform des Karmeliten-Ordens bringt sie ins Visier der Inquisition, aber dieses "herumstreunende, halsstarrige Weib", wie der päpstliche Nuntius sie nennt, ist durch nichts zu beirren. Tiefe mystische Erfahrung, verbunden mit Tatkraft, Humor und einer genialen Begabung für Freundschaft machen Teresa zu einer einzigartigen spirituellen Inspiration, auch für Kirchenferne. Communicacíon viva - lebendige Kommunikation, so wird ihre Persönlichkeit beschrieben, das macht ihre zeitlose Anziehungskraft aus. (BR 2009)
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Caroline Ebner, Detlef Kügow
Redaktion: Bernhard Kastner
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Die Erfahrung des Wunderbaren und das Erkenntnisinteresse moderner Wissenschaft sind schwer in Einklang zu bringen. In einer säkularisierten Welt haben es Wunder schwer. Trotzdem ist das Wunderbare immer noch wichtig für die Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Stephanie Schönfeld, Sven Hussok, Katja Schild
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Als die Schwedische Akademie Boris Pasternak am 23. Oktober 1958 den Literaturnobelpreis zusprach, reagierte der zunächst enthusiastisch. Er sei "unendlich dankbar, bewegt, stolz, verrückt und verwirrt", schrieb er nach Stockholm. Doch dann traf ihn ein harter Schlag: Die Sowjetunion verbot ihm, Preis anzunehmen. (BR 2009)
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Petra Hermann-Boeck
Es sprachen: Andreas Neumann, Peter Fricke, Friedrich Schloffer, Detlef Kügow
Technik: Marcus Huber
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Ded Moroz, besser bekannt als "Väterchen Frost", ist eine Märchenfigur, die den russischen Kindern Geschenke bringt. Allerdings macht Väterchen Frost das nicht zu Weihnachten, sondern zu Neujahr: Ein Relikt aus sowjetischer Zeit, denn das kommunistische Regime hielt nicht viel von Bräuchen an Weihnachten.
Autor/in dieser Folge: Julia Smilga
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Christian Baumann, Beate Himmelstoß, Katja Amberger, Patrick Zeilhofer
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Andrea Bräu
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Literaturempfehlung:
Rituale strukturieren Alltag und Festlichkeiten, sie geben Geborgenheit und spenden Trost. Was unterscheidet Rituale von Gewohnheiten? Und: Gibt es einen Archetyp, der jedem Ritual innewohnen muss? (BR 2014)
Autor/in dieser Folge: Verena Fiebiger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Anne-Isabelle Zils
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Nicole Ruchlak
Als am 1. Juli 1990 DDR-Bürger erstmals D-Mark von ihren Konten abheben können, ist der Jubel riesig. Für die ostdeutsche Wirtschaft hatte die schnelle Währungsunion aber nicht nur Vorteile. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Axel Wostry, Katja Amberger, Carsten Fabian
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
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Auch in der DDR gab es in den 1980er Jahren eine Szene von Computerbegeisterten. Sie haben an der Hardware gebastelt, Spiele programmiert und sich in Computerclubs getroffen. Nur einen Datenaustausch zwischen Computern gab es nicht...
Autor/in dieser Folge: Katja Hanke
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Andrea Bräu
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Literaturtipps:
Ein Mensch stirbt. Während die Organfunktionen erlöschen, scheinen Füße und Hände auszukühlen. Die Haut wird wächsern. Noch ein, zwei rasselnde Atemzüge.... Dann steht das Herz still. Minuten später tritt der Hirntod ein. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie:Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Carsten Fabian
Technik: Clemens Kamp
Redaktion: Susanne Poelchau
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Der Esel ist eine besonders schillernde Kreatur. Einerseits haftet ihm der Ruf an, störrisch, dumm, faul zu sein, andererseits verlassen sich Menschen seit Jahrtausenden auf seine Zuverlässigkeit und Stärke. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Burchard Dabinnus
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Wild und fruchtbar wie ein Stier ist er nicht, dafür hat er andere Qualitäten. Der Ochse ist friedfertig, zog früher Pflug und Wagen über weite Strecken. Und Weihnachten steht er neben dem Kollegen Esel jedes Jahr in der Krippe. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Hans Jürgen Stockerl, Sven Hussock, Jennifer Güzel
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Bernhard Kastner
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Darf man unheilbar Kranken beim Sterben helfen? Diese Frage beschäftigt immer wieder Medizinethik, Politik und Justiz. Und sie berührt das Menschenbild einer Gesellschaft. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Beate Meierfrankenfeld
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Franziska Ball, Christian Baumann, Stefan Merki, Martin Fogt
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
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Ab dem frühen 15. Jh. setzten Kolonialmächte auf Zwangsmigration, um Länder zu besetzen und deren Reichtümer wirtschaftlich auszubeuten. Bis in die 1950 waren hunderttausende Strafgefangene auf Inseln, in Grenzregionen oder abgeschiedene Gebiete geschickt worden. Ein Ort war Ushuaia in Argentinien.
Autor/in dieser Folge: Lisa Pausch
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Diana Gaul, Andreas Neumann, Patrick Zeilhofer
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Wir empfehlen eine hörenswerte Folge von ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN:
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DAS KALENDERBLATT
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
Literaturtipps:
Der schwedische Nationaldichter und Liedermacher des Barock Carl Michael Bellman (1740 bis 1795) wird auch in Deutschland noch heute geliebt und interpretiert. In seinen Lieder geht es um Liebe, Schnaps und Tod. Von Rolf Cantzen (BR 2018)
Autor dieser Folge: Rolf Cantzen
Regie: Petra Hermann-Böck
Es sprachen: Stefan Merki, Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Petra Hermann-Böck
RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Barock:
Georg Philip Telemann war erfolgreich, populär, ein Innovator, der Brücken zum anbrechenden Rokoko schlug, ein Künstler, der als "bürgerlicher Unternehmer" den Beruf des Komponisten neu ausrichtete. Zwar steht Telemann im heutigen Musikleben eindeutig im Schatten von Bach und Händel, jedoch sagt dies nur wenig über die herausragende Bedeutung aus, die der Magdeburger während des Spätbarock in Deutschland inne hatte. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Markus Vanhoefer
Es sprachen: Michael Tregor, Hans Jürgen Stockerl, Carsten Fabian
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Petra Hermann
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Im Oktober 1973 waren Erdöl und Benzin wegen des Nahost-Krieges mit einem Mal fast doppelt so teuer wie noch kurz zuvor. Weltweit begann ein Umdenken. Benzin sollte gespart und Kernenergie gefördert werden. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Christian Schaaf
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Detlef Kügow
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Eine weitere spannende Folge von radioWissen zum Thema:
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Katar - ein kleiner Staat, der zur Fußball-WM 2022 groß rauskommt: Von Menschenrechtsaktivisten gebrandmarkt, von Wirtschaftspolitikern hofiert erregt er die Gemüter, aber was ist seine Geschichte? Bettina Weiz mit den Hintergründen.
Autor/in dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Irina Wanka, Florian Schwarz, Christopher Mann, Katja Schild
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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RadioWissen hat noch eine weitere spannende Folge über die Geschichte der Region:
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Historiker sind sich heute einig: Deutsche Truppen haben zu Beginn des 20.Jh. den Stamm der Herero beinahe ausgerottet, die Nama zu Tausenden ermordet - aufgrund rassistischer Überzeugungen. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Carsten Fabian, Yvonne Hummel
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak
Guido von Arezzo, ein Benediktinermönch, war es, der vor 1000 Jahren ein System erfand, um Klänge auf Papier zu verewigen. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Markus Vanhoefer
Es sprachen: Katja Amberger, Hans Jürgen Stockerl, Stefan Wilkening, Peter Weiß
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Andrea Bräu
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Warum erinnert sich jeder an Franz Josef Strauß und nur wenige an Alfons Goppel? Eine gute Frage! Schließlich gelang Bayern unter Goppel, der länger regierte als jeder andere Ministerpräsident, der Aufbruch in die Moderne.
Autor/in dieser Folge: Hans Hinterberger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Werner Härtl, Ruth Geiersberger
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
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Eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
Der Anfang der CSU - Richtungskämpfe und Lehrjahre
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Die Geschichte der CSU ist eine Erfolgsgeschichte. Und doch verliefen die ersten Jahre nach der Neugründung 1945/46 holprig - mit erbitterten Richtungskämpfen und persönlichen Fehden. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Hemma Michel, Martin Fogt
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
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Manche Dinge scheint man erst zu bemerken, wenn sie abhanden zu kommen scheinen. Dazu gehört auch unsere Identität. Freundschaft, Geschlecht, Sprache - all das macht Identität aus - und all das verändert sich. Aber wer bin ich (noch), wer sind wir, in diesen sich so rasch wandelnden Zeiten?
Autor/in dieser Folge: Fabian Mader
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christian Baumann, Wolfgang Pregler, Diana Gaul
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
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Nichts bleibt wie zuvor? Philosophie des Umbruchs
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Humanismus - Edel sei der Mensch, hilfreich und gut
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Hanna Ahrendt – Die Banalität des Bösen
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Literaturtipps:
Heinz Abels - Identität, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006
Francis Fukuyama – Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Atlantik, 2020
Caroline Fourest – Generation Beleidigt: Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei (Critica Diabolis), edition TIAMAT, 2020
Friedrich Nietzsche – Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.: Kritische Studienausgabe, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG 1999
Christoph Türcke – Natur und Gender – Kritik eines Machbarkeitswahns, C.H.Beck, 2021
Christoph Türcke – Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft, zu Klampen Verlag, 2014
Max Weber – Wissenschaft als Beruf, Edition Holzinger, 2016
Max Weber – Soziologische Grundbegriffe, Mohr, 1984
Schon die Philosophen der Antike betrachteten die Fähigkeit mit anderen mitzufühlen mit ganz besonderer Aufmerksamkeit. Denn wer sich nicht in andere hineinversetzen kann, für den ist das Zusammenleben schwierig. Psychologen, Psychiater und Neurowissenschaftler haben erkannt, dass Mitgefühl die Grundlage für ein gelingendes Miteinander ist. Wie aber funktioniert Mitgefühl überhaupt? (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Julia Fischer, Johannes Hitzelberger, Hemma Michel
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Susanne Poelchau
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Vertrauen ist elementar! Ohne Vertrauen lebt keine Partnerschaft und keine Gesellschaft. Ohne Vertrauen in uns selbst, können wir keine Entscheidungen fällen. Wie aber lässt sich Vertrauen entwickeln und gewinnen? (BR 2021)
Autor/in dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Robin Auld
Redaktion: Susanne Poelchau
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Käthe Beutler war eine Pionierin. Die Jüdin gehörte zur zweiten Generation Frauen, die an der Berliner Charité Medizin studierten. Sie wurde Ärztin, heiratete, bekam Kinder und praktizierte weiter. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, brachte sie ihre Familie früh in den USA in Sicherheit. Dort erlangte sie allen Schwierigkeiten zum Trotz die Approbation als Ärztin. Käthe Beutler prägte ihre Familie, unter ihnen ein Hämatologe von Weltruf und ein Nobelpreisträger.
Autor/in dieser Folge: Eva Völker
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Irina Wanka, Peter Weiß, Silke v. Walkhoff
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Um 1900 war die Ausbildung für Mädchen bescheiden. Töchter sollten sich eine gute Partie angeln und sich aus dem Berufsleben fernhalten. Kein Wunder, dass die deutsche Frauenbewegung dringend Bildung für Mädchen forderte. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Gabriele Knetsch
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Wiebke Puls, Xenia Tilling, Johannes Hitzelberger
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Thomas Morawetz
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Linktipps:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
Literatur, Musik, Theater - kurz, die Künste werden erst lebendig, wenn man sie teilt. Genau das geschah in den Münchner Salons des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Das inspirierende Gespräch stand im Mittelpunkt dieser Kreise. Wichtig waren auch die Besonderheit der Orte und Rituale.
Autor/in dieser Folge: Astrid Mayerle
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christopher Mann, Hemma Michel
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Andrea Bräu
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Literaturtipp:
Hervorragend recherchierte Geschichte der Münchner Salons. Mit kulturphilosophischer und soziologischer Einleitung. Einzelne Kapitel sind einzelnen Salons, deren Ausrichtung, Besuchern und Eigenarten gewidmet:
"Männer und Frauen sind gleichberechtigt" heißt es im 2. Absatz im Artikel 3 des Grundgesetzes. Eine Selbstverständlichkeit, wie die überwiegende Mehrheit der heute lebenden Deutschen meint. (BR 2007)
Autor/in dieser Folge: Gerda Kuhn
Regie: Susanne Weichselbaumer
Es sprachen: Armin Berger, Sabine Kastius, Christiane Blumhoff, Heiko Rupprecht
Redaktion: Brigitte Reimer
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Nicht nur Glühwürmchen, auch Quallen, Pilze oder Fische leuchten im Dunkeln. Mehr als 10.000 biolumineszente Arten gibt es, die meisten davon in der Tiefsee. Einige dieser Leuchtstoffe kommen in der Medizinforschung zum Einsatz. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Irina Wanka
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
RadioWissen hat noch weitere interessante Folgen zu leuchtenden Tieren:
Nicht nur Chamäleons, der Anglerfisch und Glühwürmchen leuchten unter kurzwelligem Licht, sondern auch Amphibien. Ein Bilck in den spannenden Beitrag von BR24 lohnt sich:
Hat sie noch einen Platz in unserer sachlichen, durchrationalisierten, von unzähligen Regeln geordneten Welt? Fortuna, die Großzügigkeit. In alter Zeit war sie als "Gnade" ein göttliches Vorrecht, dann ein herrschaftliches der Könige. In der christlichen Religion hat sie als "Güte" einen Platz bekommen. Schon die Begriffe "Gnade, Güte, Großzügigkeit" muten merkwürdig verstaubt an, trotzdem ist gerade das 'unverdiente' und unvorhergesehene Glück wichtig für das menschliche Miteinander! (BR 2009)
Autor/in dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Anja Mösing
Es sprachen: Jutta Schmuttermeier, Anja Buczkowski
Redaktion: Bernhard Kastner
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Barmherzigkeit - Wiederentdeckung einer Tugend
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Die Demut - Fessel oder Tor zur inneren Freiheit?
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Pflicht zur Hilfsbereitschaft? - Eine Philosophie des Füreinander
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In früheren Zeiten galt sie als eine der sieben Todsünden. Heute scheint sie zu einem wichtigen gesellschaftserhaltenden Element geworden zu sein - die Habgier. Egoismus und Ellbogeneinsatz, Rücksichtslosigkeit geht vor Gemeinwohl - Phänomene die nur in unserer Zeit vorkommen, in einem Wirtschaftssystem, das auf möglichst hohem Gewinn und Konkurrenzdenken basiert? (BR 2010)
Autor/in dieser Folge: Michael Reitz
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Hemma Michel, Beate Himmelstoß
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen zum Thema:
Charakter und Bestechlichkeit - Die Psychologie der Korruption
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Geiz - Das Gift der Menschlichkeit
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Macht - Philosophische Überlegungen
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Warum machen wir überhaupt Musik? Wie kam sie in unsere Welt - und sind auch Tiere musikalisch? Die Musikforschung weiß heute, Musik ist und war im Laufe der Evolution "nützlich" und konnte sich so durchsetzen. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Martin Schramm
Es sprachen: Andreas Neumann, Peter Lersch
Technik: Atul Barth
Redaktion: Thomas Morawetz
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Spanende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BR PODCAST | BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Die genetische Analyse eines Fingerknöchelchens aus einer Höhle im sibirischen Altai-Gebirge war eine Sensation: Im Jahr 2010 hat sie eine bisher unbekannte, archaische Menschenform zutage befördert - den Denisova-Menschen. Dank neuer genetischer Daten und Knochenfragmenten nimmt er immer mehr Gestalt an. (BR 2021)
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Frank Manhold
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Iska Schreglmann
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Spanende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BR PODCAST | BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Gründe, das Zeitalter des Erdöls zu beenden, gäbe es genug: dreckige Förderung, Klimawandel, politische Abhängigkeit. Aber nach einem Ende sieht es nicht aus. Mehr Kunststoffe sollen den schwindenden Markt für Benzin und Diesel ersetzen. Eine Strategie mit katastrophalen Folgen.
Autor/in dieser Folge: Hellmuth Nordwig
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Herbert Schäfer, Julia Fischer, Carsten Fabian
Technik: Viktor Veress
Redaktion: Matthias Eggert und Yvonne Maier
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
Mumien sind kein rein ägyptisches Phänomen. Man findet sie auch in Europa - in Schlössern, Kirchen und Klöstern. Und Forscher versuchen, die toten Körper mit modernen wissenschaftlichen Methoden zum Sprechen zu bringen. (BR 2010)
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Prisca Straub
Es sprachen: Frank Manhold, Prisca Straub
Redaktion: Miriam Stumpfe, Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Ein hörenswerter Beitrag zur bekanntesten Kindermumie Siziliens Rosalia Lombardo:
Das Kalenderblatt | 6.Dezember 1920 - Rosalia gestorben, schönste Mumie der Welt
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Weitere spannende Folgen von radioWissen:
Verlassene Dörfer, verlorene Städte: Solche von Sagen umrankten Orte faszinieren uns heute. Für Archäologen sind "Lost Places" wichtige Grabungsstätten, da sie einen bestimmten Moment konservieren. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Felicia Englmann
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Andreas Neumann
Technik: Andreas Lucke
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Linktipps:
Die "weiße Frau" im Ebersberger Forst. Der Werwolf in Ansbach. Der Geist einer ermordeten Burgherrin bei Regensburg: Spukgeschichten gehören zu Bayern wie Bier und Lederhosen. Eine gruselig-atemberaubende Reise in dichte Wälder, auf Burgruinen und Schlösser im Nebel erleben Sie in unserer BR-Dokumentation:
Bayern erleben | Bayerische Spukgeschichten - Weiße Frauen, Werwölfe und Geisterjäger
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Vor 100 Jahren sind auf einem Einödhof bei Schrobenhausen sechs Menschen ermordet worden, darunter zwei Kinder. Der Fall ist bis heute ungeklärt. Einen Beitrag von BR Heimat finden Sie hier:
BR Heimat | 100 Jahre danach - Der Mordfall von Hinterkaifeck
ZUM BEITRAG
Ein kleines Dorf zieht um, um das Isar-Tal zu retten: vor zu viel Wasser und vor zu wenig. 1959 wird das letzte Haus der Ortschaft Fall abgerissen und das Tal zu einem riesigen Stausee geflutet. Einen Beitrag mit Bildergallerie gibt es hier:
BR.de | Der Damm - Der Sylvensteinspeicher als Pegelregler
ZUM BEITRAG
Momentan leben über 7,8 Milliarden Menschen auf der Erde. 1974 waren es vier Milliarden, 1999 schon sechs und 2011 sieben. Forscherinnen und Forscher machen sich Sorgen, was das für das Überleben und Wohlbefinden der Menschheit, aber auch für unsere Umwelt bedeutet. Und sie fragen sich, ob die reine Anzahl an Menschen tatsächlich der entscheidende Faktor dabei ist. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Yvonne Maier
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Beate Himmelstoß
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Matthias Eggert
Mehr Fakten und Zahlen finden Sie im folgenden Beitrag:
ARDalpha | Mehr als 8 Milliarden Menschen auf der Erde
Wolfgang Borchert (1921 - 1947) - er prägte die Epoche der "Trümmerliteratur" entscheidend. Sein berühmtes Theaterstück "Draußen vor der Tür" ist ein Klassiker. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Michael Reitz
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Sven Hussok
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Andrea Bräu
"Ich bin kein Pessimist", sagte José Saramago einmal - "nur ein besonders gut informierter Optimist!" Mit dieser Haltung hat der 2010 verstorbene portugiesische Schriftsteller und Nobelpreisträger immer wieder Anstoß erregt. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Bürkle, Stefan Merki, Rainer Bock, Shenja Lacher, Friedrich Schloffer
Technik: Regina Staerke, Johannes Pfau
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
Campbell's Tomatensuppe ist durch ihn berühmt geworden. Andy Warhol, King of Pop-Art, machte Massenprodukte zu Kunst und umgekehrt. Er prophezeite schon 1968: "In Zukunft wird jeder für 15 Minuten weltberühmt sein". (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Joanna Ortmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer, Carsten Fabian
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Zappa war und bleibt ein Musiker zwischen allen Stühlen: Popstar und zugleich Avantgardist, Revolutionär und zugleich Geschäftsmann, Kultfigur und zugleich Enfant Terrible, das sich von niemanden einnehmen lassen wollte.
Autor/in dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Katja Bürkle
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
RadioWissen hat noch eine weitere hörenswerte Biographie einer Musiklegende:
Weitere Linktipps:
Literaturtipps:
Ramses II. gilt als wichtigster Herrscher des Alten Ägyptens. Während seiner Regentschaft von 1279 bis 1213 vor Christus sorgte der Pharao für eine wirtschaftliche und kulturelle Hochzeit wie sonst kein anderer ägyptischer König. (BR 2011)
Autor/in dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Axel Wostry, Julia Fischer, Christian Baumann
Technik: Daniela Röder, Winfried Messmer
Redaktion: Brigitte Reimer
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RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
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Kaum ein archäologischer Fund hat die Welt je wieder so berührt, wie der des Grabes von Tutanchamun. Im November 1922 entdeckte der britische Archäologe Howard Carter während Grabungsarbeiten im Tal der Könige eine unter antikem Schutt verborgene Felstreppe: Der Eingang zum Grab des ägyptischen Königs. Eine perfekte Sensation.
Autor/in dieser Folge: Silvia Rabehl
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Hemma Michel
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
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Noch eine hörenswerte Folge von radioWissen:
Weitere Linktipps:
Sie kann hilfreich sein oder lähmend: die Gewohnheit. Sie schützt uns davor, immer wieder Neues ausdenken zu müssen, kann uns aber auch träge und alltagsmüde machen. Gedanken aus Philosophie und Psychologie. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Rolf Cantzen
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Gert Heidenreich, Andreas Neumann
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
Der Hang zum Rausch und die Sehnsucht nach Glück gehören zum Menschsein wie der Hunger auf Nahrung. Ob im Verlust der Selbstkontrolle eher eine Gefahr oder eine Chance liegt, hängt von kulturellen und individuellen Bedingungen ab. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Susanne Poelchau
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Die Psychologie des Menschen und der Klimawandel - das passt schlecht zusammen. Aber warum ist das so? Warum verdrängt der Mensch lieber und schaut wissend weg? Eine Spurensuche in die Klimapsychologie. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Kathrin von Steinburg, Thomas Loibl, Beate Himmelstoß
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Matthias Eggert
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Weitere Folgen zum Thema von radioWissen:
Spanende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BR PODCAST | BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Der Beziehungsstatus zwischen Sherlock Holmes und seinem Autors Arthur C. Doyle war kompliziert. Die Leserschaft verehrte den Meisterdetektiv mit seinem messerscharfen Verstand. Sein Autor Doyle interessierte sich ab er zunehmend fürs Okkulte. Doch Sherlock ließ sich literarisch nicht beerdigen.
Autor/in dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Irina Wanka, Peter Weiß, Stefan Wilkening, Clemens Nicol
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Susanne Poelchau
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zu faszinierenden Autoren und ihrem Schaffen:
Literaturtipps:
Sieben Jahre hat der irische Schriftsteller und Journalist Bram Stoker an seinem Hauptwerk gearbeitet. Die Vorlage dazu hatte er von dem ungarischen Professor Arminius Vámbéry, der ihm von einer Gruselfigur ,dem rumänischen Fürsten Drakula, ausführlich berichtet hatte. Der Roman wurde Stokers größter Erfolg, auch finanziell. (BR 2012)
Autor/in dieser Folge: Gabriele Bondy
Regie: Gabriele Bondy
Es sprachen: Katja Schild, Stefan Wilkening, Andreas Neumann
Technik: Lydia Schön
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
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Weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Chronische Geldnot bewog die bayerischen Kurfürsten dazu, die Einnahmen aus den Wäldern zu erhöhen. Im frühen 19. Jahrhundert gingen daher Agrarreformer daran, aus ertragsarmen Laubwäldern effiziente Forste zu machen. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Dorit Kreissl
Es sprach: Stefan Wilkening
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
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Unsere Empfehlung für Naturinteressierte:
Wilde Winkel. Bayerns Natur-Podcast
„Wilde Winkel“ nimmt Dich mit auf Entdeckungstour in Bayerns wertvollste Natur. Jeden Monat geht’s in einen anderen wilden Winkel Bayerns zwischen den Alpen und der Rhön, dem Nördlinger Ries und dem Fichtelgebirge.
EXTERNER LINK | SPOTIFY.COM | WILDE WINKEL.
radioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Von der Römerzeit bis ins Mittelalter wurde in Südbayern Wein angebaut, vor allem an der Donau. Ab dem 14., 15. Jahrhundert wird der Baierwein vom Bier verdrängt, auch wegen des kühleren Klimas, aber bei Regensburg wird er bis heute angebaut.
Autor/in dieser Folge: Renate Ell
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Katja Schild, Johannes Marchl
Technik: Ruth Ostermann
Redaktion: Thomas Morawetz
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radioWissen hat noch eine weitere hörenswerte Folge zum Thema:
Literaturtipps:
Trinken: Das ist Runterschlucken, fertig. Doch allein das Schlucken ist ein irrer Reflex. Und hochkomplex wird es bei der Flüssigkeitsaufnahme des Körpers. Trinken - was passiert da genau in unserem Körper? (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Jennifer Güzel, Rahel Comtesse
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Matthias Eggert
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Seit 1814 gehört Aschaffenburg zu Bayern. Die über 1000 Jahre alte Stadt ist aber auch ziemlich unterfränkisch. Und bei gutem Wetter ist die Skyline Frankfurts zu sehen. Das Schloss Johannisburg dagegen ist Erbe der Mainzer Fürstbischöfe, und das Bier fließt genauso wie der Apfelwein. Aschaffenburg ist eine Stadt mit viel Geschichte zwischen Main und Spessart, Frankfurt, Mainz und München.
Autor/in dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Ruth Geiersberger
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
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Bayern 2 / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung 2022
Typisch Franken?
Dialekt, Bratwurst, Fachwerk, Bier und Wein - ist das typisch Franken? Dieser Frage will die diesjährige Bayerische Landesausstellung in Ansbach vom 26. Mai bis 6. November 2022 auf den Grund gehen.
BAYERN 2 | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Haus der Bayerischen Geschichte / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung „Typisch Franken?“ findet in Ansbach, der früheren Residenzstadt des Markgraftums Brandenburg-Ansbach statt (25. Mai bis 6. November 2022). Gezeigt wird die Ausstellung im barocken Orangeriegebäude aus dem 18. Jahrhundert im markgräflichen Hofgarten. In der Landesausstellung wird gezeigt, was Franken ausmacht und prägt:
EXTERNER LINK | HAUS DER BAYERISCHEN GESCHICHTE | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Wer war Anton Hermann? Der Spiegelbeleger in Lohr am Main arbeitete mit Quecksilber und wurde dadurch schwer krank. Um sich Medizin kaufen zu können, zweigte er heimlich Überschüsse der giftigen, aber teuren Substanz ab. 1776 flog sein verzweifelter Handel auf. Vom Arbeiter Anton Herrmann wissen wir nur durch Prozessakten. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Fischer, Johannes Hitzelberger
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
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Bayern 2 / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung 2022
Typisch Franken?
Dialekt, Bratwurst, Fachwerk, Bier und Wein - ist das typisch Franken? Dieser Frage will die diesjährige Bayerische Landesausstellung in Ansbach vom 26. Mai bis 6. November 2022 auf den Grund gehen.
BAYERN 2 | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Haus der Bayerischen Geschichte / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung „Typisch Franken?“ findet in Ansbach, der früheren Residenzstadt des Markgraftums Brandenburg-Ansbach statt (25. Mai bis 6. November 2022). Gezeigt wird die Ausstellung im barocken Orangeriegebäude aus dem 18. Jahrhundert im markgräflichen Hofgarten. In der Landesausstellung wird gezeigt, was Franken ausmacht und prägt:
EXTERNER LINK | HAUS DER BAYERISCHEN GESCHICHTE | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Für Millionen von Menschen ist er der Mann, der 1960 in der UNO mit seinem Schuh auf den Tisch gedroschen hatte. Obwohl es bis heute immer noch nicht hundertprozentig geklärt ist, dass Nikita Chrustschow damals tatsächlich mit dem Schuh oder nur mit der Faust auf die Tischplatte einschlug, passte die von der "New York Times" verbreitete Geschichte zum damaligen Zeitgeist. Chruschtschow galt im Westen als Rabauke: ungebildet und impulsiv. Doch wer ihn auf die Rolle des Bauerntölpels reduziert, irrt gewaltig. Chrustschow war ein Machstratege: zielbewusst baute er seinen Einfluss innerhalb der Partei aus. (BR 2012)
Autor/in dieser Folge: Julia Smilga
Regie: Martin Trauner, Andreas Mangold
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christian Baumann, Claus Brockmeyer
Technik: Cordula Wanschura, Gerhard Wicho, Miriam Böhm
Redaktion: Brigitte Reimer
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
Vor etwa 6.000 Jahren wurde das Pferd domestiziert, seitdem dient es als Last-, Zug- und Reittier dem Menschen. Auch in nahezu allen Kriegen spielten Pferde eine wichtige Rolle. (BR 2014)
Autor/in dieser Folge: Christiane Seiler
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christian Baumann, Shenja Lacher
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Tiere als Waffe - Von gefiederten Helden und tödlichen Vierbeinern
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Tierisch bewusst - Denken und empfinden Tiere?
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Mehr spannende Beiträge zum Thema finden Sie bei BR24:
BR24 | Tiere im Krieg
ZUM ARTIKEL
BR24 | Mission Spion - Die CIA wollte Tiere als Geheimwaffe einsetzen
ZUM ARTIKEL
Der Animismus ist die dauerhafteste aller Weltreligionen. Dem Pferd hatte seit je einen prominenten Platz darin. Schon prähistorische Felsbilder beschworen seine Macht, und viele Reitervölker waren ihm über den Tod hinaus verbunden. Über Jahrtausende hinweg hat es die Menschheit als Kultobjekt und Königstier begleitet.
Autor/in dieser Folge: Stefan Schomann
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Rahel Comtesse, Peter Veit, Beate Himmelstoß
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Bernhard Kastner
RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Das Tier und die Religion - Mitgeschöpf oder Mahlzeit?
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Tierisch bewusst - Denken und empfinden Tiere?
JETZT ANHÖREN
Macht euch die Tiere untertan? - Von der Domestikation zur Massenproduktion
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Literaturtipps:
Miklós Jankovich, Pferde, Reiter, Völkerstürme. München, 1968
Erhard Oeser, Pferd und Mensch. Darmstadt, 2007
Jean-Louis Gouraud, Le cheval : un dieu ? Arles, 2013
Stefan Schomann, Auf der Suche nach den wilden Pferden. Berlin, 2021
Dankbarkeit, einst Domäne der Religionen, liegt im Trend. Schlüssel für Zufriedenheit und Gesundheit versprechen z.B. Lebenshilfe-Ratgeber oder Coaching Programme. Doch was genau hat es mit der Dankbarkeit auf sich? (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Sylvia Schopf
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Caroline Ebner
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Bernhard Kastner
radioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Hier und Jetzt - Im Fokus der Achtsamkeit
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Meditation - Übung mit tiefem Sinn
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Gastrosophie - Eine Philosophie des Essens
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Das Manuskript zur Folge gibt es HIER
Wenn wir "heilig" hören, dann denken wir zuerst an etwas, das ausschließlich innerhalb von Religionen eine Bedeutung hat. Löst man sich aber von diesem Vorurteil und denkt das Heilige anders, so wird deutlich, dass es etwas beschreibt, das alle Menschen, ob religiös oder nicht, tief in ihrem Kern etwas angeht.
Autor/in dieser Folge: Andreas Hauber
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tilling, Stefan Wilkening, Thomas Loibl
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Erleuchtung – Licht der Erkenntnis oder nur schöner Schein?
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Dankbarkeit – Quelle der Freude und des Glücks
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Seelenwanderung – Ein Thema vieler Religionen
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Literaturtipps:
Joas, Hans: Die Macht des Heiligen – Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Suhrkamp, Berlin 2019.
Otto, Rudolf: Das Heilige – Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 50- 53 Tsd., Nachdr. d. ungekürzten Sonderausg. München: Beck 1997. - München: 1991
Paus, Ansgar: Heilig, Das Heilige I. Religionswissenschaftlich, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4,S. 1267, Sp.1, hg. v. Walter Kasper u.a., 3. Auflage, Herder, Freiburg-Basel-Wien, 2009
Die deutsch-amerikanische Freundschaft zählt zu den wichtigsten Pfeilern der deutschen Außenpolitik. Sie bot in Zeiten des Kalten Krieges für Westdeutschland, aber auch für westliche Werte wie Demokratie und Meinungsfreiheit einen Schutzmantel, unter dem sich die bundesrepublikanische Gesellschaft entfalten konnte. Vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges sind viele Gewissheiten beiseite gefegt und die deutsch-amerikanische Freundschaft muss immer wieder neu definiert und gepflegt werden.
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Andreas Neumann, Katja Amberger
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Iska Schreglmann
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Weiterführende Links:
Literaturtipp:
Die Brooklyn Bridge: Berühmtes Symbol von New York City, aber beim Bau vor 150 Jahren hoch umstritten. Sie war mit Skandalen und unendlichen Strapazen verbunden - und ihr Bau forderte zahlreiche Opfer. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Marlen Fercher
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Diana Gaul
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Bakterien und Viren haben ihr Ruf weg - für die meisten Menschen sind sie schlicht Krankmacher. Aber das sind sie nicht nur. Ganz im Gegenteil: Für das Leben auf der Erde sind sie unverzichtbar und sie gelten als Motor der Evolution. Von Ingeborg Hain (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Ingeborg Hain
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Rainer Buck, Caroline Ebner
Technik: Wolfgang Max
Redaktion: Matthias Eggert
Der Axolotl ist nicht nur ein faszinierendes Heimtier, auch die Wissenschaft hat ihn für sich entdeckt. Der mexikanische Schwanzlurch kann verletztes oder abhanden gekommenes Körpergewebe nachbilden - aber wie macht er das? (BR 2019)
Credits
Autor/in dieser Folge: Isabel Pogner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Christiane Roßbach, Heiko Rubrecht, Beate Himmelstoß
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Bernhard Kastner
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ARD alpha hat einen Artikel mit weiteren spannenden Infos, Bildern und einem Video zum Axolotl:
ARD alpha | Axolotl: Leben im ewigen Larvenstadium
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Sie sind nackt und unglaublich hässlich. Und dennoch sind sie für die Forschung hochinteressant. Denn Nacktmulle leben straff organisiert wie Insekten mit einer Königin und sind immun gegen viele Krankheiten. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Bernhard Kastner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Christiane Roßbach, Burchard Dabinnus
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
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Einen spannenden Videobeitrag zum Nacktmull finden Sie in der ARD Mediathek:
ARD MEDIATHEK | W WIE WISSEN | Nacktmull - ein Nager mit "Superkräften"
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Zwischen Jägerschnitzel und Sushi, Cheeseburger und Grilletta, Bratwurstsemmel und Döner: Radiowissen tischt eine geschmackvolle Reise durch die Geschichte unserer Esskultur auf, von 1945 bis heute. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Franziska Ball, Carsten Fabian, Diana Gaul
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Diese Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:
Millionen Frauen in Indien wollen sein wie Sita: schön und sanft wie die Heldin des alten hinduistischen Epos Ramayana. Besser gesagt, sie sollen sein wie Sita: unterwürfig, bescheiden, selbstaufopfernd. (BR 2014)
Autor/in dieser Folge: Isabella Arcucci
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Thomas Loibl, Stefan Merki, Laura Maire, Karin Schumacher
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Frauen in den Hindureligionen - Ein Dasein voller Widersprüche
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Ganesha, der Elefantengott - Garant für Glück, Wohlstand und Erfolg
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Krishna - Göttlicher Hirtenjunge Indiens
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Mehr als 2000 deutsche Autorinnen und Autoren verließen nach 1933 Deutschland. Sie schrieben in unterschiedlichen Stilen und vertraten unterschiedliche politische Haltungen. (BR 2021)
Autor/in dieser Folge: Gabriele Knetsch
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Katja Bürkle, Stefan Wilkening
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Andrea Bräu
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Linktipp:
Axel Milberg liest in sieben Folgen aus Lion Feuchtwangers Roman „Exil“:
Der Roman ist ein Panorama des Exils der 1930er Jahre. Im Zentrum steht der Münchner Komponist Sepp Trautwein - in Paris gibt er die geliebte Musik auf und kämpft als Journalist gegen die Nazis. Heldenhaft - oder sinnlos?
ARD AUDIOTHEK | BAYERN 2 | LION FEUCHTWANGER: EXIL
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Jahrhundertelang wurden die Erzählungen der Sinti und Roma mündlich überliefert, doch seit dem 20. Jahrhundert blüht überall in Europa auch eine schriftliche literarische Tradition auf: in Deutschland vor allem nach dem 2. Weltkrieg, als die Überlebenden der Konzentrationslager zur Feder greifen, um sich Gehör zu verschaffen in einer Gesellschaft, die sie bis heute an den Rand drängt.
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Christian Baumann, Silke v. Walkhoff, Thomas Loibl
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Thomas Morawetz
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RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Die deutschen Sinti und Roma - Die Geschichte einer Minderheit
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Hier finden sie weitere wissenswerte Beiträge zum Thema:
BR Themen | Sinti und Roma - Verfolgt, ermordet, ausgegrenzt
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BR Mediathek | ARD alpha | Geschichte der Sinti und Roma
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BR | RESPEKT | Antiziganismus
ZUR BEITRAGSSEITE
Literatur-Tipps:
Bauerndick, Rolf: Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk, Deutsche Verlags-Anstalt München 2013
Bogdal, Klaus Michael: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2011
Franz, Philomena: Wenn wir einen Singvogel im Herzen tragen, wird sich immer ein Singvogel darauf niederlassen, Books on Demand 28.12.2012
Franz, Philomena: Zwischen Liebe und Hass. Ein Zigeunerleben. Books on Demand, 2001 (Erstausgabe 1985)
Franz, Philomena: Zigeunermärchen. Book on demand 2001
Nikolic,Jovan: Weißer Rabe, schwarzes Lamm, Drava Verlag, Klagenfurt 2011
Nikolic,Jovan: Zimmer mit Rad. Drava Verlag, Klagenfurt 2004
Pankok, Moritz; Isabel Raabe, Romani Rose: Widerstand durch Kunst. Sinti und Roma und ihr kulturelles Schaffen. Aufbau-Verlag Berlin 2022
Papusza (Bronislawa Wajs): Papuszas gesprochene Lieder, hrsg von Karin Wolff, Verlag Stiftung Kleist-Museum, Deutschland 2020
Stojka, Ceija: Wir leben im Verborgenen: Aufzeichnungen einer Romni zwischen den Welten, Picus Verlag, Wien 2013
Sejovi?, Rudzija Russo: Der Eremit: Stille und Unruhe eines Rom. Prosa. Aus dem Romanes von Melitta Depner. Epubli Verlag 2017
Stojka, Ceija: Meine Wahl zu schreiben – ich kann es nicht. Gedichte und Bilder, eye Verlag 2003
Rätselhaft, geheimnisvoll, ikonisch. Um Nofretete wird gestritten, zumindest um ihren Kopf. Die berühmte Büste der Herrscherin vom Nil steht nämlich in einem Museum in Berlin, nicht in ihrer ägyptischen Heimat. Zufall - oder gar Betrug? Doch wer war diese Pharaonin, die ebenbürtig mit ihrem Gemahl auf dem Thron saß? (BR 2013)
Autor/in dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Axel Wostry, Peter Veit
Technik: Miriam Böhm, Gerhard Wicho
Redaktion: Brigitte Reimer
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Alles Geschichte hat außerdem eine spannende Staffel zum Thema Altes Ägypten:
ALTES ÄGYPTEN - Die Entzifferung der Hieroglyphen
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ALTES ÄGYPTEN - Bier, Brot und Arbeit
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ALTES ÄGYPTEN - Die Herrscherin Hatschepsut
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Vor 50 Jahren, im Oktober 1962, standen die Supermächte kurz vor einem Atomkrieg. Was hat ihn am Ende verhindert? War es diplomatisches Geschick oder schlichtweg nur Glück? (BR 2012)
Autor/in dieser Folge: Sabine Straßer
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ilse Neubauer, Johannes Hitzelberger
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Nicole Ruchlak, Brigitte Reimer
Flechten sind Überlebenskünstlerinnen: Sie gedeihen in Wüsten, in Dschungeln, als erste Wesen nach Vulkanausbrüchen und sogar in der Arktis. Aber auch in Bayern sind sie verbreitet. Dahinter steckt ein verblüffendes Erfolgsrezept. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Anne-Isabelle Zils, Christopher Mann
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Matthias Eggert
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Wir empfehlen außerdem folgenden Bericht vom BR Fernsehen:
BR Mediathek | Anzeiger für Klimawandel - Flechten im Nationalpark Bayerischer Wald
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Der Erste Weltkrieg war auch der erste totale Propagandakrieg, es galt, den Feind zum Unmenschen zu stempeln. Seine Waffen: Parolen, Lügen, Symbole. Die Schlachtfelder: Zeitungen, Plakate, das Kino. (BR 2014)
Autor/in dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Katja Schild, Stefan Wilkening
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
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Eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
NS-Propagandamaschinerie - Lug im "Dritten Reich"
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
In dem Bauern-und Hirtenland von Wessex mit seinem geheimnisumwitterten Steinkreis von Stonehenge, sah der englische Schriftsteller Thomas Hardy zeitlebens einen Ort voll mystischer Tiefe und Magie. Kein Wunder also, dass er das im Südwesten von England gelegene Wessex immer wieder zur Handlungskulisse für seine gesellschaftskritischen Romane machte.
Autor/in dieser Folge: Rainer Firmbach
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christian Baumann, Susanne Schroeder, Jörg Puls
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Andrea Bräu
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Literaturtipps:
Thomas Hardy: Tess. Reclam, 1979.
Thomas Hardy: Tess. DTV. 2008.
Thomas Hardy: Tess von den d’Urbervilles. Paul List, 1963.
Thomas Hardy: Jude the Obscure. Greno, 1988.
Norbert H. Platz: Plädoyer für einen in Deutschland vernachlässigten Autor. Reclam, 1978.
Rolf Vollmann: Der Roman-Navigator. Berlin, 1998.
Von wegen Penisneid! Kritik an Sigmund Freuds Theorien kam schon früh aus weiblicher Ecke. Denn es gab zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele einflussreiche Psychoanalytikerinnen, die Schriften publizierten und dann auch eigene Institute gründeten. Sie trugen wesentlich zur Weiterentwicklung in Theorie und Praxis bei.
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Birnstiel, Peter Veit
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Susanne Poelchau
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Mehr als nur Muse großer Männer: Lou Andreas-Salomé war eine eigenständige Philosophin, Literatin und Psychoanalytikerin, die männliche Geistesgrößen ihrer Zeit mit ihren Gedanken wesentlich bereicherte. Ein Beitrag von radioWissen:
Lou Andreas-Salomé - Auf Augenhöhe mit Nietzsche, Rilke, Freud
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Die drei Jahrhunderte von Jesu Tod bis zur konstantinischen Wende hat den frühen Christen viel abverlangt: Sie mussten zu einer verständlichen Lehre finden - und nicht zuletzt ihren Platz in der Welt. (BR 2013)
Autor/in dieser Folge: Thomas Morawetz
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Katja Amberger, Detlef Kügow, Ulrich Frank
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Apostel-Geschichte(n) - Vom Beginn des Christentums
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Roms christliche Katakomben - Ruhestätte eines jungen Glaubens
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Konstantin der Große - Religion als Politik
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Monotheismus - Vom Vielgötterglaube zu dem einen Gott
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Literaturtipps:
Graf, Friedrich Wilhelm / Wiegandt, Klaus (Hgg): Die Anfänge des Christentums, Fischer TB, Frankfurt a.M. 2009
Martin, Jochen / Quint Barbara (Hgg): Christentum und antike Gesellschaft, WdF 649, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1990
Schnelle, Udo: Die theologische und literarische Formierung des Urchristentums. In: Graf / Wiegand (Hgg)
Ulrich, Jörg: Selbstbehauptung und Inkulturation in feindlicher Umwelt: Von den Apologeten bis zur „Konstantinischen Wende“. In: Christentum I. Hrsg. v. Dieter Zeller, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart u.a. 2002 (Religionen der Menschheit Bd. 28)
Winkelmann, Friedhelm: Geschichte des frühen Christentums, Beck, München 7/2007
Hoffentlich gut versichert? Der Schutz vor den Risiken des Lebens treibt die Menschen seit dem Altertum um. Von Lukas Grasberger (BR 2019)
Autor dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Christian Schuler
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Notruf 112 wählen, maximal 15 Minuten warten - dann ist sie da: die Feuerwehr. Das war nicht immer so: dass wir schnelle und effektive Hilfe in der Not bekommen, ist das Ergebnis einer ereignisreichen Entwicklungsgeschichte.
Autor/in dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Anne-Isabelle Zils und Stefan Wilkening
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Feuerwehr-Interessierten empfehlen wir außerdem:
Feuerwehrmuseum Bayern e.V. in Waldkraiburg
Das Museum – im oberbayerischen Waldkraiburg gelegen, ist ein Juwel, das einen Besuch mehr als lohnt: als größtes Feuerwehrmuseum Deutschlands – und ausschließlich von ehrenamtlichen Betreibern geführt – bietet es eine einzigartige und hervorragend kommentierte Sammlung an Fahrzeugen, Geräten, Uniformen, Feuermeldern, Modellen u.v.m. vom Beginn des deutschen Feuerwehrwesens bis heute: Mehr Infos unter:
EXTERNER LINK | https://www.feuerwehrmuseum-bayern.de/
Literaturtipps:
Prager, Hans-Georg: Florian 14: Achter Alarm! Das Buch der Feuerwehr. Verlag Mittler & Sohn, Herford 1980 (3. Auflage):
Dieses Buch gibt bis heute den umfassendsten und zugleich nahbarsten Einblick in die Welt der Feuerwehr. Der Journalist Hans-Georg Prager arbeitete ein halbes Jahr lang als vollwertiges Mitglied der Hamburger Feuerwehr mit.
Lottmann, Eckart: Berliner Feuerwehr. Auf der Drehleiter der Geschichte. Be.bra Verlag, Berlin, 1996
Die Fünfziger Jahre gelten als Blütezeit des Hörspiels in Deutschland. Hochliterarische Produktionen von Günter Eich, Alfred Andersch, Wolfgang Weyrauch oder Ingeborg Bachmann entstehen, aber auch zahlreiche Unterhaltungs- und Mundartstücke. Die Krimireihen jener Jahre werden zu Straßenfegern.
Autor/in dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Julia Fischer, Rainer Buck
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Andrea Bräu
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Ein Fan von Hörspielen? Eine breite Auswahl von Hörspielen finden Sie in der ARD Audiothek:
ARD AUDIOTHEK | Hörspiel und Lesung
Literaturhinweise:
Barner, Wilfried (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Von Wilfried Barner, Alexander von Bormann, Manfred Durzak u.a., München: C.H. Beck 1994.
Bloom, Margret: Die westdeutsche Nachkriegszeit im literarischen Original-Hörspiel, Frankfurt am Main/Bern/New York: Lang 1985 (Diss.).
Böhmer, Gerd: Zeitgeschichte in den Hörspielen von 1945-1955, Delmenhorst: o. V. 1993 (Diss.).
Bolz, Rüdiger: Rundfunk und Literatur unter amerikanischer Kontrolle. Das Programmangebot von Radio München 1945-1949, Wiesbaden: Harrasowitz 1991 (Diss.). (=Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München, Bd.26).
Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): Kriminalhörspiele 1924-1994. Eine Dokumentation. Zusammengestellt und bearbeitet von Andreas Meyer, Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 1998.
Didzuhn, Rolf: „Was ich auch je begann, ich hab´ es gern getan“. Erinnerungen aus 80 Jahren dieses Jahrhunderts, München: o. V. 1992. (=Bayerischer Rundfunk. Historische Kommission, Bd.6).
Döhl, Reinhard: Das Hörspiel der NS-Zeit. Geschichte und Typologie des Hörspiels, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992.
Hasselbring, Bettina: Am Anfang war Dorfrichter Adam. Das Hörspiel in München von 1924-1933, In: Der Ton. Das Bild. Die Bayern und ihr Rundfunk. Das Gesamtverzeichnis der Hörspielproduktion des Bayerischen Rundfunks 1949-1999. Mit einem Vorwort von Christoph Lindenmeyer sowie Beiträgen und unter Mitarbeit von Katarina Agathos, Roana Brogsitter, Bettina Hasselbring u.a., (Hrsg.) Herbert Kapfer, München: Belleville 1999, S.19-30.
Kapfer, Herbert: Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen Rundfunk – Formen, Konzeptionen, Programmangebote, In: Der Ton. Das Bild. Die Bayern und ihr Rundfunk. 1924-1949-1999. Begleitbuch zur Ausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte und des Bayerischen Rundfunks, (Hrsg.) Margot Hamm, Bettina Hasselbring und Michael Henker, Augsburg: o. V. 1999, S.242-249.
Prager, Gerhard: Das Hörspiel in sieben Kapiteln. Verständnisse und Mißverständnisse. In: Akzente - Zeitschrift für Dichtung 1 (1954) S. 514 - 523.
Schwitzke, Heinz: Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte. Köln/Berlin: Kippenheuer und Witsch 1963.
Wagner, Hans-Ulrich: Träume. Die Geschichte des Hörspiels, In: Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, (Hrsg.) Gerhard Paul und Ralph Schock, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013, S.366-369.
Wagner, Hans-Ulrich: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“. Das Hörspielprogramm in Deutschland von 1945 bis 1949, Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 1997a. (=Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs, Bd.11).
Wagner, Hans-Ulrich: Günter Eich und der Rundfunk. Essay und Dokumentation, Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg 1999. (=Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs, Bd.27).
Wagner, Hans-Ulrich: Eng vernetzt. Das Hörspielprogramm von Radio München 1945 bis 1949. Eine Fallstudie, In: Buch, Buchhandel und Rundfunk 1945-1949, (Hrsg.) Monika Estermann und Edgar Lersch, Wiesbaden: Harrasowitz 1997b.
Weichselbaumer, Susanne: Das Hörspiel der fünfziger Jahre im Bayerischen Rundfunk. „Regionalliga Süd“ oder „Champions League“, München: Peter Lang 2007. (=Studien zur Geschichte des Bayerischen Rundfunks, Bd.4) (Diss.).
Zeyn, Martin: Alles war möglich. Das Hörspiel im Bayerischen Rundfunk von 1949-1973, In: Vom Sendespiel zur Medienkunst. Die Geschichte des Hörspiels im Bayerischen Rundfunk. Das Gesamtverzeichnis der Hörspielproduktion des Bayerischen Rundfunks 1949-1999. Mit einem Vorwort von Christoph Lindenmeyer sowie Beiträgen und unter Mitarbeit von Katarina Agathos, Roana Brogsitter, Bettina Hasselbring u.a., (Hrsg.) Herbert Kapfer, München: Belleville 1999, S.31-74.
Schmecken ist ein komplexer Vorgang. Neben der Zunge spielt auch die Nase eine wichtige Rolle. Wissenschaftler versuchen herauszufinden, warum jeder Mensch anders schmeckt. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Anna Küch
Regie: Dorit Kreissl
Es sprachen: Anne Isabelle Zils
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Gerda Kuhn
BIOTOPIA Festival „SINNE – Die Welt durch andere Augen sehen!“
Tauchen Sie in die Welt der Sinneswahrnehmung von Mensch, Tier und anderen Spezies ein! Das BIOTOPIA – Naturkundemuseum Bayern lädt zu seinem BIOTOPIA Festival ein – am 01. und 02. Oktober 2022:
EXTERNER LINK | https://www.biotopia.net/de/festival-sinne
Wir sehen Farben, sobald wir die Augen öffnen: Die Farbe des Himmels, der Wände in unserer Wohnung oder die Farben in einem Blumenstrauß. All die Millionen von Farbnuancen auf unserem Planeten sind nicht nur ein Produkt der Evolution, Farben nehmen auch tagtäglich Kontakt mit uns auf: Mit uns und unserem Empfinden.
Autor/in dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Martin Trauner
Es sprach: Irina Wanka
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Susanne Poelchau
Wir empfehlen außerdem die Plattform Colour.education. Es handelt sich um ein gemeinnütziges Projekt der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Farbzentrums zur Vermittlung von Wissen und Erfahrungen aus allen Forschungs-, Theorie-, und Praxisfeldern der Farbe.
Hier finden Sie aufschlussreiche Videos mit Vorträgen von Experten zum Thema Farbe:
EXTERNER LINK | COLOUR.EDUCATION
BIOTOPIA Festival „SINNE – Die Welt durch andere Augen sehen!“
Tauchen Sie in die Welt der Sinneswahrnehmung von Mensch, Tier und anderen Spezies ein! Das BIOTOPIA – Naturkundemuseum Bayern lädt zu seinem BIOTOPIA Festival ein – am 01. und 02. Oktober 2022:
EXTERNER LINK | https://www.biotopia.net/de/festival-sinne
Literaturtipps:
Farblich sehr ansprechend gestaltetes Buch, das in viele Bereiche der psychologischen Farbforschung vorstößt und immer verständlich und mit vielen Beispielen erklärt. Ein Grundlagenbuch und ein Glücksgriff:
Axel Buether: Die geheimnisvolle Macht der Farben, Droemer Verlag, München 2020
Interessante Sammlung zu Farb-Assoziationen, basierend auf schriftlichen Befragungen von 1888 Personen:
Eva Heller: Wie Farben wirken, Rowohlt Verlag, Hamburg 1989 und 2004
Über die Haut und die darin enthaltenen Sinneszellen verarbeiten Menschen und Tiere Umweltreize. Ein lange zu Unrecht vernachlässigter Sinn mit großer Bedeutung. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Christine Frey
Redaktion: Gerda Kuhn
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BIOTOPIA Festival „SINNE – Die Welt durch andere Augen sehen!“
Tauchen Sie in die Welt der Sinneswahrnehmung von Mensch, Tier und anderen Spezies ein! Das BIOTOPIA – Naturkundemuseum Bayern lädt zu seinem BIOTOPIA Festival ein – am 01. und 02. Oktober 2022:
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Machen Städte krank? Tatsächlich ist der Mensch evolutionsbedingt nicht für ein dauerhaftes Zusammenleben auf engem Raum geschaffen. Die Wissenschaft sucht nach (Aus)Wegen für ein gutes Leben in der Stadt. (BR 2021)
Autor/in dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Andreas Neumann, Andreas Dirscherl, Friedrich Schloffer
Technik: Roland Böhm, Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
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Django Reinhardt, der in Belgien geborene Gitarrist, gilt als Wegbereiter des europäischen Jazz. Trotz einer Brandverletzung, die ihm 2 Finger seiner linken Hand lähmte, zählt er bis heute zu den großen Virtuosen auf seinem Instrument. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Petra Hermann
Es sprachen: Beate Himmelstoß
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Petra Hermann
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Gypsy Jazz Tage 2022
13.-16.Oktober 2022 im Theater im Fraunhofer
Seit 2015 dreht sich im Fraunhofertheater einmal jährlich drei Tage lang alles um die Musik Django Reinhardts. Organisiert von Daniel Fischer/Upstroke Music versammeln sich Künstlerinnen und Künstler aus ganz Europa. Mehr Infos finden Sie hier:
EXTERNER LINK | http://www.gypsyjazztage.de/
Der Olympia-Schock saß tief, der Staat wirkte wehrlos. Nur drei Wochen nach den Ereignissen vom September 1972 erteilte Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher den Auftrag, eine Antiterroreinheit aufzustellen: Die Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9) sollte als Spezialeinheit der deutschen Bundespolizei für Geiselbefreiung und Bombenentschärfung trainiert werden.
Autor/in dieser Folge: thomas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Hemma Michel
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Thomas Morawetz
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Wir empfehlen außerdem:
DIE OLYMPIAPROTOKOLLE (Folge 1-4) auf Alles Geschichte:
Bis heute sind noch viele Fragen zum Olympiaattentat am 5.9.1972 offen. Eva Deinert und Yvonne Maier durchforsten monatelang im Münchner Staatsarchiv zehntausende Akten, Einsatztagebücher, Berichte, Fotos, Briefe, Telegramme. Und stellen fest: Eine Spur haben die Behörden möglicherweise bis heute übersehen.
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 1: Die heiteren Spiele
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 2: Die Geiselnahme
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 3: Der Befreiungsversuch
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 4: Die unbekannte Frau in den Akten
Auch ein weiterer Podcast von Bayern 2 befasst sich mit dem Attentat von 1972:
In „Himmelfahrtskommando“ erzählt Patricia Schlosser die Geschichte ihres Vaters, der 1972 als Polizist beim Olympia-Attentat eingesetzt war und sich seitdem fragt, ob er Mitschuld am tödlichen Ausgang hat.
BR PODCAST | Himmelfahrtskommando - Mein Vater und das Olympia-Attentat
Geschichtsbegeistert? … Dann geht es hier weiter:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Am 5. Juli 1841 reisten 570 engagierte Gegner des Alkoholkonsums mit der Eisenbahn aus der englischen Stadt Leicester in das 18 Kilometer entfernte Loughborough. Dort nahmen sie an einer Versammlung von Gesinnungsgenossen teil, am Abend kehrten sie nach Haus zurück. Die Fahrkarten hatte der Baptisten-Geistliche Thomas Cook besorgt, und in dem Shilling, den jeder der Mitreisenden bezahlte, war auch noch die Verpflegung für den Tag inbegriffen. Der Anklang, den der Ausflug fand, veranlasste Cook, weitere Reisen für Gruppen von Gemeindemitgliedern und Sonntagschülern zu organisieren. Die Pauschalreise war geboren - und sie blieb nicht lange auf England beschränkt. 1872 unternahm Cook die erste Gruppenreise rund um die Welt, und um es seinen Gästen leichter zu machen, erfand er auch noch den Hotel-Coupon, den Traveller Cheque und zumindest den Vorläufer des Reisekatalogs. (BR 2010)
Autor/in dieser Folge: Herbert Becker
Regie: Irene Schuck, Kirsten Böttcher
Es sprachen: Christian Baumann, Julia Fischer, Thomas Loibl, Detlef Kügow, Friedrich Schloffer
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Brigitte Reimer
Die Anfänge der Paläontologie liegen noch nicht weit zurück. Erst vor 200 Jahren begann man in Fossilien Beweisstücke für das Aussterben von Tierarten zu sehen. Einen großen Beitrag zu den revolutionären Erkenntnissen ihrer Zeit leistete die Engländerin Mary Anning, der der Fossilienhandel auch das Überleben sicherte.
Autor/in dieser Folge: Silke Wolfrum
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Irina Wanka, Frank Manhold
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
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Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Die Promis der Urzeit - Leben und Sterben der Dinosaurier
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Fossilien - Stumme Zeitzeugen
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Mammut & Co - Die Megafauna der letzten Eiszeit
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Literatur zur Folge:
Dominique Aubrun (2018): Mary Anning et la naissance de la paléontologie. In: Femmes de sciences. Quelles conquêtes? Quelle reconnaissance? L’Harmattan, S. 87-100
Bernhard Kegel (2018): Ausgestorben um zu bleiben. Dinosaurier und ihre Nachfahren. Dumont
Martina Kölbl-Ebert (2002): British Geology in the early nineteenth century: A conglomerate with a female matrix. Earth Sciences History 21(1), S. 3–25
Hugh Torrens: Mary Anning (1799-1847) of Lyme; ‚the greatest fossilist the world ever knew’ (1995) BJHS 28, S. 257 - 284
Mangroven bilden einen natürlichen Schutzwall an Küsten gegen Überschwemmungen und Bodenerosion. Sie produzieren Sauerstoff und bieten zahlreichen Lebewesen einen Lebensraum. Mangroven sind wertvolle und anpassungsfähige Alleskönner, die aber durch Umweltverschmutzung massiv in Gefahr sind. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2022)
Credits:
Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Caroline Ebner, Rahel Comtesse, Peter Weiß
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Matthias Eggert
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RadioWissen hat eine weitere spannende Folge zum Thema:
Alleskönner Pilze – Vom Bodenreiniger bis zum Baustoff
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Aus Dreadlocks, Musik, einem äthiopischen König wurde eine Religion: Die Rastafari-Bewegung entstand auf Jamaika als spirituelle Protestbewegung. Sie verbindet Elemente aus Christentum, Judentum und Hinduismus mit "Black Power". (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Antje Dechert
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Stefan Wilkening, Christian Schuler
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Bob Marley und der Reggae - Musik aus Jamaika
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Weltreligion Hinduismus - Viele Wege führen zum Ziel
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Literaturtipps:
Barsch, Volker: Rastafari: Von Babylon nach Afrika, Mainz 2003.
Garvey, Marcus: Philosophy and opinions of Marcus Garvey. London 1967
Loth, Heinz-Jürgen: Rastafari: Bibel und afrikanische Spiritualität. Köln, Wien 1991.
Chevannes, Barry (Hrsg): Rastafari and other African Caribbean worldviews. New Brunswick, N.J. : Rutgers Univ. Press, 1998.
Kunkel, Sönke / Meyer, Christoph (Hg.): Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt 1920er und 1930er Jahren, Frankfurt/New York 2012.
"Unterhalten wir uns, Sie und ich. Unterhalten wir uns über Angst," hat Stephen King geschrieben. Und seine Leser lauschen begierig dieser Unterhaltung. In Millionenauflage lehrt Stephen King, der "Meister des Horrors", der Welt das Fürchten. King erzeugt die Angst in seinen Geschichten selten durch direkte Auslöser wie Ungeheuer, sondern er geht tiefer, beschwört eigene Kindheitsängste, die in vielen Lesern widerhallen. Die dunkle Seite des Menschen tritt bei King zutage, innere Dämonen wie Neid, Ausgrenzung und die ewige Furcht vor dem Tod. Einst von der Literaturkritik verschmäht, hat King mit seinem wuchtigen Werk mittlerweile Eingang in den Kanon der zeitgenössischen Literatur gefunden. (BR 2014)
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Burchard Dabinnus, Steven Scharf, Heinz Peter, Carsten Fabian
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
Biomasse ist gespeicherte Sonnenenergie - und als solche gilt ihr im Rahmen der Energiewende große Aufmerksamkeit. Doch wo Zuckerrohr, Raps und Co. als Energiepflanze angebaut werden, entstehen keine Nahrungsmittel. Wie nachhaltig ist Biomasse also wirklich? Und wo liegen ihre Chancen und Risiken?
Autor/in dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Thomas Birnstiel, Julia Fischer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Matthias Eggert
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RadioWissen hat einen weiteren hörenswerten Beitrag zum Thema:
Grüne Kraftstoffe - Heilsbringer für Verbrennungsmotoren
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Eine wissenschaftliche Analyse zur Biomasse der Leopoldina - Nationale Akademie der Wissenschaften finden Sie hier:
EXTERNER LINK | https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/biomasse-im-spannungsfeld-zwischen-energie-und-klimapolitik-2019/
Stromspeicher im Großformat sind nötig, um die Energiewende zu meistern. Pumpspeicherkraftwerke oder Druckluftspeicher sind eine Möglichkeit. Doch es gibt viele Hürden. Ingenieure und Wissenschaftler suchen nach der besten Variante. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: David Globig
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Katja Schild, Johannes Hitzelberger
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Spanende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BR PODCAST | BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Die international gefeierte Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie thematisiert in ihrem 2013 erschienen Bestseller-Roman "Americanah" amerikanischen Alltags-Rassismus. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel, Xenia Tiling, Katja Bürkle
Technik: Susanne Harasim, Jochen Fornell
Redaktion: Petra Hermann
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RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Black Consciousness Movement - Schwarze Identität
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Menschenrassen - Die Konstruktion der Ungleichheit
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James Baldwin - I Am Not Your Negro
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Frantz Fanon, Psychiater und Schriftsteller, hat den Opfern rassistischer Unterdrückung eine Stimme gegeben und gilt als Vordenker der Entkolonialisierung. Sein bekanntestes Werk: "Die Verdammten dieser Erde". (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Gerda Kuhn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Armin Berger, Stefan Merki
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Thomas Morawetz
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Black Consciousness Movement - Schwarze Identität
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Menschenrassen - Die Konstruktion der Ungleichheit
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James Baldwin - I Am Not Your Negro
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Immer häufiger nutzen Menschen Holz als Energielieferanten. Klimafreundilch und erneuerbar soll diese Ressource sein. Aber stimmt das? Wächst überhaupt so viel Wald nach, dass wir die Bäume verheizen können? (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Frank Manhold, Christopher Mann
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Matthias Eggert
Andreas Osiander war Prediger in der Nürnberger Lorenzkirche und Reformationspolitiker. Ohne mutige Theologen wie ihn wäre Martin Luthers Kirchenkritik wirkungslos geblieben. Für den Nürnberger Rat entwarf er eine neue Kirchenordnung - und schrieb gegen die judenfeindlichen Pogrome seiner Zeit an.
Autor/in dieser Folge: Steffi Illinger
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Merki, Irina Wanka, Florian Schwarz
Technik: Viktor Veress
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Bayern 2 / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung 2022
Typisch Franken?
Dialekt, Bratwurst, Fachwerk, Bier und Wein - ist das typisch Franken? Dieser Frage will die diesjährige Bayerische Landesausstellung in Ansbach vom 26. Mai bis 6. November 2022 auf den Grund gehen.
BAYERN 2 | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Haus der Bayerischen Geschichte / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung „Typisch Franken?“ findet in Ansbach, der früheren Residenzstadt des Markgraftums Brandenburg-Ansbach statt (25. Mai bis 6. November 2022). Gezeigt wird die Ausstellung im barocken Orangeriegebäude aus dem 18. Jahrhundert im markgräflichen Hofgarten. In der Landesausstellung wird gezeigt, was Franken ausmacht und prägt:
EXTERNER LINK | HAUS DER BAYERISCHEN GESCHICHTE | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Die frühe christliche Mission in Franken hatte zwei weitreichende Folgen: Einmal: Franken wurde katholisch. Und zweitens: Franken wurde fränkisch. Denn die merowingischen Franken hatten ihr Herrschaftsgebiet über Frankreich hinaus auf weite Gebiete östlich des Rheins ausgedehnt. Dazu brachten sie christliche Organisationsstrukturen mit. Nur mit ihnen ließ sich das Ganze in den Griff bekommen.
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Hemma Michel
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Bayern 2 / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung 2022
Typisch Franken?
Dialekt, Bratwurst, Fachwerk, Bier und Wein - ist das typisch Franken? Dieser Frage will die diesjährige Bayerische Landesausstellung in Ansbach vom 26. Mai bis 6. November 2022 auf den Grund gehen.
BAYERN 2 | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Haus der Bayerischen Geschichte / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung „Typisch Franken?“ findet in Ansbach, der früheren Residenzstadt des Markgraftums Brandenburg-Ansbach statt (25. Mai bis 6. November 2022). Gezeigt wird die Ausstellung im barocken Orangeriegebäude aus dem 18. Jahrhundert im markgräflichen Hofgarten. In der Landesausstellung wird gezeigt, was Franken ausmacht und prägt:
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Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Willibald und Walburga von Eichstätt - Missionierung in Bayern
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Literaturtipps:
Passio minor und Passio maior, Deutscher Text in: Kilian. Mönch aus Irland - aller Franken Patron 689-1989, Katalog zur 1300 Jahrfeier des Kilianmartyriums, Würzburg 1989
Lutz E. von Padberg, Die Christianisierung Europas im Mittelalter, Reclam, Stuttgart 1998
Der frühe Alpinismus war reine Männersache. Aber willensstarke Pionierinnen zeigten, dass Frauen auf dem Weg nach ganz oben mithalten können. Im Bergsport spiegelt sich beispielhaft ein Kapitel weiblicher Emanzipationsgeschichte. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Katja Amberger, Julia Cortis, Christopher Mann
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Wollen Sie noch mehr über Bergsteigerinnen hören? Dann empfehlen wir:
Pionierinnen in Fels und Eis - Frauen im Alpinismus.
Von Königin Marie von Bayern bis zu den Munich Mountain Girls: Ein Expeditionsbericht, der von beschwerlichen und beglückenden Touren der Bergsteigerinnen erzählt. Eine kleine Geschichte des Alpinismus aus Frauenperspektive von Justina Schreiber.
BAYERN 2 | BAYERISCHES FEUILLETON | FRAUEN IM ALPINISMUS
Und natürlich den Bayern 2-Podcast:
Bergfreundinnen
Anna, Toni und Kaddi lieben Berge. Ständig zieht es die drei hinaus und hinauf – und wenn sie nicht am Berg sind, reden sie darüber. Die Bergfreundinnen sprechen sich Mut zu, halten einander und schöpfen am Gipfel neue Kraft – für die nächste Tour und fürs ganze Leben. Sie hören zu und diskutieren Fragen wie: Wie kriegt man mehr Selbstvertrauen am Berg? Wie schaffe ich es nachhaltig Bergzusteigen? Und wie ist das eigentlich mit der Menstruation, wenn ich unterwegs bin? Es sind also eher die großen Themen des Lebens, die im Bergfreundinnen-Podcast behandelt werden.
BR PODCAST | BAYERN 2 | BERGFREUNDINNEN
Auch im BR Fernsehen sind die Bergfreundinnen zu sehen – in der vierteiligen Dokuserie Alpenüberquerung:
BR MEDIATHEK | BERGFREUNDINNEN - ALPENÜBERQUERUNG Folge 1 von 4
Smalltalk genießt zu Unrecht einen schlechten Ruf. Forscher wissen: das kleine Gespräch ohne großen Inhalt erfüllt eine wichtige soziale Funktion. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Sabine Straßer
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Andreas Neumann, Clemens Nicol, Friedrich Schloffer, Julia Fischer, Constanze Fennel, Beate Himmelstoß, Frank Halbach
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Auslaufmodell Zuhören? - Ein philosophischer Exkurs
JETZT ANHÖREN
Konversation - Andere Zeiten, andere Talks
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Wenn es um Gefühle oder Beziehungen geht, halten sich viele für Fachleute. Doch was bei den psychologischen Debatten am Küchentisch schlüssig erscheint, hält selten wissenschaftlichen Studien stand. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Susanne Poelchau
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RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Auslaufmodell Zuhören? - Ein philosophischer Exkurs
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Konversation - Andere Zeiten, andere Talks
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Johann Heinrich Pestalozzi gilt als einer der Väter der modernen Pädagogik. Mit seinem Konzept einer umfassenden Bildung für Geist, Körper und "Herz" sind seine Ideen bis heute aktuell. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Stefan Merki
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Lass die anderen mal reden - leichter gesagt als getan. Die Meinung anderer, ihre Erwartungen, genauso ihre Vorurteile zeigen Wirkung auf die Betroffenen, psychisch und auch körperlich. Die Sozialpsychologie untersucht bis heute, was der so genannte Pygmalion-Effekt mit uns macht.
Autor/in dieser Folge: Katharina Hübel
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Hemma Michel, Frank Manhold
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Nicole Ruchlak
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RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Wahrnehmung und Klischee - Die Entstehung von Vorurteilen
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Literaturtipps:
Rosenthal, R., Jacobson, L.: Pygmalion im Unterricht. Lehrererwartungen und Intelligenzentwicklung der Schüler. Weinheim/Berlin/Basel 1971.
Gollwitzer, M., Schmitt, M.: Sozialpsychologie. Weinheim/Basel 2019.
Schnepper, M.: Robert K. Mertons Theorie der self-fulfilling prophecy. Adaption eines soziologischen Klassikers (Europäische Hochschulschriften Reihe XXII Soziologie, Bd. 395). Frankfurt am Main 2004.
Elashoff, J. D., Snow, R. E.: Pygmalion auf dem Prüfstand. Einführung in empirisch-statistische Methoden auf der Grundlage einer kritischen Analyse der Rosenthal-Jacobson-Studie „Pygmalion im Klassenzimmer“. München 1972.
Watzlawick, P.: Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München 2006.
Watzlawick, P.: Anleitung zum Unglücklichsein. München 1983.
Seine Bilder sollten etwas Tröstliches haben - so schrieb Vincent van Gogh einmal an seinen Bruder Theo. Und tatsächlich sind seine Stillleben mit Sonnenblumen freundliche Gemälde. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Thomas Loibl, Christian Baumann
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Der Hund gehört nicht nur zu den beliebtesten Haustieren unserer Tage, sondern begleitet den Menschen schon seit rund 15 Jahrtausenden. Was als Zweckgemeinschaft begann ist heute eine dauerhafte Bindung... (BR 2010)
Autor/in dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christiane Roßbach, Christian Baumann
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Bernhard Kastner
RadioWissen hat noch weitere hörenswerte Beiträge zum Thema:
Als das Tier zum Freund wurde - Geschichte des Haustieres
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Tierisch bewusst - Denken und empfinden Tiere?
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Tiere als Therapeuten - Wenn Tiere Seelen heilen
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Tiere verstehen? - Zwischen Deutung und Forschung
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Seit Jahrhunderten gehört der Butler zum Inventar englischer Adelshäuser - und zwar keineswegs nur als perfekter Diener. Doch der Karriereweg vom einfachen Laufburschen zum erstklassigen Butler war hart. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Isabella Arcucci
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Caroline Ebner, Rainer Buck, Hans Jürgen Stockerl
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Die Kunst des Dienens - Philosophie der Hingabe
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Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Von Niederbayern ins unbekannte Südamerika - vor über 500 Jahren. Der Straubinger Ulrich Schmidl wird dabei nicht nur zum Mitbegründer von Buenos Aires. Sein Reisebericht schildert die Taten und Untaten der europäischen Eroberer so unverfälscht wie kaum ein anderer.
Autor/in dieser Folge: Sebastian Kirschner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Thomas Birnstiel
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
RadioWissen hat eine wetere spannende Folge zum Thema:
Atahualpa - Der letzte König der Inka
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Literaturtipps:
Ulrich Schmidls Reisebericht ist erst nach seinem Tod um 1580/1581 erschienen. Bekannt sind heute vier verschiedene Handschriften, deren Inhalt leicht variiert:
Ulrich Schmidl / Ulrico Schmidl: „Reise in die La Plata-Gegend 1534-1554“. Straubinger Hefte Nr. 58, 2008
(Sprachlich moderne Fassung der Stuttgarter Ausgabe aus dem 16. Jahrhundert, bearbeitet und umfangreich kommentiert von Franz Obermeier, dem deutschen Schmidl-Experten schlechthin)
Ulrich Schmidel: „Wahrhafte Historie einer wunderbaren Schifffahrt“. Edition Erdmann 2010
(Gut lesbare Fassung von Schmidls Bericht, behutsam aktualisiert nach der Stuttgarter Ausgabe von 1889)
Der Johannisbrotbaum leistet den Menschen am Mittelmeer seit jeher große Dienste: Die Samen als Gewichtseinheit und Verdickungsmittel, die Schoten als Futter- und Nahrungsmittel. Und angesichts von Klimawandel und Ressourcenknappheit ist er heute für viele Bauern Hoffnungsträger. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Ruth Geiersberger, Gudrun Skupin, Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer, Rahel Comtesse
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Matthias Eggert
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Wagenrennen und Gladiatorenkämpfe begeisterten im alten Rom die Massen und gelten heute oft als Zeichen für eine dekadente, unpolitische Öffentlichkeit. Doch Spiele in Rom waren immer auch Politik. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Imogen Rhia Herrad
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Schupp, Shenja Lacher
Technik: Christine Frey
Redaktion: Thomas Morawetz
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Der Baier, sagt man, sei mitunter sau-grob, trunksüchtig, aber gut katholisch. Solche (Vor-)Urteile sind uralt und zwar als Beschreibungen von außen wie als Selbstwahrnehmung der Bayern. Woher kommen solche Stereotype? (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Alexander duda, Peter Weiß
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
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radioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Host mi? Eine kleine bairische Sprachgeschichte
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Wie Bayern zu seinen Rauten kam - Fahne Weiß-Blau
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Bayern und Österreich - Verfreundete Nachbarn
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Schon im alten Rom wurde das Andenken mancher Kaiser "gelöscht", ihre Statuen gestürzt, Plätze umbenannt. Die "damnatio memoriae": Das Auslöschen des Andenkens. Eine Praxis, die heute Anwendung findet. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Hemma Michel, Alexander Duda
Technik: Chris Schimmöller
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
Gabriele D'Annunzio gilt als eine Leitfigur des italienischen Faschismus und als Mentor Mussolinis. Er ist der Regisseur einer neuen Massenbewegung. Als Freischärler will er die Adria-Stadt Fiume, das heutige Rijeka, "befreien". (BR 2009)
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Sabine Kastius, Andreas Neumann, Rainer Buck, Wolfgang Pregler
Redaktion: Hildegard Hartmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
"Die Heilige von Kalkutta", "Mutter ohne Furcht und Tadel", "Der Engel der Ärmsten der Armen" wurde die weltweit bekannte katholische Ordensschwester und Trägerin des Friedensnobelpreises von 1979 genannt. Die Albanerin Agnes Gonxhe Bojaxhiu, alias Mutter Teresa, gründete 1948 in Indien den Orden der "Missionarinnen der Nächstenliebe" und pflegte in Sterbehäusern und Leprakliniken die Ärmsten aus den Elendsvierteln Kalkuttas. Im Laufe ihres Lebens schuf die kleine katholische Nonne im weißen Sari mit den blauen Streifen für ihre Kirche ein weltweites Netzwerk humanitärer Hilfsprojekte. Mithilfe westlicher Medien avancierte sie zur Ikone der Wohltätigkeit. Und zum Medienstar. (BR 2011)
Autor/in dieser Folge: Renate Kiesewetter
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer, Katja Amberger, Heinz Peter, Gudrun Skupin
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
Der Mensch lebt mit dem allergrößten Teil seiner unzähligen Mikroorganismen in harmonischer Kooperation. Milliarden von Bakterien helfen in der Verdauung und produzieren Substanzen, die der menschliche Organismus zum Überleben braucht. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Rahel Comtesse, Christian Baumann
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Der Weg der Nahrung - Wie die Verdauung funktioniert
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Schilddrüse - Schaltzentrale für den Stoffwechsel
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Bakterien - Gefahr im Biofilm
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Für den Mauersegler war es ein Vorteil, sich den Lebensraum mit den Menschen zu teilen. Für die Menschen hat die Nähe der Insektenfresser einen Vorteil. Doch was ist, wenn Mauersegler in den Städten keine Bruthöhlen mehr finden? (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Werner Bader
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Amberger, Johannes Hitzelberger, Anna Greiter
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es außerdem eine spannende Podcastfolge von IQ "Alles Natur":
Alles Natur: Singvögel! Iska Schreglmann im Gespräch mit dem Biologen Thassilo Franke
JETZT ANHÖREN
Rekordbeteiligung bei Dawn Chorus: über 13.500 Vogelstimmen für die Artenvielfalt gesammelt.
Erste Ergebnisse zum Citizen Science- und Kunst-Projekt von BIOTOPIA - Naturkundemuseum Bayern und dem LBV – doppelt so viele Aufnahmen aus Bayern als im Vorjahr:
EXTERNER LINK | BIOTOPIA GEMEINSAME PRESSEMITTEILUNG JUNI 2022
Einfach mal innehalten, den Klängen der Natur lauschen – und sie aufnehmen!
Dawn Chorus ist ein Projekt von BIOTOPIA - Naturkundemuseum Bayern und dem Landesbund für Vogelschutz in Bayern e.V. (LBV), das Menschen weltweit dazu einlädt, Vogelstimmen zu sammeln:
EXTERNER LINK | DAWN CHORUS - DAS MORGENKONZERT
Unsere Empfehlung für Naturinteressierte:
Wilde Winkel. Bayerns Natur-Podcast
„Wilde Winkel“ nimmt Dich mit auf Entdeckungstour in Bayerns wertvollste Natur. Jeden Monat geht’s in einen anderen wilden Winkel Bayerns zwischen den Alpen und der Rhön, dem Nördlinger Ries und dem Fichtelgebirge.
EXTERNER LINK | SPOTIFY.COM | WILDE WINKEL.
RadioWissen hat eine weitere spannende Folge zum Thema:
Vom Bettelruf zur Bravour-Arie - Warum Vögel singen
JETZT ANHÖREN
Poseidon gehörte im Pantheon der unsterblichen Götter zur 'Elite': Er war der Bruder von Zeus, war Herrscher der Meere, zuständig für Orkane und Erdbeben und lebte in einem Palast aus Kristall am Meeresgrund. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Rainer Firmbach
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Andreas Neumann, Beate Himmelstoß, Wolfgang Pregler
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER
Am 11. März 1985 wird Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt. Gorbatschow beginnt die Politik des Umbaus - die Perestroika. Bis dahin stand die sowjetische Wirtschaft streng unter kommunistischer Planung - nun versucht Gorbatschow es mit Elementen der Marktwirtschaft. Ein Plan, der nicht zum Wohle der Sowjetunion aufgeht, denn er öffnet persönlicher Bereicherung Tür und Tor. Dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung begegnet Gorbatschow mit einer bis dahin undenkbaren Haltung: Er stellt Kritik, Offenheit und Demokratie als Triebkräfte der Erneuerung in den Mittelpunkt. Sie seien - sagt er - lebenswichtig für den Erfolg des Umbaus der Gesellschaft. Dieses Bekenntnis aus dem Jahr 1987 ist der Grundstein für die Politik von "Glasnost" und hat weit reichende Folgen. Stephan Laack erklärt "Glasnost" und "Perestrojka" und schildert ihre Konsequenzen - das Ende der Sowjetunion. (BR 2010)
Autor/in dieser Folge: Stephan Laack
Regie: Dorit Kreissl, Eva Solloch
Es sprachen: Detlef Kügow, Christiane Bachschmidt, Friedrich Schloffer, Reiner Buck
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Brigitte Reimer
Mit den SALT-Verhandlungen über Rüstungsbegrenzung beginnt im November 1969 eine Zeit der Entspannung zwischen den USA und der UdSSR. Ende der 1970er Jahre aber folgt eine neue Eiszeit. Sie wird erst ab Mitte der 1980er Jahre langsam überwunden. Die INF- und START-Verträge führen zu einer weitreichenden Abrüstung und zum Ende des Kalten Kriegs.
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Stefan Wilkening, Laura Maire
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Die Bundeszentrale für politische Bildung hat weitere spannende Beiträge:
Entspannung und Neue Ostpolitik 1969-1975
EXTERNER LINK | BPB.DE | Entspannung und Neue Ostpolitik 1969-1975
Eine kurze Geschichte der Abrüstung und Rüstungskontrolle
EXTERNER LINK | BPB.DE | Eine kurze Geschichte der Abrüstung und Rüstungskontrolle
Weitere Fakten zu Atomwaffen finden Sie hier:
EXTERNER LINK | https://www.atomwaffena-z.info/
Und hier noch ein besonderer Tipp:
"Himmelfahrtskommando"
War mein Vater ein Feigling? Immer wieder mussten er und seine Kameraden sich das anhören. Terroristen nehmen bei den Olympischen Spielen in München 11 israelische Sportler als Geiseln. Mein Vater und seine Kollegen sollen sie befreien. Aber kurz bevor es losgeht, brechen die Polizisten die Aktion ab und ziehen sich zurück. Das Olympia-Attentat endet in einer Katastrophe. Seitdem lässt meinen Vater eine Frage nicht los: Hat er eine Mitschuld am Tod der Geiseln? Gemeinsam gehen wir auf die Suche nach einer Antwort. Ein BR-Podcast:
Bayern 2 | Himmelfahrtskommando – Mein Vater und das Olympia-Attentat
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Info zum Podcast "Himmelfahrtskommando" auf BR24:
BR24 | "Himmelfahrtskommando": Neue Erkenntnisse zu Olympia-Attentat
ZUM ARTIKEL
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Literaturtipps
Wilfried Loth
Die Rettung der Welt. Entspannungspolitik im Kalten Krieg 1950–1991
Frankfurt am Main 2016
Arvid Schors
Doppelter Boden
Die SALT-Verhandlungen 1963-1979
Göttingen 2016
Gregor Schöllgen
Geschihcte der Weltpoltik von Hitler bis Gorbatschow 1941-1991
München 1996
Detelf Bald
Hiroshima 6. August 1945
Die nukelare Bedrohung
München 1999
Dürre und Wassermangel bedrohen durch den Klimawandel inzwischen auch Deutschland. Grundwasserspiegel sinken, Flüsse und Seen versiegen in Hitzezeiten. Um Wasser wird es in Zukunft Streit geben, prophezeit das Bundesumweltamt. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Marko Pauli
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Peter Weiß, Frank Manhold
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Auf der Seite des ARD Themenschwerpunkts #UNSERWASSER finden Sie Beiträge, Filme, Dokumentationen und Aktionen zum Thema Wasserknappheit.
DAS ERSTE | #UNSERWASSER
Inflation ist kein Phänomen der Gegenwart. Es ist in der Geschichte schon häufig aufgetreten und das nicht nur in Deutschland. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Stefan Schmid
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Jerzy May
Technik: Siglinde Hermann
Redaktion: Nicole Ruchlak
Es gilt als ein statisches Wunder und selbst ein halbes Jahrhundert nach seiner Erbauung als triumphales Bauwerk: visionär, radikal modern, offen - das Münchner Olympiastadion. Organisch eingefügt in eine künstlich geschaffene, gleichwohl natürlich anmutende Landschaft.
Autor/in dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Ruth Geiersberger, Peter Veit
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Wir empfehlen außerdem:
DIE OLYMPIAPROTOKOLLE (Folge 1-4) auf Alles Geschichte:
Bis heute sind noch viele Fragen zum Olympiaattentat am 5.9.1972 offen. Eva Deinert und Yvonne Maier durchforsten monatelang im Münchner Staatsarchiv zehntausende Akten, Einsatztagebücher, Berichte, Fotos, Briefe, Telegramme. Und stellen fest: Eine Spur haben die Behörden möglicherweise bis heute übersehen.
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 1: Die heiteren Spiele
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 2: Die Geiselnahme
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 3: Der Befreiungsversuch
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 4: Die unbekannte Frau in den Akten
RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Sprint zu den Olympischen Spielen - München wird moderner
JETZT ANHÖREN
Olympische Dörfer in aller Welt - Was wurde aus den Unterkünften?
JETZT ANHÖREN
Olympiapark & Olympisches Dorf
Wissenwertes über den Park und die Bauten der Olympischen Spiele von München 1972:
EXTERNER LINK | OLYMPIADORF.COM
Auch ein weiterer Podcast von Bayern 2 befasst sich mit dem Attentat von 1972:
In „Himmelfahrtskommando“ erzählt Patricia Schlosser die Geschichte ihres Vaters, der 1972 als Polizist beim Olympia-Attentat eingesetzt war und sich seitdem fragt, ob er Mitschuld am tödlichen Ausgang hat.
BR PODCAST | Himmelfahrtskommando - Mein Vater und das Olympia-Attentat
Antike Theater, gotische Kathedralen, moderne Konzerthäuser: Musik erklang immer schon in ganz unterschiedlichen Räumen. Die Akustik gezielt zu berechnen und zu gestalten, gelingt erst im 20. Jahrhundert.
Autor/in dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Martin Schramm
Es sprachen: Andreas Neumann und Berenike Beschle
Technik: Siglinde Hermann
Redaktion: Petra Hermann-Böck
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Wasserstoff ist das leichteste chemische Element - und das häufigste im ganzen Universum. Seine Eigenschaften faszinieren Menschen seit Jahrhunderten. Für die Energiewende ist er ein Hoffnungsträger. Denn Wasserstoff lässt sich mit Hilfe von Ökostrom aus Wasser gewinnen und als Ersatz für fossile Brennstoffe nutzen.
Autor/in dieser Folge: David Globig
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Rahel Comtesse, Benedikt Schregle
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es eine weitere informative Folge von radioWissen:
Kernfusion - Warum dauert das so lange?
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Naga war der Außenposten des Reiches von Meroe, einer Zivilisation, die von den Ägyptern, Römern und Griechen beeinflusst und doch völlig eigenständig war. Heute wird diese Kultur wiederentdeckt. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Klaus Uhrig
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Beate Himmelstoß
Technik: Christiane Frey
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Sendung finden Sie HIER
In der BR Mediathek finden Sie eine faszinierende Dokumentation von ARD alpha über die Tempelstadt Naga (online bis 06.01.2025):
alpha-thema: Archäologie | Die verschüttete Hochkultur: Tempelstadt Naga
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Ebenfalls in der BR Mediathek können Sie einen Drohnen-Flug über Naga erleben:
BR Mediathek | Drohnen-Video | Flug über Naga
JETZT ANSEHEN
Weitere spannende Beiträge, Bilder und Links zur Tempelstadt Naga hat außerdem BR Wissen für Sie:
BR Wissen | Tempelstadt Naga: Die vergessene Hochkultur im Sudan
ZUR BEITRAGSSEITE
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
In afrikanischen Ländern nehmen vermeintlich ethnische Konflikte zu. Doch oft ist die Ursache: Durch den Klimawandel werden die fruchtbaren Flächen knapp. Gleichzeitig steigt die Bevölkerungszahl. Es ist ein Kampf ums Überleben. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Bettina Rühl
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Friedrich Schloffer, Carsten Fabian, Julia Fischer
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Sendung finden Sie HIER
Auf der Seite des ARD Themenschwerpunkts #UNSERWASSER finden Sie Beiträge, Filme, Dokumentationen und Aktionen zum Thema Wasserknappheit.
DAS ERSTE | #UNSERWASSER
Margarete Mitscherlich machte jede Form der Abhängigkeit zu schaffen. Von den männlichen Rollenmustern ihrer Zeit hielt sie nicht viel. Noch mit weit über 80 Jahren praktizierte sie als Psychoanalytikerin. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Ruth Geiersberger
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Susanne Poelchau
Das Manuskript zu dieser Sendung finden Sie HIER
Mehr als nur Muse großer Männer: Lou Andreas-Salomé war eine eigenständige Philosophin, Literatin und Psychoanalytikerin, die männliche Geistesgrößen ihrer Zeit mit ihren Gedanken wesentlich bereicherte. Ein Beitrag von radioWissen:
Lou Andreas-Salomé - Auf Augenhöhe mit Nietzsche, Rilke, Freud
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
Steuern gibt es seit Jahrtausenden. Beliebt waren sie nie, dafür manchmal kurios, wie die Fenster- oder Jungfernsteuer. Und immer sind Steuern auch ein Instrument der Macht. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Axel Wostry, Katja Amberger, Johannes Hitzelberger
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Sie sind auf riesenhaften Fabrikschiffen, auf allen Weltmeeren unterwegs: Hochseefischer, die in großem Stil Meerestier auf offener See fangen. Mit der Dampfschifffahrt begann der Aufstieg eines Metiers, das Fisch zum günstigen und stets verfügbaren Grundnahrungsmittel machte - das aber auch mitverantwortlich für die Überfischung der Meere ist.
Autor/in dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Peter Veit, Karin Schumacher
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
RadioWissen hat noch eine weitere spannende Folge zum Thema:
Aquakultur - Tierzucht in Wasserfarmen
JETZT ANHÖREN
Geboren im mittelfränkischen Dachsbach, aufgewachsen bei den Aischgründer Spiegelkarpfen, ausgezogen nach Wales und zurückgekehrt in seine Heimat Erlangen-Höchstadt: Helmut Haberkamm ist einer der vielseitigsten mittelfränkischen Mundartautoren.
Autor/in dieser Folge: Tobias Föhrenbach
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christiane Blumhoff
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER
Bayern 2 / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung 2022
Typisch Franken?
Dialekt, Bratwurst, Fachwerk, Bier und Wein - ist das typisch Franken? Dieser Frage will die diesjährige Bayerische Landesausstellung in Ansbach vom 26. Mai bis 6. November 2022 auf den Grund gehen.
BAYERN 2 | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Haus der Bayerischen Geschichte / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung „Typisch Franken?“ findet in Ansbach, der früheren Residenzstadt des Markgraftums Brandenburg-Ansbach statt (25. Mai bis 6. November 2022). Gezeigt wird die Ausstellung im barocken Orangeriegebäude aus dem 18. Jahrhundert im markgräflichen Hofgarten. In der Landesausstellung wird gezeigt, was Franken ausmacht und prägt:
EXTERNER LINK | HAUS DER BAYERISCHEN GESCHICHTE | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Wenn sich plötzlich alles gedämpft anhört oder das Ohr ganz taub wird, sprechen Ärzte vom Hörsturz, oft verbunden mit einem quälenden Geräusch: dem Tinnitus. Betroffen sind rund 300.000 Deutsche im Jahr. Ein Massenphänomen, das noch immer Rätsel aufwirft.
Autor/in dieser Folge: Moritz Pompl
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER
Weitere spannende Folgen von radioWissen zum Thema:
Nerven - Das Kommunikationssystem des Körpers
JETZT ANHÖREN
Krankheitsfaktor Stress - Auf den Spuren eines Phänomens
JETZT ANHÖREN
Mehr Infos zu Tinnitus und Hörsturz gibt es auf der Bayern 2 Seite:
BAYERN 2 | HINTERGRUND | TINNITUS UND HÖRSTURZ
Eine circa 1.100 Jahre alte hebräische Sage erzählt, dass Adam vor Eva schon eine andere Frau hatte: Lilith. Sie war von Gott gleichzeitig mit Adam aus Erde erschaffen worden. Als Adam von ihr Unterwerfung forderte, widersetzte Lilith sich, verließ den Garten Eden und machte als unsterbliche Dämonin Karriere. Moderne Interpreten verstehen den mittelalterlichen Schöpfungsmythos als Parabel für den Kampf der Geschlechter. Kein Wunder, dass Lilith zur Ikone der feministischen Bewegung wurde. Schließlich verkörpert sie jenen nach Gleichheit und Unabhängigkeit strebenden Typus Frau, der in den abendländischen, jüdisch-christlich geprägten Kulturen traditionell entwertet und dämonisiert wurde. Die ursprünglichen Wurzeln der ebenso rebellischen wie betörenden Lilith-Gestalt sind allerdings babylonisch und mehr als 3.000 Jahre alt. (BR 2012)
Autor/in dieser Folge: Christiane Adam
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Gert Heidenreich, Hemma Michel, Wolfgang Pregler, Detlef Kügow
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Bernhard Kastner
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Adam und Eva - Deutungen eines Mythos
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Was die Bibel über die Evolution verrät - Das Tagebuch der Menschheit
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Die Schlange - Ganzheit, Unsterblichkeit, Weisheit und List
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Frauen haben im ersten Jahrtausend der Kirche vielfältige kirchliche Funktionen und Ämter ausgeübt. Sie waren als Priesterinnen, Prophetinnen, Apostelinnen und Bischöfinnen tätig. Ihre Bedeutung ist unter der androzentrischen Forschung verlorengegangen und wird auch heute noch von der katholischen Kirche vernachlässigt.
Credits
Autorin dieser Folge: Susanne Brandl
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Bürkle, Peter Lersch, Rahel Comtesse
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Ute Eisen (Professorin; Dr.; ev. Theologin);
Bernadette Brooten (Professorin; röm.-kath. Theologin);
Heidrun Mader (PD; Dr.; ev. Theologin)
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Maria Magdalena - Apostolin der Apostel?
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Die Frau im Judentum - mehr als die "Königin des Hauses"
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Buddhas Töchter - Frauen auf dem Weg zur Erleuchtung
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Frauen in den Hindureligionen - Ein Dasein voller Widersprüche
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Literaturtipps:
Ute E.Eisen:
Amtsträgerinnen im frühen Christentum, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996.
Frauen in leitenden Positionen im Neuen Testament und in der frühen Kirche. In: Bibel und Kirche 65 (2010), 205–213.
„Ach ja, die These von der Ausnahmefrau?“ Ein Gespräch mit der Bibel-wissenschaftlerin Ute E. Eisen über Jesus und die Frauen, über die Ge-schichte der ersten Christinnen und was sie für uns heute bedeutet, in: Welt und Umwelt der Bibel 4/2015, 42-45.
Heidrun Mader:
Montanistische Orakel und kirchliche Opposition: Der frühe Streit zwi-schen den phrygischen „neuen Propheten“ und dem Autor der vore-piphanischen Quelle als biblische Wirkungsgeschichte des 2. Jh. n. Chr. (NTOA 97), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012 (264 Seiten).
Prophetinnen in Phrygien: Die Bewegung des Montanismus, Welt und Umwelt der Bibel 4/15 (2015), 38-41 (Koautor Peter Lampe).
„Ich bin kein Wolf“: Phrygische Prophetinnen in der Frühen Kirche, in Michaela Bauks/Katharina Galor/Judith Hartenstein (ed.), Gender and Social Norms in Ancient Israel, Early Judaism and Christianity: Text and Material Culture (Journal of Ancient Judaism: Supplements), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 277-296.
Das Denken des jüdischen Philosophen Walter Benjamin ist so rastlos wie sein Leben. Sein Werk so vielschichtig wie rätselhaft. Die Hoffnung auf eine Verbindung von Geschichte und Utopie, also auf eine bessere Zukunft, birgt es immer. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Stephanie Metzger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Hemma Michel, Stefan Merki
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
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Die Götter der Germanen leben in ewiger Jugend, die sie den von Idun gehüteten goldenen Äpfeln verdanken. Über eine Regenbogenbrücke können sie in die Menschenwelt herabsteigen. Ihr Größter ist der einäugige Wotan (bei den Nordgermanen heißt er Odin), zuständig für die Dichter, die Krieger und die Toten. Freya beschützt die Liebenden, Frigg die Mütter, Baldur die Reinheit und das Licht. Die Nornen bestimmen das Schicksal der Menschen und helfen bei der Geburt, die Walküren bringen die gefallenen Krieger nach Walhall. Der listenreiche Loki wird den Weltuntergang herbeiführen, und dabei werden alle Götter sterben, aber es wird eine neue Welt entstehen. Es ist ein farbiges Universum, das die alten Mythen entwerfen. Die Germanengötter sind nicht unfehlbar und legen menschliche Eigenschaften an den Tag. Das lässt sie weniger majestätisch erscheinen als den Jahwe der Juden oder den Allah der Muslime, macht sie aber ausgesprochen interessant. Woher wissen wir überhaupt von den Göttern der Germanen, die keine Bücher und Lexika geschrieben haben? Warum gibt es Konkurrenz und Krieg zwischen den verschiedenen Götterfamilien? Werden sie nach dem Weltuntergang wieder auferstehen? Und was bedeutet es, dass die alten Gottheiten heute aus einem esoterischen, neuheidnischen, bisweilen rechtsradikalen Untergrund neu an die Oberfläche drängen? (BR 2011)
Autor/in dieser Folge: Christian Feldmann
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Sabine Kastius, Axel Wostry, Martin Umbach
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat eine weitere spannende Folge zum Thema:
Der Weltenbaum - Symbol der Schöpfung
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Die Edda - das ist die entscheidende Quelle für die nordische Mythologie aus dem 13. Jahrhundert. Die Texte erzählen unter anderem von Allvater Odin, dem Donnergott Thor und dem listigen Gott Loki. Die Figuren der Edda sind mittlerweile Stoff abendfüllender Opern, von Comics, Kinofilmen und Streaming-Serien geworden.
Autor/in dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Irina Wanka, Thomas Meinhardt, Thomas Gräßle
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Susanne Poelchau
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Der Weltenbaum - Symbol der Schöpfung
JETZT ANHÖREN
Literaturempfehlungen:
Rudolf Simek: Die Edda. C.H. Beck, München 2007.
Karl Simrock: Die Edda, Übersetzung von Karl Simrock, Verlag der J.G. Cotta’schen Buchhandlung, Stuttgart 1876.
Katja Schulz / Florian Heesch (Hrsg.): „Sang an Aegir“: Nordische Mythen um 1900 (Edda-Rezeption), Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2010.
Katja Schulz (Hrsg.): Eddische Götter und Helden/Eddic Gods and Heroes: Milieus und Medien ihrer Rezeption/The Milieux and Media of Their Reception (Edda-Rezeption), Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2011.
Julia Zernack / Katja Schulz (Hrsg.): Gylfis Täuschung: Rezeptionsgeschichtliches Lexikon zur nordischen Mythologie und Heldensage (Edda-Rezeption), Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2019.
Was steckt hinter der Sehnsucht nach dem risikolosen, alltagstauglichen Mikro- Abenteuer? Geht es um ein echtes emotionales Bedürfnis oder nur um eine neue Marketing-Masche? (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Jerzy May
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Susanne Poelchau
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Mit ihrem Rüssel saugen sie alles auf, was sich ihnen in den Weg stellt - Häuser, Autos, Bäume, Menschen. Trotzdem sind Tornados eines der faszinierendsten Wetterereignisse. Erst jetzt haben Studien gezeigt, dass sie nicht in Gewitterwolken, sondern in Bodennähe entstehen. Aber sie bergen noch mehr Geheimnisse.
Autor/in dieser Folge: Roana Brogsitter
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Xenia Tiling, Karin Schumacher, Andreas Discherl
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Matthias Eggert
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Hurrikans – Zerstörerische Winde in Zeiten des Klimawandels
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Blitze – Extrem und zunehmend gefährlich
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Jörg Fauser war das enfant terrible der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Seine Texte sind bedingungslos realistisch und von einer Sehnsucht nach Nähe in der kalten Betonwelt geprägt.
Autor/in dieser Folge: Michael Reitz
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Katja Amberger, Burchard Dabinnus
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Andrea Bräu
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Literatur zur Folge:
Jörg Fauser: „Das Weiße im Auge“; Diogenes-Verlag 2021
Jörg Fauser: „Der Klub, in dem wir alle spielen“; Diogenes-Verlag 2020
Jörg Fauser: „Der Schneemann“; Diogenes-Verlag 2020
Deutsche Musik nach 1945 war lange Zeit nur als kitschiger Schlager bekannt. Erst Ende der 60er Jahre begannen Bands wie Amon Düül, Embryo und Kraftwerk aus dem Nichts neue Sounds zu schaffen und begründeten damit den sogenannten "Krautrock".
Autor/in dieser Folge: Christian Schaaf
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Sven Hussock, Katja Amberger
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Andrea Bräu
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Literatur zur Folge:
Henning Dedekind: Krautrock – Gegenkultur, LSD und kosmische Klänge. Zweitausendeins, Leipzig 2021
Alexander Simmeth, Krautrock Transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, 1968-1978. Transcript, Bielefeld
Krautrock Teile 1, 2, 3. Ein Film von Adele Schmidt und José Zegarra Holder. Good!Moovies 2020
Aus den Jahrhunderte lang von Landwirtschaft geprägten Weilern sind meist reine Schlaf- oder Touristendörfer geworden. Deshalb heißt der Wettbewerb heute: "Unser Dorf hat Zukunft". (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Peter Weiß, Julia Cortis
Technik: Christiane Schmidbauer-Huber
Redaktion: Thomas Morawetz
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Eine sehenswerte Dokumentation über den Beruf Bäuerin finden Sie in der BR Mediathek (Online bis 11.07.2023, 10:44 Uhr):
BR MEDIATHEK | BAYERN ERLEBEN | 100 Jahre FrauenGeschichte
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
Die europäische Landwirtschaft ist abhängig von Soja-Importen aus Übersee für Tierfutter. Aber der Sojaanbau in Europa nimmt zu. Ob wir jemals von Importen unabhängig werden können, hängt von unseren Ernährungsgewohnheiten ab.
Autor/in dieser Folge: Renate Ell
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer, Katja Schild
Technik: Christine Frey
Redaktion: Matthias Eggert
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Der tropische Regenwald - Bedrohter Klimapuffer
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Palmöl - Plantagen, die den Dschungel zerstören
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Der Wald, Ort der Mythen und Sagen. Dieser Zauber ist aber im Laufe der Jahrhunderte immer mehr verloren gegangen: Wälder werden nach rein wirtschaftlichen Prinzipien bewirtschaftet. Nun gibt es eine Renaissance der Wälder. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Karin Lamsfuss
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Irina Wanka, Christian Baumann, Jerzy May
Technik: Marcus Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
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Ihr Ziel war die Emanzipation des Judentums: die Haskala, die jüdische Aufklärung wollte die bürgerliche Gleichstellung von Jüdinnen und Juden in der Mehrheitsgesellschaft - teils erfolgreich. Doch zugleich entstand auch eine moderne Judenfeindlichkeit.
Autor/in dieser Folge: Antje Dechert
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Berenike Beschle, Katja Schild, Carsten Fabian
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner
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Das Judentum in Deutschland - Die Anfänge
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Die Tora - Die heilige Schrift der Juden
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Die Frau im Judentum - mehr als die "Königin des Hauses"
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Das Judentum - Sehnsucht nach einer gerechten Welt
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Debatte mit Gott - Was ist der Talmud?
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Literaturtipps:
Dorothee Nolte: Ich liebe unendlich Gesellschaft, Rahel Varnhagen. Lebensbild einer Salonière, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2021, 128 S. ISBN: 978-3359030034.
Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. Beck-Verlag, München 2002, 279 S. ISBN: 3-406-48880-3
Thomas Lackmann: Das Glück der Mendelssohns. Geschichte einer deutschen Familie, Aufbau Verlag, Berlin, 3. Auflage 2007, S. 576. ISBN: 987-3746623900.
Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin in der Romantik, Piper 2021, S. 416
Moses Mendelssohn war zu seinen Lebzeiten eine Ikone der Aufklärung. Obwohl ohne staatsbürgerliche Rechte, schätzten die Intellektuellen in ganz Europa den jüdischen Philosophen. Er wurde zum Vorreiter der jüdischen Aufklärung, der Haskala, hielt selbst aber an den Geboten des Judentums fest.
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Irina Wanka, Friedrich Schloffer
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Bernhard Kastner
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Das Reformjudentum - Emanzipation und Aufklärung
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Die Frau im Judentum - Mehr als die "Königin des Hauses"
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Literaturtipps:
Moses Mendelssohn: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, Meiner Verlag 2013
Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum, Meiner Verlag 2005
Thomas Lackmann: Das Glück der Mendelssohns, Geschichte einer deutschen Familie, Aufbau Verlag 2005
Anne Pollok: Facetten des Menschen. Zur Anthropologie Mendelssohns, Meiner Verlag, 2009
Christoph Schulte: Von Moses bis Moses. Der jüdische Mendelssohn, Wehrhahn Verlag, 2020
Moses Mendelssohn et al: Was ist Aufklärung? Reclam Verlag 1974
Moses Mendelssohn: Morgenstunden, Reclam Verlag 1979
"Gerhard Polt ist ein Phänomen" hat Dieter Hildebrandt einst gesagt. Er hat zweifellos recht. Seit den 70er Jahren sorgt Polt für ausverkaufte Säle, dreht Filme, kriegt Preise. Wird verehrt von den Linken und geachtet von den Konservativen. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Johannes Roßteuscher
Regie: Nicole Ruchlak
Es sprachen: Laura Maire
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Die Herrscher des Fürstentums Bamberg ließen innerhalb weniger Jahrzehnte ab etwa 1600 um die tausend Menschen als Hexen hinrichten. Frauen, Männer, Kinder - niemand war vor Verfolgung sicher. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Johannes Munzinger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Stefan Wilkening, Hemma Michel, Mark Kuhn
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Bayern 2 / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung 2022
Typisch Franken?
Dialekt, Bratwurst, Fachwerk, Bier und Wein - ist das typisch Franken? Dieser Frage will die diesjährige Bayerische Landesausstellung in Ansbach vom 26. Mai bis 6. November 2022 auf den Grund gehen.
BAYERN 2 | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Haus der Bayerischen Geschichte / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung „Typisch Franken?“ findet in Ansbach, der früheren Residenzstadt des Markgraftums Brandenburg-Ansbach statt (25. Mai bis 6. November 2022). Gezeigt wird die Ausstellung im barocken Orangeriegebäude aus dem 18. Jahrhundert im markgräflichen Hofgarten. In der Landesausstellung wird gezeigt, was Franken ausmacht und prägt:
EXTERNER LINK | HAUS DER BAYERISCHEN GESCHICHTE | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Krieg und Pest hatten Erlangen im 17. Jahrhundert beinahe entvölkert. Da ließ Markgraf Christian Ernst französische Hugenotten zur Ansiedlung anwerben. Bald sorgten sie für wirtschaftlichen Aufschwung. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Renate Währisch
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Axel Wostry
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Bayern 2 / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung 2022
Typisch Franken?
Dialekt, Bratwurst, Fachwerk, Bier und Wein - ist das typisch Franken? Dieser Frage will die diesjährige Bayerische Landesausstellung in Ansbach vom 26. Mai bis 6. November 2022 auf den Grund gehen.
BAYERN 2 | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Haus der Bayerischen Geschichte / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung „Typisch Franken?“ findet in Ansbach, der früheren Residenzstadt des Markgraftums Brandenburg-Ansbach statt (25. Mai bis 6. November 2022). Gezeigt wird die Ausstellung im barocken Orangeriegebäude aus dem 18. Jahrhundert im markgräflichen Hofgarten. In der Landesausstellung wird gezeigt, was Franken ausmacht und prägt:
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Heute erlebt die Straßenbahn weltweit eine Renaissance. Die Trambahn knüpft damit an eine Erfolgsgeschichte an, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Pferdetram begonnen hatte. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Peter Weiß, Beate Himmelstoß
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Thomas Morawetz
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Hier gibt es eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
Das Automobil - Die ersten 50 Jahre
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Sie möchten historische Fahrzeuge im Museum bewundern?
Deutsches Museum Verkehrszentrum
Erleben Sie auf 12 000 Quadratmetern Ausstellungsfläche Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Mobilität. Die Ausstellung in Halle I "Stadtverkehr gestern und heute" präsentiert den Stadtverkehr der Gegenwart bis zurück in die Zeit um 1900. Hier erfahren Sie mehr über Pferdetrams, Fahrräder, Automobile und mehr. Mehr Infos unter:
EXTERNER LINK | DEUTSCHES MUSEUM VERKEHRSZENTRUM | https://www.deutsches-museum.de/verkehrszentrum/besuch
MVG Museum
Das MVG Museum zeigt auf über 5.000 Quadratmetern insgesamt rund 25 historische Straßenbahnen, Busse und Arbeitsfahrzeuge aus unterschiedlichen Epochen. Außerdem werden unterschiedliche Themenbereiche wie Stadtgeschichte, Entwicklung des Verkehrs, Technikgeschichte im Überblick, Uniformen und Accessoires, Beschilderung und Werbung, Signale, Maschinen, Werkzeuge und die Funktionen der Leitstelle für Bus und Tram anschaulich dargestellt. Mehr Infos unter:
EXTERNER LINK | MVG MUSEUM | https://www.mvg.de/services/freizeittipps/mvg-museum.html
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Es ist der Beginn einer neuen Ära: Rund 1.600 geladene Gäste sind im Oktober 1971 dabei, als Münchens erste U-Bahn-Linie in Betrieb geht - ein knappes Jahr vor den Olympischen Spielen. Mit dem neuen Verkehrsmittel geht das Versprechen einher, München zu einer lebenswerten und humanen Weltstadt zu machen.
Autor/in dieser Folge: Manuel Rauch
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Xenia Tiling
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Thomas Morawetz
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Das Automobil - Die ersten 50 Jahre
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Deutsches Museum Verkehrszentrum
Erleben Sie auf 12 000 Quadratmetern Ausstellungsfläche Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Mobilität. Die Ausstellung in Halle I "Stadtverkehr gestern und heute" präsentiert den Stadtverkehr der Gegenwart bis zurück in die Zeit um 1900. Hier erfahren Sie mehr über Pferdetrams, Fahrräder, Automobile und mehr. Mehr Infos unter:
EXTERNER LINK | DEUTSCHES MUSEUM VERKEHRSZENTRUM | https://www.deutsches-museum.de/verkehrszentrum/besuch
MVG Museum
Das MVG Museum zeigt auf über 5.000 Quadratmetern insgesamt rund 25 historische Straßenbahnen, Busse und Arbeitsfahrzeuge aus unterschiedlichen Epochen. Außerdem werden unterschiedliche Themenbereiche wie Stadtgeschichte, Entwicklung des Verkehrs, Technikgeschichte im Überblick, Uniformen und Accessoires, Beschilderung und Werbung, Signale, Maschinen, Werkzeuge und die Funktionen der Leitstelle für Bus und Tram anschaulich dargestellt. Mehr Infos unter:
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
Seeigel haben fiese Stacheln und sind wohl auch deshalb Überlebenskünstler. Es gibt sie seit Urzeiten, sie leben in allen Weltmeeren. Dabei sind die Algenfresser wichtige Akteure im Ökosystem Küstengewässer. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Diana Gaul, Rahel Comtesse
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Bernhard Kastner
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Noch mehr Interesse an der faszinierenden Unterwasserwelt?
RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Seesterne – Bizarre Schönheiten der Meere
JETZT ANHÖREN
Das Seepferdchen - Ein ganz besonderer Fisch
JETZT ANHÖREN
Der Schwamm – Ohne Hirn doch voller Raffinesse
JETZT ANHÖREN
Seegurken sind alles andere als schön! Die wirbellosen, walzenartigen Verwandten der Seesterne und Seeigel leben am Meeresboden und saugen wie ein Meeresstaubsauger Plankton und Sedimente auf. Manche sind giftig, andere begehrte Delikatessen. Sie alle sind wahre Anpassungskünstler, die auch die Bionik für sich entdeckt hat.
Autor/in dieser Folge: Bernhard Kastner
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner, Peter Lersch
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
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Noch mehr Interesse an der faszinierenden Unterwasserwelt?
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Der Schwamm – Ohne Hirn doch voller Raffinesse
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Faszinierende Bilder von Seegurken finden Sie hier:
EXTERNER LINK | MEERWASSER-LEXIKON.DE | SEEWALZEN
Literaturtipp:
Studie über die Bedeutung der Seegurken für das Gleichgewicht in den Fiji-Inseln:
Effects of sandfish (Holothuria scabra) removal on shallow-water sediments in Fiji
(Leibniz Centre for Tropical Marine Research (ZMT); Faculty of Biology and Chemistry (FB2), University of Bremen; Fiji Country Program, Wildlife Conservation Society, Suva, Fiji. Die Autoren: Stehen Lee, Amanda Ford, Sangeeta Mangubhai, Christian Wild und Sebastian Ferse.)
JETZT ONLINE LESEN | EXTERNER LINK | PEERJ.COM
Von Religionen weltweit und von jeher eingefordert scheint Demut in der säkularisierten Zeit obsolet. Doch Demut kann als Anerkennung der eigenen Begrenztheit ein Tor zur inneren Freiheit werden. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Anja Mösing
Es sprachen: Katja Bürkle, Friedrich Schloffer
Technik: Marcus Huber
Redaktion: Bernhard Kastner
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Hier gibt es weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Die Beichte - Ohne Ballast neu beginnen
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Vergebung als Chance - Ein Prozess der inneren Aussöhnung
JETZT ANHÖREN
Die Baumarktbranche boomt, Strickzeitschriften sind wieder in und der Töpferkurs der Volkshochschule ist auch schon ausgebucht. Was ist der besondere Reiz an der Arbeit mit den eigenen Händen? (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Julie Metzdorf
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann, Peter Veit
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Tolle DIY-Ideen zum Nachbasteln hat Bayern 1 für Sie:
BAYERN 1 | DIY | DIE BESTEN DIY-IDEEN
DIY kann so nachhaltig sein!
Erfahren Sie in der BR Mediathek, wie Sie Putz- und Waschmittel selbst machen können:
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Eine junge Frau kommt als Gouvernante auf einen märchenhaften Herrensitz mit scheinbar engelsgleichen Kindern. Doch dann beginnt in Henry James Schauernovelle "Die durchdrehende Schraube" ein perfides Spiel mit den Leser*innen: Das Grauen lauert im Unausgesprochenen. Ist es echt oder Einbildung?
Autor/in dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Axel Wostry, Katja Amberger, Laura Maire
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es noch weitere spannende Folgen von radioWissen:
Die Lust am Gruseln - Echte Gänsehautgefühle
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Stephen King - Der König des Schreckens
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Literaturtipp:
Henry James: Die Drehung der Schraube, aus dem amerikanischen Englisch von Ingrid Rein, Berlin 2015.
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
E. T. A. Hoffmann war ein Universalkünstler, der nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Musiker, Komponist und Zeichner Bedeutendes schuf. Beliebt auch seine vielen Anspielungen aufs Zeitgeschehen. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Gert Heidenreich, Beate Himmelstoß, Stefan Merki, Peter Lersch
Technik: Christine Frey
Redaktion: Petra Hermann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Anfang des 20. Jahrhunderts kommen die "Jugendbewegungen" auf. Ihre Mitglieder wollen letztlich nur eines: etwas anders machen als die Elterngeneration. Doch ihre Werte werden schließlich missbraucht. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Thomas Loibl
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
Wir zeigen auf warum Brainstormen nicht zu den kreativsten Lösungen führt, warum sich PolarforscherInnen in der Isolation nicht gegenseitig an die Gurgel gehen und was wir davon für unseren Alltag lernen können. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Marlen Fercher
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Rahel Comtesse, Florian Schwarz, Martin Fogt
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Susanne Poelchau
Die ersten Entdecker der Antarktis waren waghalsige Abenteurer, unter widrigsten Bedingungen und ohne aufwändige technische Hilfsmittel kämpften sie sich durch das unendliche Eis: Roald Amundsen, Robert Scott, Ernest Shakleton. Auf den frühen Expedition verloren viele ihr Leben, nur wenige konnten den Ruhm als Held und Entdecker tatsächlich genießen. Heute ist die Antarktis immer noch ein wüster Ort - aber längst kein leerer mehr. Tausende von Wissenschaftlern leben und arbeiten dort, manche harren sogar während des finsteren antarktischen Winters aus. Dazu kommen jährlich noch 20000 Reisende aus aller Welt. Seit Roald Amundsens spektakulärer Reise zum Südpol hat sich das Gesicht der Antarktis gewandelt: Aus dem Sehnsuchtsort verwegener Abenteurer ist ein Touristenziel geworden. (BR 2011)
Autor/in dieser Folge: Florian Hildebrand
Regie: Sabine Kienhöfer, Frank Halbach
Es sprachen: Sabine Kastius, Jerzy May, Friedrich Schloffer
Technik: Josuel Theegarten
Redaktion: Nicole Ruchlak
Die Schlange - ein äußerst beliebtes Symbol: Von den Felszeichnungen der Steinzeit bis zur Bildersprache moderner Werbung dient das Reptil als Träger unterschiedlicher - und widersprüchlicher - Botschaften. (2012)
Autor/in dieser Folge: Geseko v. Lüpke
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Eva Gosciejewicz, Stefan Wilkening, Claus Brockmeyer
Technik: Lydia Schön
Redaktion: Bernhard Kastner
Glibberig, glitschig, klebrig: Schleim hat keinen guten Ruf - zu Unrecht! Er schützt uns vor Austrocknung, krankmachenden Keimen und unserer eigenen Magensäure. Aber warum ekeln wir uns dann so vor ihm? (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Andreas Neumann, Andreas Dirscherl
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Matthias Eggert
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Solange die Welt sich dreht, werden Geschichten vom Himmel erzählt. Hoffnungsgeschichten, dass es weitergeht. Die Überzeugung, dass dort im Himmel etwas auf uns wartet, kann mächtig viel Kraft zum Leben geben. Früher hat man den Himmel gern als Wohnung der Götter und der großen Helden beschrieben. Heute verstehen ihn religiöse Menschen kaum mehr als Ort auf der Landkarte des Universums, sondern als Beziehung. Als Erfahrung der Nähe Gottes, die dazu einlädt, die Erde ein wenig freundlicher und menschlicher zu machen. (BR 2012)
Autor/in dieser Folge: Christian Feldmann
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Susanne Schroeder, Jerzy May
Technik: Lydia Schön
Redaktion: Bernhard Kastner
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Mit der Industrialisierung vor anderthalb Jahrhunderten beginnt auch die Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung: Handwerker und Gesellen waren die ersten, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts angesichts der katastrophalen Bedingungen in den Fabriken zusammenschlossen: Um für höheren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, um sich gegenseitig in Notlagen zu unterstützen und um sich weiterzubilden. (BR 2009)
Autor/in dieser Folge: Thies Marsen
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer, Andreas Neumann, Heiko Ruprecht
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Nicole Ruchlak
Er ist einer der bedeutendsten Physiker der Geschichte. Sein Leben war geprägt von der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammen hält. Er formulierte die Quantenmechanik und nach ihm ist die Unschärferelation benannt. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Stefan Geier
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel, Beate Himmelstoß, Stefan Merki
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Nicole Ruchlak
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radioWissen hat weitere spannende Folgen zum Thema:
Quantenmechanik im täglichen Leben - Die Bedeutung der Erkenntnisse Heisenbergs
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Quantenphysik - Wahr, aber verrückt
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Sein Porträt einer Dame wurde für 135 Millionen Dollar verkauft, eines des teuersten Bilder der Welt. Er war ein Genie, ein Tier, ein Erotomane. Der größte Maler des Wiener Jugendstils: Gustav Klimt. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Katalin Fischer
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Martin Umbach, Peter Weiß, Sabina Schönbrunner
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Petra Hermann
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Hier gibt es eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
Jugendstil - Natur als Kunst, Schönheit als Revolte
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Die 1903 gegründete "Wiener Werkstätte" ist mit den Namen der beiden Jugendstil-Künstler Joseph Hoffmann und Koloman Moser eng verknüpft. Doch für das außergewöhnliche Unternehmen arbeiteten auch viele Frauen als Designerinnen. Sie werden erst langsam wiederentdeckt.
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Susanne Poelchau
Radiowissen hat noch weitere hörenswerte Folgen zum Thema:
Jugendstil - Natur als Kunst, Schönheit als Revolte
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Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Literaturtipps:
Greiner, Margret: Auf Freiheit zugeschnitten, Emilie Flöge, Modeschöpferin und Gefährtin Gustav Klimts. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2014
Rossberg, Anne-Katrin, Schmuttermeier, Elisabeth, und Thun-Hohenstein, Christoph (Hrsg.): Die Frauen der Wiener Werkstätte. MAK, Wien und Birkhäuser Verlag, Basel 2020
Sommer 1944: Während des Zweiten Weltkriegs treffen sich in einem US-amerikanischen Dorf 800 Ökonomen und Politiker aus 44 Ländern. Thema: die Weltwirtschaft nach dem Krieg. Kompromiss: Bretton Woods. (BR 2013)
Autor/in dieser Folge: Christine Bergmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Friedrich Schloffer
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Frauen auf Kriegsschiffen? In der Antike ein Tabu. Eine Ausnahme war Artemisia I. aus dem heutigen Bodrum. Sie ging als tapfere und clevere Admiralin der persischen Flotte in die Geschichte ein. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Shenja Lacher, Franziska Ball, Stefan Merki, Florian Schwarz, Rahel Comtesse, Silke von Walkhoff
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Kyros II. - "der Große" - formte durch seine Eroberungsfeldzüge nicht nur ein mächtiges Reich, sondern wird auch als weise, gerecht und großmütig, beschrieben. Ist dieser gute Ruf verdient, war Kyros der Prototyp des guten Herrschers?
Autor/in dieser Folge: Niklas Nau
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Baumann, Thomas Birnstiel
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Sendung gibt es HIER.
Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Artemisia - Die Admiralin der Antike
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Literaturtipps:
Waters, Matt. 2022. King of the World: The Life of Cyrus the Great. Oxford University Press, New York.
Briant, Pierre. 2002 From Cyrus to Alexander: A History of the Persian Empire. Pennsylvania State University Press, Winona Lake.
Miller, Margaret. 2006. Persians in the Greek Imagination. PROCEEDINGS OF THE 25TH ANNIVERSARY SYMPOSIUM of the AUSTRALIAN ARCHAEOLOGICAL INSTITUTE AT ATHENS (19/20): 109-123.
Seretaki, Maria und Melina Tamiolaki. 2018. Polybius and Xenophon: Hannibal and Cyrus the Great as Model Leaders. In: Polybus and his Legacy. Miltsios und Tamioloaki, eds. De Gruyter.
Beckman, Daniel. 2018. The Many Deaths of Cyrus the Great. Iranian Studies 51(1):1-21.
Kuhrt, Amélie. 2007. Cyrus the Great of Persia: Images and Realities. In: Heinz und Feldman, eds. Representations of Political Power: Case Histories from Times of Change and Dissolving Order in the Ancient Near East. Penn State University Press, Winona Lake.
Sie sind wurmartig, glitschig, oft braun oder schwarz - und rufen häufig dieselbe Reaktion hervor: Igitt, wie eklig! Aber die kleinen Blutsauger können auch chronische Rücken- oder Knieschmerzen lindern. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Amberger, Armin Berger
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Bernhard Kastner
BR Wissen hat einen weiteren spannenden Beitrag zu diesem Thema:
Blutegel - Parasiten und wundersame Heiler
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Im Namen der Ehre wurden und werden Kriege geführt, Menschen ermordet oder Duelle ausgefochten. Aber der Begriff der Ehre ist auch heute noch in unserer Gesellschaft weitaus präsenter als viele meinen. Politiker geben ihr Ehrenwort und Straftaten gegen die Ehre können geahndet werden.
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Michael Hafner, Friedrich Schloffer
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Afrikas Ubuntu – Die Philosophie der Menschlichkeit
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Literaturtipps:
Winfried Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Reclam Verlag, Stuttgart 2010
Simon Meier: Beleidigungen. Eine Untersuchung über Ehre und Ehrverletzungen in der Alltagskommunikation. Shaker, Aachen 2007
Im Christentum begegnet uns Jesus als die menschliche Verkörperung Gottes. Die Inkorporierung eines Gottes im Menschen ist jedoch in den religiösen Vorstellungen der Menschen weltweit beileibe kein Einzelfall. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Stefan Wilkening, Burchard Dabinnus, Karin Schumacher
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Bernhard Kastner
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RadioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Der 14. Dalai Lama - Göttliches Mitgefühl und irdische Politik
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Tierkulte in den Hindu-Religionen - Verkörperung göttlicher Mächte
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Der Buddhismus - Von Indien in die Welt
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Was ist die Menschenwürde? Erst relativ spät fand sie Eingang in Gesetzes- und Verfassungstexte, doch heute gilt sie als höchstes moralisches Gebot der Moderne. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Renate Kiesewetter
Regie: Dorit Kreissl
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer, Carsten Fabian
Technik:Regina Staerke
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Im ausgehenden Mittelalter zog ein Reformer gegen Ablasshandel und andere Missstände der Kirche zu Felde. Er forderte die Übersetzung der Bibel in die Umgangssprache und predigte vom notwendigen Ungehorsam des Christen. Dieser Reformer, der ein Jahrhundert vor Martin Luther lebte, war der Prager Jan Hus. Seine Lehre war einfach - und revolutionär: "Die Wahrheit befreit von der Sünde, vom Teufel, vom Tod der Seele." Die Kirche klagte ihn der Ketzerei an und zitierte ihn 1414 vor das Konzil von Konstanz. Wie Martin Luther wurde Jan Hus freies Geleit zugesichert. Wie Martin Luther weigerte Jan Hus sich, zu widerrufen. Hier endet die Parallele. Am 06.07.1415 verurteilte das Konzil den unbequemen Tschechen wegen Ketzerei. Er wurde noch am selben Tag verbrannt und seine Asche in den Rhein gestreut. Die Rufe nach Reform brachte sein Tod nicht zum Verstummen. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Imogen Rhia Herrad
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Caroline Ebner, Christian Baumann, Heinz Peter
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Bernhard Kastner
Rache wird mit Holocaustüberlebenden selten in Verbindung gebracht, aber es gab diverse, oft im Verborgenen durchgeführte Vergeltungsaktionen, etwa Hinrichtungen von NS-Kriegsverbrechern durch Soldaten der Jewish Brigade, oder "Plan A" der Gruppe Nakam, die das Trinkwasser in mehreren deutschen Großstädten vergiften wollte, mit dem Ziel sechs Millionen Deutsche zu töten. Ein Blick auf jüdische Rache in der Geschichte und in der Fantasie.
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel, Kia Ahrndsen, Sven Hussock, Peter Veit
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier noch ein besonderer Podcast-Tipp:
DIE OLYMPIAPROTOKOLLE (Folge 1-4) auf Alles Geschichte:
Bis heute sind noch viele Fragen zum Olympiaattentat am 5.9.1972 offen. Eva Deinert und Yvonne Maier durchforsten monatelang im Münchner Staatsarchiv zehntausende Akten, Einsatztagebücher, Berichte, Fotos, Briefe, Telegramme. Und stellen fest: Eine Spur haben die Behörden möglicherweise bis heute übersehen.
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 1: Die heiteren Spiele
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 2: Die Geiselnahme
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 3: Der Befreiungsversuch
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 4: Die unbekannte Frau in den Akten
radioWissen hat noch weitere spannende Folgen zum Thema:
Das Judentum in Deutschland - Die Anfänge
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Nazi-Raubliteratur - Plagiat im Holocaust
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Die Tora - Die heilige Schrift der Juden
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Literatur zur Sendung:
Dina Porat: “Die Rache ist Mein allein” Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam, Verlag Brill – Ferdinand Schöningh, 2021
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Das Tagebuch der Anne Frank hat Millionen Menschen bewegt. Mit 13 Jahren beginnt das Mädchen unter dem Druck nationalsozialistischer Verfolgung seine Gedanken und Gefühle aufzuzeichnen. Trotz aller Ängste lässt sie sich ihre Neugier gegenüber dem Leben nicht rauben. Doch zwei Jahre später wird ihr Versteck entdeckt. Anne Frank stirbt mit 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen. (BR 2004)
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Rahel Comtesse, Adela Florow, Ilse Neubauer
Redaktion: Hildegard Hartmann, Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge finden Sie HIER.
Hier noch ein besonderer Podcast-Tipp:
DIE OLYMPIAPROTOKOLLE (Folge 1-4) auf Alles Geschichte:
Bis heute sind noch viele Fragen zum Olympiaattentat am 5.9.1972 offen. Eva Deinert und Yvonne Maier durchforsten monatelang im Münchner Staatsarchiv zehntausende Akten, Einsatztagebücher, Berichte, Fotos, Briefe, Telegramme. Und stellen fest: Eine Spur haben die Behörden möglicherweise bis heute übersehen.
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DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 2: Die Geiselnahme
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DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 4: Die unbekannte Frau in den Akten
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Literatur zur Sendung:
Dina Porat: “Die Rache ist Mein allein” Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam, Verlag Brill – Ferdinand Schöningh, 2021
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Die Herrscher des Fürstentums Bamberg ließen innerhalb weniger Jahrzehnte ab etwa 1600 um die tausend Menschen als Hexen hinrichten. Frauen, Männer, Kinder - niemand war vor Verfolgung sicher. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Johannes Munzinger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Stefan Wilkening, Hemma Michel, Mark Kuhn
Technik: Elisabeth Huber
Redaktion: Thomas Morawetz
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Krieg und Pest hatten Erlangen im 17. Jahrhundert beinahe entvölkert. Da ließ Markgraf Christian Ernst französische Hugenotten zur Ansiedlung anwerben. Bald sorgten sie für wirtschaftlichen Aufschwung. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Renate Währisch
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Axel Wostry
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Thomas Morawetz
Bayern 2 / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung 2022
Typisch Franken?
Dialekt, Bratwurst, Fachwerk, Bier und Wein - ist das typisch Franken? Dieser Frage will die diesjährige Bayerische Landesausstellung in Ansbach vom 26. Mai bis 6. November 2022 auf den Grund gehen.
BAYERN 2 | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Haus der Bayerischen Geschichte / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung „Typisch Franken?“ findet in Ansbach, der früheren Residenzstadt des Markgraftums Brandenburg-Ansbach statt (25. Mai bis 6. November 2022). Gezeigt wird die Ausstellung im barocken Orangeriegebäude aus dem 18. Jahrhundert im markgräflichen Hofgarten. In der Landesausstellung wird gezeigt, was Franken ausmacht und prägt:
EXTERNER LINK | HAUS DER BAYERISCHEN GESCHICHTE | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
"Strafe muss sein" - Muss sie das? Was genau erhoffen wir uns eigentlich davon, wenn wir jemanden, der Unrecht getan hat, ein Übel zufügen? Seit Jahrtausenden beschäftigt sich die Philosophie mit dieser Frage: Gibt es legitime und sinnvolle Gründe Strafen zu verhängen? Oder sollten wir es vielleicht besser sein lassen?
Autor/in dieser Folge: Valentin Badura
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Christian Baumann
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Bernhard Kastner
Hier gibt es weitere informative Folgen von radioWissen:
Reue - Mehr als nur ein "Tut mir Leid"
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Büßen und Vollstrecken - Vom Umgang mit Verkehrssündern
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Gerechtigkeit - Im Wandel der Philosophie
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Literatur zur Folge:
Bock, Michael (2019): Kriminologie. Für Studium und Praxis. – 5., überarbeitete Auflage, München: Verlag Franz Vahlen.
Dübgen, Andrea (2016): Theorien der Strafe, Hamburg: Junius-Verlag.
Garland, David (1990): Punishment and Modern Society: A Study in Social Theory, Chicago: The University of Chicago Press.
Günther, Klaus (2004): Kritik der Strafe I, in: WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Heft 1 (2004), S. 117-131; Teil II des Artikels in: WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Heft 1 (2005), S. 131-141.
Hörnle, Tatjana (2011): Straftheorien, in: Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie.
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Singelnstein, Tobias / Stolle, Peer (2012): Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, 4., überarbeitete Auflage, Wiesbaden: VS Verlag.
Das Erbe der olympischen Dörfer vergangener Spiele offenbart weltweit ein weites Spektrum: Einstige Unterkünfte für Athletinnen und Athleten werden heute als dringend benötigter Wohnraum genutzt, die Bauten erinnern als Museums-Areale an finstere Kapitel der Geschichte oder sind zu verlassenen Ruinen verkommen.
Autor/innen dieser Folge: Katharina Wilhelm (Los Angeles), Barbara Kostolnik (Berlin), Andi Stummer (Sydney), Verena Schälter (Athen), Diana Hörger (Rio de Janeiro)
Aufnahmeleitung: Katharina Hübel
Es sprachen: Katharina Wilhelm, Barbara Kostolnik, Andi Stummer, Verena Schälter, Diana Hörger
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Iska Schreglmann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Olympiapark & Olympisches Dorf
Wissenwertes über den Park und die Bauten der Olympischen Spiele von München 1972:
EXTERNER LINK | OLYMPIADORF.COM
Olympisches Dorf in München feiert 50. Geburtstag
Ein informativer Artikel von BR24:
BR24 | OLYMPISCHES DORF IN MÜNCHEN FEIERT 50. GEBURTSTAG
DIE OLYMPIAPROTOKOLLE (Folge 1-4) auf Alles Geschichte:
Bis heute sind noch viele Fragen zum Olympiaattentat am 5.9.1972 offen. Eva Deinert und Yvonne Maier durchforsten monatelang im Münchner Staatsarchiv zehntausende Akten, Einsatztagebücher, Berichte, Fotos, Briefe, Telegramme. Und stellen fest: Eine Spur haben die Behörden möglicherweise bis heute übersehen.
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 1: Die heiteren Spiele
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 2: Die Geiselnahme
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 3: Der Befreiungsversuch
DIE OLYMPIA-PROTOKOLLE - Folge 4: Die unbekannte Frau in den Akten
Auch ein weiterer Podcast von Bayern 2 befasst sich mit dem Attentat von 1972:
In „Himmelfahrtskommando“ erzählt Patricia Schlosser die Geschichte ihres Vaters, der 1972 als Polizist beim Olympia-Attentat eingesetzt war und sich seitdem fragt, ob er Mitschuld am tödlichen Ausgang hat.
BR PODCAST | Himmelfahrtskommando - Mein Vater und das Olympia-Attentat
Hollywood ist heute das Symbol für Film und Kino schlechthin. Doch wieso hat sich die amerikanische Filmindustrie ausgerechnet diesen unbedeutenden Vorort von Los Angeles ausgesucht um ihr Imperium aufzubauen? (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Markus Mähner
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Susanne Schroeder
Technik: Robin Auld
Redaktion: Thomas Morawetz
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Sie zählen zu Hollywoods berühmtesten und erfolgreichsten Kinderstars: Judy Garland und Shirley Temple. Die blondgelockte Shirley Temple bot mit ihrem Lachen und mit Optimismus ein Gegenprogramm zum tristen Alltag während der Großen Depression in den 1930ern. Judy Garland begeisterte in Filmen wie "Der Zauberer von Oz" mit ihrer einzigartigen Gesangsstimme, kämpfte aber ihr Leben lang gegen Tabletten- und Alkoholsucht und die Fallstricke des Ruhms.
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Ariane Payer, Christian Baumann und Rahel Comtesse
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Andrea Bräu
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Minimalisten verzichten auf alles, was sie nicht unbedingt zum Leben brauchen. Nicht aus der Not heraus. Sondern weil es sich gut für sie anfühlt. Kann der Trend unsere Gesellschaft verändern? (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Katja Amberger, Peter Veit, Christian Schuler
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Gerda Kuhn und Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Traditionelles Wohnen in Japan - Im Einklang mit Natur und Raum
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Philosophie des Wohnens - Von Domizil und Sein
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Wenn regelmäßig Regenwasser in Kalkstein eindringt, frisst die Kohlensäure den Kalk auf. Geologen sprechen dann von der Verkarstung. Diesem Prozess, der über Jahrmillionen geht, verdanken wir spektakuläre Landschaftsformen wie Karst-Türme, Canyons, Klammen, Sinterbecken und auch gigantische Höhlen.
Autor/in dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Rahel Comtesse, Thomas Birnstiel, Katja Schild, Friedrich Schloffer
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Bernhard Kastner
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Hier gibt es eine weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Die Erde – Ein Planet in ständiger Bewegung
Dass die Erde ein bewegter Planet ist, hat sich noch nicht lange im Bewusstsein ihrer menschlichen Bewohner verankert. Dass sie um die Sonne kreist - das ist seit der früheren Neuzeit bekannt.
Schiefer – Der Glimmerstein
Schiefer glitzert, Schiefer glänzt, Schiefer besticht durch den typischen Glimmer-Effekt. Dabei entsteht Schiefer, der hierzulande vor allem für das Dachdecken verwendet wurde, eigentlich aus Schlamm.
Der Aufbau unserer Erde - Kruste, Mantel und Kern
Der Erdkern ist heiß: bis zu 5.000 Grad Celsius! Da Bohrungen nur 12 Kilometer ins Erdinnere reichen, der mittlere Erdradius aber 6.371 Kilometer misst, beruht unser Wissen über den Schichten-Aufbau auf indirekten Beobachtungen.
Literaturtipps:
Jan Röhnert. Vom Gehen im Karst. Matthes & Seitz Berlin
Lojze Wieser. Karst. Verlag Wieser.
Peter Handke. Abschied des Träumers vom neunen Land. Suhrkamp
Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, so lautet eine klassische Definition. Aber auch das Irrationale gehört zum Menschsein: als Inspiration, tiefes Gefühl - oder Keim von Ideologie und Gewalt. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Beate Meierfrankenfeld
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Friedrich Schloffer
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
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Der Universalgelehrte Averroes alias Ibn Rushd (1126 - 1198) sprach der Philosophie und Vernunft eine neue Autorität zu. Seine Aristoteles-Kommentare machten dessen Philosophie im christlichen Europa bekannt. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Rolf Cantzen
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Claudia Urbschat-Mingues
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Bernhard Kastner
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Den Anderen sein Gesicht wahren lassen! Was hierzulande allenfalls als Gebot der Höflichkeit erscheint, zählt etwa in China oder Japan zu den Grundvoraussetzungen jeglichen sozialen Miteinanders. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Reinhard Schlüter
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Hemma Michel, Friedrich Schloffer, Heinz Peter, Carsten Fabian
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Bernhard Kastner
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Ob in der deutschen Romantik, als Stummfilmbegleitung, im Musical oder als Avantgarde-Experiment, das lichtscheue Wesen, das auf der Kinoleinwand und zwischen Buchdeckeln zum aktuellen "Twilight" -Bestseller geworden ist, ist in der Musik schon seit 200 Jahren vorzufinden. Und wer mutig genug ist, sich mit Knoblauch bewaffnet in die "Gruft der Musikgeschichte" zu begeben, wird dort die erstaunlichsten Vampir-Erscheinungen entdecken.
Autor/in dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christiane Roßbach, Claus Brockmeyer
Technik: Peter Urban
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER
In einem Antiquariat findet der Historische Verein für Oberfranken das Tagebuch eines Uhrmachers. Historiker und Studierende transkribieren die feine Kurrentschrift des Bayreuthers Hermann Heuschmann. Zu Tage kommt das detailreiche Leben eines Handwerkers aus Franken im 19. Jahrhundert. Heuschmanns Schilderungen seiner Walz bis nach Berlin und Hamburg geraten zu einem Roadmovie.
Autor/in dieser Folge: Leo Hoffmann
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Clemens Nicol
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Thomas Morawetz
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Bayern 2 / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung 2022
Typisch Franken?
Dialekt, Bratwurst, Fachwerk, Bier und Wein - ist das typisch Franken? Dieser Frage will die diesjährige Bayerische Landesausstellung in Ansbach vom 26. Mai bis 6. November 2022 auf den Grund gehen.
BAYERN 2 | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Haus der Bayerischen Geschichte / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung „Typisch Franken?“ findet in Ansbach, der früheren Residenzstadt des Markgraftums Brandenburg-Ansbach statt (25. Mai bis 6. November 2022). Gezeigt wird die Ausstellung im barocken Orangeriegebäude aus dem 18. Jahrhundert im markgräflichen Hofgarten. In der Landesausstellung wird gezeigt, was Franken ausmacht und prägt:
EXTERNER LINK | HAUS DER BAYERISCHEN GESCHICHTE | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Vergiftet am Arbeitsplatz um 1770 - Philipp Anton Hermann
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Nur knapp 15 Jahre herrschte Preußens Adler über Ansbach. In dieser kurzen Zeit aber war die Stadt Schauplatz tiefgreifender Reformen, die auch Preußen zum modernen Staat machen sollten. Bayern2Radiowissen auf den Spuren der Aufklärung in der heutigen Hauptstadt Mittelfrankens.
Autor/in dieser Folge: Michael Zametzer
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner, Friedrich Schloffer
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
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Bayern 2 / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung 2022
Typisch Franken?
Dialekt, Bratwurst, Fachwerk, Bier und Wein - ist das typisch Franken? Dieser Frage will die diesjährige Bayerische Landesausstellung in Ansbach vom 26. Mai bis 6. November 2022 auf den Grund gehen.
BAYERN 2 | BAYERISCHE LANDESAUSSTELLUNG 2022
Haus der Bayerischen Geschichte / Landesausstellung
Die Bayerische Landesausstellung „Typisch Franken?“ findet in Ansbach, der früheren Residenzstadt des Markgraftums Brandenburg-Ansbach statt (25. Mai bis 6. November 2022). Gezeigt wird die Ausstellung im barocken Orangeriegebäude aus dem 18. Jahrhundert im markgräflichen Hofgarten. In der Landesausstellung wird gezeigt, was Franken ausmacht und prägt:
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Die Schaukel ist mehr als ein beliebtes Kinderspielzeug: Göttersitz, galantes Accessoire und Vehikel zur Überwindung der Erdenschwere. Doch es lauert auch Gefahr, denn wer wird schon gerne verschaukelt? (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Benedikt Schregle
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Bernhard Kastner
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Unterguggenberger war ein Arbeitersohn aus ärmsten Verhältnissen. Doch er erreichte für seine österreichische Gemeinde Wörgl Weltruhm. 1932 führte er eine eigene Währung ein - und rettete für eine Zeit die dortige Wirtschaft. (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Schwabing ist weit mehr als ein Stadtteil Münchens. Es ist ein Ort, der zum Mythos geworden ist. "Welt-Vorort des Geistes" um 1900, Ort der "Schwabinger Krawalle" 1962 und das Amüsierviertel von heute. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Alexander Duda, Carsten Fabian
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Und hier noch ein besonderer Tipp:
"Himmelfahrtskommando"
War mein Vater ein Feigling? Immer wieder mussten er und seine Kameraden sich das anhören. Terroristen nehmen bei den Olympischen Spielen in München 11 israelische Sportler als Geiseln. Mein Vater und seine Kollegen sollen sie befreien. Aber kurz bevor es losgeht, brechen die Polizisten die Aktion ab und ziehen sich zurück. Das Olympia-Attentat endet in einer Katastrophe. Seitdem lässt meinen Vater eine Frage nicht los: Hat er eine Mitschuld am Tod der Geiseln? Gemeinsam gehen wir auf die Suche nach einer Antwort. Ein BR-Podcast:
Bayern 2 | Himmelfahrtskommando – Mein Vater und das Olympia-Attentat
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Info zum Podcast "Himmelfahrtskommando" auf BR24:
BR24 | "Himmelfahrtskommando": Neue Erkenntnisse zu Olympia-Attentat
ZUM ARTIKEL
Wenn die Heimat zum Unort wird, weil Unmenschen die Macht übernehmen, lernt man, sich selbst Heimat zu sein. Der "Exul poeta" Karl Wolfskehl fand die dichterischen Worte für diesen harten Prozess in seinem 1947 veröffentlichten Gedicht-Zyklus "An die Deutschen".
Autor/in dieser Folge: Leo Hoffmann
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Rahel Comtesse, Burchard Dabinnus, Carsten Fabian
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Und hier noch ein besonderer Tipp:
"Himmelfahrtskommando"
War mein Vater ein Feigling? Immer wieder mussten er und seine Kameraden sich das anhören. Terroristen nehmen bei den Olympischen Spielen in München 11 israelische Sportler als Geiseln. Mein Vater und seine Kollegen sollen sie befreien. Aber kurz bevor es losgeht, brechen die Polizisten die Aktion ab und ziehen sich zurück. Das Olympia-Attentat endet in einer Katastrophe. Seitdem lässt meinen Vater eine Frage nicht los: Hat er eine Mitschuld am Tod der Geiseln? Gemeinsam gehen wir auf die Suche nach einer Antwort. Ein BR-Podcast:
Bayern 2 | Himmelfahrtskommando – Mein Vater und das Olympia-Attentat
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Info zum Podcast "Himmelfahrtskommando" auf BR24:
BR24 | "Himmelfahrtskommando": Neue Erkenntnisse zu Olympia-Attentat
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
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EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
Der Verkehrsvertrag vom 26.Mai 1972 gilt als der "vergessene Vertrag". Dabei ist er es, der Reiseerleichterungen für die Bürger der DDR und BRD brachte. Knapp 11 Jahre nach dem Bau der Mauer eine Chance für eine Annäherung.
Autor/in dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Katja Amberger, Peter Lersch
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Thomas Morawetz
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radioWissen hat eine weitere spannende Folge zum Thema:
Die Währungsunion - D-Mark für den "Osten"
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Und hier noch ein besonderer Tipp:
"Himmelfahrtskommando"
War mein Vater ein Feigling? Immer wieder mussten er und seine Kameraden sich das anhören. Terroristen nehmen bei den Olympischen Spielen in München 11 israelische Sportler als Geiseln. Mein Vater und seine Kollegen sollen sie befreien. Aber kurz bevor es losgeht, brechen die Polizisten die Aktion ab und ziehen sich zurück. Das Olympia-Attentat endet in einer Katastrophe. Seitdem lässt meinen Vater eine Frage nicht los: Hat er eine Mitschuld am Tod der Geiseln? Gemeinsam gehen wir auf die Suche nach einer Antwort. Ein BR-Podcast:
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Info zum Podcast "Himmelfahrtskommando" auf BR24:
BR24 | "Himmelfahrtskommando": Neue Erkenntnisse zu Olympia-Attentat
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Riechen ist der älteste Sinn des Menschen. Nicht nur in der Nase, sondern praktisch in jedem Organ gibt es Riechzellen. Die Wahrnehmung von Düften ist ein komplexer Vorgang, der Körper und Psyche beeinflusst. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Gerda Kuhn
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Julia Fischer, Armin Berger, Andreas Dirscherl, Julia Cortis
Technik: Lydia Schön-Krimmer
Redaktion: Gerda Kuhn
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BIOTOPIA Festival „SINNE – Die Welt durch andere Augen sehen!“
Tauchen Sie in die Welt der Sinneswahrnehmung von Mensch, Tier und anderen Spezies ein! Das BIOTOPIA – Naturkundemuseum Bayern lädt zu seinem BIOTOPIA Festival ein – am 01. und 02. Oktober 2022:
EXTERNER LINK | https://www.biotopia.net/de/festival-sinne
Hier gibt es weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Supersensor Nase - Diagnose und Therapie von Riechstörungen
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Düfte erlebt und beschrieben - Immer der Nase nach
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Der Duft des Göttlichen - Gerüche und ihre spirituelle Bedeutung
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Außerdem hat auch IQ - Wissenschaft und Forschung einen spannenden Beitrag zum Thema:
Riechen - Unser ältester Sinn
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Leuchtende Farben, betörender Duft: Orchideen gelten als wunderschön - aber auch als selten. Viele glauben, es gäbe sie vor allem in den Tropen. Dabei sind diese spektakulären Pflanzen auch in Bayern zu entdecken. Man muss nur wissen, welche Vorlieben sie haben und wo sie deshalb zu finden sind.
Autor/in dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge finden Sie HIER.
Hier gibt es eine weitere interessante Folge von radioWissen:
Nachtaktive Pflanzen – Was uns im Dunkeln blüht
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Wie sollte man Orchideen schneiden?
Und vor allem: was sollte man schneiden? Blütenstiele, Wurzeln oder Blätter? Sabrina Nitsche von Querbeet hat die Antworten:
Querbeet | Phalaenopsis - Orchideen richtig schneiden
ZUM ARTIKEL
Literaturtipps:
Helmut Presser, Orchideen. Die Orchideen Mitteleuropas und der Alpen, Landsberg am Lech, 2000: ecomed-verlagsgesellschaft
Eric Hansen, Orchideen-Fieber. Die Geschichte einer Leidenschaft, Stuttgart 2002: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger
J. G. Williams, A E. Williams, N. Arlott, Orchideen Europas mit Nordafrika und Kleinasien, München et al 1979: BLV Verlagsgesellschaft
Ein gänsegroßer weißer Vogel mit besonderer Eleganz: der Basstölpel ist erst seit 1991 in Deutschland heimisch. Auf Helgolands roter Felswand bietet eine große Brutkolonie den Besuchern ein Schauspiel: Gleitflüge mit pfeilschnellem Stoßtauchen und lautstarke Balz- und Begrüßungsrituale bei den Nestern. (BR 2022) Autorin: Mechthild Müser
Autor/in dieser Folge: Mechthild Müser
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Constanze Fennel, Laura Maire, Carsten Fabian
Technik: Robin Auld
Redaktion: Bernhard Kastner
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Hier gibt es noch weitere spannende folgen von radioWissen:
Die Kegelrobbe – Deutschlands größtes Raubtier
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Aquakultur - Tierzucht in Wasserfarmen
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Der Hering - Silber des Meeres
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Unsere Empfehlung für Naturinteressierte:
Wilde Winkel. Bayerns Natur-Podcast
„Wilde Winkel“ nimmt Dich mit auf Entdeckungstour in Bayerns wertvollste Natur. Jeden Monat geht’s in einen anderen wilden Winkel Bayerns zwischen den Alpen und der Rhön, dem Nördlinger Ries und dem Fichtelgebirge.
EXTERNER LINK | SPOTIFY.COM | WILDE WINKEL.
Literaturtipp:
Moya Cannon, A Private Country. Ein privates Land, edition offenes Feld
Fritz Lang hat Filmgeschichte geschrieben - nicht nur durch Meisterwerke wie "Dr. Mabuse", "Metropolis" und "M - Eine Stadt sucht einen Mörder". Der Mensch hinter den oft düsteren Bildern bleibt bis heute geheimnisumwittert. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Thomas Loibl, Katja Amberger, Peter Veit, Jerzy May
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Andrea Bräu
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Das Kalenderblatt hat interessante Beiträge zum Thema:
15. Oktober 1929 - Premiere für Fritz Langs "Die Frau im Mond"
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26. April 1924 - "Kriemhilds Rache" wird uraufgeführt
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
DAS KALENDERBLATT
Auerhühner sind Europas größte Hühnervögel. Sie leben in den Alpen und Mittelgebirgen. Berühmt ist ihr Balzverhalten. Vor über hundert Jahren gab es noch große Auerhuhn-Populationen in den Bergwäldern der Alpen und Mittelgebirge. In Bayern ist das Auerhuhn vom Aussterben bedroht, es gibt noch knapp 1.000 Brutpaare.
Autor/in dieser Folge: Werner Bader
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann
Technik: Julius Schmeil, Denis Aly
Redaktion: Bernhard Kastner
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Hier gibt es noch mehr spannende Folgen von radioWissen:
Der Wiedehopf – Der Punk unter den Zugvögeln
JETZT ANHÖREN
Die Hornisse – Der Falke unter den Wespen
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Unsere Empfehlung für Naturinteressierte:
Wilde Winkel. Bayerns Natur-Podcast
„Wilde Winkel“ nimmt Dich mit auf Entdeckungstour in Bayerns wertvollste Natur. Jeden Monat geht’s in einen anderen wilden Winkel Bayerns zwischen den Alpen und der Rhön, dem Nördlinger Ries und dem Fichtelgebirge.
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Literaturtipp:
Peter Berthold, "Auerhuhn. Ein Urvogel verschwindet." Kosmos-Verlag, Stuttgart 1/2021
Etwa 45 verschiedene Hirscharten gibt es weltweit. Die "echten" Hirsche und die "Trughirsche". Die meisten Arten unterscheiden sich erheblich in Körperbau und Lebensweise.
Autor/in dieser Folge: Susi Weichselbaumer
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Christiane Blumhoff, Friedrich Schloffer, Heinz Peter, Diana Gaul
Technik: Christiane Voitz
Redaktion: Bernhard Kastner
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Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Das Reh - Scheuer Waldbewohner im Kreuzfeuer
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Eine faszinierende Bildergalerie und weitere Linktipps finden Sie auf BR Wissen:
Wenn der Hirsch röhrt - Wildes Liebesleben am Waldesrand
ZUM BEITRAG
Unsere Empfehlung für Naturinteressierte:
Wilde Winkel. Bayerns Natur-Podcast
„Wilde Winkel“ nimmt Dich mit auf Entdeckungstour in Bayerns wertvollste Natur. Jeden Monat geht’s in einen anderen wilden Winkel Bayerns zwischen den Alpen und der Rhön, dem Nördlinger Ries und dem Fichtelgebirge.
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Nichts ist wirklich wahr - so lautet die provokante Kernthese des Skeptizismus, einer der drei großen Philosophenschulen des Hellenismus und der Spätantike. Was steckt hinter dieser Theorie und was bewirkte sie?
Autor/in dieser Folge: Michael Conradt
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Ditte Schupp, Heiko Ruprecht, Rainer Bock
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Bernhard Kastner
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Graffiti, das war Ende der 1960er noch wie ein Gebrülltes: Ja, wir sind auch da! Bunt, grell, groß und für seine Macher immer gefährlich. Was Jugendliche in anonymen Großstädten erfanden, ist heute eine gefeierte Kunstrichtung. (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Anja Mösing
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Caroline Ebner, Shenja Lacher
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Petra Hermann
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Hier gibt es eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
Die Geschichte der Street Art - Schmierereien und / oder Kunst?
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Außerdem empfehlen wir einen interessanten Beitrag zum Thema Streetart in München:
BR KulturBühne | Streetart in München - Kunst unter der Brücke
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Die Seidenstraße - eine Route, die nach fernen Zeiten klingt, nach Abenteuern, fernen Ländern und exotischen Gütern. Eine Route, die heute durch von Krisen und Konflikten zerrüttete Länder führt. Doch was, wenn hier - im Zentrum zwischen Ost und West - lange Zeit auch das wahre Zentrum der menschlichen Zivilisation lag?
Autor/in dieser Folge: Niklas Nau
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Christian Baumann, Katja Schild, Peter Weiß
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Thomas Morawetz
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Hier gibt es eine weitere informative Folge von radioWissen:
Der Kampf um Zentralasien - The Great Game
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Literaturtipps:
Frankopan, Peter. Die neuen Seidenstraßen. Gegenwart und Zukunft unserer Welt. rowohlt 2019 (Engl. Original 2015)
Höllmann, Thomas O. 2022. China und die Seidenstraße. C.H. Beck, München.
Richthofen, Ferdinand Freiherr von. 1877. Über die centralasiatischen Seidenstraßen bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. Verhandlungen der Gesellschaft fu?r Erdkunde (1877).
Whitfield, Susan. Silk Road Digressions. www.silkroaddigressions.com
Whitfield, Susan. 2015. Life Along the Silk Road: Second Edition. University of California Press, Berkeley.
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
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Sie haben Millionen Menschen das Leben gekostet: Die Pocken. Seitdem sind sie nur mehr eine eher theoretische Gefahr - Fortschritte der synthetischen Biologie lassen die Züchtung einer Pocken-Biowaffe möglich erscheinen. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Axel Wostry, Berenike Beschle, Jerzy May
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak
Ob Kuh, Hund oder Katze - sie sichern unser Überleben und sind nicht selten unsere besten Freunde. Ein Leben ohne Nutz- und Haustiere ist undenkbar. Doch unsere tierischen Begleiter teilen sich mit uns nicht nur die Freuden des Lebens, sondern auch dessen Krankheiten. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Yvonne Maier
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Friedrich Schloffer
Technik: Christian Schimmöller, Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Amok, eine impulsiv auftretende, scheinbar blindwütige Affekthandlung? Kriminologen gehen vom Gegenteil aus: Die meisten Taten finden nicht spontan statt, sondern sind detailliert geplant. Und: So gut wie alle Täter leiden - zumindest aus ihrer Sicht - unter ausbleibender Anerkennung. Ihnen fehlen angemessene Strategien, um Kränkungserlebnisse einzuordnen und zu verarbeiten. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Julia Cortis, Andreas
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Susanne Poelchau
Mit Umweltkriminalität können internationale Banden heute leichter Geld verdienen als mit Waffen oder Drogen. Weltweit tragen Wissenschaftler dazu bei, diese Folgen publik zu machen.
Autor/in dieser Folge: Renate Ell
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Anne-Isabelle Zils, Florian Schwarz
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Matthias Eggert, Nicole Ruchlak
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Hier gibt es weitere spannende Folgen von radioWissen:
Illegaler Wildtierhandel - Ausverkauf seltener Arten
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Der tropische Regenwald - Bedrohter Klimapuffer
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Der Berliner Sportpalast: Sportliche Höchstleistungen und rauschende Feiern fanden dort statt, ebenso politische Auseinandersetzungen und die berüchtigte Rede Goebbels. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Renate Eichmeier
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Johannes Hitzelberger
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Die Badekultur war ein allgegenwärtiger Bestandteil römischen Lebens, in Rom selbst wie an den unwirtlichen Außengrenzen des Reichs. Der Aufwand, der dafür betrieben wurde, war gewaltig. (BR 2021)
Autor/in dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Thomas Birnstiel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Ende des 19. Jahrhunderts stand China unmittelbar davor, in Kolonien aufgeteilt zu werden. Auch das Deutsche Reich war mit von der Partie. Als sogenannte "Boxer" wurde eine chinesische Geheimgesellschaft bezeichnet. Für sie war es eine patriotische Pflicht, die Fremden wieder zu vertreiben. (BR 2011)
Autor/in dieser Folge: Henriette Wrege
Regie: Sabine Kienhöfer, Noemi Beitelrock
Es sprachen: Christiane Blumhoff, Christian Baumann, Franziska Ball, Detlef Kügow
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Brigitte Reimer, Thomas Morawetz
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ASIEN UND DER WESTEN
Auf Alles Geschichte - History von radioWissen finden Sie eine Staffel zum Thema Asien und der Westen mit weiteren spannenden Folgen:
ASIEN UND DER WESTEN - Singapur
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ASIEN UND DER WESTEN - Die Seidenstraße
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ASIEN UND DER WESTEN - Japans Öffnung zum Westen
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Ohnmacht ist ein außerordentlich mächtiges Gefühl - obwohl es mit dem Verlust von Macht zu tun hat. Genauer gesagt: mit dem Verlust von Selbst-Mächtigkeit. Selbstmächtig ist, wer das Gefühl hat, sein Leben mitgestalten zu können. Ohnmacht ist das Gegenteil davon... (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Prisca Straub
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Katja Amberger, Detlef Kügow
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Susanne Poelchau
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Hier gibt es weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Gelingendes Leben - Selbstfindung statt Fremdbestimmung
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Trauma - Wie umgehen mit psychischen Verletzungen
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Nichts bleibt wie zuvor? Philosophie des Umbruchs
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Ob Politiker oder Unternehmerin, ob Kleriker oder Influencerin: Wer Macht erhält, verändert sich. Was passiert da im Gehirn? Und wie ergeht es jemand, der Konzerne lenkt und dann vor dem Nichts steht?
Autor/in dieser Folge: Ariane Stolterfoht
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Hemma Michel, Stefan Wilkening, Andreas Neumann, Christian Schuler
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Susanne Poelchau
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Hier gibt es eine weitere hörenswerte Folge von radioWissen:
Macht - Philosophische Überlegungen
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Die Machteliten - Ausflug in eine andere Welt
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In China ist Geld schon lange das Maß aller Dinge. Und das, obwohl in der Volksrepublik nach wie vor die Kommunistische Partei herrscht. Wie ist ein solcher Widerspruch möglich? (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Astrid Freyeisen
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Astrid Freyeisen, Frank Manhold
Technik: Cordula Wanschura
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge finden Sie HIER.
Hier gibt es weitere spannende Folgen von radioWissen:
Die Kulturrevolution in China - Mehr als ein Kampf um die Macht
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Mao Zedong - Kaiser, Dichter, Massenmörder
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Über 200 Jahre durfte kaum ein Ausländer Japan betreten. Doch Mitte des 19. Jahrhunderts erzwangen die Westmächte die Öffnung. Meiji-Zeit, "Zeit der erleuchteten Regierung", wird diese Epoche genannt. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Isabella Arcucci
Regie: Sabine Kienhöfer, Dorit Kreissl
Es sprachen: Hemma Michel, Reinhard Glemnitz, Detlef Kügow
Technik: Ruth-Maria Ostermann, Monika Gsaenger
Redaktion: Brigitte Reimer, Thomas Morawetz
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Hier gibt es noch weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Zwischen Buddhismus und Kamikaze - Die Symbolwelt der japanischen Kirschblüte
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Samurai - Der legendäre Kriegeradel Japans
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Mythen mit Verfallsdatum: Die Geisha
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Auf Planet Wissen finden Sie spannende Fakten rund um das Thema Japan:
Planet Wissen - Die Geschichte Japans
ZUM ARTIKEL
Planet Wissen - Japanische Kultur
ZUM ARTIKEL
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Hergés Geschichten von Tim und Struppi gehören zu den Klassikern der belgischen Comic-Literatur. Die insgesamt 24 Abenteuer des Reporters sorgen im 20ten Jahrhundert für Furore, geraten aber auch wegen propagandistischer oder rassistischer Äußerungen in die Kritik. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Anne Kleinknecht
Regie: Frank Halbach
Es sprachen:Katja Amberger, Detlef Kügow, Peter Weißz, Peter Veit, Friedrich Schloffer
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Petra Hermann-Boeck
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Graphic Novel Autoren im Porträt
Graphic Novels sind Comic in Romanlänge. Erfolgreiche Autoren erzählen im BR-Podcast Nachtstudio, wie sie Bild und Text miteinander verwoben haben:
Comicromane - Graphic Novel Autoren im Porträt
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Comic-Übersetzerin Erika Fuchs
Der BR-Podcast Bayerisches Feuilleton hat eine interessante Folge zu Erika Fuchs. Sie erfand Rufe wie "Seufz" und "Ächz" und gab Donald Duck einen eigenen Slang. Fast 40 Jahre übersetzte Erika Fuchs die Sprechblasen von Entenhausen:
Comic-Übersetzerin Erika Fuchs - "Dem Ingeniör ist nichts zu schwör"
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Diese Graphic Novels zeigen München von seiner dunklen Seite
Außenseiter, Verlierer und Spinner bevölkern die Werke der Comiczeichner Frank Schmolke und Uli Oesterle. Ihre Graphic Novels blicken in die Abgründe der Gesellschaft - und Münchens.
Den Betrag gibt es im BR-Podcast ZÜNDFUNK - Generator:
Schattenseiten einer Stadt - München als Comic Noir
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Noch bis vor kurzem trugen Mann und Frau ganz wie im Mittelalter nur ein langes Hemd auf der nackten Haut. Erst seit dem 19.Jahrhundert findet Unterwäsche reißenden Absatz. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Herbert Schäfer, Ditte Schupp, Friedrich Schloffer
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Thomas Morawetz
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Die Kunstfaser - die Erfindung der Synthetik und ihre Mode
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Brust raus, Bauch rein - Die Geschichte der Frauenmode
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Attila heißt "Väterchen", aber am Rhein und am Tiber nannte man den Hunnenkönig nur die "Geißel Gottes". Wenn seine Reitertrupps unter schrecklichem Kriegsgeheul auf ihre Gegner losstürmten, schien sich die Hölle geöffnet zu haben: Mit ihren kahl rasierten Schädeln, plattgedrückten Nasen und narbenzerfurchten Gesichtern sahen sie wie Dämonen aus. (BR 2010)
Autor/in dieser Folge: Christian Feldmann
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Rahel Comtesse, Axel Wostry, Martin Umbach
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Hildegard Hartmann und Thomas Morawetz
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundrunks.
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Wenn ein Schiff auf den Wellen tanzt, leiden viele Passagiere unter Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. Es gibt Medikamente, die bei Seekrankheit die Symptome lindern. Doch das beste Mittel heißt: abwarten. Denn der Körper gewöhnt sich an den Wellengang.
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Rainer Schaller
Es sprach: Hemma Michel
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Matthias Eggert
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Linktipps:
"Seekrank sitz’ ich noch immer am Mastbaum", oder: "... wie schade, hat gar nichts von Helgoland gesehn!"
Einige Fälle von Nausea in der Literatur. Ein Zeitschriftenartikel von Uwe Schnall:
EXTERNER LINK | WWW.SSOAR.INFO | OPEN ACCESS REPOSITORY
See- und Reisekrankheit
Therapeutische Strategien und neurophysiologische Aspekte der Kinetosen von Andreas Koch et. al können Sie im Ärzteblatt nachlesen:
EXTERNER LINK | AERZTEBLATT.DE | SEE- UND REISEKRANKHEIT
Seekrankheit von Reinhart Jarisch
Diesen informativen Artikel gibt es in der Österreichischen Ärztezeitung:
EXTERNER LINK | AERZTEZEITUNG.AT | SEEKRANKHEIT
Literaturtipp:
Histaminintoleranz - Histamin und Seekrankheit, Reinhard Jarisch, 2013, Thieme
Dämonen begleiten die Menschheit seit Jahrtausenden. Die unsichtbaren Geistwesen wurden im Christentum zu Engeln, oder zum teuflischen Dämon, der den Menschen zum 'Bösen' treibt. Dämonen, Deutungsversuche menschlicher Regungen? (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Imogen Rhia Herrad
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Hemma Michel, Christian Baumann
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es noch weitere spannende Folge von radioWissen:
Wertiere - Berserker, Löwenmensch und Werwolf
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Rauhnächte – Die wilde Jagd der Götter, Geister und Dämonen
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Menschen, die sich in blutdurstige Bestien, zum Beispiel Werwölfe, verwandeln: Der Stoff von Horrorgeschichten. In anderen Kulturen nehmen Menschen seit jeher ganz selbstverständlich vorübergehend Tiergestalt an. Und auch bei uns wurden aus ihnen erst mit der Christianisierung dämonische Teufelsdiener.
Autor/in: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Thomas Meinhardt, Thomas Albus
Technik: Regine Elbers
Regie: Frank Halbach
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es noch weitere spannende Folge von radioWissen:
Der Dämon – Vom Geistwesen zum bösen Geist
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Rauhnächte – Die wilde Jagd der Götter, Geister und Dämonen
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Literaturtipps:
Claudia Müller-Ebeling & Christian Rätsch: Tiere der Schamanen – Krafttier, Totem und Tierverbündete. AT Verlag, Aarau 2011.
Sergius Golowin: Das Geheimnis der Tiermenschen – Vom Vampiren, Nixen, Werwölfen und ähnlichen Geschöpfen. Heyne, München 1993.
Wilhelm Hertz: Der Werwolf: Beitrag zur Sagengeschichte. Kröner, Stuttgart 1862.
Rolf Schulte: Hexenmeister. Die Verfolgung von Männern im Rahmen der Hexenverfolgung von 1530–1730 im Alten Reich. Lang, Frankfurt a. M. u. a. 2000.
Klaus Völker (Hg.): Werwölfe und andere Tiermenschen. Suhrkamp, Berlin 1994.
1968 wollten die Demonstranten nichts weniger als Deutschland ändern: Mit freier Liebe, einer antiautoritären Erziehung und Hochschulreformen. Welche Forderungen wurden tatsächlich in Recht umgesetzt? (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Katharina Kühn
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Andreas Neumann, Hemma Michel, Heinz Peter
Technik: Christine Frey
Redaktion: Nicole Ruchlak, Andrea Bräu
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Seit 1971 gibt es in Deutschland Bafög. Es sollte für mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft sorgen. Doch während anfangs noch fast die Hälfte der Studierenden die Förderung bekam, sind es inzwischen nur noch rund zehn Prozent. Der dramatische Rückgang hat viele Gründe.
Autor/in dieser Folge: Christian Sachsinger
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Berenike Beschle, Clemens Nicol
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Andrea Bräu
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Erst der aufrechte Gang unterschied den Menschen bekanntlich von anderen Primaten. Heute sitzt homo sapiens eher viel zu oft. Welche Auswirkungen haben die unterschiedlichen Körperhaltungen? (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Katja Schild, Werner Härtl, Rainer Buck
Technik: Gerhard Wicho
Redaktion: Gerda Kuhn, Susanne Poelchau
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es eine weitere informative Folge von radioWissen:
Diagnose Sitzen - Krank durch mangelnde Bewegung
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Rückenschmerzen bekämpfen.
BR Wissen hat spannende Beiträge und Tipps zum Thema Rücken und Haltung:
BR WISSEN | TU WAS FÜR DEINEN RÜCKEN!
Wenn Menschen in den Krieg ziehen, kommen meist auch Tiere zum Einsatz. Sie überbringen Nachrichten, transportieren Munition, orten U-Boote oder werden - bepackt mit Sprengstoff - selbst zur tödlichen Waffe.
BR24 hat weitere spannende Beiträge zum Thema:
BR24 | Tiere im Krieg
ZUM ARTIKEL
BR24 | Mission Spion - Die CIA wollte Tiere als Geheimwaffe einsetzen
ZUM ARTIKEL
Hier gibt es außerdem weitere hörenswerte Folgen von radioWissen:
Hunde und ihr Geruchssinn - Die Supernasen im Tierreich
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Multitalent Pferd - Freund, Lasttier und Kriegsgerät
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Es ist Hauptbestandteil von Erdgas, entsteht auf Reisfeldern, lagert am Meeresgrund und Rinder rülpsen es in die Atmosphäre: Methan. Das Klimagas hat ein höheres Treibhauspotential als Kohlendioxid - doch auch ein riesiges Potenzial, dem Klimawandel entgegen zu treten. Wenn wir es nur sinnvoll nutzen!
Autor/in dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Andreas Neumann
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Iska Schreglmann
Hier gibt es weitere informative Folgen von radioWissen:
Einfach wegräumen? Wie Treibhausgase aus der Atmosphäre verschwinden sollen
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Klimaforschung - Eine lange Geschichte!
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Das Element Luft - Atem der Welt
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Kampf gegen Klimawandel - Warum tut sich der Mensch so schwer?
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IQ - Wissenschaft und Forschung hat außerdem ein spannendes Interview mit dem Energieexperten Michael Sterner:
Erdgas und die Alternativen - Energieexperte Michael Sterner im Gespräch
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Immer wieder haben sich die Menschen vorgestellt, dass die Geschichte auf einen letzten Akt hin steuert und sich dabei die verschiedensten Szenarien ausgemalt, die am Ende der Zeit stattfinden werden. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Julia Devlin
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christiane Roßbach, Burchard Dabinnus
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Thomas Morawetz
Manche Stammtischrunde ist sich sicher: Je höher die Bußgelder für Verkehrssünder, desto sicherer sind auch unsere Straßen. Sind die "Tarife" für "Raser, Drängler & Co " also noch viel zu niedrig? Verkehrspsychologen widersprechen - und setzen auf alternative Konzepte.
Autor/in dieser Folge: Martin Schramm
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Katja Amberger, Friedrich Schloffer, Julia Fischer
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Joseph Pulitzer war ein armer ungarischer Immigrant und wurde zum einflussreichen, amerikanischen Zeitungsverleger. Er stiftete den Pulitzer-Preis, um sein Image als Erfinder der "Yellow Press" aufzumöbeln. (BR 2018)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Axel Caesar Springer - Zeitungszar mit Sendungsbewusstsein
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Hören Sie außerdem interessante Beiträge zu Pulitzer-Preisträgern:
BR KLASSIK
2. MAI 1932 - "OF THEE I SING" ERHÄLT DEN PULITZER-PREIS
"EIN UNGEWÖHNLICHES STÜCK" DER GERSHWIN-BRÜDER
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Bayern 2 Lesungen
Mit freundlicher Genehmigung des Aufbau Verlags können wir die Sendungen bis 12. September 2022 als kostenlosen Podcast anbieten:
Pulitzer-Preisträgerin Louise Erdrich: "Der Nachtwächter" (1/2)
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Pulitzer-Preisträgerin Louise Erdrich: "Der Nachtwächter" (2/2)
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Die Werke, in denen Henri de Toulouse-Lautrec das Leben rund um den Montmartre festhielt, prägen bis heute das Bild der legendären Pariser "Belle Époque". Somit gilt Toulouse-Lautrec als ein Vorreiter der modernen Plakatkunst.
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Katja Bürkle, Thomas Loibl
Technik: Daniela Röder
Redaktion: Petra Hermann-Boeck, Andrea Bräu
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Das Plakat, mit dem Henri de Toulouse-Lautrec 1891 für das Pariser Amüsierlokal Moulin Rouge wirbt, macht nicht nur die abgebildete Tänzerin weltberühmt, sondern auch den Künstler. Das Kalenderblatt erzählt eine hörenswerte Folge über die abgebildete Cancan-Tänzerin, die sich "La Goulue" nannte:
Das Kalenderblatt | 30. Januar 1929 - "La Goulue" stirbt
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Ein feinsinniger Diplomat als Ministerpräsident in einem völlig radikalisierten Bayern? Im Jahr 1922 hat Hugo Graf von und zu Lerchenfeld diese Herausforderung angenommen. Er wollte vieles besser machen. Nach nur einem Jahr aber muss er aufgeben - und um sein Leben fürchten.
Autor/in dieser Folge: Hans Hinterberger
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner, Udo Wachtveitl, Thomas Birnstiel, Jerzy May, Friedrich Schloffer, Frank Manhold
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Thomas Morawetz
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Hier gibt es eine weitere informative Folge von radioWissen:
Eugen von Knilling - Ein Ministerpräsident und der Hitlerputsch
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Der Vertrag von Rapallo wurde 1922 zwischen zwei Außenseitern der Weltpolitik geschlossen. Sowjetrussland und Deutschland wollten damit ihre Isolierung durchbrechen. Das Abkommen wurde besonders von Frankreich, Polen und Großbritannien als Affront empfunden. Bis heute spricht man von dem "Rapallo-Komplex", wenn eine zu starke Annäherung Deutschlands an Russland befürchtet wird.
Autorin: Julia Devlin
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann und Hemma Michel
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
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Literaturtipps:
Eva Ingeborg Fleischhauer: Rathenau in Rapallo: Eine notwendige Korrektur des Forschungsstandes. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2006-07-01, Vol.54 (3), p.365-415
Christian Schölzel: Walter Rathenau. Eine Biographie. München 2006
Weltweit gibt es rund 160.000 Fliegenarten. Sie sind allgegenwärtig, lästig und zuweilen auch 'gefährlich'. Die Essigfliege Drosophila melanogaster ist einer der am besten untersuchten Organismen der Welt. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Axel Wostry, Burchard Dabinnus
Technik: Siglinde Hermann
Redaktion: Bernhard Kastner
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Fliegen sind nicht nur unbeliebt, sondern auch wichtig! Ohne Fliegen sind die Schwalben bedroht. Einen spannenden Artikel hierzu finden Sie bei BR Wissen:
Artenvielfalt | Ohne Misthaufen keine Fliegen, ohne Fliegen keine Schwalben
ZUM ARTIKEL
Der Begriff "Macht" gehört zu den schillerndsten in der Politischen Philosophie. Macht sei positiv zu bewerten, so die Auffassung der einen, sie sei die Voraussetzung dafür, Chaos zu verhindern und Sicherheit herzustellen. Macht sei gefährlich und müsse misstrauisch kontrolliert werden, meinen die anderen.
Autor/in dieser Folge: Rolf Cantzen
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Anne-Isabelle Zils, Peter Lersch
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Bernhard Kastner
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Hier gibt es weitere spannende Folgen von radioWissen:
Nichts bleibt wie zuvor - Philosophie des Umbruchs
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Staat, Macht und Kapitalismus - Die Denkerin Susan Strange
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Literatur:
Anter, Andreas: Theorien der Macht. Zur Einführung, Hamburg 2020 (5. Vollständig überarbeitete Auflage
Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München 2021 (28.Auflage)
Cantzen, Rolf: Weniger Staat – mehr Gesellschaft. Freiheit – Ökologie – Anarchismus, Grafenau 1995 (2. Auflage)
Han, Byung-Chul: Was ist Macht?, Stuttgart 2005
Konddylis, Panajotis (Hg.): Der Philosoph und die Macht. Eine Anthologie, Berlin 2016
Machiavelli, Niccolo: Der Fürst, Stuttgart 1976
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1979
Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972
Der Zoroastrismus ist eine die ältesten monotheistischen Religionen. Ihr Gründer, der altpersische Priester Zoroaster, gilt als der erste Religionsstifter der Menschheitsgeschichte überhaupt. Eine mystische Existenz, die aus dem Nebel der Geschichte auftaucht und seinen Ursprung im heutigen Zentraliran hat.
Autor/in dieser Folge: Michael Marek, Sven Weniger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Christoph Jablonka, Andreas Discherl, Clemens Nicol
Technik: Ruth-Maria Ostermann, Theodor Kossakowski
Redaktion: Bernhard Kastner
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Erst durch Satzzeichen werden Texte flüssig lesbar und Sätze eindeutig interpretierbar. Doch gibt es sie noch nicht so lange wie die Buchstaben. Wer brauchte sie wann und warum? radioWissen erzählt ihre Geschichte. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Christiane Neukirch
Regie: Petra Hermann-Boeck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Hans-Jürgen Stockerl
Technik: Peter Urban
Redaktion: Petra Hermann-Boeck, Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Der Versuch Biafras, sich von Nigeria abzuspalten, scheiterte nach einem dreijährigen Bürgerkrieg. Die Ex-Kolonialmacht Großbritannien und andere Staaten verhinderten die Abspaltung der ölreichen Ostregion. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Gerda Kuhn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Julia Fischer, Axel Wostry, Johannes Hitzelberger
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
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Botswana ist eine unerwartete Erfolgsgeschichte. Bei der Staatsgründung wirtschaftlich schwach und ohne nennenswerte Infrastruktur, gilt Botswana heute als eines der wohlhabendsten und stabilsten Länder Afrikas. Das liegt nicht nur am klugen Umgang mit Diamantenvorkommen. Was lässt sich von Botswana lernen? Von Linus Lüring (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Linus Lüring
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Florian Schwarz
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
MAJI-MAJI-AUFSTAND - AFRIKANER GEGEN DIE DEUTSCHE KOLONIALMACHT
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Etwa 200.000 Parsen gibt es weltweit, die meisten davon leben in Indien und Pakistan. Als Parse wird man geboren, die drei wesentlichen Grundsätze der Parsen sind: Gute Gedanken - Gute Worte - Gute Taten. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Fank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Jennifer Güzel, Christian Baumann, Rainer Buck
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Judith N. Shklar (1928-1992) gehört zu den wichtigsten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihr Hauptwerk "Der Liberalismus der Furcht" gilt im englischsprachigen Raum als ein Klassiker der politischen Philosophie. Im Mittelpunkt ihres Denkens steht die Vermeidung von Grausamkeit und die Minimierung von Furcht.
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christian Baumann, Rahel Comtesse, Hemma Michel
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Die Farbe Blau kommt in der Natur nur äußerst selten vor und konnte von vielen Kulturen nur schwer hergestellt werden. Ist das ein Grund, warum es in einigen Sprachen auch keinen Bezeichnung dafür gab und gibt? (BR 2014)
Autor/in dieser Folge: Yvonne Maier
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Freidrich Schloffer, Jerzy May
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Er galt als komponierendes Wunderkind. Mit 14 veröffentlichte der Sohn eines österreichischen Musikkritikers erste Klavierstücke, mit 23 hatte Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) die deutschen Opernhäuser erobert. (BR 2013)
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Ilse Neubauer, Peter Weiß, Reinhard Glemnitz, Katja Schild
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Brigitte Reimer
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Das starke Stück - Musiker erklären Meisterwerke.
In diesem Podcast von BR-Klassik finden Sie einen weiteren hörenswerten Beitrag zu Korngolds Werk und noch viele andere spannende Folgen zu den Meisterwerken der klassischen Musik.
Korngolds Violinkonzert in D-Dur hat dem Vergessen am hartnäckigsten Widerstand geleistet. Andreas Grabner hat mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter über dieses starke Stück gesprochen:
BR-KLASSIK | DAS STARKE STÜCK | KORNGOLD - VIOLINKONZERT D-DUR, OP.35
Absinth - das grüne Gebräu aus Kräutern und Alkohol war zunächst Getränk der Armen. Während der Belle Époque wurde es rasend schnell zu Kult und eroberte auch die vornehmen Salons. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Katalin Fischer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Burchard Dabinnus, Caroline Ebner, Carsten Fabian
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Thomas Morawetz
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Seit dem Kalten Krieg ist das Bruttoinlandsprodukt die wichtigste Kennzahl für den Wohlstand eines Landes. Dabei hielt selbst ihr Erfinder sie für einseitig. Können wir uns eine Alternative noch vorstellen? (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Carsten Fabian, Katja Schild
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Sie besaßen Brauereien, Fleischfabriken, oder Verlage, wirkten als Direktoren, Bankiers oder Großhändler - zwischen 1880 und 1928 erhielten Vertreter der bayerischen Wirtschaftselite den Titel: Kommerzienrat oder gar "Geheimer Kommerzienrat". Sie waren Schlüsselfiguren des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens mit viel Einfluss.
Autor/in dieser Folge: Marita Krauss
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Irina Wanka, Frank Manhold, Peter Veit, Burchard Dabinnus
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Matthias Eggert
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Die frei wuchernden Formen der Natur waren Inspiration für Künstler und Architekten, die starre Formen hinter sich ließen wie Schmetterlinge die Larvenhülle. Der Jugendstil war geboren... (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Barbara Knopf
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Rahel Comtesse, Clemens Nicol
Technik: Regina Stärke
Redaktion: Nicole Ruchlak
Gustav Klimt gilt als der Maler des Wiener Jugendstils.
RadioWissen hat zwei spannende Folgen zum Leben und Werk des Künstlers:
Gustav Klimt - Bohemian und Künstler
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Gustav Klimt - Der Kuss des Jugendstils
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Der Nautilus ist ein Kopffüßer, der in einem spiralförmigen Gehäuse lebt. Darin schwimmt er durch den Pazifik. Sein auffälliges Gehäuse wird seit jeher gesammelt. Deshalb ist das urzeitliche Tier heute vom Aussterben bedroht. (BR 2019)
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kramer
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprach: Rahel Comtesse
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Philosophie ist in den Medien sehr präsent. Aber in den gegenwärtigen Debatten um Demokratieverdrossenheit, Klimawandel oder Genforschung ist die Stimme der akademischen Philosophen nicht sehr präsent. Woran liegt das? (BR 2018)
Autor/in dieser Folge: Daniela Remus
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Wolfgang Pregler, Jennifer Güzel
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Der Franziskanermönch Wilhelm von Ockham (um 1288 -1347) eckte gerne an, denn er stellte alles in Frage. Dafür exkommunizierte ihn der Papst. Ockham flüchtete nach München und fragte dort kritisch-hintergründig weiter. (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Wolfgang Pregler, Heinz Peter
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Mimikry bedeutet täuschen. Einige Täuschungsmanöver der Tierwelt sind so ausgefuchst, so unvorstellbar, dass Biologen sie erst Mitte des 19. Jahrhunderts enttarnt haben. Diese Forscher waren Abenteurer und Sturköpfe, Beobachter und Eigenbrötler - und ihre Erkenntnisse sind heute noch maßgeblich.
Autorin: Jenny von Sperber
Es sprachen: Irina Wanka und Johannes Hitzelberger
Technik: Wolfgang Lösch
Regie: Martin Trauner
Redaktion: Iska Schreglmann
Hier gibt es außerdem eine spannende Podcastfolge von IQ "Alles Natur":
ALLES NATUR: TARNEN UND TÄUSCHEN! ISKA SCHREGLMANN IM GESPRÄCH MIT DEM BIOLOGEN THASSILO FRANKE
Im „Darwin Correspondence Project“ der Universität Cambridge kann man nachvollziehen, mit welchen anderen Wissenschaftlern Charles Darwin Briefkontakt pflegte:
DARWIN CORRESPONDENCE PROJECT | https://www.darwinproject.ac.uk
Die Internetseite des Naturkundemuseums Biotopia Bayern, unseres Bayern2-Kooperationspartners, ist auch rund um die Uhr für Sie geöffnet:
BIOTOPIA - NATURKUNDEMUSEUM BAYERN | https://biotopia.net/de
Jack Kerouacs Roman "On the road", "Unterwegs" ist wohl das bis heute bekannteste Werk der so genannten "Beat Generation". Darin geht es ums Reisen, Drogen, Alkohol und Sex, das wilde Leben. Der Ruhm ums Buch brachte seinen Autor aber zu Fall. (BR 2008)
Autor/in dieser Folge: Udo Zindel
Regie: Petra Hermann
Es sprachen: Detlef Kügow, Thomas Loibl, Friedrich Schloffer, Irina Wanka
Redaktion: Petra Hermann
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Die Ära Bismarcks wurde von Nationalisten als eine der glorreichsten der jüngeren deutschen Geschichte verklärt. Sozialdemokraten und Liberale sahen den Reichskanzler in einem anderen Licht. (BR 2012)
Autor/in dieser Folge: Rainer Volk
Regie: Rainer Volk
Es sprachen: Hans-Jürgen Stockerl, Katja Amberger, Claus Brockmeyer
Technik: Marcus Huber
Redaktion: Brigitte Reimer
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Als sich der Papst 1870 für unfehlbar erklärt, ist die bayerische Regierung alarmiert. Die Angst vor römischer Einmischung in weltliche Hoheitsrechte provoziert eine Machtprobe zwischen Staat und katholischer Kirche. Erster Höhepunkt: Am 10. Dezember 1871 initiiert Bayern ein Reichsgesetz gegen kritische Kanzelreden.
Autor dieser Folge: Simon Demmelhuber
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Burchard Dabinnus, Caroline Ebner und Carsten Fabian
Technik: Regina Staerke
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Seinen Ruf kennt jedes Kind, doch zu Gesicht bekommt man den scheuen Kuckuck kaum. Dabei gibt es weltweit 128 Kuckucksarten. Carola Zinner porträtiert den schrägen Vogel, der in so manches heimische Nest ein 'Kuckucksei' legt. (BR 2013)
Autorin dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Frank Halbach
Es sprach: Sabine Kastius
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Moses Maimonides war Arzt, Rechtsgelehrter und der wichtigste jüdische Philosoph des Mittelalters. Von Aristoteles geprägt, gelang es ihm, Vernunft und Glauben miteinander zu verbinden. Als "Rambam" ist er bis heute im Judentum eine feste Größe. Der zweifelnde Denker gilt als Vorbote der Aufklärung. Von Elke Worg (BR 2022)
Autor/in dieser Folge: Elke Worg
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstielz, Friedrich Schloffer
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Bernhard Kastner
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Für die 68er-Bewegung hatte das Werk Wilhelm Reichs Kultstatus. Der Wiener Psychoanalytiker hielt nämlich die sexuelle Befreiung für politisch notwendig. Später, im amerikanischen Exil, forschte er dann zu einer universellen Lebensenergie namens Orgon. Er war ein höchst umstrittener, radikaler Denker.
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Berenike Beschle und Andreas Neumann
Technik: Regina Staerke
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Hier gibt es eine weitere spannende Folge von radioWissen:
Freuds Psychoanalyse - Die relativierte Revolution
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Literaturtipps
Fallend, Karl und Nitzschke, Bernd (Hrsg), Der „Fall“ Wilhelm Reich, Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997
Laska, Bernd A., Wilhelm Reich in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, rororo Bildmonographien, Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg, 1981
Majewska, Magda, Lust und Limit. Der postmoderne Roman und die sexuelle Befreiungsbewegung in den USA, transcript Verlag, Bielefeld 2019
Mitchell, Juliet, Psychoanalyse und Feminismus, Freud, Reich, Laing und die Frauenbewegung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1985
Die Kunstfaser ist der Stoff, den wir seit Jahrzehnten auf der Haut tragen, gewonnen aus Erdöl, Meeresplastik oder Insektenflügeln. Aus diesem Faden weben wir unsere Kleidung. Und er beeinflusst unsere ökologische Zukunft. (BR 2020)
Autorin dieser Folge: Barbara Knopf
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Johannes Hitzelberger, Christian Schuler und Julia Cortis
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Nicole Ruchlak
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Merkels Hosenkombinationen fügen sich harmonisch in Gruppenfotos ein, die bunten Blazer verleihen ihrem Stil einen femininen Akzent. Wie hat sich die Frauenmode in der Geschichte entwickelt? (BR 2016)
Autorin dieser Folge: Ulrike Rückert
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Irina Wanka, Heinz Peter und Andreas Neumann
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Iska Schreglmann
Sie sollten gegen bourgeoise Ideen kämpfen und gegen alles Althergebrachte: die Roten Garden. Millionen Oberschüler und Studierende beiderlei Geschlechts zogen im ersten Jahr der Kulturrevolution plündernd durch Chinas großen Städte. Zuerst traf es Lehrer und Professoren, dann unter der Parole - "Bombardiert das Hauptquartier!" - Funktionäre der Kommunistischen Partei Chinas. Gleichzeitig genossen die Jugendlichen ein nie da gewesenes Maß an Freiheit in den 10 Jahren der Kulturrevolution von 1966 - 1976. Sie war Maos letzter Versuch, sein ideologisches Erbe zu retten: seinen Traum von der egalitären Gesellschaft. (BR 2013)
Autorin dieser Folge: Henriette Wrege
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Wilkening und Beate Himmelstoß
Technik: Winfried Messmer
Redaktion: Brigitte Reimer
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Sie kamen in den 1990er Jahren an die Macht, als Afghanistan in Krieg und Chaos versank. Mit aller Härte setzten die Taliban ihre strengen Regeln durch. Männer mussten Bärte tragen, Musik war verboten, Frauen durften nicht arbeiten, Mädchen nicht zur Schule gehen. Nach 9/11 wurden sie vertrieben, seit 2021 sind sie wieder zurück.
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Julia Fischer, Johannes Hitzelberger und Frank Manhold
Technik: Viktor Veress
Redaktion: Thomas Morawetz
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Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Künstliches Licht in der Nacht hat gravierende Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und das Tierwohl. Jede Nacht sterben durch Lichtverschmutzung Millionen von Insekten. Wissenschaftler fordern ein Umdenken. (BR 2020)
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Was ist "die Natur"? Der Mensch bildet gedankliche Konstrukte, indem er zwischen Zivilisation und Wildnis unterscheidet oder unberührte Landschaften schön findet. Doch die definitorische Verfügungsgewalt ist eine Illusion. (BR 2020)
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka und Friedrich Schloffer
Technik: Robin Auld
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Unsere Empfehlung für Naturinteressierte:
Wilde Winkel. Bayerns Natur-Podcast
„Wilde Winkel“ nimmt Dich mit auf Entdeckungstour in Bayerns wertvollste Natur. Jeden Monat geht’s in einen anderen wilden Winkel Bayerns zwischen den Alpen und der Rhön, dem Nördlinger Ries und dem Fichtelgebirge.
EXTERNER LINK | SPOTIFY.COM | WILDE WINKEL.
Vom Stummfilm bis zum Streaming-Dienst. Die Geschichte der Bavaria Filmstudios südlich von München begann vor mehr als 100 Jahre. Viele große Regisseure und Schauspieler haben diesen Ort geprägt. Heute ist das "bayerische Hollywood" eines der größten Medienunternehmen Europas.
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Eiskalte Killer, die auf ihr wehrloses Opfer einstechen oder Pistolenschüsse abfeuern. - So in etwa sehen meistens unsere Vorstellung von der schwersten Straftat im deutschen Strafrecht aus: dem Mord. Doch wann ist ein Mord eigentlich ein Mord? Die Antwort auf die Frage stammt bis heute aus dem Nationalsozialismus. Auch deswegen ist der Mord-Paragraf 211 StGB heute umstritten. (BR 2021)
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80 Jahres Mordparagraf: Ein Tatbestand im Wandel der Zeit
Zum BR24-Artikel von Manuel Rauch geht es HIER.
Das Verbrechen der Katharina Hochstrasser: Liebe. Sie hatte ein Verhältnis mit einem Wirtssohn aus der Nachbargemeinde, wurde schwanger, und weil die beiden nicht verheiratet waren, landeten sie vor Gericht. (BR 2019)
Lernmaterial unter: http://www.radiowissen.de
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Gleich mit Beginn des Kalten Krieges 1945 befand sich Deutschland im Zentrum des Konflikts. Das zerbombte Land war wegen seiner geografischen Lage, seiner Größe und seines Wirtschafts-Potenzials für die Atommächte USA und Sowjetunion äußerst interessant. In Deutschland wurde der Konflikt ausgetragen.
Autor/in dieser Folge: Rainer Volk
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Hemma Michel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Die 1990er Jahre sind ein ausgesprochen bewegtes Jahrzehnt. Was mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Ost-West-Konflikts verheißungsvoll anfängt, bringt bald ein ganzes Bündel von mitunter unlösbar erscheinenden Problemen zum Vorschein. Denn nach Jahrzehnten des Kalten Krieges werden nun alte und neue Krisenfaktoren sichtbar.
Autor/in dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Katja Bürkle
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Nicole Ruchlak
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Sind Aleviten Muslime? Die einen sagen: ja; die anderen: nein. Sicher ist, dass sie seit Jahrhunderten in muslimischen Ländern leben. Aber Allah und sein Paradies? Aleviten möchten lieber den Himmel auf Erden schaffen. (BR 2019)
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Uran ist es ein nach dem Planeten Uranus benanntes Metall, dessen Isotope alle radioaktiv sind. Aus Uran wird Plutonium gewonnen, der Energieträger von Atomkraftwerken und Kernwaffen. Damit wurde es zur "Quelle des Atomzeitalters". (BR 2021)
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Seit des Atomreaktoren gibt, gibt es Atomunfälle. Bedeutet das, dass die Verantwortlichen nichts aus den Nuklearkatastrophen gelernt haben? (BR 2019)
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Abfälle sortieren ist lästig - aber die entscheidende Voraussetzung, damit sie ressourcenschonend zu Sekundärrohstoffen verarbeitet werden können. Bei vielen Materialien klappt schon das gut, bei manchen Kunststoffen ist es schwierig. Noch besser als selbst das beste Recycling ist es aber, Abfälle gar nicht erst entstehen zu lassen.
Autor/in dieser Folge: Renate Ell
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Hemma Michel, Peter Lersch, Marlen Reichert
Technik: Viktor Veress
Redaktion: Matthias Eggert
Das Wirtschaftswachstum eines Landes gilt immer noch als Indikator für den Wohlstand der Bürger. Wächst die Wirtschaft, schafft das Arbeitsplätze, steigen Steuereinnahmen und Konsum, so die landläufige Meinung. Der Indikator dafür ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Allerdings gibt es zunehmend Kritik an diesem Konzept... Von Maike Brzoska (BR 2022)
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann und Johannes Hitzelberger
Technik: Wolfgang Lösch
Johann Jacob Christoph von Grimmelshausen (1622-1676) hat einen der ersten Bestseller in deutscher Sprache geschrieben, den Simplicissimus. Das große Werk des Barock gehört bis heute zur Weltliteratur. (BR 2016)
Lerninhalte unter http//www.radiowissen.de
Lange Haare, wilde Bärte, Kittel und weite Hosen: Die Aussteiger, die um 1900 auf der Suche nach einem alternativen Leben auf dem Monte Verità nahe Ascona zusammenfanden, waren leicht zu erkennen. (BR 2015)
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Die Ukraine ist ein junger Staat im Osten Europas mit einer turbulenten, leidvollen Geschichte. Ist das Land zerrissen zwischen Ost und West? Oder ein modernes multiethnisches Staatsgebilde? Die Deutung der Vergangenheit beeinflusst, wie die Ukraine heute gesehen wird. (BR 2021)
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Literatur-Tipps:
Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine
4. Auflage, München, C.H. Beck, 2014
Sehr guter Überblick über die Verwickelte Geschichte der Ukraine, vom 10. Jahrhundert bis zum Euromaidan 1914.
Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder — Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart
München, C.H. Beck 2017
Eine erhellende Verflechtungsgeschichte Russland — Ukraine.
Timothy Snyder: Bloodlands - Europa zwischen Hitler und Stalin
München, Christiane Beck, 2011
Eine Gesamtschau nationalsozialistischer und sowjetischer Verbrechen unter anderem auf dem Territorium der heutigen Ukraine.
Zeitschrift Osteuropa 1-2, 2021: Babyn Jar — Der Ort, die Tat und die Erinnerung
Berlin 2021
Beleuchtet aus verschiedenen Perspektiven den Massenmord in Babyn Jar und die Nachgeschichte des Ortes bis zu den aktuellsten Ereignissen.
Haben sie es geschafft? Im Juni 1924 brechen George Mallory und Andrew Irvine auf, um den Mount Everest zu besteigen. Einige hundert Meter unterhalb des Gipfels werden die Briten zuletzt gesehen. (BR 2018)
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Warum altern Organismen, welche Bedingungen beschleunigen diesen Prozess und welche halten ihn auf? Die Erforschung tierischer Alterungsprozesse liefert überraschende Erkenntnisse. (BR 2017)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Schönheit ist ein Wert an sich und wird seit jeher mit Glück und Erfolg assoziiert. Um ihrem Schönheitsideal näherzukommen, nimmt eine wachsende Zahl von Menschen so einiges auf sich. Und die Schönheitschirurgie macht Vieles möglich. RadioWissen - zwischen ästhetischem Ideal und Schönheitswahn.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Viele Menschen sind einsam. Das ist nicht nur psychisch-emotional ausgesprochen belastend, sondern macht auch körperlich krank. Deshalb fordern Therapeutinnen und Mediziner, dagegen etwas zu unternehmen.
Einen interessanten Artikel zum Thema finden Sie auf ARDalpha:
EINSAM UND ALLEIN - Was ihr gegen Einsamkeit tun könnt, bevor sie euch krank macht
JETZT LESEN
Kein Wunder, dass die ersten Humanisten aus Italien stammen - vor ihren Augen das dunkle Mittelalter, und zwischen all diesem Elend die prächtigen Statuen der antiken Welt. Nach diesem Vorbild sollte der Mensch werden was er ist. (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Seit dem 16. Jahrhundert hatte Russland eine aggressive Expansionspolitik betrieben und erstreckte sich von Polen bis zum Pazifik, vom Eismeer bis in die heutige Nord-Türkei. Unterschiedlichste Ethnien und Nationalitäten wurden so zu Untertanen des Zaren. Bis heute hat das viele Konfliktherde geschaffen. (BR 2021)
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Das "Weltjudentum" plane, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Das behaupten die "Protokolle der Weisen von Zion". Doch die Protokolle sind eine Fälschung. Wer steckt dahinter? Und warum halten sie sich bis heute hartnäckig? (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
In der islamischen Welt wurde die jüdische Bevölkerung benachteiligt, aber nicht verfolgt. Im 19. Jahrhundert brachten die Europäer ihre aggressive Judenfeindschaft in den Orient. Arabische Nationalisten griffen sie auf. Und ihr Führer Amin al-Husseini, Anhänger von Adolf Hitler, machte den Antisemitismus des NS im Islam gesellschaftsfähig.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Der Begriff Biedermeier war zunächst ein Spottname. Er entstand um 1848 und bezeichnete die eben zurückliegende Ära, in der man auf den politischen Druck von oben mit einem Rückzug ins Private reagiert hatte.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Franz Grillparzer brillierte zunächst als Autor, versauerte aber als Beamter. Die Zensur des Biedermeier gab ihm den Rest. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch jubelte man ihn zum Nationaldichter hoch. (BR 2017)
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"Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung" - Was in der Theorie logisch und einfach klingt, birgt in der Praxis erhebliches Konfliktpotential. (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Das "Massaker von Aussig" am 31. Juli 1945 ist eine Tat im Prozess der Vertreibung von bis zu drei Millionen Sudentendeutschen aus der Tschechoslowakei. Die gewalttätigen Ausschreitungen werfen viele Fragen auf. Heute ist die Stadt Aussig, Ústí nad Labem, ein Ort der Versöhnung.
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Die bis zu sechs Meter hohen Giraffen sind die höchsten Tiere der Erde. Ihr außergewöhnlich langer Hals macht ihnen Nahrungsquellen zugänglich, die sonst kaum ein Pflanzenfresser erreicht. In ihrer Heimat, dem südlichen und östlichen Afrika, sind sie heute durch Landschwund, Wilderei und Trophäenjagd bedroht.
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Ein berühmter Name auf dem Buchdeckel garantiert meist bereits den Verkaufserfolg eines Buches. Jedoch ist es kein Geheimnis, dass Prominente aus Mangel an Zeit oder wegen fehlender sprachlicher Ausdrucksmittel ihre Texte oft nicht selbst schreiben. Sie beauftragen anonymer Schreiber, die so genannten Ghostwriter. (BR 2012)
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Heute haben Frauen - zumindest theoretisch - dieselben Rechte wie Männer. Anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Damals durften Frauen zwar eine politische Meinung haben, aber nicht Politik gestalten. (BR 2009)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Aus is‘!? – „Götterdämmerung II – Die Letzten Monarchen“, das ist der dramatische Titel der Bayerischen Landesausstellung 2021. Die Ausstellung beginnt ihre Erzählung beim Mythos um König Ludwig II., den Märchenkönig. Seine Regentschaft ist ein später Höhepunkt des exklusiven Selbstverständnisses der europäischen Monarchien. Aber auch das österreichische Kaiser- oder das russische Zarenpaar sieht seine Herrschaft durch das Gottesgnadentum gerechtfertigt. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs tritt die Götterdämmerung ein, viele europäische Monarchien stürzen. Die Zeit ist über sie hinweggegangen. Ganz plötzlich? – Schon in diesen letzten Jahrzehnten ist die kommende Welt weitgehend angelegt.
Bayern 2 ist Partner der Bayerischen Landesausstellung und begleitet die Ausstellung mit vielen Beiträgen im Programm und vor Ort!
Alle Infos dazu gibt es HIER.
radioWissen auf Bayern 2 zur Bayerischen Landesausstellung 2021:
König Ludwig III. - Bayerns letzter König
von Carola Zinner
DIESE FOLGE ANHÖREN
Vom Zaren zum Sozialismus - Das große Experiment
von Rainer Volk
DIESE FOLGE ANHÖREN
Die Münchner Räterepublik - Bayern sozialistisch
von Yvonne Maier
DIESE FOLGE ANHÖREN
Als der Strom nach Bayern kam - Wasserkraft und Widerstand
von Iska Schreglmann
DIESE FOLGE ANHÖREN
Auch hörenswert zum Thema:
Ludwig II. - Der Mondkönig
von Carola Zinner
DIESE FOLGE ANHÖREN
Mythos Prinzregentenzeit - Die letzten schönen Jahre?
von Michael Zametzer
DIESE FOLGE ANHÖREN
Elisabeth von Österreich - Eine Kaiserin verweigert sich
von Brigitte Reimer
DIESE FOLGE ANHÖREN
Franz Joseph I. - Der Kaiser der Donaumonarchie
von Michael Zametzer
DIESE FOLGE ANHÖREN
Wilhelm II. - Phantast von Gottes Gnaden
von Rainer Volk
DIESE FOLGE ANHÖREN
Der imposante Steinbock ist eine scheue, extrem an ihren Lebensraum angepasste Wildziegenart. Heute erholen sich die durch gnadenlose Bejagung stark reduzierten Bestände. (BR 2018)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Sie gelten als klassische Bewohner des Hochgebirges: Mit ihren großen Hufen sind Gämsen perfekte Kletterkünstler und gut ausgerüstet für die Nahrungssuche, die sie bis in die extremsten Lagen führt. (BR 2017)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Egal ob unter der Haube von Autos und Lastwagen oder im Motorenraum von Schiffen: Diesel-Motoren sind allgegenwärtig. Ihr Erfinder Rudolf Diesel war ein Technik-Genie, das auf anderen Gebieten aber versagte. (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Der spektakuläre Mord an Johann Joachim Winkelmann schockierte 1768 das gebildete Europa. In jahrzehntelanger Arbeit hatte er sich vom Schustersohn zum führenden Altertums-Experten hochgearbeitet. Heute gilt er als einer der Begründer der klassischen Archäologie und der modernen Kunstwissenschaft.
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Als wohl glanzvollste "Maitresse" im Frankreich des 18. Jahrhunderts gilt die Geliebte des französischen Königs Ludwig XV., die Marquise Madame Pompadour. Sie förderte Literatur, Wissenschaft, Theater und Künste, ließ Schlösser und die Porzellanfabrik in Sèvres bauen. Weniger glücklich war ihr politischer Einfluss.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Edelkurtisanen - die großen Verführerinnen des 19. Jahrhunderts kamen meist aus ärmlichen Verhältnissen und brachten es zu Einfluss. Den Hochadel Europas brachten sie immer wieder um die letzten Nerven. (BR 2017)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Er kommt aus einfachsten Verhältnissen und steigt auf zum profiliertesten theoretischen Astronomen seiner Zeit: Johannes Kepler. Sein Leben lang kämpft er für das kopernikanische Weltbild. Er hat zum Beispiel herausgefunden, dass sich die Planeten nicht auf Kreisen, sondern auf Ellipsen um die Sonne bewegen.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Zimt im Kaffee. Zimt mit Tequila. Zimt im Plätzchen. Die feine Rinde des Zimtbaumes ist heutzutage gängiges Gewürz. Doch es gab eine Zeit, da war Zimt der reine Luxus. Eine kleine Kulturgeschichte. (BR 2018)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Kommt Religion von Gott? Oder gehört sie quasi biologisch zu unserem Mensch-Sein? Warum ist Religion entstanden, wie hat sie sich im Laufe der Geschichte entwickelt und welchen Nutzen hat sie für den Menschen? (BR 2020)
Das Manusript zur Folge gibt es HIER.
Rund 12 Millionen Menschen wurden seit der frühen Neuzeit versklavt und von Afrika in die Kolonien Amerikas verschleppt - als "Ware" im atlantischen Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und der Neuen Welt. (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Metamorphosen sind ein wiederkehrendes Motiv in der Literatur. Die Verwandlung von Kafkas Versicherungsvertreter Gregor Samsa zum Käfer ist wohl das bekannteste Beispiel, doch es gibt viele weitere. Egal ob "Sau rauslassen" oder "vogelfrei" sein, Regressionsphantasien und Literatur gehen nur allzu oft Hand in Hand. (BR 2014)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Als einer der ersten schrieb Ovid im alten Rom Liebesgedichte mit der Geliebten als gleichberechtigten, was sie auch heute noch interessant macht. Berühmt wurde er jedoch vor allem durch seine Metamorphosen. 250 Geschichten, von der Urschöpfung bis zur Herrschaft Cäsars, alle verbunden durch das Motiv der Verwandlung. (BR 2007)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Stadtluft macht frei - hieß es schon im Mittelalter. Aber nicht unbedingt wohlhabend. Seit die Zahl der Städte in Europa rasant anstieg, wuchs auch die Zahl der Menschen, die betteln gehen mussten. (BR 2017)
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Aquakultur gilt als Alternative zur Überfischung der Weltmeere. Die industrielle Fischzucht birgt aber etliche Tücken. Gibt es Ideen, um Aquakultur gleichermaßen ertragreich wie ökologisch nachhaltig zu gestalten? (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Von Katerstrophen gequält, über Jahrzehnte verfolgt und von der Shoa geprägt. Trotz all dem hat das Judentum mit seinen Anhängern und deren Glaube überlebt und wartet weiterhin auf den Messias. Christian Feldmann fragt wie das gelingen konnte und klärt auf, welche Rolle der Talmud in dieser Religion spielt.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Die Tora ist die Grundlage des jüdischen Glaubens und ihre Abschrift ein heiliges Ritual: Buchstabe für Buchstabe, mit Gänsekiel und reiner Tinte auf handgefertigtem Pergament aus der Haut koscherer Tiere. Doch welche Bedeutung haben die 5 Bücher Mose für Juden heute?
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Die Mathematik tritt in die Geschichte der gewöhnlichen Menschen mit dem Charme der Aufklärung, und sie hat ihn bis heute behalten. Eine Rechnung ist eben dann richtig, wenn das Ergebnis stimmt und nicht erst, wenn der Lehrer nickt oder ein König es will. (BR 2008)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Die Natur gilt oft als wild und unberechenbar und doch kommen im Pflanzenreich immer wieder dieselben geometrischen Muster vor. Viele davon gelten als Variationen des "Goldenen Schnitts". Damit ist eine bestimmte harmonisch wirkende Proportion gemeint. (BR 2014)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Der Krieg zwischen Pakistan und Indien im Dezember 1971 gilt als einer der kürzesten der Geschichte - aber der gewalttätige Konflikt reicht viel weiter zurück, und er hat gewaltiges Leid ausgelöst. Durch ihn musste die Landkarte Südasiens neu gezeichnet werden.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Die Vereinigten Arabischen Emirate, eine 1971 gegründete Staatsföderation, stellen ihren Reichtum durch spektakuläre Stadtlandschaften zur Schau. Ihre kurze Geschichte gibt Einblick in die Beziehung zwischen der arabischen Welt und dem Westen.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Illegaler Tierhandel gehört zu den einträglichsten Geschäften überhaupt - in den Tropen wie in Deutschland. Doch Kontrollen sind schwierig: Analysen, die zeigen, woher ein Tier stammt, dauern viel zu lang. Ein wissenschaftliches Projekt des Forschungsmuseums Alexander Koenig in Bonn soll das jetzt ändern.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Das Golfstromsystem ist die Heizung Europas. Wie ein Förderband transportiert es warmes, salzhaltiges Wasser aus den Subtropen Richtung Arktis. Doch Wissenschaftler haben festgestellt, dass das System durch die Klimaerwärmung schwächelt. Droht Europa eine Abkühlung? Könnte das System kippen? Und: Könnte die Klimaerwärmung die Effekte aushebeln?
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Der deutsche Fußball hat in den letzten gut 100 Jahren eine rasante Entwicklung genommen. War er lange Zeit eine populäre Sportart neben vielen anderen, hat er inzwischen ein Alleinstellungsmerkmal: finanziell, zuschauermäßig, medial - keine andere Sportart kommt da annähernd heran. Eine einzige Erfolgsgeschichte?
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert gilt als bedeutender Vertreter des literarischen Realismus und als Begründer einer neuen Schreibweise, die die Wirklichkeit beschreiben und entlarven will, ohne zu moralisieren. (BR 2018)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Konstantin wird in der Ostkirche als Heiliger verehrt, gilt heute aber auch als skrupelloser Machtmensch. War er überzeugter Christ, oder benutzte er den neuen Glauben nur, um das Imperium zu stützen? (BR 2015)
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Die ersten Katakomben entstanden in Rom in der Zeit um 150, bevor das Christentum Staatsreligion wurde. Ihre Wandgräber waren eine praktische und billige Ruhestätte für Tausende von Toten. (BR 2015)
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Was fühlen und denken Tiere? Die Sachbuch-Bestsellerliste zeigt einen Naturboom und die Suche nach Antworten auf diese und ähnliche Fragen. Der Mensch tendiert bei der Betrachtung dazu, sich selbst als Referenz zu setzen. (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Krähen können aus mehreren Teilen ein Werkzeug zusammenbauen. Damit sind sie in etwa so schlau wie ein Kleinkind. Wie groß die Intelligenz der Rabenvögel ist, lernen Forscher gerade erst so richtig. (BR 2019)
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Dynamit ist so nützlich wie tödlich - und hat mit seiner Sprengkraft für Umbrüche gesorgt, buchstäblich und im übertragenen Sinne: Die Mischung aus Nitroglycerin und Kieselgur, die Alfred Nobel berühmt gemacht hat, verleiht der Industrialisierung neuen Schwung - und Dynamitarden lehren die Regierenden das Fürchten.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
New Orleans gilt als "Ewige Stadt" der USA, als Wiege des Jazz, als Ort mit einem einzigartigen kulturellen Flair. Markus Vanhoefer taucht ab in die Musikgeschichte einer Schmelztiegel-Metropole zwischen Europa und Afrika
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Heraklit, einer der einflussreichsten Denker der Philosophiegeschichte, sah eine dynamische Welt, in der alles im Fluss ist. Sie besteht aus Gegensätzen wie Tag und Nacht, Sommer und Winter. (BR 2013)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Von den ersten Kritzeleien zu aufwendig gemalter Gesellschaftskritik: Street Art schaffte es aus der illegalen Schmuddelecke in die Galerien und Museen. (BR 2018)
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
In Bayern ist er bis heute ein Mythos - der Wilderer, oder besser noch: der Wildschütz, der aufs Jagdrecht pfeift und in der Dämmerung nach seiner Flinte greift. Immer wieder kamen bei der illegalen Jagd auch Menschen ums Leben. (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Wem gehört die Natur? Wer darf auf ihre Gaben zugreifen? Zunächst alle! Dann erklärt das Feudalsystem die Jagd zum Adelsprivileg. Damit beginnt ein Streit, der bis heute politische und gesellschaftliche Entwicklungen spiegelt. (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Die Gestaltung der Innenräume wurde in Japan vom Zen-Buddhismus beeinflusst. Doch es ist nicht nur die Philosophie des Zen, die dem westlichen Besucher eines traditionellen japanischen Hauses Rätsel aufgibt.
Die ARD-Themenwoche 2021 vom 07.11. - 13.11.:
"Stadt.Land.Wandel"
Alle Infos dazu gibt es HIER.
In schwarzem Trauergewand sitzt Marie Antoinette in ihrer primitiven Zelle in der Conciergerie - bewacht von Soldaten der Revolutionsregierung. Gleichzeitig droht aber auch einfachen Kammerzofen, Journalisten oder Handwerkern der Tod durch die Guillotine, weil sie sich verdächtig gemacht haben, mit der Monarchie zu paktieren. Im Pariser Revolutionsmuseum in der Conciergerie werden die Schattenseiten der Französischen Revolution in Szene gesetzt. Und doch gehört die Französische Revolution zu den folgenreichsten Ereignissen der europäischen Geschichte. Mit ihrer Losung "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schafften die Revolutionäre nicht bloß die Abkehr vom feudalen Ständestaat. Sie formulierten ein Ideal, das heute in den Verfassungen der Demokratien zur selbstverständlichen Norm geworden ist. Noch heute gedenken die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag, dem 14. Juli, des Sturms auf die Bastille. Das Bastille-Gefängnis war das Symbol der absolutistischen Ausbeuter-Herrschaft: Das Volk erhob sich am 14. Juli 1789 zum bewaffneten Aufstand gegen die Monarchie. Doch das anfängliche Hochgefühl wich bald dem Terror, der schließlich die Kinder der Revolution selbst auffraß. Gabriele Knetsch begibt sich in ihrem Feature "Frei, gleich und brüderlich?" auf eine Spurensuche dieses höchst widersprüchlichen Ereignisses. Die Autorin spricht mit einem Historiker, mit einem französischen Pfarrer und einem Möbelrestaurator aber auch darüber, welche Spuren die Revolution im französischen Alltag von heute hinterlassen hat. (BR 2010)
Autor/in dieser Folge: Gabriele Knetsch
Regie: Gabriele Knetsch
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Armin Berger, Reiner Buck, Heinz Peter, Christian Schuler
Technik: Lydia Schön
Redaktion: Brigitte Reimer
Peter Paul Rubens‘ Großes Jüngstes Gericht in der Alten Pinakothek in München gilt als eines der Meisterwerke des Barock. Mit gut sechs Metern Höhe ist es das größte Gemälde, das Rubens je geschaffen hat. Doch warum ist es eigentlich so groß? Julie Metzdorf über Politik mit dem Pinsel in Zeiten des Dreißigjährigen Krieges.
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Wer Homer wirklich war, ist heute umstrittener denn je. Traditionell gilt er als der Verfasser der ersten literarischen Werke des Abendlands, der Ilias und der Odyssee. Und damit ist er der auch der Urvater beinahe aller nervenaufreibenden Geschichten. (BR 2016)
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Zwei Mal, von 1945 bis 1946 und von 1954 bis 1957, war Hoegner bayerischer Ministerpräsident. Bereits in der Weimarer Republik hatte sich der Sozialdemokrat als Parlamentarier einen Namen gemacht - unter anderem durch seinen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Im Bewusstsein geblieben ist der streitbare Geist, der oft als "Gefühlssozialist" bezeichnet wurde, vor allem als Vater der Bayerischen Verfassung.
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Sie beschäftigte seit jeher Kirche und Philosophie gleichermaßen: die Wollust. Sie galt als Feind der Moral, der Vernunft, als Teufelswerk... aber auch als dynamischer Lebensquell. Was wären wir ohne sie? (BR 2015)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Manchmal muss Literatur wehtun: Am 25. Juni 1983 schneidet sich der Schriftsteller Rainald Götz vor laufenden Fernsehkameras mit einer Rasierklinge in die Stirn. Dann liest er seinen Wettbewerbstext für den Ingeborg-Bachmann-Preis, während das Blut aufs Manuskript tropft. Den Bachmannpreis nimmt der junge Provokateur aus München damit nicht nach Hause - aber die mediale Aufmerksamkeit ist ihm sicher. Nicht nur wegen der Rasierklinge. Sein Text "Subito" ist tatsächlich gute Literatur, provokant und aufregend. Über die nächsten Jahrzehnte bleibt Götz einer der spannendsten Schriftsteller in deutscher Sprache.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Unsere Nieren produzieren täglich eine Badewanne voll Urin! Der Großteil wird direkt recycelt. Was "unten" rauskommt ist ein Konzentrat voller Abfallstoffe, das viel über unser Innenleben verrät - und ein wertvoller Rohstoff ist.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Von der Atheistin zur Mystikerin, das ist der Weg von Madeleine Delbrêl. Sie geht diesen Weg voller Wendungen aufrichtig und beharrlich. Sie belässt es nicht bei frommen Gedanken, sondern engagiert sich tätig als Sozialarbeiterin. Ihr Weg zu Gott ist auch ihr Weg zu sich selbst.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Wenn es Gott gibt und wenn er allmächtig ist - wie kann er dann all das Leid auf der Erde zulassen? Bibel und Theologie bleiben uns bis heute eine zufriedenstellende Antwort schuldig. (BR 2014)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Ungezählte Werke jüdischer Wissenschaftler oder Sachbuchautorinnen wurden in der NS-Zeit "arischen" Verfassern zugeschrieben - sei es ein juristischer Kommentar, ein medizinisches Lexikon oder ein Kochbuch. Dieser Diebstahl geistigen Eigentums ist bis heute kaum aufgeklärt, die Nazi-Namen sind geblieben.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Nicht Fakten sondern kognitive Deutungsrahmen - frames - bestimmen unser Handeln und Denken. Frames können manipulieren, aber auch motivieren. Im politischen Diskurs werden sie oft zur ideologischen Waffe. (BR 2019)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Wer sein Leben so führt, dass er anderen Lebewesen nicht schadet, hat nach dem Glauben der uralt Jain-Religion die Chance auf Erlösung. Ihre Anhänger vermeiden strikt alles, was anderen Lebewesen schadet. Sie leben streng vegetarisch, asketisch, arbeitsam. Doch was genau steckt hinter dieser Lebensphilosophie? (BR 2016)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Begonnen hat Magnus Hirschfeld (1868-1935) als Mediziner. Bald jedoch widmete er sich immer mehr seiner politischen Mission. Der Berliner Arzt war ein Vorkämpfer der Homosexuellen-Bewegung. Er legte mit seinen Untersuchungen und Publikationen aber auch den Grundstein für eine neue Disziplin, die Sexualwissenschaft.
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Die Jazz-Baroness - ein Leben für die Musik. Pannonica de Koenigswarter war eine wichtige Mentorin und Schutzpatronin für zahlreiche Jazz-Musiker der 1950er und 1960er Jahre. Für ihre Leidenschaft brach sie, eine geborene Rothschild, mit allen Konventionen.
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Als Mäzen gilt, wer Kunst, Wissenschaft und öffentliche Projekte fördert, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Im Laufe der Geschichte hat das Mäzenatentum mehrfach einen Wandel erlebt. (BR 2017)
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Bayern: ein Hort von Konservatismus und Tradition? Vor rund 100 Jahren sah das für kurze Zeit ganz anders aus. Da war das Land vorne mit dran, bei der Revolution nach dem Ersten Weltkrieg. Die Bayern vertrieben ihren König, riefen einen Freistaat aus und bald eine Räterepublik. (BR 2017)
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Aus is‘!? – „Götterdämmerung II – Die Letzten Monarchen“, das ist der dramatische Titel der Bayerischen Landesausstellung 2021. Die Ausstellung beginnt ihre Erzählung beim Mythos um König Ludwig II., den Märchenkönig. Seine Regentschaft ist ein später Höhepunkt des exklusiven Selbstverständnisses der europäischen Monarchien. Aber auch das österreichische Kaiser- oder das russische Zarenpaar sieht seine Herrschaft durch das Gottesgnadentum gerechtfertigt. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs tritt die Götterdämmerung ein, viele europäische Monarchien stürzen. Die Zeit ist über sie hinweggegangen. Ganz plötzlich? – Schon in diesen letzten Jahrzehnten ist die kommende Welt weitgehend angelegt.
Bayern 2 ist Partner der Bayerischen Landesausstellung und begleitet die Ausstellung mit vielen Beiträgen im Programm und vor Ort!
Alle Infos dazu gibt es HIER.
radioWissen auf Bayern 2 zur Bayerischen Landesausstellung 2021:
König Ludwig III. - Bayerns letzter König
von Carola Zinner
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Vom Zaren zum Sozialismus - Das große Experiment
von Rainer Volk
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Das Frauenstimmrecht - Der erste Schritt zur Gleichberechtigung
von Gerda Kuhn
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Als der Strom nach Bayern kam - Wasserkraft und Widerstand
von Iska Schreglmann
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Auch hörenswert zum Thema:
Ludwig II. - Der Mondkönig
von Carola Zinner
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Mythos Prinzregentenzeit - Die letzten schönen Jahre?
von Michael Zametzer
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Elisabeth von Österreich - Eine Kaiserin verweigert sich
von Brigitte Reimer
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Franz Joseph I. - Der Kaiser der Donaumonarchie
von Michael Zametzer
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Wilhelm II. - Phantast von Gottes Gnaden
von Rainer Volk
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Noch nie in der Geschichte hatte der Mensch so viel Macht über Tiere wie heute. Das Tierschutzgesetz gibt Richtlinien für den Umgang mit Tieren vor, lässt aber auch Massentierhaltung zu, brutale Tiertransporte, Tierversuche... Welche Haltung gegenüber Tieren steckt dahinter? (BR 2019)
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Außerdem interessant:
In diesem Artikel auf BR.de geht es um den Tierschützer Friedrich Mülln:
ZUM ARTIKEL AUF BR.DE
Die Lebenslinien im BR Fernsehen haben sich genauer mit seiner Arbeit beschäftigt. Die Folge "Der Anwalt der Tiere" vom 07.06.2021 können Sie sich auch direkt in der BR Mediathek anschauen:
ZUR BR MEDIATHEK I LEBENSLINIEN: DER ANWALT DER TIERE
Das rechte Maß zu halten, ist nicht leicht. Man muss die eigenen Bedürfnisse und Grenzen kennen und dann auch noch eine Gewisse Selbstbeherrschung haben um im richtigen Moment "Nein" sagen zu können. Aber wenn die Balance zwischen "Nicht zu viel wollen!" und "Genug kriegen!" stimmt, kann Zufriedenheit entstehen. (BR 2019)
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Nur wenige Künstler besaßen so viel Integrationskraft wie Benny Goodman, der King of Swing: ein begnadeter Bandleader und Klarinettensolist. Und der erste, der Rassenschranken überwand, indem er, der weiße Star, afroamerikanische Musiker auf die Bühne holte. (BR 2014)
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Gehorsam aus Einsicht oder blinder Hörigkeit? Die Beantwortung dieser Frage entscheidet über Mündigkeit oder kritiklosen Herdentrieb. Und Gehorsam hat viele Gesichter! Die Pandemie hat gezeigt: Gehorsamkeit muss nicht Kapitulation des eigenen Denkens bedeuten, sondern sie kann überlebensnotwendig sein.
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Man nannte ihn Prince of Darkness, wegen seines introvertierten, vibratolosen Trompetenspiels, das der Inbegriff von Coolness wurde. Mit "Kind of Blue" spielte Miles Davis das meistverkaufte Album der Jazzgeschichte ein - es wurde über sechs Millionen mal verkauft. (BR 2018)
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Bienenkönigin, Ameisenkönigin oder Wespenkönigin - an der Spitze der meisten Insektenstaaten steht eine Frau. Termiten oder Mulle gewähren auch den Männchen eine Chance auf den Thron, allerdings regiert er immer nur an ihrer Seite. Immer aber gilt: Staaten im Tierreich sind straff organisiert. (BR 2020)
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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Neue Pop-Up-Ausstellung im Rahmen des Flower Power Festivals in München:
BESTÄUBER - KLEINE HELDEN DER NATUR (Ab 7.7.2023) im BIOTOPIA Lab
Bestäuber sind kleine Helden der Natur, die für die Artenvielfalt in der Umwelt sorgen und für eine Vielzahl unserer Lieblingsspeisen verantwortlich sind. Aber wie funktioniert Bestäubung? Welche Rolle spielen Bienen, Schmetterlinge und Co.? Und was, wenn es immer weniger Insekten gibt? Die familienfreundliche Pop-Up-Ausstellung im BIOTOPIA Lab dreht sich um das verführerische Zusammenspiel zwischen Blüten und Bestäubern - und ihre Bedeutung für unser Leben auf lokaler und globaler Ebene. Zu sehen ist sie von 7. Juli bis 31. Dezember 2023 im BIOTOPIA Lab! Mehr Infos gibt es hier:
EXTERNER LINK | https://biotopia.net/de/biotopia-lab/popupausstellung
"Great Game" - "Großes Spiel" nannten im 19. Jahrhundert britische Kolonialherren das Ringen um die Macht in Zentralasien. Tatsächlich handelt es sich um kein Spiel oder Sportturnier, sondern um eine Serie blutiger Kriege. Die Auswirkungen dieser Auseinandersetzungen sind bis heute spürbar.
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Seine Wasserkur hat den Pfarrer Sebastian Kneipp berühmt gemacht. Arme und reiche Menschen pilgerten Ende des 19. Jahrhunderts nach Bad Wörishofen, um sich vom "Wasserdoktor" behandeln zu lassen. Manch Apotheker und Arzt neidete Kneipp den Erfolg und sie verklagten ihn wegen Kurpfuscherei. (BR 2021)
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Rudolf Virchow steht für das Ende eines über 2.000 Jahre alten Krankheitsbilds: Nicht die Mischung der Körpersäfte ist schuld, wenn der Mensch krank wird, sondern Störungen seiner Körperzellen. Auch die moderne Wasserversorgung und die Kanalisation Berlins gehen auf den engagierten Naturwissenschaftler zurück. (BR 2016)
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Kaum ein Werk der Staatsphilosophie ist für die Demokratien der Moderne so bestimmend wie die Schrift "Leviathan", erschienen 1651. Verfasst hat sie der britische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679). "Der Mensch ist des Menschen Wolf", so lautet eine der spektakulären Thesen des Buches. Was aber meint er damit wirklich? (BR 2009)
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Isaac Asimov gilt als der Science-Fiction Visionär schlechthin. Kaum jemand hat sich so viele Gedanken über die Zukunft gemacht, über selbst fahrende Autos, über Computer, Roboter und die Zerstörung des Planeten. Sein Foundation-Zyklus gehört zu den wichtigsten Werken des Science-Fiction Genres. (BR 2019)
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Mörderische Ungeheuer, feurige Abgründe, eisige Seen: Keiner hat die Hölle so fantasievoll ausgeschmückt wie Dante Alighieri. Doch die unerbittliche Tortur hat System: Alle Strafen, die die Verdammten dort erleiden, entsprechen exakt ihren jeweiligen Vergehen auf der Erde (BR 2012)
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1806 wird Nürnberg Teil des Königreichs Bayern. Die alte Reichsstadt verliert damit ihre Eigenständigkeit und muss sich dem Diktat Münchens unterwerfen. 1806 beginnt damit aber auch der Wandel Nürnbergs - zur modernen Industriestadt.
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Zum neu geschaffenen Thüringen oder zum alteingesessenen Bayern? 1919 müssen die Bewohner des ehemaligen Fürstentums Sachsen-Coburg-Gotha sich entscheiden! Die Coburger wählen den Beitritt zu Bayern und bilden damit den jüngsten Gebietszuwachs des Freistaates.
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Symbiosen sind ein Prinzip des Zusammenlebens verschiedener Arten von Lebewesen. Es dient dem Überleben und funktioniert nur dann, wenn beide Partner einen Nutzen daraus ziehen. Auch der Mensch ist ein Teil dieser Symbiose, denn ohne Lebensgemeinschaften würden wir nicht überleben. (BR 2018)
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Spätestens mit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist Terrorismus zu einem der Schlagwörter unserer Zeit geworden. Doch was macht dieses Phänomen eigentlich aus? Wann begann es, und wie hat es sich verändert? Eine Spurensuche in der langen Geschichte des Terrors. (BR 2017)
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Missernten, die zu katastrophalen Hungersnöten führten; Packeis, das ganze Zivilisationen von der Außenwelt isolierte: In kaum einer Phase seit ihrem Bestehen hatte die Menschheit so sehr mit den Folgen kühlen Klimas zu kämpfen wie in der "Kleinen Eiszeit" von Anfang des 15. bis Mitte des 19. Jahrhunderts. (BR 2017)
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Nepal ist einzigartig. Das gilt für die Landschaft, aber auch für die Kulturen und Traditionen der zahlreichen Volksgruppen des Landes - und es gilt für die unterschiedlichen Religionen. (BR 2012)
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Sie ist nicht nur eine Straße, sie ist ein Symbol: die Stalinallee in Ostberlin, die heute (wieder) Frankfurter Allee heißt, spiegelt die Chancen und das Scheitern der DDR wider. Die sozialistischen Wohnpaläste, die dort Anfang der 50er-Jahre entstanden, sollten allen damals nur möglichen Komfort bieten. (BR 2014)
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Der Chemiker, Pharmazeut und Pionier der Hygiene Max von Pettenkofer gilt bis heute als einer der brillantesten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Er hat nicht nur die Grundlagen erforscht, unter welchen Bedingungen Menschen gesund bleiben, sondern auch für die nötige Infrastruktur gesorgt, dass Krankheiten sich nicht ausbreiten können. Er war ein Multitalent, das interdisziplinär dachte und experimentell arbeitete. Von Ulrike Beck (BR 2021)
Credits
Autorin dieser Folge: Ulrike Beck
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Christian Baumann, Hemma Michel
Technik: Christiane Gerheuser-Kemp
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview:
Wolfgang Locher, Professor; Medizinhistoriker, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der LMU München
Sebastian Suerbaum, Professor; Mikrobiologe, Vorstand Max von Pettenkofer-Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie und Lehrstuhlinhaber für Medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene an der LMU München
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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
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Im 19. Jahrhundert raffte die Cholera fast die Hälfte derer hin, die erkrankten. Choleraleugner glaubten zunächst an eine Vergiftung durch die Eliten, und es kam zu Aufständen. 1836 erreichte die Seuche über Mittenwald erstmals auch Bayern. Hier begegnete man der noch unverstandenen Gefahr mit durchaus brauchbaren Ideen.
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Die angebliche "Krönung der Schöpfung" läuft aufrecht. Ein starker Rücken mit Wirbelsäule und Muskulatur macht es dem Menschen möglich. Aber er ist auch anfällig für eine Fülle von Beschwerden: Verspannungen, Fehlstellungen bis hin zu Bandscheibenvorfällen.
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Fast jeder Mensch hat Muttermale, Altersflecken und Warzen. Sie sind ein Zeichen dafür, wie sich die Haut im Laufe des Lebens verändert. Wie altert unser äußerstes Organ? Und wovon hängt es ab, wann und wie viele solcher Hautveränderungen auftreten? (BR 2019)
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Rio Reiser war Stimme und Songschreiber von Ton Steine Scherben, der West-Berliner Agitrockband, die begann, Rockmusik mit deutschen Texten zu verbinden. Als Solo-Künstler war er einer der führenden Vokalisten des sog. Deutschrock.
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Nach einem Kampf mit den Maya erhielt der spanische Eroberer Cortés eine Aztekin als Friedenstribut: Malinche. Bis heute wird sie als Urmutter der Mexikaner verklärt, aber auch als Verräterin verurteilt. (BR 2014)
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Mieten zum Spottpreis und tägliche Gebete für den Stifter und seine Nachkommen. Mit diesem Konzept gründete 1521 Jakob Fugger, "der Reiche" seine berühmte Sozialsiedlung in Augsburg - die Fuggerei.
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Bärtierchen halten extreme Hitze und Kälte aus, überleben radioaktive Strahlung und ätzende Lösungsmittel. Welche Gene machen die Winzlinge so widerstandsfähig? (BR 2019)
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Wir stecken mitten in einer Mobilitäts-Revolution: Elektroautos, Flugtaxis, Schiffe mit Batterieantrieb. Doch vieles, was uns neu vorkommt, hat eine Geschichte, die bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht. (BR 2019)
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50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz: Ganz schön spät! Erst 1971 wurde die öffentliche Gleichstellung der Geschlechter gegen viele Widerstände durchgesetzt. Warum waren die Schweizer Männer - und sogar viele Frauen - so lange gegen die politische Teilhabe von Schweizerinnen?
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Klein, mit großen Knopfaugen und hellroter Brust. Das Rotkehlchen bezaubert die Menschen und wurde seit alters her als "reiner Vogel" verehrt. Dabei ist es viel mehr als nur putzig. Mit seinen 16 Gramm Körpergewicht strotzt das Rotkehlchen vor Selbstbewusstsein und ist mitunter ein richtiger Rowdy.
Dawn Chorus: Tausende Vogelkonzerte aus aller Welt
Von Bayern bis Brasilien - Neue Rekordbeteiligung beim Citizen-Science und Kunst-Projekt Dawn Chorus
Zahlreiche Menschen haben im Rahmen von Dawn Chorus das morgendliche Vogelkonzert bewusst erlebt und aufgezeichnet.
Über 14.800 Aufnahmen haben Naturbegeisterte aus aller Welt seit Jahresbeginn bereits hochgeladen. Jede Aufnahme erweitert die Sammeldatenbank und unterstützt die Forschung zur Biodiversität.
Unter dem Motto „Same place, same time" ruft Dawn Chorus deshalb alle bisherigen Teilnehmenden dazu auf, im Mai 2024 an denselben Ort zurückzukehren und wieder bei Dawn Chorus mitzumachen.
Mehr Infos gibt es hier:
EXTERNER LINK | https://dawn-chorus.org/
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Rund 650 Millionen Mädchen und junge Frauen weltweit sind von Kinderehen betroffen. Nach Schätzungen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen gehen jedes Jahr rund 12 Millionen Mädchen unter 18 Jahren eine Ehe ein. Durch die wachsende Armut während der Corona-Pandemie kam und kommt es noch häufiger zu Eheschließungen unter Minderjährigen als zuvor.
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Ein Philosoph hinterfragt alles - auch die Religion. Wie hielten es die "jüdischen Philosophen" mit ihrem Glauben? Ging es ihnen darum, das Judentum philosophisch zu erklären? (BR 2019)
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Der Synthesizer: Heute hauptsächlich in der Pop-Musik benutzt, war er ursprünglich Instrument der experimentellen klassischen Musik. Der Synthesizer für jedermann kam erst in den 1960er Jahren auf den Markt. (BR 2019)
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Die Honeckers: Sie prägten den Staatssozialismus der DDR. Dabei verloren sie zu-nehmend den Kontakt zum Volk und verweigerten sich der Reformpolitik von Michail Gorbatschow. Im Winter 1989 wurden sie zum Rücktritt gezwungen. (BR 2019)
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Ohne den schmackhaften und sehr gesunden Hering wäre die Geschichte Europas wohl anders verlaufen. Mehr als 50 verschiedene Arten dieses in großen Schwärmen vorkommenden Fisches schwimmen in den Weltmeeren. (BR 2014)
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Glück beginnt im Kopf, das steht für Hirnforscher inzwischen fest. Trotzdem ist Glück aber nicht nur Glückssache: Es lässt sich auch aktiv beeinflussen. Vorausgesetzt, man weiß, was Glück überhaupt ist. Von Inga Pflug (BR 2018)
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Unser Gehirn ist in der Lage, zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen hin und her zu wechseln. Wachheit und Schlaf stellen sich von selbst ein - Trance und Hypnose erfordern in der Regel ein mentales Training. (BR 2019)
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Efeu, eine Kletterpflanze, ist fälschlicherweise als Würgepflanze verrufen. Richtig aber ist: Efeu ist giftig. Trotzdem können bestimmte Extrakte richtig angewandt heilende Wirkung entfalten. (BR 2017)
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Mehr als nur Hunger und Verbrechen: Als der Biologe Bill Schutt sich mit der Geschichte des Kannibalismus befasst, stellt er fest: Menschen zu essen ist nicht so ungewöhnlich, wie wir denken. Lange war es sogar in Europa geläufig. Und das ist es in Teilen der westlichen Welt bis heute noch.
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Klein aber mein. Der Schrebergarten ist für viele Millionen Menschen eine eigene Oase inmitten der Großstadt, Hort der Erholung und schöpferischer Aktivität. (BR 2017)
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Sie gab dem Heer junger Sekretärinnen eine freche frische Stimme. Irmgard Keuns Großstadt-Romane "Gilgi - eine von uns" und "Das kunstseidene Mädchen" zählten zu den bekanntesten Büchern der späten Weimarer Republik.
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Mandalas üben auf den Betrachter eine eigenartige Faszination aus. Im Buddhismus sind Mandalas keine Wohlfühl-Accessoires, sondern Symbol für ein Weltensystem, das in der rituellen Praxis große Bedeutung hat. Im tibetischen Buddhismus gibt es unsichtbare Varianten wie ein inneres oder ein geheimes Mandala. (BR 2015)
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"Bildungsbürger" - heute wird dieses Wort oft abschätzig gebraucht, einst galt es als reine Definition. Wie entstand im 18. Jahrhundert die Gesellschaftsschicht des Bildungsbürgertums? (BR 2016)
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Auf den Bergen wohnt die Freiheit und in den Bergen hausen die Geister. Ein besonderer Platz für diese Fabelwesen scheint der Untersberg im Berchtesgadener Land zu sein. (BR 2017)
Autor/in dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Irina Wanka, Stefan Merki
Technik: Siglinde Hermann
Redaktion: Bernhard Kastner
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Wir empfehlen außerdem das spannende Hörspiel von Frank Halbach:
„Namaste, Yeti! Oder: Die Jagd nach dem Schneemensch“
Maya begleitet ihre Mutter nach Nepal. In einem Himalayadorf hört sie, dass man hier angeblich den Yeti-Schneemenschen gesehen hat. Gopal, ein Kollege ihrer Mutter, erzählt ihr die fantastischen Abenteuer von Tashi: Das Mädchen kann mit Tieren sprechen und machte sich auf, den geheimnisvollen Yeti zu finden. | Hörspiel über ein Abenteuer in Nepal ab 6 Jahren | Eine Geschichte von Frank Halbach
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Im Oktober 1903 wurde der Bau der Bagdadbahn in Angriff genommen. Was für Kaiser Wilhelm II. ein Prestigeobjekt von wirtschaftlicher wie militärstrategischer Bedeutung war, sahen die europäischen Großmächte Britannien, Frankreich und Russland dagegen als Gefährung ihrer Interessen im Orient. (BR 2008)
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Die größte Geldfabrik der USA liegt nur einen Katzensprung vom Weißen Haus entfernt. Dort rollen etwa 560 Millionen Dollar täglich vom Band. (BR 2019)
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Wut gilt als Charakterschwäche, raubt sie einem doch den Verstand. Sie richtet sich gegen andere, aber auch gegen sich selbst. Auf der anderen Seite kann Wut aber auch Energie freisetzen. (BR 2010)
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Über 200 Romane, noch heute Verkaufsschlager! Kitsch? Doch Hedwig Courths-Mahler, vor 150 Jahren als uneheliches Kind in Armut geboren, (er)lebte das, was sie schrieb: Vom Aschenputtel zur Millionärin. (BR 2017)
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In Westdeutschland ist sie fast unbekannt - in der DDR galt sie als absolute Kultautorin: Maxie Wander. In ihrem Buch "Guten Morgen, du Schöne" sammelte sie die Lebensgeschichten ganz normaler DDR-Bürgerinnen. Von der Jugendlichen bis zur Großmutter erzählten ihr die Frauen offen und intim aus ihrem Leben, sprachen über Arbeit und Liebe, Kinder und Politik. Vereint wurden die Protokolle durch die behutsame Erzählweise Maxie Wanders. Nur ein Protokoll schient in der Sammlung zu fehlen, schrieb Christa Wolf in ihrem Vorwort zu "Guten Morgen, du Schöne": Die Selbstauskunft der Autorin. Die wurde nach Maxie Wanders frühem Krebstod dann sozusagen nachgeliefert, in einer Briefsammlung, die ihr Mann herausgab, unter dem bitter-ironischen Titel "Leben wäre eine prima Alternative".
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Oase oder Fata Morgana? Diese Frage kann über Leben und Tod entscheiden! Für Wüsten-Bewohner oder Abenteurer sind Oasen lebensnotwendige Zielpunkte in einem endlos scheinenden Nichts aus Geröll und Sand. (BR 2017)
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Die "Belle Époque" Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gilt als harmonische Zeit ohne Probleme und Kriege, in der die Menschen voller Optimismus in die Zukunft blicken. Einige Künstler sahen jedoch auch die dunklen Seiten dieser Epoche, die geprägt war von sozialem Elend, Armut und einer nervösen Überreiztheit angesichts der zunehmenden Hektik des Lebens.
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Die Challenger-Expedition von 1872 sollte die Tiefen der Weltmeere erkunden. Dreieinhalb Jahre dauerte die Reise des Schiffs. Die Ausbeute war enorm. (BR 2018)
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Freiheitsutopien kennen weder starre Regelungen noch einengende Gesetze. Wenige Grundsätze regeln das Zusammenleben, im Mittelpunkt steht die Freiheit des Einzelnen, nicht das Wohl der Gemeinschaft. (BR 2015)
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AUCH INTERESSANT:
radioWissen zum Thema "Existenzialismus"
Philosophie und Lebenshaltung: der Existenzialismus. Sie besagt, dass der Mensch quasi seine Leben gestalten muss, er ist zur radikalen Freiheit 'verurteilt' – ein reines Abgeben von Verantwortung und Mitmischung an Lebensentwürfen und auch Politik ist nach dieser Philosophie nicht sinnvoll...
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radioWissen zum Thema "Google, Heidegger und Kant - Neue Freiheit Internet?"
Die modernen Medien machens möglich: Wir können uns frei informieren, haben Zugang in andere Welten, können scheinbar grenzenlos 'mitreden'. Doch wie viel mehr Freiheiten bieten uns Google und Co wirklich? Und wo bedrohen sie sogar unsere Freiheit?
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radioWissen zum Thema "Freiheit des Willens?"
Unser Wille ist nun wirklich 'frei', die Gedanken sind 'frei' …. müsste man meinen! Doch wie 'frei' ist unser Denken wirklich? Ist es also eine Illusion dass die Gedanken frei sind? Und wenn ja warum?
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Hygiene - dieses Wort gibt es im Deutschen erst seit Max von Pettenkofer, seit dem späten 19. Jh. Aber ein Konzept von Hygiene gab es schon viel früher. Bereits die alten Griechen hatten eine Vorstellung von der "Gesunderhaltung des Menschen". Und damals wie auch heute bedeutete Hygiene nicht nur Sauberkeit und Reinlichkeit. Hygiene war ein Gesamtkonzept.
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Er gilt als "Retter der Mütter": Ignaz Semmelweis entdeckte Mitte des 19. Jahrhunderts die Ursache des weitverbreiteten und gefürchteten Kindbettfiebers. Seine Erfolge brachten ihm aber keinen Ruhm, sondern stürzten ihn ins Verderben.
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Widukind, der Sachsenherzog, wurde berühmt als ärgster Feind von Karl dem Großen. Und er wurde zum Mythos - als heidnischer Feldherr, frommer Christ und "Rasseheld" der Nationalsozialisten. (2018)
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Tarzan und Jane hangelten sich mit ihrer Hilfe von einem Urwaldwipfel zum nächsten - mit Lianen. Diese Pflanzen wurzeln erstaunlicherweise fest in der Erde. Ihr wichtigstes Ziel - vom Boden ganz nach oben zum Licht zu gelangen. (BR 2013)
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Der Blick zurück kann helfen, sich mit sich selbst zu versöhnen. Denn durch das Ordnen und Sortieren des eigenen, oft nicht geraden Lebenslaufes entwickelt sich dessen Sinnhaftigkeit. (BR 2016)
Lernmaterialien zum Thema unter www.radiowissen.de
Die Kartoffel ist eines der wichtigsten Nahrungsmittel, sie wird seit langem kultiviert. Heute sind in Deutschland rund 200 Sorten zugelassen, sie enthalten viele Vitamine und essentielle Aminosäuren. (BR 2014)
Lust bekommen auf Kartoffeln? Ein paar leckere Gerichte gibt es HIER auf BR.de
Noch mehr köstliche Kartoffel-Gerichte gibt es außerdem in diesem Beitrag aus der Dokumentationsreihe "Unter unserem Himmel":
ZUR BR MEDIATHEK
Schriftsteller verbreiten ihre eigenen Wahrheiten. Luise Rinser schmückte jedoch die Geschichte ihres Lebens mit so vielen Lügen aus, dass ihr Biograf nach akribischer Recherche fassungslos dastand. Da war sie schon tot
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Ludwig III. galt als Förderer von Technik und Landwirtschaft und schien als König eine Idealbesetzung zu sein. Doch im Verlauf des Ersten Weltkriegs verlor er mehr und mehr das Vertrauen des Volkes. (BR 2019)
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Seit weit über 200 Jahren gibt es das Abitur. Was haben die ersten Abiturienten gelernt und was ist heute davon geblieben? Hatte Karl Marx im Abitur Stress und ab wann durften eigentlich die ersten Mädchen mitpauken? Die Geschichte des Abiturs steckt voller Überraschungen und spiegelt den herrschenden Zeitgeist.
Alle Publikationen unseres Interviewpartners Rainer Bölling finden Sie auf folgender Website:
http://www.rboelling.de/publikationen.htm
Weitere Interessante Links zum Thema:
https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/campus/abi-in-zeiten-von-corona-verteilseite-100.html
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/buchkritik/audio-christopher-clark-gefangene-der-zeit-100.html
https://www.wbg-wissenverbindet.de/shop/34727/gefangene-der-zeit
https://www.gymnasiale-oberstufe.bayern.de/
Bloß keinen Fehler machen - sonst ist der Job weg. Wer so denkt, geht im Berufsleben auf Nummer sicher. Doch Irrtümer können eine wichtige Innovationsquelle sein. Man muss nur wissen, damit umzugehen. (BR 2019)
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"Business-Knigge", "Sex-Knigge" ... - so viel "Knigge" wie heute war nie. Doch Knigge wollte alles andere sein, als ein stocksteifer Manieren-Papst: Kleinkarierte Etikette und oberflächliche Fassadenpflege waren ihm zuwider. Er suchte Antworten auf die Frage, wie der Mensch glücklich und sinnerfüllt leben kann. (BR 2012)
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Unternehmen Barbarossa war der Deckname für den Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. In Leningrad verhungerten oder erfroren nach sowjetischen Angaben 670.000 Bewohner. (BR 2011)
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Sie schockierte schon durch ihr Outfit und ihren freizügigen Lebenswandel. Wichtig aber war: Sie engagierte sich für die Rechte der Frauen, für den Pazifismus und eine radikaldemokratische Politik. (BR 2018)
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Instagram-Kanal "FrauenGeschichte"
Über Frauen, die Geschichte schrieben:
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Wenn im eigenen Zuhause Angst und Gewalt herrschen, bieten Frauenhäuser eine sichere Zuflucht. Die ersten Frauenhäuser wurden in Deutschland 1976 gegründet. (BR 2018)
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Die Pilotin Elly Beinhorn ist in den Zwanziger- und Dreißigerjahren das Ideal der mo-dernen Frau: technikbegeistert, freiheitsliebend und furchtlos. Ihr gelingt der Allein-flug rund um die Welt.
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Den ersten Motorflug schafften die Brüder Wright, heißt es. Ein Irrtum? Die Fans von Gustav Weißkopf sind der Überzeugung: Diese Pionierleistung gelang niemand anderem als eben diesem Franken aus Leutershausen. In jungen Jahren emigrierte er in die USA - und soll dort den Wrights um zwei Jahre zuvorgekommen sein.
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Die Natur befindet sich in einem stetigen Wandel. Durch den Klimawandel wird sie sich aber noch mehr verändern, es wird immer heißer und trockener. Arten aus südlichen Ländern siedeln sich jetzt auch hier an. Andere fremde Arten werden von Menschen eingeschleppt. Und was wird aus den heimischen Spezies?
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In den USA kennt sie fast jedes Kind. In Europa ist die 1822 geborene Sklavin und schwarze Freiheitskämpferin nur wenigen bekannt: Harriet Tubman. Um ihr Leben ranken sich Heldengeschichten und Mythen.
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Bis auf wenige wie Maria Magdalena sind sie heute fast alle vergessen, oder besser 'verdrängt‘, die Frauen um Jesus. Wie die Samariterin, die am Brunnen mit Jesus sprach, die Apostelin Junia. Und natürlich Mirjam, wie die Mutter Jesu auf jüdisch hieß. Doch es gab mehr von ihnen, wie dieser Beitrag zeigt.
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Vor 60 Jahren erschütterte eine Serie von Sprengstoffanschlägen Südtirol. Im Kampf um mehr Selbstbestimmung schreckten damals "Freiheitskämpfer"- so nannten sie sich selbst - auch vor Gewalt nicht zurück. Es gab Tote. Bis heute weitgehend unbekannt. Die Attentäter hatten Hilfe aus Bayern.
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Hinter dem Hörfunkbeitrag stehen die Recherchen zur Fernseh-Doku
BAYERN UND DER "FREIHEITSKAMPF" IN SÜDTIROL
Der Tiroler Volksaufstand von 1809 gegen das junge Königreich Bayern und Napoleon ist im kollektiven Gedächtnis zu einem leuchtenden Freiheitsmythos geworden. Weit bekannt ist er vor allem durch seinen Tiroler Helden Andreas Hofer. Um was ging es damals, und wie wurden die Ereignisse danach gedeutet? (BR 2009)
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Pilze sind mehr als die Schwammerl im Wald: Als Schimmel machen sie Lebensmittel ungenießbar - oder erst zur Delikatesse. Pilze sind Lebensretter und Erntezerstörer, nachwachsender Rohstoff, Heilmittel und Material der Zukunft. Pilze sind ein eigenes Reich der Natur, allgegenwärtiger Organismus und schier unerforscht. (BR 2021) Autorin: Inga Pflug
Credits
Autor/in dieser Folge: Inga Pflug
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Franziska Ball, Florian Schwarz, Beate Himmelstoß
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Matthias Eggert, Daniela Remus
Interviewpartner/innen:
Vera Meyer, Professorin für Angewandte und Molekulare Mikrobiologie an der Technischen Universität Berlin;
Thassilo Franke, Biologe und Pilzexperte am BIOTOPIA-Naturkundemuseum Bayern, München;
Tanja Seiner, Kuratorin "Fungi for Future" des BIOTOPIA-Naturkundemuseum Bayern, München;
Dirk Hebel, Architekt, Professor für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie
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Eine Melodie, die zu Tränen rührt, oder ein Song, der die schlechte Laune innerhalb einiger weniger Takte in gute Stimmung umwandelt - um zu erklären, warum Musik diese überwältigende Wirkung hat, blicken Forscher nicht nur ins Gehirn, sondern suchen auch Antworten in der Evolutionsgeschichte des Menschen.
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Grüne, also klimaneutrale Kraftstoffe, sollen Mitte des Jahrhunderts für Lkw, Schiffe und Flugzeuge einen CO2-freien Verkehr ermöglichen. Aber bis dahin sind noch viele Hürden zu überwinden. Denn bisher funktioniert die Herstellung des "grünen Kraftstoffes" nur im kleinen Maßstab im Labor.
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Mehr zum Thema Erneuerbare Energien gibt es außerdem hier:
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Auswertung der bisherigen Studien und Interessenkonflikte zum Thema:
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Methanol und andere "grüne" Kraftstoffe - Wie die Dekarbonisierung gelingen kann:
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Vor gut 2200 Jahren herrschte Ashoka über das größte Reich der indischen Antike. Eine Schlacht veränderte den Herrscher. Er wandte sich dem Buddhismus zu, der sich durch ihn weit über Indien hinaus verbreitete.
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Alexander der Große, der unbesiegte Feldherr, galt viele Jahrhunderte lang geradezu als Herrscher par excellence. In nur wenigen Jahren hatte er sich ein riesiges Reich erobert. (BR 2018)
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Ausländische Investoren können Gastgeberstaaten vor internationalen Schiedsgerichten verklagen. Bisweilen müssen dann arme Länder Milliarden zahlen. Die oft geheim tagenden Tribunale hebelten nationales Recht aus, sagen Kritiker. Investoren könnten den Umwelt-, Klima- und Pandemieschutz behindern.
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Friedrich August von Hayek gilt als Vordenker des Neoliberalismus. Seine Idee, dass Märkte am besten funktionieren, wenn Preise sich frei bilden, hatte großen Einfluss. Den Sozialismus bekämpfte er zeitlebens. (BR 2017)
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Zunächst bezeichnen Kritiker George Lucas' Film "Krieg der Sterne" als albernes Märchen. Dann wird das Epos ein Kassenschlager. Das Drehbuch orientiert sich an einem Klassiker - der sogenannten "Heldenreise". (BR 2013)
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Als Samuel Oppenheimer 1703 stirbt, löst das ein Erdbeben in der Finanzwelt aus. Oppenheimer hat die Politik des Habsburger Kaiserhauses mit Hilfe eines ausgeklügelten, europaweiten Netzwerks vorfinanziert. Er war ein Finanzgenie. Ohne ihn wäre der Kaiser dauerpleite gewesen. (BR 2010)
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Jüdisches Leben in Deutschland: Auf dem Gebiet, das einmal Deutschland werden sollte, gibt es seit mindestens 1700 Jahren jüdisches Leben. Das weiß man so genau durch ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin: Am 11. Dezember 321 erging die Erlaubnis für Juden, Ämter in der Kölner Stadtverwaltung einzunehmen. Köln war damals freilich noch keine deutsche Stadt, sondern eine typische Stadt im alten Römischen Reich. Dieser Beleg ist der Anlass, im heutigen Deutschland ein bundesweites deutsch-jüdisches Festjahr zu begehen. Der Bayerische Rundfunk begleitet das Thema das ganze Jahr über in Hörfunk, Fernsehen und online. Die Beiträge werden laufend erweitert gesammelt unter:
„Schalom – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“
Die Anfänge jüdischen Lebens in Deutschland reichen mehr als 1700 Jahre zurück. Eine urbane Blütezeit setzte im 10. Jahrhundert vor allem in den Bischofsstädten am Rhein ein. Dann: Mit dem Aufruf zum Ersten Kreuzzug 1096 erschüttert ein Pogrom die jüdischen Gemeinden.
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Was bringt Menschen dazu, Böses zu tun? Aus Sicht von Hannah Arendt braucht es dazu nicht mehr als kollektive Gedankenlosigkeit, jedenfalls in einem Staat, der das Böse zum Ziel erhoben hat. Nicht anders bedeutet die Banalität des Bösen. (BR 2018)
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Beten, kämpfen, arbeiten. So stellte man sich im Mittelalter die Aufgabenverteilung der Stände im "Haus Gottes", also in der Gesellschaft vor. Eine heute fremd wirkende Ordnung, die dennoch bis heute nachwirkt. (BR 2014)
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Burgruinen regen die Phantasie an. Doch war der Bergfried wirklich die letzte Zuflucht? Wurden die Zinnen zum Schutz der Verteidiger erfunden? Die Burgenforschung hat manche alte Vorstellung korrigiert. (BR 2017)
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Ob Logik, Metaphysik, Ethik, Biologie, politische Theorie, Psychologie oder Ökonomie: Aristoteles hat sich damit beschäftigt und gilt bis heute als einer der einflussreichsten Denker. (BR 2016)
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Keiner hätte gedacht, dass so einer mal Kaiser werden könnte: Napoleon Bonaparte, Sohn eines kleinen Adeligen auf der Insel Korsika. Doch Napoleon beißt sich durch - und wird der mächtigste Mann Europas. (BR 2012)
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F. Scott Fitzgerald: Kein anderer US-amerikanischer Autor hat das Leben der Roaring Twenties so detailliert und schillernd dargestellt wie er. Besonders bekannt und spektakulär verfilmt - Der große Gatsby. (BR 2016)
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"Ich bin eine erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte", hat Vicki Baum, geboren 1888, von sich gesagt. Ihr Erfolgsroman "Menschen im Hotel" wurde mit Greta Garbo verfilmt und prägte ein ganzes Genre. (BR 2014)
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Der Jesuit Athanasius Kircher versucht im 17. Jahrhundert die Hieroglyphen zu entziffern und baut Komponiermaschinen. Doch während ihn die einen als Universalgenie feiern, halten ihn andere für einen Scharlatan. (BR 2019)
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Schwämme gehören zu den urtümlichsten Tieren auf unserer Erde. Sie haben keine Nervenzellen, keine Muskeln, keine Sinnesorgane. Dennoch sind sie ein evolutionäres Erfolgsmodell, das bis heute überdauert hat. (BR 2017)
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Die bekannte Autorin und Regisseurin Doris Dörrie liebt das Erzählen und das Reisen. Bekannt wurde bekannt sie durch die Komödie "Männer". Viel Lob bekam auch ihr Film "Kirschblüten-Hanumami". Japan ist die zweite Heimat der in München lebenden Dörrie, die hier auch kreatives Schreiben unterrichtet.
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Doris Dörrie über ihr Ding mit 16
Die deutsche Filmregisseurin im Zündfunk-Interview:
ZUM INTERVIEW AUF BR.DE
Sie gehört zum Japan-Klischee wie der Samurai oder die Geisha: Sakura no hana - die Kirschblüte! Jedes Jahr im Frühjahr gehen Bilder durch die Weltpresse, auf denen Massen von Japanern zu sehen sind, die unter duftigen Kirschbäumen den Frühling begrüßen. Doch die Kirschblüte ist in Japan mehr als ein Picknick-Anlass oder ein kitschiges Dekor auf Hello-Kitty-Accessoires. Seit 1.000 Jahren steht sie auch in Verbindung zum Buddhismus, als das Symbol der Vergänglichkeit alles Irdischen.
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Spechte hämmern mit ihren harten Schnäbeln ihre Nisthöhlen in Baumstämme und klopfen die Rinde der Bäume nach Insekten und Würmern ab. Sie sind die Höhlenbauer unter den Vögeln und extrem wichtig für das Ökosystem Wald. (BR 2018)
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Erleuchtung begegnet uns überall. In Sinnsprüchen von Tageskalendern, in Lebensratgebern und bei spirituelle Lehrern auf youtube. Was hat es damit auf sich? Was meint Erleuchtung und woher kommt der Begriff eigentlich?
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Er war Scharlatan und Seelenfänger für die einen, für die anderen ein Heilsbringer: Bhagwan, später Osho genannt, erfüllte die Sehnsüchte Tausender Westler und wurde zugleich zur unerwünschten Person. (BR 2018)
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Während der NS-Zeit widersetzten sich zahlreiche Jugendliche dem Drill und der Kontrolle durch das Regime. Das Aufbegehren reichte vom politischen Widerstand bis zum Ungehorsam "wilder Jugendgruppen", die sich Freiräume jenseits der Werte des Nationalsozialismus erkämpften.
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
DIE BEFREIUNG - ein virtueller Rundgang über die KZ-Gedenkstätte Dachau. Hier erzählen wir, wie das KZ Dachau am 29. April 1945 durch die Amerikaner befreit wurde:
ZUR WEBSITE
Weiter eintauchen im Podcast: Die Geschichten einzelner Häftlinge und Befreier aus dem Rundgang werden hier vertieft und um Schicksale aus dem KZ Flossenbürg ergänzt:
ZUM PODCAST
DIE BEFREIUNG ist ein Gemeinschaftsprojekt des Bayerischen Rundfunks mit der KZ-Gedenkstätte Dachau und der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft.
Außerdem interessant: KL Dachau – die zweiteilige historische TV-Dokumentation über das KZ Dachau, die aus unterschiedlichen Perspektiven die Lagerzeit von März 1933 bis Ende April 1945 nacherzählt:
BR MEDIATHEK I KL Dachau - Das System (1/2)
BR MEDIATHEK I KL Dachau - Im Lager (2/2)
radioWissen: Der Strafrichter Roland Freisler
Er hat Sophie und Hans Scholl zum Tode verurteilt - und tausende weitere Menschen: Roland Freisler, deutscher Jurist und von 1943 bis 1945 Präsident des deutschen Volksgerichtshofes:
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radioWissen: Das Ende des Zweiten Weltkriegs
Die alliierten Panzer waren schon an den Ortsschildern deutscher Dörfer angekommen, doch die letzten Regime-Anhänger leisteten immer noch erbitterten Widerstand. Am 8. Mai 1945 kam endlich die Kapitulation - die Befreiung, auch für die deutsche Bevölkerung:
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Alle großen Entdeckungsreisenden von Kolumbus über Humboldt und Cook hatten einheimische Begleiter. Ohne die Leistungen der indigenen Helfer wären die großen europäischen Forschungsexpeditionen nie gelungen. (BR 2018)
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Der Architekt Hans Döllgast ging ungewöhnliche Wege des Wiederaufbaus. Er machte Kriegswunden sichtbar. Die im Krieg zerstörte Alte Pinakothek in München gilt als Beispiel der schöpferischen Wiederherstellung - sie gehört zu seinen Meisterwerken.
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Menschenversuche im "Kalten Krieg": Zigtausende wurden im Namen der Feindesabwehr zu Versuchskaninchen, im Osten wie im Westen.
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Gülle enthält wertvolle Nährstoffe - aber wo zu viel gedüngt wird, landet zu viel Nitrat im Grundwasser. Transporte in andere Gegenden sind mögliche Alternativen, oder die umweltfreundliche Aufbereitung. Ideen gibt es viele.
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Gülle ausbringen: Bei der "klassischen" Technik fliegt die stinkene Brühe durch die Luft, ein Teil des Stickstoffs geht verloren. Moderne Techniken zur bodennahen Ausbringung vermeiden Gestank und Nährstoffverlust.
ZUM ARTIKEL AUF BR.DE
Wo sind Rote und Gelbe Gebiete - Regionen mit Nitrat- oder Phosphat-Überschuss - in Bayern? Auf den Seiten der Landesanstalt für Landwirtschaft findet man die aktuellen Karten:
https://www.lfl.bayern.de/rote-gebiete/
Einen spannenden Artikel zum Thema gibt es auf BR Wissen:
BR Wissen I Gülle in Fülle: Lösungen für den umstrittenen Dünger
Die 'Leidenswerkzeuge', die Jesus Tod begleiteten, wurden kirchengeschichtlich seit dem späten Mittelalter verehrt: Kreuz, Dornenkrone, Lanze, Kreuzesnägel wurden zu 'Arma', zu Waffen gegen Sünde und Tod.
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Wenn das aufbereitete Grundwasser zuhause aus dem Hahn läuft, dann ist kaum zu glauben, dass dieses Wasser manchmal uralt ist - hunderte, tausende Jahre alt, sagen Grundwasserökologen. Nachdem es als Regenwasser viele Gesteinsschichten passiert und dadurch gereinigt wird, landet es tief unter der Erde wo Organismen von und mit dem Grundwasser leben. In Hannover finden erste Versuche statt, mehr über die Grundwasser-Fauna herauszufinden. Mit der Angel werden Proben entnommen und ein unbekannter und schützenswerter Lebensraum entdeckt. (BR 2019) Autor: Marko Pauli
Credits
Autor/in dieser Folge: Marko Pauli
Aufnahmeleitung und Technik: Marko Pauli
Es sprach: Marko Pauli
Redaktion: Matthias Eggert
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Anfang des 20. Jahrhunderts war sie eine der reichsten Frauen Wiens. Klug, kunstbeflissen und voll karitativen Engagements lebte die Schwester des Philosophen Ludwig Wittgenstein ein außergewöhnliches Leben.
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Den 50 klügsten Köpfen aus Bayern und der Kurpfalz wollte Max II. Joseph ein Studium mit freier Kost und Logis ermöglichen. Er brauchte Nachwuchs für seinen Beamtenapparat. Die Stipendiaten brauchten dafür ein Einser-Abitur.
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Einblicke hinter die Kulissen: Vom Leben mit Elitestipendium im Maximilianeum berichtet das Campus-Magazin auf ARD alpha.
https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/campus/maximilianeum-studienfoerderung-elite-stipendium-100.html
Im "langen" 19. Jahrhundert wandeln sich die Universitäten in Bayern: Die altehrwürdigen Bildungsschmieden werden gehörig durchgelüftet - auf dem Weg zu Massenuniversitäten. Ein nicht immer geradliniger Weg.
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Wirklich süß sieht die Zuckerrübe ja nicht aus. Die dicke, unförmige Knolle kommt eher grobschlächtig daher. Doch der äußere Eindruck trübt. Die Zuckerrübe ist eine Kulturpflanze mit vielen Superlativen.
Das Manuskript zur Sendung:
https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4514.html
Menschen sind prosoziale Wesen. Eigentlich. Gleichzeitig sind Menschen aber auch Konkurrenten. Woran liegt es, dass Menschen sich vergleichen, sich beneiden, um Siege wetteifern oder um das vermeintlich Bessere streiten? (BR 2018)
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Seit ihren Anfängen sind die Heilungserfolge der Psychoanalyse umstritten: Die übergroße Bedeutung des Sexuellen für die individuelle Entwicklungsgeschichte, wie Sigmund Freud sie noch postulierte, ist längst relativiert worden. Andererseits scheint die moderne Hirnforschung viel von dem zu bestätigen, was Freud Anfang des 20. Jahrhunderts zwar vermutete, aber noch nicht nachweisen konnte. Die Psychoanalyse - Wissenschaft oder wissenschaftliches Märchen? In jedem Fall: eine umstrittenen Disziplin.
Das Manuskript zur Sendung:
https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4504.html
Kraxenträger kamen dahin, wo die Säumer mit ihren Pferden und Wagen nicht hinkamen. Zu Fuß trugen sie Waren über die Alpen, ein inneralpiner Handel, der heute schon fast vergessen ist.
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Literatur-Tipp:
Der Historiker Robert Büchner ist Gesprächspartner im Feature. In diesem Buch hat er seine aufwendigen Recherchen mit vielen spannenden und unterhaltsamen Details zusammengefasst:
Robert Büchner, Tiroler Wanderhändler - Die Welt der Marktfahrer, Straßenhändler und Hausierer. Tyroliaverlag.
Venedigs Anfänge sind heute schwer zu rekonstruieren. Wann entstanden wohl die ersten Holzhütten in den Sümpfen der Lagune? Und vor allem - warum? Nicht einmal der Boden unter den Füßen war hier sicher. Und wie konnte aus einer solchen Gründung eine europäische Großmacht werden?
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Literatur-Tipp:
Arne Karsten ist Gesprächspartner im Feature. Als Historiker und Experte für italienische und vor allem venezianische Geschichte hat er knappe, unterhaltsame und gut verständliche Gesamtdarstellungen zur Geschichte Venedigs geschrieben.
Arne Karsten, Kleine Geschichte Venedigs, München 2008, Beck-Verlag
Arne Karsten, Geschichte Venedigs, München 2012, Beck-Verlag
Doku-Tipp
Venedig heute auf einem Paddelbrett erleben? Das geht! Eine Stadtführung besonderer Art… (BR Fernsehen / freizeit / 10.03.2019)
https://www.br.de/mediathek/video/freizeit-10032019-auf-dem-sup-durch-venedig-av:5d2242373edabb001a1d12af
Die meisten Schnarcher wissen gar nicht, welch Rasseln und Knattern sie verursachen. Häufig stört der Lärm vor allem den Bettnachbarn. Doch Schnarchen kann auch zu Atemaussetzern führen, zur so genannten Schlafapnoe. Wegen des Sauerstoffmangels können die Folgen für die Gesundheit fatal sein.
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Der Schlaf - Unentbehrlich für Körper und Geist
Veronika Bräse beschäftigt sich in diesem radioWissen-Beitrag mit dem Thema "Schlaf" und damit wie essentiell er für uns alle ist. Wussten Sie dass etwa 10 bis 15 Prozent aller Menschen unter Schlafstörungen leiden?
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Der Atem ist der Hauch des Lebens - an der spannenden Grenze zwischen dem automatischen Funktionieren des Körpers und bewusstem Handeln, Natur und Kultur. Deswegen wird er manchmal auch mit der Seele in Verbindung gebracht. (BR 2018)
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Ziegen sind neben Hunden die ersten Haustiere des Menschen. Ihre Domestizierung begann vor etwa 12.000 Jahren vermutlich im Südwesten Asiens. Sie sind ideale Haustiere für trockenere Gebiete: Die Wiederkäuer benötigen wenig Wasser, fressen harte und trockene Pflanzen und sind damit für den Menschen kein Nahrungskonkurrent und haben in der Kulturgeschichte der Menschheit tiefe Spuren hinterlassen. (BR 2012)
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AUCH INTERESSANT:
Besuch auf einem Ziegenhof
Ziegenprodukte sind In: Ziegenmilch, Ziegenkäse …. was früher noch die Kuh des armen Mannes war, ist heute Hoffnungsträger für alternative Landwirtschaftsformen. Ein Besuch auf einem Ziegenhof in Thüringen:
ZUR RADIOREPORTAGE
Ziegen als Landschaftsschützer
Ein Projekt zum Landschaftsschutz: Hier beweiden Ziegen die Isarauen – und sind so Teil eines natürlichen Landschaftsschutzprojektes – wie das geht zeigt dieser Kurzfilm:
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Ziege als Haustier gefällig?
Anna und die Haustiere – ein kurzer Film über Ziegen als mögliche Haustiere:
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Filz ist ein ganz besonderer Stoff. Seit Ur-Zeiten braucht er kein Spindeln, keine Stricknadeln. Und er hat viel zu bieten! Innenarchitekten schwören auf die verblüffenden Eigenschaften dieses alten Werkstoffs aus Tierhaaren.
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AUCH INTERESSANT:
radioWissen zum Thema "Filz"
Die Schäferei hat eine sehr wechselhafte und lange Geschichte. Noch immer liefern Schafe die meiste Wolle zur Filzherstellung. Lange Zeit war ihr Wolle nahezu wertlos, doch die Wiederbesinnung auf die Filzherstellung bietet vielleicht auch Schäfern hierzulande eine Perspektive…
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Der leidenschaftliche Paartanz Tango entwickelte sich in Argentinien ursprünglich, um mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu kommen. Gespielt wurde er auf dem Bandoneon. Als größter Sänger gilt Carlos Gardel. (BR 2014)
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Der Mensch ist ein Tänzer - Vom Glück der Bewegung
Vom Tango Argentino über Hula bis zum Schuhplattler: Tanz schafft Identität und Verbindung. Eine spannende radioWissen-Folge von Birigt Magiera...
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"Die gute alte Zeit vor Anno 1914": So hat das kollektive Bayern die sogenannte Prinzregentenzeit im Gedächtnis abgespeichert - bis heute: als Epoche des Friedens, des Wohlstands und des Fortschritts. (BR 2013)
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Am 30. Juni 1920 vergiftet sich Lena Christ auf dem Münchner Waldfriedhof. Die Verzweiflungstat beendet ein hartes und bitteres Leben. Sie beschreibt es in ihrem Werk "Erinnerungen einer Überflüssigen". Für den zeitgenössischen Kritiker Josef Hofmiller ist dieser Roman das erste Meisterwerk der Lena Christ. Zwei weitere kommen hinzu: "Mathias Bichler" und "Die Rumplhanni". "Wenn man in hundert Jahren wissen will, wie es damals in Oberbayern gewesen ist", schreibt Hofmiller, "werden diese drei Bücher neben denen von Ludwig Thoma den Wert kulturgeschichtlicher Quellenwerke haben."
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Der Fischotter: neugierig, verspielt, schnell und elegant. Seit den 1980er Jahren galt er bei uns lange als ausgestorben. Aber: Er ist wieder da. Natürliche Feinde hat er kaum - wenn da nur nicht der Mensch wäre... (BR 2018)
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Ein informatives Porträt der Abendschau vom 26.02.2021, das sich dem Fischotter widmet. Grund dafür ist eine ganz besondere Auszeichnung: Die Deutsche Wildtierstiftung ernennt den Fischotter zum Tier des Jahres 2021!
https://www.br.de/mediathek/video/tier-des-jahres-2021-der-fischotter-av:6038d4b28997e2001334eeef
Dein Feind, der Otter?
Und gleich noch einmal der Otter: Eine spannende Radiodoku über unseren heimischen Otter, der sich langsam wieder aus der Verbannung zurückmeldet. Doch was Umweltschützer freut, ist Anglern und Teichwirten ein Dorn im Auge, denn das possierliche Raubtier ist ein äußerst geschickter und emsiger Fischjäger.
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiodoku/wir-und-die-wildnis-1-3-dein-feind-der-otter/1292857
Seit Jahrtausenden sind Menschen vom Symbol des Labyrinths fasziniert. Der Weg führt - über viele Kehrtwendungen hinweg - letztlich in die Mitte. Ein Symbol auch für den menschlichen Lebensweg? (BR 2016)
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4434.html
Lernmaterialien zum Thema unter www.radiowissen.de
Ein Teststreifen, etwas Urin, ein bisschen Warten - und schon weiß Frau, ob sie schwanger ist oder nicht. So unkompliziert war es für Frauen lange nicht. Die Geschichte der Schwangerschaftstests ist auch eine der Emanzipation.
Das Manuskript zur Sendung:
https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4508.html
Mehr zum Thema von BR Wissen:
https://www.br.de/wissen/sex-kondome-geschichte-verhuetung-fischblasen-100.html
Metaphern begleiten uns täglich. Sie ermöglichen uns, abstrakte Sachverhalte bildhaft anschaulich zu machen. Mit diesem Wort-Werkzeug beeinflussen wir unser Gegenüber oft unbewusst. Ein Blick in die Gebrauchsanleitung lohnt sich. (BR 2018)
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4424.html
Als Aktivistin gegen Krieg und Ausbeutung, als blitzgescheite Frau und Akademikerin, als Jüdin und polnische Exilantin war Rosa Luxemburg in vielerlei Hinsicht eine Außenseiterin. (BR 2013)
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowisen-100.html
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Mit ihrem Auftritt in "Der blaue Engel" begann Marlene Dietrichs Aufstieg zum Weltstar. Zu ihrem Mythos trug bei, dass sich die deutsche Schauspielerin nie von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließ.
Autor/in dieser Folge: Carola Zinner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Andreas Neumann
Technik: Peter Preuß
Redaktion: Andrea Bräu
Kaum ein Tier lässt sich in unseren Städten so leicht beobachten wie der Haussperling. Aber wo und wie genau lebt er? Und was genau ist der Unterschied zwischen dem Haussperling und dem Feldsperling? (BR 2015)
Weltspatzentag
Schon gewusst? Am 20. März ist Weltspatzentag. Der Spatz, oder auch Haussperling, war außerdem einer der Kandidaten der Wahl zum Vogel des Jahres 2021. Wie die Wahl ausgefallen ist erfahren Sie auf dieser Internetseite des LBV/NABU:
https://www.vogeldesjahres.de/
Im Umgang mit anderen Menschen und den eigenen Kräften gilt es, Grenzen zu setzen bzw. zu respektieren. So bleibt die Eigenständigkeit des Individuums gewahrt. Es braucht den gesicherten Raum, um sich entfalten zu können.
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4410.html
Für die einen ist Quentin Tarantinos Kult. Die anderen stößt vor allem die Gewalt in seinen Filmen ab. Sicher ist: Er ist zu einem Markennamen geworden. Quentin Tarantino: Von Genie, Größe und Wahnsinn.
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4408.html
Die Varusschlacht des Jahres 9 n. Chr. gilt als die entscheidende Niederlage der Römer in Germanien. Grabungen aus jüngster Zeit dürften unser Bild von der tragischen Schlacht allerdings verändern.
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4414.html
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Auf einer Orientreise verfasste Lady Mary Wortley Montagu Anfang des 18. Jahrhunderts Reisebriefe, in denen der Fokus auf dem Leben von Frauen lag. Damit betrat sie Neuland - wie mit ihrem Eintreten für die Pockenschutzimpfung.
Patricia Plummer ist wissenschaftliche Beraterin und Gesprächspartnerin im Feature. Sie ist Professorin für Englische Literatur und Postcolonial Studies an der Universität Duisburg-Essen. Hier beschreibt sie, wie Lady Mary Wortley Montagu in ihrem literarischen Werk kulturelle und geschlechtsspezifische Grenzen überschreitet:
https://www.uni-due.de/unikate/pdf/UNIKATE_2012_041_09_Plummer.pdf
Die Hagia Sophia hat eine bewegte Geschichte: Die Hauptkirche des Byzantinischen Reiches wurde von den Osmanen in eine Moschee, dann in ein Museum und dann wieder in eine Moschee umgewandelt.
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Eine B5-Reportage über die Re-Islamisierung der Hagia Sophia zwischen Begeisterung und Empörung:
https://www.br.de/mediathek/podcast/b5-reportage/die-re-islamisierung-der-hagia-sophia-ein-weltkulturerbe-als-politischer-spielball-1/1817593
Gut bebilderter Bericht der Deutschen Welle vom Juli 2020, nachdem die Hagia Sophia wieder zur Moschee umgewandelt wurde:
https://www.dw.com/de/die-hagia-sophia-ist-wieder-eine-moschee/a-54256779
Starke Muskeln sind gesund und sexy. Durch wohldosiertes Krafttraining mit Pausen lässt sich eine Fehlbelastung von Sehnen und Muskeln vermeiden. A und O eines jeden Muskels sind Proteine. (BR 2019)
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4406.html
Simone de Beauvoir stand lang im Schatten ihres Geliebten Jean-Paul Sartre. Doch schnell wurde die Philosophin, die stets gegen die Machtstrukturen der patriarchalen Gesellschaft kämpfte, zur Ikone der Frauenbewegung.
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4398.html
Wie Marie Antoinette starb auch Olympe de Gouges im Jahr 1793 auf dem Schafott, verurteilt von einem Männertribunal, dem ihre kompromisslosen Schriften unbequem waren. "Mein Herz vermache ich dem Vaterland, meine Ehrbarkeit den Männern (sie können sie gebrauchen) und meine Seele den Frauen", schreibt sie in ihrem Testament.
Das Manuskript zur Sendung:
https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4396.html
Blindheit, Erblinden: schon seit dem antiken Mythos Inbegriff der schlimmsten Strafe, und zugleich der Schlüssel zur Wahrnehmung dessen, was über das Sichtbare hinausgeht. (BR 2018)
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4392.html
Unfreiwillig verschlug es Johannes Schiltberger in die Fremde. Im Mittelalter geriet der Bayer als Kriegsgefangener des Sultans bis nach Indien. Seine Erlebnisse beschrieb er in einem packenden Reisetagebuch. (BR 2018)
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Schiefer glitzert, Schiefer glänzt, Schiefer besticht durch den typischen Glimmer-Effekt. Dabei entsteht Schiefer, der hierzulande vor allem für das Dachdecken verwendet wurde, eigentlich aus Schlamm
Das Manuskript zur Sendung:
https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4388.html
Wer sich stets herausredet, wer einer Konfrontation aus dem Wege geht, weicht der Verantwortung aus, schafft aber auch Spielräume für eine offene Kommunikation. (BR 2018)
Das Manuskript zur Sendung:
https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4380.html
"Erkenne Dich selbst!" - das müsste doch ganz einfach sein. Das eigene Ich zu ergründen, sollte eigentlich keine besondere Schwierigkeit darstellen, schließlich kennt niemand das eigene Wesen so gut wie man selbst. Und doch zeigt sich immer wieder: Selbsterkenntnis ist durchaus mühevoll... (BR 2011)
Das Manuskript zur Sendung:
https://www.br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4382.html
Mit den sogenannten "Trümmerfilmen" gelingt dem deutschen Film nach dem Zweiten Weltkrieg ein Neuanfang. Sie thematisieren die geistigen und moralischen Trümmer des Dritten Reiches und stecken voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4378.html
Vor der Entwicklung zuverlässiger Verhütung und Abtreibung war das Aussetzen von Kindern keine seltene Praxis. Erst im 18. Jahrhundert entstanden in Europa Heime für Findlinge. Autorin: Imogen Rhia Herrad (BR 2015)
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4370.html
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Obwohl Buddha selbst vor rund 2.500 Jahren den ersten Nonnenorden gegründet hat, gibt es heute in vielen buddhistischen Traditionen für Frauen keine Möglichkeit, ein Leben als vollordinierte Nonne zu führen. (BR 2013)
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4362.html
In einer streng orthodoxen jüdischen Gemeinde bekennt man sich zwar zur absoluten Gleichwertigkeit von Mann und Frau als Gottes Geschöpfe, besteht aber auf einer klaren Rollentrennung.
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4360.html
Billie Holiday: In ihrer Stimme spiegeln sich die Höhen und Tiefen ihres Lebens. "Lady Day" ist eine der wichtigsten Jazz-Sängerinnen des 20. Jahrhunderts. Berühmt wurde sie mit "Strange Fruit", einem der ersten politischen Protestsongs.
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4356.html
Nie war das Osmanische Reich größer als unter Sultan Suleiman dem Prächtigen im 16. Jahrhundert. Machtpolitik und Glanz des Reichs lösten Fantasien aus, die unser Verhältnis zum Orient bis heute prägen. (BR 2016)
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4352.html
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Die Kalifen waren die Nachfolger des Propheten Mohammed, religiöse Führer und Befehlshaber der Gläubigen. 1924 schaffte Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, das Kalifat ab. (BR 2016)
Das Manuskript zur Folge:
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Wahrheit oder Lüge? Das ist die Frage, wenn AussagepsychologInnen herangezogen werden, um die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage vor Gericht zu beurteilen. Aber das ist gar nicht so einfach. Denn Erinnerungen sind fehleranfällig.
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4400.html
Jeder gesunde Mensch hat Angst. Angst kann ein gesunder Antrieb sein, aber auch lähmende Blockade. Doch warum fürchten wir uns oft vor harmlosen Dingen und nicht vor gefährlichen? Und wie können wir besser mit Ängsten umgehen?
Das Manuskript zur Sendung:
https://br.de/radio/bayern2/service/manuskripte/radiowissen/manuskriptradiowissen-4340.html
Der britisch-amerikanische Journalist und Afrikaforscher Henry Morton Stanley wurde durch seine Suche nach David Livingstone bekannt. Ein ehrgeiziger Abenteurer und brutaler Wegbereiter der Kolonialisierung des heutigen Kongo.
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Regensburger Bürger zerstörten 1519 das jüdische Viertel und vertrieben die Menschen, die darin gewohnt hatten. Bis dahin hatte Regensburg eine reiche jüdische Kultur. (BR 2014)
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Seit Januar 1939 mussten jüdische Deutsche ihrem Vornamen den Namen Sara oder Israel hinzusetzen - ein Schritt zur Entrechtung. Namen jüdischer Bürger waren in ganz Europa schon seit dem Mittelalter ein Politikum.
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Maria Leopoldine (1776-1848), lebenslustige Witwe von Kurfürst Karl Theodor, war zu ihrer Zeit die wohl emanzipierteste Frau Bayerns: Eine geschätzte politische Beraterin und dank ihrer Geschäftstüchtigkeit reichste Frau des Landes.
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Afrika. Der schwarze Kontinent. Dunkel, gefährlich, primitiv. So hat das Europa lange dargestellt. Erst nach der Kolonialzeit hat sich eine andere Geschichtsschreibung herausgebildet - von Afrikanern über sich.
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Die Glasindustrie in Ostbayern hat eine jahrhundertelange Tradition. Es gab große Erfolge und schwierige Zeiten, gerade in den letzten Jahrzehnten. Aber Glas ist auch aus modernen Technologien nicht wegzudenken.
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Im Januar 1871 tritt Bayern dem neugründeten, von Preußen dominierten deutschen Nationalstaat bei. Das Königreich besteht zwar weiter und erhält eine Sonderstellung im Reich, doch die Unabhängigkeit ist unwiderruflich verloren.
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Angkor ist die größte Tempelanlage der Welt. Doch wieso ist diese mittelalterliche Megacity der Khmer verlassen worden? Schuld daran waren auch Klimaveränderungen.
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Am 2. Februar 1942 findet die junge Magd Cäcilie Bauer auf einem Hof bei Wasserburg am Inn die blutverschmierte Leiche des fast 60-jährigen Fuhrknechts Leonhard Eder. Rekonstruktion eines authentischen Kriminalfalls.
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Am 17. Februar 1600 landet Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen, einer der unbequemsten und zugleich genialsten Denker der Renaissance. Wie konnte es soweit kommen?
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Im 8. Jahrhundert war der Einfluss des Papstes und der fränkischen Landeskirche auf Bayern schwach. Um dies zu ändern, traten angelsächsische Missionare auf wie Willibald und seine Schwester Walburga. (BR 2016)
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In welchem Verhältnis stehen der Einzelne und die Gesellschaft? Wie funktioniert sozialer Wandel? Wie kann man soziale Ungleichheit erklären? Klassische Fragen der Soziologie, die sich als Wissenschaft Ende des 19.Jh. durchsetzt.
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Kaiser Friedrich II. - Antichrist oder Vordenker? Friedrichs Konflikt mit der Kirche war neben seinem freigeistigen Herrscherhof einer der Gründe, ihn zum ersten modernen Menschen auf dem Thron zu erklären.
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Im Spätmittelalter ist nicht München, sondern Nürnberg Weltstadt: Nürnberger Geist und Geschick lassen Handwerk, Handel und Kunst erblühen. Und als Reichstadt ist Nürnberg Machtzentrum des Mittelalters.
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Der Ameisenbär ist ein kurioses Tier: Nicht sehr schlau aber ungemein lebenspraktisch. Er kommt aus Südamerika, hat eine perfekte klebrige Zunge, um Ameisen und Termiten zu fangen und ist bislang kaum erforscht.
Podcasttipp:
"Tierisch! – Entdeckungsreise in die wilde Welt der Tiere" - Der erste lustig-leichte, zoologischen Plauderpodcast mit bodenlos wissenschaftlicher Tiefe. Moderiert von Lydia Möcklinghoff und Dr. Frauke Fischer, zwei wildnisverrückten Abenteurerinnen und studierten Zoologinnen. Hier geht es zum Podcast:
EXTERNER LINK | https://weltwach.de/tierisch/
Hunger, gewaltige Stürme, Meutereien und Tod. Auf der ersten Reise um die Erde fand Ferdinand Magellan eine Passage um Südamerika herum in den Pazifik hinein. Das Ende der Reise erlebte er nicht.
Wir empfehlen diesen spannenden Artikel von ARD alpha:
Ferdinand Magellan: Die Entdeckung der Magellanstraße | Historische Persönlichkeiten | Geschichte | Verstehen | ARD alphaVon wegen Ruhe in den Sitzreihen! Das antike Theater war Teil lebhafter, mehrere Tage andauernder Festspiele, der so genannten Dionysien. Das Publikum durfte sogar darüber abstimmen, wer der beste Dramatiker des Jahres war. Von Astrid Mayerle (BR 2019)
Credits
Autorin dieser Folge: Astrid Mayerle
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Christiane Roßbach
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Martin Hose, Altphilologe
Sebastian Huber, Dramaturg
Das Gold der Inka weckte die Gier der spanischen Konquistadoren. Der Inkakönig Atahualpa konnte sich zunächst nicht vorstellen, wozu die Eindringlinge in sein Reich fähig waren. (BR 2016)
Autor/in dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Jennifer Güzel, Shenja Lacher, Helmut Stange
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
Die Upanishaden gelten als die Geheimlehre der so genannten "Veden", der indischen Weisheitslehren. Doch was sind die Upanishaden wirklich, wie sind sie entstanden und welche Lehren enthalten sie?
Autor/in dieser Folge: Claudia-Simone Dorchain
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Schupp, Stefan Merki, Sven Hussock
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Bernhard Kastner
Sie sind in Russland geboren und haben deutsch erst lernen müssen - als Kinder in einer deutschen Schule oder auch als Erwachsene. Und doch haben sie in den letzten Jahren für ihre deutschen Texte Literaturpreise bekommen. Zum Beispiel Olga Martynova oder Katja Petrowskaja den renommierten Bachmann-Preis. Lena Gorelik aus St. Petersburg gelangen sogar breite Publikumserfolge mit Büchern wie "Meine weißen Nächte", in denen sie ihre frühen Erfahrungen in Deutschland beschreibt. Warum stoßen ihre Themen heute auf so viel Interesse? Hat ihre Sicht auf unser Leben in Deutschland noch etwas mit ihren russischen Wurzeln zu tun? Und was macht ihre literarische Qualität aus? (BR 2015)
Autor/in dieser Folge: Petra Hermann-Boeck
Regie: Petra Hermann-Boeck
Es sprachen: Detlef Kügow, Irina Wanka
Technik: Klemens Kamp
Redaktion: Thomas Morawetz
Als Kind wurde Jiang Qing von ihrem Vater verprügelt und von Schulkameraden gemobbt. Mit Anfang 50 sorgte sie als Maos letzte Ehefrau und Mitglied der berüchtigten "Viererbande" für Angst und Schrecken. (BR 2014)
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ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Die "Zwanglose Gesellschaft München" - die Gästeliste liest sich wie ein Bayerisches Who is Who des 19. Jahrhunderts. Die wichtigsten Gemeinsamkeiten: eine künstlerische Ader und - dem König blieb man treu. Autor: Martin Trauner (BR 2014)
Credits
Autor dieser Folge: Martin Trauner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Stefan Wilkeningn, Reinhard Glemnitz, Peter Weiß
Technik: Susanne Harasim
Redaktion: Thomas Morawetz
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Im Alltagsleben der Münchner Familie Feuchtwanger verbanden sich über mehrere Generationen auf faszinierende Weise barockes Bayerntum und strenge jüdische Orthodoxie: Ihre zahlreichen Mitglieder gingen gern in die Berge, besuchten regelmäßig das Hofbräuhaus und verbrachten den Sommer am Starnberger See. Autorin: Carola Zinner
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Axel Milberg liest in sieben Folgen aus Lion Feuchtwangers Roman „Exil“:
Der Roman ist ein Panorama des Exils der 1930er Jahre. Im Zentrum steht der Münchner Komponist Sepp Trautwein - in Paris gibt er die geliebte Musik auf und kämpft als Journalist gegen die Nazis. Heldenhaft - oder sinnlos?
ARD AUDIOTHEK | BAYERN 2 | LION FEUCHTWANGER: EXIL
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Das Massaker von Babij Jar bei Kiew im September 1941 war die größte Mordaktion, die von Deutschen während des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion verübt wurde. Babij Jar ist gleichsam ein Synonym für die Massenexekutionen der SS-Truppen in der Sowjetunion geworden. (BR 2011)
Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Die Nationalsozialisten nannten es eine "Aktion wider den undeutschen Geist": Am 10. Mai 1933 fanden, angefacht von Studenten, in über 20 deutschen Universitätsstätten öffentliche Bücherverbrennungen statt. Autor: Bernd Noack
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Axel Milberg liest in sieben Folgen aus Lion Feuchtwangers Roman „Exil“:
Der Roman ist ein Panorama des Exils der 1930er Jahre. Im Zentrum steht der Münchner Komponist Sepp Trautwein - in Paris gibt er die geliebte Musik auf und kämpft als Journalist gegen die Nazis. Heldenhaft - oder sinnlos?
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